Force of Nature von Cocos ================================================================================ Kapitel 1: Die Ankunft ---------------------- Während des Fluges zu essen war wahrlich keine seiner klügsten Entscheidungen gewesen. Ganz und gar nicht, hielt sich Jean vor Augen, als er mit vor Angst klopfendem Herzen auf einer der Herrentoiletten des Flughafens Los Angeles kniete und seinen Mageninhalt der Schüssel anvertraute, damit diese das Zeugnis seiner brachialen Unfähigkeit der Kanalisation übergeben konnte. Wie unfähig er war, auf sich selbst aufzupassen, davon zeugten die Narben auf seinem Körper. Nicht gut genug für die Ansprüche des Patriarchen. Nicht gut genug für Rikos Ansprüche. Nicht gut genug um ein eigenes Leben zu haben. Nicht gut genug um in Palmetto zu bleiben. Und jetzt nicht gut genug, seinen Mageninhalt bei sich zu behalten um seinen neuen Besitzer nicht warten zu lassen. Kein Wunder, dass Riko ihn derart oft bestraft hatte für sein Versagen, einfachste Befehle zu befolgen. Oder für seinen Widerstand und seine Versuche, ein Mensch zu sein. Jean schloss die Augen und krallte seine Fingerkuppen in die Fliesen, bis es schmerzte. Es war noch nicht einmal zwei Monate her war, dass Renee ihn aus den Klauen der Ravens geholt hatte um ihn zu retten, weil er in einem schwachen Moment der verzweifelten Menschlichkeit vergessen hatte, dass er als Besitz der Moriyamas nicht das Recht dazu hatte darum zu bitten, wie ein normaler Mensch gerettet zu werden. Sie hatte ihn erhört und ihn somit in seine ganz persönliche Hölle gestürzt. Als er sich endlich bewusst geworden war, was passiert war, hatte er versucht zurück zu kehren. Dreimal hatte er sich unter Schmerzen, Übelkeit und Schwindel aus dem Bett der Krankenschwester geschält um sich anzuziehen und nach Evermore zurückzukehren um einer noch schlimmeren Strafe zu entgehen, die Riko sicherlich für ihn in petto haben würde. Dreimal war er aufgehalten worden. Von der Schwester selbst, von Renee und schlussendlich von Minyard. Dreimal, bevor er es aufgegeben und nur darauf gewartet hatte, dass die Gefolgsleute der Moriyamas zu dem Haus der Schwester kamen, sie umbrachten und ihn mitnahmen. Doch sie waren nicht gekommen und bevor Jean den Gedanken daran, dem Ganzen selbst ein Ende zu bereiten, ausführen konnte, hatten Josten und Day ihn über Dinge in Kenntnis gesetzt, die er kaum für möglich gehalten hatte. Riko war tot und er würde nicht mehr zurückkehren nach Evermore. Sein Wert war ins Bodenlose gesunken, nachdem Riko anscheinend alles daran gesetzt hatte, ihn unbrauchbar zu machen mit seinem Messer, seinen Tritten und Schlägen. Dabei verheilte sein Körper und er würde sicherlich schon jetzt spielen können. Er hatte schon mit gravierenden Verletzungen trainiert und gespielt. Aber sie wollten ihn nicht mehr. Ganz im Gegenteil. Sie hatten ihn verkauft, selbst wenn sie das nicht so nannten. Auch das hatte Day ihm gesagt. An die Trojans, ausgerechnet. Die Heiligen ihrer Liga, überschüttet mit entsprechenden Preisen für ihren Gemeinschaftssinn und Sportsgeist. Die Foxes hatten ihn nicht gewollt, nicht, dass Jean auch nur einen Gedanken daran verschwendet hatte, mit diesem chaotischen Team jemals zusammenarbeiten zu wollen. Zumal Jostens Anblick ihn immer und immer wieder daran erinnerte, was für ein Monster er gewesen war auf Befehl von Riko. Jede Narbe im Gesicht und auf dem Körper des Jungen, die er ihm zugefügt hatte um nicht bestraft zu werden, erinnerte ihn daran, dass er kein Stück besser war als sein verstorbener Besitzer. Er konnte die Anwesenheit von Day nicht wirklich ertragen, seine selbstgerechte Fixierung auf Exy und nichts Anderem. Die Angst, welche Day um seine Fähigkeit zu spielen hatte, überwog selbst ein Menschenleben. Wobei, nein, sein Menschenleben, berichtigte Jean sich. Er war zwar ein Mensch, aber Besitz und es war egal, was mit Besitz geschah. Vor allen Dingen aber war es egal, wie Jean sich damit gefühlt hatte. Denn dass er nach all den Jahren in Rikos sadistischen Händen noch Gefühle hatte, war unbestritten und für Jean immer noch ein Mysterium. Man hätte doch meinen sollen, dass mittlerweile alle Emotionen aus dem herausgefoltert worden waren und dass nur noch Schmerzen übrig geblieben waren. Doch nein, seine Gefühle standen ihm genauso im Weg wie vor einem Jahrzehnt. Er war verzweifelt, er hegte Hoffnung um sie immer und immer wieder zu verlieren. Er hasste und war wütend. Er war taub und doch brannte er vor Unruhe und Unsicherheit. Vor allen Dingen aber hatte er Angst, insbesondere jetzt. Es war nicht genug, dass er verkauft worden war. Nein, im Gegensatz zu damals, als seine Eltern ihn zur Begleichung einer Schuld an die Moriyamas überstellt hatten, hatte er den Vertrag, der ihm vorgelegt worden war, selbst unterschrieben. Weil das in Amerika so sein musste. Offiziell gab es keinen Besitz. Inoffiziell sah jeder weg. Jeder. Niemand scherte sich darum, ob die Gesetze gebrochen wurden und so hatte Jean in seinen Juravorlesungen innerlich nur lachen können. Menschenhandel… es geschah tagtäglich und unter der Nase des Colleges, selbst hier in Amerika. Es brauchte noch nicht einmal Käfige oder Fesseln dazu, nein. Angst reichte vollkommen aus. Aus Angst hatte er den Vertrag unterschrieben, der den Trainer und den Kapitän der Trojans zu seinen neuen Besitzern machen würde und sich schlussendlich auf den Weg in eine neue Gefangenschaft begeben, die ihm noch mehr Hölle sein würde als es Evermore jemals gewesen war. Riko war ein bekanntes Übel gewesen, er wusste, was er von ihm zu erwarten hatte. Evermore war eine Dunkelheit gewesen, die ihn immer und immer wieder verschluckt hatte mit ihren roten und schwarzen Wänden, der Tageslichtlosigkeit und dem angepassten, zeitlichen Rhythmus an die perfekten Trainingsabläufe. Er hatte gelernt, sich darin zurecht zu finden, notfalls auch mit gebrochenen Knochen und aufgeschlitztem Körper. Er hatte gelernt, dass es keine Grenzen gab, wenn es um die Benutzung von Eigentum ging. Nun aber wusste er nicht, ob er sein Gelerntes noch anwenden konnte. South California war all das, was West Virginia nicht war. Die Sonne schien schon seit sie sich im Landeanflug befunden hatten. Selbst die Gänge waren lichtdurchflutet und warm. Jeans Körper hatte darauf mit einer Gänsehaut reagiert, die immer noch nicht abgeflacht war. Soviel Wärme hatte es selbst im Haus der Krankenschwester nicht gegeben. Los Angeles war laut und fröhlich, die Menschen lachten und drängten sich aneinander, sie formten sich zu einer homogenen Masse, die Jean zu erdrücken drohte, kaum, dass er das Flugzeug verlassen hatte. Mit ein Grund, warum er hier kniete und warum das Zittern, das Besitz von seinem Körper ergriffen hatte, nicht abebben wollte, auch wenn er sich bewusst war, dass er seine neuen Besitzer nicht länger warten lassen durfte. Er hatte bereits jetzt schon Strafe auf sich geladen, da musste er nicht noch weitere, gebrochene Knochen herausfordern. Schwankend erhob Jean sich und spülte die Überreste seines Unvermögens die Kanalisation hinunter. Mit gesenktem Blick trat er aus der Kabine heraus und wusch sich die Hände und spülte seinen Mund aus. Der Kapitän der Trojans war dafür bekannt, dass er sich nichts aus Mädchen machte, also würde seine Strafe vermutlich entsprechend ausfallen. Da wollte er nicht noch mehr Unmut auf sich ziehen und nach eigenem, bitteren Erbrochenen riechen, wenn ihm Knox seinen Schwanz in den Mund schob. Jean zog die Kapuze seines Pullovers tiefer in sein Gesicht und schulterte seine Tasche. Handgepäck, das war alles, was sein Leben darstellte. Besitz hatte kein Eigentum, das hatte ihm Riko immer und immer wieder eingetrichtert. Also beschränkte sich sein Hab und Gut auf das, was die Schwester, Abby war ihr Name, und Josten ihm gegeben hatten. Warum Josten so etwas tat, obwohl er ihn ebenso gefoltert hatte wie Riko auch, war Jean ein Rätsel. Gefragt hatte er nicht, sondern das Smartphone schweigend in seine Tasche gesteckt, in dem die Nummern einiger Foxes und ihrer Krankenschwester eingespeichert waren. Da, wo Jean vermutet hatte, dass es sich dabei um ein Versehen handeln musste, hatte Renee ihm versichert, dass es alles seine Richtigkeit hatte. Langsam ging er in Richtung Ausgang, dort, wo Knox auf ihn wartete. Er wusste, dass er spätestens dann, wenn sich die Türen des Abflugbereiches vor ihm öffneten, den Blick heben musste um den Jungen zu erkennen, doch noch hatte er ein paar Meter. Vier waren es vielleicht, die schneller, als es ihm lieb war zu dreien wurden, bei zwei öffneten sich die automatischen Schiebetüren und mit rasendem Puls trat Jean schließlich durch sie hindurch. Kurz hob er den Blick und wurde sich mit Schrecken bewusst, dass es gar nicht so schwierig war, Knox zu finden. Der blonde Junge stand als Einziger am Wartegitter. Er hatte ihn solange warten lassen, bis alle Passagiere abgeholt worden waren. Jean schluckte und trat um die Absperrung herum, den Blick auf die Füße des Trojan gerichtet, in der Hoffnung, dass dieser sein stummes Zeichen der Unterwerfung anerkennen würde. „Hi! Mensch, da bist du ja! Ich hatte schon Angst, dass du auf diesem Chaos von einem Flughafen verloren gehst!“, drang die Stimme seines neuen Kapitäns zu ihm und Jean zuckte in Erwartung eines Schlages zurück, der nicht kam. Auch nachdem bitteres, schweres Schweigen zwischen sie getreten war und Knox anscheinend eine Entschuldigung von ihm verlangte. Schweigend neigte Jean seinen Kopf, weil er seinem Magen nicht traute. „Ist alles okay bei dir?“, löste Besorgnis die Freude in der Stimme ab und Jean schluckte erneut. Vorsichtig sah er hoch, bis zum Halsansatz kam er, bevor er sich nicht weiter traute. Er musste sprechen, sonst wäre das ein Zeichen des Ungehorsams und das nach seiner jetzigen Unverschämtheit wäre ein Frevel sondergleichen. Jean räusperte sich trocken. „Es ist mir eine Ehre, hier zu sein“, erwiderte er die gelernte Floskel der Dankbarkeit und erntete erneut verwirrtes Schweigen. War es nicht richtig? Hatte er den Bogen bereits zu sehr überspannt? Jean sah hoch, er wagte den Blick in Knox‘ Gesicht, das ihm nicht die erwartete Wut zeigte, sondern offene Verwirrung und eine eingefroren zwischen ihnen ausgestreckte Hand. „Öhm. Ja… Ich freue mich auch, dich zu treffen“, erwiderte Knox und zog langsam eben jene wieder zu sich, die breiten Lippen zu einem peinlich berührten Lächeln verzogen. Jetzt, wo er es gewagt hatte, warf Jean einen Blick auf den Jungen, dem er schon oft bei Spielen begegnet war und der so anders aussah als auf dem Feld in seiner Schutzkleidung oder vollkommen verschwitzt am Kopf klebenden Haaren. Zumindest meinte Jean sich daran zu erinnern, auch wenn seine Erinnerungen an viele Spiele bruchstückhaft und ineinander übergehend waren, durchsetzt mit deliranten Schmerzen. Woran er sich aber deutlich erinnerte, waren die Male, als Knox in seiner Funktion als Striker mehrfach seine Verteidigung durchbrochen hatte. Sein Herr hatte das mit Verachtung mitverfolgt und ihn entsprechend strafen lassen. Die Narben der verheilten Messerwunden schmerzten bei Kälte heute noch. Doch das war nicht der einzige Hass gewesen, den Riko auf den blonden Jungen mit den chaotischen Haaren auf ihn projiziert hatte. Eigentlich trug Day die Schuld daran. Day und seine verdammte Vorliebe für den begnadeten Striker. Day und seine Schwärmerei, die er nicht vor Riko hatte verbergen können und die dieser zum Anlass genommen hatte, Day zu zeigen, was es bedeutete, wenn Männer Männer richtig fickten. Knox‘ Existenz als Days Schwärmerei war schuld an Vergewaltigung Nummer drei, wie die Zahl, die ihn als Eigentum brandmarkte. Wie ironisch und bitter war es da doch, dass ausgerechnet Kevin seinen Besitzübertritt angeleiert hatte. „Hast du nur die Tasche?“, fragte Knox in seine Erinnerungen hinein und Jean konnte das Aufflammen des Funkens an Hass nicht verhindern, der ihn anhand der Unbeschwertheit der Frage überkam. Knox hatte keine Ahnung, was sein Dasein angerichtet hatte. Auch er verschloss seine Augen vor der Realität und machte gute Miene zum bösen Spiel. Als wenn er nicht wüsste, dass Besitz kein Eigentum haben durfte. Als wenn er den Vertrag nicht hätte und sobald sie in der Universität waren, seinen Pass einfordern würde. Jean wusste, dass eine Antwort von ihm erwartet wurde, also nickte er schweigend und Knox räusperte sich. Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf und sah von seiner Tasche zu ihm und wieder zurück. „Soll ich sie dir abnehmen?“, fragte er und Jeans Griff um den Riemen festigte sich unwillkürlich. Er konnte mit der Frage nichts anfangen. War sie ein Test, ein Befehl, eine Falle? Was interessierte es den Anderen außer um in seinen Sachen herum zu wühlen und ihm das abzunehmen, was ihn auch nur ansatzweise zu einem Menschen machte, nur um ihn dann nach Belieben zu reglementieren und neu auszustatten? Was es auch war, er hatte keine Wahl. Schweigend überreichte Jean Knox die Tasche mit seinen Habseligkeiten und der Junge strahlte ihn an, als hätte er gerade die Meisterschaft gewonnen. Was sich hinter diesem Grinsen verbergen mochte, konnte Jean nur raten, auch wenn er eine sehr konkrete Vorstellung von dem hatte, was ihn erwartete. Rikos Grinsen war schließlich auch von belustigt auf manisch auf sadistisch gewechselt und hatte ihm gnadenlose Folter aufgezwungen. „Wollen wir? Mein Wagen steht draußen und ich habe das Gefühl, dass die Parkgebühren langsam aber sicher meinen Monatsbeitrag auffressen.“ Jean schluckte ob der gequält in die Welt gestoßenen Worte. Er war daran schuld und sicherlich würde er dieses Versagen ebenso wiedergutmachen müssen wie alles Andere auch. „Ich bitte um Entschuldigung“, murmelte er mit gesenktem Blick und setzte sich nach Knox in Bewegung, der ihn überrascht musterte. „Ach Quatsch, das ist doch nicht dein Verdienst“, wiegelte er ab und strich sich durch die blonden Haare, die dadurch nicht wirklich ordentlicher wurden. Jean fiel erst jetzt auf, wie braungebrannt Knox war. Zumindest er verbrachte also viel Zeit in der Sonne von South California. Vielleicht war es ihm selbst gestattet, das eine oder andere Mal aus dem Fenster zu sehen oder sogar die Wärme zu genießen, wenn er es sich verdient hatte. Nun würde er ihn sicherlich für Wochen in dem Wohnheim einsperren. Riko hätte das getan. Stumm folgte er ihm durch den Flughafen bis zum Parkhaus, wo sie zu einem alten, klapprigen Auto gingen, von dessen Marke Jean noch nie etwas gehört hatte und in das er auch im ersten Moment nicht einsteigen wollte, sein Vorsatz hin oder her. Doch Knox ließ ihm da wenig Wahl, als er seine Tasche mit einem Dauerlächeln in den knarzenden Kofferraum legte und ihm die Beifahrertür aufschloss. Die Tür selbst musste er mit einem Ruck aufziehen und in Jean keimte der Verdacht auf, dass das metallische Kreischen nicht zur Normalausstattung des Fahrzeuges gehörte. „Ja, er ist alt, träge und er quietscht, aber er fährt“, erläuterte Knox, als hätte er die Zweifel in seinem Gesicht gesehen, was Jean stark bezweifelte. Riko hatte ihm jahrelang beigebracht, seine Emotionen und Befindlichkeiten Fremden gegenüber unter Kontrolle zu halten und niemanden daran teilhaben zu lassen. Schließlich ging es niemanden etwas an, wenn der Besitz litt. Es galt, die Form zu fahren. Er hob den Blick und begegnete erneut – immer noch? – dem peinlich berührten Grinsen, mit dem Knox nun in das Innere seines Wagens deutete. Gehorsam und sorgfältig um Abstand bemüht ließ sich Jean auf dem Beifahrersitz nieder und zuckte zusammen, als sich eine Feder in die Rückseite seines Oberschenkels bohrte. An sich verletzte ihn die herausstehende Feder nicht, nur war sein Oberschenkel wie sein kompletter Oberkörper auch noch wund von Rikos Schlägen. Das Hämatom, was nun auf die spitze Feder traf, ließ ihn zusammenzucken und überrascht aufstöhnen, ganz zum augenscheinlichen Entsetzen des Fahrers selbst. Der sich ruckartig zu ihm beugte, die Hände auf seiner Schulter und seinem Oberschenkel, das Gesicht so nah, dass Jean durch die in alle Richtungen stehenden Haare gekitzelt wurde. Nicht, dass ihn das in diesem Moment interessierte. Aus instinktivem Reflex war er zurückgewichen, zumindest so weit, wie es seine momentane Position zuließ. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Knox in das Gesicht, das ihm so nahe war und für ein paar Schläge hatte er das Gefühl, dass sein Herz einfach ausgesetzt hatte. Es war so weit, der andere Junge würde ihn schlagen. Er hatte ihn so lange eingelullt, bis Jean nicht aufgepasst hatte und nun würde er in der Abgeschiedenheit des Parkhauses für seine Unverschämtheiten büßen. Panisch schluckte Jean und ein Laut nicht minder ängstlich entkam seinen Lippen. „Es tut mir leid“, presste er hervor, kaum mehr als ein Flüstern. „Es tut mir wirklich leid und es wird nicht wieder vorkommen!“, flehte er inständig und konnte nicht anders, als sich auf die blauen Augen zu fixieren, die ihn anstarrten, als hätte er gerade vom Untergang der Welt gesprochen. Endlose Sekunden lang passierte rein gar nichts, dann richtete sich Knox so schnell auf, dass Jean erneut in der Erwartung eines Schlages zusammenzuckte. Schritt um Schritt trat er jedoch zurück, während sich sein Gesicht in Unglauben verzog. Wie ein Ertrinkender klammerte sich Jean an jede Regung, an jedes Anzeichen für eine bevorstehende Explosion, doch nichts kam. Schon wieder nicht. „Jean, alles in Ordnung? Ich wollte nicht…“, begann Knox und stockte dann eher verwirrt als wütend. „Ich meine, das ist eine Feder in meinem Wagen, die heraussteht, das ist doch nicht deine Schuld, du musst dich doch nicht entschuldigen. Warum...?“ Jean konnte ihm so vieles sagen, in diesem Moment. Ihm lagen Dinge auf der Zunge, die er mit Gewalt herunterschlucken musste, weil er den Anderen nicht darauf stoßen wollte, was er getan hatte und dass es nicht der verspätete Flug war, der ihn aufgehalten habe. Ihm lag eine weitere Entschuldigung auf er Zunge, doch auch die schluckte er. Knox hatte ihm gerade schon mitgeteilt, dass eben jene unerwünscht sei. Unlogisch gar. „Okay“, erwiderte Jean schließlich, um das Schweigen zwischen ihnen irgendwie zu durchbrechen und Knox davon abzubringen ihn weiterhin anzustarren, als wäre er ein seltenes Insekt. „Okay? Wirklich?“ Zweifelnd runzelte dieser die Stirn und Jean nickte mit Gewalt. „Ich… spüre sie nicht“, log er und grundsätzlich tat sie ihm auch nicht so weh wie viele andere Dinge, die sich in seinen Körper gebohrt hatten. „Wirklich?“ Das Nicken ging ihm einfacher von der Hand, befand Jean und er wurde beinahe augenblicklich damit belohnt, dass Knox sich nach weiteren, langen Sekunden des Starrens von ihm löste und um das Auto herumging. Mit einem verschämten Lächeln ließ er sich auf den Fahrersitz fallen und rammte den Schlüssel in das Schloss. Nach zwei Versuchen sprang das Monstrum an und Jean beeilte sich, die Tür zu schließen, was schwieriger war als er zunächst angenommen. Doch das war nichts im Vergleich zu seinem Unvermögen, sich mit zittrigen Händen anzuschnallen. Vier Versuche benötigte er, um unter Knox‘ wachsamen Augen den Metallstift in die dafür vorgesehene Halterung zu bringen und den Gurt einrasten zu lassen. „Auf geht’s dann!“, grinste dieser wieder mit seinem omnipräsenten Lächeln, das Jean ihm von Minute zu Minute weniger glaubte und fuhr holprig los, hinein in den geschäftigen Feierabendverkehr. Nach dem unzähligsten Spurwechsel fragte sich Jean unwillkürlich, ob er wirklich lebend den Boden der Universität South California betreten würde. Die Frage, ob das wirklich eine Rolle spielte, dominierte seine Gedanken, als sie schließlich hinausfuhren. Im Nest hatte er sich vorgenommen, dem Ganzen nach seiner Graduierung ein Ende zu setzen. Er würde wenigstens eine Sache in seinem Leben erreicht haben, bevor er seinem Leben und der damit verbundenen Hölle ein Ende setzen würde. Doch diesen Plan hatte er aufgegeben, nachdem Renee ihn aus Rikos Fängen gerettet hatte. In dem luftleeren Raum von Abbys Haus hatte er es für einen geringen Zeitraum gewagt, sich nicht mit dem Gedanken zu befassen. Doch spätestens seit klar geworden war, dass sie ihn an USC verkaufen würden, hatte er einen anderen Plan gefasst, fernab von den unsinnigen Träumen, dass er vielleicht leben könnte. Was war ein Abschluss, den er danach sowieso nicht mehr gebrauchen konnte schon gegen eine weitere Hölle? Was waren weitere Jahre Leid gegen ein schnelles Ende, nach dem er nichts nichts mehr kommen würde? Die Abwägung fiel ihm leicht und so hatte Jean, noch während Day versuchte, sich ein weiteres Mal bei ihm für das Leid, das er verursacht hatte, zu entschuldigen, beschlossen, dass er sich zwei Monate Zeit nach Ankunft geben würde, bis er dem Ganzen ein Ende setzen würde. Zwei Monate, bis sie vermutlich so lasch wurden mit ihren Kontrollen, dass er Zugang zu Messern oder spitzen Gegenständen haben würde. Bis sie selbst nachlässig werden würden ihn engmaschig zu kontrollieren. Zwei Monate noch, dann würde das alles hier endlich ein Ende haben. ~~~~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt Kapitel 2: Das Puzzle --------------------- Jeremy hoffte inständig, dass man ihm seine Nervosität nicht ansah. Geschweige denn von den Fragen, die sich unter der dünnen Oberfläche seiner Selbstbeherrschung daran zu schaffen machten, sich einen Weg nach oben zu bahnen. Genaugenommen wollten diese Fragen schon raus, seitdem Coach Wymack seinen eigenen Trainer kontaktiert hatte. Rhemann hatte sich daraufhin mit ihm in Verbindung gesetzt und sie hatten die Frage diskutiert, ob sie einen weiteren Backliner brauchten. Mehr noch. Ob sie den besten Backliner ihrer Liga brauchten, der aus dem Team stammte, das für seine fragwürdigen Methoden und brutalen Spiele berüchtigt war und dessen Spielphilosophie, wie sie alle am eigenen Leib wussten, mehr als düster war. Er hatte selbst schon gegen Jean gespielt und war von dem Backliner daran gehindert worden, zum Tor der Ravens durchzudringen. Eine brachiale Naturgewalt war der gegnerische Spieler gewesen und hatte Jeremys Ehrgeiz herausgefordert, seine Linien zu durchbrechen. Mehr als einmal war er mit dem Hintern nach einem der Zusammentreffen mit Nummer drei der Ravens auf dem Boden gelandet oder über selbigen geschlittert, gerade noch so an der Grenze des Legalen ohne dafür mit einer gelben oder roten Karte versehen zu werden. Darüber hinaus hatten sie keinen Kontakt gehabt, so beschränkten sich Jeremys Erfahrungen mit Jean darauf, ihn auf dem Feld, kurz beim Shake-Hands und auf den Banketten zu sehen, bei denen er den einen oder anderen Blick in Richtung Moreau gewagt hatte. Der verschlossene, nie lächelnde, abweisende und angespannte Mensch, den er dort gesehen hatte, hatte nicht im Flughafenterminal vor ihm gestanden und das hatte Jeremy einen unfreiwilligen Schock bereitet. Der Junge, der vor ihm gestanden hatte, war bleich und erschrocken gewesen, bis hin zum beinahe schon panischen Zurückzucken, als er ihn vor seiner lästigen Sitzfeder hatte retten wollen. Die Kapuze, die er tief in sein Gesicht gezogen hatte, konnte die Verletzungen nicht gänzlich verbergen, die ihm in Evermore zugefügt worden waren. Kevin hatte sich oberflächlich zu den Verletzungen ausgelassen und ihn darum gebeten, ein Auge auf Jean zu haben. Jeremy war zu dem Zeitpunkt noch zu sehr damit beschäftigt gewesen, nachzuvollziehen, was das bedeuten mochte und zu welcher Grausamkeit ein Mensch fähig war, als dass er vielmehr als ein „Ja“ hatte hervorpressen können. Kevins Bitte, Jean niemals alleine zu lassen, weil es der Philosophie der Ravens entgegenlief, stieß zwar überhaupt nicht auf Gegenliebe, aber Kevins Versicherung, dass Jean sich mit einer Begleitung besser fühlen würde als ohne, war Jeremy erst einmal genug. Den Rest würde die Zeit zeigen. Sein Vorsatz, Jean mit seiner Fröhlichkeit einen herzlichen Empfang zu bieten und ihm zu versichern, dass ihm hier niemand wehtun würde, hatte sich in dem Moment verflüchtigt, als er den Tod auf zwei Beinen sah, der viel zu spät aus dem Terminal kam. Dem säuerlichen Geruch des Anderen nach Erbrochenem zu urteilen, gab es dafür auch einen validen Grund und Jeremys Frohmut war abrupt einer tiefgreifenden Unsicherheit gewichen, wie er Jean keine Angst machen könnte, wo anscheinend schon seine Präsenz ausreichte. Dass dieser Angst vor ihm hatte, war offensichtlich und das machte Jeremy hilflos. Am Liebsten hätte er Jean wieder und wieder versichert, dass er ihm nichts tun würde und dass er sich keine Sorgen machen müsste. Hier war er in Sicherheit, niemand würde ihm wehtun, das war weder sein Stil noch derjenige seines Teams. Instinktiv spürte Jeremy jedoch, dass er Jean damit noch mehr verschrecken würde, so konzentrierte er sich lieber auf das Alltägliche, was vor ihnen lag. Sie nicht im Straßenverkehr umzubringen zum Beispiel. Sie sicher zurück zur Universität zu bringen, zum Wohnhaus der Trojans. Mit Jean einkaufen zu gehen, denn die kleine Tasche, die er dabei hatte, konnte unmöglich alles Lebensnotwendige beherbergen. Ihm den Campus zu zeigen und alles, was er für sein kommendes Semester wissen musste. Und er musste das Chaos ihrer gemeinsamen, kleinen Studentenwohnung beseitigen, das er in der Hast seines Aufbruches zum Flughafen hinterlassen hatte, jetzt, wo er wieder einen Mitbewohner hatte. Jeremy seufzte innerlich. „Was ist denn dein Hauptfach?“, fragte Jeremy, als ihm die ungewohnte Stille zuviel wurde und er sah im Augenwinkel seinen Beifahrer zusammenzucken. Lag es an der Frage oder war er zu laut gewesen? Jeremy vermutete Letzteres. Manchmal hatte er die Tendenz, aus Nervosität seine Lautstärke nicht im Griff zu haben. In Gegenwart von Alvarez und Laila war das weniger ein Problem denn eher eine Möglichkeit, sich auch Gehör zu verschaffen. In der drückenden Stille seines Autos… Jeremy seufzte erneut. „Wirtschaft und Ökonomie“, erwiderte Jean nach einem Moment des Schweigens und Jeremy pfiff anerkennend, aber leise dieses Mal. „Das und Exy? Wie hast du das gemacht? Nicht geschlafen?“, fragte er im Scherz und warf einen kurzen Seitenblick auf den Backliner, dessen mit Pflastern versorgte Hände sich auf seinen Oberschenkeln zu Fäusten ballten. „Ein Evermoretag hat sechzehn Stunden, von denen acht Stunden für das Training und acht Stunden für das Studium vorgesehen sind. Das ist ausreichend für einen Abschluss.“ Jeremy glaubte zunächst an einen Scherz, wurde aber anhand des völligen Fehlens von Ironie oder Sarkasmus schnell eines Besseren belehrt. Überrascht schnaufte er. „Und Freizeit?“ Dass Jean nichts mit der Frage anfangen konnte, sah er an der sturmgeweihten, gerunzelten Stirn und an der offensichtlichen Unruhe, die den Jungen neben ihm im Sitz hin und herrutschen ließ. Jeremy kam an einer roten Ampel zum Stehen und lächelte Jean beschwichtigend entgegen – hoffte er zumindest. „Hey, alles okay. Das war nur ein Scherz. Du musst mir nicht dein ganzes Leben ausbreiten“, lenkte er vom Thema ab und die grauen Augen huschten für einen Moment vom Boden des Wagens zu seinem Halsansatz. Eine Antwort erhielt er deswegen allerdings noch lange nicht. „Wie viele Stunden haben die Tage an der USC?“, überraschte Jean ihn schließlich dann aber doch mit einer ersten, interessierten Frage. „Je nachdem. Wir haben für gewöhnlich morgens die erste Trainingseinheit, zwei Stunden ab sieben Uhr. Dann geht es zu den Kursen und jeden zweiten Nachmittag die zusätzlichen Trainingseinheiten. Wenn wir am Wochenende Spiele haben, trainieren wir nicht, ansonsten haben wir jeden zweiten Samstagmorgen Training. Ansonsten haben wir frei und können uns auf unser Studium konzentrieren. Je nach Party können die Tage daher kürzer oder länger werden.“ Das Schweigen, das wieder zwischen ihnen einkehrte, wurde begleitet von Jeans ungläubigem Blick, der, wenn Jeremy das richtig aus seinem Augenwinkel gesehen hatte, von überraschter Fassungslosigkeit geprägt war. „Ist dir das zuviel?“, fragte Jeremy, um noch eine Reaktion aus Jean herauszukitzeln und tatsächlich. Die Fassungslosigkeit war ihm ein williger Komplize um das eiserne Schweigen seines Beifahrers zu durchbrechen. In all ihrer Glorie machte sie den Anderen anscheinend offen für weitere Emotionen, die Jeremy einen Aufschluss über den Jungen gaben, der neben ihm saß. Das verächtliche Schnauben hatte er nicht erwartet, trotzdem hieß er es willkommen. „Was?“, fragte er mit einem Grinsen nach und wurde doch tatsächlich mit dem Anblick der grauen Augen belohnt, die ihn für eine Sekunde maßen, bevor sie sich eines Besseren besannen. „Ich werde in der Lage sein, meinen Vertrag vollständig zu erfüllen.“ Da war sie wieder, diese seltsame Förmlichkeit, die vielleicht zu einem offiziellen Pressetermin passte, wenn überhaupt. Jeremys Lächeln wurde sanfter. „Vor allen Dingen sollst du in der Lage sein, Spaß dabei zu haben“, erwiderte er versöhnlich und beendete damit unwillentlich und unwissentlich das Gespräch bis sie auf den Parkplatz des Wohnheims fuhren. Er hatte das Gefühl, etwas furchtbar Schlimmes gesagt zu haben, doch ehrlich gesagt hatte Jeremy gerade nicht den Mut dazu, zu fragen, was genau es gewesen sein mochte. ~~**~~ Seine neue, persönliche Hölle trug die Farben Rot und Gold, war lichtdurchflutet, vollkommen chaotisch und in ein Schlafzimmer, einen Wohnraum und eine Küche aufgeteilt, die unzweifelhaft die Handschrift von Knox trugen. Jean war sich nicht sicher, ob er jemals eine so belebte Wohnung gesehen hatte. In Evermore sicherlich nicht. In Evermore hatte alles seinen Platz und nichts, aber auch gar nichts Unsinniges oder gar ablenkendes war in den dunklen Gängen des Wohnheims zu finden gewesen, die noch nicht einmal durch Sonnenlicht beschienen worden waren. Jean wusste nur zu gut, warum. Sonnenlicht lenkte ab von den wesentlichen Dingen: Training, Studium und Folter. Sonnenlicht gab Hoffnung und Hoffnung war die Basis für Schwäche. Schwäche war ihnen verboten in ihrem Streben nach Perfektion und so hatte Jean die seltenen Momente, in denen er einen Blick auf die Sonne erhaschen konnte, wertgeschätzt und in sich eingeschlossen, damit er davon zehren konnte, wenn alles über ihm zusammenzubrechen drohte. Nun wurde er von Sonnenlicht erschlagen. Gleich eines Vampirs wich er jedem Strahl aus, der ihm direkt ins Gesicht scheinen konnte. Gleich eines Schneemanns fürchtete er die Wärme, die seine Kleidung durchdrang und die innere Kälte vertrieb, die ihn vor dem schützte, was kommen mochte. Das, was er vorher geliebt und ersehnt hatte, wurde ihm nun zu einem Hassobjekt, zu einem Ding, dessen Überfluss zerstörerisch und sadistisch war. Natürlich schlief er wieder in den Räumlichkeiten des Kapitäns, der so leichten Zugang zu ihm haben würde. Die Hure des Teamkapitäns, flüsterte es gehässig in seinem Inneren. Natürlich. Zu was Anderem bist du auch nicht gut, wertloses Stück Eigentum. Nur die Nummer drei, für etwas Besseres reicht es nicht. Sei dankbar, dass wir dich bisher am Leben gelassen haben. „Der Coach und ich haben beschlossen, dass es besser wäre, wenn du bei mir unterkommst, damit ich dir die Tour durch die Uni geben und dich am Anfang unterstützen kann. Die USC ist manchmal ein wenig chaotisch und da schadet es nicht, jemanden an seiner Seite zu haben, der sich schon auskennt. Da ich gerade keinen Zimmernachbarn habe, hat sich das angeboten, dass du zu mir ziehst…der Einfachheit halber. Wenn du woanders hinmöchtest, dann können wir das auch arrangieren, allerdings würde das dann noch etwas dauern“, erläuterte der Junge an seiner Seite, als hätte er seine Gedanken gelesen. Als wenn es einen Unterschied machen würde, ob Knox direkten Zugang zu ihm hatte oder ob er ihn in der Umkleide oder Dusche abpasste. Oder ihn im Keller folterte, dort, wo ihn keiner hörte. Da das Haus hier rein für die Trojans gedacht war, wäre es auch egal, wenn er im Zimmer eines Anderen wohnte. Das Team würde durch den Trainer und den Kapitän schon auf Spur gehalten worden sein, so, wie sie auch dazu angehalten worden waren, nach außen hin den Schein zu wahren. Achtmal hintereinander hatte sie den Day Spirit Award gewonnen und das geschah nicht dadurch, dass das Team undiszipliniert war und sich nicht verkaufen konnte. Zumal es keine Rolle spielte, wo er die letzten Wochen seines Lebens verbrachte. Jean wartete schweigend, dass er seine nächsten Anweisungen erhielt, während Knox mit einem Lächeln seine Sachen aus dem Weg räumte und auf einen Haufen türmte, der noch viel chaotischer war als vorher. „Sorry, ich habe heute Morgen verschlafen und alles irgendwo hingeräumt, das kommt natürlich nicht vor, wenn du dich erst einmal eingerichtet hast. Apropos! Möchtest du deine Sachen schonmal ausräumen, damit wir eruieren, was dir noch fehlt und schon einmal einkaufen gehen?“ Jean hasste selbst die Formulierung des Jungen. Mochte er? Nein. Er hatte nicht nach Amerika gewollt als Begleichung von Schulden, die seine Mutter bei den Moriyamas gehabt hatte. Er hatte nicht darum gebeten, Exy spielen zu müssen um zu überleben. Er hatte keine einzige Minute der Folter gewollt. Doch das hatte seit je her niemanden interessiert. Er runzelte die Stirn. Das stimmte so nicht. Renee interessierte es. Renee fragte nach seinem Willen, seinen Wünschen, seinen Gefühlen. Sie gehörte nicht zur Reihe seiner Besitzer, nein. Ihr gehörte seine Seele. Sein Körper mochte herumgereicht werden, doch seine Seele hatte er ihr aus freien Stücken überantwortet, seinem Engel, seiner Retterin. Sie hatte ihn aus Rikos Klauen geholt, sie hatte ihn als Menschen gesehen, wie es niemand sonst getan hatte. Dabei war es Zufall gewesen, dass er seine Aufmerksamkeit auf sie gerichtet hatte während eines Banketts, als Riko sich gerade mit Kevin beschäftigt und ihn alleine gelassen hatte. Angezogen durch ihre bunten Haare und ihr sanftes Lächeln hatte er sie beobachtet und studiert, in Gedanken Vergleiche gezogen zu ihrer Spielerpersönlichkeit und zu der jungen Frau, die in einem eleganten, langen Kleid auf der anderen Seite des Raumes gestanden hatte. Unendlichkeit trennte sie und doch hatte Renee eben diese überwunden, Schritt für Schritt war sie ihm nähergekommen, unaufhaltsam und zielstrebig. Seine übliche Feindseligkeit hatte sie nicht davon abgehalten, ein Gespräch mit ihm zu beginnen. Wort und Wort hatte sie seinen Widerstand gebrochen und ihn soweit gebracht, dass er schließlich ein Smartphone von ihr annahm. Jean hatte sich lange dagegen gewehrt, weil er wusste, was es für Folgen haben würde, wenn es entdeckt wurde. Sie war sturer gewesen als er und schlussendlich hatte er das verdammte Ding in seinem Mantel gefunden. Wie es ihm möglich war, das vor Riko geheim zu halten, war ihm heute noch ein Rätsel. Dann hatte sie begonnen, ihm Nachrichten zu schreiben. Kurze Texte, Fragen nach seinem Befinden, nach Unwichtigem. Jean hatte sich zunächst ebenso geweigert, ihr zu antworten, wie er sich geweigert hatte, das Handy anzunehmen und war erneut gescheitert. Ihre Sturheit hatte ihm schließlich eine Antwort entlockt. Einer folgte die Nächste, darauf eine Vierte und schlussendlich hatte er immer dann, wenn er es konnte, ihr eine Nachricht zukommen lassen. So auch an dem Tag, an dem er gedacht hatte, dass er nun sterben würde. Hilf mir, zwei Worte, die er mit bereits blutenden Fingern und angebrochenen Rippen geschrieben hatte, kurz nachdem Riko ihm zum ersten Mal Haare ausgerissen hatte. Hilf mir hatte er geschrieben, in der fiebrigen Annahme, dass sie es tatsächlich schaffen könnte, ihn irgendwie am Leben zu erhalten. Es war nicht mehr als der Schrei des kleinen Jungen gewesen, der er einmal gewesen war und der seinen Vater und seine Mutter angefleht hatte, ihm zu helfen, als ihn die Wachmänner der Moriyamas daran gehindert hatten, mit ihnen nach Frankreich zurück zu kehren. Zu dem Zeitpunkt hatte er nicht wirklich geglaubt, dass es jemals so etwas wie Rettung für ihn geben würde, doch sie hatte ihn eines Besseres belehrt. Sie war gekommen, wie ein Racheengel war sie über die Ravens gekommen und hatte ihn aus Evermore entführt. Und wie hatte er ihr es gedankt? Indem er dreimal versucht hatte, aus dem Haus der Krankenschwester zu fliehen, bevor Josten ihm die Nachricht überbracht hatte, dass Riko tot war. Indem er ihr beinahe das Herz gebrochen hatte mit seiner Tirade aus Hass und Zorn, dass sie keine Ahnung hatte, wovon sie sprach, dass sie nicht wusste, mit wem sie sich anlegte und ob sie wirklich geglaubt hatte, dass sie ihm damit etwas Gutes tue. Die Tränen, die in ihren Augen schwammen, waren fürchterlich für ihn gewesen und er hatte sich geschworen, ihr niemals wieder wehzutun. Seine verzweifelten Entschuldigungen hatte sie mit ihrem sanften Lächeln angenommen, hatte ihm jedoch gleichzeitig das Versprechen abgenommen, dass er versuchen würde zu heilen und dass er nicht zu den Ravens zurückkehrte. Niemals wieder und unter keinen Umständen. Jean hatte dem zugestimmt, allerdings nur, um das Lächeln auf ihr Gesicht zurückkehren zu sehen und seine Schuld wieder gut zu machen. „Jean?“ Mit einem Ruck kehrte er in die Gegenwart zurück. Sein Puls schoss in die Höhe, als er erkannte, dass er seinem Kapitän keine Aufmerksamkeit gezollt hatte. Mühevoll schluckte Jean. Die Zeit im Haus der Krankenschwester hatte seine Disziplin und seinen Selbsterhaltungstrieb anscheinend auf Null reduziert, wenn er derart nachlässig wurde. Wieder blieb ihm nichts Anderes übrig, als respektvoll den Kopf zu senken, eine Entschuldigung auf den Lippen, die um Längen zu spät kam und entsprechend abgewürgt wurde. „Nein! Nein nein nein, nicht entschuldigen!“, fuhr ihm Knox über den Mund und die Hand, die am Rande seines Sichtfeldes herumwedelte, verschreckte ihn mehr als es die lauten Worte des Anderen taten. Instinktiv trat er einen Schritt zur Seite. „Du warst in Gedanken und ich habe das nicht gesehen. Es tut mir leid!“ Wie es Knox doch immer wieder schaffte, dass er vollkommen ratlos einen Blick in dessen Gesicht werfen musste um sich sicher zu sein, dass das, was er gerade gehört hatte, auch wirklich dem entsprach, was sein Gehirn ihm zu verstehen gab. Wieso entschuldigte sich Knox bei ihm? War das ein Test? Ratlos versuchte Jean eine Reaktion darauf zu finden, allerdings war Knox ihm da schon wieder Meilen voraus. „Wie sieht es aus, magst du ausräumen und wir schauen dann, was du noch brauchst? Unser Coach hat mir seine Kreditkarte gegeben im Falle eines Falles, die sollten wir ausreizen.“ Knox grinste bei seinen Worten, Jean war aber ganz und gar nicht danach zu grinsen. Das waren erneut Schulden, die er abarbeiten musste. „Ich habe genug“, krächzte er entsprechend und verfluchte seine Stimme dafür, dass sie noch nicht einmal im Ansatz so abweisend klang, wie er es geplant hatte. Schwäche zeigen öffnete neuer Folter nur Tür und Tor, ebenso wie ein Widerspruch. Dass eben jener weggewischt wurde, als hätte es ihn gar nicht gegeben, irritierte Jean mehr als die erhobene Augenbraue. „Bettdecke?“, fragte Knox und Jean rief sich schmerzlich vor Augen, dass er nichts dabei hatte. Hier war es warm und würde es auch erst einmal bleiben, also brauchte er sie nicht. Es reichte, wenn er sich mit seiner Jacke zudeckte. Jean schüttelte den Kopf. „Kissen?“ Ein Kissen wäre zwar schön, aber auch das war eine unnötige Ausgabe. Er konnte seinen Pullover hierfür nehmen. Erneut verneinte er. „Klamotten?“ Er hatte für zwei Wochen Kleidung bei sich, die konnte er bei Bedarf waschen. Die Krankenschwester hatte sie ihm geschenkt, denn Renee hatte ihn mit nicht mehr als das, was er am Leib trug, aus dem Nest geholt. Nichts davon war schwarz und Jean hatte eine vorsichtige Vorliebe für den dunkelblauen Kapuzenpullover entwickelt, den Renee ihm geschenkt hatte. Er trug ihn auch jetzt und hoffte, dass er ihn behalten durfte. Wenn er sich die Farben der Trojans ansah, schwand diese Hoffnung jedoch. Rot und Gold standen dem Blau des Pullovers diametral entgegen. Vielleicht würde sich Knox darauf einlassen, dass er ihn wenigstens im Kleiderschrank verstecken konnte, wenn er ihn schon nicht anziehen durfte. Oder ihn als Kopfkissen nutzen. „Und natürlich Nahrung. Ich fürchte, ich habe momentan nur ungesundes Zeug im Kühlschrank, Semesterferien und so. Wenn du da etwas Anderes möchtest, dann sollten wir auf jeden Fall noch einkaufen gehen.“ Jean hatte zwar die Küche beim Reinkommen gesehen und hatte auch wahrgenommen, dass sie benutzt worden war, doch was das konkret bedeutete, das ging ihm jetzt erst auf. Im Nest waren sie mit Nahrung versorgt worden, nach einem strengen Sportlerdiätplan. Er hatte weder die Wahl noch die Verantwortung gehabt, sich selbst um sein Essen kümmern zu müssen. Dass er es nun selbst in die Hand nehmen musste, stellte ihn vor eine schier unlösbare Aufgabe, da er nicht wusste, wie er sich selbst Nahrung zubereiten konnte. Zu fragen, würde Schwäche offenbaren, die gegen ihn verwendet werden würde. „Was magst du denn?“ Jean hatte gehofft, dass genau diese Frage nicht kam. Es gab keine richtige und gute Antwort darauf, nicht für ihn. „Der Essensplan ist völlig ausreichend“, erwiderte er und schuf damit Verwirrung bei seinem Gegenüber, die er nicht wirklich verstand. „Das wird problematisch. Wir haben keinen Essensplan“, sagte Knox mit der gleichen, irritierenden Geste der Unsicherheit. Oder was auch immer die Hand in dessem Nacken dort zu suchen hatte. „Wir essen, wenn es passt, mit in der Kantine, ansonsten kochen wir uns selbst etwas. Am Wochenende und in den Semesterferien meistens Letzteres.“ Das war derart verwirrend, dass Jean ein ungläubiger Laut entwich. Wie konnten die Trojans ihre Fitness aufrechterhalten, wenn sie sich derart falsch und schädlich ernährten, keinem Diätplan folgten? Sich selbst zu ernähren war eine Disziplinlosigkeit, die ihr Herr ihnen niemals erlaubt hätte. Sich ungesund zu ernähren ebenfalls nicht. „Ich…“, begann Jean und suchte nach den richtigen Worten, die Knox‘ Forderung nach einer Antwort gerecht wurden und die ihm nicht noch mehr Schwäche als jetzt schon zuschrieben. Weit kam er nicht, als sein Handy klingelte und sein Kopf in Richtung des Geräusches ruckte. Entsetzt starrte er auf seine Tasche, in der, so wusste er, ganz unten in einer Falte das Telefon verborgen lag, in der Hoffnung, dass es ihm nicht abgenommen werden würde. Diese Hoffnung konnte er nun begraben, das wusste er und nur, weil er nicht daran gedacht hatte, den Ton auszuschalten oder das Handy auszumachen. Da war es doch auch passend, dass es ausgerechnet Renee war, die ihn gerade anrief. Vermutlich um zu fragen, ob er gut angekommen war und wie es ihm ging. Wütend auf sich selbst starrte Jean auf seine Tasche und lauschte dem Klingeln, die Hände zu schmerzhaften Fäusten geballt. „Du wirst angerufen“, sagte sein Kapitän hilfreich hinter ihm und Jean senkte den Kopf. Er wusste, dass es an der Zeit war, sich zu entschuldigen, dass er etwas mit hineingeschmuggelt hatte, was ihm nicht erlaubt war. Er wusste, dass er Demut zeigen sollte, doch er fand nicht die Kraft dazu, nicht nachdem er schon mit dem fehlenden Essensplan erhebliche Probleme hatte. Ergeben trat er hervor und öffnete den Reißverschluss. Mit zittrigen Fingern holte er das Smartphone hervor und drehte sich damit zu Knox um, der ihn fragend maß. „Willst du nicht rangehen?“, fragte er mit einem Fingerzeig auf das Smartphone in den Raum zwischen ihnen. „Darf ich abnehmen?“, fragte Jean leise und Jeremy lächelte. „Aber sicher. Sorry für’s Aufhalten, ich bin im Nebenraum, wenn du mich brauchst. Viel Spaß!“ Noch bevor Jean sich nun wirklich entschuldigen konnte, hatte Knox das Schlafzimmer verlassen, in dem sie sich gerade befunden hatten und die Tür hinter sich geschlossen. Fassungslos starrte Jean ihm entgegen, bevor er überhastet das Feld für Annehmen berührte und es nach rechts schob, so wie Renee es ihm gezeigt hatte. Er presste das Gerät an sein Ohr. „Hallo?“, fragte er in der Hoffnung, dass Renee noch dran war. „Hallo Jean“, hörte er ihr Lächeln selbst über die Entfernung hinweg und schloss seine Augen. Könnte er doch noch bei ihr sein. Könnte er sich doch für immer in ihrer Nähe verkriechen und von ihrer Sanftmut und Stärke zehren. „Wie geht es dir?“ Jean überlegte, ob es sich lohnte, sie anzulügen oder ob sie es nicht sofort durchschauen würde. Er kam zu dem Schluss, dass sie ihn durch welches Wunder auch immer zu gut kannte, als dass er damit durchkommen würde. „Nicht so gut“, wisperte er daher wahrheitsgemäß. „Warum?“ Die Sanftheit in ihrer Stimme überdeckte ihre Forderung nach Ehrlichkeit. Er schuldete ihr soviel, wie konnte er dieser nicht nachgeben? „Es ist...anders“, einigte er sich auf das, was er gefahrlos sagen konnte, wenn Knox von der anderen Seite der Tür zuhörte. „Wärmer?“ „Ja.“ „Wie war denn der Flug?“ „Okay.“ „Und war Jeremy da um dich abzuholen?“ „Ja.“ „Und?“ „Ich bin jetzt im Wohnhaus.“ „Wie ist es da?“ Jean nahm das Handy und stellte, wie Renee es ihm gezeigt hatte, den Anruf auf einen Videoanruf um. Es dauerte ein paar Sekunden, dann kam die beiderseitige Verbindung zustande und er sah sie und ihr beruhigendes Lächeln. „Hey, Großer.“ Er erwiderte nichts, aber das war auch nicht nötig. Anscheinend sah sie alles, was sie wissen wusste, in seinen Augen und nickte bedächtig. „Na los, zeig mir das Zimmer, in dem du jetzt wohnst. Ich will wissen, ob es hübscher ist als mein eigenes.“ Jean war sich bewusst, dass Renee sich seine Indoktrinierung, auf Befehle zu hören, zunutze machte um ihren Willen zu bekommen. Es war nicht schlimm, im Gegenteil. Gehorsam drehte er das Handy und filmte das chaotische Schlafzimmer sowie das Bett, was er bewohnen würde. Rot und Gold waren die Farben, die den Raum dominierten und sie stachen ihm so sehr in die Augen, dass es ihm wehtat. Das Chaos aus persönlichen Gegenständen, die allesamt einen Aufschluss auf den Jungen geben würden, der draußen wartete, verursachten ihm eine Unruhe, die er nicht wirklich verstand. Nachdem er mit der Rundtour fertig war, drehte er das Handy wieder zu sich. Es war schön, Renee noch ein letztes Mal zu sehen. „Jean, was ist los?“ „Er wird es mir sicherlich wegnehmen“, wisperte er so leise, dass es Knox hoffentlich nicht hören würde. Renee runzelte die Stirn. Auch sie senkte ihre Lautstärke. „Was genau meinst du?“ „Knox. Er wird mir sicherlich das Handy wegnehmen.“ Riko hätte es getan, das wusste Jean. Ihm war nichts erlaubt gewesen, was ihn von seiner Aufgabe abgelenkt. Wie einen kostbaren Schatz hatte er es vor Riko versteckt. Dass Knox nun zwei Stunden nach seiner Ankunft schon wusste, dass ihm ein solches Gerät zur Verfügung stand, war eine Katastrophe, auch wenn Renee das nicht so sah. Sanft und nachsichtig lächelte sie. „Nein, Jean, das wird er nicht. Er ist nicht Riko.“ Jean schwieg. Sie hatten schon über den Kapitän der Trojans gesprochen und hatten beide festgestellt, dass sie ihn nicht wirklich kannten. Nur aus Days Erzählungen, die einseitig beeinflusst waren. Was man über Knox hörte, war durchweg positiv, doch Jean glaubte dem nicht. Kein Stück. Sie seufzte. „Ich sehe, dass du mir nicht glaubst, aber gib‘ ihm eine Chance. Er wird es nicht tun.“ Jean schürzte unwirsch die Lippen und warf einen Blick zur Tür, die zwischen ihm und dem Trojan stand. Ein kleines, aber wirkungsvolles Hindernis. Beinahe schon hastig wandte er sich zurück zu Renee. „Sie kochen hier selbst und essen in der Kantine. Er hat mich gefragt, was ich gerne esse.“ Sein kleines Konterfei in der rechten oberen Ecke des Bildschirms sah genauso fassungslos und ängstlich aus, wie er sich fühlte. Hilflos starrte er Renee an, die erneut seufzte, tiefer als vorher. „Soll ich dir Rezepte schicken, die du nachkochen kannst?“ Elendig schüttelte er den Kopf. „Ich weiß nicht, wie ich zu einem Supermarkt komme und was die Sachen sind, die in das Rezept gehören.“ „Du könntest Jeremy fragen.“ Stumm schüttelte Jean den Kopf und malträtierte seine Unterlippe zwischen den Zähnen, wie er es immer tat, wenn er Ablenkung brauchte. „Das kann ich nicht.“ Renee setzte an, etwas zu sagen, doch sie entschied sich im letzten Moment anscheinend um. „Es wird werden, Jean Moreau. Vertrau mir. Jeremy ist ein guter Mensch und ein guter Kapitän, er wird dich gut behandeln.“ Jean vertraute Renee blind, das war nicht das Problem. Wem er nicht vertraute, das waren andere Menschen. Männern insbesondere. Kapitänen noch viel weniger, insbesondere denen nicht, die seinen Vertrag in den Händen hielten. Doch so sehr er Renee auch vertraute… was sollte er mit ihr diskutieren? Sie wusste nichts von den zwei Monaten und das würde auch so bleiben. Niemand außer ihm wusste davon, damit niemand ihn davon abhalten konnte. Er würde es sich einfacher machen, wenn er jetzt nun nickte und das Thema auf unbestimmte Zeit verschob. Er wusste, dass Knox schlussendlich seine Maske fallen lassen würde. Er wusste, dass nichts Gutes in so einem Lächeln stecken konnte. Er wusste, dass er erneut bluten würde. Zwei Monate. Jean nickte. „Okay. Ich versuch’s“, log er, wie er hoffte, überzeugend genug, dass Renee seine Worte nur als zögerlich, nicht jedoch als vorgeschoben wahrnahm. Sie tat ihm den Gefallen und sagte nichts dazu, auch wenn ihm ihre Augen etwas Anderes mitteilten. „Ich muss auflegen, er wartet sicherlich und ich habe ihn schon am Flughafen warten lassen.“ Auch das durchschaute sie mit spielerischer Leichtigkeit. „Natürlich, Großer. Geh‘ zu ihm und melde dich wieder bei mir. Okay?“ „Okay.“ Wie immer, wenn sie telefonierten oder sich Nachrichten hin und herschickten, zeigte sie ihm das Victoryzeichen und wie immer hob er die Augenbrauen ob so viel kindlicher Freude. Schweigend beendete er die Verbindung und starrte auf sein nun stummes Handy, bevor er sich zur Tür wandte. Tief einatmend steckte er das Telefon in die Tasche seiner Jeans und drückte die Klinke hinunter. Unweit von ihm stand Knox, über einen Tisch gebeugt, auf dem das Puzzle lag, das er beim Hineinkommen eines kurzen Blickes gewürdigt, aber nicht genauer hingesehen hatte. Eine geringe Menge an Teilen war bereits zusammengefügt, während der weitaus größere Teil noch ungeordnet um das Motiv herum verstreut lag, das, wie er jetzt sah, ein Bild von Day war. Wie es schien, war heute der Tag des Unglaubens und Jean musste sich sehr zusammenreißen, um nicht das Puzzle vom Tisch zu fegen. Was er nicht unterdrücken konnte, war das abfällige Schnauben, das Knox auf ihn aufmerksam machte. Abrupt fuhr er herum und deutete dann mit einem verschämten Lächeln auf das corpus delicti. „Das war ein Geschenk von Alvarez und ich dachte, ich könnte es anfangen, wenn du kommst, dann fühlst du dich nicht so weit ab von zuhause, wenn du ihn hier hast… wenn auch nur als Puzzle.“ Jean wusste, dass er zustimmen und es gut sein lassen sollte. Es wäre besser für ihn. Aber die Argumentation gepaart mit der freudigen Hoffnung und Erwartung, die er im Gesicht seines Gegenübers sah, ließ nichts Anderes als unbändigen Unglauben zu, der, wie er wusste, klar und deutlich in seinem Gesicht stand. Er konnte nicht fassen, wie daneben Knox mit seiner Vermutung lag und unwillkürlich fragte er sich, was Wymack und Day ihm eigentlich erzählt hatten. „Ich…“, begann Jean und suchte nach Worten, die ihm nicht einfallen wollten. Sein Blick fiel wieder auf das Puzzle, vielmehr auf die Teile, die Day in seiner Exy-Uniform in viele kleine Stücke teilten. Eigentlich war es hoch ironisch, denn genauso zerrissen und unvollständig wie das Puzzle hier vor ihm lag, war die Vorlage selbst. „Hey, wie wäre es, wir vertreiben dein Heimweh ein wenig, indem ich dich mit allem wichtigem hier im Haus und auf dem Campus vertraut mache und wir dann einkaufen gehen?“, fragte eben jener und Jean nickte betäubt. Er wollte raus, er wollte gerade eben nicht mit Day in einem Raum sein, selbst wenn es nur mit einem lächerlichen Puzzle war. ~~~~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 3: Der Stein im Magen ----------------------------- Es gesagt zu bekommen und selbst am eigenen Leib zu erfahren, waren, wie Jeremy nun bitter erkannte, zwei unterschiedliche Dinge. Er hatte seinen persönlichen Schatten, der sich einen nackenhaarsträubenden Meter hinter ihm befand und es nicht einsah, neben ihm oder gar vor ihm zu gehen. Die Fragen, die Jeremy Jean direkt stellte, wurden beantwortet, alle weiteren Versuche, Smalltalk zu betreiben rigoros ignoriert. Bei ihrer Rundtour durch das Haus war das weniger ein Problem gewesen als nun, da sie beide zum nächstgelegenen, größeren Supermarkt gefahren waren und sie zusammen einkaufen mussten. Jean ließ ihn nicht aus seiner Aufmerksamkeit und Jeremy machte das noch nervöser als vorher. Wenn sich sein Schatten wenigstens darüber auslassen würde, was er gerne zu essen und zu trinken hätte, könnte er ja noch damit leben. Aber dass er auf eine Mauer des Schweigens traf, die noch schwerer zu durchbrechen war als jede Verteidigungslinie, die die Ravens jemals aufgebaut hatten in ihren Spielen gegen seine Mannschaft, das war frustrierend. Jeremy seufzte. Nicht zum ersten Mal, seit sie den Laden betreten hatten. Sie standen in der Abteilung für Obst und Gemüse und da war nur stumme Verneinung auf dem durch die Kapuze halb verborgenen Gesicht zu sehen. „Also“, machte er eher sich selbst Mut als es wirklich dazu diente, Jeans Aufmerksamkeit zu bekommen. „Hast du einen Wunsch für das heutige Abendessen?“ Die ablehnende Körpersprache des Anderen und das stumme Kopfschütteln sollten ihn vermutlich davon abhalten, weitere Fragen zu stellen, doch da hatte der Wirt, in diesem Fall Jean, die Rechnung nun wirklich ohne Jeremy gemacht. „Gibt es etwas, das du gar nicht magst?“ „Nein.“ Jeremy grinste. „Möchtest du dich dann überraschen lassen, was ich für uns zaubere?“ Da war sie wieder, die Unsicherheit, die er auch auf dem Flughafen gesehen hatte und er fragte sich, ob es an seiner spielerischen Tonlage oder an seiner Frage selbst lag. „Du kochst selbst?“, überraschte Jean anscheinend sich selbst gleich mit und Jeremy kam in den Genuss des Anblicks der ihn messenden, grauen Augen, die so gar nicht wussten, wie sie mit dieser Information umzugehen hatten. Er wunderte sich dennoch über die Frage, hatte er Jean doch noch vor ein paar Stunden nichts Anderes erzählt, als dass sie selbst kochen mussten. „Bleibt mir ja nichts Anderes übrig, es sei denn, ich würde Tiefkühlpizzen in den Ofen schieben. Wie gesagt, an den Wochenenden ist die Kantine zu. Kannst du kochen?“, fragte er aus einer plötzlichen Eingebung heraus. „Nein“, presste Jean heraus und der Groschen fiel. Langsam und viel zu spät, aber er fiel. Der Speiseplan. Die Kontrolle in Evermore. Die mehr als zurückhaltenden Antworten. „Hast du schonmal vor einem Herd gestanden?“ Jean runzelte die Stirn. „Im Haus der Krankenschwester.“ „Und so richtig gekocht oder beim Kochen geholfen?“ „Weder noch.“ Ein überraschter Laut verließ Jeremy. „Aber du weißt, was dir schmeckt?“ Da war sie wieder, die neutrale Ausdruckslosigkeit. „Ich habe keine Präferenzen.“ „Ach komm, jeder Mensch hat Präferenzen. Süß, sauer, salzig, scharf, fettig?“ „Nein.“ „Dein Lieblingseis?“ „Nein.“ „Kuchen?“ „Nein.“ „Pizzasorte?“ Schweigen. Jeremy grollte und sank leidend in sich zusammen, die Hände in Richtung des Backliners ausgestreckt, der ihm allen Ernstes weismachen wollte, dass er nichts für die wirklich guten Seiten des Lebens übrig und schon gar keine Präferenzen hatte. „Ernsthaft?“, betonte er latent weinerlich die letzte Silbe und sah zu Jean hoch, der, groß und breitschultrig, wie er nun einmal war, ihn um beinahe einen Kopf überragte. „Mach mich nicht fertig, das kann nicht sein!“ Jeremy befand, dass es an der Zeit war, seine Geheimwaffe einzusetzen und schulte seinen Gesichtsausdruck auf große Augen und einen traurig verzogenen Mund. „Los, sag schon, was gefällt dir?“ „Ruhe“, entkam es Jean genervt und ungefiltert und Jeremy begriff, hier nun die zweite, ehrliche und höchst spontane Emotion vor sich zu haben. Innerlich grinste er über die Antwort und beglückwünschte sich, den anderen Jungen aus seiner Reserve gelockt zu haben, zumal die Antwort durchaus etwas von bissigem Humor hatte. Und er schätzte Humor. Sehr. Jeremy straffte sich und hob die Augenbraue. „Hrmpf. Okay. Pass auf, ich schlage dir einen Deal vor. Ich höre auf, dich zu nerven, koche uns etwas Leckeres und dafür suchst du dir ein Kissen, eine Decke, Bettbezüge, Laken und Toilettenartikel aus. Wie wäre es?“ Dass Jean nicht überzeugt von der Logik des Deals war, konnte er deutlich sehen. Dass der Junge abwog, ob sich die Vorteile mit den Nachteilen die Waagschale hielten, ebenso. „Ich habe kein Geld. Ich kann es auch in nächster Zukunft nicht zurückerstatten“, erwiderte er schließlich so leise, dass Jeremy Mühe hatte, die genuschelten Worte zu verstehen. Als er es tat, brach ihm das Mitleid, was ihn brachial und ungebremst überkam, beinahe das Herz. „Oh Gott, Jean. Du musst doch nichts von dem hier bezahlen. Der Coach schenkt dir die Grundausstattung, schließlich gehörst du jetzt zum Team. Sobald dein Stipendienkram durch ist, wirst du deine eigenen Sachen bezahlen, aber solange, wie die Verwaltung noch mit Schneckentempo arbeitet, sind alle deine Ausgaben seine Ausgaben. Mach dir da keinen Kopf drum! Es ist für alles gesorgt, wirklich.“ Jean schien seine Worte durch jede Analyse zu jagen, zu der sein Hirn fähig war. Kritisch runzelte sich die Stirn unter der Kapuze und Jeremy wartete geduldig, bis sein Gegenüber zu einem Ergebnis kam. „Will er etwas als Gegenleistung dafür?“, fragte Jean schließlich. Der seltsame Unterton in der Frage hielt ihn davon ab, dem mit bissigem Humor zu begegnen, wie er es bei Alvarez oder Laila getan hätte. Etwas an der Frage kam ihm mehr als komisch vor und so zuckte er mehr hilflos als alles andere mit den Schultern. „Nein? Er sorgt sich um seine Spieler, das ist alles. Und er weiß, dass es sicherlich nicht einfach für dich ist, abrupt mitten im Studium die Uni zu wechseln. Deswegen möchte er es dir etwas einfacher machen. Mach dir deinen Kopf darum.“ So bemüht, wie er war, mit seinen Worten Ruhe und Gelassenheit zu schaffen, so wenig konnte Jean augenscheinlich mit ihnen anfangen. Zumindest deutete Jeremy den leicht schief gelegten Kopf als stumme Frage. „Willst du etwas als Gegenleistung dafür?“ Jeremy seufzte. „Nein, Jean. Wobei… doch. Ja, doch, ich möchte eine. Ich möchte, dass du dir das bequemste Kissen und die kuscheligste Decke und Bettwäsche aussuchst, die du finden kannst. Und ich möchte, dass du mir sagst, wenn dir etwas, was ich gekocht habe, nicht schmeckt und warum es dir nicht schmeckt. Das ist die Gegenleistung, die ich gerne hätte.“ Jean sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren und zum großen Teil ähnelte dieser Blick dem, als sein neues Teammitglied auf das Puzzle von Day gestarrt hatte. Vollkommen unverständige, kaum verhohlene Fassungslosigkeit. Er grinste und streckte seine Hand aus. Vorsichtig und langsam dieses Mal, er hatte ja schließlich gelernt. „Deal?“ Es dauerte etwas, bis die visuelle Sezierung seiner Geste und die anschließende Analyse seiner Motive zu einem Ergebnis gekommen waren und Jean seine rechte Hand hob, die er mit sturmgeweihter, gerunzelter Stirn in seine gleiten ließ, immer dazu bereit, sie sofort zurück zu ziehen. Hauchzart drückte Jeremy die ihm dargebotenen, immer noch bandagierten Finger und lächelte sein bestes, versichernstes Lächeln. Nur langsam löste er seine Hand und nickte zurück zum Supermarkt. „Zu den Kissen und Decken?“ Jean drehte sich zu dem Fingerzeig und wenn Jeremy sich nicht sehr getäuscht hatte, dann hatte der Andere tatsächlich mit den Augen gerollt. ~~**~~ Die Sonne, die ihre ersten, zaghaften Strahlen durch das kleine Badezimmerfenster warf, leuchtete in einem so warmen Rot, wie es Jean noch nie gesehen hatte. Für einen Moment lang genoss er den surrealen Frieden dieses Augenblickes und erlaubte sich, sich vorzustellen, wie es wohl gewesen wäre, wenn er solche Sonnenaufgänge täglich hätte genießen können. Wäre er dann ein anderer Mensch als der, der er jetzt war, geworden? Wie wäre er wohl geworden, wenn nicht jedes gute Gefühl aus ihm herausgeprügelt, gefoltert und vergewaltigt worden wäre? Hätte er Freunde gehabt, einen Menschen, den er liebte? Würde er dann in Marseille leben, zur Universität gehen, überhaupt Exy spielen? Jean wusste es nicht und das Hoffnung verheißende, frische Morgenlicht wich einer tiefen Hoffnungslosigkeit, die ihm deutlich machte, dass er nichts davon je haben würde. Daran änderte auch die augenscheinliche Freundlichkeit seines neuen Kapitäns nicht, der ihm Essen gekocht hatte. Der ihm Dinge geschenkt hatte, die Jean niemals hatte annehmen wollen. Er hatte sich nicht weigern können, ohne unfreundlich zu werden. Das wiederum konnte er sich nicht leisten, nicht Knox gegenüber. Also hatte er stumm daneben gestanden, während Knox Sache um Sache in den Wagen geladen hatte, die ihm seinen Aufenthalt hier angenehmer machen sollte. Als wenn. Während er die Sachen ausgepackt und eingeräumt hatte, hatte Knox für sie beide gekocht und ihm schlussendlich etwas vorgesetzt hatte, das an Kalorien nicht zu überbieten gewesen war. Jeans Magen hatte sich in erschrockener Erwartung dessen noch vor dem ersten Bissen zusammengekrampft, aber irgendwie hatte er den Teller, der ihm vorgesetzt worden war, Gabel um Gabel aufgegessen. Auch wenn er sich nicht mehr ganz daran erinnern konnte, wie er den Berg an Nudeln, Käse, paniertem Fleisch, Mozzarella und Parmesan hatte bewältigen können, den Knox ihm vorgesetzt hatte. Das lief allem zuwider, was er jemals in Evermore zu sich genommen hatte und Jean schluckte auch jetzt noch beim Gedanken daran, wie es immer mehr und mehr im Mund geworden war. Nicht nur deswegen lag er die Nacht über wach. Die stillen, schwarzen Stunden der Nacht verbrachte er damit, mit dem Rücken am Kopf des Bettes lehnend unter seiner Decke zu sitzen und abwechselnd Knox und den nächtlichen Himmel zu beobachten. Anscheinend konnte der gesprächige Kapitän der Trojans auch im Schlaf nicht stillhalten, so sehr, wie er sich alle paar Minuten umdrehte, sein Kissen knautschte, dabei unverständliches Zeug murmelte, dann seufzte und wieder wie tot schlief. Nachdem er Jean damit beim ersten Mal einen Mordsschrecken eingejagt hatte, gewöhnte er sich beim vierten Mal an das Prozedere und ließ sich von dem immer wiederkehrenden Rhythmus einlullen. Davon und von den Sternen, die unbeirrt und langsam ihre Bahn und ihn in ihren Bann zogen. Jetzt hatte Knox sich also noch nicht über ihn hergemacht. Das änderte aber nichts an den Kondomen, die Jean am Nachmittag gesehen hatte, als er seine Sachen ins Badezimmer geräumt hatte. Direkt oben auf dessen Anrichte im Badezimmer lagen sie, omnipräsent und eindeutig. Jean kannte das. Riko hatte die Spieler, die er in sein Bett geschickt hatte, ebenfalls damit ausgestattet. Immer, wenn es soweit war, hatten sie in dem Badezimmer in Evermore gelegen, das er auch genutzt hatte. Sie sollten ihn nicht unbrauchbar machen mit eventuellen Krankheiten. Wofür sollten sie also sonst sein? Als sich der Raum von angenehmen Schwarz in ein sachtes Grau färbte, stand Jean auf und begab sich ins Bad, um wenigstens eine Tür zwischen sich und Knox zu haben, die er abschließen konnte. Nicht, dass er sie nicht sofort öffnen würde, wenn der Andere es ihm befehlen würde, doch es war gut zu wissen, dass er noch die Möglichkeit dazu hatte, sie geschlossen zu halten. Jean ließ seinen Blick über die gekauften Toilettenartikel schweifen, die nun anscheinend allesamt ihm gehörten, weil er sie sich ausgesucht hatte. Weniger danach, ob ihm der Geruch passte, sondern eher danach, dass nichts, aber auch gar nichts Schwarzes an ihnen zu finden war. Jetzt, da Riko tot war, wollte er nicht mehr an die Gepflogenheiten von Evermore gebunden sein. Für die letzten Wochen wollte er die Farben um sich haben, die er gerne hatte – wenn es ihm denn erlaubt war. Anscheinend schon, denn das Duschgel hatte ein tiefes Blau, das dem seines Pullovers ähnelte. Knox hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt und ihm nur eines seiner breiten Lächeln geschenkt, als er seine Wahl in den Wagen gelegt hatte. Das Shampoo war hellblau, die Zahnpasta weiß und türkis, selbst die Sonnencreme hatte grün und blau zu gleichen Anteilen auf ihrer Verpackung. Sonnencreme. Er hatte einen Moment lang gebraucht um zu verstehen, was auf der Tube stand, die Knox ihm mit einem gewichtigen Nicken in die Hand gedrückt hatte. In seinen ganzen Jahren in Evermore hatte er das nicht gebraucht. Nun schien es das Wichtigste zu sein und ohne diese Tube wäre er hier in Südkalifornien anscheinend aufgeschmissen. Glaubte er dem Jungen, dessen Augen zu verdächtig über seine Kapuze, den Pullover und das, wie Jean selbst wusste, blasse Gesicht gehuscht waren. Sonnencreme bedeutete, dass Knox ihn nicht im Keller einsperren würde, der für alle zugänglich unter diesem Haus lag und anscheinend ein Sammelsurium aus Waschkeller, Hobbykeller, Fahrradkeller, Ablagekeller und Partykeller war. Sonnencreme bedeutete, dass sich seine Welt nicht auf dieses bunte, chaotische Apartment und das Exystadion beschränken würde, sondern anscheinend auch auf die brennende Mittagshitze draußen und überfüllte Supermärkte, deren fragwürdige Musik ihm auch jetzt noch in den Ohren brannte. Trotz Renees Warnung vor dem Neuen, was ihn erwarten würde, hatte Jean nicht einmal im Ansatz begriffen, was es wirklich bedeuten würde. Nun, nach nur einem Tag, lag der Geschmack der Veränderung schal und bitter auf seiner Zunge und ließ ihn sich einsamer fühlen als jemals zuvor. Gewalt und Erniedrigung waren Dinge, die ihn über die letzten Jahre hinweg begleitet hatten, doch sie waren ihm vertraut gewesen und eine kleine Stimme in ihm wünschte sich beides und die kalte, gewalttätige Sicherheit von Evermore zurück, in der er sich zurechtgefunden hatte und in deren Nachwehen er immer ein Zuhause in sich selbst gefunden hatte. Hier stand er vor einem Nichts, einem Berg an Eindrücken von Menschen und Orten, die er noch nie gesehen hatte und deren Leben an ihm vorbeizogen, ohne dass sie ihn auch nur ansahen oder ihn bemerkten, wie er außerhalb stand und ihnen zusah. Irgendwann einmal, vor Jahren, hatte er den Wunsch gehabt, mit ihnen ein Leben zu leben, Teil von etwas zu sein und nun? Sah er von außen zu und begriff jedes Mal aufs Neue wieder, dass er überhaupt keine Rolle spielte. Er war unsichtbar, unnütz und ungewollt. Im schlimmsten Fall eine Last, die es abzufrühstücken galt. Das an sich war nichts Neues für ihn. Sein Herr und Riko hatten ihm das immer und immer wieder eingebläut, solange, bis er es verstanden und verinnerlicht hatte. Doch seine Nichtexistenz in Evermore war etwas Anderes als seine Nichtexistenz hier. In Evermore hatte er die Welt nicht vor Augen gehabt, wie sie für andere war. Hier hatte ein kurzer Besuch im Supermarkt gereicht um ihm zu verdeutlichen, was ein wirkliches Leben ausmachte, das ihm nicht erlaubt war. Jean schob den Gedanken beiseite. Zwei Monate noch, dann wäre es vorbei. Dann würde die Welt sich weiterdrehen, ohne ihn und alles wäre gut. Bis dahin… Langsam zog er sein Handy hervor und starrte auf die letzte Nachricht von Renee, die er noch nicht beantwortet hatte. ~Schlaf gut~, hieß es dort, gespickt mit Smileys, deren Bedeutung Jean Stück für Stück von Renee gelernt hatte. Leise öffnete er das Fenster des Badezimmers und hielt die Kamera in Richtung Sonnenaufgang, machte ein Foto, das der realen Vorlage nicht im Geringsten gerecht wurde. Für ein ~Guten Morgen.~ reichte es aber alle Male. Die Antwort kam so schnell, als hätte Renee nur darauf gewartet, dass er ihr schrieb. ~Wie geht es dir?~ Jean brauchte etwas länger. ~Ich habe das Gefühl, dass mir ein Stein im Magen liegt~, schilderte er das, was zwar nur ein Teil der Wahrheit war, aber ihrem Wunsch nach seinem persönlichen Empfinden entsprechen würde. ~Wovon?~ ~Knox‘ Essen.~ ~Was gab es?~ ~Gift.~ Die Smileys, die sie ihm schickte, kannte er bereits zur Genüge. Anscheinend war das, was er manchmal schrieb, amüsant und unterhaltsam, auch wenn er es wirklich ernst meinte. Dieses Essen war Gift für seinen Körper und seine Sportlerdiät gewesen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass er die letzten Monate nicht trainiert hatte. Auf lange Sicht gesehen würde es dadurch Probleme mit dem Vertrag geben, den Josten mit dem Hauptzweig der Moriyamas ausgehandelt hatte. Wenn er aus einer Mannschaft flog, weil er nicht mehr in der Lage war, seine Position gut zu bekleiden, dann würden sie sich seiner entledigen, dessen war er sich sicher. Ein mahnendes Beispiel für alle, die aus der Reihe tanzen würden. ~Du bist früh wach.~ ~Ich habe nicht geschlafen. Warum bist du schon wach?~ ~Ich gehe gleich joggen. Schöner Sonnenaufgang im Übrigen. Ich bin ein bisschen neidisch.~ Neidisch? Auf ihn? Jean runzelte die Stirn. Renee hatte sicherlich viel schönere Sonnenaufgänge als er erlebt. ~Ich würde auch gerne wieder laufen gehen.~ ~Wie geht es deinen Verletzungen?~ Jean rollte mit den Augen. Natürlich fragte sie das. Sie und die Krankenschwester hatten ihn dazu verdammt, seine Verletzungen auszukurieren, bis sie komplett verheilt waren. Jeder Einspruch seinerseits, der den beiden erklärt hatte, dass er auch mit Verletzungen in der Lage war, sich zu bewegen und seine Konstitution aufrecht zu erhalten, war abgeschmettert worden. ~Sie verheilen~, schickte er ihr mit einem genervten Smiley, auf den er erst einmal ein Lachen zurückbekam. ~Klappt es mit den Pflastern?~ ~Ja.~ Auch wenn Jean über ungelegte Eier sprach, war das keine Lüge. Es hatte zu klappen, auch bei Rückenpflastern. Irgendwie würde er sie wechseln können müssen ohne dass Knox davon Wind bekam. ~Dann nichts wie raus mit dir. Wirf Jeremy aus dem Bett und erkunde mit ihm die Gegend.~ Sie neckte ihn, das wusste er. Niemals im Leben würde er eine derartige Unverschämtheit wagen. Oder auch nur daran denken, dass er alleine das Apartment verlassen würde. Seit seine Eltern ihn in dieser Hölle gelassen hatten, war er nie alleine gewesen. Immer zu zweit, immer in Paaren. Das, was er am Meisten hasste, konnte er am Wenigsten außer Acht lassen, das hatte ihm die Zeit bei den Foxes deutlich gezeigt. Alleine sein war seinem Hirn ein Graus, wie ein pawlowscher Reflex hatte er das Unwohlsein in sich aufgezogen. So war er gleichzeitig dankbar für und angewidert von der Gegenwart des Trojans im anderen Raum, zu gleichen Teilen wie er auch angewidert von sich selbst war, dass er diese Hilfe benötigte. Renee wusste darum, hatte er ihr doch nach seinem zweiten Fluchtversuch in einem Anflug von selbstzerstörerischer Ehrlichkeit alles erzählt, was geschehen war. Ob er sie damit hatte verschrecken wollen? Sicherlich. Ihr Vertrauen und ihre Hoffnung in ihn zerstören, damit sie ihn aus lauter Hass und Wut gehen ließ, weil sie sich vor ihm ekelte. Das Gegenteil war der Fall gewesen und Jean hatte die nächsten Stunden wie ein kleiner Junge weinend in ihren Armen verbracht, zusammengerollt so gut es ging, das eine Mal schutzlos vor möglichen Angriffen, die nicht kamen. Die im Haus der Krankenschwester nie gekommen waren. Selbst durch Josten oder Minyard nicht, so sehr er es auch verdient gehabt hätte. ~Das frühe Aufstehen tut dir nicht gut, deine Vorschläge sind unrealistisch~, schrieb er zurück und wurde mit einem Kusssmiley belohnt, der ihn schnauben ließ. ~Soll ich ihn anrufen?~, fragte das Monster vor dem anderen Gerät diabolisch grinsend und Jean beeilte sich mit einer Antwort, panisch darauf lauschend, ob das Handy des Kapitäns tatsächlich klingelte und Renee ihre Drohung wahrmachte. ~Nein! Bitte nicht!~ ~Aber nur, weil du es bist~, kam beinahe augenblicklich die Erlösung und Jean schnaubte. Mit einem erleichterten Aufseufzen lehnte er sich an die kühle Wand. Auch jetzt schon war die Raumtemperatur eigentlich zu warm, als dass er seinen Pullover anbehalten sollte. Das würde im Laufe des Tages nicht besser werden, sicherlich nicht und er hatte nur ein langärmliges Shirt dabei, das die Verbände und Pflaster verdecken würde. Wenn er sich beeilte, würde er sich umziehen und duschen können, bevor Knox wach wurde. ~Geh joggen~, beendete er mit einem naserümpfenden Smiley ihr Gespräch und erhielt dafür einen Mittelfinger und ein Herz…und natürlich ihr Victoryzeichen. Jean rollte mit den Augen und drehte leise den Schlüssel im Schloss um. Ebenso vorsichtig öffnete er die Tür und spähte in das ruhige Schlafzimmer. Knox hatte sich ihm wieder zugedreht und schlief nun mit aus dem Bett hängenden Arm, dessen Finger unbewusst zuckten. In jahrelanger Übung schlich Jean an ihm vorbei zu seinem Schrank und öffnete die Tür. Seine wenigen Sachen hatte er sorgsam gefaltet und übereinandergestapelt, sodass er sie ohne Probleme und schnell aus dem Schrank nehmen konnte, wenn er sie brauchte. So wie jetzt. Ein Griff zum Shirt, ein Griff zur Unterwäsche und einer zur Hose, dann den Schrank wieder zu, umdrehen und sich mit einem wachen Knox konfrontiert sehen. Er zuckte so gewaltig zusammen, dass er beinahe eben jene Beute wieder fallengelassen hätte. Dass er den anderen Jungen nicht gehört hatte, lag schlicht und ergreifend daran, dass dieser sich kein Stück bewegt hatte, seine Augen aber offen waren. Hellwach, geradezu, als er sich nun aufsetzte und weniger lautlos gähnte. „Ist es schon so spät…? Aber draußen ist es doch noch halb dunkel…?“, murmelte die schlaftrunkene Stimme seines Kapitäns, der sich die Augen rieb und aus dem Fenster stierte, bevor er Jean wieder in den Fokus seiner Aufmerksamkeit rückte. Jean selbst fand sich nicht in der Lage dazu, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen, insbesondere auch, weil seine Gedanken ihm nun hilfreich, wie sie waren, zuflüsterten, dass er weder die Kapuze noch die dünne Beanie trug, die ebenfalls ein Geschenk Renees war, und man seine Haare in ihrer vollen Pracht sehen konnte. Der vollen, ausgerissenen, zerstörten Pracht. Knox‘ Blick sagte ihm nichts Anderes in diesem Moment, als er wach genug wurde zu begreifen, dass das, was sein Hirn ihm mitteilte, tatsächlich auch so war. ~~~~~~~~~~~~~~ Fortsetzung folgt. Kapitel 4: Strandgespräch ------------------------- „Jean…?“ Soviel Sorge hatte er das letzte Mal in Renees Stimme gehört, als sie ihn aus dem Nest geholt hatte. Sie nun in schlaftrunkener und verwirrter Form zu hören, irritierte ihn so sehr, dass es ihn von der aufkommenden Panik ablenkte, die ihm einflüsterte, diesen Raum sofort zu verlassen. Die Gegenwart des Kapitäns war nicht sicher, nicht, wenn er seine Haare sah und auf den Gedanken kam, ihm die verbliebenen herauszureißen. Stocksteif verharrte er mit seiner Kleidung auf dem Arm und konnte nicht anders, als Knox in die Augen zu starren. Es war unhöflich und unangebracht, doch er musste wissen, was als Nächstes kam. Er musste wissen, was der andere Junge vorhatte, um sich dagegen zu wappnen. „Oh Gott…“ Mit Horror sah Jean, dass Knox seine Decke zurückschlug und die Beine auf den Boden stellte. Er trug nur eine Boxershorts, fiel Jean auf und das machte die Situation hier in keinem Fall besser. Knox machte auch keinerlei Anstalten, sie zu verbessern, als er sich erhob und einen Schritt auf ihn zutrat. Jean strauchelte ungelenk zurück und stieß mit dem Rücken an den Schrank, der seinen Griff genau in die noch verheilende Wunde bohrte, die Riko ihm mit einem Messerstich zugefügt hatte. So sehr Jean den Schmerz auch gewohnt war, so sehr überraschte ihn dieser in seiner jetzigen Situation. Ungewollt stöhnte er auf und verkrampfte sich. Ein Gutes hatte das, ließ es doch Knox innehalten. „Jean, deine Kopfhaut…deine Haare. Du musst zu einem Arzt“, drangen Worte an seine überreizten Ohren, die er so im Leben nicht erwartet hatte. Zu einem Arzt? Wegen seinen Haaren? Irritiert maß Jean den Jungen, der mit hilflos geöffneten Händen vor ihm stand und seinen Blick nicht von der Katastrophe lösen konnte. „Es verheilt“, presste er hervor, bevor Knox auf dumme Gedanken kommen konnte. „Es wurde schon versorgt. Im Haus der Krankenschwester. Nach… nach Evermore.“ Ungelenk und hastig entkamen die Worte, die so wichtig waren, seinen Lippen und er hoffte, dass es reichte. Das tat es, auch wenn es dem Entsetzen auf dem Gesicht seines neuen Kapitäns keinen Abbruch tat. „Nach…Evermore?“, echote Knox langsam und Erkenntnis dämmerte ihm. Wer auch immer Knox gebrieft hatte, was ihn betraf, hatte anscheinend wesentliche Dinge ausgelassen, allen voran, warum er überhaupt von dort entführt worden war. Jean schluckte schwer. Er konnte das nicht erklären. Er brachte die Worte nicht über die Lippen, die das beschrieben, was Riko ihm angetan hatte. „Es ist egal“, wiegelte Jean ab, in der Hoffnung, dass Knox es tatsächlich sein lassen würde, ihn mit seinen Fragen, Blicken und mit seiner Sorge zu belästigen. Er wollte nur in Ruhe duschen und sich umziehen. Für einen Moment sah es so aus, als würde Knox diskutieren wollen. Für einen Moment öffnete er seinen Mund, hielt ihn offen und runzelte die Stirn. Doch dann glättete sich die steile Falte und er verschloss die Lippen. Er lächelte wieder sein freundliches Lächeln, das Jean ihm in diesem Augenblick am Liebsten aus dem Gesicht geschlagen hätte, weil es so unverdient war. Nichts an dieser Situation war zum Lächeln. Nichts. „Okay.“ Ein schlichtes Wort, das alles und nichts hieß. Jean grollte innerlich. Und okay war auch nichts. „Darf ich ins Bad?“, fragte er und Jeremy nickte nachdenklich. Erleichtert, dass er zumindest jetzt so ungeschoren davongekommen war, floh Jean in den kleinen Raum und machte sich an die zermürbende Aufgabe, sich auszuziehen, zu duschen, seine Haare zu waschen und die Pflaster zu wechseln. Was genau davon er am Meisten hasste, konnte er nicht sagen. ~~**~~ Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete Jeremy seinen neuen Mitbewohner, wie dieser am Küchentresen saß und auf seinen Teller starrte, auf dem sich noch der Rest des Rühreis befand, das Jeremy für sie beide zubereitet hatte. Die Kanne Kaffee, die neben ihm stand, wurde bisher nicht angerührt, auch wenn Jean hin und wieder einen Blick auf sie warf. Etwas in ihm sagte Jeremy, dass er sie nicht anrühren würde, bevor er ihm nicht Kaffee angeboten hatte und das reihte sich nahtlos in eine Ansammlung von Eindrücken ein, die ihm eiskalte Schauer über den Rücken jagten. Jean hatte heute Morgen solche Angst vor ihm gehabt, dass er vor ihm zurückgewichen war. Insbesondere mit den stellenweise ausgerissenen Haaren, die sich in kahlen Stellen auf dem sonst dunkelbraunen Schopf bemerkbar machten und mit der gestrigen Attitüde des ehemaligen Ravens ließ es Jeremy sich unweigerlich fragen, was geschehen war um den Transfer der also so hingebungsvoll bekannten Nummer drei auszulösen. Interne Streitigkeiten waren es jedenfalls nicht nur und er war versucht, zu seinem Handy zu greifen und Kevin zu schreiben, der ihn anscheinend nur mit dem Nötigsten versorgt hatte. Wie zum Beispiel, dass Jean nicht alleine sein konnte. Die Frage war, inwieweit das nicht im krassen Gegensatz zu dem stand, was der Junge, der schweigend hinter ihm saß, von ihm dachte. Ob die Angst, die er gesehen hatte, sich nicht in einer Art paradoxer, toxischer Bindung äußerte, die er anscheinend auch zu Riko gehabt hatte. Jeremy atmete tief durch und drehte sich um. „Warum hast du Angst vor mir, Jean?“, fragte er ungelenk und etwas zu laut, was ihm ein überraschtes, graues Augenpaar einbrachte. Jean trug eine Beanie, ein leichtes, graues Ding, das zu seinen Augen passte und seine scharf konturierten Gesichtszüge hervorhob. Es machte ihn unverschämt attraktiv, auch mit der bleichen Haut, den tiefen Augenringen und den offensichtlich gerade erst verheilten Schnitten im Gesicht. Jeremy erhielt keine Antwort auf seine Frage, nur das, was er in der Dämmerung des heutigen Morgens bereits schon einmal gesehen hatte: aufkommende Panik, die er alleine mit seiner Frage hervorgerufen hatte. Er wusste nicht warum und womit und das zerrte an seinen Nerven. „Hör zu, wenn ich dir mit irgendetwas Angst einjage, dann sag mir das bitte. Ich möchte nicht, dass du dich vor mir fürchtest, ich möchte, dass es dir gut geht hier. Nachdem… was auch immer in Evermore passiert ist.“ Jeremy stockte einen Moment lang, ließ seine Worte wirken. „Und was auch immer es ist, was dort passiert ist, du kannst jederzeit mit mir darüber sprechen, falls du jemanden zum Zuhören brauchst.“ Jeans Gesichtsausdruck sagte, dass er gerade ebenso gut hätte Chinesisch sprechen hatte, es wäre auf das gleiche Verständnis gestoßen. Die Fragen, die sich hinter der hohen Stirn auftürmten, konnte er beinahe bildlich sehen, die Ablehnung, eben jene die schmalen Lippen passieren zu lassen, ebenso. Geduld war nicht Jeremys Stärke und Schweigen ebenso wenig, doch sein Instinkt gebot ihm, beides zu trainieren und Jean die Zeit zu geben, die er für eine Antwort brauchte. Sekunden verstrichen. Aus diesen wurden Minuten. Endlos lange, quälende Minuten, in denen sie sich nur anstarrten, blinzelten und schwiegen. Wenn Jean ihn nicht beharrlich angestarrt hätte, hätte Jeremy geglaubt, dass er ignoriert wurde. Ein drittes Mal versuchte er es. „Bitte sei ehrlich zu mir, Jean.“ Eben jener senkte seinen Blick und seine Hände verschränkten sich auf seinem Schoß. „Du bist der Kapitän“, erläuterte er, als würde das alles erklären. Jeremy legte den Kopf schief. „Das bin ich“, bestätigte er. „Dir gehört zusammen mit Coach Rhemann das Team.“ Der Ausdruck ließ Jeremy die Stirn runzeln, doch er schwieg, jetzt, da Jean sich anscheinend dazu entschlossen hatte, sich ihm mitzuteilen. „Deine Art, Befehle zu geben, unterscheidet sich von grundlegend von Rikos. Ich weiß nicht, wie ich ihnen am Besten folgen soll, wenn du sie wie Vorschläge formulierst.“ Wie ein Donnerschlag hallten die Worte des ehemaligen Raven durch die stille Küche und Jeremy spürte Hitze in sich aufsteigen. Fieberhaft versuchte er, sich daran zu erinnern, wann er Befehle erteilt hatte und kam zu keinem schlüssigen Ergebnis. Warum sollte er auch? Sie waren gleichberechtigt und ihr Trainer behandelte sie mit Respekt. Niemand stand über jemand anderem. „Haben Riko und dein ehemaliger Trainer in Evermore Befehle gegeben?“, fragte er sanft und Jean nickte. „Gehörte ihnen das Team?“ Wiederum bejahte Jean das. „Wie hat sich das geäußert?“ „Sie haben gesagt, was zu tun war und bei Fehlverhalten entsprechende Strafen ausgeteilt.“ „So wie Extrarunden laufen?“ Es war ein Testballon, denn Jeremy ahnte bereits, dass die Strafen in Evermore weitaus schlimmer waren als ihre eigenen. „In der Art.“ „War das mit deinen Haaren auch eine Strafe?“ Jean nickte und es brach Jeremy ein Stück weit das Herz. Das war keine Strafe. Das war Folter. „Jean, das ist Körperverletzung. Er hatte kein Recht dazu, dir das anzutun.“ „Doch hatte er. Ich gehöre…gehörte ihm. So wie ich jetzt dir gehöre.“ Die ergebene, bittere Selbstverständlichkeit, mit der Jean Ungeheuerlichkeiten von sich gab, war erschütternd. Wortlos und entsetzt starrte Jeremy in das seitliche Profil des Backliners und begriff in diesem Moment, dass er noch nicht einmal die Spitze des Eisberges kannte, der Evermore darstellte. Kein Mensch konnte einen anderen Menschen besitzen, das war schlicht unmöglich. Das war abartig und mittelalterlich. Und in keinem Fall war es das, wofür die USC stand. Langsam löste sich Jeremy von der Anrichte und noch viel viel langsamer kam er zu Jean. Er sah an der aufkommenden Anspannung, dass der Andere nur auf Gewalt wartete und langsam ahnte Jeremy auch warum. Er würde allerdings den Teufel tun und die Erwartungen des Jungen erfüllen. Niemals. In Zeitlupe ließ er sich auf seine Knie nieder, eine Position, die ihn unweigerlich kleiner machte als Jean, der auf dem hohen Barhocker saß. Von hier aus konnte er jedoch in das gesenkte Gesicht sehen und seine Hand mit aller gebotenen Vorsicht auf die des Backliners legen, die sich in dessen Oberschenkel gekrallt hat. Die Finger unter seinen zuckten, entzogen sich seinem Griff aber nicht. Jeremy räusperte sich. „Du gehörst mir nicht. Du gehörst auch nicht unserem Coach oder dem Team. Du gehörst zu unserem Team. Ich schwöre dir, dass keiner dir hier wehtun oder dich körperlich angehen wird, Jean. Du hast ein Recht darauf, dass es dir gut geht, wie jeder andere Mensch auch. Du hast ein Recht auf eigene Entscheidungen und auf eigene Wünsche. Niemand hier wird dir Befehle geben und dich dafür strafen, wenn du etwas nicht so machst, wie der Coach oder ich es vorschlagen oder wünschen. Wir diskutieren, wir strafen nicht.“ Jean sah ihn nicht an, aber er wusste, dass seine Worte gehört worden waren. Es zerbrach ihn innerlich gerade noch ein Stück mehr, als er sah, wie die breiten Schultern zitterten, auch wenn er in der nächsten Sekunde erschrocken zurückfuhr, als er sah, dass es Amüsement war, was das Zittern auslöste. Jean lachte, doch es waren keine fröhlichen Laute, die seine Lippen verließen. Er hob den Blick und Jeremy begegnete eiskalten, hasserfüllten Augen, die sich in all ihrer Intensität schier in ihn hineinbrannten. „Selten so einen Bullshit gehört“, zischte Jean und entzog ihm seine Hand. Abrupt erhob er sich und warf dabei den Barhocker um. Mit höhnischem Spott sah er auf Jeremy herab. „Du kannst mit deinem humanistischen Dreck aufhören. Ich weiß, dass du lügst, du brauchst mir nichts vorzuheucheln.“ Tumb starrte Jeremy den hasserfüllten Worten entgegen, unfähig zu reagieren oder darauf zu antworten. Er wollte widersprechen, wusste aber nicht wie er gegen diese Überzeugung, diese Indoktrinierung ankommen sollte, die die Ravens anscheinend in dem Jungen hinterlassen hatten. Unter Jeans brennender Verachtung erhob Jeremy sich und verschränkte die Arme. „Wenn du das glaubst, warum bist du dann hier?“, fragte er mit bemühter Ruhe und Jean zischte verächtlich. „Weil ich keine Wahl habe.“ War es wirklich so? Fühlte er sich dazu gezwungen? Wollte er gar nicht hier sein? Das würde einiges erklären, auch wenn sich vieles davon Jeremys Verständnis entzog. Ohne Bosheit deutete er hinter sich. „Die hast du. Da ist die Tür. Es steht dir frei zu gehen, wenn du nicht hier sein willst. Ich halte dich nicht auf und ich möchte nicht, dass du in irgendeiner Form unglücklich mit dieser Entscheidung bist.“ Er musste etwas absolut Verachtenswertes gesagt haben, so wie Jean die Zähne wie ein tollwütiges Tier fletschte und einen Schritt auf ihn zutrat. Unwillkürlich wich Jeremy vor ihm zurück. Gerade jetzt in diesem Augenblick wurde ihm schmerzlich bewusst, um wieviel größer der Andere war und wieviel mehr Erfahrung er mit Gewalt haben musste. Jeremy konnte da nicht mithalten, ihm war manches Mal schon die Gewalt, wie sie in ihrem Sport ausgeübt wurde, zuviel. Er wollte sich mit niemandem schlagen. Er wollte auch nicht geschlagen werden. Im Moment standen seine Chancen dazu anscheinend nicht gut und mit schmerzlicher Angst wurde er sich bewusst, dass sie alleine im Haus waren. „Jean, hör auf, du machst mir Angst“, presste er hervor und mehr als alles Andere zuvor ließ das die Aggression des Ex-Ravens von diesem abfallen. Die breiten Schultern senkten sich und der starre, hasserfüllte Blick wurde ruhiger, wenngleich auch nicht weniger ablehnend. Es war Jeremy aber immer noch zuviel, die Präsenz des Anderen zu bedrohlich, als dass er nun zur Tagesordnung zurückkehren konnte. Mit dem Blick auf Jean trat er in den Flur zurück und schlüpfte in seine Sandalen. Ebenso blind griff er nach dem Auto- und Wohnungsschlüssel, der in der Schale lag, die ihm seine Mutter zum Einzug geschenkt hatte. „Ich komme wieder…später…“, sagte er unnötigerweise, wie er befand und öffnete die Tür. Erst, als er sie hastig hinter sich geschlossen hatte, fing er an zu laufen, die Treppen hinunter bis zu seinem Wagen. Erst, als er den Wagen startete und den Campus verließ und Jean nicht im Rückspiegel sah, wurde er ruhiger, weniger flatterhaft. Als er sich durch den morgendlichen Verkehr in Richtung Del Rey Lagoon schlängelte und die Musik auf laut drehte, konnte er auch die letzten Fäden der Angst abschütteln, die ihn noch in ihrem Griff gehalten hatten. Als er seinen Wagen parkte, hinunter zum Strand ging und sich in die von der morgendlichen Sonne beschienen Wellen besah, war Jeremy in der Lage, das Ganze ohne Zurück zu schrecken Revue passieren zu lassen vor seinem inneren Auge. Er war in der Lage, sich auf die Fragen zu besinnen, die momentan am Wichtigsten waren. Die Frage, ob Jean eine Gefahr für sein Team war, hatte dabei oberste Priorität. Wenn dem so wäre, dann würde der Ex-Raven noch bevor er sein erstes Training mit ihnen hatte, zurückfliegen. Niemand vergriff sich an seinem Team und er würde mit Sicherheit keine Raven-Methoden und Einschüchterungsversuche bei den Trojans dulden. Jeremy griff sich einen der kleinen Kiesel und warf ihn in die Fluten, die unweit von ihm an den Strand brandeten. Frustriert setzte er sich auf den warmen Sand, der sich unter seinen Händen so fein anfühlte. Wenn er es sich ehrlich eingestand, machte ihn die Situation wütend. Kevin hatte ihn angerufen und ihn darum gebeten, ihm zu helfen. Kurz und knapp hatte er die Situation geschildert, dabei anscheinend alle wichtigen Details ausgelassen und ihn so in Probleme gestürzt, die er nicht vorausgesehen hatte. Problemlösungen waren Jeremys Stärke, schon immer gewesen, doch auch er hatte Grenzen. Wenn es bereits am zweiten Tag ihres Zusammentreffens so eskalierte, dann sah er schwarz für die Zukunft. Jeremy zog sein Handy hervor und entsperrte es. Mit zusammengebissenen Zähnen rief er Kevins Kontakt auf und wählte dessen Nummer. Es klingelte viermal, bis er abnahm und Jeremy auf Videotelefonie umschaltete. „Hey“, grüßte er und wurde keine zehn Sekunden später von Kevins Konterfei begrüßt. „Hey, Jer.“ Jeremy lächelte, wie er wusste, etwas gezwungen. „Alles gut bei euch?“ „Schreckliche Trainingseinstellung wie immer. Bei euch?“ „Noch gar keiner da zum Trainieren.“ Dass Kevin das ein Stirnrunzeln entlockte, war Jeremy klar und er provozierte es gerne. Kevin war in der Hinsicht ein sehr einfacher und fokussierter Geist. Über Exy kam nichts, rein gar nichts und wehe, jemand sah das nicht so wie er. Wie er es mit seiner Einstellung geschafft hatte, so weit oben in Kevins Rangliste zu sein, war Jeremy bis heute ein Rätsel. „Sitzt du deswegen faul am Strand, anstelle dich mit Drills fit zu halten?“ Jeremy schnaubte und hob bedeutungsschwanger seine Augenbraue. „Ist Jean bei dir?“, fragte Kevin nach einigen Sekunden Stille und Jeremy schüttelte den Kopf. Er seufzte. „Er ist im Wohnheim und… wir hatten einen Streit.“ Überrascht hob Kevin die Augenbrauen und lehnte sich vor, was sein Gesicht beinahe komisch vergrößerte. „Einen Streit? Du mit ihm? Wie hast du das denn geschafft?“ Jeremy erzählte ihm alles, was geschehen war, wie Jean und er sich verhalten, was sie gesagt hatten. Er erzählte ihm von seinen Befürchtungen und von den Konsequenzen, die ein solches Verhalten an der USC für Jean haben würde. Kevin nahm das alles mit unbewegtem Gesicht zur Kenntnis und selbst, als Jeremy schon lange fertig war, schwieg er mit zusammengekniffenen Lippen. „Jean würde dich niemals angreifen“, sagte er schließlich. „So wurde er nicht erzogen.“ „Das sah da aber anders aus.“ „Ich glaube dir das. Aber er… er wurde so nicht erzogen.“ „Das sagtest du schon.“ „Riko hat ihm das ausgetrieben“, spezifizierte Kevin schließlich und Jeremy hob überrascht die Augenbrauen. „Was?“ „Als er nach Evermore kam, war das nicht freiwillig. Er diente zur Begleichung einer Schuld, die seine Eltern hatten. Sie haben ihn dort zurückgelassen, als er elf war.“ Geschockt starrte Jeremy sein Telefon an, in der fahlen Hoffnung, sich verhört zu haben. Die Begleichung einer Schuld? Das würde Jeans Fixierung auf den Terminus Besitz erklären und warum er sich so sah. Bei den Ravens war er nichts Anderes als das gewesen, die Begleichung einer Schuld. „Das ist Menschenhandel. Das ist verboten“, wisperte er und Kevin schnaubte. „Das interessiert in gewissen Milieus niemanden, Jer und du tust gut daran, da deine Nase nicht reinzustecken. Es hat bis jetzt niemanden interessiert und er ist auch nur noch am Leben, weil Renee ihn da rausgeholt hat. Riko hätte ihn sonst umgebracht und auch das hätte niemanden interessiert. Jer, Riko hat ihm Dinge angetan, die du dir noch nicht einmal in deinen schlimmsten Träumen vorstellen kannst. Nicht nur er, auch der Trainer. Gleich von Beginn an und das endete erst vor zwei Monaten.“ Gewaltsam schluckte Jeremy. Er hatte das Gefühl, dass er mit jedem Wort, was Kevins Mund verließ, hilfloser wurde. Elf Jahre alt war Jean gewesen, als seine Eltern ihn hier ausgesetzt hatten. Neun Jahre war er in der Gewalt Evermores gewesen und er mochte sich nicht ausmalen, was genau geschehen war. Wie abartig war das? Wie absolut ekelhaft und menschenverachtend? „Wenn du das alles weißt, warum ist er dann nicht bei dir und den Foxes? Du bist sein Freund…jemand, dem er sicherlich vertraut.“ Kevin schnaubte verächtlich. „Nein, bin ich nicht. Wenn jemand nicht sein Freund ist und kein Recht hat, sich so zu nennen, dann bin ich das. Deswegen habe ich dich um Hilfe gebeten. Du, dein Team, euer Trainer, ihr seid gut. An euch ist nichts Verdorbenes, nichts Schlechtes. Wenn ihm jemand helfen kann zu heilen und ihm zu zeigen, dass es ein Leben gibt, dann ihr.“ „Ist er freiwillig bei uns?“ „So freiwillig, wie es jemand ohne freien Willen sein kann.“ Jeremy runzelte die Stirn, während er die Worte des Anderen in seinen Gedanken hin und herschob, bis sie Sinn machten. Eine Frage hatte er jedoch noch. „Warum hast du mir das nicht sofort gesagt?“ Kevin schüttelte den Kopf. „Ich hätte es dir gar nicht gesagt, weil ich kein Recht dazu habe, diese Geschichte zu erzählen. Ich möchte nur nicht, dass du den falschen Eindruck von Jean hast, deswegen habe ich dir das überhaupt erzählt. Er verdient eine Chance.“ Langsam und bedächtig nickte Jeremy. „Okay. Ich spreche mit ihm. Wäre doch gelacht, wenn der geballte Charme der Trojans ihn nicht kleinkriegt.“ Es war als verzweifelter Witz gedacht, aber Kevin war weit davon entfernt zu lachen. Im Gegenteil. Der feine Tränenfilm, den Jeremy in seinen Augen sah, war verstörend. „Mit elf war er ein freundlicher Junge, der verzweifelt vor Heimweh seine Krallen ausgefahren hat, weil es das Einzige war, was ihm in einem fremden Land geblieben ist. Riko hat das gebrochen… nachhaltig. Den Widerstand und die Freundlichkeit. Er versteht das Konzept von Freundlichkeit und Zuneigung nicht mehr und denkt, dass es nur dazu dient, ihn zu brechen. Seid vorsichtig mit dem, was ihr tut und wie ihr es tut.“ Schweigend nickte Jeremy und zuckte überrascht zusammen, als das Handy am anderen Ende der Leitung verwackelt den Besitzer wechselte und plötzlich einer der Minyard-Zwillinge auf dem Bildschirm auftauchte. Er war sich nie sicher, mit welchem von beiden er es zu tun hatte und konnte nur anhand des Gesichtsausdrucks raten, dass es sich vielleicht um Andrew handelte. „Gib mir mein Handy wieder, Arschloch“, grollte Kevin im Hintergrund, das traf jedoch auf wenig Gegenliebe. „Du hast den Idioten also zum Heulen gebracht“, sagte Minyard in seiner klassischen, sonoren Stimme, die latent gelangweilt klang. Eine Falle, mochte Jeremy meinen, denn die subtile Drohung, die in der simplen Feststellung mitschwang, ließ Jeremy einen Schauer über den Rücken laufen. „Hat er nicht!“ Hatte er schon, aber das behielt Jeremy klugerweise für sich. „Kann ich etwas für dich tun, Minyard?“, hielt er sich lieber an den Nachnamen, bevor es dann doch Aaron war. „Nein. Und jetzt geh zurück zu deinem Wohltätigkeitsprojekt.“ Irritiert starrte Jeremy den Bildschirm an und wartete auf eine weitere Erklärung, die aber nicht folgte. Dafür wurde er mit einer Beendigung des Telefonats belohnt. Überrascht schnaufte Jeremy. Minyard, wie er leibte und lebte. Langsam ließ er das Handy sinken und starrte auf das sonnige, sommerliche Meer, das glitzernd vor ihm lag. Los Angeles, L.A., das war Lebensfreude pur. Es war Sonne, Wärme, freundliche, warmherzige Menschen. L.A. war der Puls, der ihn am Leben erhielt mit all seinen Facetten. Niemals in seinem Leben hatte er Repressionen kennengelernt, immer war er mit Liebe überschüttet worden und hatte gelernt, sie freigiebig weiter zu geben. Es war für ihn unvorstellbar, dass es Menschen gab, hier, in den USA, denen dieser Lebensfunken vorenthalten wurde. Es schmerzte ihn bis tief in seine Seele hinein, dass dem so war und das, was er von frühester Kindheit durch seine Eltern mitbekommen hatte, schlug nun durch. Er wollte helfen. Er wollte heilen, was zerstört worden war. Jeremy atmete tief ein und erhob sich, eingedenk der Tatsache, dass Jean nicht gut alleine sein konnte. Entschlossen klopfte er den Sand von seiner Trainingshose. Er ließ den Strand hinter sich und ging zurück zu seinem Wagen, der ihn wie gewohnt alt und protestierend durch die Straßen brachte. Der Verkehr war dichter geworden, so brauchte Jeremy länger, als es ihm wirklich lieb war, bevor er erneut auf den Parkplatz der Uni fuhr und das alternde Ungetüm abstellte. Die Schultern straffend stieg er aus und legte die letzten Minuten zu ihrem Wohnhaus beinahe so schnell zurück wie auf dem Hinweg. Das bewahrte ihn aber nicht davor, dass er für geschlagene fünf Minuten vor der Tür ihres Apartments stand und nichts tat, plötzlich unsicher. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er sich dann doch überwand und den Schlüssel ins Schloss steckte. Vorsichtig öffnete er die Tür, gewappnet für all das, was da kommen mochte. Für einen neuen Konflikt, den er mit einer Sturheit durchstehen musste. Dass der Junge, der ihm gegenüber noch vor Stunden Aggressionen gezeigt hatte, nun auf dem Boden des Apartments kniete, die Stirn auf den Küchenfliesen, die Hände vor sich flach auf dem Boden ausgestreckt, dafür war er am Geringsten gewappnet gewesen. Jeremy hatte diese Pose zu oft in diversen Filmen gesehen, als dass er nicht auf Anhieb erkennen würde, dass sie ein Zeichen der absoluten Unterwerfung war. Jeremy wusste, dass er sich bewegen musste. Er wusste, dass er hier eingreifen musste, doch er konnte sich nicht von der Stelle bewegen. Seine Augen blieben an den Fingern hängen, die seltsam krumm waren, geradeso, als wären sie mehrfach gebrochen gewesen. Sechs Finger sahen so aus. Jeremy riss sich von dem Anblick los, was sich als Fehler entpuppte. Jean hatte seine Mütze abgenommen, was alleine ihm schon Übelkeit erzeugte. Der Junge präsentierte ihm seine Haare, die lädierte Kopfhaut, lud ihn dazu ein, ihn damit zu strafen. Der Anblick und die Implikation dessen waren fürchterlich. Nun war es Jeremy, dessen Augen brannten. Stumm weinte er die Tränen, die er in Kevins Augen gesehen hatte und wischte sie sich schließlich unwirsch weg. Das war jetzt nicht wichtig. Jeremy befreite sich aus seiner Starre und Schritt um Schritt kam er zu Jean. Unweit von ihm setzte er sich auf den Boden und legte erneut zaghaft seine Hand auf die malträtierten Finger, Kevins Worte wie Leuchtfeuer in seinen Gedanken. Jean zuckte brachial zusammen und seine Atmung beschleunigte sich, doch er blieb in der Pose. Es war erniedrigend und an Jeans Statt fühlte Jeremy diese Erniedrigung wie Säure in sich, das ihn verzehrte. „Du magst es mir zwar jetzt vielleicht noch nicht glauben. Vielleicht auch nicht in einer Woche, einem Monat oder in sechs Monaten. Aber ich werde dich nicht strafen. Ich werde dich weder körperlich angehen noch die schlagen noch dir andere Dinge antun. Ich werde dir auch keine Befehle erteilen, denn so funktionieren die Trojans nicht. Wir sind ein gleichberechtigtes Team, keine Diktatur und wir kümmern uns umeinander. Wir sorgen füreinander und du bist nun Teil dieses Teams, also sorgen wir auch für dich. Wenn du das möchtest, heißt das. Wenn du gehen möchtest, dann werde ich dich dabei unterstützen, einen Ort zu finden, der dich glücklicher macht als dieser hier. Wenn nicht, wären wir wieder bei dem Chaos, das ich hier in diesem Apartment veranstalte. Und bei unserem Exyfeld, das eigentlich ziemlich cool ist.“ Letzteres war mit einem Lächeln ausgesprochen worden und Jeremy ließ seine Worte erst einmal wirken. Er wusste auch nicht, was er sonst sagen sollte außer unsinnigem Gebrabbel, das Jean vermutlich eher verunsicherte als dass es ihn aufmunterte. Es brauchte seine Minuten, bis das Zittern in der gebeugten Gestalt weniger wurde. Minuten, bis die Atmung sich normalisierte. Jeremy verspürte den überschäumenden Drang, Jean in die Arme zu nehmen, auch wenn er instinktiv wusste, dass das genau der falsche Ansatz sein würde. Weil Riko es ihm verbaut hatte. „Ich habe dich bedroht“, entkam es schließlich verkrampft und gepresst, unterlegt mit einem schweren, französischen Dialekt. War es die Verzweiflung, die Jeans Muttersprache stärker hervortreten ließ? Mit Sicherheit. „Bereits vergeben. Auch wenn ich es vorziehen würde, dass das nicht mehr passiert.“ „Ich habe widersprochen.“ „Damit wärst du nicht der Erste und nicht der Letzte. Spätestens, wenn du Laila und Alvarez kennenlernst, wirst du dir vorkommen wie ein Heiliger.“ „Ich habe keinen Ort, an den ich gehen könnte.“ Jeremy seufzte lautlos. „Dann machen wir diesen Ort zum besten Ort, an dem du sein könntest. Wie klingt das?“ „Fürchterlich“, murmelte Jean mehr als dass er es wirklich sagte und Jeremy musste wider Willen schnauben. „Sind meine bisherigen Kochkünste so schlimm?“, versuchte er ihre Unterhaltung auf eine Ebene zu heben, die humorvoller war, leichter, weniger traumatisch, denn eher alltäglich. Der Schopf aus braunen Haaren schüttelte sich langsam und Jeremy hob die Augenbraue. „Na los, heb den Kopf, damit ich sehen kann, ob du lügst“, hielt er seinen Ton leicht und spielerisch. Der Erfolg, den er damit hatte, ließ ihn innerlich jubilieren. Zögerlich und langsam kam Jean hoch und kniete nun vor ihm. Er zog seine Hände zu sich auf die Oberschenkel und sah Jeremy direkt ins Gesicht. Der nicht ganz so namenlose Schrecken, den er dort sah, war ein Schatten sondergleichen, welcher die grauen Augen noch heller machte, als sie eigentlich waren. Neun Jahre Gewalt lagen hinter Jean, neun Jahre in den Händen eines Psychopathen, denn nichts Anderes war Riko Moriyama anscheinend gewesen. Er war sicherlich nicht qualifiziert genug, um mit einem solchen Trauma adäquat umzugehen, aber Jeremy würde seinen eigenen Beitrag dazu leisten, dass Jean wieder lernen konnte, was Freude war. „Hey.“ Er zog seine Beine zu sich und legte die Arme auf die Knie. „Also. Soll ich uns nun jeden Abend die Käsepampe kochen?“ Der Schrecken, der nun auf das Gesicht des Backliners trat, war weniger ernst, aber genauso ernst zu nehmen. Es war eine der ehrlichen, instinktiven Reaktionen, derer Jeremy nun drei zählte. „Nicht?“ Jean schüttelte den Kopf. „Sondern?“ Jean brauchte einen Moment, bevor er sich anscheinend dazu entschloss, dass er ehrlich sein konnte. „Ich mag Lasagne.“ Vorsichtig, als würde er dafür geschlagen, verriet Jean ihm ein Geheimnis, das Jeremy beinahe augenblicklich abspeicherte. Lasagne. Gut. Konnte er ab heute, beschloss er. Zumindest mit Hilfe eines Rezeptes. „Dann bekommst du Lasagne.“ Jeans Misstrauen war deutlich zu sehen. Nicht heute, nicht morgen, nicht in einer Woche oder einem Monat oder in sechs Monaten, hielt sich Jeremy seine eigenen Worte vor Augen. Irgendwann aber hätte Jean gar keine andere Wahl, als es ihm zu glauben, weil er nichts versprach, das er nicht halten würde. ~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 5: Der Letzte räumt die Erde auf ---------------------------------------- Jean hatte weder die Gewalt noch die Erniedrigung bekommen, die er erwartet hatte. Was auch immer aus ihm dort herausgebrochen war, welche Ketten um seine eiserne Selbstbeherrschung auch immer sich gelöst haben mochten, als er Knox ausgelacht hatte für seine Worte…spätestens, als dieser vor ihm zurückgewichen war und auch noch gesagt hatte, dass er ihm damit Angst machte, hatte Jean seinen exorbitanten Fehler erkannt. Da war Knox‘ Verlassen des Apartments nur noch der Tropfen auf dem heißen Stein gewesen um Jean panisch zurück zu lassen. Er wusste nicht genau, wie lange er vor dem Messerblock gestanden und sich gefragt hatte, ob es überhaupt noch einen Sinn machte, sein Ende herauszuzögern. Knox würde sicherlich mit Anderen zurückkehren und ihn adäquat für den ungeheuerlichen Widerstand bestrafen, den er sich geleistet hatte. Er würde das überleben, aber zu welchem Preis? Und war er bereit, ihn zu bezahlen? So oft Jean auch nach einem der Messer gegriffen hatte, so oft hatte er es wieder zurückgesteckt. Wieder und wieder hatte er sich dafür Mut gemacht und dann doch allen Mut verloren, diesen einen, letzten Schritt zu gehen. Anstelle dessen hatte er sich dafür entschieden, demütig um Verzeihung und Vergebung zu bitten, in der Hoffnung, dass seine Strafe nicht so hoch ausfallen wie sein eigenes Versagen. Er hatte die Position eingenommen, die sein Herr und Riko für seine gröbsten Verfehlungen gewollt hatten, damit sie ihn adäquat strafen konnten, die Finger ausgestreckt, sein Kopf und der Rücken freigelegt. Im Gegensatz zu damals, hatte er es hier aber nicht über sich gebracht, sich auszuziehen. Mitnichten hatte er seine Finger dazu bewegen können, das Shirt und die Hose von seinem Körper zu streifen. Wie oft hatte der Herr ihm seinen Rücken für seinen Widerstand blutig geschlagen? Zu oft, als dass es Jean in den Jahren mitgezählt hätte. Im Gegensatz zu den Brüchen, die seine Finger entstellt hatten. Sechs von ihnen waren krumm. Sechs Brüche, die auf seine Art zu spielen, keinen Einfluss haben durften. Drei von ihnen hatte er sich selbst zufügen müssen. Wie hatte Riko es formuliert? Er konnte froh sein, dass er sie sich nicht hatte abschneiden müssen. Jean fragte sich auch jetzt noch, ob das nicht weniger schmerzhaft gewesen wäre. Er hatte dem Kapitän der Trojans präsentiert, was leicht zu bestrafen war und was hatte Knox getan? Seine unselige Hand auf eben jene Finger gelegt, die ein Zeugnis seines Ungehorsams waren und ihm Dinge gesagt, die an Jean zerrten und rissen, als wären sie Raubtiere. Er hatte die Worte verstanden, auch über seinen schnellen Herzschlag und seine stockende Atmung hinweg. Aus ihrem Sinn war er allerdings nicht schlau geworden. Er war ungehorsam gewesen, das zog eine Strafe nach sich. So war es immer gewesen. Aber nicht mit Knox. Dieser hatte Versprechungen gemacht. Er hatte in die geröteten Augen gesehen und erkannt, dass der Kapitän geweint hatte. Um ihn? Jean konnte es sich nicht vorstellen. Keine Sekunde lang hatte Knox aber sein Lächeln verloren und keine Sekunde lang hatte Jean ein Anzeichen von Gewalt in dem sommersprossigen Gesicht erkannt… eine Fähigkeit, die er über die letzten Jahre diesbezüglich wirklich ausgebaut hatte. Jedes noch so kleine Anzeichen eines Stimmungsumschwungs hatte er in Rikos Gesicht erkennen können, später auch in denen der anderen Raven. Bei Knox hatte er gar nichts gesehen und das hatte ihn eingelullt. Fälschlicherweise. Jean hatte sich als dumm gescholten, sobald seine Essenspräferenz seine Lippen verlassen hatte. Besitz hatte keine Wünsche, das war ihm wieder und wieder eingebläut worden. Und hier blies er am zweiten Tag eben jene Erziehung in den Orbit, nur weil jemand freundlich zu sein schien. Weil jemand wegen ihm zu weinen schien und ihm damit ein schlechtes Gewissen machte. Jean hatte sich auch dann noch dumm genannt, als eben jene Lasagne vor ihm auf dem Essenstresen stand, dampfend und leicht verbrannt. Er hatte das Gericht mit einer Art morbiden Faszination betrachtet und sich stumm gefragt, ob das hier wirklich gerade passierte. Er hatte doch nichts davon verdient. Er hatte noch nicht einen Ball im Training gespielt, um wirklich belohnt zu werden. Im Gegenteil. Bisher war er nur eine Belastung gewesen. Fragend hatte er Knox angesehen, dessen Grinsen ihm mit einer Intensität entgegengestrahlte, die Jean seinen Kiefer aufeinanderpressen ließ. „Du hast Lasagne gesagt“, war Knox‘ Begründung für das Essen gewesen und er hatte ihm ohne viel Federlesens eine Portion auf den Teller getan, von der Jean zweimal satt werden würde. Selbst die Krankenschwester hatte ihm nicht so viel gegeben, als sie ihn nach einer Woche Suppe und Eintopf mit der ersten, festen Nahrung versorgt hatte. Ihre Essenszeit hatte Jean damit vertan, über die Motive und Absichten des Kapitäns zu spekulieren und sich schweigend in seine eigene Welt zurück zu ziehen, jetzt, da keine direkten Fragen an ihn gerichtet waren. Natürlich, er sah sie in den blauen Augen, wenn er einen Blick hineinwagte, aber niemals verließen sie Knox‘ Lippen. Gerade eben machte sich dieser daran zu schaffen, das Chaos zu ordnen und wegzuspülen, was er angerichtet hatte und Jean begriff, dass er keinen Befehl bekommen würde, diese Aufgabe zu übernehmen. Etwas hilflos stand er für einen Moment am Tresen und nahm schließlich all seinen Mut zusammen. „Soll ich helfen?“, fragte er in die Stille hinein und Knox drehte sich überrascht zu ihm herum. „Gerne, wenn du es möchtest.“ Jean wusste nicht, ob er es wirklich wollte, aber er tat, was er bei der Krankenschwester gelernt hatte. Abtrocknen war keine Kunst, aber er war immer noch langsam, was zum Teil auch an den geprellten Handgelenken lag, die ihm sowohl das Halten von Gegenständen als auch die Feinarbeit erschwerten. Knox beschwerte sich ebenso wie die Schwester nicht darüber, sondern passte sein Tempo ihm an. „Deine Finger...“, begann er und Jean hielt abrupt inne. Er hatte die Fragen in den Augen gesehen. Er sollte sich nicht wundern, dass sie schlussendlich ihren Weg zu den Lippen fanden. Doch noch war es keine Frage und er würde gut daran tun, nichts von sich aus zu erzählen. „…sie waren gebrochen, nicht wahr?“ Jean nickte schweigend und griff zu der nächsten Gabel, die er sorgfältig von ihrer Feuchtigkeit befreite und sie in den dafür vorgesehenen Metallkorb steckte. „War das ein Unfall?“ Stumm verneinend griff er zu einem der Löffel und betrachtete sein auf dem Kopf stehendes, verschwommenes Spiegelbild, bevor er das Trockentuch um das Metall legte. „War es Riko?“ „Auch.“ Mit wenig Überraschung stellte Jean fest, dass seine Stimme rau war. Natürlich war sie das, schließlich belastete ihn das Thema immer noch. Die Erinnerungen daran taten es, sie suchten ihn in seinen Träumen heim oder dann, wenn es einen anderweitigen Auslöser gab. Knox schwieg zunächst dazu, dann seufzte er. „Das tut mir aufrichtig leid, Jean.“ Wieder war es diese bestimmte Intonation, die in Jean eine kribbelnde, nicht genau zu benennende Unruhe verursachte. Wieso sollte es Knox leid tun? Es war schließlich ein normales Spiel gewesen und Jean hatte zugelassen, dass der Kapitän der Trojans seine Verteidigungslinie durchbrach und ein Tor gegen die Ravens machte. Seine eigene, schlampige Spielweise war Schuld daran, also er selbst. Zumindest an dem ersten, gebrochenen Finger. „Muss es nicht“, erwiderte Jean knapp und griff zu einem der Teller. Knox schwieg einen ganzen Topf lang, bevor er Luft holte um etwas zu sagen. Jean fragte sich mit wachsender Unruhe, was es dieses Mal sein würde. „Unsere Teamärztin wird sich das ansehen wollen, bevor sie dich für das Training freigibt. Sie wird dich vermutlich ganz durchchecken, aber keine Sorge. Auch wenn sie manchmal ein bisschen robust ist, ist sie im Grunde ihres Herzens eine ganz Liebe.“ Jean hatte gewusst, dass ihm eine Untersuchung bevorstehen würde. Wohl war ihm beim Gedanken daran allerdings nicht, würde er sich doch vor ihr ausziehen müssen. Sie würde jede einzelne Narbe sehen und untersuchen. Sie würde Fragen dazu stellen. Von einigen Narben würde sie auf weitaus weniger offensichtliche Verletzungen schließen können, zumindest hatte es die Schwester der Foxes getan und ihm Flyer zu entsprechenden Hilfeeinrichtungen besorgt, die er vor seiner Abreise allesamt entsorgt hatte. „Es ist okay“, erwiderte er, auch wenn es das nicht war und erhielt ein aufmunterndes Lächeln dafür. „Aber das ist Zukunftsmusik für nächste Woche“, leitete Knox seine Ablenkung ein und Jean hob die Augenbraue. „Was möchtest du denn heute Abend machen?“ Schlafen, auch wenn ihm das nicht möglich wäre in der Gegenwart des Anderen. In dem Buch lesen, das Renee ihm geschenkt hatte. Nachrichten an sie schreiben. In den dunklen Himmel starren und dem Weg der Sterne und des Mondes folgen. Das weiche Kissen und die angenehme Decke genießen. Jean zuckte mit den Schultern. „Wollen wir einen Film zusammen schauen?“ Das letzte Mal, als er einen Film mit Anderen gesehen hatte, hatte Riko beschlossen, ihn durch die Mitschauenden am Boden fixieren zu lassen, ihm ein Tuch über Mund und Nase zu legen und Wasser darauf zu gießen um zu sehen, ob Waterboarding wirklich so traumatisierend war wie es in dem Film dargestellt wurde. Jean schluckte mühevoll. Er ahnte, dass Knox das nicht tun würde, oder er hoffte es zumindest, aber sicher war er sich da nicht. Ganz im Gegensatz zu seiner Angst, die sich sehr sicher war, dass etwas passieren würde und seinen Herzschlag entsprechend erhöhte. Schneller, als er sich in den Griff bekommen konnte, hatte er ein „Nein!“ herausgepresst und war einen Schritt zurückgetreten. Weg aus der Reichweite des Kapitäns. Noch einen Schritt weg von dem Spülwasser, das plötzlich eine ganz andere, bedrohliche Bedeutung bekam. Im Gegensatz zu Riko setzte Knox ihm aber nicht nach. Als er bemerkte, was er mit seiner Frage ausgelöst hatte, trat er selbst einen Schritt zurück, weg von dem Spülbecken und hob mit einem Stirnrunzeln langsam die Hände, hielt sie so, dass Jean den Eindruck gewinnen konnte, dass sie ihn nicht verletzen würden. „Okay, Jean. Okay“, sagte Knox dabei so ruhig, dass Jean unweigerlich wusste, wieviel seine Mimik gerade von dem verriet, was in ihm tobte. „Wenn du nicht möchtest, dann schauen wir keinen Film. Das ist überhaupt kein Problem, niemand zwingt dich dazu.“ Es dauerte etwas, bis Jean ihm das auch tatsächlich glaubte und seine starren Fäuste soweit lösen konnte, dass er das Trockentuch nicht beinahe zerriss. Er schaffte es sogar zu schlucken, auch wenn der Kloß in seinem Hals gewaltig war. „Gibt es etwas, das du lieber machen möchtest?“, fragte Knox weiter mit dieser unheimlichen Ruhe, die Jean wider Willen beruhigte. Er wollte sich nicht schon wieder einlullen lassen, aber schier mühelos schien genau das dem Kapitän der Trojans zu gelingen. Jean fragte sich, ob es eventuell eine nicht von ihm erkannte Ähnlichkeit mit Renee war, die sein Unterbewusstsein steuerte und ihn mutiger machte, als es eigentlich gut für ihn war. So auch jetzt. „Lesen“, probierte er sein Glück und wurde mit einem Nicken belohnt. Es überraschte ihn, wie ihn alles an Knox überraschte. „Was liest du denn gerade?“ „Ein Buch.“ Jean hatte es nicht wirklich als Spaß gemeint, er hatte diese Antwort noch nicht einmal geben wollen. Nicht Knox. Renee hätte er sie gegeben. Es war ihm wie selbstverständlich über die Lippen gekommen, doch das war noch nicht einmal das Schlimmste daran. Das weitaus Schlimmste war seine Betonung. Noch leicht unsicher und zittrig, aber gleichwohl ironisch, latent sarkastisch und neckend, als hätte er irgendein Recht darauf, so mit dem Kapitän zu sprechen, der das Ganze auch noch höchst amüsant fand. Während Jean sich noch dafür verfluchte, dass er seinen Mund nicht halten konnte, kicherte Knox so amüsiert, dass ihm die Röte ins Gesicht stieg, die Lippen zu einem breiten Grinsen verzogen, das Jean nicht nachvollziehen konnte. Es waren nur zwei Worte gewesen, die er gesagt hatte, wieso sollten die eine derartige Reaktion hervorrufen, die auch so gar nicht abebben wollte? Irritiert stand Jean daneben und seine Verwunderung über Knox‘ Reaktion ließ seine Angst nach und nach in den Hintergrund treten, als wäre sie nur ein einzelner, böser Moment gewesen, ein flüchtiger Gedanke. „Okay okay, ich habe es verdient…irgendwie“, sagte Knox, als er wieder genug Luft hatte zu sprechen und aus seinem Lachen herausgekommen war, das Jean anscheinend für immer unerklärlich bleiben würde. Da halfen ihm auch die blauen Augen nicht weiter, die sich wieder auf ihn richteten. „Worum geht’s?“, fragte Knox und Jean zuckte mit den Schultern. „Ich weiß noch nicht.“ „Ach so. Noch gar nicht angefangen?“ Er schüttelte den Kopf und trat wieder einen Schritt an das Spülbecken heran, das seinen unmittelbaren Schrecken verloren hatte und nunmehr wieder das war, was es vorher gewesen war: eine Ansammlung an Schaum und Wasser, dazu da, das Chaos in der kleinen Küche zu beseitigen. Er griff sich den zweiten Teller und trocknete ihn mit voller Konzentration ab, während Knox den Rest abspülte und schließlich das Wasser aus dem Becken fließen ließ, ohne dass er seinen Kopf hineingetaucht hatte. „Wenn du lesen möchtest, würde ich noch ein wenig weiter puzzeln und nebenher etwas leise auf dem Laptop laufen lassen. Wäre das okay?“, fragte dieser vorsichtig und Jean nickte knapp. Er wusste, dass es keinen Unterschied machte, aber die Vorstellung, dass der Fernseher lief und er gezwungen war, einen Film zu schauen, unterschied sich wie Tag und Nacht von derjenigen, dass Knox etwas auf seinem Laptop laufen ließ, während er nebenbei Day fertig zusammenstückelte. Noch nicht einmal ein Bruchteil seiner vorherigen Angst regte sich bei diesem Vorschlag. „Gibt es viel solcher Merchandisesachen?“, fragte er aus einem neugierigen Impuls heraus, den er nicht ganz unterdrücken konnte. In Evermore hatte er keinen Kontakt zu solchen Dingen gehabt und auch im Haus der Krankenschwester hatte es bei weitem andere Sorgen gegeben. Die leuchtenden Augen, die sich nun auf ihn richteten, sagten ihm, dass er besser nicht hätte fragen sollen, ähnelten sie doch im ersten Moment so sehr dem verrückten Verwandten der Zwillinge, dass Jean zurecht befürchtete, dass Knox zu einem ebenso aufgedrehten Flummi umwickelt mit Menschenhaut wurde. Hemmick, so hieß er. Nicky Hemmick. Jean schauderte. Einen Abend hatten die Schwester und Renee ihn mit ihm alleine gelassen und als der Flummi in Menschenhaut endlich gegangen war, hatte sich Jean für den Rest des Abends und die ganze Nacht im Bad der Krankenschwester eingeschlossen und die Hände auf die Ohren gepresst um seine Ruhe zu haben. Doch anscheinend war Knox nicht wie Hemmick, also blieb ihm eine weitere Eskalation zu Lasten seines Gehörs und seines Gehirns erspart. „Also. Es gibt natürlich Schals, T-Shirts, Pullover, Jacken, Buttons, Caps, Mützen, Rucksäcke, Poster, Aufsteller, Stickeralben, Spiele-Apps, Tisch-Exyfelder, Tassen, Geschirr, Puzzles, Decken, Kerzen, Lampen…“ Als er begriff, dass Knox nicht aufhören würde, alles aufzuzählen, hob Jean beschwichtigend seine Hände und hoffte, dass es ausreichte, damit er aufhörte. Er hatte Glück – vermeintlich. Knox verstummte und holte Luft. „Soll ich dir die Shops zeigen?“ Erschrocken weiteten sich Jeans Augen. „Nein.“ Ganz bestimmt nicht. „Soll ich dir was bestellen?“ Jean dachte an das Day-Puzzle und schauderte regelrecht. „Nein.“ „Man kann sich auch sein ganz eigenes Merchandise herstellen lassen.“ Wenn er nicht durch eine unsichtbare Leine an Knox gekettet wäre, dann hätte er spätestens jetzt das Apartment verlassen. „Nein.“ „Wann hast du Geburtstag?“ „Nein“, erwiderte Jean rein aus Reflex und begriff erst dann, was er gesagt hatte. „Das ist aber ein komisches Datum.“ Jean musste nicht hinsehen um zu wissen, dass Knox grinste. Er hörte es in dessen Stimme. Er hörte, dass der Andere ihm nicht böse war und vielleicht war das der Grund, warum so etwas wie Ruhe in ihn einkehrte. Es reichte nicht für ein Lächeln, ganz sicher nicht, aber er fühlte sich in diesem Moment nicht unwohl. ~~**~~ Eingedenk Jeans geradezu panischer Reaktion auf seinen Vorschlag, einen Film zu schauen, hatte sich Jeremy genauestens überlegt, welches Video er nebenher laufen lassen konnte, während er puzzelte. Etwas Leichtes, das nicht zu aufdringlich wäre, würde vielleicht gehen. Etwas mit Humor und beruhigenden, wenn nicht sogar witzigen Geräuschen. Stirnrunzelnd durchsuchte Jeremy seine Onlinebibliothek und blieb schließlich an Wall-E hängen. Schweigend drückte er auf Play und drehte den Laptop so, dass Jean, wenn er denn wollte, jederzeit einen Blick auf den Bildschirm werfen konnte. Währenddessen machte sich Jeremy daran, Kevin weiterhin zu vervollständigen. Frustriert starrte er die leuchtend orangenen Teile der Uniform an die allesamt gleich aussahen und die er nur durch Herumprobieren an die richtige Stelle brachte. Mit Graus dachte er dabei an das monochrome Puzzle in Rot, das ihm Alvarez mit einem diabolischen Grinsen geschenkt und das er immer noch nicht angerührt hatte. Die Konzentration auf das vor ihm liegende Stück ließ seine Gedanken unweigerlich auf den Jungen zurückkommen, der hinter ihm auf dem Bett saß, das Buch auf seinen Knien. Aus dem Augenwinkel heraus glitt Jeremys Blick von Zeit zu Zeit zu Jean und stellte fest, dass auch dieser auch nicht gänzlich auf seine Seiten konzentriert war, sondern immer mal wieder einen kurzen Blick auf den Bildschirm wagte. Umso mehr ließ es Jeremy sich fragen, was Jean wirklich gegen einen Film gehabt und warum er so panisch reagiert hatte. Eine wirkliche Erklärung dafür fiel ihm nicht ein, aber es schienen nicht die bewegten Bilder an sich zu sein. War es also er, dessen Gegenwart Jean mied oder fürchtete? Wäre das überhaupt ein Wunder, wenn es anscheinend ausgerechnet sein ehemaliger Kapitän war, der Jean Dinge angetan hatte, die weit außerhalb von Jeremys Vorstellungsvermögen lagen. Dinge, in die er seine Nase nicht hineinstecken sollte, wenn es nach Kevin ging. Doch da kannte er Jeremy aber schlecht. Mit Unterschrift des Vertrages war Jean Teil seines Teams, also trug er auch die Verantwortung für den Ex-Raven. Er würde nicht zulassen, dass dieser weiterhin unter den Zuständen in Evermore litt und schon gar nicht würde er tolerieren, dass ihn jemand fürchtete oder als Besitzer bezeichnete, nur weil er der Kapitän eines Exy-Teams war. Und er würde seine gesamte Ausrüstung fressen, wenn es Coach Rhemann nicht genauso sehen würde. Wieder kamen ihm Kevins Worte in den Sinn. Jean war als freundlicher Junge nach Evermore gekommen, der Stück für Stück von Riko und Moriyama auseinandergerissen worden war? Ja, das glaubte er. Beides. Jeans Verhalten sprach nicht von Freundlichkeit, mit Sicherheit nicht, dafür aber sehr viel von Angst und – was Jeremy erstaunte und ihn durchaus sehr gefiel - von darunter hervorblitzendem, unabsichtlichen Humor. Zumindest Letzteres war eine gute Basis, mit der Jeremy arbeiten konnte, befand er. Er wagte einen weiteren Blick aus dem Augenwinkel in Richtung Jean und musste ein Schmunzeln verbergen, als er sah, dass dieser sein Buch nun vollständig zugunsten des Filmes ignorierte und aufmerksam den Szenen folgte. Auf seinem Gesicht war nur die gleiche, beinahe abweisende Ausdruckslosigkeit zu sehen, doch seine Augen verrieten den Backliner. Aufmerksam und minimal größer als sonst musterten sie den kleinen Roboter, wie er sich mit seiner Angebeteten in einer Welt ohne Menschen bewegte. Es gab Momente, in denen Jean kritisch die die Stirn runzelte, ebenso, wie er zweimal den Kopf schief legte, als er anscheinend etwas nicht verstand. Einmal zog Jean sogar seine Augenbrauen in völliger Überraschung hoch, bevor er sich besann, was er dort tat. Erst, als Wall-E und Eva auf die Menschen trafen, wandte er seinen Blick ab und widmete sich wieder seinem Buch. Jeremy speicherte das in seinem mentalen Puzzle namens Jean ab und widmete sich wieder seinem realen Gegenstück, das am Ende des Films ein enormes Stück vorangekommen war. Er wechselte auf einer seiner entspannenden Playlists und machte noch ein Stückchen weiter, als er gerade im Flow war. Erst, als er alle orangenen Trikotteile aneinandergesetzt hatte, hörte er schließlich damit auf und beschloss, dass es an der Zeit war, sich nun langsam ins Bett zu begeben. Als Vorwarnung für Jean seufzte er und drehte sich dann langsam genug um, dass er den anderen Jungen nicht verschreckte. Eine nutzlose Geste, erkannte Jeremy, als er sah, dass Jean über seinem Buch eingeschlafen war, den Kopf seitlich an die Wand gelehnt, die Hände offen und entspannt. Sein Shirt war am rechten Handgelenk gerade soweit hochgerutscht, dass Jeremy dort ein weißes Pflaster hervorblitzen sah, das noch unter dem Ärmel verschwand. Doch das war es nicht, was seinen Blick einfing. Der vernarbte, gerötete Ring um das Handgelenk war es, der nicht zuließ, dass Jeremy wegsah. Es waren tiefe Narben und immer wieder zerstörte Haut, die keine Chance mehr gehabt hatte, sich richtig zusammenzufügen, die seine Aufmerksamkeit eingefangen hatten und ihn nun trocken schlucken ließen. Jeremy hatte mal in einem Film gesehen, dass Fesseln solche Spuren hinterließen und auch wenn er nicht alles glaubte, was er im Fernsehen sah, so hatte er gerade das Gefühl, das lebende Beispiel für solche Verwundungen zu sehen. Wie konnte er darüber hinwegsehen und nicht die Polizei informieren, auf dass sie Evermore bis auf den letzten Winkel durchsuchten und die Verantwortlichen verhafteten? Er spürte Wut in sich, die sich wie ein loderndes Feuer in seinem Magen manifestierte. Wut auf Evermore, Wut auf Riko und den Trainer der Ravens. Er verspürte Wut auf alle, die weggesehen hatten und auch Wut auf Kevin. Dieser war jahrelang ebenso in Evermore gewesen, er hatte zusammen mit Jean gespielt und gewohnt. Die Andeutungen, die er machte, sprachen davon, dass er mehr wusste. Warum hatte er dann erst jetzt reagiert? Warum erst, wenn Jean, wie er selbst sagte, nicht überlebt hätte, wenn Renee Walker ihn da nicht herausgeholt hätte? Jeremy ballte seine Hände zu starren, schmerzenden Fäusten. Er würde mit Jean sprechen, sobald sich die Gelegenheit dazu ergab. Diejenigen, die ihm das angetan hatten, durften nicht ungeschoren davonkommen. ~~~~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 6: Vertrauter Feind --------------------------- Alle Stadien, in denen Jean jemals gewesen war, rochen gleich. Es war die einzigartige Mischung aus Schweiß, Linoleumgerüchen, Desinfektionsmitteln und Talkum, gepaart mit altem Holz und Chlor, die jedes Exystadion gleich riechen ließ, auch jetzt, wo er alle seine Sinne beisammen hatte, um seinen neuen Trainingsbereich eingehend zu betrachten. Er erinnerte sich nur schwach daran, aber er glaubte, dass er beim letzten Mal, als er dieses Stadion betreten hatte, nur noch auf zwei Beinen gestanden hatte, weil die Strafe für ein Versagen noch schlimmer gewesen wäre als das Spiel gegen die Trojans mit seinen schon existierenden Wunden zu bestreiten. Nun aber verspürte Jean nur noch den dumpfen Schmerz seiner bereits seit Wochen verheilenden Wunden und das machte ihn aufnahmefähig für einen detaillierten Blick auf das, was ihn erwartete. Das Rot und Gold der Trojans verwunderte ihn nicht im Geringsten, die Flaggen und Banner, die ihn willkommen hießen und ihm von einem Mannschaftsstolz berichteten, ebenso wenig. Die Eingangshalle war zugepflastert mit ihnen und entsprechend aufdringlich gestrichen. Bunte, lebensfrohe Farben reizten seine sowieso schon vollkommen überlasteten Sehnerven, da war es sicherlich auch keine Hilfe, dass er nun zu der Trophäenwand der Trojans schritt. Jeder einzelne Spieler war hier aufgelistet. Die aktuellen Spieler bekamen eine Wand mit ihren Fotos, ein Sammelsurium aus verrückten Bildern, die nichts mit der Ernsthaftigkeit und Würde dieses Sports zu tun hatten. Unter ihnen befanden sich rote Plaketten mit den Namen der jeweiligen Spieler in goldenen Schriftzügen. Direkt daneben hingen alle Plaketten von Ehemaligen über die Jahre hinweg. In Evermore gab es so eine Tradition nicht. Das, was zählte, war das aktuelle Team und dessen Erfolge. Die ehemaligen Spieler bewahrten sich ihre Einstellung in ihrem Wesen auf, ihrer Seele, so sie denn eine hatten. Was Jean in allen Fällen bezweifelte. Die dunklen, dicken Gemäuer hatten allen ihre Seele geraubt, auch ihm. Jean schweifte ab, weg von den Plaketten und hin zu den Pokalen des Day Spirit Awards für sportliches Verhalten innerhalb und außerhalb der Spiele. Achtmal in Folge hatten die Trojans diesen nutzlosen Preis gewonnen. Bei Exy ging es darum, den Gegner zu vernichten und zu gewinnen, nicht darum, ihn fair zu behandeln. Diese absolute Fehlentscheidung, sich auf die Zahl der Foxes herunter zu begeben, als diese nur zu neunt auf dem Spielfeld standen, war das Dümmste gewesen, was Jean seit langer Zeit gesehen hatte. Wobei…nicht ganz. Jostens Entscheidung, sich für Minyard zu opfern und nach Evermore zu kommen, war bei weitem dümmer gewesen. Es hatte ihm Wochen an Schmerzen eingebracht, an Demütigungen und physischer wie psychischer Folter, die Riko in vollen Zügen ausgekostet hatte, insbesondere vor dem Hintergrund, dass er gleichzeitig Minyard hatte foltern lassen. Jean ekelte sich auch jetzt noch davor, was Riko ihm schadenfroh unter die Nase gerieben hatte und wie schadenfroh er ihm Videos von Minyard gezeigt hatte, aufgenommen während seiner Therapie, die vieles gewesen war nur das nicht. Mit aller Gewalt hatte Riko versucht, Josten zu brechen. Er hatte ihn dafür benutzt, das Messer zu führen. Er hatte ihn dazu benutzt, Josten zu verletzen und ihn zu strafen. Jean hatte seinem damaligen Kapitän ebenso gehorcht, wie er auch sein Bestes getan hatte um den widerspenstigen Jungen immer wieder zusammen zu flicken, ihm immer und immer wieder einzureden, dass er nicht unterschreiben sollte und ihn schlussendlich aus dem Nest gestoßen. Er hatte Erfolg damit gehabt und Josten gleichzeitig dafür gehasst, dass er freiwillig gekommen war und wieder gehen konnte. Und wie hatte es Josten ihm seine Unterstützung gedankt? Indem er ihn an den Hauptzweig der Familie verkauft hatte ohne ihn zu fragen, ganz der Sohn des schwerstkriminellen Mörders, der er war. Dass Josten dabei auch noch glaubte, so sein Leben gerettet zu haben, war beinahe amüsant, wenn Jean noch in der Lage wäre, über etwas, das Exy betraf, zu lachen. Einen Monat und drei Wochen noch, dann hatte diese Farce ein Ende. Jean sah von den roten Wänden zu dem Eingang ins Stadion und folgte seinem Kapitän, der ihm die Tür aufhielt und ihm schweigend entgegenlächelte. Seit heute Morgen war eben dieses Lächeln gezwungen und weniger freundlich als vorher. Überhaupt war Knox schweigsamer als gestern. Es verursachte in Jean so etwas wie Genugtuung, wusste er doch, dass die lächelnde Fassade genau das war: eine Fassade um ihn in Sicherheit zu wiegen. Jean mochte darauf wetten, dass er am gestrigen Tag mit seiner Verneinung Grenzen überschritten hatte. Er hätte einfach ja sagen sollen zu dem Film, schließlich hatte ihm dieser Animationsstreifen über den Roboter auch gefallen. Zumindest bis die Menschen ins Spiel kamen. Mit der Bestätigung, dass er schlussendlich Recht gehabt hatte, schloss Jean das Thema und wappnete sich für das, was noch kommen würde. Zunächst einmal war da das Stadion, das er nun betrat, hell erleuchtet von Neonröhren und Fenstern, die Tageslicht hineinließen. Das war Jean bisher noch nie aufgefallen und entsprechend staunend richtete er seinen Blick an die hohe Decke, die dieses Stadion soviel anders machten als Evermore. Von dort aus sah er auf die abgenutzten, hohen Plexiglaswände, die das Spielfeld begrenzten. Die Laufbahnen, die eben jenes umschlossen, hinterließen ein Kribbeln in Jean. Bei den Ravens war das Laufen immer der Teil des Trainings gewesen, der am wenigsten Schmerzen für ihn bedeutet hatte, also hatte er Runde um Runde gedreht, war gelaufen um wenigstens so ein vages Gefühl von Freiheit zu bekommen. Auch etwas, das er mit Josten teilte, der ihm selbst mit noch blutenden Verletzungen davongelaufen war, verbissen, stur und zum Großteil auch verzweifelt. Knox schloss eine der Plexiglastüren auf und Jean folgte ihm auf das Spielfeld. Wie immer schluckte das Linoleum seine Schritte, während er in die Mitte des Raumes trat, der das Zentrum seines Seins war. Jean wusste, dass, wenn man ihm den Sport und die Fähigkeiten nahm, die er sich angeeignet hatte, nichts übrig bleiben würde. Er schloss die Augen und ließ das Gefühl des Ortes auf sich wirken. Es war nicht Evermore, also fühlte es sich marginal falsch an, beinahe wie ein Splitter unter seiner Haut, aber in diesem Moment reichte es, dass es ein Stadion war. Gerade jetzt reichte es, damit er nach Wochen des Unbekannten endlich etwas Vertrautes um sich herum fühlte, etwas, das er kannte. Es vermittelte ihm eine Ruhe, die er so dringend benötigte, seitdem er hierhergekommen war. Die erneut aufgehende Tür zum Spielfeld ließ ihn die Augen öffnen und er sah einen Mann näherkommen, der in seiner Erinnerung kleiner gewesen war. Weitaus. Auch das Lächeln, das ihm entgegengebracht hatte, hatte er so noch nicht gesehen auf dem Gesicht. Jean kannte das Gesicht des Mannes, er wusste, wer er war, doch das bereitete ihn keinesfalls auf die Angst vor, die sein Herz plötzlich in einem kalten, unnachgiebigen Griff hielt. Offen gesprochen hatte Jean den Trainer der Trojans anders in Erinnerung. Weniger furchteinflößend, riesig und breitschultrig mit Händen, die vermutlich einen Bären töten konnten. Er war schon groß, aber Rhemann war noch einmal einen halben Kopf größer als er, bullig und wirklich einschüchternd auf seine ganz eigene Art und Weise. Er würde ihm mühelos die Knochen brechen können, ohne sich ein Hilfsmittel hinzunehmen zu müssen. „Hallo Jean, schön, dass ich dich hier begrüßen kann. Bester Backliner der NCAA“, sagte er mit seiner tiefen Bassstimme. Jean schluckte und starrte auf die Hand, die ihm entgegenstreckt wurde. Anscheinend lief auch das hier anders. Der Herr hätte eine solche Geste der Respektlosigkeit niemals toleriert, nicht von ihm und auch nicht von anderen Spielern. Der Herr hätte und hatte ihn auch niemals derart begrüßt oder gar gelobt. Er war nicht der beste Backliner. Er war gerade gut genug um am Leben zu bleiben um den Moriyamas als Einnahmequelle zu dienen. Vorsichtig und auf alles gefasst streckte seine Hand aus und legte sie in die des Trainers, der sie überraschend sanft schüttelte, während er ihm ein warmes Lächeln schenkte, das so ganz anders als das seines Kapitäns war. In Evermore hatte niemand aus Freundlichkeit gelächelt. „Bist du gut angekommen? Hat der Blondschopf hier dich schon mit dem Nötigsten versorgt und dir schon einen ersten Rundgang gegeben?“ Jean warf einen kurzen Blick auf Knox, der, seitdem sie das Feld betreten hatten, schweigend neben ihm stand. Er nickte und registrierte erleichtert, dass der Berg von einem Mann seine Hand losließ ohne sie zu brechen. „Sehr gut. Den Rest bekommen wir auch noch gestemmt und nächste Woche erledigen wir erst einmal deinen Collegekram, damit wir dich anständig immatrikulieren können.“ Jean neigte seinen Kopf. „Sehr wohl.“ „Ich kann mir vorstellen, dass das alles hier neu und ungewohnt für dich sein muss, insbesondere im Vergleich zu Evermore, aber das wird schon. Wenn du Fragen hast, zögere nicht, Knox oder mich damit zu löchern, wir helfen dir gerne.“ Was blieb Jean anderes übrig, als zu nicken? Die Worte waren derart unverständlich, dass er nichts mit ihnen anzufangen wusste. Die letzte Person, die er um Rat fragen würde, wäre sein Trainer. Das wäre ein nicht zu verzeihender Frevel. „Apropos…hast du schon welche?“ Irritiert sah Jean hoch und die schwarzen, enormen Augenbrauen seines Trainers zogen sich sturmgeweiht zusammen. „Fragen, meine ich.“ „Nein, Sir.“ „Okay. Ich schon. Größe?“ Jean blinzelte unverständig. „Für deine Uniform.“ Wieder neigte er seinen Kopf in einem Zeichen der offensichtlichen Demut. Es wäre kein Wunder, wenn er noch gleich hier für seine Dummheit bestraft werden würde, seinem Trainer nicht folgen zu können. „Größe L, Sir.“ „Dachte ich mir. Gut. Ich mache die Bestellung fertig. Bevor ich es vergesse, die Nummer 3 ist bereits vergeben. Wenn du dich traust, kannst du versuchen, sie Alvarez abspenstig zu machen. In dem Fall war es mir eine Freude, dich kennengelernt zu haben und ich bitte um die vorherige Einreichung eines markanten Grabsteinspruches. Wenn du verständlicherweise nicht mutig genug sein solltest, dann bekommst du die Nummer 7. In Ordnung für dich?“ Etwas hilflos sah Jean von seinem Trainer zu Knox, dessen wilde Gestik und verzweifelter Gesichtsausdruck ihm wohl andeuten sollten, dass die letzte Option die bessere wäre. Er runzelte die Stirn und wunderte sich, dass Rhemann ihm nun doch so offen mit dem Tod drohte, ihm aber dennoch die Wahl ließ zu gehorchen. Wer war er, dass er sie nicht annahm? Nicht, dass diese Option Jean noch sonderlich verschreckte. Zumal er keine Sympathien für die Nummer drei hegte, im Gegenteil. Er hatte nie darum gebeten, sie zu sein und sie eingebrannt zu bekommen bis auf den Grund seiner Seele. Falls er die Wahl gehabt hätte, hätte er sich wie Josten auch das Zeichen seines Besitzes aus dem Gesicht foltern lassen. Auch hier war Wesninskis Sohn um Längen stärker gewesen als er. „Nummer 7 ist in Ordnung“, erwiderte Jean, als er sah, dass eine Antwort von ihm erwartet wurde. „Gut, kluger Junge, hätte ich auch getroffen, die Wahl“, nickte sein Trainer wohlwollend und musterte ihn kritisch. Aufmerksam und ohne Wut wurde er seziert, insbesondere seine durch die Mütze verborgenen Haare und seine Wangen, die immer noch wütend rote Zeugen von Rikos letztem Gewaltexzess trugen. Rhemanns Blick sagte ihm deutlich, dass der Trainer mehr wusste und das machte ihn nervös, auch wenn er sich nicht wundern sollte. Wymack hatte sicherlich mit ihm gesprochen und gesagt, was er zu erwarten hatte. „David meinte, ich solle dich noch schonen“, bestätige Rhemann ihm seinen Verdacht keine Sekunde später. „Wie sieht es mit deinen Verletzungen aus? Glaubst du, dass du für die kommende Saison fit bist?“ „Ich bin der Lage meinen Beitrag dazu zu leisten“, erwiderte Jean entsprechend zurückhaltend und Rhemann strich sich über seinen schwarzen, dichten Bart. „Für das richtige Training werde ich das Go von Fiona abwarten. Sie ist die Teamärztin und hat die Entscheidungsbefugnis, was die Fitness meiner Spieler angeht. Wenn ihr aber am Wochenende schonmal ein paar leichte Runden drehen und Bälle spielen wollt, dann gebe ich euch jetzt schon das Spielfeld frei.“ Mahnend hob Coach Rhemann den Zeigefinger. „Betonung auf leicht, Moreau.“ Bedeutungsschwanger lagen die schwarzen Augen auf ihm und Jean schluckte unwillkürlich. Er konnte mit der Ermahnung nichts anfangen. In all ihrer Strenge machte sie ihm Angst. Er wusste nicht, was Rhemann mit leicht meinte. Niemals in seinem Leben hatte er ein leichtes Exy-Training gehabt. War es eine Metapher? Wenn ja, wofür? Ironie vielleicht? Zynismus? „Knox, du sorgst dafür“, grollte Rhemann und sein Kapitän salutierte in einer derart respektlosen und nonchalanten Art, dass es Jean schauderte. „Aye aye Coach. Leichtes Training.“ Training egal, wie leicht es auch sein mochte, barg jedoch ein großes Problem. Jean schluckte, als er panisch nach einer Formulierung suchte, die ihm keine Strafe einbringen würde. Er scheiterte mit jeder Variante, also räusperte und straffte sich. „Darf ich etwas sagen?“, fragte er leise und überrascht grunzte Rheman. „Du musst doch nicht fragen, Junge. Einfach raus damit.“ Nervös knetete Jean seine schmerzenden Finger und sah auf den ebenso abgenutzten Hallenboden. Es brauchte wiederum einen schier unhöflichen Zeitraum, bis er den Mut fand zu sprechen. „Ich habe keine Sportsachen. Renee Walker hat mich… sie hat nichts mitgenommen, als sie nach Evermore gekommen ist. Ich habe nichts“, gestand er ein und traf auf eine Mauer aus Schweigen, die sicherlich nichts Gutes zu bedeuten hatte. Wie sollte er mit nichts auch trainieren und seine Aufgabe erfüllen? Richtig. Gar nicht. Er konnte vermutlich froh sein, dass er jetzt nicht bereits mit blutender Nase auf dem Boden lag und ein Stock seinen Rücken zu blutigem Klump schlug. Ein überraschter Laut verließ schließlich die Lippen seines neuen Trainers. „Wart ihr noch nicht einkaufen?“ Entsetzt sah Jean hoch, als er seinen groben Fehler erkannte. Was fiel ihm ein, seinen Kapitän derart in die Pfanne zu hauen? Was fiel ihm ein, ihn zu verraten, obwohl er doch derjenige war, der für dessen Fehl geradestehen würde? Das wusste er nur zur Genüge, hatten Josten und er über die Weihnachtsferien mehr als genug Strafe für das gegenseitige Fehlverhalten des Anderen erhalten. Da fiel ihm nichts Besseres ein, als Knox vor dem Trainer zu verraten. Er schluckte und verschränkte die Arme vor seinem Bauch, malträtierte seine Unterlippe zwischen seinen Zähnen. „Nein, wir haben erst einmal den Grundstock gekauft. Alles darüber hinaus haben wir noch nicht besorgt. Wenn wir trainieren wollen, würde ich mir Jean heute schnappen und mit ihm einkaufen gehen.“ Und einfach so akzeptierte der Trainer Knox‘ Begründung und brummte. Er wurde nicht laut, er schlug weder den Kapitän noch ihn, er tat gar nichts, außer diese Liederlichkeit mit einer nichtssagenden Handbewegung abzutun. Fassungslos starrte Jean die Beiden an, für die dieses Vorgehen vollkommen normal zu sein schien. „Gut. Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen müsste? Moreau?“ Jean überlegte fieberhaft, ob es noch etwas geben könnte, dass er besser sagen oder fragen sollte und nickte schließlich. „Wünschen Sie einen speziellen Essensplan, Sir?“, fragte er schließlich. Das amüsierte Schnauben überraschte ihn. „Lass dir von Knox bloß nicht einreden, dass sein Süßkram voller Vitamine ist und daher einen wichtigen Bestandteil deiner Ernährung darstellen sollte. Ansonsten iss, was gut für dich ist und dir schmeckt.“ Jean nickte gehorsam, auch wenn er mit den Worten erneut nichts anfangen konnte. Er hatte in den letzten Jahren niemals darüber bestimmt, was er selbst aß und nun wurde ihm komplett die Entscheidung darüber übertragen? Wie sollte er entscheiden, was gut für ihn war? Unruhe überkam ihn alleine bei dem Gedanken daran und bahnte sich ihren Weg in sein sowieso schon vollkommen chaotisches Denken. Nichts von dem hier entsprach dem, was er gewohnt war, alles war neu, war das komplette Gegenteil von allem Vergangenen und er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Dachte er, er hätte in diesem Stadion endlich eine Zielrichtung gefunden, so hatte er sich geirrt. Kein einziger seiner sonstigen Standards griff hier und selbst die Menschen, die ihn umgaben, waren soviel anders als in Edgar Allen oder sogar bei den Foxes. Bei beiden war die Gewalt spürbar gewesen, hier aber war ihre Abwesenheit wie ein ständiger Phantomschmerz, der ihn schier verrückt machte. Jean hoffte, dass es sich noch legte, insbesondere dann, wenn das Semester und das Training wieder begannen und er Ablenkung hatte. „Wenn nichts mehr ist, entlasse ich euch beiden in die Sonne. Und Knox…leichtes Training!“ Damit warf der Trainer sie anscheinend aus dem Stadion, zumindest interpretierte Jean dessen Gestik und Mimik so. Er wagte einen Blick zu seinem Kapitän, um sich an dessen Verhalten zu orientieren. Dass er auf dem sommersprossigen Gesicht ein breites Grinsen sah, verwunderte ihn nicht wirklich. „Bis morgen, Coach“, flötete Knox und wurde mit einem Grollen belohnt. Mehr Beachtung wurde ihnen aber auch nicht mehr geschenkt, als Rhemann sich in Richtung Geräteraum aufmachte. Widerwillig verließ Jean den Ort seiner Ruhe und folgte Knox schweigend zu dem klapprigen Wagen. Eingedenk der Feder nahm er vorsichtig auf dem Beifahrersitz Platz, sobald dieser ihm die Tür aufschloss. Knox schenkte ihm eines seiner nunmehr wieder angespannten Lächeln und Jean schluckte. „Es tut mir leid“, sagte er von sich aus leise, beinahe zu leise, um nicht von der Musik, die aus dem Radio dröhnte, übertönt zu werden, die der andere Junge beinahe hastig ausschaltete. Er senkte den Blick auf seine verschränkten Hände, aus Angst, was er auf dem Gesicht des anderen Jungen sehen würde. Stille grüßte ihn. „Was tut dir leid, Jean?“, fragte Knox schlussendlich ruhig. Zu ruhig für Jeans Geschmack. Wie eine Zeitbombe, die kurz vor der Explosion stand. „Dass ich Coach Rhemann gegenüber erwähnt habe, dass ich nicht über entsprechende Trainingssachen verfüge.“ Überrascht musterte Knox ihn. Jean sah das an der Bewegung ins einem Augenwinkel. „Ach Gott, das. Quatsch. Das Training war schließlich noch gar kein Thema, wieso hätten wir dann am ersten Tag gleich Sportsachen kaufen sollen? Ich bin ja froh, dass ich dich wenigstens zu einer Bettdecke habe überreden können.“ „Und einem Kissen“, ergänzte Jean murmelnd. Wieder einmal beruhigte Knox seine Befürchtung mehr als dass er sie bestätigte, was als solches beängstigend genug war. Ein Schweigen trat zwischen sie, das Jean mehr als nervös machte. Schweigen bedeutete bei Knox nichts Gutes, das ahnte er. Schweigen bedeutete, dass da noch etwas war und dass es ihm nicht gefallen würde, weil es neu und ungewohnt war und er nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte. Schweigen bedeutete, dass er anscheinend etwas falsch gemacht hatte. Er wagte einen Blick in Richtung seines Kapitäns. Knox legte seine Hände in den Schoß und starrte sie an, als müsste er sich für das Gespräch wappnen, das er mit ihm führen würde. Unwillkürlich presste Jean sich gegen die Beifahrertür. Sein linker Arm zuckte in Erwartung eines Schlages, in Erwartung, dass er seinen Kopf schützen müsse, doch nichts geschah. Mit jeder Sekunde, in der sie hier saßen, wurde Jean nervöser und nervöser. Das war nicht der Knox, dem er bisher begegnet war. Dieser Knox hätte schon längst etwas gesagt, ihn mit Belanglosigkeiten davon abgehalten, sich an seine neue Umgebung zu gewöhnen. Erst, als die Luft schier zum Zerreißen angespannt war und Jean die Klimaanlage, die ihnen kalte Luft entgegenblies, am Liebsten ausgestellt hätte, räusperte sein Kapitän sich und hob den Kopf, drehte ihn so, dass die mit einem Mal durchdringenden, stechend-blauen Augen jede Regung in seinem Gesicht aufzeichnen konnten. Jean fühlte sich nackt unter dieser Musterung. „Ich möchte mit dir gerne über etwas sprechen“, begann Knox und Jean überlegte sich, ob es Sinn machte, einfach aus dem Wagen zu stürmen und wegzulaufen. Weg von dem Jungen, weg von diesem Parkplatz, weg aus dieser Stadt. Für ein paar Sekunden gab er sich der romantisierten Vorstellung hin, dass er in die Weite dieses Landes fliehen würde, die er so oft aus dem Flugzeug heraus gesehen hatte. Hinein in die Wildnis, fernab von allen Menschen und niemand würde ihn finden. Wie oft hatte ihn dieser Gedanke in Evermore mitgenommen, als er blutend und schmerzend auf dem kalten Beton- oder Hallenboden lag, nachdem Riko mit ihm fertig war? Wie eine fantastische Utopie hatte sich Jean von dem Gedanken entführen lassen und sich so von seinem Körper und seinem Leid gelöst um sich seinen Verstand zu bewahren. Doch wie auch in Evermore traute er sich nicht, über Jahre gebrochen und wie ein Hund auf sein Herrchen geprägt, voller Angst und doch gehorsam. Jean wusste, dass eine Antwort von ihm erforderlich war, so nickte er automatisch, ohne es wirklich zu wollen. Knox schluckte darauf hörbar. „Gestern Abend, als du eingenickt bist beim Lesen, hat sich dein Ärmel verschoben und ich habe die Narben um dein rechtes Handgelenk gesehen.“ Jean lief es bei den Worten heiß und kalt den Rücken hinunter. Er war sich bewusst, dass er kurz geschlafen hatte, aber dass Knox soviel Zeit gehabt hatte, ihn zu beobachten, verursachte ihm eine Gänsehaut. Dass er dabei auch noch die Narben gesehen hatte, die er versuchte, seit seiner Ankunft zu verbergen, um seinen neuen Kapitän nicht auf dumme Ideen zu bringen, war nur eine umso größere Katastrophe. Wie ein Reh im Scheinwerferlicht starrte Jean Knox an, unfähig sich zu regen oder zu reagieren. „Jean, wenn du zur Polizei gehen und Anzeige erstatten möchtest, dann unterstütze ich dich da vollkommen. Nicht nur ich, der Coach auch.“ Hatte er gedacht, dass die Zeit vor Knox‘ Worten schon schlimm wäre, so hatte Jean keinesfalls mit den Worten an sich gerechnet und kam nun nicht umhin, festzustellen, dass die Zeit danach wesentlich schlimmer war als alles, was er sich hatte ausmalen können. Zunächst war da Unglauben. Er hoffte, sich verhört zu haben. Er glaubte an einen schlechten Scherz. Er glaubte, dass er träumte. Nichts davon traf zu. Dann war da Horror bei dem Gedanken daran, das, was unter der schützenden Hand der Yakuza geschah, einem Polizisten zu beichten und somit für ein Blutbad sondergleichen zu sorgen. Ebenso bei dem Gedanken, dass er sich überhaupt jemandem anvertrauen sollte. All das, was geschehen war? Er erinnerte sich an vieles doch gar nicht mehr richtig, weil sein Hirn nur versucht hatte zu überleben. Dem Horror folgte die Angst, dass Knox es auch ohne sein Einverständnis tun würde und ihm somit gar nichts Anderes mehr übrig blieb, als sich vorzeitig das Leben zu nehmen, bevor Moriyamas Auftragsmörder zu ihm kamen und ihn zu Tode folterten. Unfähig, etwas zu sagen, starrte Jean Knox in die Augen und schüttelte den Kopf, als er die Kraft dazu fand. Es war schon beinahe zuviel und über das Rauschen in seinen Ohren hinweg hatte er das Gefühl, dass es nicht ausreichte. „Kevin hat mir gesagt, dass es Dinge sind, in die ich besser nicht meine Nase hineinstecken sollte, aber das ist Körperverletzung. Sie dürfen damit nicht durchkommen.“ Jean ballte seine Hände zu Fäusten und entkrampfte sie mit eiserner Selbstbeherrschung wieder. Niemals in seinem Leben hätte er gedacht, dass er diese Worte aussprechen würde und noch während er mit ihnen kämpfte, waren sie Scherben in seinem Mund, dazu gedacht, auch noch den letzten Rest seines Stolzes ausbluten zu lassen. Jean brauchte drei Anläufe, bevor er mehr als nur Krächzen herauspresste. „Day hat Recht“, presste er dann hervor. „Es ist nicht wichtig.“ Das stieß auf wenig Gegenliebe. „Sie haben dir wehgetan, Jean. Natürlich ist das wichtig“, sagte Knox das Unmögliche, das Undenkbare. Er war Besitz, es war nicht wichtig. Knox wusste doch, dass er Besitz war, warum sagte er so etwas? Warum sagte er etwas, das nur Renee bisher zu ihm gesagt hatte? Jean, du bist mir wichtig. Wieder und wieder hatte sie ihm das gesagt, bis er es ihr geglaubt hatte. Wieso sagte der andere Junge das? „Wieso?“, flüsterte er entsprechend verwirrt und das Lächeln des Kapitäns wurde so sanft, dass Jean wegsehen musste, weil es ihn zu sehr schmerzte. „Du erinnerst dich? Teil unseres Teams. Du gehörst zu uns und die Trojans stehen für einander ein.“ Es klang beinahe lächerlich nach einer Motivationsansprache, nach leeren Worten, die mit noch unwichtigeren Vorsätzen unterfüttert wurden. Doch irgendetwas darin ließ Jean innehalten, auch wenn ihm wieder zum Lachen zumute war. Vielleicht war es gerade der Grad an Ernsthaftigkeit, der Knox auf eine andere Ebene von Jeans Denken hob. Wo er Gewalt erwartet hatte, hatte Knox ihm erneut gezeigt, dass er seinen Kapitän falsch einschätzte. Es musste etwas geben, nach dem Knox tickte. Eine Formel, eine Gleichung, nach der er handelte und die sein Leben bestimmte. Wenn es nicht Gewalt war, was dann? Nächstenliebe? Konnte er Gewalt ersatzlos durch Nächstenliebe und Entgegenkommen ersetzen? War das seine Gleichung? Jean erkannte, dass eben jene schlimmer in ihm wüten würden als es jeder Schlag tun konnte. Und wie bei Schlägen wappnete er sich gegen diese neue Form der Gewalt. Nach und nach schulte er seine Mimik auf Ausdruckslosigkeit, seinen Körper auf Abwehr. Er schwieg lange genug um die Atmosphäre im Auto von verzweifelt auf unangenehm zu polen. Dann schnaubte er und durchbohrte Knox regelrecht mit seinen Augen. „Meine Verletzungen gehen niemanden etwas an“, probierte er es mit Unfreundlichkeit, die in ihrer schroffen Form seinen Kapitän durchaus zurückzucken ließ. „Nicht dich, nicht die Trojans, nicht die Polizei.“ Knox öffnete den Mund um zu widersprechen, doch bevor Jean sich eine neue Strategie einfallen lassen konnte oder bevor sein Herz vor lauter Angst vor einer Strafe für seinen unverschämten Tonfall schier zersprang, schloss der andere Junge seine Lippen und runzelte nachdenklich die Stirn. „Möchtest du das wirklich nicht?“, fragte er langsam und vorsichtig und Jean sah betont aus dem ihm nahen Fenster. Nichtsdestotrotz war es eine ihm direkt gestellte Frage, auf die er gedrillt war zu antworten. „Nein, ich möchte das nicht.“ Unweigerlich hielt Er den Atem an. Noch nie hatte es Andere interessiert, was er wollte. Noch nie hatte jemand auf das gehört, was er sagte. Niemand bis auf Renee. Und nun… nun akzeptierte auch Knox das, was er sagte. „Okay, Jean. Das respektiere ich.“ Der andere Junge nickte und startete schließlich den Wagen. Jean blinzelte. Knox respektierte seine Worte? Warum? Nachdenklich malträtierte er seine Unterlippe zwischen seinen Zähnen. „Möchtest du lieber in der Mall oder in einem kleinen Geschäft die Sportsachen kaufen?“, lenkte sein Kapitän ab und Jean war unweigerlich dankbar darum, dass er mit einem handfesteren Problem konfrontiert wurde in diesem Moment. Ein kleiner Laden klang um Längen besser als eine Mall. Renee hatte ihm von einer solchen in Los Angeles erzählt, einem großen, mit Menschen überfüllten Einkaufstempel. Es war Jean ein Graus, doch er konnte dazu nicht nein sagen. Er musste die Mall wählen, damit Knox ihn nicht für schwach hielt, ihn mit seinen Narben der Erniedrigung. „Mall“, sagte Jean schlussendlich kurz angebunden. Er würde das durchstehen, eine andere Wahl hatte er nicht. Schwäche würde andere gefährden. Renee zum Beispiel. Oder die Krankenschwester. Abby. Das war ihr Name. ~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 7: Captain Sunshine --------------------------- Jean hatte kein einziges Wort mehr mit ihm gesprochen, seitdem er die Narben angesprochen hatte. Schweigend hatte er neben ihm gesessen, dieses Mal nicht ängstlich oder vorsichtig, sondern ablehnend, als hätte Jeremy mit seiner Frage einen Schutzreflex ausgelöst, der vorher nicht dagewesen war. Hier war er, der Backliner der Ravens, dem niemand zu nahe kam und mit dem niemand ein Gespräch anfing auf den Banketten oder nach Spielen. Unnahbar und kalt war er, abweisend und arrogant. Jeremy konnte nicht sagen, was ihm weniger lieb war. Der verletzte, furchtsame junge Mann, der hier angekommen war und vor ihm zurückzuckte, als wollte er ihn schlagen oder derjenige, der gerade knapp hinter ihm lief, eine furchteinflößende Präsenz in seinem Nacken. Kein noch so vorsichtiger Versuch, den Anderen zu einem Gespräch zu überreden, hatte gefruchtet. Lediglich direkte Fragen hatten direkte, einsilbige Antworten hervorgebracht. So plapperte Jeremy einfach vor sich hin und erklärte Jean jedes einzelne Geschäft in der Mall, für was es da war, was man kaufen konnte, in welche Preiskategorie es gehörte… als würde der Andere zuhören und nicht wahrscheinlich schon längst abgeschaltet haben. Schlussendlich blieben sie vor dem Sportgeschäft stehen und Jeremy drehte sich mit einem schwachen Lächeln zu der schweigenden Mauer in seinem Rücken herum. Er sah hoch und erkannte, dass er das Schweigen des Backliners anscheinend zumindest teilweise falsch eingeschätzt hatte. Dessen Gesicht drückte alles andere als die Ablehnung der Autofahrt aus. Die grauen Augen wollten gar nicht stillstehen, so unstet, wie sie ihre Umgebung betrachteten und versuchten, jeden einzelnen Reiz in sich aufzunehmen. Er sah Staunen auf dem zerschnittenen Gesicht und konnte es nachempfinden. Mehr als das. Als er das erste Mal einen Fuß in diese Mall gesetzt hatte, war er ebenso überwältigt gewesen von der schieren Größe und angenehmen Atmosphäre. „Cool, oder?“, wagte Jeremy einen neuen Versuch, sich ein Gespräch mit Jean zu sichern und hatte Erfolg. Langsam geriet er in den Fokus der grauen Augen. „Es ist nicht die größte Mall hier in L.A., aber mit die Schönste, weil sie so hell ist. Man tritt sich hier nicht so tot, das ist ganz angenehm.“ Es brauchte etwas, bis seine Worte verarbeitet wurden und noch viel länger, bis Jean sich dazu entschloss, ihm zu antworten. „Ich war noch nie in einer solchen Mall“, sagte er kühl und Jeremy nickte. Er konnte sich denken, warum nicht. Er konnte sich denken, an welcher kurzen Kette die Ravens Jean gehalten hatten…im übertragenen Sinn und wortwörtlich. „War ich bis vor ein paar Jahren auch nicht. Ich komme eigentlich aus einem kleinen Ort mitten in der Pampa, zwischen ewig langen Feldern und dem Horizont irgendwo in der Ferne. Da gab es so etwas nicht…und als ich das erste Mal hier war, habe ich Bauklötze gestaunt und meinen ganzen Monatsbeitrag hier ausgegeben.“ Mit Bedacht wählte Jeremy etwas Leichtes, das er erzählen konnte. Etwas Schönes, das Jean vielleicht aus seinem Versteck hervorlocken würde. Wie es schien, hatte er damit Erfolg. „Ist es da genauso sonnig wie hier?“, fragte Jean und Jeremy nickte. „Im Sommer heißer. Aber es gibt mehr Regen, dann ist es schwül.“ Jean sagte nichts dazu, aber Jeremy sah, wie er sich Gedanken um das machte, was er gerade gesagt hatte. Er sah zum ersten Mal so etwas wie Interesse in Jean aufleuchten, auch wenn dieses nur Sekunden später im Keim erstickt wurde. „Ich kann dir mal Fotos von unserer Farm zeigen, wenn du magst“, bot Jeremy an und wurde mit einer Unsicherheit konfrontiert, die er bereits schon gut kannte. In Jeans Augen stand ein Nein, aber seine Lippen wagten es anscheinend nicht, dieses zu äußern. Jeremy lächelte. „Nur wenn du möchtest, irgendwann. Du meldest dich einfach, wenn du sie sehen möchtest“, wiegelte er ab und deutete auf den Sportladen vor ihnen. „Trainingsklamotten?“ Jean folgte schweigend seinem Fingerzeig und Jeremy ging vor, als er sich sicher sein konnte, dass er keine Antwort mehr erhielt. Dass Jean vollkommen überfordert mit der Auswahl war und entsprechend nervös wurde, entging Jeremy dabei nicht. „Hast du eine bestimmte Marke, die du gerne trägst?“, fragte er möglichst ruhig und wurde mit einem minimalen Kopfschütteln belohnt. „Deine Größe ist ja offensichtlich…was hältst du denn davon, wenn du Dinge anprobierst und danach entscheidest, was du mitnimmst?“ Jeremy hätte auch gut und gerne ein Spießrutenlaufen vorschlagen können, so schnell, wie der Körper neben ihm gefror. „Anprobieren?“, fragte Jean heiser nach und Jeremy gab einen zustimmenden Laut von sich. Langsam genug, dass der Backliner sich nicht durch seine Bewegungen ängstigte, drehte er sich zu ihm. „Wir können die Sachen auch kaufen und du probierst sie zuhause an. Ganz in Ruhe und ohne kritisch guckende Sportler anderer Sportarten.“ Es war als auflockernder Scherz gedacht, doch in dem Moment, in dem die Worte Jeremys Mund verlassen hatten, begriff er zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit, dass das Gegenteil von gut in allererster Linie gut gemeint war. Jean zog seine Schultern ein um sich vor Blicken zu schützen, die es defacto nicht gab. Nur ein dummer Spruch, einfach daher gesagt. Ein dummer Spruch zuviel, schalt er sich innerlich. „Ah… nicht, dass jemand guckt, das war nur so daher gesagt!“, versuchte er zu beschwichtigen, scheiterte aber, wie so oft, an dem Schicksal, das sich ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit in den Weg stellte und ihm Stöcke zwischen die Beine warf. „Captain Sunshine!“, röhrte eine Stimme durch den Laden, die er nur zu gut kannte und die natürlich die Aufmerksamkeit der umliegenden Kunden auf sie zog. „Captain, mein Captain“, schallte es dramatisch zu ihnen und Jeremy drehte sich grinsend um. „Ajeet…du hier!“, gab er sich überrascht und wurde in eine erdrückende Umarmung gezogen und mühelos vom Boden hochgehoben. Jeremy ächzte unter dem Griff seines dritten Torhüters, der ihm anscheinend jede Rippe brechen wollte mit seinen Armen aus Baumstämmen. „Wo soll ich sonst sein?“ „Bei deinen Eltern in der Firma! Dass du überhaupt in die Mall darfst, wundert mich.“ Sie alle kannten Ajeets strenge Eltern, die ebenso stolz auf ihren Sohn waren wie sie auch Bestleistungen von ihm forderten. In ihrer ansässigen Firma mitzuarbeiten, zum Beispiel, und das auch noch über die Semesterferien hinweg. Jeremy beneidete ihn nicht um die räumliche Nähe seines Elternhauses zur Uni, wirklich nicht. „Ich habe mich weggestohlen, aber sag‘ es ihnen nicht“, donnerte der Riese von einem Jungen, der, so fiel es Jeremy auf, auch noch ein Stück größer war als Jean. „Wow“, entfuhr es ihm beeindruckt. „Uff.“ Mühelos war er mal wieder der Kleinste in der Runde mit den beiden Riesen hier. „Gehst du einkaufen mit deinem…“, fragte Ajeet und wandte sich zum Schrecken Jeans abrupt an diesen. „…ach du Schande, das ist ja Moreau! Alter! Das ist aber ein weiter Weg von Evermore bis nach hierhin. Bist du auf Austausch hier? Anstandsbesuch um mal rauszukommen aus dem Schloss?“ Ja, das Schicksal hatte definitiv etwas gegen ihn. Jeremy sah sich verstohlen um und erkannte, dass die Kunden, die ihnen am Nächsten standen, sie aufgeschreckt durch die Worte Ajeets eingehender musterten. Genau das hatte er verhindern wollen, weil genau das Jean nun so sehr verschreckte, dass er stocksteif neben ihnen stand und sich überhaupt nicht mehr rührte, die Hände zu Fäusten geballt, deren Haut sich weiß um die Knöchel spannte, das Gesicht auf kalte Ablehnung gepolt. Jeremy räusperte sich. „Jean, darf ich dir unseren dritten Torhüter Ajeet Anand vorstellen. Er sieht nur so aus, als könnte er einen Baum mit bloßen Händen ausreißen, er ist aber eine herzensgute Seele.“ Er versuchte es wirklich, er versuchte, die Situation für Jean angenehmer als sie es jetzt war, zu gestalten. Aber auch Ajeet hatte einen Deal mit dem Schicksal. Natürlich. „Das stimmt gar nicht, erinnerst du dich nicht an letztes Jahr, wo wir die gemeinnützige Arbeit im Altenheim gemacht haben. Da habe ich einen Baum mit bloßen Händen herausgerissen.“ Jeremy erinnerte sich. Es war witzig gewesen damals und heute ebenso. Aber ein Blick in Jeans Gesicht zeigte ihm, dass der andere Junge es überhaupt nicht komisch fand. Jeremy senkte seine Stimme und lenkte die Aufmerksamkeit des Bären von Jean ab. „Ajeet, Jean ist unser neuer Backliner. Der Deal wurde ganz frisch eingefädelt und eigentlich sollte das eine Überraschung für euch sein… nach den Semesterferien.“ Für eine Sekunde herrschte überraschtes Schweigen und Jeremy sah, wie sich Jean schon alleine aufgrund der Lautstärke, die er vorgab, entspannte und einen Blick in Ajeets Augen warf. Jeremy sah das als Fortschritt an und sah mit innerlichem Horror, wie sein Riese von einem Torhüter nichts Besseres zu tun hatte als Jean in eine allumfassende, verschlingende Umarmung zu ziehen und ihm so kumpelhaft auf den Rücken zu klopfen, dass Jean vor Schmerz aufstöhnte. Oh. Nein. Die Sekunden, die Jeremy mit Starren vertat, nutzte Ajeet dazu, Jean so eng an sich zu pressen, dass kein Blatt Papier mehr zwischen die Beiden passte. An sich war das nichts Ungewöhnliches für den Hünen, hatte er diese Tradition doch nahtlos bei den Trojans eingeführt. Hier aber war es eine kommende Katastrophe, der sich Ajeet noch nicht einmal bewusst, Jeremy aber sehr wohl. Jean rührte sich nicht, die Arme unbewegt an seinen Seiten. Ihm war jedwede Farbe aus dem Gesicht gewichen und in seinen Augen stand eben jener überrascht-erschrockene Horror von Menschen, die mit vielem gerechnet hatten aber nicht mit dem, was ihnen gerade passierte. Jeremy überlegte noch, ob er beide auseinanderzerren sollte und damit die Szene noch größer machte, als sie es jetzt schon war oder ob er versuchen sollte, danach die Wogen zwischen beiden zu glätten, als Ajeet sich von Jean löste. „Schön, dass du da bist! Wird cool mit dir als Backliner, ich freu mich sehr!“ Ahnungslos wie er war, strahlte er den vollkommen ruhigen Jungen an, der keinen von ihnen beiden musterte, sondern wie eine Statue vor ihnen stand, den Blick abwesend. Erst jetzt sah Jeremy das Zittern, das den gesamten Körper ergriffen hatte und legte Ajeet eine Hand auf den Arm, als dieser verwirrt nachfragen wollte, ob alles okay war. War es nicht. Ganz und gar nicht. „Jean…?“, versuchte Jeremy sich die Aufmerksamkeit des Anderen zu sichern. Er brauchte zwei Anläufe dafür, bevor ihm die grauen Augen auch nur den Hauch einer Beachtung schenkten. „Nein.“ Noch während Jean das Wort herauspresste, trat er einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. „Nein.“ Ein weiteres Mal, dieses Mal noch zittriger. Wieder einen Schritt mehr. „Jean, vielleicht solltest du dich setzen, du siehst etwas blass aus.“ Sein Vorschlag wurde zugunsten weiterer Schritte weg von ihnen ignoriert. „Sollen wir zurück zum Auto?“, fragte Jeremy aus einem Impuls heraus und wurde mit einem Kopfschütteln und einer abwehrend ausgestreckten Hand davon abgehalten, seinen Worten auch Taten folgen zu lassen. Immer noch in dieser beunruhigenden Trance gefangen, drehte sich Jean um und verließ den Laden, ließ sie hier stehen. Als Jeremy ihm hinterhersetzen wollte, hielt ihn Ajeet mit einer Hand an seinem Arm auf. Bedauernd sah er auf ihn hinunter. „Lass ihn, Cap. Ich glaube, er braucht gerade mal ein bisschen Abstand. Tut mir leid, dass ich’s verbockt habe“, schob er noch nach und senkte den Kopf. Jeremy seufzte. „Du hast gar nichts verbockt, du konntest nicht wissen, dass er kein Kontaktmensch ist.“ „Hatte er Angst vor mir, Jer?“ Ajeet formulierte es als Frage, aber Jeremy sah, dass der Funken an Bestürzung bereits seinen Weg in das Selbstbewusstsein des Torhüters gefunden hatte. Nichts war für ihn schlimmer, als wenn Menschen von ihm glaubten, dass er ihnen etwas antun würde. Dazu war seine eigene Familienvergangenheit zu geprägt von der Gewalt seines Großvaters. Niemals hatte er etwas Böses im Sinn. „Er mag Kontakt zu anderen Menschen nicht“, versuchte Jeremy zu erklären, was er selbst nicht erklären konnte, weil er alles, was er sonst dazu sagen müsste, nicht ohne Jeans Zustimmung an Dritte weitertragen würde. Allerdings würde er auch nicht zulassen, dass Ajeet sich wegen einer Umarmung brachiale Vorwürfe machte. Angesichts der Tatsache, dass Jean bereits aus seinem Sichtfeld verschwunden war und er Kevins Warnung, den Ex-Raven nie aus den Augen zu lassen, ernst nahm, traf Jeremy eine Entscheidung, die, so hoffte er, dieses Mal nicht zu einer Katastrophe führen würde. „Morgen Nachmittag im Stadion…hast du Zeit für ein kleines Training, du, er und ich?“, fragte er und Ajeet nickte mit eingezogenem Kopf. „Aber ich möchte ihn nicht weiter verschrecken.“ „Ich habe eine Idee, wie genau das nicht passieren wird“, erwiderte Jeremy. „Jetzt sei mir bitte nicht böse, aber ich werde schauen, ob es ihm gut geht. Also? Morgen um drei?“ „Okay, Cap. Ich sag‘ meinen Eltern Bescheid.“ „Mach das und grüße sie von mir!“ Jeremy winkte und lief dann ebenso aus dem Laden nur um festzustellen, dass Jean nirgendwo zu sehen war. Wie vom Erdboden verschluckt war er und Jeremy fluchte wortgewaltig. Kevins eindringliche Warnung, Jean nicht alleine zu lassen, weil ein Raven nicht wusste, wie es war, alleine zu sein, stand in großen, leuchtenden Buchstaben über dieser Katastrophe und er ahnte nichts Gutes. Der Ausdruck auf Jeans Gesicht war nichts weiter als blanke Panik gewesen und das konnte nichts Gutes bedeuten. Er hatte Angst davor gehabt, angefasst zu werden. Er hatte Schmerzen gehabt. Sein Gesicht war schmerzverzerrt gewesen, als Ajeet ihm auf den Rücken geklopft hatte. Verdammter Mist! Jean hier in dem Zentrum zu finden war wie eine Nadel im Heuhaufen zu suchen. Vielleicht wollte er auch gar nicht gefunden werden oder war wütend, hasste ihn, fürchtete sich… Was auch immer es war, Jeremy musste die Wogen glätten und Jean finden und so suchte er das komplette Einkaufszentrum ab. Zunächst systematisch die Wege, die sie bereits gegangen waren, die Geschäfte, die er Jean erklärt hatte. Nirgendwo gab es auch nur den Hauch einer Spur von Jean. Erst, als er sich sicher war, das gesamte Zentrum durchkämmt zu haben, lief Jeremy zurück zum Parkhaus und ging dort zu seinem Wagen zurück, den er auf einem der überdachten Oberdecks abgestellt hatte. Es war schattig, aber immer noch warm genug, dass ihm von der Lauferei der Schweiß ausbrach. Während er zu seinem Auto ging und Jean auch dort nicht anzutreffen war, wurde sich Jeremy schmerzlich bewusst, dass Jean zwar ein Handy hatte, sie aber ihre Nummern noch nicht ausgetauscht hatten. Sicherlich könnte Kevin ihm da weiterhelfen, doch er sträubte sich davor, den anderen Jungen erneut zu belästigen und erklären zu müssen, warum er so panisch klang wie er nun einmal klingen würde, weil er es verdammt nochmal war. Jeremy raufte sich die Haare und machte sich daran, auch die ganze Etage des Parkhauses abzusuchen, bevor er trotz seines Widerwillens zur Option Kevin greifen würde. Jeden Winkel der Etage durchkämmte er, von Minute zu Minute hoffnungsloser, dass er Jean finden würde und ihm das Ganze erklären könnte. Bis… Abrupt blieb er stehen, als er in der hinterletzten, dunkelsten und ruhigsten Ecke des Decks eine leise Stimme hörte, die ihm sehr bekannt vorkam, auch wenn er sie noch nicht so häufig gehört hatte, wie er sie gerne hatte hören wollen in den vergangenen vier Tagen. Hinter einer alten, klapprigen Rostlaube, im hinterletzten Winkel des Parkhauses saß Jean, dessen Stimme unmissverständlich zu ihm drang. Es war leise um sie herum, deswegen konnte Jeremy die beinahe geflüsterten Worte des Anderen gut ausmachen, die er zunächst für ein Selbstgespräch hielt. Die weibliche Stimme, die Jean antwortete, widersprach dem. „Ich kann das nicht, Renee“, murmelte der Backliner und Jeremy trat einen Schritt näher, auch wenn sich in ihm bereits ein schlechtes Gewissen regte, dass er ein Gespräch belauschte, welches nicht für ihn bestimmt war. „Es ist alles so anders hier. Sie sind alle so anders. Nichts ist so wie in Evermore oder… bei euch.“ Die weibliche Stimme – Renee Walker – seufzte und es war ein derart weicher, mitfühlender Laut, dass es Jeremy unweigerlich das Herz aufgehen ließ. Er kannte sie von ihren Spielen und den Banketten und sie war niemals etwas Anderes als freundlich zu ihm gewesen, doch das war es auch. Freundlich und höflich. Das hier war jedoch etwas Anderes. „Er hat dich nur umarmt“, erwiderte sie und Jeremy wusste, was gemeint war. Wer gemeint war. „Das machen manche Menschen einfach so.“ „Niemand macht etwas einfach so.“ Sie lachte. „Wir haben uns auch schon umarmt.“ Jean brummte und Jeremy hob überrascht seine Augenbrauen. Er mochte das unerwartete Geräusch in all seiner offenen Menschlichkeit. „Das ist etwas Anderes.“ „Weil ich dich vorher gefragt habe.“ „Weil du…du bist.“ Renee seufzte schwer. „Ach, Großer. Und er ist er… er hat es sicherlich nicht böse gemeint.“ „Er hat mir auf den Rücken geschlagen.“ „In freundlicher Absicht?“ „Das weiß ich doch nicht. Sicherlich nicht.“ „Warum?“ Schweigen folgte Renees Worten und Jeremys verräterische Füße brachten ihn noch ein Stück näher, sodass er jetzt einen kurzen Blick auf Jean erhaschen konnte, der mit angezogenen Beinen mit dem Rücken an eine alte Rostlaube gelehnt saß und mit Renee chattete, die ihm auf dem Bildschirm seines Handys entgegenlächelte. „Du könntest ihn fragen“, schlug die Spielerin der Foxes vor und Jean schnaubte. „Selbst wenn er antworten sollte, ist es dann wichtig?“ „Ja, es hilft dir, sie zu verstehen.“ Wieder herrschte Stille, dann ließ Jean seinen Kopf gegen die Tür des Wagens fallen. „Selbst der Trainer ist anders. Er hat mir die Hand gegeben. Er hat etwas von leichtem Training gesagt. Wieso macht er so etwas? Der Herr hätte niemals…“ Renee grollte und Jeremy zuckte überrascht zusammen. Er hätte niemals gedacht, dass aus dieser zarten Person so ein tiefer, wütender Laut herauskommen würde, der selbst Kevins Grollen in den Schatten stellte. Sie war diejenige gewesen, die Jean aus Evermore geholt hatte, kamen ihm Kevins Worte in den Sinn. Unwillkürlich fragte sich Jeremy, wie sie es gemacht hatte, auch wenn er sich nicht sicher war, ob er die Antwort wirklich hören wollte. „Niemand ist wie Moriyama, Jean. Dieser Mann ist kein Maßstab für den Rest der Liga. Nicht für Wymack, nicht für Rhemann oder sonst irgendwen. Er ist ein dreckiges Arschloch, ein ekelhafter Scheißkerl. Die Anderen sind das nicht. Rhemann ist wirklich nett. Er würde dir niemals etwas antun.“ Die sanfte Stimme solche Worte in den Mund nehmen zu hören, verursachte Jeremy rote Ohren. Gleichwohl ließ es ihn schaudern. Herr? Jeremy hatte geahnt, dass die Uhren in der Edgar Allan anders tickten, doch das grenzte an seine gewaltsame Sekte. Ein Trainer, der sich Herr nennen ließ? Es passte zu dem Eindruck, den er von der gegnerischen Mannschaft so manches Mal gewonnen hatte, insbesondere bei Banketten. Immer zusammen, ein einziger, schwarzer, die Anderen verachtender Haufen, dessen Spielweise im besten Fall als unsportlich zu bezeichnen war. Jeder Spielzug war von einer Aggressivität geprägt gewesen, die Jeremy sich manches Mal hatte fragen lassen, wie man ein solches Level selbst bei ihrem Sport aufrecht erhielt. Und Moriyama mitten drin in diesem Haufen, eine unangefochtene Respektsperson, dessen Wort Gesetz war. Er schnaubte stumm, als er an die unzähligen Male dachte, die er dem Backliner, der nun zu ihnen gehörte, auf dem Spielfeld nicht entkommen war und gegen die Bande gedrückt oder zu Boden gecheckt worden war, alles am Rand der Legalität. Es hatte Spiele gegen die Ravens gegeben, da war er blau und grün vom Feld gehumpelt und hatte noch Wochen danach Blicke am Strand auf sich gezogen, weil er aussah, als wäre er misshandelt worden. Wie es schien, hatte die Aggressivität ihren Grund und Ursprung und Jeremy empfand nichts als Wut und Verachtung für eine solche Vorgehensweise, was ihn aber auch gleichzeitig stolz auf seine eigene Mannschaft machte. Sie waren nicht so und würden nie so sein. „Ich weiß nicht, wie ich das glauben soll“, gestand Jean ein und Jeremy straffte die Schultern. Er atmete tief ein und trat um das Auto herum. „Ich aber schon“, erwiderte er und wusste, dass seine Anwesenheit den anderen Jungen erschrecken würde. Das tat sie tatsächlich und Jeremy schenkte ihm sein bestes, sanftestes Lächeln, konnte aber nicht verhindern, dass Jean das Handy aus der Hand fiel. Als der Andere keine Anstalten machte, es aufzuheben, bückte sich Jeremy und drehte den Bildschirm so, dass er Renee sehen konnte. „Hey“, grüßte er sie mit einem kurzen Grinsen und sie winkte zurück. „Ach guck mal, Captain Sunshine!“ Jeremy rollte mit den Augen. Nicht auch noch sie. Bis wohin hatte sich das denn verbreitet? „Hör mal zu, Regenbogenmädchen…“, begann er spielerisch, während er sich neben Jean auf den Boden setzte und das Handy so hielt, dass sie beide zu sehen waren. Angesichts des Abstandes zwischen Jean und ihm keine einfache Sache, aber mit ein paar Verrenkungen machbar. Renee lachte. „Hast du etwa gelauscht, Knox?“, fragte sie mit tadelnd erhobener Augenbraue, während Jean stocksteif neben ihm saß. „Nur ein paar Minuten und lange genug, um die Ehre meines... unseres Trainers verteidigen zu können“, scherzte er zurück und sie schnaubte. „Dann leg mal los, Knox!“ Jeremy nickte und hielt Jean erst einmal das Handy hin. „Hier, das ist deins“, sagte er zu dem Jungen, dessen Hände unruhig seinem Schoß gelegen hatten und der nun anscheinend überrascht war, dass er sein Telefon zurück erhielt. Schweigend hielt er es weiterhin so, dass sie beide zu sehen waren und Jeremy kam nicht umhin, das latente Zittern zu bemerken, das Besitz von seinen Händen ergriffen hatte. Die Verwunderung in den grauen Augen schmerzte ihn. Tief atmete er ein, theatralisch gar, aber humorvoll genug um die Situation zu entspannen. Er wandte sich leicht Jean zu, schließlich ging es darum, den Backliner zu beruhigen. Um Jean aber nicht im Fokus seiner vollständigen Aufmerksamkeit zu lassen und ihn somit zu verschrecken, fasste er Renee ins Auge. Er erzählte ihr, was er über seinen Trainer loswerden wollte, auch wenn er wusste, dass die Information ausschließlich für Jean wichtig war. „Rhemanns Art zu trainieren ist ein bisschen, als würde ein strenger, aber liebevoller Zirkusdirektor seinen Sack voller Flöhe hüten und versuchen, dass sie nicht in alle Richtungen laufen und das sie alle das tun, was er möchte. Manchmal klappt das, oftmals hat er teilweise Erfolg und sehr oft sind wir ein chaotischer Haufen, der einfach Spaß hat an dem, was er tut, und im Training eine gute Zeit miteinander verbringt. Auch wenn er grummelig erscheint, ist Rhemann im Grunde seines Herzens dann doch ganz froh um uns und möchte uns nicht missen. Letztes Jahr hatte er zum Beispiel eine fiese Grippe, die er sich im Skiurlaub eingefangen hatte. Da musste ich mit dem Tablet das Trainingsfeld filmen, damit er dabei sein konnte. Er liebt diesen Sport und er liebt den Sportsgeist und das Zusammengehörigkeitsgefühl, die damit einhergehen. Und er liebt uns, auch wenn er das niemals zugeben würde.“ Jeremy atmete tief wieder aus. Jean nicht in den Mittelpunkt seines Fokus zu rücken, war genau die richtige Entscheidung, befand er. So hatte der neben ihm sitzende Junge die Möglichkeit gehabt, in Ruhe zuzuhören und sich seine eigenen Gedanken machen zu können. „So sieht‘s aus bei uns. Wie wir alle seit dem letzten Spiel gegen euch wissen, Renee, sind wir die Guten, nicht die Klugen.“ Er zwinkerte und sie tat ihm dem Gefallen, über seinen schlechten Scherz zu lachen. „Dafür habt ihr ja jetzt den besten Backliner der Liga“, hielt sie dagegen und mit Faszination beobachtete Jeremy, wie Jean den Kopf einzog und sich seine Ohrläppchen rot färbten. „Das stimmt gar nicht“, murmelte eben jener beinahe unhörbar. Am anderen Ende der Leitung schnaubte Renee. „Jean Moreau, vertrau einer Expertin auf diesem Gebiet“, tadelte sie ihn spielerisch. Mit Erstaunen sah Jeremy so etwas wie ein Lächeln auf Jeans Gesicht und er wurde sich bewusst, dass da durchaus etwas mehr zwischen den Beiden schimmerte, als er bisher angenommen hatte. Es war Renee gewesen, die Jean aus Evermore geholt hatte mit ihren Verbindungen. Laut Kevin hatte sie sich dafür stark gemacht, dass Jean eine andere Mannschaft fand. Mehr noch. Eher mit halbem Ohr hatte Jeremy bei ihrem letzten Bankett mitverfolgt, wie Renee sich dem verschlossenen Raven genähert hatte, der in ihrer Liga berüchtigt für seine Spielweise und für seine Nichtbeachtung anderer Spieler war. Irgendwann am Ende des Abends hatte er die beiden zusammen und tatsächlich so etwas wie Emotionen auf Jeans Gesicht gesehen. War es da abwegig, dass die beiden zusammen waren oder sich zumindest sehr nahe standen? Nicht im Geringsten, beschloss Jeremy. „Wenn du Jean besuchen möchtest, wir haben auch ein Gästezimmer bei uns im Haus“, bot er entsprechend augenzwinkernd an. Sie verstand – im Gegensatz zu Jean – seine latente Zweideutigkeit und lachte. „Ich habe hier eine Saison zu spielen und euch den Hintern zu versohlen, Captain Sunshine. Da bleibt keine Zeit für Ablenkungen!“ „Angebot steht, Regenbogenmädchen. Jean soll mir nur Bescheid sagen, dann reserviere ich euch den Schlüssel!“ Sie zeigte ihm einen Daumen hoch, während Jean auch damit nichts anfangen konnte. Verwirrt huschten die Augen über sein Gesicht und suchten nach dem Sinn der Worte. Jeremy hatte schließlich ein Einsehen, als Renee es anscheinend nicht für nötig hielt, ihr Pendant aufzuklären. „Das ist unser kleines, aber feines Äquivalent zur Socke an der Tür. Aus leidvoller Erfahrung, möchte ich meinen.“ Jean runzelte die Stirn. „Socke an der Tür?“ Zunächst glaubte Jeremy an einen trockenen Scherz des anderen Jungen. Wer kannte denn nicht die Socke an der Tür? Jeder kannte die Socke an der Tür! Das konnte doch nicht sein. Jean machte aber keine Anstalten, seinen Scherz aufzulösen, so begriff Jeremy mit verstreichender Zeit, dass der neben ihm sitzende, junge Mann keine Ahnung von dieser Universitätstradition hatte. Und das mit 21 Jahren. Scheiß Edgar Allan. Jeremy seufzte tief und lächelte. „Also, wenn jemand seine Freundin oder seinen Freund zu Besuch hat und etwas ungestört sein möchte, dann gibt es diesen Raum. Bei uns schließt man den Raum dann ab, wenn man nicht gestört werden möchte, in manchen Unis hängt dann eine Socke an der Tür“, erläuterte er und sah, dass das auf Verstehen stieß. Zufrieden nickte Jeremy und warf einen Blick auf Renee, die ihn mit hocherhobener Augenbraue musterte und augenrollend den Kopf schüttelte. „Im Übrigen, der Große neben dir mag Rührei zum Frühstück!“, warf sie scheinbar aus dem Zusammenhang gerissen in den Raum – vielmehr das Parkhaus – zwischen ihnen dreien und alarmiert fuhr Jeans Kopf hoch. „Renee!“, entfuhr es ihm, als hätte sie seine intimsten Geheimnisse preisgegeben, was Jeans Beinaheentsetzen durchaus liebenswert machte. „Ja, Jean?“, fragte sie unschuldig, während Jeremy in sich hineingrinste. „Mit Toast?“, fragte er dazwischen, die gute Gelegenheit nutzend, spielerisch mehr über die Essgewohnheiten seines Zimmernachbarn herauszufinden. „Zwei Stück.“ „Renee!“ So wenig Jeremy die latente Verzweiflung in der Stimme seines neuen Backliners gefiel, so wenig ließ er sich aber auch davon abbringen, ihre Worte und ihren Wortwechsel wie einen Schwamm in sich aufzusaugen. „Rührei mit Toast, jawohl!“, nickte er knapp und wandte sich an Jean, der ihn ansah, als wäre er der Leibhaftige persönlich. „Ich sag’s doch. Ich hätte mit dir wetten sollen, Moreau, ich wäre reich geworden“, stöhnte Renee auf und Jean schnaubte. „Du bist reich.“ „Noch reicher!“ Mit Erstaunen sah Jeremy dem Austausch zu. „Wetten?“, fragte er und noch bevor Renee ihm darauf antworten konnte, war es Jean, der mit den Schultern zuckte. „Die Junkies sind spielsüchtig und wetten um alles, was nicht niet- und nagelfest ist.“ Blinzelnd versuchte Jeremy den Worten, ihrer Intonation und Jeans Stimmfärbung zu folgen, die soviel anders war als alles, was der Ex-Raven ihm bisher gesagt hatte. Da war abwertende Kälte in der Stimme, die mit soviel Zynismus durchsetzt war, dass er sich unweigerlich fragte, ob er Renee damit nicht gerade zwangsweise beleidigte. Der Ton, den er gerade vernommen hatte, war eben jener, der zu dem Backliner Jean Moreau passte, den Jeremy in den letzten Jahren kennengelernt hatte. Und dennoch meinte er auch, Humor daraus zu hören, auch wenn Jeremy sich dessen nicht sicher war. Nicht so sicher, wie Renee, die bis über beide Ohren grinste. „Eine Wette über dich haben wir noch laufen“, sagte sie mit Genugtuung und Jean verdrehte erneut die Augen. Fasziniert beobachtete Jeremy ihn dabei, ihn und seine offene Mimik, die er anscheinend Renee so freigiebig schenkte, wie er sie ihm so vehement verneinte. „Sag Josten und Minyard…“, begann er, doch sie schnalzte tadelnd mit der Zunge. „Sag es ihnen selber, die Nummern sind in deinem Telefon eingespeichert.“ Was genau an diesem Satz nicht gut war, konnte Jeremy nicht genau sagen. Er führte jedoch dazu, dass jedwede Offenheit in Jeans Gesicht einer Ausdruckslosigkeit wich, die beinahe schon körperlich schmerzte. Renee bemerkte diesen Stimmungsumschwung ebenso wie er und seufzte. „Na los, frag ihn schon“, forderte sie Jean sanft auf. Stumm den Kopf schüttelnd verweigerte er sich ihr, den Blick gesenkt und die Augen pointiert in eine andere Richtung gelenkt. Es ging um ihn, erkannte Jeremy und fragend legte er den Kopf schief. Jean sollte – und wollte? – etwas fragen, traute es sich aber nicht? „Jean. Es ist okay“, sagte er hoffentlich ruhig genug, dass er den Backliner eben nicht davon abbrachte, seine Frage zu stellen. „Was möchtest du wissen?“ Erwartungsvolle, aber auch angespannte Ruhe kehrte zwischen ihnen beiden ein. Jeremy benötigte Geduld dafür, aber letzten Endes zahlte sich genau diese aus, als Jean erneut hochsah und zunächst einmal Renees Blick begegnete, die ihm stumm zunickte. Erst dann wandte er sich halb an Jeremy, seine ganze Haltung auf Abwehr programmiert. „Dürfte ich… das Telefon behalten?“, fragte er schließlich und malträtierte seine Unterlippe unruhig zwischen seinen Zähnen. Irritiert versuchte Jeremy, sich einen Reim auf die Frage zu machen. „Es ist dein Telefon. Warum solltest du das nicht dürfen?“ Die Überraschung, die er in den grauen Augen sah, schmerzte. Sie tat weh und riss an seiner naiven Vorstellung, dass jeder Mensch Grundrechte hatte, die es einzuhalten gab. Anscheinend hatte Jean das nicht so erfahren, was sogar bis zum Besitz eines Handys reichte. „Ist es mir erlaubt, mit Anderen zu schreiben?“ War die vorherige Frage schon schlimm, so zerbrach diese Jeremy schier das Herz. Wieso sollte Jean das nicht dürfen? Wieso sollte es ihm jemand verbieten? „War es in Evermore verboten?“, fragte er vorsichtig und wurde mit einem Nicken belohnt, das durch seine Neutralität und Ausdruckslosigkeit viel von dem Leid offenbarte, was dahintersteckte. „Bei uns hat jeder die Freiheit zu tun, was er möchte und das Chatten mit einem Handy oder die eigene Meinung zu äußern gehören ganz klar dazu. Grenzen sehen wir nur in harten Drogen, Straftaten und diskriminierendem oder rassistischem Verhalten.“ Jean ließ sich seine Worte einige Augenblicke durch den Kopf gehen und wagte schließlich erneut den Augenkontakt. „Danke.“ Es tat Jeremy beinahe schon körperlich weh, dass ihm für so etwas Selbstverständliches gedankt wurde. Ebenso wie es ihn schmerzte, dass Jeans Tonfall sich wie Tag und Nacht von dem unterschied, den er Renee gegenüber anschlug. Vor ihr hatte er keine Angst, vor ihm anscheinend schon. „Nicht dafür“, wiegelte er mit zugeschnürter Kehle ab und lächelte gezwungen. Jean blinzelte und schluckte dann. Kurz huschte sein Blick zu seinem Handy und Renee nickte in Jeremys Augenwinkel. „Möchtest du zurück in die Mall, Jean?“, fragte er, alleine um sie von dem schlimmen Thema abzulenken, und erhielt ein Kopfschütteln. „Der kleine Laden…“ An sich machte der Satz keinen Sinn und Jeremy erkannte verspätet, dass er eigentlich eine Bitte war. „Klar. Gerne.“ „Kauf dir mal etwas nicht Schwarzes, das wird dir gut stehen“, mischte sich Renee ein und zog ihrer beider Aufmerksamkeit auf sich. Jean sagte nichts, nur Jeremy grinste. „Wird gemacht, Chefin!“, stimmte er dem zu und sie streckte ihm die Zunge heraus. „Ich erwarte ein Foto, Jean“, mahnte sie und eben jener gab einen unbestimmten Laut der Zustimmung von sich. Jeremy selbst erhob sich mit einem Ächzen und klopfte sich den Staub der Tiefgarage von seinen Shorts. Er ließ sich Zeit damit, bis Jean sich von Renee verabschiedet hatte und drehte sich dann um. Ruhig sah er Jean in die Augen und streckte seinem Backliner die Hand entgegen um ihn hochzuziehen. Sie hatten sich schon einmal in einer ähnlichen Position befunden. Sie waren auf die Ravens getroffen und Jeremy hatte es tatsächlich geschafft, sich gegen Jean durchzusetzen, mit dem Ergebnis, dass sie beide zu Boden gestürzt waren. Jeremy hatte sich zuerst aufgerappelt und hatte gesehen, dass Jean anscheinend noch zu benommen war, um selbst wieder hochzukommen. Er hatte ihm die Hand gereicht, doch Jean hatte sie mit einem verächtlichen Blick weggeschlagen, nur um sich umständlich und offensichtlich unter Schmerzen selbst wieder aufzurichten. Jetzt war es anders. Jean maß seine Hand, als könne sie ihm einen Aufschluss über Jeremys Motivation geben. Lange zog sich der Augenblick zwischen ihnen beiden hin, bevor er tatsächlich einschlug und sich von Jeremy hochhelfen ließ. Mit Freuden sah Jeremy an ihm hoch und lächelte. „Ajeet wollte dir nichts tun. Er ist ein großer, lieber Bär, der jeden umarmt, der ihm zu nahe kommt. Er freut sich, dass du bei uns bist, deswegen hat er dich umarmt.“ Zweifelnd begegnete Jean seinem Blick bevor er ihm ein minimales Nicken schenkte. Schweigend drehte er sich zum Wagen und legte die Hand auf den Türgriff der Beifahrerseite, anscheinend darauf wartend, dass Jeremy aufschloss. „Ähm…“ Verlegen fuhr sich eben jener durch die Haare. „Das ist nicht mein Wagen…“ Langsam drehte sich Jean zu ihm um. Durchdringend wurde er gemustert und Jeremy lächelte schief, während er hinter sich auf seinen alten Wagen deutete und feststellte, dass die rot werdenden Ohren des Backliners durchaus ihren Charme hatten. „In der Rostlaube hier würde ich nicht durch die Gegend fahren“, scherzte er und erntete dafür den Jackpot des ganzen Tages: ein Schnauben, das kurz davor war, amüsiert zu klingen. Nicht schlecht für den fünften Tag. ~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 8: Die Menschwerdung ---------------------------- Jean beobachtete Knox bei seinem üblichen Schlafritus des sich Drehens, Kissen Knautschens und Laute von sich Gebens, während er auf seinem eigenen Bett saß und seinem Körper dabei lauschte wie dieser ihn anschrie, dass er auch endlich schlafen sollte. Hier, in diesem Bett war es für Jean undenkbar. Nicht in der Nähe von Knox, nicht in Hörreichweite des anderen Jungen, der mit Sicherheit durch seine Alpträume geweckt werden würde. Alpträume, die er nicht erklären wollte. Dass er schlafen musste, war ihm ebenso klar und so überwog die schiere Notwendigkeit des körperlichen Bedürfnisses seine Angst vor Repressalien. Die Frage, wo er sich hinlegen konnte, hatte ihm unfreiwilliger Weise Knox beantwortet, als er ihm den Keller gezeigt hatte. Dort gab es einen Abstellraum, der anscheinend wenig benutzt wurde. Nachts wäre er da vermutlich sicher und niemand würde ihn hören, wenn er, gefangen in seinen Träumen, schreien und um sich schlagen würde. Jean erhob sich mit wild klopfendem Herzen. Noch nie hatte er sich nachts von seinem Kapitän weggestohlen. Noch nie war er so rebellisch und ungehorsam gewesen, sich seiner Situation zu widersetzen. Entsprechend nervös war er auch, als er sein Handy und seinen eigenen Apartmentschlüssel aufnahm und lautlos in den Flur trat. Minutenlang lauschte er Knox‘ Geräuschen und öffnete dann die Tür, trat hinaus in den stillen Flur. Leise schloss er sie wieder und verharrte einen Moment. Als sich nichts regte, ging er in den Keller hinunter, dessen Kühle und Dunkelheit ihm unweigerlich vertraut waren. Hier gab es kein Licht, keine Sterne und keine Sonne. Hier war es wie in Evermore und Gewohnheit, so bitter und zynisch sie auch war, beruhigte seine flattrigen Nerven. Evermore nur ohne Riko. Jean fand den Raum nach einigem Suchen wieder und entdeckte einen Platz zwischen Kartons auf dem Boden, auf den er sich legen konnte. Der Boden würde kühl und hart sein, also nichts, was er nicht schon gewohnt war. Die Kartons wären eine gute Sichtbarriere zwischen ihm und Eindringlingen, die den Raum betreten würden. Langsam ließ sich Jean zu Boden sinken und lehnte seinen schmerzenden Rücken an die Kellerwand. Das Monstrum von einem Torwart hatte die heilende Verletzung auf seinem Rücken aufgeschlagen und er ahnte bereits jetzt, dass es nächste Woche damit ein Problem geben würde bei der ärztlichen Untersuchung. Jean schloss die Augen und lauschte der Stille des Kellers, während seine Gedanken unwillkürlich zu seinem neuen Kapitän zurückkehrten. Knox war ein Problem für ihn mit seiner Art, Renee ähnlich zu sein. Sein Vorhaben, den Anderen von sich stoßen und von sich fern zu halten, stand immer noch, doch so stringent Jean sich das auch vorgenommen hatte, so leicht durchbrach Knox mit seiner dauerhaften Sanftheit, seinen rücksichtsvollen Gesten und respektvollen Worten diesen Vorsatz. Als er vor der augenscheinlichen Gewalt des Torhüters geflohen war, war es Renee gewesen, die ihn durch die Panikattacke geleitete hatte, in die er unweigerlich geschlittert war, nachdem er seinen sicheren Platz im Parkhaus gefunden hatte. Er hatte erneut seine Hand nach ihr ausgestreckt und sie um Hilfe gebeten. Sie hatte ihn erhört, wie sie ihn immer erhörte. Ein Akt der Unbegreiflichkeit, auch jetzt noch. Vielleicht war das der Grund gewesen, warum Knox ein so leichtes Spiel mit seinen Emotionen gehabt hatte. Mit Angst, Vorsicht, Bestürzung und sogar Hoffnung. Es war Jean schon bei Betreten der Mall schwer gefallen, im Kampf gegen all die erlebten Eindrücke abweisend zu bleiben und den anderen Jungen samt seinen nie enden wollenden Erklärungen auszuschließen. Ihm den Mund zu verbieten, das traute sich Jean nicht, so hatte er die Erklärungen des Kapitäns zu den Geschäften und seiner Heimat auf sich niederprasseln lassen. Ja, er hatte sogar Fragen dazu gestellt. Unsinnige Fragen im Nachhinein, denn er würde niemals in den Genuss dieser Weite von Knox‘ Elternhaus kommen, egal, wie wundervoll eine solche Umgebung in seiner Vorstellung aussah. Renee zusammen mit Knox war brandgefährlich, ließ sie ihn doch vergessen, welche Grenzen er gegenüber Knox zu wahren hatte. Wenn sie bei ihm war, und war es auch nur per Videochat, dann konnte er den Kapitän nicht abweisen, im Gegenteil. Sie öffnete ihn für alles, was ihm nicht offen stehen sollte. Knox wusste jetzt, was er gerne frühstückte. Das an sich wäre eine Kleinigkeit, wenn sich der Kapitän nicht dazu bereit erklärt hätte, ihm eben jenes zu erlauben. So eindringlich und vehement Jean in den letzten Jahren für seine Hoffnung gekämpft hatte, die ihn Tag um Tag in Evermore hatte überleben lassen, so sehr führte er jetzt nun Krieg gegen eben jenen Teil seines inneren Selbst, der ihm einflüstern wollte, dass es doch anders war, als er gedacht hatte. Dass es anders sein könnte als auf der Edgar Allan. Jean konnte und durfte das nicht zulassen. Sein jahrelang in ihn hineinerzogener Zwang, einen Partner zu haben, nicht alleine zu sein und deswegen Knox nicht zu vergraulen, schrie allerdings bei dem Gedanken entsetzt auf und der Kampf zwischen beiden Seiten raubte ihm beinahe den Schlaf, bis er sich bewusst wurde, dass sein Partner ihn nicht mögen musste. Weder Josten noch Riko hatten auch nur ein positives Gefühl ihm gegenüber gehegt. Wenn er diesen Status bei Knox ebenfalls erreichen konnte ohne dass dieser ihn alleine ließ… Langsam legte sich Jean auf den Steinboden und stülpte sich die Kapuze von Renees geschenktem Pullover über den Kopf. Das Regenbogenmädchen, so wie Knox sie genannt hatte. Jean probierte ihn in Gedanken aus und musste sich eingestehen, dass er ihm gefiel. Ebenso wie ihr Pullover, der ihm Wärme spendete, nicht nur körperlich. Er verstaute seinen Arm unter seiner Wange, was dem weichen Kissen nicht wirklich das Wasser reichen konnte, aber vollkommen ausreichte. Seinen Handywecker hatte er auf eine so frühe Uhrzeit gestellt, dass er vor Knox aufwachen und zurückkehren würde. Jean zog die Beine an seinen Körper und schloss die Augen. Er wusste, dass die Alpträume kommen würden. Zuverlässig wie er war, spiegelte sein Geist ihm die schrecklichen Dinge, die Riko ihm angetan hatte und hatte antun lassen, damit er bloß nicht vergaß, wer er war, wohin er gehörte und dass sein Leben keinen Wert hatte außer dem, ein minderes, defektes Werkzeug zu sein. ~~**~~ Zu sagen, dass Jeremy nervös wäre, wäre eine himmelschreiende Untertreibung gewesen. Er hatte auch allen Grund dazu, befand er, schließlich gab es zwei Schlachten zu schlagen, deren Ausgänge er noch nicht vorhersehen konnte. Zum Einen war da das erneute Zusammentreffen zwischen Jean und Ajeet. Zum Anderen das erste Training mit dem ehemaligen Backliner der Ravens, dessen Fähigkeiten er bisher nur als beeindruckend und furchteinflößend kennengelernt hatte. Nach ihrem Gespräch im Parkhaus hatte sich Jean wieder in sein nachdenkliches Schweigen zurückgezogen, was Jeremy mit Nichtigkeiten über Kalifornien und Los Angeles und den Menschen, die hier lebten, gefüllt hatte. Sie hatten es in das kleine Sportgeschäft geschafft, in dem Jean tatsächlich auch einiges an Trainingssachen gefunden hatte, inklusive einer Sporttasche, auf die er einen längeren Blick geworfen hatte. Jeremy war das nicht entgangen und er hatte sie zufällig mit auf den Tresen gestellt, als Jean mit seinen Sportsachen aus der Umkleide gekommen war. Mit seinem charmantesten Lächeln hatte er den aufkommenden Widerstand besiegt, den er auf dem ernsten Gesicht gesehen hatte. Dass die Tasche die gleiche Farbe hatte wie der Kapuzenpullover, den Jean getragen hatte, als er hier angekommen war, war ihm nicht entgangen. Am heutigen Morgen hatte er ihm dann das Frühstück gemacht, was Renee Walker ihm dankenswerter Weise verraten hatte und war mit erneut roten Ohren des etwas ausgeschlafeneren Jungen belohnt worden, dessen Augenringe nicht mehr ganz so dunkel wirkten. Jean hatte das gesamte Rührei mit den zwei Scheiben Toast gegessen und Jeremy war definitiv nicht in der Lage gewesen, sein zufriedenes Lächeln zu unterdrücken. Erst nach ihrem Frühstück hatte er Ajeet noch einmal aufgebracht und dieses Mal war es kühle Neutralität gewesen, die ihm entgegengeschlagen war. Und nun stand er hier, fertig angezogen im Spielerraum des Stadions und band sich seine überkinnlangen Haare zu einem Halbzopf, während er darauf wartete, dass Jean aus der Kabine kam. Er hatte dem anderen Jungen Raum und Zeit gegeben, sich an die Umkleide ihrer Mannschaft zu gewöhnen und sich in aller Ruhe und Einsamkeit umzuziehen. Gleichwohl bedeutete das aber auch, dass er seine Nervosität irgendwie in Schach halten musste, was wiederum dazu führte, dass er die Treppen wieder und wieder rauf und runter lief, sich kurz dehnte, wieder lief, dehnte…solange, bis Jean aus dem Gang zu den Umkleiden trat und ihn stirnrunzelnd dabei musterte. Jeremy hielt inne und kam nicht umhin, den ungewohnten Anblick einen Moment länger zu betrachten als es angemessen wäre. Jean in anderen Farben als in rot und schwarz zu sehen war mehr als ungewohnt und wirkte im ersten Moment verstörend fremd. Die Statur des Backliners hingegen war Jeremy wohl vertraut. Die ausgewogene Verteilung der Muskeln auf die Körperproportionen machte ihn zu einem furchteinflößenden Spieler und einem attraktiven Jungen gleichermaßen…hatten es schon immer gemacht. Er trug die klassisch engen, kurzen Sporthosen, darüber Shorts. Das langärmelige Shirt war ebenfalls in dunkelblau gehalten und harmonierte mit den schwarzen Schweißbändern um den Handgelenken. Seine Haare hatte Jean ebenfalls mit einem Band so zurückgebunden, dass man die fürchterlich kahlen Stellen auf seiner Kopfhaut nicht sah. Sie waren eine halbe Stunde eher hier als Ajeet und ihr Coach, damit Jean sich in Ruhe an das Stadion gewöhnen konnte. „Wir machen heute ein leichtes Training, nicht viel mehr als Kondition, Geschwindigkeit und Präzision, da der Coach deine Schutzausrüstung vermutlich noch nicht dabei haben wird. Ab nächster Woche werden wir dann mit den anderen Trojans in das richtige Training einsteigen.“ Seine Worte wurden mit einem kritischen Stirnrunzeln bedacht. „Ich bin in der Lage, auch ohne Schutzausrüstung zu spielen“, erwiderte Jean neutral und Jeremy hob die Augenbraue. „Ist das in Evermore so praktiziert worden?“, fragte er entsprechend neutral nach und erhielt ein Nicken. Im Nachhinein verwunderte ihn das nicht, gestand Jeremy sich ein und er hätte sich die Frage auch sparen können. Dennoch musste er ganz klar die Grenzen der Trojans abstecken, nicht, dass Jean auf falsche Gedanken kam. „An der USC halten wir das anders. Protektion hat für uns oberste Priorität, zumindest, was das scharfe Training angeht“, stellte er ihre Regeln noch einmal klar heraus, mehr Kapitän als Spieler in diesem Moment. Jeremy sah, wie Jean vermutlich eher unbewusst darauf reagierte und seine Schultern sich anspannten. „Verstanden.“ Jeremy lächelte versöhnlich. „Komm, lass uns ein paar leichte Runden laufen und schonmal mit den Dehnübungen beginnen, bevor Ajeet und der Coach eintreffen.“ Jean ließ ihm den Vortritt, während er die Laufbahn betrat und darauf wartete, dass der andere Junge die Tür schloss. Erst, als dieser zu ihm aufgeholt hatte, lief er los und schlug ein Tempo an, das mühelos von Jean gehalten werden konnte. Es war langsamer, als er sonst laufen würde, aber eingedenk von Jeans gesundheitlich noch ungeklärtem Status und den Verletzungen, die noch nicht hundertprozentig verheilt waren, war er lieber vorsichtiger. Nach vier Runden, die sie gelaufen waren und die Jean trotz der Temperaturen und trotz der Pause noch nicht einmal ins Schwitzen gebracht hatten, war es tatsächlich der Ex-Raven, der das Wort an ihn richtete. „Ist dies dein normales Tempo?“, fragte er unverschämterweise so gar nicht außer Atem und Jeremy zuckte mit den Schultern. „Nein, eigentlich bin ich schneller. Ich dachte nur, dass wir es langsam angehen lassen, weil du noch nicht wieder ganz fit bist.“ Jean schnaubte. „Wie viele Runden insgesamt?“ „Sagen wir noch sechs?“, gab Jeremy zurück und Jean nickte, bevor er ein Tempo anschlug, das sich diametral von ihrem bisherigen unterschied und Jeremy sich fragen ließ, ob sie schon beim Sprint oder immer noch beim Aufwärmen waren. Er versuchte das Tempo zu halten, scheiterte aber nach weiteren drei Runden grandios an seiner eigenen Ausdauer und Kraft des Anderen, der ihm wortwörtlich davon rann und ihn weit hinter sich ließ. Langsam kam er wieder in sein eigenes Tempo und verfluchte dabei seine Semesterferien, in denen er nicht annähernd hart genug hierfür trainiert hatte. Um mithalten zu können mit dem Jungen, der anscheinend entschlossen genug war, einen Marathon gewinnen zu wollen. Kevin hatte ihm ansatzweise etwas über die Ravendrills erzählt und Jeremy war erstaunt bis entsetzt gewesen über die Härte und die absolute Disziplin, die sie forderten. Eigentlich hätte es ihn nicht wundern sollen, dass Jean eine andere Gangart gewohnt war und sich, wie es schien, auch weiterhin zu Höchstleistungen trieb. Als Jeremy nach seiner letzten Runde zu ihm kam, war Jean bereits dabei, sich zu dehnen und bedachte ihn lediglich mit einem kurzen Blick. „Sag mir nicht, dass das dein normales Tempo ist“, schnaufte er und ließ sich neben Jean auf den Boden fallen. Beantwortet wurde ihm die Frage nicht, so machte er sich daran, seine Muskeln ebenso zu lockern und aufzuwärmen wie Jean auch. Zumindest solange, bis Ajeet ankam und mit einem fröhlichen Grinsen ins Stadion trat. Betont sacht schloss er die Plexiglastür hinter sich, noch viel vorsichtiger betrat er das Spielfeld. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte Jeremy in diesem Moment nicht übel Lust gehabt, „Der Boden ist Lava!“ zu schreien, so sehr, wie Ajeet sich hier auf rohen Eiern bewegte. Vielleicht hätte das das angespannte Schweigen etwas aufgelockert, sein Glück wollte Jeremy allerdings nicht herausfordern, also schwieg er und winkte Ajeet zu, der sich bereits in rot-goldene Trojanschale geworfen hatte. Ajeet winkte schüchtern zurück, bevor sich sein Blick auf Jean richtete, der ihn pointiert ignorierte, ihn aber trotzdem aus dem Augenwinkel heraus beobachtete. „Hey“, grüßte er und ließ sich neben sie nieder, den Blick immer noch auf Jean gerichtet. „Ähm…Jean…hey…ich wollte nur sagen, dass es mir leid tut. Ich habe nicht nachgedacht, als ich dich umarmt habe. Wenn ich dir damit Angst gemacht habe oder dir wehgetan haben sollte oder du dich unwohl gefühlt haben solltest, dann tut es mir leid. Ich werde dich natürlich nicht anfassen, wenn du…“ „Ich benötige weder dein Mitleid noch deine Entschuldigungen“, schnitt Jean ihm das Wort ab und Jeremy runzelte die Stirn ob der Schroffheit, die Ajeet unverdienter Weiser entgegendrang. „Jean…“, versuchte er die abweisende Aufmerksamkeit von Ajeet wegzulenken, dessen Wangen sich unter den unfreundlichen Worten feuerrot gefärbt hatten. Jean sah ihn an und wartete, dass er etwas sagte. Jeremy hob die Augenbrauen. „Er meint es nur gut. Er möchte dir nichts Böses.“ Jean erwiderte nichts, sondern wartete pointiert anscheinend auf etwas, das er ihm noch sagen wollte. Als Jeremy sich nicht weiter dazu äußerte, zuckte er mit den Schultern und widmete sich wieder seinen Dehnungen. „Hey Ajeet, wie wäre es, wenn du schon ein paar Runden läufst und danach zu uns stößt?“ Erleichtert nickte sein Torhüter und erhob sich mit einem letzten, unsicheren Blick zu Jean. Vergeblich warteten sie auf eine Reaktion. „Was war das denn?“, fragte Jeremy irritiert, als sich Ajeet auf der Laufbahn befand, weit außerhalb ihrer Hörreichweite. „Er hat es wirklich nicht böse gemeint.“ Zunächst war es, als hätte Jean nicht vor, ihm zu antworten, dann jedoch richteten sich die kühlen, grauen Augen in all ihrer abweisenden Pracht auf ihn. „Ist es ein Befehl, dass ich nett zu ihm sein soll… Captain?“ Jeremy zuckte alleine schon ob des Tons zusammen, den Jean anschlug. „Natürlich nicht, ich werde dir nicht befehlen, nett zu ihm zu sein“, begann er zweifelnd und wurde durch das Schnauben des Backliners unterbrochen. „Ich bin nicht hier um nett zu sein.“ Verächtlicher konnte ein Wort kaum sein und Jeremy konnte sich nicht wirklich einen Reim darauf machen, woher diese plötzliche Abneigung kam. Weder gegen Ajeet noch gegen seine Worte. „Jean…“ „Ich möchte darum bitten, trainieren zu dürfen.“ Jeder Versuch Jeremys, etwas Anderes als Ablehnung aus Jean herauszulocken, schlug fehl. Wieder und wieder wich ihm der größere Junge aus und behandelte ihn, als hätten sie nicht die letzten paar Tage zusammen verbracht. Als hätten sie gestern nicht zusammen auf dem Parkhausboden gesessen und mit Renee telefoniert. Kühl, neutral, abweisend, so gestaltete sich das Training, auch als Coach Rhemann kam und das Ganze beaufsichtigte. Jean führte die ihm gestellten Drills und Aufgaben ohne Widerspruch oder Zögern mit beinahe perfekter Präzision aus. Jede einzelne der Bewegungen war genauestens kalkuliert, jeder Ball, den er spielte, genau platziert und ohne Fehlschlag. Ajeet und er schlugen sich da weitaus schlechter und mehr als einmal brummte Rhemann missbilligend ob ihrer Faulheit während der Semesterferien. Dass ihnen beiden das Strafrunden einbrachte, während Jean schon duschen gehen durfte, wunderte Jeremy nun gar nicht und schicksalsergeben machte er sich daran seine schmerzenden Beine noch ein Stück länger zu bewegen. „Cap?“, fragte sein Torwart außer Atem, als sie schließlich anhielten und Jeremy drehte sich ihm mit einem Seufzen zu. „Er ist wirklich sauer auf mich, oder?“ Ratlos zuckte Jeremy mit den Schultern. „Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was ihn umtreibt. Ich habe ihn gefragt, aber er spricht nicht darüber.“ „Habe ich etwas falsch gemacht, Jer?“ Es brauchte etwas, bis Jeremy eine Antwort fand, die beiden Seiten der Situation gerecht wurde. „Vielleicht hättest du ihn vorher fragen sollen, ob er umarmt werden will. Allerdings tut es dir leid. Du hast gesagt, dass es dir leid tut. Ich bin mir sicher, dass er noch etwas Zeit braucht, um sich mit der Entschuldigung zurecht zu finden. Schließlich ist das hier alles neu für ihn.“ Ajeet war von seiner Antwort nicht überzeugt und wenn Jeremy es sich eingestand, er selbst auch nicht. „Ich glaube, dass er bei den Ravens keine leichte Zeit hatte und dass er sich nun erst einmal bei uns eingewöhnen muss“, hielt er sich so nahe und so neutral an der Wahrheit wie möglich. „Ich denke, mit der Zeit wird er sich schon öffnen.“ Ajeet seufzte. „Weißt du, Jer, er reagiert wie meine Oma, wenn er umarmt wird.“ Jeremy nickte. Und hatte sein Torwart damit nicht den Nagel auf den Kopf getroffen? Seine Großmutter war vor der Gewalt ihres Mannes aus Indien nach Amerika geflohen. Sie war eine tolle Frau und sie alle liebten sie und sie liebte die Mannschaft ihres Enkels, doch es war klar, dass jeder der Trojans eine gewisse Art von Abstand zu ihr zu halten hatte. Es war ein Überbleibsel der Gewalt, unter der sie jahrelang gelitten hatte. „Ich weiß, Ajeet, ich weiß…“ ~~**~~ Es war Montag und Jean hatte das Gefühl, auf dem Zahnfleisch zu gehen. Vor zwei Tagen hatte er den Entschluss gefasst, sich die Freundlichkeit der beiden Trojans mit Kälte, Abneigung und Schweigen vom Hals zu halten, auch wenn die Entschuldigung des Hünen ihn in Erstaunen wie auch in Schrecken versetzt hatte. Noch nie hatte sich jemand des Teams, für das er spielte, bei ihm entschuldigt. Dabei hatte er unterschätzt wie stur zumindest Knox war, der ihn Samstag und den ganzen Sonntag mit eben jener Freundlichkeit überschüttet hatte. Jeder verständnisvolle Blick, jedes Lächeln zersetzte seinen Vorsatz wie Säure. Jean konnte sich nicht daran erinnern, dass es ihm in Evermore jemals so schwer gefallen war, auf Fragen mit einsilbigen Antworten zu reagieren. Niemals hatte er dort Probleme gehabt, die Worte, die sich an die Oberfläche seiner Selbstbeherrschung drängten, bei sich zu behalten. Hier waren es der Himmel, die Sonne und die Menschen um ihn herum mit ihrer elendigen Freundlichkeit, die ihn aus dem Konzept brachten. Wieso wurde er gefragt, was er gerne tun würde? Wieso wurde er nach seiner Meinung gefragt? Wieso wurde sich um ihn gesorgt? Was von all dem das weitaus Schlimmste war. Knox sorgte sich um ihn, das sah er aus dem Augenwinkel heraus, wenn sein Kapitän ihn in unbeobachteten Momenten analysierend maß. Das brachte Jean derart aus dem Konzept, dass er das Gefühl, was in ihm schwelte, noch nicht einmal in Worte fassen konnte. Wieso tat der blonde Junge das? Er gehörte doch noch nicht einmal seit einer Woche zu seinem Team? Er war noch nicht einmal ein richtiges Mitglied. Er war…Besitz. Wie gefährlich seine Anwesenheit in Knox’ Nähe war, spürte Jean jetzt schon am eigenen Leib. Er zögerte, sich als solchen zu bezeichnen. Nach einer Woche und nach zwei Versicherungen eines Jungen, den er noch nicht einmal richtig kannte. Seine eisernen Wälle wurden dünn, fransten aus nur wegen…was? Versprechungen, die gebrochen werden würden? Worten, die wie Schall und Rauch waren, ohne Bedeutung? Er brauchte dringend einen geregelten Tagesablauf, der nur aus Training und Studium bestand, bei dem er sich nur darauf konzentrieren und seine Grenzen überschreiten konnte. Jean hasste die kleine Stimme in ihm, die ihm mitteilte, dass er das erschöpfende Training und die sechszehn Stundentage, die er aus Evermore gewohnt war, hier so nicht bekommen würde. Das war anscheinend der Preis, den er dafür zahlte, dass ihn bisher niemand verletzte oder sich an ihm bediente… ein lasches Training. Eine Universität, die den Studenten Zeit für Freizeit ließ. Freizeit. Mit Verwirrung dachte er auf diesem Wort herum. Freizeit gab es für ihn nicht. Er lebte für das Spiel, er lebte für seine Aufgabe, für die er herangezüchtet worden war. Geformt von seinem Trainer und seinem verstorbenen Kapitän. Alleine ein Buch zu lesen war ihm bis vor kurzem noch undenkbar erschienen. Die Krankenschwester hatte ihn eines Besseren belehrt, doch am gestrigen Tag hatte er Renees Buch in der Hand gehabt hatte ohne wirklich darin zu lesen. Das durfte nicht sein. An den Strand zu gehen, wie es Knox vorgeschlagen hatte. Das war…undenkbar. Nicht möglich. Nicht für ihn. Wenn er sich der Illusion hingab, dass alles, was er bisher erlernen musste, was ihm bisher eingetrichtert worden war, falsch war, dann zerbrach das, was der Herr und Riko aus den Überresten seines Seins, das sie gebrochen hatten, geformt hatten, in tausend Stücke, noch bevor er seinem Leben selbst ein Ende setzen konnte. Oder hatte er eigentlich nur Angst vor dem Moment, in dem er vielleicht erkennen würde, dass er weiterleben wollte, und dann enttäuscht wurde von eben jenem Leben? Schlimmer noch, es nicht weiterleben durfte, weil er seine Nützlichkeit für die Moriyamas erreicht hatte? Jean wusste es nicht und er war froh, sich gerade jetzt auf andere Dinge konzentrieren zu können. Seine Immatrikulation zum Beispiel, die seinen Transfer von der Edgar Allan zur USC vollständig machen würde. Wie sehr hatte sich Jean dafür gehasst, dass er die viel zu ruhige, viel zu neutrale Frage seines Kapitäns, ob er lieber alleine zum Sekretariat gehen wollte, mit nein beantworten musste. Wie sehr hasste er sich für seine Abhängigkeit, die ihm gleichzeitig die Hölle bereitete, weil er sich nicht lösen konnte, sich aber lösen musste, weil Knox‘ Anwesenheit schädlich für ihn war. Er hasste sich für das Gefühl der Ruhe, das ihm Knox vermittelte, als er neben ihm stand, während Coach Rhemann und die Frau vom Studiensekretariat sich um den Formalismus kümmerten, der ihn zu einem Sportstipendiaten der USC machen würde. Schweigend sah Jean dabei zu, wie sein Coach das Formular für ihn ausfüllte und ihm die einzelnen Felder erklärte. Er fragte nicht danach, woher der Mann seine Sozialversicherungsnummer hatte, die noch nicht einmal er selbst kannte. Er fragte auch nicht danach, was es für eine Kontonummer war, die in dem Formular eingetragen wurde. Wenn Jean raten müsste, dann würde er darauf tippen, dass sein Stipendium durch Rhemann wieder eingezogen würde – so war es an der Edgar Allan gewesen. Besitz hatte kein Eigentum. Er brauchte kein Geld. Vicky, zumindest stand der Name auf ihrem Schild, kontrollierte sämtliche Unterlagen, die anscheinend mittlerweile durch die Edgar Allan bereitgestellt worden waren. „Bei Ihrem ersten Nebenfach gibt es allerdings ein Problem, Mr. Moreau. Dieses wird hier nicht angeboten. Sie müssten sich entsprechend ein anderes anstelle dessen aussuchen.“ Sie reichte ihm eines der Blätter, über das sie gebrütet hatte und er starrte ohne wirkliches Verstehen darauf. Verwirrt sah er zu Knox, dann zu seinem Trainer. In Evermore hatte der Herr über seine Fächer bestimmt, doch Rhemann machte anscheinend keinerlei Anstalten, diese Aufgabe für ihn zu übernehmen. Jean blinzelte. „Was wäre denn angebracht?“, fragte er zögernd in den Raum, als sich das Schweigen fortsetzte und richtete sich nun explizit an seinen Trainer, der ihn mit hochgezogenen Augenbrauen maß. „Was möchtest du denn machen, Junge?“, hielt er dagegen und Jean zuckte hilflos mit den Schultern. Wie sollte er eine Wahl treffen, wenn er kein Recht auf eigene Interessen hatte? „Wie wäre es, wenn ich Ihnen eine Kurzbeschreibung der Studienfächer gebe und Sie danach entscheiden, Mr. Moreau?“, schlug die Frau vor und nach der Zustimmung seines Trainers nickte auch Jean. Nicht, dass er danach viel schlauer war als vorher. Oder dass es eine Rolle spielen würde…eigentlich. Zwei Monate, musste er sich selbst an das Versprechen erinnern, dass er sich gegeben hatte. Nach zwei Monaten wäre die Wahl des Nebenfaches vollkommen egal. „Du liest doch gerne, oder?“, brachte Knox seine Gedanken zum Erliegen und Jean nickte. Vielleicht… er wusste es nicht. In Evermore war ihm bis auf fachlich zum Studium gehörende Literatur alles verboten gewesen. „Wie wäre es mit Literaturgeschichte?“ Grundsätzlich hatte Jean nichts dagegen. Die paar Augenblicke, die er mit dem Lesen von Renees Buch verbracht hatte, gefielen ihm und bereits jetzt hatte er Lust auf mehr. Vielleicht sollte er die Geduld seines Trainers und seines Kapitäns also nicht weiter auf die Probe stellen und einwilligen. Jean nickte. „Ja“, stimmte er schlicht zu. Vicky nickte und widmete sich ihrem PC. Fasziniert beobachtete Jean den Drucker, der nun die Blätter ausspuckte, die ihn als einen Studenten der USC ausweisen würden, mit Immatrikulationsnummer, Studentenausweis und Bibliotheksausweis. Er bestätigte den Erhalt mit einer Unterschrift, die er sich angewöhnt hatte, selbst mit gebrochenen Fingern schreiben zu können und hielt schlussendlich die Dinge in der Hand, die für einen Menschen vollkommene Normalität bedeuten würden. Jean sah so etwas zum ersten Mal. „Hast du noch Fragen?“ Stumm schüttelte er den Kopf. Er würde sicherlich überall hingeführt werden, wo er hin musste, sodass er sich die Gebäude und Wege nicht merken musste. Darüber hinaus würde er das Wohnhaus der Trojans nicht oder nur auf Anweisung seines Kapitäns verlassen. Zweifelnd sah er in das breite Lächeln der Frau. „Gut, dann heiße ich dich im Namen der USC an unserer wundervollen, chaotischen Universität willkommen und hoffe, dass du bei uns eine tolle Zeit verbringst!“ Jean starrte sie wortlos an. Wieso wünschte man so etwas? Eine tolle Zeit an der Universität verbringen? Noch nie hatte er derartige Worte gehört und sie schienen ihm wie Hohn angesichts der Atmosphäre aus Angst und Unterdrückung, die an der Edgar Allan geherrscht hatten. Einen Kult, hatte Josten die Zustände in Evermore genannt und er hatte Recht gehabt. Im Nachhinein. „Danke, Vicky!“, sagte Rhemann und riss Jean an seinen dunklen Erinnerungen. Es galt, den Schein zu wahren. Hastig nickte er und folgte dem Hünen von einem Mann nach draußen, eingeschlossen zwischen seinem Trainer und Knox. Dabei war es nicht nötig, ihn an der Flucht zu hindern, auch hier draußen nicht. Er wusste, wie er sich zu benehmen hatte. Erst, als sie im Schatten von ein paar mächtigen Bäumen standen, reichte ihm Rhemann einen weiteren, großen Umschlag. „Hier, das ist für dich. Ich habe ein Konto für dich eröffnet. Darin befinden sich deine Karten und Pinnummern, deine Sozialversicherungskarte und dein Pass, also alles, was uns die Edgar Allan hat zukommen lassen.“ Verständnislos starrte Jean den Umschlag an. So ganz verstand er die Worte nicht, die Rhemann ihm gesagt hatte. Seinen Pass hatte er nicht mehr besessen, seitdem er das erste Mal nach Amerika gekommen war. Nur wenn sie zu Auswärtsspielen geflogen waren, hatte Riko ihm diesen ausgehändigt und ihm gleich wieder abgenommen. Wieso sollte er ihn nun selbst aufbewahren, ebenso wie seine Sozialversicherungskarte? Rhemann danach zu fragen, schloss er aus, so fordernd, wie sich die Hand des Trainers ausstreckte und ihm riet, den Umschlag bloß anzunehmen. Vorsichtig griff Jean danach und es war tatsächlich kein Trick. Wohlwollend brummte Rhemann und wandte sich an Knox. „Ich erwarte bis Mittwoch eine bessere Kondition als die Krüppelleistung von Samstag, Knox. Klar soweit?“ Sein Kapitän rollte leidend mit den Augen. „Ja, Coach Sir, wie Sie wünschen, Coach Sir!“, stöhnte er gepeinigt auf und Jean war erneut erstaunt über die mangelnde Ehrfurcht, die er in der Stimme vermisste. Wie konnte sich Rhemann das so gefallen lassen? Doch wieder geschah nichts. Der Mann brummte, ja. Das war es aber. „Nimm dir kein Beispiel an ihm, Moreau. Wenn deine exzellente Kondition sich dieser Schnecke angleicht, dann lasse ich dich ebenfalls Extrarunden laufen, klar?“ „Wie Sie wünschen, Sir“, presste Jean hervor, unsicher, was die richtige Antwort war, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Rhemann bereits lachte und sich wegdrehte, bevor ihm anscheinend noch etwas einfiel. „Ach und Moreau?“ „Ja, Sir?“ „Wir sind nicht in Evermore und Moriyama kann sich seinen „Sir“ in seinen Allerwertesten schieben. Ich bin der Coach oder Coach Rhemann. Verstanden?“ Für den großen Teil einer Minute war Jean damit beschäftigt, seinen neuen Trainer ob seiner Wortwahl fassungslos anzustarren und sich zu fragen, ob jemals jemand in einer derartig respektlosen Art über den Herrn gesprochen hatte. Dann besann er sich einer Antwort und nickte hastig. „Ja…Coach“, presste er hervor. „Gut. Und nun, ab in die Sonne mit euch Kinderchen. Reicht, wenn einer von uns Dreien seine Zeit im Büro verbringt.“ Sprach’s und ließ sie auf dem Campus stehen. Jean starrte auf den Umschlag in seinen krummen Händen, die soviel Sonne ausgesetzt waren wie in den gesamten neun Jahren davor nicht. Erstaunt sah Jean auf sie nieder, bevor er einen Blick in den blauen Himmel über sie warf, der sich ihm so verlockend präsentierte. Schau dir den Himmel nochmal genau an, denn du wirst ihn erst wiedersehen, wenn du Evermore verlassen wirst. Das hatte er zu Josten gesagt, als er den Jungen nach Evermore geholt hatte. Sie beide hatten den Himmel erst dann wieder gesehen, als Josten zum Flughafen gebracht worden war. Josten hatte es durchgestanden und auch ihm war es seit nunmehr zwei Monaten erlaubt, jeden Tag einen Blick hoch in den Orbit zu werfen und sich in den Wolken, der Sonne, den Sternen und dem Mond zu verirren, die so wunderschön waren, dass es ihn schmerzte. Gerade jetzt, da er so etwas wie ein normales Leben in den Händen hielt und so tun konnte, als wäre er ein normaler Student. Mit einem Pass, einer Sozialversicherungskarte, einem Konto. „Wie läuft es mit den Überweisungen?“, fragte Jean und warf einen Blick in Knox‘ Gesicht, der sich gerade die halblangen Haarsträhnen, welche sich aus dem Zopf gelöst hatten, aus den Augen pustete. Sein rotes T-Shirt hatte seinen Namen in goldenem Schriftzug auf dem Rücken, als würde seine Umgebung nicht schon längst wissen, wer er war. „Überweisungen?“ „An Coach Rhemann.“ Knox runzelte die Stirn, dann lächelte er versöhnlich. „Jean, du brauchst ihm das nicht zurückzuzahlen.“ „Ich meinte das Stipendium.“ Verwirrung kroch über das sommersprossige, braungebrannte Gesicht. „Wie meinst du das?“ „Coach Rhemann wird das Geld doch haben wollen“, stellte Jean nun seinerseits irritiert fest und traf damit auf immer größer werdendes Unverständnis. „Wieso sollte er?“ Jean fragte sich, ob der andere Junge sich absichtlich dumm stellte oder ob es die Trojans anders handhabten. Vielleicht hätte er Rhemann direkt fragen sollen? „Weil es ihm gehört“, stellte er klar und die blonden Augenbrauen hoben sich. „Es gehört dir. Das ist dein Stipendium“, hielt Knox dagegen und Jean runzelte sturmgeweiht die Stirn. Wie konnte ihm etwas gehören? Das… war unvorstellbar. „Nein“, widersprach er. „Das kann nicht sein.“ „Doch, Jean. Wieso sollte Coach…“ Mitten im Satz stockte Knox und Jean befand sich beinahe augenblicklich im Fokus dieser verzehrenden Aufmerksamkeit, der ihm nichts Gutes verhieß. „Nein, Jean.“ Die bestimmte Entschlossenheit, mit der sein Kapitän ihm sagte, dass er falsch gelegen hatte, verursachte Jean einen Schauer des Unwohlseins, der über seinen Rücken kroch. Es fehlte die Sanftheit in dieser Verneinung, es fehlte die Sonne in der Stimme, die in der letzten Woche so oft dagewesen war. Es war, als hätte er etwas falsch gemacht, von dem er nicht wusste, was es war. Und das war lebensgefährlich. Jean schluckte und wollte sich entschuldigen, als Knox den Kopf schüttelte. „Unser Coach wird dir niemals dein Stipendium nehmen. Das gehört ganz alleine dir. Das Geld, was du von der Universität erhältst, steht dir zur freien Verfügung. Das Konto, was er dir eingerichtet hat, gehört nur dir, niemand anderes hat darauf Zugriff. Du entscheidest, was du mit dem Geld machst und was nicht.“ „Ich? Aber das…“ Er wusste nicht weiter. Alles, was er sagen würde, würde ihn wieder zu dem Punkt zurückbringen, an dem Knox ihm sagte, dass er kein Besitz war. Das war unmöglich. Nicht er. Er war doch… „Jean, ich habe es ernst gemeint, als ich dir gesagt habe, dass du zu unserem Team gehörst. Du gehörst niemandem außer dir selbst. Dein Konto, dein Pass, deine Sozialversicherungsnummer. Was auch immer sie in der Edgar Allan damit gemacht haben, hier gehört sie in deine Verantwortung. Du bist derjenige, dem das alles gehört und der entscheidet, was damit geschieht.“ Um ehrlich zu sein hatte Jean keine Ahnung, wie er diese Entscheidungen fällen sollte. „Ich weiß nicht, wie“, gestand er schließlich ein und wandte den Blick ab, auf eines der roten Gebäude, die soviel freundlicher wirkten als in West Virginia. „Hey, dazu bin ich doch da. Ich helfe dir dabei.“ Da war es wieder. Da war Knox‘ gefährliche Eigenschaft, ihn auf seine Seite zu ziehen, ihm Vertrauen zu schenken und ihm zu suggerieren, dass er ihm vertrauen konnte. Dass alles gut werden würde. Wie gerne wollte Jean ihm im Bruchteil der ersten Sekunde glauben. Etwas in ihm sträubte sich mit aller Macht gegen die Barrieren, die er einhalten musste und dieses Etwas fühlte die schwere Bürde des Umschlages in seiner Hand wie einen Anker, der ihn in dieser Realität festkettete. Dass Jean das nicht zulassen konnte und glauben durfte, stand außer Frage. Trotzdem nickte der Teil in ihm, der die Unterstützung wollte, so klein und gering er auch sein mochte. Jean fluchte stumm über sich selbst und nahm sich vor, diese Hilfe nur in Anspruch zu nehmen, wenn es unbedingt nötig war. Schweigend traten sie ihrem Weg zurück zu dem Wohnhaus an und Jean ließ sich von dem regelmäßigen Schlappen von Knox‘ Sandalen auf den Steinplatten einlullen. Er ließ seine Gedanken schweifen, hin zu der Breite an Geräuschen und auch Gerüchen, die ihn in jeder Sekunde seines Hierseins überwältigten. Selbst hier, auf dem Campus, wo alles sauber und geordnet war, konnte Jean nicht wirklich alles auseinanderhalten, sondern musste sich treiben lassen von den Eindrücken. Vom Zwitschern der Vögel. Von der Wärme der Sonnenstrahlen auf seiner Haut, die mühelos die Kälte von Evermore vertrieben. Vom Geruch des Meeres, der diese ganze Stadt durchdrungen hatte. Von Gerüchen und Geräuschen, die er nicht zuordnen konnte. Und alle Menschen lächelten, wenn sie nicht sogar strahlten. Insbesondere dann, wenn ihnen Knox über den Weg lief, was Jean wieder einmal beobachtete, als sie zu dem Haus der Trojans zurückliefen. Es brachte ihn zu der Frage, was aus ihm geworden wäre, wenn es ihm gestattet gewesen wäre, ein normales Leben zu leben und sich als Mensch zu entwickeln. Eine gefährliche Frage, befand Jean und vergrub sie im hinterletzten Winkel seines Denkens. „Also… was hältst du vom Art District?“, holte Knox ihn aus seinen Überlegungen heraus und irritiert sah Jean von dem Gras der Freiflächen auf. Ihm sagte der Begriff rein gar nichts und so wartete er, dass Knox erläuterte, was damit gemeint sein konnte. Dass sein Unwissen da auf Begeisterung traf, konnte er nicht ganz nachvollziehen und die Freude auf dem braungebrannten Gesicht ließ ihn vorsichtig werden. „Das ist DER Stadtteil in Los Angeles, den man gesehen haben muss, Jean! Lauter coole Ausstellungen oder Streetstylekunstwerke.“ Es erklärte zumindest in Ansätzen, was Knox von ihm wollte, aber so richtig konnte sich Jean keinen Reim darauf machen. Er wusste nicht, was er von dem Stadtteil halten sollte, den er nicht kannte und von dem er noch nie etwas gehört hatte. Zumal Kunst etwas gewesen war, das ihm in Evermore vorenthalten geblieben war. Es hatte der Grundsatz gegolten, dass es keine anderen Interessen außer Exy zu geben hatte. Alles darüber hinaus war unnötiger Ballast gewesen. „Hast du Lust, dir das Ganze mal anzuschauen?“, präzisierte Knox, was er von ihm wollte und Jean schluckte. Es war eine direkte Frage, auch wenn er nicht in der Lage war, sie zu beantworten. Ob er Lust dazu hatte? Ob er es wollte? Noch in dem Teufelskreis einer Antwortfindung gefangen, verlor Knox‘ Lächeln etwas an seiner Strahlkraft und wurde sanfter. „Ich habe einen Vorschlag. Wie wäre es, wenn wir hinfahren und wenn es dir nicht gefällt, dann kommen wir wieder zurück?“ Jean wusste, dass er nein sagen sollte. Er wusste, dass er sich verweigern musste, wenn er bei seinem Vorhaben bleiben wollte. Das wusste sein vorlauter Mund aber nicht, der ohne Zustimmung ein „Okay.“ in den sommerlichen Tag herausblies. Knox ließ sich weder durch die fehlende Intonation noch durch seine eiserne Verweigerung, dem anderen Jungen dabei ins Gesicht zu sehen, abhalten und klatschte begeistert in die Hände, was Jean im ersten Moment zurückzucken ließ. Doch Knox war nicht Riko und es folgte keine Gewalt. „Oh. Wer sind die denn?“ Zunächst konnte Jean mit der Frage nichts anfangen und sah erst, dass Knox stehengeblieben war, als er den Blick hob und sich der beiden großen, schwarzen SUV bewusst wurde, die vor dem Wohnhaus der Trojans standen. Als würde das Jeans Herzschlag nicht schon bedenklich erhöhen, waren es nun auch noch zwei in schwarz gekleidete Sicherheitsleute der Moriyamas, die am Eingang des Gebäudes standen und sie mit ruhigem Blick fixierten. Nicht sie. Ihn. Sie fixierten ihn. ~~~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 9: Die Sonne, der Übeltäter ----------------------------------- Wenn Jeans Herz noch viel schneller schlagen würde, würde es irgendwann in nächster Zeit, vermutlich schon in den nächsten Minuten, einfach aufhören und stillstehen. Vielleicht wäre das kein allzu schlimmes Ende angesichts der Männer, die unweit von ihnen standen und den Weg zurück in das Haus blockierten, das die Apartments der Trojans beherbergte und damit das Zimmer mit dem Fenster, von dem aus er die Sterne sehen konnte. Das Rot-Goldene und vollkommen Chaotische, die lebende und atmende Antithese zu Evermore. Wohin sie ihn ohne Zweifel zurückbringen würden. Wie angewurzelt blieb Jean stehen, der Umschlag seiner vermeintlichen Freiheit wie ein bleiernes Gewicht in seiner Hand. Zwei Monate war er frei gewesen von den dicken Mauern und codegeschützten Kellern, die Evermore ausmachten und nun würden sie ihn wieder zu sich rufen. Er würde die Sonne nie wieder sehen, ebenso wie er niemals wieder dem Weg der Sterne folgen würde oder einen Roboter bei seinem Weg über einen menschenleeren Planeten beobachten würde. Der Herr würde ihn strafen und strafen und strafen, bis nichts mehr von ihm übrig war. Der Gedanken, weg zu laufen und seinem Leben schneller und gnädiger ein Ende zu bereiten, gewann an Charme, doch letzten Endes konnte Jean es nicht, aus dem gleichen Grund, aus dem er sich eine Frist von zwei Monaten gesetzt hatte. Er war nicht mutig genug, war es noch nie gewesen. Die Verzweiflung darüber hätte er am Liebsten herausgeschrien, doch auch das traute er sich nicht. Wie eine Statue stand er hier und sah mit wachsender Angst, dass die beiden Männer auf ihn zukamen. Es war Knox, der ihn aus seiner Starre holte, indem er ihm eine Hand auf den Arm legte. Mehr als alles andere war die Kombination aus körperlichem Kontakt und allem, was die Familie Moriyama anbetraf, keine gute und ließ ihn zusammenfahren, als hätte sein Kapitän ihn mit einem glühenden Eisen berührt. Ein Gefühl, das er nur zu gut kannte. „Jean, sind das Männer aus Evermore?“, fragte Knox beinahe schon panisch und Jean fragte sich unwillkürlich, warum er derjenige war, dessen Stimme sich vor Angst beinahe überschlug. „Rede mit mir, Jean! Sind das Moriyamas Männer?“ Er hatte anscheinend genickt – auch wenn er sich daran nicht mehr erinnern konnte. „Lauf weg!“, war der Befehl seines Kapitäns beinahe zu scharf und zu harsch, als dass er ihm nicht folgen würde. Fast schon setzten sich seine Beine in Bewegung, bevor er sich daran erinnerte, dass die Moriyamas über allem standen, selbst über dem Befehl seines Kapitäns. Natürlich würde Jean die Strafe dafür tragen, wenn er jemals wieder hierhin zurückkehren würde. Unwahrscheinlich, doch in diesem Moment wurde Jean sich bewusst, dass er jede Strafe, die Knox ihm auferlegte, tausendmal lieber tragen würde als erneut in die Hände des Herren zu fallen. Stumm schüttelte Jean den Kopf und blieb selbst dann stehen, als die Männer ihn erreichten. Wieder war es Knox, der das Sprechen für ihn übernahm. „Verschwinden Sie oder ich rufe den Sicherheitsdienst“, stellte sich sein Kapitän unsinnig mutig den Männern entgegen, die ihn wie eine lästige Fliege maßen, bevor sie sich auf ihn fixierten. Erst jetzt fiel Jean auf, dass Knox zwischen ihm und den Beiden stand. Nicht, dass es die Sicherheitsleute interessierte. Der Linke von ihnen räusperte sich, den Kapitän der Trojans pointiert ignorierend. „Mr. Moreau, Mrs. Suarez wünscht Sie zu sprechen und wir möchten Sie bitten, mit uns zu kommen.“ Jean runzelte die Stirn. Mrs. Veronica Suarez war die leitende Firmenanwältin der Moriyamas. Sie würde sich nicht mit einer solchen Lappalie wie seiner Rückholung nach Evermore abgeben. Sie war diejenige für die rechtliche Schmutzarbeit, die graue Eminenz hinter den schrecklichen Geschäften des Hauptzweiges. „Jean, das wirst du nicht tun“, holte Knox ihn aus seinen Gedanken und wandte sich, naiv wie er war, an die Männer, die vor ihm standen. „Und Sie haben hier nichts zu suchen, also verschwinden Sie.“ Um ehrlich zu sein hätte er niemals gedacht, dass Knox‘ Stimme derart böse klingen konnte. Derart wütend. Jean wünschte, er könnte sich hinter dieser Stimme vor den Männern in schwarz verstecken und ihnen entfliehen, doch das war ihm nicht möglich. Vielleicht aber wäre Knox nicht in Gefahr, weil er eben keiner von ihnen war. Die Trojans waren rein und unbefleckt von den illegalen Machenschaften der Familie. „Bitte geh in das Apartment“, richtete er seine ersten Worte an Knox, den Blick respektvoll zu Boden gesenkt. „Nein, Jean, ich lasse dich nicht alleine. Denk dran, wir sind ein Team und wir lassen einander nicht im Stich.“ Wie sehr hatte sich Jean diese Worte immer von Kevin gewünscht und wie bitter war das Gefühl des Verrates gewesen, als der andere Junge auf einmal weg war und nicht mehr zurückgekommen war nach Evermore. Wie bitter waren seine Einsamkeit und das Gefühl des Verrates gewesen. Wie sehr hatte sich Jean mehr Worte wie diese gewünscht, die ihm zeigten, dass auch nur ein einziger Mensch auf Erden so etwas wie Zuneigung zu ihm empfand und ihn nicht behandelte wie ein lästiges, nutzloses Ding. So sehr er es sich auch gewünscht hatte, so sehr kamen sie nun zu spät und ließen nichts als schmerzhafte Splitter zerbrochener Hoffnung in ihm zurück. „Das ist keine Sache des Teams. Hier geht es um andere Dinge“, versuchte Jean Knox zu besänftigen, auch wenn das auf wenig Verständnis traf. „Nein, du musst keine Angst haben. Wir stehen das durch.“ Jean schnaubte und schüttelte den Kopf angesichts so großer Naivität. Er trat einen Schritt um Knox herum und war nun derjenige, der zwischen ihm und Evermore stand. Das gefiel seinem Kapitän überhaupt nicht und protestierend hob er die Hand, anscheinend um ihn festzuhalten. Jean wich vor ihm zurück. „Es ist in Ordnung, Knox“, presste er rau hervor. „Ich hatte mit nichts Anderem gerechnet.“ „Nein, hier ist nichts in Ordnung. Ich rufe die Polizei, das ist Entführung, damit kommen die nicht durch!“ Wenn er ehrlich war, verstand Jean Knox‘ Widerstand gegen seine Rückkehr nach Evermore nicht. Er kannte ihn doch kaum. Seit einer Woche erst. In seiner 28-köpfigen Mannschaft hatte er mehr als genug Backliner, was machte es da aus, ob er hier war oder nicht? „Deine Einschätzung diesbezüglich ist fehlerhaft. Bitte…“ Ja, um was genau bat er eigentlich? Dass Knox sein eigenes Leben nicht riskierte? Dass er diese anscheinend noch reine Mannschaft nicht mit irgendwelchen Verträgen an ein Verbrechersyndikat band, das sie ausnehmen und auspressen würde? Der Rechte der beiden Männer räusperte sich und erst jetzt fiel Jean auf, dass sein Ohr verdrahtet war. „Mrs. Suarez möchte darauf hinweisen, dass es sich hierbei lediglich um ein Gespräch handelt, das unter vier Augen geführt wird. Es hat keinerlei Auswirkungen auf den mit der hiesigen Universität geschlossenen Vertrag und dient zur Beseitigung von aufgekommenen Unklarheiten.“ Sowohl Knox als auch er hielten überrascht inne. Jean blinzelte verständnislos und fragte sich, ob das eine Falle war. Doch warum sollten sie sich die Mühe machen, wenn er doch auch so mitkommen würde? „Was bedeutet das?“, übernahm Knox erneut die Fragerolle und der Mann maß ihn mit erhobener Augenbraue. „Das bedeutet, dass dieses Gespräch in dem Wagen geführt wird und Sie hierbleiben, Mr. Knox. Rufen Sie den Sicherheitsdienst oder machen Sie anderweitig in negativer Weise auf sich aufmerksam, wird dieses Gespräch an einem Ort weitergeführt, den Sie nicht kennen und ich möchte Ihnen garantieren, dass es für Mr. Moreau keine angenehme Unterhaltung werden wird. Es liegt in Ihren Händen und an Ihrer Kooperation, wie das Gespräch zwischen Mrs. Suarez und Mr. Moreau verlaufen wird.“ Den Einen gegen den Anderen auszuspielen war das, was Evermore im Grunde des tiefschwarzen Herzens ausmachte. Dass der Mann also zu solchen Methoden griff, wunderte Jean also nicht, auch wenn es Knox ganz klar schockierte. Unweigerlich fragte sich Jean, wie gut und naiv jemand sein konnte, um hiervon noch schockiert zu sein. „Woher weiß ich, dass Sie mich nicht anlügen und ihn trotzdem entführen?“ „Unsere Auftraggeber haben kein Interesse an einer Fortsetzung seines Vertrages mit Evermore.“ Zu mehr ließ sich der ihm gegenüberstehende Mann nicht aus und mehr als alles andere erzeugte das Hoffnung in Jean, dass er hierbleiben durfte. Sie wollten ihn nicht wieder zurück? Das war die beste und gleichzeitig schrecklichste Nachricht, die er in den letzten Monaten gehört hatte. Er musste nicht mehr zurück in die Dunkelheit… doch nach allem, was er ihnen geopfert hatte die letzten Jahre über, verstießen sie ihn. „Ich komme mit.“ „Jean!“ Er reagierte nicht, sondern trat noch einen Schritt nach vorne, dann noch einen. Beim dritten stolperte er über seine eigenen Füße, fing sich jedoch wieder und ging weiter in Richtung seines Schicksals. Er ertrug den Blick auf die Wagen nicht, so richtete er ihn auf das Gras abseits der Weges, das so wunderbar grün war und spürte der Sonne nach, die auf seiner Haut brannte. Er prägte sie sich ein, als wäre sie das Kostbarste auf der Welt. Der Geruch des Sommers begleitete ihn auf seinem Weg in den Wagen hinein, dessen Tür sich öffnete und dessen kalte Dunkelheit ihn verschluckte wie es die Tore Evermores jedes Mal getan hatten. Jean sah Mrs. Suarez und folgte ihrem Fingerzeig auf die noch freie Sitzbank. Schweigend ließ er sich nieder und senkte den Blick zu Boden, ehrfürchtig, wie es ihm beigebracht worden war. Schweigend, wie er sich zu verhalten hatte, bis die Frau das Wort an ihn richtete, deren Namen ihm bisher nur wie ein Schatten begegnet war. Ein einziges Mal war sie in Evermore gewesen, nach Kevins Flucht. Jean war zu dem Zeitpunkt nicht genug bei Bewusstsein gewesen um auch nähere Notiz von ihrer Präsenz zu nehmen. Diese Gnade wurde ihm nun nicht zuteil und er spürte ihren brennenden Blick auf sich, während er seine Augen starr auf ihre Beine gerichtet hatte. Der Umschlag, der ihn als Mensch auszeichnen würde, wurde unter der Anspannung seiner Fäuste schier zerdrückt. „Guten Tag, Mr. Moreau.“ Jean nickte knapp. „Wie ich sehe, ist Ihr Eintreffen hier in Kalifornien ebenso reibungslos verlaufen wie Ihre Immatrikulation an der Universität und Sie haben sich bereits mit Ihrem neuen Kapitän vertraut gemacht.“ Die Art, wie sie vertraut betonte, ließ ihn nun doch aufsehen und er wagte einen Blick auf die Frau, die das Leben so vieler mit einem Federstrich zerstören konnte. Ihre graugesträhnten, schwarzen Haare hatte sie kinnlang frisieren lassen. Trotz der Hitze trug sie einen Anzug mit Hemd und Blazer. Unbeeindruckt starrte sie ihm in die Augen. „Er weiß von nichts“, fühlte sich Jean genötigt, unter ihrem brennenden Blick zu klarifizieren und sie griff zu den Unterlagen, die neben ihr auf der Bank lagen. „Selbstverständlich nicht. Wer, wenn nicht Sie, weiß am Besten, dass die größten Tugenden Treue und Verschwiegenheit sind, Mr. Moreau.“ Ihre Worte waren wie Hohn für Jean. Besitz kannte keine Treue. Eine Sache konnte nicht treu sein. Und etwas Menschliches in ihm rebellierte gegen die Worte der Frau. Riko hatte ihn jahrelang gefoltert und foltern lassen, Treue hatte er sich dadurch weder verdient noch erkauft, er hatte sie durch Angst in ihn hineingezwungen. Dennoch wagte Jean es nicht, ihr zu widersprechen, auch wenn die Schrecken der Vergangenheit sehr deutlich in seinen Augen standen. Er senkte den Blick, als er, wie er wusste, zu lesbar wurde. Natürlich waren ihre Worte auch eine Warnung an ihn und eine Mahnung an den Vertrag, den Josten mit Lord Moriyama geschlossen hatte. Sie räusperte sich. „Genug des Geplänkels. Auf Veranlassung des Direktors der Edgar Allan Universität ist es zu einer Untersuchung gekommen, welche die anscheinend skandalösen Umstände in punkto Körperverletzung im hiesigen Exy-Team zum Gegenstand hatte. Die Ermittlungen vergangener Wochen und Monate haben den Eingangsverdacht missbräuchlicher Praktiken in mehreren hundert Fällen bestätigt. Dabei taucht Ihr Name in den meisten dieser Fälle auf.“ Jedes ihrer Worte war wie die Klinge von Rikos Messer, die sich ohne Gnade unter seine Haut bohrte. Eine Ermittlung, bei der sein Name aufgetaucht war? Zu welchem Zweck? Es war doch unzweifelhaft, dass er Besitz war und dass mit Besitz getan werden dürfte, was der Besitzer wollte, solange er nur in der Lage war, seine Aufgabe zu erfüllen. „Bei eben jenen Ermittlungen wurden ebenfalls Videos sichergestellt, die Zeugnis massiver Körperverletzung sowie mehrfacher Akte unfreiwilligen Geschlechtsverkehrs sind.“ Jean zuckte zusammen, als hätte man ihn verbrannt. Mit schreckensweiten Augen starrte er auf den Boden des Wagens, während seine Hände den Umschlag zusammenknüllten. Ihm wurde beinahe schwarz vor Augen, als er die Tragweite dessen begriff. Videos. Es gab Videos von ihm, wie sie… während sie… sie hatten Videos gemacht. Er beugte sich vor und ein Laut des Entsetzens, den er nicht aufhalten konnte, verließ seine Lippen. Riko hatte ihn gefoltert. Er hatte andere Spieler in sein Bett gelassen um ihm seinen Platz zu zeigen und eine Antwort auf die Frage zu finden, ob ein sexuelles Trauma anders oder schlimmer war als eines ohne sexuelle Demütigungen. Fünfmal hatte er das getan, umschlossen von unzähligen Malen, in denen Riko ihm Knochen gebrochen, ihn von Treppen gestoßen, seinen Körper aufgeschlitzt und verbrannt hatte, ihm…. Jean würgte sich gedanklich ab. Wenn er weiter alles aufzählte, was Riko und andere ihm angetan hatten, dann würde er sich hier übergeben. Ob er das überleben würde, wusste er nicht. Vielleicht wäre es besser so, wenn nicht. Videos… es gab Videos. „Wie oft ist es vorgekommen?“ Jean wusste nicht, ob er lachen oder würgen sollte ob der Frage. Sie waren allmächtig und weltumfassend vernetzt, aber um herauszufinden, wie oft er vergewaltigt worden war, brauchten sie seine Hilfe. Das war erbärmlich, wenn es ihn nicht so sehr verstörend und verängstigen würde, weil es Erinnerungen in ihm aufwirbelte, die er am Liebsten in den Untiefen seiner Erinnerungen gelassen hätte. „Ist…“ Jean musste sich räuspern, damit seine Stimme wenigstens im Ansatz hörbar war. „Ist die Zahl wichtig?“ „Ja.“ Sie erläuterte nicht, warum und sicherlich hatte er auch kein Anrecht auf die Antwort, egal, was diese Frage mit ihm machte. Kurz schloss er die Augen um Stärke zu finden, doch die Schwärze dahinter machte es ihm nur noch unmöglicher, so fasste er den Boden des Wagens erneut ins Auge. „Fünf Mal.“ Wie harmlos sich die Worte anhörten. Wie wenig sie über das verrieten, was ihm solange aufgezwungen worden war, bis er sich nicht mehr gewehrt hatte. Bis er langweilig geworden war. Jean sah auf seine Hände, die zitterten. Er war Riko dankbar gewesen, dass er aufgehört hatte, ihn auf diese Art zu foltern. Dankbar dem Menschen gegenüber, der für all das verantwortlich war. Das war krank, das wusste Jean. Sie griff zu ihrem Handy und tippte etwas. Das leise Ping einer Nachricht ließ ihn ebenso zusammen zucken wie ihre Augen, die sich mit aller Eindringlichkeit auf ihn richteten. „Lord Moriyama hegt tiefen Respekt für die ihm anvertrauten Familien seiner Geschäftspartner, denn nur mit gegenseitiger Loyalität und Vertrauen ist es möglich, das Unternehmen zu ungeahnter Größe zu führen und es auch dort zu halten.“ Jean konnte mitnichten etwas mit ihren Worten anfangen, so nickte er nur. „So wie er seinen Geschäftspartner vertraut, vertrauen sie auch ihm.“ Vertrauen. Was für ein schönes Wort für gegenseitige Abhängigkeiten, Erpressungen, organisierte Kriminalität und Folter. „Ist es nun so, dass ein Geschäftspartner im Vertrauen auf gegenseitigen Respekt seinen Tribut zollt und die Verbindung damit stärkt, würde es sich als untragbar herausstellen, wenn Lord Moriyama diesen Tribut mit weniger Respekt behandelt als er ihm gegeben wurde.“ Mrs. Suarez machte eine Pause, in der Jean die Möglichkeit hatte, über ihre Worte nachzudenken. Nicht, dass es ihn sonderlich weiterbrachte, denn er war weder ein Geschäftspartner noch war er Mensch genug um Teil zu haben an den illegalen Geschäften. Selbst wenn, hätte er es nicht gewollt. Die Verstrickung seiner Familie in diese Art von Geschäften hatte ihm nichts gebracht, nur Demütigung und Folter, den Raub seiner Pubertät und Unschuld. „Lord Moriyama ist nicht bereit hinzunehmen, dass durch die Vergewaltigungen Schande über den ältesten Sohn seines geschätzten Geschäftspartners gebracht wurde und dass damit durch eigenes Blut Schande über die ehrenwerte Familie Moriyama gebracht wurde.“ Jeans Kopf ruckte so abrupt hoch, dass er glaubte, sich einen Nackenwirbel verrenkt zu haben. Kühl musterte Mrs. Suarez ihn, so als würde sie über das Wetter sprechen. „Die Moreaus sind bereits seit Marseille geschätzte Verbündete. Sie, Mr. Moreau, wurden seinerzeit dem zweiten Zweig als ein vertrauensvolles Entgegenkommen für die Begleichung eines Ungleichgewichtes übergeben. Als ein Investment an eine gemeinsame Zukunft. Durch die Taten und Befehle des verstorbenen Kapitäns ist dieses Investment geschmälert worden und das ist ein inakzeptabler Zustand, den Lord Moriyama gedenkt zu revidieren.“ Sie griff hinter sich und im ersten Moment erwartete Jean, dass sie eine Waffe zog. Entsprechend unsinnig riss er die Arme hoch und versuchte sich vor dem kommenden Tod zu schützen, als er nach ein paar Augenblicken begriff, dass kein Schuss folgen würde. Mrs. Suarez hielt eine Schale in der Hand, aus schwarzem Porzellan, die durchsetzt war mit goldenen Lackschlieren, die scheinbar ohne jedwede Struktur angeordnet waren. In ihr befanden sich zwei Umschläge. Sie hielt sie zwischen sie beide und Jean begriff, dass er sie annehmen sollte. Dass er drei Anläufe dafür benötigte, weil seine Finger so sehr zitterten, brachte sie nicht im Geringsten aus der Ruhe. „Ihre Fähigkeiten, Mr. Moreau, sind kostbar und ertragreich, insbesondere auf die kommenden Jahre gesehen. Sie sind ein wertvolles Investment für Lord Moriyama und er möchte Ihnen hiermit sein tiefes Bedauern über die Handlungen seines Bruders ausdrücken. Diese Schale und ihr Inhalt ist ein Zeichen seiner Trauer um das Handeln des Jungen.“ Sie deutete auf den schwarzen Umschlag, der oben auf lag und mit zitternden Fingern nahm er ihn auf, hielt ihn vor sich, auf weitere Befehle wartend. „Öffnen Sie ihn.“ Jean nickte und tat wie ihm geheißen. Zittrig balancierte er die Schale auf seinen zusammengepressten Knien. Ungeschickt entnahm er das darin enthaltene Dokument und sah mit Schrecken, wie eine Karte auf den Boden des Wagens fiel. Er brauchte zwei Anläufe um sie aufzuheben und warf erst dann einen Blick auf den Inhalt des Schriftstückes, deren Sinn sich ihm nicht erschloss. Er hatte noch nie ein Problem mit Zahlen gehabt, so war es ihm auch leichtgefallen, seine Fähigkeiten in sein Hauptfach einzubringen. Diese hier und ihr Sinn erschloss sich ihm aber nicht, auch nach mehrmaligem Hinsehen nicht. Heiß und kalt lief es ihm den Rücken hinunter, als er sich außerstande dazu sah, ihrer Anweisung zu folgen. Jean schluckte. „Ich verstehe den Sinn nicht“, wisperte er. „Das sind die Daten für Ihr Konto“, brachte sie dem Dokument einen Sinn und Jean starrte auf die Worte. Seine Augen huschten über den Namen der Bank sowie die Kontodaten und er runzelte die Stirn, als er feststellte, dass sich sein Name auf der Karte befand und die Nummer dieses Kontos mit der Nummer auf der Karte anscheinend identisch waren. Verwirrt runzelte Jean die Stirn, wagte aber nicht, die Frage, die sich ihm stellten, laut zu äußern. So zum Beispiel, warum sein Name als Besitzer eingetragen war. „Dieses Konto würde für Sie eröffnet und Sie haben den alleinigen Zugriff auf die Summe, die sich dort befindet. Diese ist nicht von der prozentualen Beteiligung der Familie Moriyama an Ihren Einkünften unterworfen und steht somit gänzlich zu Ihrer Verfügung. Darüber hinaus lässt Lord Moriyama Ihnen mitteilen, dass der mit Mr. Josten abgeschlossene Vertrag über den prozentualen Anteil für Sie ab dem jetzigen Zeitpunkt keine Gültigkeit mehr besitzt. Sie werden für die kommenden Einnahmen aus Ihrer Tätigkeit als Exyspieler einen Prozentsatz in Höhe von sechzig Prozent abführen. Unberührt davon bleibt Ihr Sportstipendium.“ Jean verstand nicht wirklich, was sie sagte, doch er fand nicht den Mut, nachzufragen. Er fand auch nicht den Mut zu nicken, sondern akzeptierte das, was sie ihm sagte, ohne zu reagieren. Es war, als würden seine Gedanken nicht begreifen wollen, was ihm gerade geschenkt worden war. Als Zeichen von…Bedauern? Weil Schande über ihn gebracht worden war, ihn und seine Familie, die ihn verkauft hatte? Etwas, das sich fürchterlicherweise wie die Wut anfühlte, die er bereits in sich getragen hatte, als er nach Evermore gekommen war, wallte in ihm auf. Er wollte nichts von alledem hier. Er wollte, dass all das nie passiert wäre. Jean presste seine Lippen aufeinander. Sie schenkten ihm Geld um ihn zu heilen? Was sollte er denn heilen? Etwa den zerbrochenen Scherbenhaufen, den Riko über die Jahre hinweg aus ihm gemacht hatte? Zum ersten Mal seit langer Zeit wollte Jean wieder jemanden schlagen. Die Frau, die Männer der Familie, ja selbst den Lord. Er wollte sie alle zerreißen für das, was sie ihm angetan hatten und doch konnte er noch nicht einmal die Kraft aufbringen, zu nicken, so blieb die Wut in ihm, schwelte in den Überresten seines Seins und kratzte an dem Gefängnis seiner erzwungenen Selbstbeherrschung. Eben jene, die ihm unmissverständlich zu verstehen gab, dass er respektvoll zu reagieren hatte. „Ich danke der Familie Moriyama für ihre Güte“, presste er in jahrelanger Indoktrinierung hervor, was er niemals gefühlt hatte. Nicht, seitdem sie ihn hierher verschleppt hatten. Mrs. Suarez nahm das zur Kenntnis, mehr jedoch auch nicht. Als hätte das Gespräch zwischen ihnen beiden nicht stattgefunden, widmete sie sich ihrem Handy. Kurz sah sie hoch. „Sie dürfen gehen, Mr. Moreau.“ Die Autotür öffnete sich und ließ Sonnenlicht, stechend und blendend hinein. Jean blinzelte und kniff im ersten Moment die Augen zusammen, bevor er sich umständlich aus dem Auto schälte, sein Körper vor Anspannung zitternd. Natürlich… sobald er den Blick hob, sah er sich Knox gegenüber, der zwischen den beiden Männern mit sorgenvollem Gesicht anscheinend auf seine Rückkehr wartete. Die beiden Wachen kehrten, als sie seiner ansichtig wurden, schweigend in die Wagen zurück und Jean hörte mehr als dass er sah, dass sie abfuhren und ihn mit seinem Kapitän alleine ließen, der nun auf ihn zustürmte, als wolle er ihn schlagen. Jean zuckte zurück, die Schale und Dokumente an seine Brust gepresst und brachte so schnell es ihm möglich war, Abstand zwischen sie beide. „Nicht“, entfuhr es ihm, auch wenn er kein Recht auf dieses Wort hatte. Noch nie hatte es ihm etwas eingebracht. Jetzt aber schon, denn Knox blieb stehen. Auf der Stelle, als wäre dieses eine Wort wichtig. Zögerlich verharrte er. „Jean?“ Es war die Frage nach einer Erklärung, die Jean nicht erbringen konnte. Stumm ignorierte er seinen Kapitän und sah unbewegt zu, wie die beiden Wagen starteten und wegfuhren. Als sie außer Sichtweite waren, fragte sich Jean unwillkürlich, ob das Ganze wirklich passiert war. Er knirschte mit den Zähnen. Eigentlich sollte er froh sein. Sie hatten ihn nicht mitgenommen. Anstelle dessen hatte Mrs. Suarez ihm gesagt, wie wertvoll er doch für die Familie war. Gerade oder trotz dem, was ihm passiert war. Sie hatten ihren Anteil heruntergesetzt und ihm ein zweites Konto eingerichtet mit einem Betrag darauf, der ihm noch nicht bekannt war. Froh, dass sie ihn dafür bezahlten, dass er vergewaltigt worden war. Was in dem zweiten Umschlag war, wusste er immer noch nicht. Eigentlich sollte er erleichtert sein. „Sag mir, Knox…“, begann er und fürchtete sich vor Kälte in seiner eigenen Stimme. „…in deinem Kunstdistrict, findet man da auch eine Antwort, wieviel ein Leben kostet?“ Bewusst sah er auf seinen Kapitän herab, der ihn mit ungewöhnlich bleichem Gesicht und großen Augen ansah. ~~**~~ Was? Besorgt blinzelte Jeremy. Die unendlichen langen letzten Minuten hatte er in Sorge um Jean und um sich selbst verbracht und sich nervös an seinem Handy in der Hosentasche festgehalten. Wieder und wieder hatte er sich seine Chancen ausgerechnet, rechtzeitig die Campussecurity zu rufen um Jean aus den Klauen dieser offensichtlich kriminellen Machenschaften zu holen. Letzten Endes hatte er sich nichts von dem, was er sich vorgenommen hatte, getraut und war von einem Fuß auf den anderen getreten. Wie hätte er auch fliehen können, wenn ihn diese Männer mit Jeans Wohlergehen erpressten? Und jetzt stand der größere Junge neben ihm und starrte ihn mit einer derartigen Verachtung an, dass es Jeremy unwillkürlich schauderte. Er ahnte…nein wusste, dass sich diese nicht auf ihn bezog, aber das machte es nur minimal besser. Womit hatten sie Jean in ihrer Hand, dass er freiwillig in ihr Auto gefolgt war? Womit riefen sie so eine Verachtung hervor? Jeremy streckte seine Hand in Jeans Richtung aus. Die grauen Augen richteten sich abrupt auf die Bewegung und Jeremys Hand fror in ihrer Bewegung ein. Nur langsam ließ Jeremy sie schließlich sinken. „Was ist passiert?“, fragte er so ruhig es ihm möglich war. Die Aufregung machte ihm da einen Strich durch die Rechnung und Jean schnaubte verächtlich. Er schüttelte den Kopf, sagte aber nichts, sondern reckte sein Gesicht gen Himmel. „Heute ist der Tag der Konten, wie es scheint“, kamen bissige Worte aus seinem Mund, die Jeremy so noch nie gehört hatte. „Oder der Tag des unnützen Geldes.“ Mitnichten konnte sich Jeremy einen Reim auf diese Antwort machen. „Jean, was haben sie gemacht?“, fragte er deswegen schlicht, jedoch mit klopfendem Herzen. Für quälend lange Momente erhielt er keine Antwort, dann schnaubte Jean. Seine Aufmerksamkeit kehrte zu Jeremy zurück und er wurde schier durchbohrt mit der folgenden Intensität. Jeans Augen wären hübsch, wenn sie ihm nicht soviel Angst machten, stellte Jeremy fest. „Nichts haben sie gemacht. Sie wollten reden.“ Jeremy verzog die Lippen vor Unbill. „Man redet nicht nur, wenn man gleichzeitig Leute erpresst.“ Für einen kurzen Moment lang grübelte Jean über seine Worte nach, dann senkte er den Blick. „Es ist besser, wenn du dich nicht darum kümmerst“, murmelte er, anscheinend in der Erwartung, dass er dafür bestraft werden würde. Nichts lag Jeremy ferner, auch wenn er sich gerade jetzt gut vorstellen konnte, Jean zu schütteln, bis dieser begriff, dass die Trojans so nicht funktionierten. Sie kümmerten sich umeinander. Sie sorgten füreinander. Sie waren nicht Teil krummer Dinger und verbrecherischer Machenschaften. Das unterstellte er Jean zwar nicht, aber offensichtlich gehörten die Männer, die bis gerade hier gewesen waren, nicht in ihre sichere Welt. „Das kann ich nicht. Du gehörst zu meinem Team, Jean“, verbalisierte Jeremy seine Sorge ruhig. „Das ist keine Teamangelegenheit.“ „Wenn sie auf das Unigelände kommen, dich vor unserem Wohnhaus abfangen und mich mit deinem Wohlergehen erpressen, schon.“ Seine direkten Worte lösten den aufkommenden Widerspruch ins Nichts auf. Dass die Augen dafür nun wieder das Gras begutachteten, war nicht in Jeremys Sinn, so ganz und gar nicht. „Es ist nicht gut, sich um solche Angelegenheiten zu kümmern“, teilte Jean diesem mit. „Es ist eine Familiensache, die geregelt ist.“ „So geregelt, dass sie mich mit deiner Gesundheit erpressen, Jean?“, wiederholte Jeremy zweifelnd. Jean zuckte regelrecht zusammen bei seinen Worten und Jeremy befiel beinahe ein schlechtes Gewissen. Eingehend betrachtete dieser die Schale, welche er in den Händen hielt und runzelte die Stirn. „Sie werden nicht wiederkommen“, beharrte Jean schließlich auf seinen Eingangsworten, von denen Jeremy ihm keine einzige Silbe glaubte. Dafür war die Sorgenfalte auf dessen Stirn zu steil, der Mund zu angespannt verzogen. „Ist dies… ein unüberwindliches Problem?“, fragte er schließlich und Jeremy runzelte die Stirn. „Was meinst du damit?“ „Wird es für Annulierung des Vertrages mit den Trojans sorgen?“ Jeremy erschrak sich so sehr vor Jeans Worten, dass er ihn abrupt an seinem Arm fasste und zudrückte. Eine im Nachhinein falsche und zum Teil auch dumme Geste, die mit nichts anderem als Angst beantwortet wurde und Jeremy damit beschäftigte, die aus Jeans Händen fallende Schale aufzufangen. Er ächzte, als sein Rücken gegen die abrupte Positionsveränderung protestierte, aber seine Reflexe waren immer noch da und sie waren gut. Jeans auch, wie es schien, der eine Hand abwehrend, aber dennoch zögerlich erhoben hatte, so als würde er einen Schlag abwehren wollen. Wie am ersten Tag. Jeremy schluckte. Natürlich. Was musste Riko Jean nicht alles angetan haben um ihn so aussehen zu lassen? Und er? Erschreckte den Jungen durch seine Worte und Gesten. Wunderbar. Mit einem entschuldigenden Lächeln löste er sich von dem gefangenen Unterarm und bückte sich erneut, dieses Mal nach den gefallenen Umschlägen. Jean machte keine Anstalten, alles wieder an sich zu nehmen, also trug Jeremy die Last für ihn. Das war das Mindeste, was er tun konnte, befand er. „Nein, das wird es nicht.“ Zweifelnd runzelte Jean die Stirn. „Du urteilst vorschnell.“ Jeremy hob fragend die Augenbrauen. „Bitte?“ Jean schien sich anscheinend jetzt erst bewusst zu werden, was er so eben gesagt hatte und er schluckte sichtbar. „Entschuldigung. Ich wollte nicht unhöflich sein.“ Jeremy winkte einhändig ab. „Bist du nicht. Warum urteile ich vorschnell?“ „Mit ihnen ist nicht zu spaßen.“ Das ließ ihn schon schnauben. „No shit Sherlock. Mit Männern und Frauen, die bei sonnigen 35 Grad im Schatten in schwarzen Anzügen herumlaufen und schwarze, verspiegelte Autos fahren, ist nicht zu spaßen? Wir leben hier glücklich, aber nicht hinter dem Mond, Jean.“ Eben jener runzelte die Stirn. „Was ist ein Sherlock?“, fragte er doch tatsächlich nach und Jeremy blinzelte. „Was?“, echote Jeremy wenig intelligent, bevor er sich besann. Wenn Jean tatsächlich nicht gerne Filme sah, wie sollte er dann Sherlock kennen? „Das ist ein Privatdetektiv aus London, der krude Fälle löst. Eigentlich eine Romanfigur, die aber mehrfach verfilmt wurde.“ Jean ließ sich das durch den Kopf gehen und beschloss dann anscheinend, nicht weiter darauf einzugehen. „Was weißt du über die Moriyamas?“, fragte er anstelle dessen und Jeremy zuckte mit den Schultern. „Kengo Moriyama hat zusammen mit Kayleigh Day unseren wunderbaren Sport gegründet.“ Jeremy verstummte und nach ein paar Sekunden begriff Jean anscheinend, dass da nicht mehr kommen würde. Die Falte auf seiner Stirn wurde steiler, als er sie jemals gesehen hatte und Jeremy hatte das Gefühl, dass dem Anderen gerade viel durch den Kopf ging… viel weniger nettes über Jeremys Wissen über den Sport, den sie beide ausübten. „Kengo Moriyama gehört zu einem Familienclan, von dem man sich besser fernhält. Sie sind erbarmungslos, wenn es um die Durchsetzung ihrer Geschäftsinteressen geht.“ Rechtzeitig, bevor sein Hirn Dinge ausplappern konnte, die er bereuen würde, schloss Jeremy seinen Mund. Wenn die alle so sind wie Riko, möchte ich keinen kennenlernen, lag es ihm auf der Zunge. Dass Jean diese Art von Antwort überhaupt nicht schätzen würde, konnte er sich ausmalen. Er ahnte auch wieso. Jeremy hob die Schale an und nickte in ihre Richtung. „Das hier sieht nicht nach fernhalten aus.“ „Es ist ein symbolisches Geschenk.“ „Wofür?“ Jean zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“ „Und die Umschläge.“ „Anscheinend Geld. Auch das weiß ich nicht.“ „Leihen sie dir Geld? Bist du deswegen von ihnen abhängig?“ Jeremy wusste nicht, was an seinen Worten so amüsant sein mochte, doch anscheinend war Jean gerade so belustigt, dass er seine Lippen tatsächlich zu einem Lächeln verzog. Kurz und kühl, aber es war da. „Nein, das tun sie nicht. Das haben sie noch nie getan und werden es auch nicht.“ Jeremy brannten Fragen auf der Zunge, die er nicht zu stellen wagte, so blieb er stumm und maß das bleiche Gesicht. Seine Aufmerksamkeit blieb an der Beanie hängen, die Jean trug und er spürte Wut in sich. Auf Riko. Auf Evermore und die Männer, die hier waren. Auf sein Land, dass es für solche Arschlöcher möglich machte, jemanden zu schlagen und zu bedrohen und damit davon zu kommen. „Coach Rhemann muss davon wissen“, merkte er vorsichtig an und der Junge neben ihm zuckte zusammen, als hätte er ihn verbrannt. Schon wieder, als wäre es ihm zuwider, als wäre es etwas Schreckliches, dass ihr Coach, dem sie allesamt blind vertrauten, davon in Kenntnis gesetzt wurde. „Man hält sich besser von ihnen fern“, wiederholte Jean, als würde das alles erklären und Jeremy seufzte. Das waren auch Kevins Worte gewesen und die Wiederholung dessen machte es Jeremy nur umso eindringlicher, dass hier etwas geschah, was niemand von ihnen bisher gewusst hatte. Langsam nickte Jeremy und seufzte tief. Schweigen trat zwischen sie, das er zum ersten Mal nicht wirklich mit Leben füllen konnte, weil ihm zuviel durch den Kopf ging, über das er sich bisher keinerlei Gedanken gemacht hatte und für das er noch keine Lösungen hatte. Das forderte ihn heraus und ärgerte ihn gleichermaßen. Schlussendlich zuckte er mit den Schultern und kehrte zu seinem Gegenüber zurück, dessen sorgenvolle Musterung ihm erst jetzt bewusst wurde. Jeremy versuchte sich an einem Lächeln und tatsächlich gelang ihm das auch. „Wie wäre es mit folgendem Vorschlag: ich bringe das Zeug aufs Zimmer, wir statten Coach Rhemann einen Besuch ab und du erzählst ihm das, was du ihm hierüber zu sagen hast. Danach fahren wir dann in die Stadt und schauen uns in dem Kunstdistrict ein bisschen um?“ Jean zweifelte an seinen Worten und es brauchte etwas, bis er den Mut fand, eben jene Zweifel auch in Worte zu fassen. „Wird er diesen Umschlag nicht haben wollen?“, fragte er zögernd und Jeremy hob die Augenbrauen. „Dein Umschlag, dein Geld, dein Konto, Jean Moreau“, erwiderte er eingedenk ihrer vorherigen Diskussion mit spielerischer Strenge. Jean nahm das stumm zur Kenntnis, aber Jeremy sah bereits jetzt die Unsicherheit, die dahinter lauerte. „Ich kann dir gerne dabei helfen, wenn du es möchtest“, bot er daher an und erhielt tatsächlich ein Nicken. ~~**~~ Jean stand vor dem Spiegel ihres Badezimmers und blinzelte ungläubig. In dem weichen Licht der untergehenden Sonne, unterstützt von der Lampe, die über ihm thronte, hatte er einen ungehinderten Einblick auf sein Gesicht, vielmehr auf die bleibende Röte auf seiner Stirn, seinen Wangen und vor allen Dingen auf seiner Nase. Röte, die bei näherem Anfassen wirklich schmerzte, während seine Haut über den Knochen seines Gesichtes spannte. Sacht befühlte er die roten Stellen mithilfe seines Zeigefingers und beobachtete verwundert, wie sie unter Druck weiß wurden, bevor sie zu ihrer Röte zurückkehrten. Der hinter ihm liegende Tag und das Essen, das Knox heute Abend für sie beide gekocht hatte forderten ihren Tribut und er hatte das dringende Bedürfnis, sich jetzt sofort in den Keller zu begeben und zu schlafen. Doch noch musste er warten, bis Knox selbst eingeschlafen war, bevor er sich wegstehlen und endlich die Augen schließen konnte. Jean ließ seine Gedanken zurückschweifen. Coach Rhemann hatte nicht so reagiert, wie er erwartet hatte. Ganz und gar nicht. Nachdenklich hatte er sich angehört, was Jean ihm beinahe zu leise um gehört zu werden, erzählt hatte. Er hatte genickt und sich dann dafür bedankt, dass Jean so offen zu ihm war und dieses Zusammentreffen mit ihm geteilt hatte. In der Rangliste der Sachen, die Jean überrascht hatten in der Woche, die er bereits hier war, war das ganz weit oben. Niemals hatte der Herr sich bei ihm bedankt, im Gegenteil. Er hatte sich dafür bedanken müssen, dass dieser ihn wieder und wieder gezüchtigt hatte. Für jeden einzelnen Schlag hatte er sich bedanken müssen. Wie er auf den Dank seines Trainers zu reagieren hatte, das war ihm bis jetzt nicht klar und war es schon gar nicht gewesen, als er Rhemann stumm wie ein Fisch und ebenso dumm angestarrt hatte. Bevor er sich verbeugen konnte aus lauter Hilflosigkeit, hatte Rhemann Knox und ihn aus seinem Büro herausgescheucht. Sein Kapitän hatte daraufhin keine Zeit verloren und seine Drohung wahrgemacht, ihn in den Stadtteil zu verschleppen, der vor Kunst an jeder Straßenecke nur so strotzte und Jean in all seiner visuellen Überflutung überreizt hatte. Was, wenn nicht das, symbolisierte das perfekt sein momentanes Leben. Der Schatten der Moriyamas lastete für immer auf ihn, sie würden ihm immer in den Nacken atmen und sein Leben kontrollieren. Er würde den Vertrag einhalten müssen, den Josten für sich selbst, Kevin und ihn geschlossen hatte um sie alle zu retten. Seinen geänderten Vertrag, der darauf beruhte, dass seiner Familie durch Rikos Verhalten Schande bereitet worden war. Schande. Dass er nicht lachte. Ja, Riko hatte ihn vergewaltigen lassen um zu sehen, welche Art von Trauma es in Jean auslösen würde. Das war aber nicht das Einzige gewesen, dass er ihm angetan hatte und das war den Moriyamas vollkommen egal. Es zählte nur die intime Gewalt des unfreiwilligen Geschlechtsverkehrs, nicht aber alles andere, das ihm die Jahre über angetan worden war. Angefangen von der Freiheitsberaubung, als sie ihn nach Evermore gebracht hatten, gegen seinen Willen. Als sie ihn dort eingesperrt hatten in dem Keller ohne Sonnenlicht. Nichts davon bedauerte die Familie, nur, dass Riko ihn fünfmal hatte ficken lassen. Und entgegen all dieser Erinnerung an Gewalt und Erniedrigung stand die heile, schöne Welt der Trojans, die nichts von dem kannte, was Jeans Leben gewesen war. Jean kam sich so vor wie eines der kakophonischen Kunstwerke, die er heute gesehen hatte. Ein dunkles Etwas, das Unwohlsein hervorrief, einer Welt voller Sonnenschein und Wärme ausgesetzt und präsentiert, auf dass jeder einen Blick auf diese Dunkelheit werfen und sich glücklich schätzen konnte, nicht Teil von ihr zu sein. Einen Monat und drei Wochen noch. Daran änderten auch die Umschläge und die Vase nicht, das Verhalten des Trainers nicht. Im Gegenteil. Jean würde sich nicht wundern, wenn sein Entschluss dadurch am Ende nicht noch gestärkt werden würde. Doch zunächst einmal hatte er ganz andere Dinge, die seine Aufmerksamkeit forderten. Er hatte einen Sonnenbrand. Einen Sonnenbrand. Jean erinnerte sich nicht, wann er zuletzt einen gehabt hatte und das Gefühl, so unangenehm es auch war, war im Vergleich zu seinem sonstigen Schmerz der letzten Jahre wundervoll, bedeutete es doch, dass er draußen in der Sonne gewesen war. Stundenlang. Gegen seinen Willen hatte er sich von diesem Stadtteil und seiner Kunst einfangen lassen und Knox‘ Gerede wie das Hintergrundrauschen der Straßen über sich hinwegwaschen lassen. Weg von den Erinnerungen an sein Gespräch mit der Anwältin. Er hatte sich sogar dazu breitschlagen lassen, das bunte Gemälde von Regenbogenflügeln an einer Häuserwand für Renee zu fotografieren und es ihr schicken. Ganz zu ihrer Freude. Jean blinzelte, als er merkte, dass die Ansätze eines Lächelns seine Lippen nach oben ziehen wollten beim Gedanken an sie. Schnell wandte er sich ab und verließ beinahe fluchtartig das Bad, sich Auge in Auge mit Knox wiederfindend, der mit einem seiner typischen Lächeln eine Tube an unidentifizierbarer Creme hochhielt. „Hier, das ist eine schmerzstillende Feuchtigkeitscreme, die deinen Sonnenbrand erträglicher machen wird“, erläuterte Knox die Existenz eben jener Tube und wieder kam Jean nicht umhin, sich zu fragen, wieviel anders es denn noch werden konnte in Evermore. Niemals, zu keinem Zeitpunkt, hatte Riko ihm Schmerzmittel gegeben. In all den Jahren hatte er kein einziges Mal versucht, etwas zu lindern. Dass es zu Knox passte, war unumstritten. Dass Knox auch bereit dazu war, ihm Gutes zu tun, begriff Jean nur langsam und noch viel widerwilliger. Wie unsinnig es ihm doch erschien, dass es Linderung für einen läppischen Sonnenbrand gab. „Danke“, murmelte Jean und warf einen Blick auf die Schale, die auf dem Nachttisch an seinem Bett stand. Er wollte sie da nicht haben und würde sie morgen – in einem Akt neu aufgekommener Rebellion - in das kleine Wohnzimmer verbannen. Am Besten direkt neben Days Puzzle, denn wo gehörte sie besser hin, als zur Nummer zwei, dem goldenen Jungen, der seine gebrochene Hand nicht ertragen hatte und geflohen war. Er tat sich etwas von der Creme auf die Finger und verrieb sie auf der warmen Haut, bevor er die Tube an Knox zurückgab und dieser ihn mit Stolz auf dem braungebrannten Gesicht betrachtete. „Ich lege sie dir zu deinen Sachen ins Badezimmer. Nach drei Tagen dürfte das Schlimmste überstanden sein. Am Besten wirkt sie, wenn du sie jeweils morgens und abends aufträgst.“ Schweigend starrte Jean Knox hinterher, wie dieser seinen Worten Taten folgen ließ. Mit Gewalt musste er sich ins Gedächtnis rufen, dass dieser Junge sein Kapitän war. Und dass er für dessen Überlegenheit wieder und wieder bestraft worden war. Das fiel ihm schwerer als gedacht. ~~~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 10: Der Überfall ------------------------ Unsanft wurde Jeremy aus seinem Traum von Männern in schwarzen Anzügen, die ihn über den Campus jagten, gerissen. Durch was genau konnte er im ersten Moment erst gar nicht sagen und es war sein Instinkt, der ihn aus seinen wirren Träumen hochschießen ließ. Wild sah er sich um und noch viel ungestümer warf er sich zur Seite – heraus aus dem Bett auf den harten Boden, der keinen einzigen Millimeter nachgab. Er grollte, als Schmerz seine Seite lang explodierte. Jeremy stöhnte unwillig auf, als sein schlafesträger Geist bemerkte, was er hier eigentlich tat und viel wichtiger, warum er so reagierte, wie er reagiert hatte. Es klopfte an der Tür, wobei Klopfen nicht wirklich das richtige Wort war. Das Geräusch einer gegen die Tür donnernden Faust versetzte ihm einen morgendlichen Schrecken, auf den er gerne verzichtet hätte. „Knox, ich weiß, dass du da drin bist! Los, mach deine gottverdammte Tür auf!“, wurde eben jener untermalt von einem spanisch akzentuierten, unwirschen Fluch, der nur von einer einzigen Person auf diesem ganzen Planeten stammen konnte. Alvarez. Sara Alvarez, Backlinerin und größtes, frühaufstehendes Miststück, dem er je begegnet war und mit dem er je Freundschaft geschlossen hatte. Ja, sie und Laila sollten heute ankommen und ja, Jeremy erinnerte sich noch daran. Nein, er erinnerte sich nicht daran, dass ihre Ankunftszeit so verdammt früh gewesen war! Ein Blick auf Jeans Bett sagte ihm, dass der andere Junge schon wach war und nicht durch diesen Terror geweckt worden war. Jeremy dankte wem auch immer im Himmel darum, wollte er sich doch nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn der sowieso schon zurückhaltende Ex-Raven durch diesen Hurricane aus dem Bett geworfen worden wäre. Trotzdem musste er sobald wie möglich die Tür öffnen und so verhindern, dass sie wortwörtlich eingetreten wurde. Grollend schraubte sich Jeremy in die Höhe und strauchelte in Richtung Flur, mit einem schnellen, entschuldigenden Lächeln vorbei an Jean, der mit einem Glas Wasser in der Küche saß und dem der Schreck über den Lärm nur zu deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Vielleicht war das aber auch eine optische Täuschung, hatte der Junge sich doch die Kapuze seines Hoodies so tief ins Gesicht gezogen, dass man das Tattoo auf seiner Wange nicht sah. Beinahe schon hilfesuchend ruhten die grauen Augen auf Jeremy, der, wie er nun sah, mit tief sitzender Boxershorts und Haaren aus der Hölle mitten im Raum stand. „Sorry!“, murmelte er und strauchelte weiter. „Ohne Scheiß, Alvarez, ich bring dich um!“, schrie er zurück, während er die Tür aufriss. Natürlich standen Alvarez und Laila davor. Natürlich grinsten sie ihn an, als wäre es Mittag und nicht früh am Morgen. So, als wäre er nicht da, drängten die Beiden sich in das Apartment und Jeremy fiel siedendheiß ein, auf was er Jean noch hatte mental vorbereiten wollen. Auf was und auf wen. Das war durch die Ereignisse des letzten Tages vollkommen in den Hintergrund geraten und nun hatte er den Salat. „Guten Morgen, Sonnenschein, Frühstück ist hier!“, grölte Alvarez und drückte ihm gefühlte tausend Küsse auf die Wangen, bevor sie ihm durch seine Haare wuschelte und an ihm vorbeidrängte. Ihre zu einem Zopf hochgebundenen, dunkelbraunen Haare wehten wie ein langer Busch hinter ihr her, während Jeremy hilflos den Mund öffnete. Um sie oder Jean vorzuwarnen, wusste er nicht, aber das spielte im nächsten Moment auch keine Rolle mehr, als Laila ihn weit weniger enthusiastisch, aber nicht weniger liebevoll umarmte und ihm mit einem ebenso morgenmüden Augenrollen zu verstehen gab, was sie vom Überfall ihrer Freundin hielt. Sie war, wie er auch, kein Morgenmensch. Absolut gar nicht. Doch das war jetzt nicht so wichtig, befand er, als er sich mit entschuldigender Hast von ihr löste und Alvarez in die Küche nacheilte, wo diese mit hocherhobener Augenbraue stand. „Du hast Männerbesuch und keine Socke an der Tür“, kam es anklagend von ihren vollen Lippen und Jeremy spürte unaufhaltsame Röte seinen Nacken und seine Wangen hochkriechen. Jean war viel, aber kein Männerbesuch, auch wenn er sich nach einem Moment darüber nachdenken bewusst wurde, wie es wirken musste, dass plötzlich ein fremder Junge in seiner Küche saß, während er aussah, als käme er frisch aus dem Bett. Weil er verdammt nochmal frisch aus dem Bett kam! Aber eben nicht aus diesem bestimmten Bett. Laila trat hinter ihm in die Küche. Wenigstens sie hatte Erbarmen und starrte nicht so offensichtlich begaffend wie ihre Freundin. Mit einem Lächeln und einem Winken grüßte sie seinen Mitbewohner. Jean hob die Augenbraue und Jeremy hatte das Gefühl, dass der andere Junge etwas in Richtung Wand gerückt war. „Willst du uns nicht vorstellen?“, knurrte Alvarez währenddessen und reichte ihm die Tüte mit dem Frühstückskram, die sie mitgebracht hatten. Jeremy nahm sie seufzend an, das Unvermeidliche nicht länger herausschiebend. „Jean, das sind Alvarez und Laila. Ihr beiden, das ist Jean.“ „Ah, sind sexy Franzosen en vogue, Captain? Ich finde ja, dass dein Männergeschmack schon immer besser war als dein sonstiger Verstand! Hey Mr. Tall, Dark and Handsome.“ Alvarez grinste anzüglich und streckte Jean die Hand entgegen, die dieser pointiert zugunsten eines Blickes auf Jeremy ignorierte. Wie sehr wünschte der blonde Junge sich in diesem Moment doch, dass der Boden sich auftun und ihn verschlucken würde. Am Besten jetzt sofort. Er stellte die Tüte auf die Anrichte und räumte sie aus. Ein bisschen gönnte er Alvarez den peinlichen Moment der Stille, der sie für den Bruchteil einer Sekunde unsicher machte, als sie weiter von Jean ignoriert wurde. „Jean ist im Übrigen nicht meine Flamme, sondern mein neuer Mitbewohner, unser neues Teammitglied und dein neuer Backlinerpartner, Alvarez. Ihr kennt euch bereits, seid euch das eine oder andere Mal bei Spielen gegen die Ravens über den Weg gelaufen. Ach ja… und er ist besser als du, du spanisches Miststück“, setzte er den Todesstoß an und drehte sich mit einem breiten Lächeln zu allen Dreien um, deren ungeteilte Aufmerksamkeit er nun hatte. Für die Dauer von zehn Sekunden herrschte absolutes Schweigen, dann riss Alvarez ihre hellbraunen Augen auf. Wild flog ihr Blick zwischen ihm und Jean hin und her. „Was?! Niemals! Moreau? Tatsache? Jean Moreau? Nicht dein Ernst, Kapitän! Wieso erfahre ich jetzt erst davon? Wieso hast du mir das bisher verschwiegen? Du hättest einen Ton sagen können! Schreiben! Eine Nachricht, Rauchzeichen, verdammt nochmal, irgendetwas! Ein Raven! Bei uns! Und ausgerechnet noch der beste Backliner der Liga! Ohne Scheiß! Oh dios mio, dass ich das noch erleben darf!“, prasselten Vorwürfe über Vorwürfe auf ihn ein und Jeremy seufzte. Er schlug nach dem anklagend erhobenen Zeigefinger und grollte. „Weil es ein kurzfristiger Transfer war, den wir erst zum Start der Saison offiziell bekannt geben. Und nun dreh deine Lautstärke runter, ich habe keine Lust, mein Trommelfell am frühen Morgen zusammenkratzen zu müssen.“ Als sie Luft holte um ihm zu widersprechen, hob er seinerseits den Finger. Nun war sie es, die danach schlug und Jeremy grollte. Doch das interessierte Alvarez schon nicht mehr, als sie sich abrupt an Jean wandte und ihn mit ihren Händen in den Hüften anstarrte. So schweigsam, wie der Ex-Raven bisher auch gewesen war, so sehr verriet ihn nun seine Mimik. Angespannt hatte er die Hände auf seinen Oberschenkeln zu Fäusten geballt und schien auf etwas zu warten, das in seinen Augen unweigerlich kommen würde. Jeremy ahnte auch schon, was es sein könnte und deswegen musste er einschreiten. Doch Alvarez hatte ein Einsehen und kam ihm zuvor. Schnaubend richtete sie sich auf. „Das braucht lange und viel Eis, damit ich dir das verzeihe, Captain, nur damit du es weißt.“ Grollend ließ sie sich neben Jean auf einen der Stühle am Tisch nieder und stützte ihren Arm auf die Platte. Mit dem Kinn auf ihrem Handballen starrte sie den Backliner aufmerksam an, der ihr immer schon ein Vorbild gewesen war. Sie Fangirl zu nennen, hieße, ihr den Krieg zu erklären, also erlaubte sich Jeremy das nur hinter vorgehaltener Hand und auch nur in seinen Gedanken. Hier und jetzt war es aber nur zu deutlich zu sehen und er schnaubte. „Jean, möchtest du Kaffee?“, fragte Jeremy um die Aufmerksamkeit des angespannten Jungen auf sich zu ziehen und tatsächlich. Für einen Moment ließ dieser Alvarez aus seinem Blickfeld und nickte schweigend. Jeremy lächelte und wandte sich fragend an Laila. Auch sie nickte und ließ sich gegenüber ihrer Freundin am anderen Ende des Tisches nieder. „Laila, hi“, war sie bedeutend leiser und unaufdringlicher als ihr Pendant. Im Gegensatz zu Alvarez erhielt sie deswegen vermutlich auch ein Nicken. Da schüttete Jeremy vor Freude doch gleich einen Löffel Kaffee neben den Filter und rollte über sich selbst begeistert die Augen. „Also, du französisches Wunderkind von einem Backliner. Erzähl mal, was verschlägt dich plötzlich hierhin zu uns und weg von deinem „Nummer eins wir gewinnen immer“-Team?“ Jeremys bereits seit Tagen auf Jeans Laute geprägtes Gehör nahm sehr deutlich das Geräusch der überraschten Verwunderung auf, das die Lippen des Jungen verließ. „Ich habe das Team gewechselt“, sagte er rau und räusperte sich. Jeremy wartete mit dem lauten Einschütten des Wassers in die Kanne, ob Jean seine Antwort noch etwas erläuterte, doch da kam nichts. Ganz zum Unbill von Alvarez, die unzufrieden die Stirn runzelte. Dann grinste sie verschlagen. „Hast du endlich erkannt, dass wir die Besseren sind?“, zwinkerte sie und Jean schnaubte derart laut, dass Jeremy sich überrascht umdrehte. „Wohl kaum. Ihr habt gegen die Foxes verloren“, erwiderte Jean mit hochgradigem Zweifel in der Stimme und mehr Emotionen, als Jeremy die letzte Woche über an ihm gesehen hatte. Wobei mehr Emotionen nicht richtig war… mit mehr Engagement und Beteiligung. Jean wirkte in seinem Element. Wie die wenigen Male zuvor auch schien es, als würde hier der eigentliche Junge durchbrechen, den er sonst so gut zu verstecken wusste. „Sie waren zu neunt, wir auch. Das war ein faires Match.“ Jean rollte mit den Augen. „Das war eine dumme Entscheidung.“ Alvarez schnaubte. „Das nennt man Sportsgeist.“ Jean hob die Augenbraue und machte deutlich, was genau er davon hielt. „Exy ist ein Wettkampf. Die Mannschaft als solches muss eins sein, nicht jedoch die eigene Mannschaft mit der des Gegners.“ „Außerdem ist unser Captain hier ein großer Fanboy von Kevin. Da konnte er die Gelegenheit doch nicht einfach so verstreichen lassen und…“ Weiter kam sie nicht, als Jeremy ihr den Mund zuhielt und zuckersüß, aber mit roten Wangen lächelte. „Wie wäre es, wenn du deine vorlaute Klappe hältst?“, fragte er und zwinkerte Laila zu, die über das Gebaren ihrer Freunde nur den Kopf schütteln konnte. „Fanboy?“, hakte ausgerechnet Jean nach und Jeremy stöhnte entgeistert auf. „Oh nein, jetzt hast du sie getriggert“, beschwerte er sich weinerlich, während er seine Hand zischend zurückzog, als Alvarez hineinbiss. „Also. Unser selbstbewusster Captain hier…“, begann Alvarez dramatisch und versuchte Jeremy vor die Stirn zu schlagen. Er fing ihre Hand ein und biss aus Rache in den Zeigefinger. „…also…unser kleiner Menschenfresser hier ist zu einem rot angelaufenen Häufchen Fanboyschleim geworden, als dein ehemaliges Teammitglied nach einem unserer Spiele auf ihn zugekommen ist. Und weißt du, was er gemacht hat?“ Jean schüttelte den Kopf und Jeremy hatte den Eindruck, als wolle er auch gar nicht wissen. Alvarez übersah das geflissentlich. „Day hat ihm ein Kompliment für seine Spielweise gemacht und unser werter Kapitän hat sich über Wochen nicht mehr eingekriegt. Ekelhaft dieses Fanboytum, ich sage es dir. Und seitdem sind die Beiden… platonisch verliebt ineinander.“ Alvarez schüttelte sich angewidert und Jeremy schnaubte. „Das ist überhaupt nicht wahr.“ „Deswegen hast du dir auch überhaupt keine Sorgen gemacht, als er seinen Skiunfall hatte.“ „Quatsch.“ „Deswegen hast du dich auch nicht wie ein Schnitzel gefreut, als er zu den Foxes gewechselt ist und hast versucht, an seine Handynummer zu kommen.“ „Stimmt gar nicht, das war Zufall.“ „Deswegen…“ „Es war kein Skiunfall“, durchbrach Jeans leise und raue Stimme ihren Disput und unweigerlich brachte er sie alle damit zum Schweigen. „War es nicht?“, fragte Laila schließlich und nach einem Augenblick des nachdenklichen Schweigens schüttelte Jean den Kopf. „Riko hat ihm aus einem Wutanfall heraus die Hand zertrümmert.“ Jeremy blinzelte, unfähig, die ehrlichen und schrecklichen Worte zu begreifen, die die Lippen des Backliners verlassen hatten. Alvarez starrte ihn an, ebenso Laila und verflogen war das spielerische In-die-Pfanne-hauen. „Er hat was getan?“, fragte Laila leise nach und Jean zuckte mit den Schultern. „Warum hat Kevin das nie gesagt?“, fragte Jeremy. „Weil er Angst vor Riko und Evermore hat.“ „Aber jetzt ist Riko tot.“ „Jetzt spielt es keine Rolle mehr. Er ist bei den Foxes und hat letztes Jahr den Titel gewonnen. Er hat die Schlaghand gewechselt und wird selbst mit dieser Teil des Nationalteams werden, denn das ist das Einzige, was er will.“ So verächtlich wie jetzt, hatte er Jeremy Jean nur ein einziges Mal erlebt: als er ihn ausgelacht hatte, kurz bevor Jeremy aus ihrer gemeinsamen Wohnung geflohen war. Unwillkürlich fragte sich Jeremy, ob sich die Verachtung auf das bezog, was Riko getan hatte oder auf Kevin selbst. Sicher war er sich da nicht. „Ihr seid doch Freunde, oder?“, fragte er dementsprechend vorsichtig und Jean hob schweigend seine Augenbrauen. Er sagte nichts darauf, doch Jeremy spürte das Nein beinahe schon körperlich. „Also Kaffee“, lenkte Laila das Thema wieder auf ungefährlichere Bahnen und Jeremy richtete sich auf. „Kaffee, genau. Und was habt ihr zum Frühstück mitgebracht?“ Alvarez deutete nachlässig hinter sich. „Nur Süßkram, wir wissen doch, was du gerne hast, Captain! Wir hatten allerdings Mr. still Tall, Dark and Handsome hier nicht auf dem Schirm. Also, Backliner Nummer zwei bei den Trojans… was frühstückst du?“ Dass Jean in keinem Fall auf seine Spitznamen vorbereitet gewesen war, sah er an dessen fassungslosen Ausdruck, der für exakt drei Sekunden gut lesbar für alle auf seinem Gesicht stand und erst nach und nach vollständig hinter der üblichen Ausdruckslosigkeit verschwand. „Rührei mit Toast“, presste er schließlich hervor und Jeremy machte sich daran, eine der Pfannen aus dem Schrank zu holen. „Kommt sofort“, grinste er in sich hinein und richtete den Frühstückstisch an, während Alvarez Jean in eine Taktikdiskussion verwickelte, die dieser tatsächlich angeregt annahm. Auch wenn das bedeutete, dass er die Worte seiner Mitbacklinerin akribisch auseinandernahm und skrupellos dagegen argumentierte. Dass seine Stimme dabei mehr und mehr an einem weichen, französischen Dialekt gewann, fiel Jeremy erst nach und nach auf. Das machte seine direkten, manchmal schon grausamen Einschätzungen von Leistungen und Fehlleistungen nicht ganz so schlimm, befand er. Alvarez und Laila wohl auch, die angeregt mitdiskutieren, während Jeremy einfach mal schwieg und genoss, wie sich Jean den beiden Mädels und ihrem Thema öffnete. ~~**~~ Fiona Chandler Wieder und wieder wanderten Jeans Augen über den Namen der Teamärztin der Trojans, während er zusammen mit Knox darauf wartete, dass sie ihr Telefongespräch beendete und ihn auf seine Tauglichkeit untersuchte. Er hoffte inständig, dass Knox nicht mit hineinkommen würde, ebenso wie er hoffte, dass er die Ärztin davon überzeugen konnte, ihn trotz der Verletzungen und Narben spielen zu lassen. Bei seinem Glück und der Einstellung der Trojans zu jedweder Form der Gewalt, waren seine Chancen, Pech zu haben, gar nicht mal so gering. Nervös knetete Jean seine Finger. Er würde sich vor ihr ausziehen müssen und sie würde Fragen zu den Narben stellen. Dass die Krankenschwester der Foxes ihn nur in Boxershorts gesehen hatte, war schon schlimm genug gewesen. Zu dem Zeitpunkt war er aber nicht genug bei Bewusstsein gewesen, um wirklich nervös oder abgeschreckt davon zu sein. Das war dieses Mal anders. Man sollte meinen, dass seine Erinnerungen zwischen Riko, den Ravens, die sich ihm aufgezwungen hatten und anderen Unbeteiligten unterscheiden konnten, doch weit gefehlt. Er hatte Angst davor, dass er erneut keine Wahl haben würde und es über sich ergehen lassen müsste. Wieder, weil es sein Kapitän von ihm verlangte. Gerade deswegen hatten ihn auch die Worte der aufdringlichen Backlinerin beim Frühstück so kalt erwischt. Sein Anfangsverdacht, dass der homosexuelle Kapitän der Trojans ihn nur zu sich ins Apartment geholt hatte um leichter an ihn heranzukommen, war mit einem Mal wieder aufgeflammt und hatte ihn als nervöses Nervenbündel zurückgelassen. Das war erst besser geworden, als der halbnackte Junge gezeigt hatte, wie peinlich ihm diese Verwechslung gewesen war und als sie ein unverfängliches Thema angeschnitten hatten. Jean hatte sich so sehr entspannt, dass er die bittere Wahrheit über Days gebrochene Knochen einfach so herausposaunt hatte. Das Bedürfnis, diese unnötige PR-Maßnahme des Skiunfalls mit der Wahrheit zu kontern, war so groß gewesen, dass Jean schneller, als er darüber hatte nachdenken können, damit aufgewartet hatte. Mit der halben Wahrheit, denn Riko hatte an dem Tag nicht nur Days Knochen gebrochen. Auch an ihm hatte er sich ausgetobt und die Narben dessen trug Jean auch heute noch auf seinem Rücken. Sichtbar für die Ärztin und auch für Knox, sollte er dabei sein. Die Tür ging auf und Jean zuckte regelrecht zusammen, als eine Frau heraustrat, die genau so war, wie Knox sie beschrieben hatte. Kleiner als er, burschikos, mit schwarzen, langen Rastazöpfen, die ihr bis zum Hintern reichten. Ihr Lächeln war warm und freundlich, wie das Wetter, wie alles und jeder hier. „Mr. Moreau?“ Die Förmlichkeit in ihrer Stimme überraschte ihn und er schluckte schwer. Schweigend nickte er und erhob sich. Er war gut anderthalb Köpfe größer als sie, stellte er fest, doch das musste nichts heißen. Grausamkeit kannte so etwas wie körperliche Grenzen nicht. „Kommen Sie doch bitte hinein. Die Untersuchung dauert nicht lange und ist nur eine Routinesache, die alle Spieler der USC durchleben müssen.“ Er folgte ihr in ihr aufgeräumtes, helles Büro, das unter anderen Umständen gemütlich gewesen wäre. Es hatte wie jeder Raum hier in Kalifornien ein Fenster, durch das verschwenderisch viel Licht und warme Luft in das Zimmer drang. In den Regalen standen Medizinbücher und auf ihrem penibel geordneten Schreibtisch hatte sie eine Akte mit seinem Namen liegen. Die restlichen Akten waren anscheinend sorgfältig in ihrem abgeschlossenen Metallschrank verstaut. Mit einem Lächeln ließ sie sich auf ihrem braunen Ledersessel nieder und bedeutete ihm, vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Vorsichtig ließ sich Jean auf dem überraschend bequemen Stuhl nieder. „Erst einmal ein herzliches Willkommen an der USC auch von mir, Mr. Moreau. Ich hoffe, sie konnten sich die letzte Woche schon etwas einleben und Orientierung finden auf unserem wunderschönen aber verwinkelten Campus? Nein, hatte er nicht, obwohl Knox ihm alles gezeigt hatte. Nächste Woche sollte es losgehen und Jean hatte keine Ahnung, wie er zu seinen Kursräumen kam. Geschweige denn, dass er eine Ahnung davon hatte, wie er es Knox mitteilte, dass er nicht in der Lage war, auch nur einen Schritt ohne eine andere Person vor die Tür zu tun. Der Keller ging notgedrungen, weil er schlafen musste. Ansonsten… Er erinnerte sich daran, dass von ihm eine Antwort erwartet wurde und nickte. „Vielen Dank.“ Das Lügen fiel ihm von Mal zu Mal einfacher und es ersparte ihm sorgenvolle Blicke und unnötige Nachfragen. Riko hätte ihn nicht so leicht damit durchkommen lassen, ganz zu schweigen vom Herrn selbst. „Sehr gut. Ich bin mir aber auch sicher, dass Mr. Knox Sie gerne noch einmal an die Hand nimmt, damit sie Ihre Kurse in den ersten Wochen auch pünktlich erreichen.“ Wieder nickte Jean, auch wenn es ihm vor dem Gedanken grauste, dass Knox ihn anfasste. Das hatte der andere Junge mehrfach getan und jedes einzelne Mal hatte er ihm eine Mordsangst damit eingejagt. Berührungen waren dazu gedacht, ihm Schmerzen zuzufügen. Bis auf Renees Berührungen. Und Abbys. Sie waren eine Ausnahme und auch sie taten ihm auf ihre ganze spezielle, liebevolle Art weh. „Haben Sie Unterlagen mitgebracht?“ Stumm schüttelte Jean den Kopf. Er hatte die Krankenschwester der Foxes darum gebeten, ihm keine Akte mitzugeben und all das, was sie sich über ihn notiert hatte, zu vernichten. Abby hatte es verstanden und war seinem Wunsch gefolgt. Die Edgar Allan würde der USC keinerlei Akten zur Verfügung stellen können, da der ansässige Arzt ihn niemals zu Gesicht bekommen hatte. Er hatte weggesehen, wie alle anderen auch. Dass würde diese Frau hier aber nicht tun und Jean graute es jetzt schon vor dem Moment, in dem sie seine Narben sah. „Okay, gar kein Problem. Dann werden wir den Anamnesefragebogen komplett durcharbeiten müssen. Ich möchte Sie bitten, mir möglichst detailliert auf die einzelnen Fragen zu antworten.“ Jean nickte und ließ die Fragen der Ärztin über sich hinwegwaschen. Einige von ihnen konnte er beantworten, andere nicht. Wieder andere wollte er nicht beantworten und stockte entsprechend. Hatte er ungeschützten Geschlechtsverkehr gehabt? Nein. Sie hatten jedes Mal Kondome benutzt bei ihren Vergewaltigungen. Gab es in seiner Familie vererbbare Krankheiten? Er wusste es nicht und hatte keine Familie mehr, die er fragen konnte. Hatte er Knochenbrüche in den letzten Jahren gehabt? Ja. Wie viele? Jean musste es nachzählen und die Antwort ließ die Ärztin bei ihren Notizen innehalten. Wo? Als er begann, sie alle aufzuzählen, hatte sie ihren Stift längst sinken lassen und sah ihm nachdenklich in die Augen. Erst nach einer kurzen Pause nahm sie das Schreiben wieder auf und kam zum Ende des Fragebogens. Mit einer resoluten Bewegung schob sie den Stapel zusammen und deutete auf die Liege, die im offenen Nebenzimmer stand. „Wenn Sie sich bitte bis auf die Unterwäsche freimachen würden, ich komme gleich nach.“ Da war er, der Satz, der ihm solche Angst machte. Sich auszuziehen war ein Problem. Sich vor Fremden auszuziehen, ein Ding der Unmöglichkeit. Alles in ihm weigerte sich, jede Faser seines Körpers schrie ihn an, dass er es nicht konnte, weil er wusste, was danach kam. Was immer gekommen war, wenn er sich hatte ausziehen müssen oder ausgezogen worden war. Seine Hände zitterten so sehr, dass er sie nicht rechtzeitig verstecken konnte vor ihrem aufmerksamen Blick, der sich auf diese Bewegung richtete. „Mr. Moreau.“ Ihre Stimme klang zu versöhnlich um nicht an den Innenseiten seiner Trommelfelle zu kratzen. Sie klang wie die Krankenschwester, als diese versucht hatte, ihn zu einem Löffel Suppe zu überreden. Sie klang wie Renee, als diese versuchte, ihn zum Bleiben zu überreden. Sie klang zu nachsichtig um nicht seine Mauern aus Ablehnung und Distanz einzurennen. Er brauchte dieses Verständnis nicht, im Gegenteil. Er verfluchte es mit allem, was er aufzubieten hatte…momentan nicht sehr viel, musste Jean sich eingestehen. Der Gedanke an Renee und Abby machte ihm wieder bewusst, dass er sich zu fügen hatte um sie nicht zu gefährden. Wenn er sich nicht auszog, würde sie ihn nicht freigeben für das Training und für die Spiele. Wenn er nicht bis zu seinem Tod spielen und nur auf der Bank sitzen würde, dann würden die Moriyamas ihnen wahrscheinlich wehtun um ihn dazu zu zwingen. „Es geht schon“, murmelte er und erhob sich abrupt. Er musste es für Renee tun. Für die Krankenschwester. Jean schluckte. Bevor er es sich anders überlegen konnte, trat er überhastet in das Untersuchungszimmer und zog sich das Shirt über den Kopf. Seine Hose folgte, ebenso wie die Turnschuhe. Fröstelnd schlang er die Arme um sich und senkte den Blick zu Boden, als er hörte, dass die Ärztin sich ebenfalls erhob. Renee…sie hatte es verdient, nach all dem, was sie für ihn getan hatte. Sie hatte verdient, dass er stark war für sie, denn Ravens gab es immer nur in Paaren. Er musste für sie sorgen so wie er für Josten gesorgt hatte, als dieser die Winterferien im Nest verbracht hatte. Trotz all dessen Dummheiten, trotz all seines Widerstandes. Doktor Chandler blieb einen Moment im Türrahmen stehen, bevor sie zu ihm kam und in sein eingeschränktes Sichtfeld trat. Gerade außerhalb seiner Reichweite, gerade weit genug, dass sie ihn beobachten konnte, ihn und seine Narben. „Mr. Moreau, wir müssen das nicht tun. Wir können die Untersuchung auch auf einen späteren Zeitpunkt verschieben, wenn Sie es wünschen.“ Wenn er es wünschte? Wieso war es plötzlich so wichtig, was er wünschte? Vor allen Dingen, da er noch nicht einmal wusste, was er wünschte. Er wusste es einfach nicht. Seit Jahren hatte er keine eigenen Wünsche mehr haben dürfen und jetzt wurde er ständig nach seiner Meinung gefragt. Nein, nach einer Meinung, die er nicht hatte. Wie denn auch? Jean schüttelte stumm den Kopf und sah hoch, mehr aus einem Akt der Verzweiflung als alles andere. Er glaubte zu wissen, was er in ihren Augen sehen würde. Mitleid, Bedauern, Schock. Doch er irrte…mal wieder. Ihre schwarzen Augen ruhten ernst auf ihm, beinhalteten aber keine der erwarteten Emotionen. Er sah Verständnis und Akzeptanz, professionelle Distanz zu ihm und dem Schlachtfeld, das sein Körper darstellte. Das war ihm tausendmal lieber als es alles andere jemals gewesen sein könnte und so fühlte er sich irrationaler Weise nicht ganz so nackt. Mit beruflicher Distanz besah sie sich seine Narben und deren Beschaffenheit. Die Finger, mit denen sie seine Narben und ihre Struktur erfühlte, fühlten sich nicht an wie seine persönliche Hölle. Ihm war unwohl, ja, aber er war in der Lage, das durchzustehen. Zumindest solange, wie er sie sah und ihre Bewegungen voraussagen konnte. Mit aller gebotenen Vorsicht löste sie die Pflaster von seiner Haut und warf einen kritischen Blick auf die verheilenden Wunden, insbesondere die an seiner Hüfte, bei der Riko mit einem Messer seinen Knochen nachgezeichnet hatte. Wieder und wieder und wieder, nur um dann mit eben jenem Messer unter den Knochen zu hebeln um zu schauen, wie weit sich dieser anheben ließ. Es war eine der letzten Wunden, die Riko ihm zugefügt hatte und wohl diejenige, die am Gefährlichsten gewesen war. Zumindest hatte die Krankenschwester ihm das erzählt und so sacht wie sie nur konnte, die genähte Wunde versorgt, die ihm das Stehen und das alleine Gehen für die ersten anderthalb Wochen unmöglich gemacht hatte. Er hatte sie beim Laufen wieder belastet und entsprechend wütend und gereizt war sie nun auch, was die Ärztin zu einem Stirnrunzeln veranlasste. „Darf ich annehmen, dass diese Narben und Wunden aus Ihrer Zeit in Evermore stammen?“, stellte sie die erste konkrete Frage und Jean nickte. Was sollte er auch verneinen, was sie auf seinem Körper sah? Schweigend untersuchte sie die restlichen Narben und befühlte sacht das zerstörte und teilweise verknotete Gewebe. Jean starrte währenddessen auf die Sonne, die durch das Milchglas in den Raum fiel. Das, was unweigerlich folgen würde, rückte näher und näher und als es schlussendlich da war, raubte es ihm den Atem. Doktor Chandler richtete sich auf und an ihrem wissenden Gesichtsausdruck sah er bereits, dass sie sich nun seinem Rücken widmen würde. Dort, wo er sie nicht sehen würde. Unweigerlich versteifte Jean sich und nutzte die Gelegenheit um seine Arme um seine Körpermitte zu schlingen. „Ich würde mir gerne nun Ihren Rücken ansehen. Ich habe einen Spiegel, dort hinten in der Ecke, wenn Sie möchten, können Sie mir dabei über die Schulter schauen.“ Jean fragte sich, woher sie die Sensibilität nahm, seine Gedanken zu lesen, ohne dass er jemals auch nur eine Silbe seiner Angst geäußert hatte. Oder war er so offensichtlich, dass ihm jeder seiner Gedanken auf die Stirn geschrieben stand? Er folgte ihrem Fingerzeig und warf einen Blick in den Spiegel, der ihm sein ungeschöntes Ebenbild entgegenwarf. Aus diesem Blickwinkel heraus sah man den Schriftzug an der Innenseite seines linken Oberschenkels nicht, der wieder und wieder dort hineingeritzt worden war. Er hatte die Hoffnung, dass die Ärztin sie ebenfalls übersah. Ganz im Gegensatz zu allen anderen Narben, die offensichtlicher waren und die er in und auswendig kannte. Jede einzelne von ihnen konnte er benennen, konnte sich an den Schmerz und das Leid erinnern, das sie begleitete hatte. Die Hämatome, die immer noch nicht gänzlich verschwunden waren, überraschten ihn ebenso wenig. Umso erstaunlicher für ihn war, dass diese Zeit nun vorbei sein sollte und dass der einzige Schmerz, den er innerhalb einer Woche spürte, derjenige war, den er sich selbst beim Laufen mit seinen verheilenden Wunden zugefügt hatte. Und natürlich der des Sonnenbrandes, der Knox dazu veranlasst hatte, ihn heute Mittag nur mit Sonnencreme aus dem Apartment gehen zu lassen. Jean starrte sich selbst in die Augen. Wie ein Echo warteten seine Narben darauf, wieder aufgebrochen zu werden, sein Körper wartete auf neuen Schmerz, weil seine Nerven über die Jahre so gepolt worden waren. Doch sie erhielten nichts und so trieb er ohne Ziel durch den Tag. Ohne Fixpunkte, die ihm mitteilten, dass alles immer noch beim Alten war und seine anerzogenen Denkmuster immer noch Gültigkeit besaßen. Jean blinzelte und zuckte zusammen, als sie das große Pflaster auf seinem Rücken löste und er instinktiv einen Schritt nach vorne trat um ihren Händen zu entkommen. Bestimmt, aber nicht zu schnell löste die Ärztin ihre Hände von ihm und zeigte ihm, dass sie nichts tun würde, bevor er nicht sein Go gegeben hätte. Am Liebsten hätte Jean sie angeschrien, dass es darauf nicht ankäme. Jetzt nicht und auch in Zukunft nicht. „Die Wunde hat sich leicht entzündet, Mr. Moreau. Ich befürchte, dass ich sie reinigen muss.“ Was gab es daran zu befürchten? Das, was sie tat, brannte, aber es war nicht vergleichbar mit dem Schmerz, den er beim Erhalt der Wunde gespürt hatte. Oder bei der Umarmung des Bären von einem Jungen. „Haben Sie eine Möglichkeit, bei der Reinigung dieser Wunde um Hilfe zu bitten?“, fragte sie in seine Erinnerungen an den Hünen hinein und Jean schüttelte den Kopf. Knox konnte er nicht bitten. Er selbst schaffte es anscheinend nicht, seinen widerspenstigen Körper im Zaum zu halten. Jean fragte sich allen Ernstes, wie er die letzten Jahre überlebt hatte. Wie hatte er es bloß geschafft, die vergangenen Jahre mit gebrochenen Knochen und blutenden Wunden zu spielen, wenn er jetzt schon vor so einer läppischen Aufgabe kapitulierte? „Dann möchte ich Sie bitten, dass Sie ab morgen jeden Tag bei mir vorbeischauen. Ich werde die Wunde desinfizieren und das Pflaster erneuern. Nach einer Woche werden wir dann sehen, ob ich Sie für das Spielfeld freigeben kann.“ Alarmiert sah Jean hoch und fuhr herum. „Was? Aber ich kann spielen!“, entfuhr es ihm beinahe schon ängstlich, bevor er sich beherrschen konnte. Stürmisch runzelte er die Stirn. „Ich habe damit bereits trainiert, schon mit Schlimmeren gespielt und das hier ist nur eine Stichwunde.“ Jean verstand die Trauer nicht, die er in den Augen der Ärztin sah, als sie seinen Blick erwiderte, die Hände immer noch zwischen ihnen beiden ausgestreckt. „Ich glaube Ihnen, dass Sie mit weit Schlimmeren gespielt haben, Mr. Moreau. Aber ich kann und werde nicht zulassen, dass Ihnen dieser Sport noch mehr zusetzt, als er es bereits getan hat. Wir sind hier nicht in Evermore. Die USC sorgt sich um die Gesundheit ihrer Spieler. Sie werden eine Woche lang jedwede Anstrengungen vermeiden und sich schonen. Wir werden uns jeden Tag sehen und ich werde mir Ihre Fortschritte ansehen. Am Ende der Woche sehen wir dann weiter.“ Jean öffnete den Mund, erkannte jedoch an der Strenge in ihrem Gesicht, dass jedweder Widerspruch auf eisernen Willen treffen würde. So schloss er die Lippen und starrte zu Boden, weg von den wissenden Augen, weg von ihrer weichen, tiefen Stimme, die den Namen „Evermore“ mit soviel Hass ausgesprochen hatte, dass es ihn schauderte. „Ich werde Ihnen ebenfalls Schmerzmittel mitgeben. Können Sie die Nächte durchschlafen?“ Wieder war es an Jean, diese Frage zu verneinen und er hoffte, dass sie nicht fragte, wo er schlief. Doch sie nickte nur schlicht. „Dann werde ich Ihnen ein leichtes Schlafmittel mitgeben, das Ihnen dabei helfen wird, Ruhe zu finden die kommende Woche.“ Schmerztabletten…Schlafmittel… vielleicht träumte Jean ja gerade tatsächlich und würde gleich wieder in Evermore aufwachen. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Er wollte ablehnen, doch er fand nicht die richtigen Worte dazu, so blieb er stumm und wartete das Ende ihrer Untersuchungen ab. Wieso war für sie sein Blutdruck wichtig? Oder sein Puls? Oder die Geräusche seiner Lunge? Dass sie einen Bluttest machen wollte, verstand er ja noch…aber der Rest? Er war seit seiner Kindheit Sportler. Was sollte ihm denn da fehlen? Seine Knie waren vollkommen in Ordnung, ebenso wie seine Rippen. Der Meinung war sie anscheinend nicht, so sehr, wie sie ihre Stirn runzelte, als sie den Brustkorb abtastete und noch einmal seine Lunge abhorchte. Sorgenvoll beobachtete Jean sie dabei. Was, wenn sie wieder etwas fand, das ihn noch länger aussetzen ließ. Eine Woche war schon kritisch. Die Worte der Firmenanwältin kamen ihm in den Sinn. Ein wertvolles Investment. Das war ein Versprechen und eine Drohung gleichzeitig gewesen, eine Einordnung seiner Fähigkeiten und zwar nur dieser. Solange er nicht den Mut dazu fand, solange es noch die zwei Monate gab, konnte er nicht riskieren, dass andere für seine Verfehlungen litten. Er musste das sein, was ihm die Trojanmädchen unterstellten. Der beste Backliner der Liga. Jean dachte an die Dunkelhaarige der Beiden. Die Backlinerin, mit der er zusammen das Tor der Trojans verteidigen würde. Sie hatte ihn in eine Diskussion um Spielzüge verwickelt, der er nicht abgeneigt gewesen war, wenn er es sich ehrlich eingestand. So etwas war neu für ihn und es gefiel ihm mehr als er es sich eingestehen wollte. Sie hatte ihn nach seiner Meinung und Einschätzung gefragt und nach seinem anfänglichen Misstrauen ihr gegenüber, hatte er die ersten, vorsichtigen Worte geäußert. Anstelle von Gewalt hatte er eine angeregte Diskussion bekommen. Knox hatte sich da herausgehalten und Jean war froh darum. Er würde seinem Kapitän keine Widerworte leisten… nicht mehr als er es jetzt schon getan hatte und jede Nacht tat, indem er sich davonschlich. „Sie können sich wieder anziehen, Mr. Moreau“, holte die Ärztin ihn aus seinen Gedanken heraus und Jean griff zu seinen Sachen. Er verlor keine Zeit und bedeckte seinen Körper und seine Narben, bevor er ihr in das Besprechungszimmer folgte und sich auf ihren Fingerzeig hin wieder auf den Stuhl dort niederließ. Warum auch immer, schließlich war doch alles gesagt. Doch sie musste ihm noch die Medikamente geben. Schweigend starrte Jean auf die Packungen, auf die Namen, die er noch nie gehört hatte. Wieder ergriff ihn ein Gefühl der Surrealität. Auf den Zettel, den sie ihm nun überreichte, war er jedoch nicht vorbereitet. Was sollte er damit? Brian, wer war das? Und was sollte die Nummer unter dem Namen? Fragend sah er hoch. „Brian ist Therapeut hier an der USC. Sollten Sie das Bedürfnis haben, mit jemanden über Ihre Zeit in Evermore zu sprechen, dann könnte er Ihnen ein guter Gesprächspartner sein.“ Reichlich überfahren starrte Jean Doktor Chandler in die Augen. Ein…Gesprächspartner? Für seine Zeit in Evermore? Kaltes Grauen packte ihn, als er sich vorstellte, dass er mit einem Fremden über das sprechen sollte, was geschehen war. Über alles, was Riko und die Anderen ihm angetan hatten. Mühevoll schluckte er. „Die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen, Mr. Moreau“, erläuterte sie weiter. „Ich möchte nur, dass Sie wissen, an wen Sie sich wenden können, wenn Sie das Bedürfnis dazu haben. Oder wenn es zuviel werden sollte.“ Jean wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Er hatte überlebt. Reichte das nicht? Wie es schien, drängte jeder und alles in der USC darauf, dass er ein Mensch war, der Schmerzmittel und Schlafmittel erhielt, der die Nummer eines Therapeuten bekam, den er anrufen konnte. War es so, wenn man wie er war? Er beschloss, Renee danach zu fragen und schweigend nahm er die Nummer an sich. Wenn Jean eines in den letzten Jahren gelernt hatte, dann, dass es ohne Widerstand leichter werden würde. Also nickte er und nahm das Lächeln, das ihm darauf geschenkt wurde, als Bestätigung für sein erlerntes Verhalten. „Damit wären Sie für heute fertig. Ich möchte Sie auch nicht weiter von der Sonne fernhalten, die Sie, wie ich sehe, ja schon ordentlich genossen haben.“ Sie grinste und zwinkerte ihm zu. Vielmehr seinem Sonnenbrand und unwillkürlich befühlte Jean sein Gesicht, das dank der Creme tatsächlich besser war. „Nicht die Sonnencreme vergessen, Mr. Moreau!“, stimmte nun auch sie in den Kanon von Knox ein und Jean hob zweifelnd die Augenbrauen. „Darf ich gehen?“ „Natürlich. Ich freue mich schon auf Sie…morgen, gleiche Uhrzeit.“ Er nicht, so gar nicht. Ohne sie anzusehen, nahm er die Medikamente an sich und stellte fest, dass er keine Tasche hatte um sie darin zu verstecken. Was eigentlich nicht notwendig war, denn sie würde sowieso mit seinem Kapitän über seinen Zustand sprechen. Darauf mochte Jean wetten. Er erhob sich und drehte sich von ihrem Lächeln weg, ging hinaus auf den Flur zu Knox, der immer noch auf ihn wartete. Das Handy, was dieser bis gerade eben in der Hand gehabt hatte, pingte unablässig, doch das war anscheinend nicht so wichtig wie er selbst. Erwartungsvoll sah Knox ihn an und Jean wusste nicht recht, was er von ihm wollte. So starrte er zurück, zwischen dem Kinn und den Augen des anderen Jungen hin und herpendelnd. „Und, alles gut?“, fragte dieser, als ihm anscheinend das Schweigen zu bunt wurde und Jean nickte. Er warf einen Blick auf das Namensschild der Ärztin. „Doktor Chandler sagte, dass sie mich für eine Woche für das Training sperrt.“ Überrascht weiteten sich die blauen Augen und Jean sah Besorgnis auf dem braungebrannten Gesicht, das anscheinend noch nicht einmal im Ansatz so viel Probleme hatte mit der Sonne wie er. Besorgnis um die Notwendigkeit, dass er mit dem Team zusammenspielte, sicherlich. „Geht’s dir gut?“, fragte Knox alleine aus dem Grund, um seine Gedanken Lügen zu strafen und Jean rollte innerlich mit den Augen darüber. Dies hier war die USC, hielt er sich vor Augen. Kalifornien. Hier zählte der Mensch, der er eigentlich nicht sein durfte. „Ja.“ „Aber warum hat sie dich dann auf die Bank verbannt?“ Jean war hin und hergerissen zwischen einer offensichtlichen Lüge und einer Nichtantwort. Letzteres schloss sich aus, denn er hatte eine direkte Frage erhalten. Seines Kapitäns. Er wusste es besser, als darauf zu schweigen. „Eine Verletzung auf dem Rücken hat sich entzündet und sie möchte Fortschritte bei der Heilung sehen“, erwiderte Jean entsprechend neutral und wieder war es Überraschung, die ihm entgegenströmte. Und schon wieder Besorgnis. Jean grollte und mit großer Beherrschung war es nur innerlich. „Oh Gott, deswegen bist du vor Ajeet so zurückgezuckt. Das tut mir fürchterlich leid! Hätte ich das gewusst, ich hätte natürlich drauf geachtet, dass er das nicht tut. Das tut mir fürchterlich leid! Kann ich irgendetwas für dich tun?“, brach Knox beinahe augenblicklich in sein wortreiches Gebrabbel aus und Jean war kurz versucht, die Frage mit ja zu beantworten. Knox konnte aufhören, er zu sein. Er könnte aufhören zu reden. „Wieso tut es dir leid?“, verließ es verwirrt seine Lippen, bevor Jean sich davon abhalten konnte. Er konnte sich keinen Reim auf die Logik des Ganzen machen. Wieso sollte derjenige, der nun wirklich gar nichts mit der Wunde zu tun hatte, sich dafür entschuldigen? „Weil es dir Leid erspart hätte!“ So selbstverständlich, wie Knox ihm diese Begründung um die Ohren fegte, so wenig wollte Jean sie akzeptieren, würde es doch seinen Kapitän Renee noch näher bringen, als es ihm lieb war. Sie war auch so. So undurchsichtig unlogisch. So mitfühlend. Konnte ein Kapitän je mitfühlend sein? Jean ahnte, nein, befürchtete, dass die kalifornische Antwort darauf ja war. Er seufzte. Dieses Mal tatsächlich laut. „Du bist dafür nicht verantwortlich“, entkam es ihm entsprechend ungnädig, wo er eigentlich respektvoll und höflich hatte sein wollen. Doch Knox störte sich nicht an seinem Tonfall, im Gegenteil. Er lächelte, als hätte Jean etwas besonders Positives gesagt und für einen Moment fragte er sich, ob er in seinem Frust eventuell Französisch gesprochen hatte. „Aber ich fühle mich dafür verantwortlich, Jean.“ Früher einmal hätte sich Jean die Haare gerauft. Seitdem er wusste, wie es war, ganze Büschel ausgerissen zu bekommen, sah er von dem Vergleich ab und schulte sein Gesicht mit Gewalt auf Ausdruckslosigkeit. Er schwieg und wandte den Blick ab, in der Hoffnung, dass dieser ganz besonders dumme Gesprächsstrang damit ein Ende hatte. Hatte er. „Hat Doc Fiona dir auch Blut abgenommen?“, kam dafür aber die nächste, komische Frage auf ihn zugerannt und Jean nickte. So begeistert, wie Knox nun grinste, konnte das nichts Gutes bedeuten. Wirklich nicht. „Dann brauchst du Eis!“ Nein. Sicherlich nicht. Er brauchte kein Eis um die Einstichstelle zu kühlen. Das war lächerlich. Wirklich. Doch bevor er den Mund aufmachen und seinem Kapitän tatsächlich Widerworte geben konnte, kam dieser ihm mit einer resoluten Handbewegung zuvor. „Keine Widerrede, Moreau“, kam der mahnende Zeigefinger von heute Morgen zum Einsatz und Jean wusste es besser, als nun irgendetwas zu sagen. Lieber nahm er sich Zeit, eben diesen zu betrachten und Vergleiche zwischen Knox‘ Zeigefinger und seinem eigenen zu ziehen, der weniger gerade war, dafür weniger Schwielen aufwies. Die Farm, er erinnerte sich. „Los, Abmarsch.“ Jean seufzte innerlich. Was blieb ihm auch anderes übrig, als seinem Kapitän auf dessen Befehl hin zu folgen? Dass sie nicht in das Apartment zurückgingen, wurde Jean aufgrund seiner Orientierungslosigkeit auf diesem Campus erst spät klar. Zu spät, mochte er meinen, als sie plötzlich vor einem Laden standen, der ihm die Doppeldeutigkeit des Wortes Eis bewusst machte. Zum Kühlen, ja, aber Jean glaubte nicht, dass er sich Speiseeis auf den Arm schmieren sollte. Ungläubig sah er auf seinen Kapitän herab, der mit einem zufriedenen Strahlen und eben jenem Zeigefinger auf die Theke deutete, wo es Sorten gab, die Jean noch nicht einmal aussprechen konnte. Es war mehr als ein Jahrzehnt her, dass er in einer Eisdiele gewesen war. Während er sich bewusst wurde, was das zu bedeuten hatte, betrat Knox auch schon den Laden und winkte dem Verkäufer hinter dem Tresen fröhlich zu. „Jer, hey! Alles klar bei dir?“ Natürlich war sein Kapitän auch hier bekannt. Was wunderte es ihn eigentlich noch, fragte Jean sich mit einem Anflug an selbstironischer Verzweiflung. „Alles super! Chris, wir haben hier einen Angezapften!“ Mit dem Schock in Knox‘ Gesicht konnte Jean überhaupt nichts anfangen und mit dem Entsetzen in dem Gesicht des Verkäufers erst recht nicht. Was passierte hier? „Doc Chandler kennt auch gar keine Gnade!“, echauffierte der Mann sich und Jean konnte dem nicht zustimmen. Die Nadel unter seiner Haut war unangenehm gewesen, aber im Vergleich zu allem Sonstigen nichts Schlimmes. „Also, Jean“, richtete Knox seine gesamte Aufmerksamkeit auf ihn und Jean ahnte nichts Gutes. „Es ist gute, alte Tradition bei den Trojans, dass jeder Neuankömmling, der von Doc Chandler ausgesaugt wurde, danach erst einmal ein Eis bekommt. Größe egal, Sortenanzahl, egal. Was darf dir Chris machen?“ Jean hatte viel erwartet, das aber nicht. Es erinnerte ihn an damals, an früher, als er zum Impfen zu einem Arzt gemusst hatte. Dieser hatte für jedes Kind einen bunten Lutscher gehabt, als Belohnung für die Tapferkeit. Jean erinnerte sich daran, dass er die klebrige Süße geliebt hatte. Diese Zeit war vorbei, unwiederbringlich. „Ich…kenne die Eissorten nicht“, erwiderte Jean entsprechend stockend und erkannte seinen Fehler, kaum, dass die Worte seinen Mund verlassen hatten. Er hätte sagen sollen, dass er kein Eis aß. Oder dass er keine Lust hatte, Eis zu essen. Vielleicht wäre selbst das möglich bei Knox. Aber seine Unkenntnis in den Vordergrund zu stellen, war dumm, weil es dem Anderen Möglichkeiten eröffnete. „Oh. Hm.“ Knox runzelte die Stirn und wandte sich dann an den Verkäufer. „Dann einmal ein bisschen von allem bitte!“ „Was?!“, entfuhr es Jean gleichzeitig mit dem Eismann, der sie beide mit großen Augen musterte. Knox selbst gab sich ein Bild der vollkommenen Unschuld, während er sie beide mit einem amüsierten Schmunzeln musterte. „Was?“, hielt er dagegen und bedeutete…Chris, so hieß er, fortzufahren. Fieberhaft überlegte Jean, wie er die kommende Katastrophe noch verhindern konnte, die sich hier vor ihm entfaltete, als der Mann einen Teller nahm und damit begann, von sämtlichen Sorten kleine Kugeln darauf zu verteilen. „Ich…“, begann er, kam er aber nicht weiter. In Evermore waren ihm Süßigkeiten streng verboten gewesen. Das Denken, das jahrelang in ihn hineingeprügelt worden war, flüsterte ihm nun ein, dass er bestraft werden würde für jeden Löffel, den er nehmen würde. Sie würden ihn so lange schlagen, bis er nur noch ein blutendes Elend sein würde. Mit erschreckender Klarheit wurde sich Jean jedoch bewusst, dass diese Zeit vorbei war. Niemand aus Evermore würde kommen und ihn dafür bestrafen. Der Hauptzweig der Familie hatte seinen Transfer zu den Trojans abgesegnet. Hier hatte er Knox, der ihm sagen würde, was er zu tun hatte. Knox, dem es leid tat, dass er von seinem toten Ex-Kapitän verletzt worden war. Knox, der ihm Frühstück machte. Knox, der seine Hände berührte ohne ihn zu verletzen. Der ihm soviel geistigen Input gab, dass Jean auch jetzt noch die bunten Kunstwerke des Art Districts vor seinen Augen sah. „Wunderbar, dankeschön!“, holte eben jener ihn aus seinen Gedanken und Jean sah hinunter auf einen Teller voller bunter, kleiner Eiskugeln. Jean blinzelte. Niemals im Leben würde er das alles alleine schaffen. „Soviel kann ich nicht essen“, murmelte er daher beinahe unhörbar und Knox hob mit einem Augenzwinkern die beiden Löffel hoch, die er in den Händen hielt. „Alles, was du nicht schaffst, vernichte ich. Keine Sorge!“ Knox hatte gut reden. Schweigend folgte Jean ihm nach draußen und ließ sich vorsichtig neben seinem Kapitän an einem der schattigen Tische nieder. ~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 11: Eisdiplomatie ------------------------- Der süße Geruch des vor ihm stehenden Eis zog in Jeans Nase und wieder machte ihm bewusst, dass niemand aus Evermore kommen und ihn bestrafen würde. Er durfte. Er musste, schließlich hatte sein Kapitän eindeutige Worte verloren. Jean starrte auf das bunte Sammelsurium aus ungelogen achtzehn Kugeln und fragte sich, ob Knox den Verstand verloren hatte. Selbst wenn sein Kapitän mitaß, so würde das viel zu viel sein. Das konnte doch niemand im Leben essen. Zweifelnd ruhte sein Blick auf eben jenem, der ihm nun einen Löffel entgegenstreckte. Der metallene Gegenstand hing zwischen ihnen in der Luft und Jean hatte das Gefühl, dass er, sollte er danach greifen, nicht nur diese unsinnige Trojantradition akzeptierte, sondern dass er damit auch einen nonverbalen Vertrag mit seinem Kapitän einging, von dem er zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal den Inhalt kannte. Es würde ihn nicht umbringen zu probieren und so wie er rebellisch die schwarz-goldene Schale neben das Day-Puzzle verbannt hatte, so rebellisch beschloss er nun, die Evermoreregeln, was seinen Diätplan anging, über den Haufen zu werfen. Riko war tot, der Herr bestimmte nicht mehr über ihn. Er war hier und hatte ein Angebot erhalten, das er annehmen musste, bevor es schmolz. Schweigend legte Jean die Medikamente und den dazwischengeklemmten Zettel auf seinen Schoß und griff nach dem Löffel. Trotzdem wartete er auf die Erlaubnis seines Kapitäns um anzufangen, die dieser ihm nach einer Sekunde des Begreifens ungeduldig erteilte. „Na los, es schmilzt sonst!“ Voller freudiger Erwartung wurde er angestarrt und Jean senkte seinen Blick, konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf den Teller. Vorsichtig probierte er die erste Sorte und Schokolade explodierte in seinem Mund. Schokolade, wie er sie vor einem Jahrzehnt das letzte Mal geschmeckt hatte. Einen Moment lang war der reine Geschmack dessen unfassbar und es schmeckte vollkommen falsch. Seine Erinnerungen, so fehlerhaft und unvollständig sie mit den Jahren geworden waren, sagten ihm, dass es nicht sein konnte. Zu süß, zu schwer, zu falsch. Dann…langsam erst, gewöhnten sich seine Geschmacksknospen daran und er nahm noch einen zweiten, dieses Mal halben Löffel. Schokolade, stellte er für sich bestätigend fest und beschloss, dass dies nun der Geschmack dafür war. „Und?“, fragte Knox hibbelig neben ihm und Jean fragte sich, was an seiner Meinung so wichtig war. Was sollte er darauf antworten? Es war…süß und klebrig und erschlagend. Seine Geschmacksnerven liefen Amok. Er hatte jetzt schon das Gefühl, dass der Zucker sich negativ auf ihn auswirkte. Jean zuckte mit den Schultern und widmete sich der nächsten Kugel. Banane. Glaubte Jean zumindest, sicher waren sich seine Geschmacksnerven nicht. Obst hatte er in Evermore gegessen, aber nicht so wie hier. Soviel Zucker, soviel Süßes… und er… Zwischen all dem Gefühl des Rebellierens und des Ausprobierens von neuen Dingen stahl sich just in diesem Moment etwas Anderes zwischen die widerstreitenden Emotionen. Seit Jahren hatte er es nicht mehr gefühlt und es als tot geglaubt. Nun aber zog und zerrte es an ihm, je mehr er sich damit beschäftigte. Heimweh. Schokolade und Banane, die Heimweh verursachten, er glaubte es nicht. Das letzte Mal, als er Heimweh gespürt hatte, war er nach Evermore gekommen und hatte erfahren, dass er nie wieder zu seiner Familie zurückkehren würde, weil sie ihn dort gelassen hatten. Von jetzt auf gleich war er aus seiner geliebten und bekannten Umgebung gerissen worden, ausgestoßen aus seiner Familie, hinein in eine feindliche Umgebung, die ihn feindselig gemacht hatte. Nach und nach hatte jedes positive Gefühl aufgehört zu existieren und war durch Wut, Hass, Angst und das Gefühl des Verrats ersetzt worden. Renee hatte ihm winzige Stücke seiner Sanftheit wiedergegeben. Sie hatte ihm Hoffnung geschenkt und durch sie hatte er wiederentdeckt, was Freundschaft und Hingabe bedeuten konnte. Das, was Knox hier unwissentlich tat, war ähnlich, aber bei näherem Hinsehen doch so gänzlich anders. Heimweh führte ein Gefühl von Heimat mit sich, das er sicherlich nicht hier in Kalifornien fand. Aber es ließ zu, dass er eben jenes wiedererlebte, etwas, das Jean niemals für möglich gehalten hätte, noch einmal zu fühlen. Und es war wunderbar. So probierte er sich Löffel für Löffel durch die anderen Sorten voller Frucht und Kuchen und Vanille und mehr Schokolade, in seinen Gedanken in seiner Heimat, in den warmen Sommern dort, die den Geruch von Meer und Zypressen durch die engen und steilen Gässchen der Stadt trugen. Erst, als er auch die letzte Sorte probiert hatte, sah er auf und fand die Kraft, Knox in die Augen zu sehen. Trotz des sanften Lächelns hatte dieser seinen eigenen Löffel schon ungeduldig erhoben. Die Gier, die in den blauen Augen stand, sprach für sich und Jean fragte sich, warum Knox ihm den Teller nicht einfach weggenommen hatte, wenn er selbst etwas wollte. Das war doch sein gutes Recht. Warum hatte er nichts gesagt oder ihn einfach weggezogen? „Und?“, fragte sein Kapitän voller Erwartung und Jean fragte sich, ob es besser wäre, Knox anzulügen. Würde dieser ihm eine weitere Portion verbieten, wenn er merkte, dass es ihm schmeckte? Jean war sich unsicher, deswegen scheute er sich auch. Eine Lüge wäre gefährlich, zu gefährlich, als dass sich Jean nicht schlussendlich für die Wahrheit entscheiden würde. „Es war gut.“ Knox grinste. „Willst du noch mehr?“ Jeans Herz blieb für einen Moment stehen, als er die Doppeldeutigkeit der Frage begriff. Wo weniger sein konnte, konnte natürlich auch noch mehr sein. Um Himmels Willen. „Nein“, erwiderte er bestimmt und hielt inne, bevor er seinen Blick abwandte, als ihm das Grinsen seines Gegenübers zu strahlend und zu hell wurde. „Danke“, setzte er nach und legte den Löffel auf den Tisch. Es fiel ihm dabei nicht schwer, die zwischen ihm und dem Teller hin und herhuschenden Augen als das zu interpretieren, was sie waren: abwartend gierig, dass er freigab, was er nicht essen würde. Jean seufzte innerlich und schob den Teller in Knox Richtung. Mit wortlosem Erstaunen sah er, wie der Kapitän der Trojans in einer Geschwindigkeit den Rest des Eis aufaß, die Jean sich fragen ließ, ob der Junge überhaupt etwas schmeckte. Anscheinend schon, wenn er sich dessen verzückte Mimik ansah. Anscheinend schmeckte es der gierigen Hyäne am anderen Ende des Tisches und Jean hatte es mehr als einmal in den Fingern gezuckt, ihm den Teller wegzuziehen…nur um zu sehen, wie Knox reagieren würde. In einem anderen Leben hätte er es spielerisch versucht. Dass er überhaupt einen Gedanken daran verschwendete, das zu tun, ließ Jean die Stirn runzeln. Sein anerzogener Respekt schrie ihn an, dass er so nicht über einen Kapitän zu denken hatte. Still schnaubte Jean. Hatte sein Ex-Kapitän ihm nicht auch verboten, Französisch zu sprechen? Hatte er. Und hatte er nicht mit Day und auch noch Josten eben diese Sprache gesprochen? Ja, hatte er. Nein, ganz tot war sein Widerstand nicht. Das bedeutete aber nicht, dass er sich die letzten paar Wochen schwerer machen würde als es notwendig wäre. Als hätte er es gehört, pingte sein Handy in der Hosentasche. Die Uhrzeit und der Ton des Messengers stimmten und Jean hielt kurz inne. Er wusste, wie die Nachricht lautete. Er wusste, von wem sie kam. „Bist du nicht neugierig, von wem die Nachricht ist?“, fragte Knox und Jean hob die Augenbraue. „Nein. Du etwa?“, entkam es ihm, bevor er sich aufhalten konnte und sah mit nicht geringer Genugtuung zu, wie sich die Ohren des blonden Jungens fast so rot färbten wie das Erdbeereis, das sich zu Teilen noch in den Mundwinkeln seines Kapitäns befand. ~~**~~ „Hast du eigentlich einen Instagram- oder Twitter-Account?“ Jean sah von den Buchstaben hoch, die sich bis gerade eben noch zu Worten geformt hatten, und legte seinen Finger als Lesezeichen in das Buch. Er runzelte die Stirn, während er versuchte, sich einen Reim aus Knox‘ Worten zu machen. Als dieser nicht erläuterte, was er meinte, sondern ihn weiterhin erwartungsvoll anstarrte, seufzte er lautlos. Etwas, das er, wie Jean feststellte, in letzter Zeit sehr oft tat in der Gegenwart seines Kapitäns. Warum redete Knox nicht einfach weiter, so wie er es sonst tat? „Was ist das?“, fragte er schließlich notgedrungen und Knox öffnete seinen Mund in der Art schockierter Menschen, deren Weltanschauung dabei war, im nächsten Moment zu zerspringen. War er vorher noch eher halbherzig in der Aufmerksamkeit seines Kapitäns gewesen, so drehte sich dieser ihm mitsamt seines Schreibtischstuhls nun gänzlich zu. „Wie bitte?!“ Jean hatte das untrügliche Gefühl, dass diese Begriffe zu etwas gehörten, was einen Menschen auszeichnete. Natürlich hatte Evermore es nicht für nötig gehalten, ihm diese Accounts zu besorgen, was auch immer sie waren. Ablenkungen waren ihm verboten gewesen, genauso wie Kontakte nach außen. „Du kennst die schrecklichen Untiefen von Twitter und Instagram nicht? Facebook wenigstens? Skype? Tumblr? Snapchat?“ Er blinzelte. Einmal zu oft, wie es sich herausstellte, denn als er seine Augen wieder öffnete, war Knox bereits aufgesprungen und versetzte Jean den Schreck seines Lebens, als er zu ihm kam und sich neben ihm auf das Bett fallen ließ, auf dem er gerade saß. Was genau es daran war, ob nun der schwere Körper, der neben ihm die Matratze senkte oder die direkte Anwesenheit eines anderen Menschen, seines Kapitäns… Reflex und schlimme Erinnerungen ließen Jean ohne zu zögern ruckartig und überhastet in Richtung Kopfteil zurückweichen, die Knie an den Körper gepresst, die Hände nahe seinem Körper in das Laken gekrallt. Wie schon bei seinem ersten Einsteigen in den Wagen des Trojans schrie Jeans Instinkt, dass es nun soweit war. In Evermore hatte die Anwesenheit eines anderen Jungen in seinem Bett immer Gewalt und Erniedrigung zur Folge gehabt. Auch dann, als Riko es sich nicht hatte nehmen lassen, Josten in seinem Bett anzuketten und ihm das Messer in die Hand zu drücken, damit er seine Laken ausnahmsweise mit anderem Blut als seinem eigenen beschmutzte. Jean verharrte in seiner Position, den Blick gerade soweit gesenkt, dass er Knox nicht in die Augen sehen musste, dessen Bewegungen aber vorhersehen konnte um sich vorzubereiten. Sein Herz raste vor Angst. Vielleicht gelang ihm die Flucht, bevor etwas passierte. Vielleicht konnte er den Anderen von sich stoßen und seine Sachen greifen. Nur weg von hier und dann… vielleicht konnte er den Handel ändern auf weniger als zwei Monate. Doch es geschah nichts. Wie im Auto am Flughafen geschah nichts. Knox saß nur da und als Jean es schließlich wagte, den Blick zu heben, sah er keine Schadenfreude oder Sadismus im Gesicht seines Kapitäns, sondern nichts Anderes als geschockte Besorgnis. Groß und erschrocken starrten ihn die blauen Augen an und teilten ihm mit, wie gravierend doch der Unterschied zwischen Riko und Knox war. „Ich…wollte nur…“, begann Knox und musste anscheinend gegen den Kloß in seinem Hals anschlucken. „Entschuldige, Jean. Bitte, ich wollte nicht… ich wollte dir nur zeigen…“ Wie ein Ertrinkender klammerte sich Jean an die Unterschiede, die sein logisches Denken zwischen den beiden Kapitänen herausstellte. Das Aussehen, komplett anders. Das Verhalten, ein Unterschied wie Tag und Nacht. Die Gedanken, auch… oder? Jean schluckte seinerseits mühevoll gegen seinen rasenden Herzschlag an. Trotzdem Knox sich offen dazu bekannte, dass er sich mit Männern vergnügte, fiel er hier nicht über ihn her. Obwohl er sein Kapitän war, erhob er nicht die Hand gegen ihn. Zittrig atmete Jean aus und versuchte, die gleiche Menge an Sauerstoff wieder in seine Luft zu pressen, um so etwas wie eine Regelmäßigkeit zu finden. Verzweiflung stahl sich auf das sonst so sonnige Gesicht und ruckartig drehte Knox seinen Laptop um, mit dem Bildschirm zu ihm. Jean erkannte durch sein eingeengtes Blickfeld nicht viel, aber was er erkannte, war bunt und quietschig. „Hier, das wollte ich dir zeigen. Ich habe Bilder auf meinem Account. Viele… von unserem Team, meiner Familie, mir, von der Umgebung. Ich wollte nicht…“ Seine Stimme verlor sich erneut und er verstummte, senkte seinen Blick auf etwas so Triviales, das Jean zu einer anderen Zeit hätte schnauben lassen. Nun aber nutzte er jede Ablenkung, die sich ihm bot und richtete seine Aufmerksamkeit auf die bunten Flecken, die nach und nach zu klaren Bildern wurden. Alles, was ihn wegtrieb von seinen Erinnerungen, war gut. Er räusperte sich, immer noch nicht wirklich in der Lage, sich aus seiner Position zu lösen. „Zeig…zeig sie mir“, presste er hervor, rau, unmenschlich, unkenntlich selbst in seinen Ohren. Es war eine Bitte, auch wenn er Mühe hatte, sie zu formulieren. „Ich kann aber auch aufstehen, ich kann auch zurück auf mein Bett gehen, das ist gar kein Problem, dann kannst du sie alleine durchschauen. Wie du es möchtest, Jean. Du musst sie auch gar nicht anschauen, wirklich nicht. Du kannst mir ruhig sagen, wenn es nicht in Ordnung ist“, brabbelte sein Kapitän in einer Tour fort und Jean hatte das Gefühl, dass er alleine anhand der Schnelligkeit der herausgepressten Worte Kopfschmerzen bekommen würde. Seine Gedanken störte das allerdings nicht. Wie hungrige Raubtiere stürzten sie sich auf die Sätze, die ihn beruhigen sollten. Wie er es mochte? Er konnte sagen, wenn etwas nicht in Ordnung war? Niemals hatte Riko das gesagt. Kein einziges Mal. Er hatte seine Wünsche nicht zu äußern gehabt und nun spielten sie selbst hier eine Rolle. Wollte er, dass sein Kapitän hier saß oder war es ihm lieber, dass er sich woanders befand? Natürlich war es ihm lieber, dass Knox ihn in diesem Moment nicht so nahe war, doch so sehr Jean auch erschreckt worden war durch die abrupte Nähe, so sehr hasste er die Erinnerungen, die dafür verantwortlich waren und die Angst, die damit einherging. Er hasste das Gefühl, das tief in ihm verwurzelt war, so abgrundtief, dass er dagegen rebellierte. Mit allem, was ihm zur Verfügung stand, lehnte er sich dagegen auf und hielt eben jener Angst höhnisch den Spiegel vor. So wie er in Rikos Nähe Französisch gesprochen hatte, so wie er Josten wieder und wieder zugeflüstert hatte, dass er nicht unterschreiben sollte, blieb er nun hier und verneinte Knox‘ Vorschlag. „Nein.“ Nicht mehr als ein Krächzen war es…zunächst. „Nein, bleib“, schaffte er es ein paar Augenblicke später auch zumindest den Ansatz eines Satzes. „Ist das auch wirklich okay?“ Wenn Knox wüsste, wie sehr diese einfache Frage tief in seine Seele schnitt und ihn mit Unglauben ausfüllte. Abby hatte das gefragt. Renee hatte das gefragt. Und nun auch Knox. Jean nickte knapp, während er auf den Bildschirm starrte und sein Blick nur kurz hochschnellen ließ. Es reichte, um die vorsichtige Zurückhaltung zu sehen, die dem Schrecken nachfolgte, den er anscheinend in seinem Kapitän hervorgerufen hatte. Jean schluckte. „Möchtest du so sitzen bleiben?“ Für das Erste ja. Vielleicht auch den ganzen Abend. Er brauchte allerdings jetzt die Wand in seinem Rücken als Versicherung, dass er niemanden im Rücken hatte, das niemand so einfach an ihn herankam. Das war das Eingeständnis, was er sich selbst machen musste. Verstohlen versteckte er seine Finger zwischen seinem Oberkörper und seinen Oberschenken. Verspätet nickte Jean und Knox drehte den Bildschirm so, dass er an seine Tastatur gelangen konnte. Ohne nachzubohren widmete sich sein Kapitän einer Aufgabe, die er nicht hätte übernehmen müssen. Mit unsicheren Händen machte er eines der Bilder groß und begann mit leisen, stockenden Erklärungen, die Jean nicht verstand. Noch nicht. Noch ließ er sich von dem reinen Klang der Stimme einlullen, die soviel anders war als die Stimmen, die er in Anwesenheit anderer Jungen in seinem Bett gehört hatte. Knox lotste ihn durch die Seite, erklärte ihm anhand von ein paar Bildern den grundlegenden Sinn und die Basisfunktionen. Er machte Bilder groß, die Jean mit einer Fülle von Leben überfluteten, dass er kaum hinterherkam um alle Details aufzunehmen. Da waren Fotos der Mannschaft, wie sie einander umarmten und verschwitzt in die Kamera grinsten, als gäbe es nichts Schöneres. Jean erkannte viele der Spieler, einige jedoch nicht. Er staunte über die Grimassen, die sie schnitten, als wäre Exy nichts Wichtiges und etwas, bei dem man Spaß haben konnte. Knox nannte ihm Namen, die Jean durch sich hindurchwaschen ließ, weil sie nicht wichtig waren. Er würde sie sich sowieso nicht merken in der Zeit, die er hier war. Mit einem sanfteren Lächeln zeigte sein Kapitän ihm die Fotos seiner Familie und der Farm. Zwei kleine Schwestern, Zwillinge, die Jean nicht auseinanderhalten konnte, auch wenn es laut Knox anscheinend offensichtlich war. Vater, Mutter, zwei ältere Brüder, allesamt blond, nur die Augen hatten unterschiedliche Farben. Sie alle thronten inmitten der Farm und ihrer Tiere. Jean sah Pferde, Kühe, Schweine, Hunde, Katzen und Hühner. Gänse, die sich in das Haus verirrt hatten. Die Landschaft war so weitläufig, wie Knox sie beschrieben und Jean sie sich vorgestellt hatte und das Bild von dem rotglühenden Sonnenuntergang weckte ein Kribbeln in ihm, das er im ersten Moment nicht wirklich einordnen konnte. Ganz im Gegensatz zu den Bildern vom Strand, vielmehr von den Trojans am Strand. Halbnackt, braungebrannt und so unbeschwert, dass es beinahe schon fahrlässig war. Wie konnte man seine Zeit so vertrödeln und nicht trainieren? Jean verstand es nicht, auch wenn er sich nur zu gut an Knox‘ Worte erinnerte. Hier gab es den destruktiven Rhythmus von Evermore nicht. Hier wurde sich nach dem Lauf der Sonne gerichtet. Hier war es möglich, Freizeit zu haben. Am Strand zu liegen. Hier durfte gegessen werden, was schmeckte und auch das sah Jean auf den Bildern, die Berge an Dingen zeigte, die er noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Er erkannte die beiden jungen Frauen wieder, die mit ihnen gefrühstückt hatten, wie sie vor einer riesigen Schüssel mit Nudeln saßen, Knox im Hintergrund, der breit grinste. Und er sah Bilder von gegnerischen Spielern, mit denen sein Kapitän sich gut verstand. Unzählige waren es, entstanden bei den Partien, die sie gegeneinander angetreten waren. Das Bild von Day und Knox ließ Jean jedoch wegsehen, weil er die Freude und Zuneigung in den Augen des Foxes nicht ertrug, die dieser augenscheinlich für Knox empfand und die Knox durchaus erwiderte. Während Knox erklärte und erklärte, hatte Jean tatsächlich so etwas wie Ruhe gefunden. Das Zittern seiner Glieder hatte nachgelassen und seine Hände hatten sich aus ihrem Versteck hinter seinen Knien auf die Matratze gelegt. Er hatte sogar seine Beine ein wenig entspannt, auch wenn er noch davon entfernt war, sie bequem zu arrangieren. Immer öfter hatte er Knox einen kurzen Blick zugeworfen, während dieser Nichtigkeiten erklärt hatte, die im Leben nicht nützlich waren. Trotzdem hatte Jean ihm zugehört und wälzte nun unwichtige Details in seinen Gedanken hin und her, die ihn einfach nicht loslassen wollten. Die Gans, die sich auf den heimischen Tisch gewagt hatte, hieß Eva. Wer nannte seine Tiere so? Er war sogar soweit entspannt, dass er nun seine Stirn runzelte, als Knox versuchte, ihm das Programm Twitter näher zu bringen und ihn von den Vorzügen eines eigenen Accounts zu überzeugen. Jean räusperte sich. „140 Zeichen um sich der Welt mitzuteilen in einem Programm, das einen Vogel als Logo hat, mit einer Raute für die Stichworte?“, fasste er zusammen, was Knox ihm gerade erzählt hatte. Die Unsicherheit des anderen Jungen hatte sich in den Minuten, die sie so hier verbracht hatten, ebenfalls gelegt und er lächelte begeistert. „Genau!“ „Warum sollte man das tun?“ Das Lächeln erstarb und wurde verzweifelt. „Damit man sich mitteilen kann.“ Jean fragte sich, ob er die Frage nochmals wiederholen sollte. „Schau hier, solche Sachen kann man schreiben!“, weihte Knox ihn in seine eigenen – wie Jean jetzt wusste – Tweets ein. Gezwitscher, was für eine seltsame und doch passende Übersetzung für die sinnentleerten Sätze, die dieser online gestellt hatte und erstaunlich viele Herzen – Likes – dafür bekommen hatte. Und Weitergezwitscher – Retweets. Jean war nicht überzeugt von dieser Art von Kommunikation, insbesondere, da Alvarez, so hieß die Dunkelhaarige von heute Morgen, Knox darauf ebenso sinnentleerte Dinge antwortete und dafür ebenfalls Likes bekam. „Wird es von mir erwartet, dass ich eben solche Dinge schreibe?“, fragte Jean und hoffte inständig, dass es nicht der Fall war oder dass Knox seinen Account führen würde. „Nur, wenn du es möchtest, Jean.“ Er schüttelte den Kopf. Er könnte sich vielleicht vorstellen, Bilder hochzuladen, auch wenn dieser Sinn sich ihm ebenfalls nicht erschloss. Aber Menschen mitzuteilen, wie er sich während seines Spiels gefühlt hatte, so wie es Knox tat, das war für ihn unvorstellbar. „Dann brauchst du es auch nicht. Ich würde dir aber empfehlen, deinen Account für dich zu beanspruchen. Dann hast du etwas Offizielles. Du musst ihn nicht nutzen und kannst, wenn du professionell Exy spielst, den durch deinen Agenten verwalten lassen um die richtige PR zu betreiben.“ Jean blinzelte und starrte Knox überrascht an, der sich verlegen räusperte. „Also falls du überhaupt zum Profi werden willst. Ich dachte, weil du so gut bist und der beste Backliner der Liga und aus Evermore und… ich meine die drei… also… die perfekte Mannschaft…“ Anscheinend war es einer von Knox Charakterzügen, dass er viel und viel Unsinn redete, wenn er nervös war. Das einte ihn mit Hemmick und Jean verzog beim Gedanken an den Abend in der Gewalt des Foxes die Lippen. Knox bezog es natürlich auf sich. „Nicht gut? Sorry, ich hatte nicht gedacht, dass du etwas Anderes machst. Wenn ich dich damit in irgendeiner Art und Weise gekränkt haben sollte, dann entschuldige bitte.“ „Es ist in Ordnung“, wiegelte Jean ab, sagte jedoch nichts weiter. Seine Planungen waren noch nie über seinen Collegeabschluss hinausgegangen. Er hatte sich keine Gedanken um seine Zukunft gemacht, weil er keine gehabt hatte. Und nun? „Du sagtest, dass es da noch andere Programme gibt“, lenkte Jean vom Thema ab und bereute es für jede einzelne der nächsten zwanzig Minuten, in denen Knox ihm einen kopfschmerzerregenden Crashkurs durch anscheinend sämtliche Social Media-Kanäle gab, die es zu nutzen galt, die aber allesamt unsinnig und unnütz waren. Ein Programm, was selbstständig wieder Bilder löschte? Warum? „Sollen ich dir noch eine kurze Einführung ins Onlinebanking geben?“, fragte Knox zum Abschluss und Jean sah auf. Zwischen all dem unnützen Zeug war das noch das Sinnvollste. Jean nickte entsprechend und wurde mit einem Lächeln belohnt. „Hast du schonmal ein Onlinekonto gehabt?“ Jean verneinte und Knox hob überrascht die Augenbrauen. „Okay… also Überweisungen per Hand sozusagen?“ Als Jean auch das verneinte, legte sein Gegenüber fragend den Kopf schief und wartete anscheinend auf eine Erklärung, die er so nicht geben konnte. „Okay. Hattest du einen Agenten, der das für dich in Evermore gemacht hat?“ Jean irritierte die Frage mehr als dass er es zugeben wollte. Einen Agenten? „Ich hatte kein Konto. Die Finanzen wurden durch den Herrn verwaltet“, spezifizierte er und Knox sah so schnell von seinem Laptop hoch, dass sein Nacken knackste. Jean fragte sich, ob das gesund sein konnte. „Wie bitte?“, fragte er nach, anscheinend in der Hoffnung, sich verhört zu haben und Jean zuckte mit den Schultern. In einer langsamen, vorsichtigen Bewegung verschränkte er die Arme vor seiner Brust. „Ist es hier anders?“, fragte er und sah die Antwort schon auf Knox‘ Gesicht, bevor der Andere auch nur den Mund aufmachte. „Ja aber sicher! Jeder von uns hat sein eigenes Konto, zu dem kein anderer Zugriff hat. Wie Coach Rhemann es schon gesagt hat.“ Jean nickte, auch wenn er bereits ahnte, dass er auch dieses Konzept nicht wirklich verstehen würde. Wieso sollte jemand wie er Geld haben? Er benötigte kein Geld, es würde daher vollkommen ausreichen, wenn Coach Rhemann die nötigen Ausgaben tätigte und den Rest behielt. Doch die Entschlossenheit in Knox‘ Augen hielt Jean davon ab, das Thema weiter zu verfolgen. „Na dann wollen wir mal“, rieb sich Knox die Finger und Jean war sich in diesem Moment wirklich nicht sicher, ob das eine Drohung war. Einen Moment später war er sich sicher, dass es eine war, aber eine, die ihm keine Schmerzen bringen würde. Zumindest keine Schmerzen, die Folge von Gewalt waren. Kopfschmerzen brachte es ihm ein, denn als Knox mit seinen Erklärungen fertig war, schwirrten seine Gedanken vor Wissen, das er sich angeeignet hatte. Er wusste jetzt, dass er eine Kreditkarte hatte und ein Onlinekonto. Er wusste, wie er Überweisungen tätigen und einsehen konnte, wieviel Geld er noch hatte. Er hatte auch gesehen, wieviel Geld sich bereits darauf befand und dass es sich dabei um die Höhe seines Stipendiums handelte. Während Knox sich für einen Moment dankbarerweise in das Badezimmer zurückgezogen hatte, war Jean aufgestanden und zu der Schale gegangen, die ihm die Anwältin gegeben hatte. Darin befanden sich immer noch die beiden Umschläge, von denen er nun den bereits geöffneten nahm und nachdenklich die Karte und das dazugehörige Schreiben herauszog. Er tat das, was er gerade von Knox gelernt hatte mit den Daten, die er hier fand, und wartete, dass sich das Fenster aufbaute, das ihm sagen würde, wieviel laut den Moriyamas seine Schande wert war. Als es sich schließlich aufgebaut hatte, konnte Jean nicht anders, als auf den Bildschirm zu starren. Dass Knox wieder aus dem Bad heraustrat, nahm er dabei nur nebenher zur Kenntnis. Dass Knox seinen Namen nannte, war in diesem Moment ebenso egal. Wie gefangen war Jean von der Zahl, die er auf dem Bildschirm sah. Die Bedeutung dessen war ihm augenblicklich klar und es war reiner Spott und Hohn, die ihm hier entgegenstarrten. Soviel war sein Schmerz also wert gewesen? Seine Erniedrigung? Die Alpträume, die er immer noch davon hatte? „Jean?“ Besorgnis schlängelte sich seinen Weg zu ihm und er sah blind auf. Durch die Positionsveränderung stand Knox hinter ihm und gerade jetzt war Jean viel zu betäubt von seinen übrigen Emotionen, dass es ihm etwas ausmachte. Von seiner Position heraus konnte Knox einen perfekten Blick auf den Bildschirm werfen und in dessen Gesicht sah Jean genau die Verstörung, die er tief in sich fühlte. Er wusste gar nicht, dass es möglich war, seine gesunde Gesichtsfarbe innerhalb von so wenigen Sekunden zu verlieren. Er wusste gar nicht, dass Knox so bleich werden konnte, die Augen so groß und dass dem anderen Jungen tatsächlich mal die Worte ausgehen konnten. „Jean?“, krächzte sein Kapitän schließlich und er wandte seinen Blick ab, wieder hin zum Bildschirm, der ihm seinen Wert nannte. Den Wert seiner Schande. Fünf Millionen Dollar. ~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 12: Kintsugi -------------------- Jeremy starrte auf den Bildschirm, als könne ihm dieser die Antwort auf all seine Fragen geben, die sich mit der schier erschlagenden Summe aufgetan hatten. Er starrte solange, bis er sich bewusst wurde, dass er viel zu nah bei Jean stand. Viel zu nahe und viel zu bedrohlich stand er über Jean und verursachte dem anderen Jungen sicherlich damit Unwohlsein. Nur zu deutlich hatte Jeremy noch vor Augen, wie Jean panisch und ängstlich vor ihm zurückgewichen war. Klar sichtbar hatte Panik in den grauen Augen gestanden, Furcht vor ihm, während Jean sich klein gemacht und die Teile seines Körpers geschützt hatte, die es in solchen Fällen zu schützen galt. Jeremy hatte sich unwillkürlich an ihren zweiten Tag zurückerinnert, an den grausamen Moment, in dem Jean vor ihm gekniet hatte, die Stirn auf dem Boden. Was haben sie bloß mit dir gemacht?, hatte sich Jeremy erneut mit blutendem Herzen gefragt, während er selbst mit Schuldgefühlen zu kämpfen gehabt hatte. Er war dumm gewesen, so spontan zu reagieren und Jean auf die Pelle zu rücken. Er hatte nicht nachgedacht, als er sich auf das Bett hatte fallen lassen zu einem Jungen, dessen Haare an großen Stellen ausgerissen worden waren. Jean hatte für seine Dummheit bezahlt und das hatte Jeremy mehr als alles andere wehgetan. Eingedenk dessen trat er nun langsam um Jean herum und ließ sich vorsichtig an dessen Kopfende nieder, sodass dieser ihn gut im Blick hatte und sehen konnte, was er tat. „Das ist echt `ne Menge Geld“, lächelte er schließlich zuversichtlicher, als er sich fühlte. Doch mit irgendetwas wollte er die Anspannung, die wieder aufgetreten war, auflösen und wenn es nur ein dummer Spruch war, der etwas Anderes außer dieser offensichtlichen Verstörtheit hervorrief, die Jean zu einer fadenlosen Marionette machte. Wie es schien, hatte er zunächst keinen Erfolg damit, doch dann richteten sich die durchdringenden Augen auf ihn und Jeremy wünschte sich beinahe, er hätte Jeans Aufmerksamkeit nicht auf sich gezogen. Viel schlimmer war es jedoch, dass Jean keinen Ton sagte und Jeremy nur durch einen Einblick in seine Mimik erlaubte, an seinen Emotionen teilzuhaben. Der Hass, den er fand, verschreckte ihn, auch wenn er sich beinahe sicher war, dass sich dieser nicht auf ihn bezog. „Eigentlich gehört eine Million davon dir, wenn es man es genau nimmt“, war das Erste, was Jeans Lippen verließ. Es irritierte Jeremy zutiefst. „Warum? Es ist dein Geld, du hast es dir verdient. Oder nicht…?“, setzte er zögerlich hinterher, als er sah, wie der Backliner zusammenzuckte. „Verdient…“, echote dieser tonlos. „Ich habe es mir verdient.“ Jetzt war es purer, reiner Hass, der sich einzig und alleine auf Jeremy richtete. Verachtung bis über die Grenzen des Erträglichen hinaus. Das Schweigen, was nun zwischen sie trat, war eisig, Jeans Bewegungen roboterhaft und wenig menschlich. Ungelenk loggte er sich aus, noch viel ungelenker schob er den Laptop von sich, bevor er aufstand und ohne einen Ton zu sagen das Schlafzimmer verließ. Keine Minute später hörte Jeremy, wie die Tür zu ihrem Apartment aufgerissen und mit einer derartigen Wucht zugeknallt wurde, dass die Gläser in ihrem Schrank klirrten. Wie vom Donner gerührt saß Jeremy auf dem Bett seines Zimmernachbarn und starrte fassungslos auf die Tür. Was zum Teufel hatte er falsch gemacht? Er schluckte mühevoll und verharrte auf dem Bett, in der Hoffnung, dass Jean zurückkam, wenn er sich beruhigt hatte. Wenn er ihm sagen würde, was er falsch gemacht hatte. Doch nichts tat sich und es dauerte exakt 28 Minuten, bis Jeremy die Courage aufbrachte, zu seinem Handy zu greifen und Kevins Kontakt aufzurufen. Noch einmal sechs Minuten, bis er den Jungen auch wirklich anrief. „Hi Jeremy!“, wurde er mit einem Lächeln begrüßt, das ihn schon seit Beginn ihrer Freundschaft immer in seinen Bann gezogen hatte. Die darin enthaltene Herausforderung hatte er von Anfang an gerne angenommen. Nun aber scheute er sich vor eben dieser und winkte verschämt. „Wie geht es dir?“, läutete er das Gespräch ein, erst einmal vom Thema ablenkend. Kevin hob die Augenbraue und gab Jeremy nonverbal zu verstehen, dass er die Verzögerungstaktik durchaus durchschaut hatte und nur aus Höflichkeit nicht schnaubte. Lakonisch legte er den Kopf schief. „Besser als dir, wie es aussieht, habe mich gerade von einer Zimmerparty mit den Monstern und dem Junkie davongestohlen, als kein großer Verlust.“ „Du bist kein großer Verlust!“, hörte Jeremy einen weiter entfernten Zwischenruf aus dem Hintergrund und er musste wider Willen schmunzeln. Wenn er sich nicht täuschte, war das Neil Josten, verdammt schneller Striker mit verdammt großer Klappe. Nicht umsonst hatte Alvarez eine Playlist mit all seinen besten Antworten auf Reporterfragen auf ihrem Rechner, mit der sie ihn in regelmäßigen Abständen quälte. Nicht, dass Jeremy sich je dazu hatte breitschlagen lassen, ihr den gleichen Umgang mit der Presse zu erlauben. Beim Gedanken daran hielt Jeremy nicht nur gedanklich inne. Bisher hatte er die Notwendigkeit, Jeans Ankunft bei den Trojans der Presse vorzustellen, noch weit von sich geschoben. Aber es wäre notwendig, ebenso wie es notwendig wäre, dass der Junge selbst ein paar Worte sagte, was, wie ihm bewusst wurde, in der Vergangenheit noch nie der Fall gewesen war. Jedes Pressestatement war von Riko oder Kevin gemacht worden, niemals aber von Jean. Oh Shit. „Und wie geht’s Neil?“, fragte er alleine schon deswegen, um sich selbst von dem Problem abzulenken und noch ein bisschen mehr Zeit zu schinden…wenn er gerade schon einmal dabei war. „Weiß nicht, wann es für ihn gut ist, den Mund zu halten und stopft ungesundes Zeug in sich hinein. Mach dir keine Gedanken. Wenn er so weiter macht, wird er in der kommenden Saison kein ernstzunehmender Gegner für euch sein.“ „Und selbst wenn, wir haben Jean“, grinste Jeremy zurück, auch wenn das nicht lange hielt. Im Gegenteil. Es brauchte nur ein paar Sekunden, da erlosch es wieder und er dachte an das, was heute Abend geschehen war. „Kevin… ich glaube, ich habe etwas Dummes gemacht“, leitete Jeremy den wahren Grund ihres Videochats ein. Besorgt musterte sein Gegenüber ihn. „Das glaube ich nicht, Jeremy. Aber erzähl mal.“ Er überlegte, ob er Dinge aussparen sollte, entschied sich letzten Endes aber dagegen. Er erzählte alles, angefangen vom Besuch der Männer der Moriyamas über Jeans Zurückzucken über die Geldsumme und seine Worte, die Jean so wütend gemacht hatten, dass er ohne ein weiteres Wort ihre Wohnung verlassen hatte. Kevin hörte geduldig zu ohne ihn zu unterbrechen und brauchte seinerseits eine Weile, um die Informationen im Anschluss zu verdauen. „Kevin, ich habe Angst, dass ich etwas wirklich Schlimmes gesagt habe, aber das Geld hat er sich doch verdient, oder nicht? Das ist doch für seine Spiele für Evermore, sein Sportstipendium, die Edgar Allan ist doch reich…“, begann Jeremy an zu brabbeln, wie er es immer tat, wenn er nicht weiter wusste. Kevin schüttelte den Kopf. „Nein, für die Spiele ist das Geld nicht. Dieses wurde von Evermore einbehalten, zumindest, was ihn anging.“ Jeremy schluckte schwer. „Und was meinte er damit, dass mir eine Million davon zustehen würden? Ich habe doch gar nichts damit zu tun. Wir haben uns doch bis vor zwei Wochen noch nicht einmal wirklich kennengelernt.“ Kevin runzelte die Stirn. „Wieviel waren auf dem Konto, sagtest du?“ „Fünf.“ Kevin Day brauchte weniger als zwei Minuten, damit ihm die Bedeutung dieser Zahlen klar wurde, das sah Jeremy schon an der Gesichtsfarbe, die von einem gesunden Ton zu einem aschfahlen Grau wurde. Das, was Jeremy in seinen Augen erkannte, war in allererster Linie Trauer, dann Bedauern und schlussendlich überwältigender Schmerz. Hatte er gedacht, dass Kevin sein Wissen mit ihm teilen würde, lag Jeremy aber falsch. Ungeduldig bedeutete er Kevin, fortzufahren, doch das stieß auf schweigende Ablehnung. „Was ist es? Was habe ich falsch gemacht?“, hakte er deswegen nach und Kevin schnaubte. „Nichts, Jer. Du hast nichts falsch gemacht.“ Schuld und Verzweiflung in Kevins Stimme ließen all seine Alarmglocken schrillen. „Aber warum hat er sowas dann gesagt?“ „Jean hat…“, begann Kevin und verstummte dann. Er schluckte mehrfach, bevor er erneut ansetzte. „Riko hat Jean viele schlimme Dinge angetan. Darunter auch viele unverzeihliche Dinge.“ Jeremy nickte. Für ihren waren alleine schon die fehlenden Haare unverzeihlich. Oder die Narben um die Handgelenke. „Manche Dinge hat er auch aus Hass oder Eifersucht getan. Damals habe ich dich das erste Mal kennengelernt und habe einmal zu oft davon erzählt, dass ich deine Art zu spielen beeindruckend finde. Riko hat das bestraft.“ Entsetzt schlug sich Jeremy die Hand vor den Mund. Was das zu bedeuten hatte, mochte er sich gar nicht ausmalen. Was Jean dadurch hatte erleiden müssen, auch nicht. Er war sich sicher, dass es grausam gewesen sein musste. „Die Zahl dieser Summe in Verbindung mit Jeans Worten ist ein Hinweis darauf, dass es in irgendeiner Art und Weise entweder Schweigegeld ist. Das hat sich Jean nicht verdient, das musste er erleiden.“ Jeremy rieb sich frustriert über sein Gesicht. „Ich bin so ein dummer Trottel“, murmelte er. „Nein, Jeremy, du bist ein wundervoller Mensch, der sich sorgt und kümmert. Du hast nichts falsch gemacht. Wenn jemand etwas falsch gemacht, dann bin ich es. Ich hätte dir mehr erzählen und dich besser auf Jean vorbereiten müssen.“ Jeremy seufzte. „Du hättest mir sagen sollen, dass er Angst vor mir hat, Kev.“ Das überraschte Kevin, doch schließlich schüttelte er den Kopf. „Ich glaube nicht, dass er Angst vor dir hat. Er hat Angst vor seinem Trainer und seinem Teamkapitän, damit auch vor der Macht, die von diesen Personen ausgeht. Er hat Angst vor Fremden, die er nicht kennt und vor Situationen, die ihm unbekannt sind.“ „Ich beneide Renee darum, dass er so vertraut mit ihr ist“, überraschte Jeremy nicht nur Kevin mit seinen Worten. Es war tatsächlich Bitterkeit, die er bei dem Gedanken an ihr Telefonat und die relative Offenheit des Backliners dort empfand. „Vor ihr hat er keine Angst.“ Die Sanftheit, die Jeremy über Kevins Gesicht huschen sah, sprach für sich. „Weil sie ihn gerettet hat und nicht müde wurde, jede einzelne seiner Mauern zu überwinden oder zu durchdringen.“ „Willst du mir sagen, dass ich genauso stur sein soll wie sie?“ Kevin überlegte einen Moment lang. „Er ist es wert.“ Jeremy hob die Augenbraue. „Stur zu sein?“ „Nicht aufzugeben. Jean ist ein wunderbarer Mensch, der es mehr als jeder andere verdient hat, endlich glücklich zu werden in seinem Leben. Wenn ich es könnte, ich würde…“ Weiter kam Kevin nicht, als ihm abrupt das Handy aus der Hand gerissen wurde. Minyard, schon wieder, dessen eiskalte, desinteressierte Ruhe Jeremy nach wie vor einen Schauer über den Rücken jagte. „Captain Sunshine hier, Captain Sunshine da, Captain Sunshine schon wieder am Telefon. Man könnte meinen, Captain Sunshine wäre bei uns eingezogen, so oft, wie sein Geist in den heruntergekommenen Hallen des Foxtowers herumgeistert“, schnarrte der blonde Junge desinteressiert. „Stell dir lieber die Frage, ob der Rabe überhaupt die Mühe wert ist, die du veranstaltest.“ Damit hatte er aufgelegt und Jeremy starrte perplex auf seinen Bildschirm, lange genug, dass sich nach ein paar Minuten Kevin noch einmal meldete, auf den Lippen ein wütendes Grollen. „Und ich sage dir, er ist es wert. Jede einzelne Zelle in seinem Körper ist es!“ Stumm nickte Jeremy und Kevin verabschiedete sich mit dem Versprechen auf ein morgiges Telefonat, sobald er mit Jean gesprochen hatte. Dessen Handy nun im Hintergrund pingte, während der Startbildschirm grell aufleuchtete. Jeremy sah in die Richtung und runzelte die Stirn, als der Nachrichtentext lediglich eine Zahl war. 51. Was auch immer das zu bedeuten hatte. Den Absender konnte Jeremy nicht erkennen. Jeremy seufzte und ließ sich auf sein eigenes Bett zurückfallen. Er würde wach bleiben, bis Jean wieder da war, und mit ihm sprechen. Er musste mit ihm sprechen, bevor er ihn morgen ihrer Mannschaft vorstellte, er musste sich entschuldigen und versprechen, dass er das nicht wieder tun würde. Mit jeder halben Stunde, die verstrich, wurde Jeremy müder, bis er schließlich einschlief. Mitten in der Nacht schreckte er hoch und stellte fest, dass Jeans Bett immer noch unangetastet war. Er verschob seinen Plan auf den nächsten Morgen, doch als er aufwachte, war Jean immer noch nicht da. ~~**~~ Der erste Sonnenaufgang, den Jean hier in Kalifornien im Freien sah, beendete eine Nacht voller Zweifel, dunkler Gedanken und Fragen, die er sich selbst gestellt hatte, die ihm aber nur eine Person aktuell beantworten konnte. Diese Person schlief unter ihm in dem Haus, das die Trojans bewohnten und würde in einer Stunde aufwachen, so schätzte es zumindest Jean. In seiner überhasteten Flucht hatte er vergessen, sein Handy mitzunehmen, so war er die dunklen Stunden in der Nacht gänzlich auf sich alleine gestellt gewesen. Er hatte seinen Countdown nicht, der ihm versichern würde, dass es eine endliche Zahl an Tagen gab. Viel schlimmer war jedoch gewesen, dass er Renee nicht hatte, die er kontaktieren konnte. So hatte er mit sich alleine ausmachen müssen, was diese Worte in ihm angerichtet hatten. Knox hatte gesagt, dass er sich das Geld verdient hatte. Grausam und ehrlich war er gewesen und Jean hatte einen Moment lang die Kontrolle über sich verloren. Gerne hätte er seinen Kapitän in dem Moment geschlagen. Wieder und wieder, bis dieser sich für seine Worte und für das, was er alleine durch sein Dasein angerichtet hatte, entschuldigt hätte. Gleichzeitig hätte er ihn gerne angeschrien, wie er denn glaubte, dass es sein würde, vergewaltigt zu werden. Wieder und wieder, trotz und gerade wegen aller Gegenwehr. Er hatte ihm ins Gesicht schreien wollen, wie er sich gefühlt hatte, als sie ihn gegen seinen Willen ausgezogen, gegen seinen Willen angefasst und gegen seinen Willen zum Geschlechtsverkehr gezwungen hatten. Nichts von beidem hatte er getan, sondern war geflohen, auf das Dach des Hauses, dessen Abgrund hoch genug war, um herunterspringen zu können und dem allem ein Ende zu setzen. Jean hatte auch wirklich lange dagesessen und in eben jenen Schlund gestarrt, der ihm verlockend sein Ende zugerufen hatte. Stundenlang hatte er seine Beine baumeln lassen, seinen Oberkörper nach vorne gebeugt und sich dennoch jedes Mal davon abgehalten, zu springen. Was genau es war, konnte er erst bei Anbruch der Dämmerung sagen und Jean war jetzt noch verwundert über den Gedankengang, der den Teufelskreis aus Rikos und Knox‘ Worten durchbrochen hatte. Was, wenn Knox gar nicht gemeint hatte, dass es seine Schuld war und dass er verdient hatte, wie eine Prostituierte bezahlt zu werden? Was, wenn Knox gar nichts davon wusste, weil Day nichts gesagt hatte, eben weil es dem dunkelhaarigen Jungen egal war, was Jean angetan worden war? Was, wenn es sich auf den Betrag bezog und nicht auf das, was dahinter stand? Jean tat das, was er bei Riko niemals getan hätte. Er nahm sich vor, seinen Kapitän nach seinen Motiven zu fragen, um sich Klarheit zu verschaffen. Vielleicht würde er darauf auch eine Antwort erhalten. Mit erschreckender Klarheit war ihm damit aber auch etwas Anderes bewusst geworden. Dieses Geld, dessen Menge Jean mit seinen Gedanken noch nicht einmal erfassen konnte, war der goldene Lack, der die Scherben seines Seins zusammenhalten und veredeln sollte. Deswegen hatte ihm die Anwältin die Vase gegeben, die in der Kunst des Kintsugi repariert worden war. Riko hatte sich über diese alte Tradition immer lustig gemacht und mit Verachtung angemerkt, dass man kaputte Dinge wegschmeißen und durch Dinge ersetzen könnte. Er war das kaputte Ding, die schwarzen Scherben und die fünf Millionen waren der Klarlack. Zusammen sollten sie ein wunderschönes neues Stück ergeben, das in Ehrung an die Kultur und Werte zu neuem Glanz erblühte. Verächtlich hatten Jeans Gedanken seine Selbstmordabsichten stumm in Richtung West Virginia geschickt. Ihre ach so wertvolle Schale würde in Millionen kleine Teile zerspringen, unwiederbringlich zerstört und doch voller Frieden. Doch noch nicht. 51 Tage noch. Oder waren es mittlerweile nur noch 50? Sein Handy würde es ihm sagen können, denn er hatte sicherlich bereits eine Nachricht erhalten. Neben ihm landete eine Möwe auf der Balustrade und beäugte ihn anscheinend auf ihrer Suche nach Futter. Sie war kleiner als die in Marseille, hatte er den Eindruck, auch wenn Jean sich dessen nicht sicher war. Vielleicht waren sie ihm damals auch größer vorgekommen, weil er selbst noch so klein gewesen war. „Husch“, versuchte Jean sie zu verscheuchen, doch sie ließ sich weder von seiner Stimme noch von seinen Worten davon abbringen, wieder wegzufliegen. Das Einzige, was er erreichte, war, dass sie ihm ein paar Meter auswich und dann, als er nicht hinsah, wieder zurückkam. Jean grollte. „Ich habe nichts zu essen“, fühlte er sich genötigt zu sagen und hoffte, dass niemand mitbekam, dass er mit einem aufdringlichen Vogel sprach, so als würde dieser ihn verstehen. Dass ihn niemand verstehen würde, selbst wenn er Zuhörer hätte, dafür sorgte er, als er automatisch auf seine Muttersprache wechselte. Wie immer, wenn er alleine war. Ein jahrelanger Akt der Rebellion, sozusagen. Er erhielt ein sattes Krächzen als Antwort und schnaubte. „Geh zurück ans Meer, wo du hingehörst, Mistkröte.“ Sobald die Worte seinen Mund verlassen hatten, wurde Jean sich bewusst, wie gut sie taten. Offen und ehrlich konnte er sein, er konnte diesen Vogel in seiner Muttersprache beleidigen, ohne dass er fürchten musste, dass er dafür geschlagen wurde. Sie kam wieder näher und ein leiser Schrei sagte ihm, dass er nicht furchteinflößend genug war für sie. Fassungslos hob Jean die Hände. „Nein. Wenn du etwas zu essen haben willst, flieg woanders hin! Hör auf, mich zu belästigen.“ Sie hüpfte ein paar Schritte rückwärts, als er sie mit seinen Händen wegscheuchte und beäugte ihn weiter. Eine Weile verbrachten sie schweigend und in gebührendem Abstand zueinander, dann kam sie wieder näher. Jean stöhnte auf rollte mit den Augen. „Du bist wie er. Vielleicht sollte ich dich so nennen, hm?“ Ja, warum eigentlich nicht. Hier und jetzt hörte ihn doch niemand und all der Frust der letzten Tage mit seinem neuen Kapitän, der für ihn ein Rätsel war, brach sich die Bahn. „Du bist ein Jeremy“, beschloss er und verschränkte die Arme, während er den Namen das erste Mal laut äußerte. Er probierte, wie sich der Vorname seines Kapitäns auf seiner Zunge anfühlte. Weich, melodisch gar, wenn er die Betonung auf die letzte Silbe legte. Und wie das passte. Eine gefräßige Möwe, die ihm zu nahe kam und immer dann, wenn er nachlässig wurde, den nächsten Versuch startete und sich dabei nicht abwimmeln ließ. „Tut mir leid, aber das ist eine sie und sie heißt Laila“, ertönte es hinter ihm und Jean fuhr entsetzt herum, gerade rechtzeitig genug, dass ihm ein großer Brotkrumen gegen die Stirn fliegen und von Jeremy-Laila aufgeschnappt und heruntergeschlungen werden konnte. Der begeisterte Schrei der Möwe begleitete sein wild schlagendes Herz und sein sinnloses, weil unbewegtes Starren. Alvarez, so hieß sie, kam mit einer Tüte Brot in der Hand auf ihn zu und musterte ihn mit einem herausfordernden Lächeln. „Sie belästigt dich, weil du auf meinem Platz sitzt, Moreau, und weil ich sie immer füttere. Betonung auf immer. Und auf ich. Also schön langsam mit den jungen Ex-Raven-Pferden.“ Reichlich perplex starrte Jean das Mädchen an, wie sie die Möwe von ihm weglockte und ihr Stück um Stück zu fressen gab. Er schluckte trocken und wog in seinen Gedanken ab, ob es Sinn machte, das Thema noch einmal aufkommen zu lassen und sie darum zu bitten, ihrem Kapitän nichts zu sagen, damit er nicht bestraft werden würde. Alles, was dabei herauskam, war ein gepresstes „Du sprichst Französisch?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Genug um dich zu verstehen, du französisches Wunderkind.“ Jean verschränkte die Arme. „Bitte…sag es nicht Knox.“ Er würde ihn bestrafen, wenn er herausfand, dass er eine Sprache nutzte, die dieser vermutlich nicht verstand. Ungute Erinnerungen kamen in ihm hoch, als er daran dachte, dass er drei Tage nicht hatte essen können, als Riko ihn zum ersten Mal dafür zusammengeschlagen hatte, dass er Französisch gesprochen hatte. „Was?“, fragte Alvarez in seine Gedanken hinein. „Dass du in deiner Muttersprache nicht halb so böse klingst, als wenn du Englisch sprichst?“ Irritiert blinzelte Jean und schwieg für einen Augenblick lang verwirrt. Das tat er nicht. Außerdem war das hier nicht der Punkt. „Wird es ihn nicht wütend machen?“, hakte er vorsichtig nach und Alvarez hob die Augenbraue. „Wütend?“ Jean grollte innerlich. „Weil er es nicht versteht.“ Lauthals lachte das Mädchen an seiner Seite. Sie kräuselte ihre Nase und legte den Kopf in den Nacken, bevor sie sich zu ihm nach vorne beugte. „Aber Jer doch nicht. Im Gegenteil. Er wird an deinen Lippen hängen und dich auffordern, nur noch Französisch mit ihm zu sprechen, natürlich ohne dass er dich versteht. Glaube mir, diese Büchse der Pandora willst du nicht öffnen.“ Jean hörte ihre Worte rein technisch gesehen, hatte aber wirklich Mühe, sie zu verstehen. Knox würde sich freuen und ihn dazu auffordern, in einer ihm fremden Sprache zu sprechen? Das war eine derartige Antithese zu Riko und Evermore, dass Jean sich für einen Moment fragte, wie das überhaupt sein konnte. „Wieso nennst du das Tier Laila?“, fragte er, alleine schon, um von dem Thema abzulenken, auf das er keine Antwort hatte. „Wenn ich sage, dass sie genauso verfressen ist, dann wäre das nicht nett. Also sage ich, dass sie mir genauso aus der Hand frisst.“ „Das ist auch nicht nett.“ „Ansichtssache. Geht mir ja genauso.“ Jean versuchte, sich einen Reim aus den Worten zu machen, doch auch dieser Zusammenhang erschloss sich ihm nicht. Alvarez schien seinen Gesichtsausdruck richtig zu deuten und lächelte süffisant. „Das nennt man Beziehung, Moreau. Solltest du auch mal probieren. Oder hast du schon?“ Er blinzelte. Eine Beziehung? Darauf hatte er doch gar kein Recht. Schnaubend wandte er seinen Blick ab und sie ließ sich neben ihm nieder, als die Tüte leer war und der Vogel sich davon dreimal selbst überzeugt hatte. Das undankbare Vieh blieb noch nicht einmal eine Minute länger, bevor es wegflog. „Was treibt dich in die luftigen Höhen unseres Hauses?“, fragte die dunkelhaarige, junge Frau an seiner Seite, die auch auf dem Spielfeld neben ihm stehen würde. Sie war nicht ganz unfähig, auch wenn Jean da durchaus noch erhebliches Verbesserungspotenzial sah. „Stille“, gab er zurück und sie lachte. „Hält er nicht den Mund, unser werter Kapitän?“ Jean zuckte nichtssagend mit den Schultern. Kritik am Kapitän war gefährlich und würde nur zu Schmerzen führen. „So ist er, wenn er nervös ist und es jemandem recht machen möchte.“ Das überraschte Jean dann doch und er wagte einen Blick in ihre dunkelbraunen Augen. „Ich meine, hey, so ein plötzlicher Transfer des besten Backliners der Liga von dem besten Team der Liga zum drittbesten Team, der aussieht, als hätte ihn ein Auto überfahren… da kann man schon mal nervös sein, was das wohl zu bedeuten hat.“ Ihr Lächeln war alles andere als freundlich und Jean schluckte schwer. Er wusste, was sie damit andeuten wollte. „Ich bin kein Spion“, erwiderte er leise. „Habe ich mit keiner Silbe gesagt. Glaube ich auch nicht.“ „Was glaubst du dann?“ „Dass das tote Riko-Arschloch dir ebenso zugesetzt hat wie er Kevin Day zugesetzt hat, nur dass er dir nicht die Hand gebrochen hat, sondern, dass er dir büschelweise Haare ausgerissen und dich mit einem Messer verstümmelt hat.“ Bedeutungsschwanger glitt ihr Blick in Richtung seiner Haare und Jean wurde sich mit plötzlichem, bodenlosem Schrecken bewusst, dass er nur sein Shirt trug, nicht jedoch seine Beanie oder seinen Hoodie. In aller Klarheit sah Alvarez die Katastrophe auf seinem Kopf. In aller Klarheit sah sie seine mit Narben übersäten Arme und Hände, die noch frischen Verbände. Nichts hatte sie sich anmerken lassen, als sie auf das Dach gekommen war. Rein gar nichts. Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn verbrannt. „Hör zu, Mr. Gewitterwolke.“ Jean starrte ihr fassungslos in die Augen. Gewitter…was? „Die Trojans stehen für Freundschaft und Loyalität. Wir schützen einander. Wir lassen nicht zu, dass unseren Freunden und unserem Team etwas passiert. Mehr noch. Wir tolerieren keine Gewalt und stehen dagegen ein.“ Sie machte eine Pause und wartete anscheinend darauf, dass er etwas dazu sagte. Jean wüsste nicht, was, also schwieg er. Es dauerte eine Weile, dann nickte sie. „Ich habe die Gerüchte über Evermore nie wirklich für voll genommen. Das Einzige, was ich aber sofort geglaubt habe, waren die fragwürdigen Trainingsmethoden und kultähnlichen Anwandlungen, die ihr auf den Banketten und auf dem Spielfeld gezeigt habt.“ Jean schnaubte. „Das hat Josten auch gesagt.“ Die dunklen Augen leuchteten auf. „Ich fand es sehr spannend, dass er nach der Winterpause die Ziffer vier auf seiner Wange tätowiert hatte. Wie kam es dazu?“ „Riko hat es ihm aufgezwungen.“ „So wie dir die Nummer drei und Kevin die Nummer zwei?“ Bevor er sich davon abhalten konnte, nickte Jean. „Abartig“, urteilte sie nach einer Weile und er zuckte mit den Schultern. Ja, das war es gewesen, als sie ihn niedergehalten hatten um ihm die Drei einzutätowieren. Abartig war es gewesen, dass er Neil Josten hatte unten halten müssen, während Riko ihm die Vier auf die Wange geschrieben hatte. Die perfekte Mannschaft mit den perfekten Spielern. „Niemand hier wird dir etwas tun, Moreau. Nicht Jer, nicht ich, nicht Laila, niemand. Und niemand wird dich brandmarken, auch wenn ich es nicht erwarten kann, dich wie einen Weihnachtsbaum mit Trojan-Merchandise auszustatten.“ Jean hätte über die ausdruckslosen Worte lachen sollen, doch ihm war nicht danach zumute. Jetzt, in diesem Moment, wollte er lieber so tun, als würde er ihnen glauben, als wäre das die Faustformel für die kommenden Tage und Wochen. Und wenn er ehrlich war… so war die Vorstellung an ein solches Team eine Utopie, aus deren Ideen er gedanklich Kraft zog. „Ganz ehrlich, Moreau… ich gebe dir zwei Wochen und du wirst vor der Freundlichkeit deines neuen Teams die Wände hochgehen.“ Jean hob die Augenbrauen. „Ist das eine Drohung?“, fragte er kühl und Alvarez lachte. „Das ist eine realistische Einschätzung von einem Jean Moreau-Fangirl, das etwas zu lange damit verbracht hat, jeden Artikel über diesen großen, schweigsamen, talentierten Backliner zu verschlingen.“ Wie so vieles machte auch das keinen Sinn und er richtete den Blick in Richtung Sonne. „Ich gehe“, sagte er und sie zuckte mit den Schultern. „Ich halte dich nicht auf.“ Alvarez runzelte die Stirn. „Wobei…“ Jean hob die Augenbraue. „Laila weiß nichts von ihrer Namensvetterin und das soll auch so bleiben. Wenn du deinen Mund hältst, halte ich meinen, Deal?“ Überrascht musterte Jean sein Gegenüber. Schon wieder ein Deal? Doch nicht nur das wunderte ihn. Bei den Ravens war jedes Eingeständnis einer Schwäche eine unverzeihliche Schwachstelle gewesen. Alvarez ging so freizügig mit ihrer eigenen Schwäche um, dass Jean sich zunächst fragte, ob es eine Falle war. Er kam zu dem Schluss, dass es das aller Wahrscheinlichkeit nach nicht war und er neigte schlussendlich den Kopf. „Deal“, stimmte er zu und peinliche Stille entstand zwischen ihnen beiden, die Jean schließlich beendete, indem er tatsächlich aufstand und sich abwandte um zu gehen. Er hatte beinahe den Eingang zum Dachgeschoss erreicht, als sie ihn noch einmal zurückhielt. „Hey, Moreau.“ Jean brummte, ohne sich umzudrehen. „Wäre der Wichser von einem Kapitän nicht schon tot, ich würde ihm für das, was er gemacht hat, seinen Schläger zu fressen geben.“ Es war gut, dass sie sein Gesicht gerade nicht sah, befand Jean. Sein Lächeln gehörte ihm und nur ihm. Hatte es schon immer. ~~**~~ Als er das Apartment betrat, hörte Jean, wie es aus dem Schlafzimmer heraus rumpelte und etwas zu Boden fiel. Keine Sekunde später schob sich der blonde Schopf in sein Sichtfeld, die Augen groß und voller Sorge. Jean hatte gerade noch Zeit, sich seine Schuhe auszuziehen und in die Küche zu kommen, als er auch schon im vollen Fokus seines in der Nähe lauernden Kapitäns war, aus dessen Mund so viele hastige Worte sprudelten, dass Jean im ersten Moment wirklich Probleme hatte, ihnen zu folgen. „…und deswegen möchte ich dich um Verzeihung bitten, weil ich wirklich dumm war und ignorant und nicht nachgedacht habe und dich das sicherlich verletzt hat und…“ Sein Kapitän verstummte und verwirrt starrte er auf Knox herab, der ihm während seiner Ansprache so nahe gekommen war, dass Jean bequem auf ihn hinuntersehen konnte und er selbst seinen Kopf in den Nacken legen musste. Die Haltung des Kapitäns war offen, die Arme an den Seiten und entspannt. Knox hatte frisch geduscht, das konnte Jean riechen und sehen. Ebenso wie er sah, dass die Bräune des Jungen sich nicht nur auf sein Gesicht bezog, sondern auch auf seinen freien Oberkörper. Knox trug kein T-Shirt, so konnte Jean nun auch den körperlichen Beweis dafür sehen, wie sportlich der Kapitän der Trojans war. Da war kein Gramm Fett, nur Muskeln auf der narbenfreien Haut. „Es ist okay“, sagte Jean schlicht, in der Hoffnung, dass er damit keinen weiteren Wortschwall provozierte. Hoffnungsvoll hob Knox sein Kinn. „Ist es das wirklich?“ „Ja.“ „Und du bist mir nicht böse?“ Jetzt, in diesem Moment fiel es Jean schwer, seine Gedanken der Nacht nachzuvollziehen. Knox zu unterstellen, dass er es absichtlich gesagt hätte, war anscheinend so weit von der Realität entfernt, dass Jean sich fragte, wie er sich so hatte verschätzen können. Und wie oft er solche Fehleinschätzungen noch treffen wollte. Jean dachte über die letzte Frage seines Kapitäns nach, der von einem Bein auf das andere trat. Seine anscheinend unerschöpfliche Energie suchte sich zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Ventil, doch anders als Riko äußerte sich diese nicht in Sadismus oder Gewalt. Wo Riko Zerstörung war, war Knox pures Leben. Wie sollte er dem Leben böse sein? „Nein, bin ich nicht“, erwiderte Jean, als er merkte, dass sein Schweigen Knox unsicher machte und seufzte, als dieser einfache Satz überschwängliche Freude in Knox hervorrief. Soviel Freude, dass die Gestik und Mimik seines Kapitäns Jean deutlich mitteilte, dass dieser ihn in diesem Moment am Liebsten umarmt hätte. Er bereitete sich auf das Schlimmste vor, doch nichts kam. Knox entspannte abrupt seine gesamte Haltung und verschränkte seine Hände hinter seinem Rücken. Verlegen räusperte er sich und Jean wartete schweigend, ob er anstelle einer Umarmung etwas Anderes plante. Dem war anscheinend nicht der Fall, auch wenn Knox keine Anstalten machte, ihm aus dem Weg zu gehen. „Ist noch etwas?“, fragte er, als ihm das Schweigen zu bunt wurde. Ausgerechnet ihm, der es perfektioniert hatte, andere sich durch sein Schweigen unwohl fühlen zu lassen. „Nein“, erwiderte Knox und Jean begriff, dass die Unschuld, mit der sein Kapitän das sagte, auch wirklich genau das war: Unschuld. Es war kein Spiel, das er hier spielte. Jean seufzte. „Lässt du mich durch?“, fragte er schließlich und Knox‘ Lippen formten sich zu einem überraschten „Oh!“ Ja, oh. Genau das. Während er an seinem Kapitän vorbeitrat, hatte er klar und deutlich das Bild der Möwe vor Augen. ~~**~~ In den letzten zwei Monaten hatte Jean so viele Dinge zum ersten Mal erlebt, dass er mittlerweile dabei war, den Überblick über all das zu verlieren, was er noch nie gemacht hatte. Er wünschte, dass er ein Buch hätte, um sie niederzuschreiben, doch er wollte Knox nicht danach fragen. Er wusste nicht, wie er zu dem Supermarkt kommen konnte, in dem sie am Anfang gewesen waren, geschweige denn, wie er ohne eine Begleitung den Campus verlassen sollte. Jean berichtigte sich. Er konnte Knox gerade nicht danach fragen, weil sie sich beide im Exystadion befanden. Sie, Coach Rhemann und der Rest der Trojans. Das an sich war schon ein erstes Mal, doch das viel Verstörendere war, dass bis auf Jean alle Trainingssachen trugen weil das erste Training der Saison anstand. Zum ersten Mal war Jean bei einem Training anwesend ohne mitzumachen. Zum ersten Mal saß er auf der Bank, dorthin verbannt durch die Ärztin, die seinen Verletzungen zuviel Bedeutung zumaß, als dass er mittrainieren dürfte. Das war lächerlich angesichts der Tatsache, dass er mit gebrochenen Rippen und Fingern gespielt hatte, mit Stichwunden, die ihn bunte Sterne hatten sehen lassen. Nun aber stand er stumm neben seinem Kapitän und sah dabei zu, wie sich die USC Trojans langsam einfanden und wunderte sich über der Ruhe, mit der Coach Rhemann die Nachzügler begrüßte. Der Herr hätte niemals eine solche Disziplinlosigkeit geduldet. Die Ravens waren nie unpünktlich gewesen, der strenge Zeitplan war allen bekannt gewesen. Natürlich hatte es Ausnahmen gegeben, doch diese waren hart bestraft worden. „So, alle da?“, fragte im Gegensatz dazu Coach Rhemann mit einem Lächeln, als die Letzte, ein kleines, zierliches Mädchen, zu ihnen gejoggt kam und verschämt grinste. Jean wusste nicht, was er in diesem Moment mehr verachtete: ihre Dummheit oder die fehlende Kontrolle durch den Trainer. Was es auch war, es lenkte ihn nicht von den Blicken ab, die ihm zugeworfen wurden. Jean sah sie aus seinem Augenwinkel heraus oder wenn er seine Augen unerwartet in eine Richtung lenkte. Anscheinend hatten die bereits Eingeweihten dicht gehalten, was seinen Aufenthalt hier anging. Das Getuschel, das Jean zwischen zwei Jungen sah, die kurz zuvor auf ihn gedeutet hatten, war dennoch oder gerade deswegen so beunruhigend, dass es ihm die Nackenhaare stehen ließ. Wütend starrte er die Beiden so lange an, bis sie ihre Augen senkten und schwiegen. Jean wandte den Blick ab und blieb an einem Spieler hängen, der neben dem Hünen stand, den er in dem Einkaufszentrum getroffen hatte. Beinahe schon hasserfüllt wurde er gemustert und Jean versuchte sich an das Gesicht zu erinnern. Kannte er ihn? Waren sie schon einmal aufeinander getroffen? Was es auch war, eigentlich war es unerheblich. Aufmerksam und angespannt hörte Jean der Ansprache des Trainers zu, die dieser freundlich und mit mehr Humor, als er jemals in seinem Leben gehört hatte, hielt. Es gab anscheinend einige neue, aber auch viele alte Hasen, die ein eingespieltes Team waren und die die Neuen anleiten und ihnen mit gutem Beispiel voran gehen würde, wie Knox versicherte. In Jeans Augen war das komplette Verschwendung. Jeder wusste, wozu er hier war und welche Aufgabe sie gemeinsam zu erfüllen hatten. Dazu brauchte es keine großen, langatmigen Ansprachen. Und auch keine verdammte Vorstellungsrunde, wo jeder seinen Namen, sein Jahr und seine Exy-Erfahrungen erläutern sollte. Jeder einzelne wurde beklatscht und erhielt ein Willkommen von allen. Wenn das jemand bei den Ravens gewagt hätte… Der Gedanke war müßig, denn jetzt war das hier seine Hölle. Seine Vorstellungshölle, korrigierte Jean sich, als sich alle Augen auf ihn richteten. Hatte Riko ihn nicht genau deswegen mit der Nummer drei gebrandmarkt? Damit jeder wusste, was er war? Wem er gehörte? Nummer drei, Backliner der Ravens. Nicht mehr. Hier Nummer sieben, Backliner der Trojans. Jean knirschte mit den Zähnen. „Jean Moreau. Backliner. Von der Edgar Allan zur USC gewechselt“, sagte er knapp und sah selbst aus dem Augenwinkel heraus das stolze Grinsen seines Kapitäns. Seinen Worten folgte ein Schweigen, in dem man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Ein ungutes Gefühl kroch in Jean hoch wie ein schleichendes Raubtier. Sie schätzten ihn ab, sie versuchten seine Schwachstellen auszuloten und zu ergründen, wie weit sie gehen konnten, bis er brach. Sie würden sich an ihren Kapitän wenden mit ihren Vorlieben und fragen, ob er zur Verfügung stand. Jean war sich dessen sicher. Der plötzliche, laute Applaus und das begeisterte Rufen der Jungen und Mädchen um ihn herum erschreckte ihn daher mehr als dass er zuzugeben bereit war. Perplex sah er sich um und wagte einen Blick in die ihn anstrahlenden, teilweisen ehrfürchtigen Gesichter, in die Freude. Über ihn und sein Hiersein, als würde er zu ihnen gehören und einer von ihnen sein. „Wie cool! Der beste Backliner der Liga ist bei uns!“ „Ohne Scheiß, wir werden nie wieder ein Spiel verlieren!“ „Unsere Torhüter werden arbeitslos, hast du gehört, Dermott?“ „Woho, du bist noch furchteinflößender als auf dem Spielfeld! Krass, Mann! Und so riesig.“ „Die Saison gehört uns, Captain!“ „Rot-gold sind die besten Farben!“ Jean blinzelte verständnislos und wider Willen irrte sein Blick zu Knox, der ihm mit einem amüsierten Schulterzucken und einem Zwinkern antwortete. Das Mädchen neben ihm – Alvarez, rief sich Jean ins Gedächtnis – war da keinen Deut besser. „Ich hab’s dir gesagt, Mr. Gewitterwolke“, sagte sie leise genug, dass niemand außer ihr, Knox und ihm das hörte und Jean wandte konsequent den Blick ab, als Knox seinen Mund öffnete. Jean behielt das auch für den Rest des Trainings so bei, das er an der Seite des Trainers verbrachte, der ihm eine Einführung in das Team, seine Arbeitsweise und die Art zu spielen und zu trainieren gab. Ruhig und besonnen erläuterte Coach Rhemann Jean all das, was für ihn schwer zu begreifen war. Warum sie eine so kurze Aufwärmphase hatten. Warum das Ausdauertraining einen Bruchteil an Zeit beanspruchte, die es in Evermore beansprucht hatte. Warum die Nachlässigkeit bei den Übungen und Drills nicht bestraft wurde und er Coach sich diese Unfähigkeit nur ansah und Notizen machte. Er erklärte ihm die Teamdynamik und Jean war nach den drei Stunden, die er neben Rhemann gestanden und gelitten hatte, bereit, die Stadionwände hochzugehen. Das hier war kein Training. Das hier war noch nicht einmal Exy. Das war eine Ansammlung an Freizeitsportlern, die miteinander lachten, scherzten und Ausweichübungen in Fangenspiele umfunktionierten, ohne dass sie dafür gemaßregelt wurden. Jean war entsetzt und er fragte sich allen Ernstes, wie schlecht er selbst gewesen sein musste, dass Knox sich gegen ihn hatte durchsetzen können. Verschwitzt und rotwangig kam eben jener schließlich auf ihn zugerannt. Wovon?, gellte es in Jean. Knox hätte keine zwei Tage in Evermore überlebt. Nicht so. Riko hätte ihn auseinandergerissen. „Und, wie hat es dir gefallen?“, fragte der Ahnungslose und Jean gab sich Mühe, sein Missfallen zu unterdrücken. Es stand ihm nicht zu, seinen Kapitän zu kritisieren. Er durfte das nicht. Und dennoch vermochte er es nicht, sein Stirnrunzeln zu glätten. „Ist das Training…immer so?“, fragte er so neutral, wie es ihm möglich war, anscheinend jedoch immer noch kritisch genug, dass Knox unter seiner Musterung verschämt lächelte. „Na ein bisschen chaotisch sind wir schon. Aber das wird im Laufe der Saison besser werden.“ So würde gar nichts besser werden. Sie würden ihr lächerliches Gutmenschenspiel spielen und sowohl gegen die Ravens als auch gegen die Foxes verlieren. Wut schäumte in Jean hoch anhand einer derartigen Unbekümmertheit. Wie konnte Knox so lasch mit seinem Team umgehen und sie nicht dafür strafen, dass sie seinen Kommandos nicht folgten oder sie nachlässig ausführten? „Ja“, log Jean, weil alles andere dazu geführt hätte, dass er seine eigenen Worte Lügen strafte und seinem Kapitän nicht die Achtung entgegenbrachte, die dieser verdiente. „Alvarez, Laila und ich gehen nach dem Training noch ins Diner. Du hast doch auch noch nichts gegessen…kommst du mit?“ Jean hatte keine Wahl, weil er nicht alleine sein konnte. Das bedeutete aber nicht, dass er seinen Kapitän in diesem Moment nicht an seinem Jersey hochheben und schütteln wollte, damit dieser von seinem fürchterlichen Essensplan abließ. Seine Hände zuckten an seinen Seiten und seufzend nickte Jean. ~~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 13: Anderthalb Stunden ------------------------------ „Moreau, Knox, zu mir ins Büro, wenn ihr Beiden soweit seid!“, ließ Jean die Stimme seines Trainers innehalten und er verharrte auf dem Weg aus der Eingangshalle des Stadions heraus. „Alles klar, Chef, komme sofort!“, brüllte Knox aus dem Eingang der Umkleide, in dem er sich gerade noch mit einem der Spieler seines Teams unterhalten hatte, zurück. Unschlüssig war Jean einen Blick über seine Schulter. Sollte er schon alleine zu ihrem Trainer gehen, sollte er auf seinen Kapitän warten? Sie waren ja zusammen gerufen worden, da durfte er nicht aus der Reihe fallen. Jean ballte die Hände zu Fäusten, als er nicht in der Lage war, eine klare Entscheidung zu treffen und hoffte, dass das, was er nicht tat, nicht das war, was richtig gewesen wäre. „Geh‘ doch schonmal vor, Jean, ich komme nach“, nahm ihm Knox diese Entscheidung letzten Endes ab und steckte seinen Kopf aus der Tür heraus. Das beruhigende Lächeln gab Jean da den finalen Schubs in die Richtung ihres Coaches und er betrat nach einem knappen Klopfen dessen Büro. Der Mann sah von seinen Akten hoch. „Ah, Moreau, perfekt. Knox kommt auch gleich?“ Er nickte. „Er unterhält sich mit…“, begann er, wusste aber nicht weiter. Etwas ratlos zuckte er mit den Schultern und fragte sich, welche Strafe ihn wohl für das Vergessen von Namen ereilen würde. „…irgendwem. Keine Sorge, 28 Namen sind schwer zu lernen“, nickte Coach Rhemann ihm freundlich zu. „Was würde ich da ohne die Trikots tun. Apropos…“ Er deutete auf die Tüte, die auf einem der Stühle vor seinem Schreibtisch stand. „Das sind deine Sachen, die gerade frisch angekommen sind. Probiere sie an und sag mir, ob sie passen. Wenn nicht, sag mir das, dann bekommen Sie neue.“ Jean folgte dem Fingerzeig in Richtung Stuhl. Das äußere Zeichen, dass er nun den Trojans gehörte. Zu den Trojans, wenn er Knox fragte, was er wohlweißlich nicht tat. Jean blinzelte und fühlte sich in diesem Moment, als wären seine Beine am Boden festgewachsen, Bisher schien das alles so weit weg gewesen zu sein, noch abstrakt, eben weil er keine Farben trug, die ihn als Trojan kennzeichneten. Aber mit dem Inhalt der Tüte war es vorbei und es wurde konkret, dass er seinen Wechsel vollzogen hatte. Dem Wechsel zu einem Team, was im dritten Training immer noch nicht ernsthaft an die Übungen, die Drills und die Trainingseinheiten heranging, mit einem Coach, der sich lieber Notizen machte als dass er mit harter Hand eingriff und einem Kapitän, der viel zu freundlich und sanft war um die Mannschaft mit harter Hand zu führen. Jean schluckte schwer. „Du hast dein Leben lang nur in schwarz-rot gespielt, oder?“, fragte Coach Rhemann mit der Ruhe eines Mannes, der ganz genau wusste, was sich hinter Jeans Stirn abspielte und notgedrungen nickte er. „Ich verstehe sehr wohl, dass das ungewohnt und komisch für dich sein muss und ich möchte dich bitten, bei Problemen auf mich zuzukommen, damit wir gemeinsam eine Lösung finden können.“ Nichts lag Jean ferner, als seinen Trainer mit unsinnigen Problemen, die er hatte, zu belästigen. Alleine, dass dieser seine Wunden ausheilen ließ und ihn nicht auf das Spielfeld stellte, war schon ein Akt der Gnade sondergleichen. Er würde die Geduld des älteren Mannes nicht noch mehr auf die Probe stellen. „Natürlich, Si…Coach“, erwiderte er entsprechend neutral. „Sehr gut. Hole die Sachen mal raus, dann können wir sehen, ob noch etwas fehlt.“ Jean griff in die Tüte und förderte nacheinander Trikots, Sweatshirts, Hoodies, Trainingsjacken, Trikothosen, Jogginghosen, Schuhe, Socken, Schweißbänder, Handtücher, eine Cap und eine Jacke hervor. Auf einigen Oberteilen und Jacken stand sein Name und die Nummer, die er erhalten hatte. Moreau, Nummer sieben, las er stumm und fuhr mit seinen Fingern über den Druck. „Ich fürchte, jetzt passt nur das Tattoo auf deiner Wange nicht mehr“, scherzte der Trainer und Jean sah ruckartig hoch. Würden sie ihn wieder brandmarken? Aus der drei eine sieben machen? Aber das machte keinen Sinn, oder? Schließlich hatte Knox auch kein Tattoo. „Werden Sie mir ein neues stechen?“, fragte er rau und Rhemanns schwarze Augen weiteten sich. Entsetzt wiegelte der Mann ab. „Um Gottes Willen, Moreau, so war das nicht gemeint! Wir markieren hier niemanden!“ Natürlich nicht. Jean seufzte innerlich erleichtert. Vermutlich hätte er es sich denken können, andererseits hatte er mit so vielem daneben gelegen die letzten Jahre, Monate und Wochen, dass er seinem Urteil nur noch dann traute, wenn er in einem Exystadion stand und einen Schläger in der Hand hielt. „Danke“, murmelte er und Rhemann schnaubte. „Dafür nun wahrlich nicht. Also. Fühlst du dich bereit genug, die Sachen kurz anzuprobieren?“ Körperlich ja, auch wenn sich alles in ihm sträubte, die fremden Farben anzulegen, gegen die er schon so oft angetreten war. Es juckte ihm in den Fingern, die Kleidungsstücke zurück in die Tüte zu packen, doch Jean beherrschte sich. Er hatte schließlich den Vertrag unterschrieben. „Hier?“, fragte er leise und deutete auf das Büro. Nacktheit war in Evermore auch vor dem Herrn keine Seltenheit gewesen und falsche Schamfühle unerwünscht, doch anscheinend war es auch hier anders. „Nimm Fionas Physioraum. Der ist leer und da hast du genug Privatsphäre zum Umziehen.“ Wieder war es erleichterte Dankbarkeit, die sich in Jean breit machte und schweigend nahm er die Sachen auf. Der Raum der Ärztin war ein paar Meter weiter und er zog die Tür hinter sich zu. Dennoch war es nicht leicht für Jean, sich auszuziehen, in dem Wissen, dass die anderen Trojans und der Trainer so nahe waren. Entsprechend zögerlich war er daher am Anfang und entsprechend schnell, als es darum ging, das Trikot anzuziehen, das ihn für einen Moment an seine Kleidung in Evermore erinnerte, so frisch und unbenutzt, wie es roch. Jean brauchte einen Moment, um sich zu dem mannhohen Spiegel umzudrehen, der sich hinter ihm befand. In voller Pracht und natürlich in der rötlich untergehenden Sonne Kaliforniens zeigte er Jean sein Ebenbild in rot-gelb, das genauso falsch und verdreht war, wie es alles an diesem Bundesstaat war: die Freundlichkeit, das Team, das Training, einfach alles war nicht das, was ihm auch nur ein winziges Gefühl von Sicherheit vermittelt hätte. Wie weich er doch in dem warmen Licht aussah. Wie wenig der Junge im Spiegel er selbst war. Da half das Trikot, die gesamte Ausrüstung, die er gerade trug, sicherlich gar nicht. So überhaupt nicht. Er war nun ein Trojan, auch äußerlich, ein aus dem Nest gestoßener Rabe, dem die Farben, die er trug, zu grell und zu auffällig, nicht bedrohlich genug waren. Die Farben, die den Spielstil der Edgar Allan so gut repräsentiert hatten, passten nicht zu den Trojans und so fürchtete Jean das Schlimmste: dass das Training weiter zu gehen würde wie bisher. Unsinnig, lasch, disziplinlos. Doch wenn er sich ehrlich eingestand, so fürchtete er eine Sache noch mehr. Nun dort hinaus zu treten in seiner neuen Uniform und sich dem Kapitän und dem Trainer zu stellen. Schaut her, der Rabe hat seine Farben abgelegt und hat sich nun vollkommen seiner neuen Mannschaft unterworfen, die ihn aus Mitleid aufgenommen hatten. Weil er nicht stark genug war, sich dem Kampf in Evermore zu stellen. Jean wusste, dass das Blödsinn war. Er hatte jahrelang überlebt. Er hatte Dinge überlebt, die unaussprechlich waren. Was aber viel wichtiger war: er hätte Rikos letzten Gewaltausbruch nicht mehr überlebt, weil der Kapitän kein Maß und kein Ende gekannt hatte in seiner Wut. Er hätte ihm alles angetan, was sich angeboten hätte nur um seine eigene Wut über unabänderliche Dinge abzumildern. Daher war er stark genug gewesen, aber eben nicht unsterblich. Und der rationale Teil in Jean, eben jener, der Josten in dem Zimmer bei Abby mehr als einmal begegnet war, wusste das auch. Auch dank Josten selbst, auch wenn Jean das niemals laut zugeben würde. Jean atmete tief ein und flüchtete vor den Erinnerungen von Josten aus dem Zimmer heraus in Richtung seines Trainers. Und dem Möwenmädchen. Und seinem Kapitän. Und der Freundin des Möwenmädchens, die als Vorlage für den Namen des Tieres galt. Und dem Hünen, der ihn umarmt hatte. Und dem Jungen, der ihn noch viel ablehnender maß als bei seiner Vorstellung auf dem Spielfeld. Sara Alvarez. Jeremy Knox. Laila Dermott. Ajeet Anand. Logan Mayson. So waren ihre Namen, die Jean unsinnigerweise einfielen und die ihn nun allesamt anstarrten, als käme er von einem anderen Planeten. Er wünschte sich, dass sie ihn nicht mit geweiteten Augen und offenen Mündern anschauen würden und dass er nicht in ihrem Fokus wäre. Aber Wünsche wurden ihm schon seit langem nicht mehr erfüllt und so konnte Jean nicht anderes tun als dort, wo er war, zu verharren und seine abweisende, unfreundliche Maske über die Unsicherheit, die er selbst spürte, zu ziehen. Alvarez war die erste, die ihre Sprache wiederfand. „Scheiße, Moreau, du wahrgewordener, feuchter Traum meiner Hetero-Crush-Nächte“, grölte sie und stieß anerkennend Luft zwischen den Zähnen hervor. Jean blinzelte irritiert. „Das letzte Mal, als ich euch beim Sex überrascht habe, warst du noch lesbisch“, sagte Knox staubtrocken mit erhobener Augenbraue, doch auch er musterte Jean positiv überrascht und keinesfalls so abwertend, wie Jean es vermutet hatte. „Bin ich auch jetzt noch, aber ich darf doch wohl einem wahrgewordenen Traum hinterherhecheln, oder?“, wandte sie sich an ihre Freundin, die Jean mit einem Augenrollen deutlich machte, was sie von der Schwärmerei ihrer Partnerin hielt. „Sie meint es nicht so“, versuchte Laila mit einem sanften Lächeln zu schlichten, das Jean wider Willen Vertrauen schenkte. „Und ob! Verdammt Moreau, rot-gold steht dir ausgezeichnet. Jeremy, Mr. Gewitterwolke hier hat dich als Posterboy abgelöst. Du kannst ab jetzt zuhause bleiben auf den Unipartys.“ Gönnerhaft winkte sie ab. Wenn er ehrlich war, konnte Jean noch nicht einmal mit der Hälfte der Worte etwas anfangen. Posterboy? Was war das? Oder ein Hetero-Crush, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Alvarez doch anscheinend klar mit ihrer Freundin liiert war? Jean war das erste Mal vergewaltigt worden, bevor er seine eigene Sexualität hatte ausleben können, und hatte somit gewaltige Wissenslücken auf diesem Gebiet, aber er glaubte nicht, dass er sie attraktiv fand. Würde er sie befriedigen müssen, wie er es mit den Spielern in Evermore geschehen war, die Riko in sein Bett geschickt hatte? Er hoffte es nicht und wieder nahm Jean sich vor, seinen Kapitän um Klarheit zu bitten, was die Anforderungen des Teams an ihn waren. Er würde nicht noch einmal ertragen können, derart überrascht zu werden von roher und brutaler Gewalt, die ausschließlich seine Erniedrigung zum Ziel hatte. Knox schenkte ihm sein strahlendstes Lächeln. „Nimm sie nicht ernst, sie hat mir nur seit sie dich das erste Mal hat spielen sehen, damit in den Ohren gelegen, dich für uns abzuwerben. Mein Vizekapitän ist ein schamloses und hoffnungsloses Jean Moreau-Fangirl, nichts weiter. Trotzdem muss ich zugeben, dass dir unsere Uniform unverschämt gut steht und der Rang des Posterboys tatsächlich auf dich übergeht.“ Passend zu seinen Worten jaulte Knox gequält auf, als Alvarez ihm auf den Oberschenkel boxte, und Jean schüttelte innerlich wie äußerlich den Kopf über soviel Unsinn. Wenigstens hatten Anand und Mayson sich mit Kommentaren zurückgehalten, auch wenn er in den schwarzen Augen des Hünen erneut die Hoffnung gesehen hatte, dass sie beide eine Verbindung fanden. Schweigend überwand er die letzten Meter zum Büro seines Trainers, der ihn erst taxierend, dann wohlwollend ansah. „Sieht gut aus und passt, Moreau. Ich glaube, du wirst diese Uniform mehr als gut ausfüllen und uns eine wichtige und eine wertvolle Ergänzung des Teams sein. Ich bin froh, dass du hier bist, wäre aber noch viel froher wenn Ms. Alvarez ihre Schwärmerei in brauchbare Spielenergie umsetzen würde!“, rief er den letzten Teil des Satzes laut genug für die Ohren der Backlinerin nach draußen und Jean musste sich nicht umdrehen um sie unweit hinter sich zu wissen. „Und nun dürfen alle bis auf Ms. Alvarez, Mr. Knox und Mr. Moreau in den wohlverdienten Feierabend gehen. Ich wünsche viel Erfolg mit den Hausaufgaben“, knurrte er hinterher und bedeutete Jean knapp, sich ihm gegenüber niederzulassen. Wer wäre er, dass er diesem Fingerzeig nicht folgte, so setzte sich Jean vorsichtig auf den Stuhl und wartete, bis die beiden Anderen ebenfalls Platz genommen hatten. „Es geht um die anstehende Pressekonferenz zum Saisonstart in drei Wochen, bei der wir die Katze aus dem Sack lassen werden, was den Transfer angeht. Moreau, ich würde dich bitten, zusammen mit Knox ein paar Worte zu verlieren.“ „Ich?“, fragte Jean ungläubig nach. Noch nie war er vor die Presse getreten. Noch nie war es seine Sache gewesen, etwas vor den Kameras zu den Reportern zu sagen. „Ja. Dein Transfer wird die Liga in der kommenden Saison erschüttern. Da bietet es sich an, wenn du ein paar Worte über dein Hiersein verlierst.“ Jean fragte sich allen Ernstes, was er dazu sagen sollte. Dass er aus Evermore entführt worden war um nicht zu sterben? Dass sein nun toter Ex-Kapitän ihn fast zu Tode gefoltert hatte? Dass die Foxes ihn hierher verschifft hatten? „Ich habe das noch nie gemacht“, erwiderte er schließlich und es war Alvarez, die laut auflachte. „Keine Sorge, Moreau, ich gebe dir diesbezüglich Nachhilfe.“ Knox schnaubte ungläubig. „Niemals, Alvarez. Solange dein großes Vorbild bei Pressekonferenzen Josten ist, wirst du ihm keine einzige Sekunde Nachhilfestunde geben.“ „Das entscheidet ja wohl immer noch Moreau selbst. Also?“ Beide Augenpaare ruhten abrupt auf ihm und Jean fixierte ihren Trainer, in der Hoffnung, dass dieser unglaublich dummen und sinnlosen Diskussion ein Ende bereitete. „Ich besorge mir vorher die Fragen, die wir dann zusammen durchgehen“, erlöste Coach Rhemann ihn tatsächlich. „Ich beschränke deinen Anteil auf ein Minimum, wenn du es willst.“ Jean nickte indifferent. Er wusste nicht, ob es nur eine Phrase war. Wenn er wollte. Das Gleiche, was Knox ihm auch gesagt hatte. Aus dem Mund seines Coaches war es unbegreiflich. „Im Übrigen kommen wir so jeglichem Pressestatement von Evermore zu deinen Ungunsten zuvor“, schloss Coach Rhemann mit einem Lächeln, das so zusprechend war, dass Jean sich beinahe augenblicklich bewusst wurde, dass der ältere Mann mehr von dem wusste, was geschehen war, als er bisher zu erkennen gegeben hatte. Jean fragte sich, wieviel das war. Mindestens die Übersicht seiner Narben und Verletzungen. Mindestens. Es würde ihn nicht wundern, wenn er weitaus mehr wüsste. Wieder nickte Jean und sah auf seine vernarbten und verkrüppelten Hände. Evermore war nichts als die Hölle für ihn gewesen. Er hegte kein einziges, positives Gefühl für diese Universität. Wenn die Drohung der Moriyamas nicht wie eine Leine um seinen Hals hängen würde, dann würde er vielleicht auch so mutig wie Josten sein, der ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen Wahrheiten ausspuckte, die nicht nur ihn gefährdet hatten. Aber war das wirklich mutig gewesen? Es hatte Riko auf die Spur von Minyard und dessen Vergangenheit gebracht. Er hatte alles Notwendige eingeleitet um dessen Peiniger aus Kindheitstagen auf seine Spur zu bringen und alles Weitere seinen Gang gehen zu lassen, in dem Wissen, was kommen würde. Bewusst in Kauf nehmend, dass das Leben eines Menschen zerstört würde. Bewusst in Kauf nehmend, dass dieser in der Klinik weiter gequält werden würde. Er hatte mit all dem vor Jean geprahlt und Jean hatte nichts getan, obwohl er wusste, was es bedeuten würde. Er hatte Riko zugehört und zugelassen, dass dieser seinen Plan in die Tat umsetzte. Er hatte zugehört, als Riko ihm dezidiert gesagt hatte, was geschehen war. Sowohl in dem Zimmer von Hemmicks Eltern als auch in der Zeit, die Josten in Evermore verbrachte. Riko ergötzte sich an dem Leid, das er hervorgerufen hatte und Jean hatte nichts getan. Obwohl er gewusst hatte, was passieren würde. Rein gar nichts hatte er getan. Die Übelkeit, die ihn plötzlich überkam, war unerwartet. Mitnichte rechnete er mit ihr und schneller, als sein Kapitän und sein Trainer reagieren konnten, sprang er auf und suchte blind die Toilette. Es war ein Wunder, dass er sie rechtzeitig fand und sich hinknien konnte, bevor das Essen des heutigen Tages hochkam. Solange, bis nichts außer bitterer Magensäure kommen wollte, die eine geringe Strafe für sein Schweigen war. Zitternd verharrte Jean vor der Schüssel. Wie lange er hier kniete und seinen Mageninhalt anstarrte, das wusste er nicht. Wie lange Knox brauchte, um ihm nachzukommen, ebenfalls nicht. „Jean, kann ich etwas für dich tun?“ Es war die Sorge in der Stimme seines Kapitäns, die ihn von den Erinnerungen an Riko und an seine eigene schändliche Vergangenheit weglockte. Müde schloss Jean seine Augen und drückte blind die Spülung der Toilette. Schwankend erhob er sich und ging zu der Reihe von in die Jahre gekommenen Waschbecken. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Knox unsicher im weitestmöglichen Abstand zu ihm am Eingang des Raumes stand. Jean spülte die Reste des bitteren, säuerlichen Geschmacks aus dem Mund. „Nein. Es ist in Ordnung“, erwiderte er rau und fand erst nach mehreren Anläufen die Kraft, sich zu seinem Kapitän umzudrehen. Niemals hätte Knox das befohlen, was Riko befohlen hätte. Niemals hätte er sich daran geweidet. Das Wissen und die Hoffnung darum gaben Jean die Kraft, auf den anderen Jungen zuzugehen. Knox war tatsächlich das, was man Sonnenschein nannte. Das pure, unverdorbene Leben. Jean hatte die Wahl, ob er sich von diesem entfernte oder sich ihm näherte. Und so sehr er Ersteres auch brauchte, so sehr gierte es ihm nach Letzterem. ~~**~~ Mit einem triumphierenden Laut platzierte Jeremy das letzte Puzzlestück in das Kevin Day-Puzzle und lehnte sich hoch befriedigt zurück. Nachdem er einen kleinen Durchhänger gehabt hatte, waren die letzten Teile wie von selbst an ihren Platz gefallen und Jeremy hatte konzentriert daran arbeiten können, den befreundeten Spieler zusammen zu setzen und das Gesamtkunstwerk zu betrachten. Jean hatte nach seiner Dusche für einen Augenblick unschlüssig im Schlafzimmer gestanden, das Buch, was er abends Seite für Seite las, in seiner Hand. Nicht, dass Jeremy ihn aus dem Augenwinkel beobachtet hätte, nein, aber er hatte schon aufmerksam verfolgt, wie der andere Junge sich vorsichtig dem Wohnzimmer genähert, dort erneut gewartet und sich dann auf die Couch niedergelassen hatte. Eben jener sah nun irritiert auf und wenn Jeremy sich nicht täuschte, war da auch erst ein kurzes Zusammenzucken gewesen. Entschuldigend lächelte er in das müde Gesicht seines Backliners, der bereits heute Morgen schon tiefe Augenringe gehabt hatte. Das war über den Tag nicht besser geworden und hatte seinen Höhepunkt in Jeans abrupter Flucht aus Rhemanns Büro gefunden. Dort, wo er befürchtet hatte, dass sich Jean wieder zurückzog, hatte dieser sich freiwillig in seine relative Nähe begeben hatte, was Jeremy stillschweigend, aber unheimlich freute. „Er ist vollständig!“, gab er zu erkennen, warum er aufgeheult hatte und Jean hob die Augenbraue. Kurz huschten seine Augen zu Kevin und Jeremy vermeinte so etwas wie Abneigung auf dem ebenmäßigen Gesicht zu sehen, das sich gut von seinem Sonnenbrand erholt hatte. Jeden Morgen und jeden Abend hatte Jean mit der schmerzstillenden Creme gearbeitet und, wenn sie nach draußen gegangen waren, Sonnencreme aufgelegt. So war er nicht mehr ganz so blass…grundsätzlich. Wenn er nicht wie heute anscheinend schlecht und kurz geschlafen hatte. Nicht, dass Jeremy etwas davon mitbekommen hatte, denn anscheinend schlief er wie ein Stein in der Gegenwart seines neuen Zimmernachbarn. Jeremy brummte nachdenklich und wandte sich schließlich eben jenem zu. Im Hintergrund lief eine Analyse der letzten Exysaison, die er bis gerade eben leise nebenbei gestreamt hatte, die er nun aber pausierte. Er drehte sich zu Jean um, dessen Mimik und Gestik abrupt an Vorsicht und Anspannung gewannen, je länger er ihn maß. „Was hältst du eigentlich vom Puzzeln?“, fragte Jeremy, bevor Jean sich noch unwohler fühlen konnte und eine der dunkelbraunen Augenbrauen hob sich. Momentan trug Jean seine Beanie und so kamen die Konturen seines Gesichtes und damit auch das überaus deutliche Missfallen besser heraus. „Es ist nicht Exy“, bekam er eine Antwort, mit der er nicht gerechnet hatte, wenn Jeremy es sich ehrlich eingestand. „Lesen ist auch nicht Exy“, hielt er dagegen und Jean sah auf das Buch in seinem Schoß herab. „Trotzdem vertreibst du dir die Zeit damit“, setzte er mit einem Augenzwinkern ein Argument oben drauf. Jeremy sah den Adamsapfel des Anderen hüpfen, als Jean schluckte. Der andere Junge verstummte, selbst sein Körper wurde unbewegt, ruhig, starr. Es dauerte, bis er seine Worte wiederfand. „Ist es…nicht erwünscht, dass ich lese?“, fragte Jean so neutral, dass es in Jeremy alle Alarmglocken schrillen ließ. War das auch etwas, das in Evermore verboten gewesen war? Verpönt? Oder hatte es sogar unter Strafe gestanden? Er seufzte tief und lächelte versichernd. „Aber sicher ist es das. Es ist dein Hobby und du magst es. Damit ist es angebracht. Deswegen frage ich auch, ob du puzzeln magst. Manche Verrückte – so wie ich – mögen das ja auch. Daher dachte ich, dass eventuell auch eine Chance bestünde…“ Jeremy verstummte. Jean runzelte die Stirn, während er seinen Blick hob und Kevin musterte. „Vielleicht ein anderes Muster“, gab er schließlich zu und Jeremy grinste. „Warte mal, ich habe da was!“ Bevor er ruckartig aufstand, beherrschte Jeremy sich und erhob sich so langsam, dass ihm zwar die Aufmerksamkeit seines Mitbewohners sicher war, dass dieser sich von seiner Präsenz aber nicht bedroht fühlen würde. Hoffentlich. Vor dem Unterschrank des Fernsehers kniete Jeremy nieder und zog aus dem Stapel den untersten Karton hervor. Den Rest stopfte er wieder so hinein, wie er ihn vorgefunden hatte und zeigte Jean das corpus delicti mit wackelnden Augenbrauen. Dass dieser ihn für verrückt hielt, stand ganz klar auf seinem Gesicht, auch wenn Jean keinen Ton äußerte. „Das hat kein Motiv“, sagte er schließlich ausdruckslos und Jeremy zuckte mit den Schultern. „Ein Geschenk von Alvarez. Und ja, sie hasst mich.“ Anstelle einer Antwort richtete sich Jeans Aufmerksamkeit auf die Packung. „Das sind nur rote Teile. Was soll daran Spaß machen?“ Jeremy lächelte schief. „Ich bin mir auch unsicher. Und es ist sauschwer.“ Jean schnaubte und sah so aus, als würde er etwas sagen wollen, das er aber wieder verschwinden ließ in den Untiefen seines Geistes. „Es ist schaffbar“, erwiderte er anstelle dessen diplomatisch. „Hast du Interesse daran, mir dabei zu helfen?“, fragte Jeremy und überraschte Jean tatsächlich damit. „Es ist dein Hobby“, sagte er, als hätte Jeremy ein Monopol darauf. „Das ich mit anderen teilen kann, wenn sie auch Spaß daran haben. Also falls sie daran Spaß haben.“ „Wünschst du, dass ich dich dabei unterstütze?“, fragte Jean und Jeremy sah an dem kurzen Blick zu seinem Buch, dass es dem anderen Jungen nicht wirklich recht war und dass er lesen wollte. Er würde es tun, wenn Jeremy ihn darum bat oder es von ihm verlangte, soviel wusste er. Daher lag es mehr als nahe, dass er abwinkte und auf ein anderes, sicheres Thema ablenkte. „Muss nicht, alles gut. Oder aber…“ Jeremy runzelte die Stirn und grinste dann. „Ich könnte auch ein Puzzle von dir besorgen, wie wäre es damit? So ein richtiges tolles Exymerchandisepuzzle?“, fragte er anstelle dessen mit offensichtlichem Schalk im Nacken und Jean rollte nun deutlich sichtbar mit den Augen. „So etwas gibt es nicht.“ „Doch.“ „Mit Sicherheit nicht, Knox.“ „Soll ich es dir zeigen?“ „Nein.“ Jeremy lachte über den bestimmten Ton. Immer noch nicht also. „Aber nur, wenn du mir sagst, warum Alvarez dich Mr. Gewitterwolke nennt“, versuchte er das aus Jean herauszukitzeln, was ihm schon seit dem ersten Training unter den Fingernägeln brannte. Diesen Namen hatte sie vorher noch nie verwendet und jetzt hatte sie plötzlich eher einen Spitznamen für Jean als er. „Das weiß ich nicht.“ Ungläubig starrte Jeremy Jean in die Augen. „Ach komm. Sag schon.“ „Ich habe keine Ahnung.“ „Los, sag!“ Jean hob die Augenbraue und zog es vor, ihn anzuschweigen mit seinem durchdringenden, furchteinflößenden Blick, für den er noch nicht einmal aufstehen musste. Unschuldig blinzelte Jeremy, spürte aber jetzt schon, wie ihm nach und nach die Röte ins Gesicht schoss. Jeans Augen verfingen sich an seinen Wangen und das spornte Jeremys Röte noch mehr an, hallo zu sagen. So sehr, dass er verlegen die Hand in den Nacken legte und lächelte. „Jaa… gut. Also.“ Peinlich berührt wandte er sich zu Kevin, der ihm so gar keine Hilfe war. Wie auch? Eher zufällig fiel sein Blick auf den Umschlag, der unweit von Kevins Kopf in der Schale lag, unangetastet, verschlossen. „Schau mal, der Umschlag ist noch zu“, lenkte er ungelenk und ungeschickt ab und deutete mit seinem rechten Zeigefinger darauf. Wie hoch konnten denn bitteschön Jeans Augenbrauen noch wandern um ihm seine eigene Unzulänglichkeit vor Augen zu führen. Jeremy wand sich innerlich unter diesem Blick, der das ganze Apartment plötzlich zu klein machte. „Wünschst du, dass ich ihn öffne?“, fragte Jean ohne auszuweichen und Jeremy nickte einfach um das Nickens Willen. Vielleicht hörte Jean dann auch auf, ihn so anzustarren. Zuerst erhob er sich nun aber und Jeremy hob automatisch den Kopf, weiterhin den Blick haltend. Warum tat er das? Er könnte auch wegsehen. Ein Blick zur Seite, dann wäre der Spuk vorbei und er nicht mehr in dem stürmischen Grau gefangen, das ihm so vieles entgegenschleuderte. Warum also tat er das nicht? Langsam ging Jean an ihm vorbei und griff, ohne ihn aus seinen Augen zu lassen, nach dem Umschlag. Geübte Hände öffneten ihn, ohne dass Jean hinsehen musste und Jeremy blinzelte. Nervös trommelten seine Finger auf der Packung des monochromen Puzzles, die er immer noch in den Händen hielt. „Möchtest du ihn auch lesen?“, fragte Jean mit einem rauen Unterton in seiner Stimme, die Warnung und sachter Spott gleichzeitig war. „Es ist deiner“, erwiderte Jeremy und das Rascheln des Papiers war wie ein Donnerschlag in der Stille. Jean hob seine Hand mit dem Stück Papier und erst dann, erst als das Blatt auf Höhe seines Kopfes schwebte, lenkte es Jeans Aufmerksamkeit weg von ihm, hin zu den paar Zeilen, die auch Jeremy aus seinem Augenwinkel heraus erkennen konnte. Was Jean vorher nur marginal abgelenkt hatte, forderte nun anscheinend seine volle Aufmerksamkeit. Von einer Sekunde auf die andere war Jeremy Luft, er war nichtexistent zugunsten von etwas, das anscheinend seine Welt zum Stillstand brachte. Jeremy war sich noch nicht einmal sicher, ob Jean atmete, so still stand er vor ihm. Eine andere, weitaus ungünstigere Unsicherheit überkam Jeremy und er verrenkte seinen Hals um zu sehen, was Jean so derart einnehmen konnte. Vielleicht eine weitere, exorbitant hohe Summe? Doch nichts dergleichen sah er auf dem Din A4-Zettel. Eine Adresse und ein Name. Jeans Name. Jeremy runzelte die Stirn. Nein, das war nicht richtig, Nur der Nachname stimmte, der Vorname war ein anderer. François Moreau stand dort in sauberen, schnörkellosen Buchstaben, handgeschrieben, soweit Jeremy das von hier aus erkennen konnte. Fragen lagen ihm auf der Zunge, die er nicht zu stellen wagte. Viel zu gewichtig war die Stille zwischen ihnen, viel zu in sich gekehrt war Jean selbst. Die Adresse und der Name mussten eine enorme Bedeutung für ihn haben, das spürte Jeremy instinktiv. Ungewöhnlich schweigsam wohnte er der Stille des anderen Jungen bei, nahm sich Zeit, dessen Profil zu betrachten. Narben zogen sich von der Wange über das Kinn zum Hals hinunter, wurden von anderen Narben empfangen, die Jeremy vage an verheilte Brandwunden erinnerten. Die Beanie hielt seine Haare zurück und erlaubte somit den Linien, die die Symmetrie von Jeans Gesicht bestimmten, einen scharfkantigen Bogen, den Jeremy unter anderen Umständen als attraktiv befunden hätte. Nun aber machte ihm die Schärfe der Kontur deutlich, dass Jean in den letzten Wochen und Monaten anscheinend viel zu wenig gegessen hatte. Mehr Käsepampe also. Jeans Nase hatte einen kleinen Hubbel, Zeichen dafür, dass sie zumindest angebrochen gewesen war. Gerade das passte aber zu dem zeitweilig gefährlichen Aussehen, das den Ex-Backliner der Ravens so furchteinflößend gemacht hatte. Nicht jedoch jetzt. Jeremys Instinkt leitete ihn ebenso wie seine Hand, die sich nun vorsichtig, Millimeter um Millimeter, auf Jeans legte. Er verdeckte damit die Schrift und Jean sah hoch, nur um langsam wieder auf ihn hinunter zu sehen. Minimal nur zuckten die Muskeln unter seinen Fingern, als Jeremy sich im vollen Fokus von Jeans Aufmerksamkeit wiederfand. „Wer ist das?“, flüsterte Jeremy beinahe und Jean starrte eine lange Zeit durch ihn hindurch. Dann kehrte Leben in seine Augen zurück und nachdenklich runzelte er die Stirn. „Mein Vater. Das ist mein Vater“, erwiderte Jean dann ebenso leise und Jeremy schenkte ihm den Hauch eines Lächelns. „Du hast ihn länger nicht gesehen?“ Es war weniger eine Frage als eine Feststellung. Warum sonst würde Jean so auf dieses Blatt Papier reagieren? „Seit ich nach Evermore gebracht wurde.“ Das war Jahre her. Jeremy warf einen Blick zurück auf die Adresse. „Der Ort…er ist nicht weit von hier“, sagte er ruhig. Jean schluckte sichtbar. Seine Kieferknochen knirschten. „Wie weit?“, fragte er so zögernd, als wäre es ihm verboten, eben diese Frage zu stellen. Jeremy lächelte so sanft, wie es ihm möglich war. „Anderthalb Stunden.“ ~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 14: Jean, der Schwerverbrecher -------------------------------------- Anderthalb Stunden. Neunzig Minuten. Fünftausendvierhundert Sekunden. Jean sah seinem Kapitän in das Gesicht, das ihm mit soviel Wärme entgegenstrahlte. Er sah in die Augen, die soviel Hoffnung bargen, wie sie Jean noch niemals in seinem Leben gefühlt hatte. Hoffnung, die dieser für ihn fühlte. Aufregung um diese Entdeckung, die eine solche Energie in dem blonden Jungen freisetzte, dass die Luft zwischen ihnen schier aufgeladen war. Nachdem er nach Evermore gebracht worden war, hatte er darum gebeten, seine Familie sehen und mit ihnen sprechen zu dürfen. Er war solange für seine Bitten und sein Flehen geschlagen worden, bis sein Kiefer zu geschwollen war, um auch nur ein einziges Wort mehr darüber zu verlieren. Jean wusste nicht mehr, wie oft sie das wiederholt hatten, bis er aufgehört hatte, nach ihnen zu fragen. Seinem Vater mit den strengen, aber gerechten Augen. Seiner Mutter, die mit eiserner Hand ihre Familie und die Geschäfte führte. Er hatte aufgehört zu fragen, aber für eine lange Zeit nicht aufgehört zu hoffen, dass seine Mutter ihn holen würde, so wie sie immer alles in Ordnung brachte. Rikos Worte, dass seine Eltern ihn nur deswegen weggegeben hatten, weil er wertlos und nur zum Exy spielen nützlich war, hatten lange Zeit kein Gehör gefunden. Doch mit jedem Monat, der verstrichen war, hatte Jean dem ein Stückchen mehr geglaubt, bis er sie schließlich regelrecht gehasst hatte. Wie er alles gehasst hatte. Und nun? Fünf Millionen als Ausgleich und Schweigegeld. Die Adresse seines Vaters, seiner Familie. War es Folter? War es ein Geschenk? Jean wusste es nicht und die Unsicherheit dessen tobte wie ein chaotischer Sturm in seinem Inneren, dessen einziger Anker Knox‘ Hand auf seinen Fingern war, die Jean in all ihrer erschreckenden Wärme und den harten Schwielen am Boden der Tatsachen hielt. Trotz seiner rauen Hände war Knox sanft, seine Anwesenheit nur unmerklich spürbar. „Anderthalb Stunden“, wiederholte er rau und senkte den Blick. Die Frage, die am Augenscheinlichsten war, steckte in ihm fest, weil er sich nicht traute, sie zu stellen. Aus Angst vor einer Antwort. Aus Angst vor dem, was er sich selbst wünschte. Wollte er sie denn überhaupt wiedersehen, auch wenn es ihm erlaubt war? Jean konnte nichts dazu sagen, er wollte nichts dazu sagen. Nicht jetzt, wo die Wunde frisch aufgerissen worden war und ihn nun ausblutete. „Du könntest hinfahren“, sprach Knox das aus, was Jean noch nicht einmal zu denken wagte. „Ich habe kein Auto“, erwiderte er entsprechend zurückhaltend und ein leises Lachen ließ ihn seinen Blick heben. „Also ich weiß ja nicht, wie es in Frankreich so ist, aber in Amerika bekommt man für fünf Millionen schon ein sehr nettes Auto.“ Es war ein Scherz und beinahe hätte Jean darüber geschmunzelt, trotz all des Chaos in ihm. Oder gerade deswegen. „Ich bin nicht Minyard“, gab er zurück, ganz zur Freude des Jungen neben ihm. „Darum bin ich wirklich froh. Er ist gruselig und angsteinflößend.“ Jean schnaubte. „Ich nicht?“, hielt er dagegen, bevor er sich beherrschen konnte, und Knox legte den Kopf schief. „Nur manchmal.“ Jean hob erstaunt die Augenbraue, rechtzeitig genug um das Zwinkern zu sehen. „Bei unserem ersten Spiel gegeneinander hatte ich schon Angst vor dir und deiner Art, jeden Striker abzuschrecken, der dir zu nahe kommt. Aber dann warst du mir ein Ansporn, besser und schneller zu werden um mit dir mithalten zu können und dir ein ebenbürtiger Gegner zu sein. Also habe ich trainiert und trainiert und schlussendlich habe ich es an dir vorbeigeschafft.“ Knox erklärte ihm voller Stolz, was Jean nur Schmerzen eingebracht hatte. Vielleicht traf die Wahrheit auch deswegen tief genug, dass Jean tatsächlich die Kraft dazu fand, darauf zu antworten. Das Verlangen in ihm, einer Wahrheit mit einer anderen zu begegnen, war in der Vergangenheit immer wieder aufgetaucht, allerdings hatte er das in Evermore zugunsten seines eigenen Überlebens zurückgestellt. Hier sprudelten Worte an die Oberfläche seiner Selbstbeherrschung, die Jean nicht aufhalten wollte. „Riko hat für mich für jedes Mal, wenn ich dich durchgelassen und gegen dich verloren habe, bestraft“, sagte er so ausdruckslos, wie es ihm möglich war, doch auch das löste einen auch körperlich spürbaren Schock in seinem Kapitän aus. Er zuckte und die Hand auf seiner fasste enger zu. Enger, aber nicht schmerzhaft. Die andere, noch freie Hand legte sich auf seinen Oberarm, als würde Knox ihn festhalten wollen. Jean fuhr zusammen und sah in die blauen, großen Augen, die ihn nunmehr furchtsam und entsetzt maßen. „Oh mein Gott, Jean, das…“ Weiter kam Knox nicht, als er an ihm heruntersah, auf die Finger, seinen Blick dann wieder nach oben schweifen ließ, zur Beanie. „Warum?“ „Er war eifersüchtig, weil Day so offensichtlich begeistert von dir war und dich gelobt hat. Ehrlicher, als er es bei Riko getan hat.“ Jean schluckte gegen den Kloß in seinem Hals an, der die kommenden Worte unten hielt. Riko hatte auch andere Dinge aus dieser Eifersucht heraus getan und für eine Sekunde lang wollte Jean ihm auch das mitteilen. Die ganze, ungeschönte Wahrheit. Doch das würde den Jungen vor ihm brechen. Alleine das Wenige, was er bisher gesagt hatte, bestürzte seinen Kapitän mehr, als es Jean jemals angenommen hätte. Jean sah deutlich den feinen Tränenfilm, der in den blauen Augen schwamm. Er würde mit seinen Worten die strahlende Reinheit beschmutzen, also schluckte er sie tief hinunter. Er vergrub sie in den letzten Winkel seiner Gedanken. „Es tut mir leid. Es tut mir so unendlich leid, Jean. Bitte entschuldige.“ Irritiert runzelte Jean die Stirn. Knox entschuldigte sich für etwas, das er nicht getan hatte. Wie gut konnte ein Mensch sein? Wie gut konnte ein Kapitän sein? Jean ahnte die Antwort, auch wenn er sie nicht vollständig anzunehmen bereit war. Langsam nickte er. Wenn er log, wäre der Moment, der ihn mit jeder fortschreitenden Sekunde unsicherer machte, eventuell schneller vorbei. „Es ist Vergangenheit. Es ist passiert“, wiegelte er ab und hörte, wie die in seinem Unterbewusstsein lauernden Alpträume ihn schon jetzt verhöhnten. „Es wird nie wieder passieren, das schwöre ich dir.“ Jean wollte es seinem Kapitän glauben. Er wollte den Schwur glauben, auch wenn jahrelange Erfahrung ihn davon abhielt. Trotzdem beruhigten ihn sowohl Ton als auch Worte des anderen Jungen. „Danke“, sagte er leise und meinte es auch so. Mehr wusste er nicht dazu zu sagen, so verharrte er in dem Griff des blonden Jungen, der dazu übergegangen war, über seinen Arm zu streichen, als würde er ein kleines Kind beruhigen. Auf und ab, zu sanft, um wirklich zu schmerzen. Trotzdem setzte die Berührung seine Haut unter dem Shirt in Brand und verursachte Jean eine Gänsehaut. Er fragte sich, ob er es wagen konnte, so kurz, nachdem er seinem Kapitän eine eindeutige Schwäche preisgegeben hatte. Jean wusste es nicht, also gestattete er sich zu hoffen. „Würdest du“, begann er und schluckte schwer. Die Vergangenheit sagte ihm, dass seine nachfolgende Bitte keine Aussicht auf Erfolg haben würde. Die Gegenwart machte ihm ein gegenteiliges Versprechen. Jean setzte erneut an. „Würdest du mich loslassen?“ Es verging noch nicht einmal eine Sekunde, da folgte Knox seiner Bitte und löste beide Hände von ihm. Langsam trat er einen Schritt zurück und lächelte schief, während Jean seine Arme um sich schlang, mit besonderem Augenmerk auf die Stellen, die vor menschlichem Kontakt nur so prickelten. „Danke“, presste er erneut hervor und besann sich auf das Thema, was sie vorher hatten. Nur weg von diesem Eingeständnis der Schwäche. „Selbst wenn ich ein Auto hätte“, lenkte er sie weg von seinem Geständnis, weg von den dunklen Erinnerungen an Evermore. „Ich habe keinen Führerschein. Ich kann nicht Auto fahren.“ Knox brauchte einen Moment, um auf die dankbare Ablenkung einzusteigen. Er zögerte zunächst, dann kam er anscheinend mit sich ins Reine und lächelte wieder, auch wenn eben dieses vorsichtig war. „Das wäre kein Problem. Alvarez und ich könnten dir das Fahren beibringen und dann machst du deinen Führerschein nach.“ „Dürfte ich dann zu ihm fahren, wenn ich einen Führerschein habe?“ Die Frage aller Fragen und Jean wusste, dass er einen ungünstigen Zeitpunkt gewählt hatte, um sie zu stellen, wo er Knox‘ Geduld doch schon mit seinen vorherigen Worten mehrfach auf die Probe gestellt hatte. Doch das sah dieser ganz und gar anders. „Selbst wenn du ihn vorher nicht hast, kannst du jederzeit zu ihm. Ich kann dich fahren. Oder Alvarez. Laila ist dir vielleicht lieber, sie wird dich weniger mit ihrem Fahrstil umbringen als wir beide. Oder du kannst jemand ganz anderen fragen. Wir alle würden dir sehr gerne helfen.“ Jean nickte, weil er keine Ahnung hatte, wie er sonst darauf reagieren sollte. Ob er es überhaupt wollte und wie er mit den Möglichkeiten, die sich ihm gerade aufgetan hatte, umgehen sollte. ~~**~~ Jean starrte auf das Bild, das er noch bei Tageslicht gemacht und Renee gerade geschickt hatte. Sein Finger, wie er als Lesezeichen für die Stelle in dem Buch diente, das sie ihm geschenkt hatte. Er war weit gekommen, zumindest bis zu dem Moment am heutigen Abend, an dem er den Umschlag geöffnet und Zeilen gelesen hatte, die seine Welt auf den Kopf stellten und ihn mit seinen Gedanken an die Vergangenheit zurückließen. ~Gefällt es dir?~, pingte ihre Nachricht stumm auf. Knox schlief bereits und er wollte den Jungen nicht wecken. ~Ja.~ ~Das freut mich. Wie geht es dir?~ Jean schürzte unwirsch die Lippen. ~Ich habe etwas von den Moriyamas bekommen~, begann er das, was er Renee bisher verschwiegen hatte, weil er nicht die Kraft gehabt hatte, es anzusprechen. ~??~ Wie Jean gelernt hatte, waren die einzelnen Fragezeichen eine Bitte nach mehr Informationen und gleichzusetzen mit einem entsprechenden Smiley. ~Vor ein paar Tagen war die Chefanwältin hier. Im Auftrag von Lord Moriyama hat sie ihr Bedauern ausgedrückt für das, was passiert ist. Es hat bei der Untersuchung wohl ein Video gegeben, das zeigt, wie sie…~ Jean hielt inne. Er konnte das Wort noch nicht einmal schreiben. ~…Dinge mit mir tun. Sie hat mir deswegen zwei Umschläge gegeben. In dem einen waren die Daten für ein Konto mit fünf Millionen Dollar. In dem anderen die Adresse meines Vaters.~ Renees Antwort benötigte keine zwei Sekunden. ~Möchtest du telefonieren?~ ~Nein. Knox schläft schon.~ ~Okay. Wie geht es dir damit, Großer?~ Wie immer, wenn sie ihn so nannte, kribbelte es in seiner Magengegend und Jean konnte sich des warmen, wohligen Gefühls in seinem Inneren nicht erwehren. Er hatte ihre sanfte Stimme in seinem Ohr, wie sie den Spitznamen aussprach. ~Ich weiß es nicht. Sie hat es Entschädigung genannt und mich ein wertvolles Investment.~ ~Du bist ein Mensch, Jean, kein Investment.~ Wie oft hatte Renee ihm das gesagt? Entweder per verbotener Nachricht in Evermore oder persönlich auf den Banketten oder im Haus der Krankenschwester. Jean hatte vorher nicht begriffen, was das bedeuten sollte, doch die nicht enden wollenden Bemühungen seines momentanen Teams schienen Wirkung zu tragen und er ahnte, was es hier bedeutete, ein Mensch zu sein. Der Geschmack des Eis kam ihm wieder in den Sinn. ~Soll ich hinfahren?~, fragte er aus dem Kontext gerissen, doch sie verstand, was er meinte. ~Möchtest du es denn?~ ~Ich weiß es nicht.~ ~Was sagt dein Bauchgefühl?~ Wie einfach es ihm doch im Gegensatz zu ihrem ersten Zusammentreffen fiel, auf die Frage zu antworten. Damals, vor einer gefühlten Ewigkeit, hatte Renee ihm diese Frage gestellt und er hatte nicht gewusst, wie er darauf antworten sollte, weil er nicht wusste, was es war. Jean hatte den Fehler gemacht, genau das Renee abwertend mitzuteilen und so war ihr erstes, längeres Gespräch genau darum gegangen. Es hatte noch Wochen gedauert, bis er sein Bauchgefühl das erste Mal hatte benennen können. ~Sie haben jahrelang nicht nach mir gefragt, sich nicht um mich gekümmert. Sie haben zugelassen, dass mir wehgetan wird. Ich weiß nicht, ob ich sie hassen oder sie ignorieren soll. Der Herr und Riko haben immer gesagt, dass sie mich nicht mehr wollen und deswegen weggegeben haben.~ ~Glaubst du ihnen das?~ ~Mittlerweile nicht mehr.~ Es entsprach tatsächlich der Wahrheit. Er hatte – mithilfe von Renee – verstanden, in welchem Ausmaß er auch psychisch missbraucht worden war. ~Möchtest du, dass ich mitkomme?~ ~Wenn ich fahre, dann ja.~ Wer, wenn nicht sie? Für einen Moment lang versuchte Jean sich vorzustellen, wie es wäre, wenn Renee und Knox mitkämen. Im nächsten Augenblick schauderte er bei dem Gedanken daran, erinnerte er sich doch noch gut an das Videotelefonat zwischen ihnen Dreien. Nein, es wäre das Beste, wenn die Beiden sich nicht weiter sahen und trafen. ~Ich bin jederzeit bereit, vorbeizuschauen. Das weißt du, Großer.~ Das Herz hinter ihrer Nachricht hatte die gleichen Pastelltöne wie ihre Haare. ~Du hast eine Saison zu spielen~, hielt er dagegen und der kommende, augenrollende Smiley wurde gepaart mit einem Exyschlägersmiley in den Farben der Foxes. ~Um dir den Hintern zu versohlen, wird es ausreichen, Backliner!~ Jean hob seine Augenbraue. ~Wen willst du mir dafür schicken? Den kleinen Rothaarigen oder den Sohn eures Trainers?~ Beinahe hätte Jean einen lachenden Smiley dahinter gesetzt. Sowohl mit Josten als auch mit Day würde er ohne Probleme fertig werden. ~Für dich würde ich sogar mein Tor verlassen.~ Ein ganzer Haufen an Lachsmileys begleitete ihre Worte und Jean seufzte. Der Spielplan stand noch nicht fest, aber es konnte gut sein, dass er es überhaupt nicht mehr bis zum Spiel gegen die Palmetto State Foxes schaffte. Wohl aber zu dem Kick-Off-Bankett, an dem alle Teams teilnehmen würden. Zum Start der Saison und für ein faires, sportliches Miteinander. Dass er nicht lachte. Jean runzelte und beschloss, das Thema nicht weiter zu verfolgen. Der Handel stand und kein einziges, positives Gefühl änderte etwas daran, denn auch das war Teil des Handels. Lieber stellte er da die anderen Fragen, die ihm auf der Zunge brannten und die er besser Renee als Knox stellte. ~Renee?~ ~Ja?~ ~Was ist ein Hetero-Crush?~ Der Smiley mit weit aufgerissenen Augen ließ ihn mit seinen eigenen rollen. ~In welchen Kontext hast du das gehört?~ ~Die Backlinerin, Alvarez, hat mich so genannt.~ ~Hat sie?!~ ~Ja.~ ~Hmmm. Alsooo… man könnte sagen, sie ist auf eine platonische Art verknallt in dich.~ Was…? ~Eigentlich heißt es gay crush und bedeutet, dass man in jemanden seines eigenen Geschlechtes verliebt ist – man muss aber nicht zwangsweise auf das eigene Geschlecht stehen dabei. Da Alvarez nicht auf Männer steht und mit Laila Dermott verbandelt ist, hat sie dich anscheinend als das hetero-Gegenstück auserkoren. Das heißt, sie ist in dich verknallt, ohne in dich verknallt zu sein.~ Jean starrte sein Handy an. Nun schickte er Fragezeichen anstelle einer Antwort. Er verstand mitnichten, was Renee ihm damit zu sagen versuchte. ~Kurz zusammengefasst: sie bewundert dich, ohne mit dir schlafen zu wollen oder dich sexuell attraktiv zu finden.~ Jean zögerte, bevor er die Frage stellte, dessen Antwort er so dringend benötigte. ~Also muss ich sie nicht befriedigen?~, tippte er widerwillig und Renee brauchte keine zehn Sekunden, um ihm zu antworten. ~Nein, Großer. Nein. Niemand wird dich mehr dazu zwingen, jemanden gegen deinen Willen zu befriedigen. Niemand, hörst du. Das ist Vergangenheit. Sie sind nicht wie Riko oder die Spieler aus Evermore.~ Jean zögerte, ihre Worte als solche anzunehmen. Zu schlecht waren seine Erfahrungen in der Vergangenheit gewesen. Doch bisher hatte sie mit allem Recht behalten, also klammerte er sich letzten Endes wie ein Ertrinkender an ihre Worte. ~Okay.~ ~Ich schwöre es dir, Jean.~ Jean seufzte und zuckte zusammen, als Knox es zum Anlass nahm, sich umzudrehen und unverständliches Zeug im Schlaf zu brabbeln. Seine Hand klopfte dabei ziellos auf die Matratze vor sich, bevor sich die Finger wieder zusammenkrümmten. ~Wie haben sie dich aufgenommen?~ Jean musste nicht fragen, wen Renee meinte. ~Sie waren nicht ablehnend. Ich denke, sie rechnen sich nun mehr Chancen auf zukünftige Siege aus.~ ~Was denkst du über sie?~ Er überlegte einen Moment und begann dann, all seinen Frust über die bisherigen Trainings über Renee auszuschütten. Zum Schluss seiner vier Nachrichten langen Beschwerde über all die Liderlichkeiten und Unfähigkeiten der Trojans, die verbesserungswürdig waren, atmete er schwer aus und starrte mit vor Unbill verzogen Lippen auf sein Handy. ~Du findest ihr Training zu lasch?~ fragte Renee zusammenfassend. ~Ja.~ ~Im Vergleich zu den Ravens.~ ~Natürlich.~ ~Im Vergleich zu den Ravens ist jedes Training einer anderen Mannschaft lasch, Großer.~ Er runzelte unwirsch die Stirn. Was er zuerst hatte verneinen wollen, gewann mit jeder Sekunde die er darüber nachdachte, an Wahrheit. Die Trojans hatten weder den destruktiven, eigenen Tages- und Nachtrhythmus noch die absolute Fixierung auf Exy noch die sklavische Ergebenheit zu ihrem Trainer und ihrem Kapitän. Das war jedoch auch gleichbedeutend mit Übungen, die nicht sinnvoll waren, weil sie nicht genug forderten. Mit Drills, die den Namen nicht verdienten. Mit Taktiken, die ihnen keine Siege, sondern eine vorhersehbare Spielweise einbringen würden. ~Du könntest Rhemann und Knox Vorschläge für andere Drills machen, die deiner Meinung nach besser sind?~ ~Das kann ich nicht~, schrieb er schlicht zurück, die Hände alleine schon der Annahme, was für ein Frevel das wäre, zitternd. Der Herr und Riko hätten niemals im Leben ein solches Verhalten toleriert und ihn hart dafür bestraft. Auch wenn es hier anders gehandhabt wurde, so war er ein neuer Spieler, der kein Recht hatte, die Meinung seines Trainers und seines Kapitäns anzuzweifeln. Als hätte er seine Gedanken gehört, wurde eben jener im Schlaf unruhig und ein verschwommener Laut des verzweifelten Missfallens verließ die Lippen. Jean hob die Augenbraue. „Jeeaan…“, murmelte Knox und runzelte die Stirn. Wieder streckte er die Hand aus und klopfte auf die Matratze. Abrupt schaltete Jean das Handy aus. Knox träumte von ihm? Was? Warum? „Nicht das Eis…Jean…“ Er hob die Augenbraue. Eis? Stirnrunzelnd starrte er auf den unruhiger werdenden Jungen unweit von sich und wartete, ob dieser aufwachte. Doch Knox schien noch tief und fest zu schlafen, ganz in seinem absurden Traum gefangen zu sein. Kopfschüttelnd erweckte Jean sein Handy wieder zum Leben. ~Knox träumt von mir.~ ~Oho? Wie kommt es?~ ~Ich weiß es nicht. Anscheinend geht es um Eis.~ ~?~ „Nicht alles Eis essen! Jeeaan… nicht!“ Besagter Alles-Eisesser hob zweifelnd die Augenbraue. ~Ich habe keine Ahnung.~ ~Das ist schon süß.~ Ungläubig starrte Jean auf sein Handy. Süß war nur der Nachgeschmack des Eises auf seiner Zunge gewesen. ~Was soll ich machen?~ ~Ihn weiterreden lassen.~ Die Frage war, ob Knox dafür nicht zu aufgeregt war. Mittlerweile war nicht nur seine Mimik entsprechend aufgebracht, sondern auch seine Gestik. Der ganze Körper zuckte und wälzte sich hin und her. Jean kam nicht umhin zu fragen, ob sich dieser abstruse Traum von ihm und dem Eis zu einem handfesten Alptraum entwickelte, auch wenn er nicht wirklich begreifen konnte, was daran ein Alptraum war. Zumal er seinem Kapitän mehr als die Hälfte übrig gelassen hatte. „Du…gemeiner…Eisdieb!“ Wie bitte? Fassungslos starrte Jean den schlafenden Jungen an. Gemeiner Eisdieb? Gemeiner Eisdieb? Wie kam Knox dazu, so etwas zu träumen? Was fiel seinem Unterbewusstsein ein? Jean grollte und fluchte leise in seiner Muttersprache. ~Er hat mich einen gemeinen Eisdieb genannt und wimmert jetzt.~ Es sollte Jean nicht überraschen, dass Renee ihn mit lachenden Smileys überschüttete und gar nicht mehr aufhörte damit. ~Vielleicht solltest du ihm beruhigend zureden~, schlug sie schließlich vor und Jean schluckte schwer. Beruhigend zureden… er. Ausgerechnet er. Er seufzte und beugte sich vor. „Knox“, sagte er leise, aber anscheinend war das zu leise, also probierte er es ein weiteres Mal lauter. „Knox… ich bin kein Eisdieb. Du hast noch über die Hälfte des Eises“, sagte er und beendete damit zumindest das unselige Hin- und Herwälzen. Der andere Junge schien seinen Worten zu lauschen und wurde ruhiger. „Nein“, entschloss er sich dann doch zum Widerspruch und Jean rollte mit den Augen. „Doch, Knox. Die Sorten sind alle noch da.“ Ungewollt streng erhob Jean seine Stimme und grollte. „Du hast sie vor dir, du musst nur danach greifen“, erläuterte er und bereute seine Worte beinahe augenblicklich. Nachdem Knox in seinem schlafwandelnden Zustand einen kurzen Moment überlegte, führte er nun seine Hand zum Mund und nuckelte unter zufriedenen Geräuschen an seinen Fingerspitzen. Jean hielt inne und hob die Augenbrauen. Er beschloss, das hier nicht gesehen zu haben. Er beschloss, diesen Dialog nicht geführt zu haben. Zumal es auch höchste Zeit war, dass er selbst in den Keller kam, da ihm bereits jetzt schon jede Minute der alptraumdurchzogenen Nacht auf dem unbequemen Kellerboden durch die Finger rann. ~Er ist ruhig und ich gehe jetzt schlafen.~ Renee lachte. ~Habe eine gute Nacht, Großer.~ ~Schlaf gut...Regenbogenmädchen~, kopierte er schamlos Knox‘ Spitznamen für sie. Sie schickte ihm einen mittelfingerzeigenden Oktopus, der Jean tatsächlich lachen ließ. Er presste sich die Hand vor den Mund, doch Knox hatte sich davon von seinem Fingerkuppenlutschen nicht abbringen lassen. Jean schüttelte den Kopf und griff sich Renees Hoodie. Auf leisen Sohlen verließ er das Apartment und ging hinunter in den Keller, der sich jede Nacht fremder und ungemütlicher anfühlte. Es war, als würde die sonnendurchdrungene Freundlichkeit von Kalifornien mit aller Macht und in allen Bereichen seines momentanen Lebens nach ihm greifen und die Spuren von Evermore ausradieren wollen. So auch das Gefühl eines vertrauten Ortes. Mehr als einmal hatte sich Jean in den letzten Tagen dabei ertappt, dass er sich eine Nacht in dem Bett oben wünschte. Eine Nacht, in der er auf der weichen, bequemen Matratze unter der angenehmen Bettdecke aus seinen Alpträumen hochschreckte. Jean seufzte, als er sich auf dem feuchten Kellerboden zusammenrollte und die Augen schloss. Was gäbe er darum, auch nur von Eis zu träumen. Oder von Knox, wie dieser ihm Eis stahl. ~~**~~ „Captain, mein Captain!“ Überrascht sah Jeremy von seinem Schattenplatz auf dem Rasen auf und winkte Alvarez, die mit zwei Bechern Eisschokolade direkt auf ihn zusteuerte. Ihre dicken, braunen Haare hatte sie zu ihrem klassischen Pferdeschwanz gebunden, der munter hinter ihr herschwang. Ihre dunkelbraunen Augen leuchteten vor Freude, als sie sich neben ihn fallen ließ und die Beine von sich streckte. „Freu mich, dich zu sehen! Was machst du hier?“, fragte er und legte sein Buch über die Balance ausgewogener Landwirtschaft zur Seite, auf die Studien über nachhaltige Forstwirtschaft in nährstoffarmen Böden um die ihm entgegengestreckte Eisschokolade anzunehmen. Irgendwann einmal, wenn seine Exykarriere beendet war, würde er die Farm seiner Eltern übernehmen und weiterhin für ihre Pension sorgen, damit sie einen sorgenfreien Lebensabend verbringen konnten. Dafür musste er aber erst einmal seinen Abschluss in Agrar- und Forstwissenschaften schaffen und das stand je nach Tageslaune wirklich auf der Kippe, auch wenn seine Prüfungen bislang alle zumindest zufriedenstellend verlaufen waren. „Ich leiste dir Gesellschaft beim Rumgammeln. Und was machst du?“ „Ich gammle rum und warte darauf, dass Jean aus seiner Makroökonomievorlesung kommt.“ Alvarez stülpte ihre Lippen über den großen Strohhalm und summte etwas, das verdächtig nach Whitney Houstons Lied aus „Bodyguard“ klang. Es brauchte etwas, bis Jeremy die Bedeutung dahinter erkannte und beherzt schlug er seiner Vizekapitänin auf den nackten Oberschenkel, was sie kommentarlos mit einem geübten Schlag auf seinen Hinterkopf konterte. „Du kümmerst dich rührend um unseren Neuzugang.“ „Ich erfülle meine Pflicht als Kapitän.“ Alvarez hob bedeutungsschwanger die Augenbraue. „Das sowieso. Aber du bist schon sehr aufmerksam, was ihn angeht.“ Jeremy rollte mit den Augen. „Kevin hat mich darum gebeten, ihn nicht alleine zu lassen. Die Ravens sind wohl gezwungen, immer nur in Paaren aufzutreten und er ist deswegen unsicher alleine.“ Nachdenklich schlürfte Alvarez. „Ist er in der Vorlesung nicht alleine?“ „Ajeet sitzt bei ihm.“ „Dios mio, der Arme!“ „Jean oder Ajeet?“ Sie grinsten beide. Jeremy nahm ebenfalls einen großen Schluck des angenehm kühlen Getränkes und zog seine Beine unter. „Er ist noch gruseliger als auf dem Spielfeld, findest du nicht auch?“ Jeremy nickte. „Wenn er einen direkt anstarrt, ausdruckslos und stumm von oben.“ „Oder einen analysiert.“ „Glaubst du, dass er sich gut in unser Team einfügen wird?“, fragte er Alvarez und sie spielte bedächtig mit den Kondenstropfen, die an dem Becher herabrannen. „Ich glaube, dass er mit dem Spaß, den wir beim Training haben, nichts anfangen kann.“ „Er wirkt nicht so, nein.“ „Das ist ziemlich milde ausgedrückt, Cap, dafür, dass blanker Hass in seinem Gesicht steht, wenn er meint, dass niemand zusieht.“ Jeremy schluckte. Ja, auch er hatte diesen Ausdruck in den vergangenen Tagen gesehen. Öfter, wenn er aus dem Augenwinkel heraus einen Blick zu Jean geworfen hatte, der neben ihrem Trainer stand und wie eine Statue ihrem bunten Treiben zusah. „Vielleicht wird es besser, wenn er ab morgen mittrainiert?“ Jeremy hoffte es inständig. Er nickte. „Dieser verdammte Kult“, spie Alvarez hervor und starrte in das Blätterdach über sie. Er grollte bestätigend. „Sie haben ihm sehr wehgetan“, erwiderte Jeremy ohne es weiter zu erläutern. Auch wenn Alvarez seine beste Freundin war, so war er Jean sein Schweigen schuldig, denn es oblag nur Jean, seine eigene Geschichte zu erzählen. Auch wenn es ihn dazu drängte, mit Alvarez darüber zu sprechen, dass Jean wegen ihm wehgetan worden war. Weil er gut genug geworden war, um gegen Jean zu bestehen. Alvarez grinste, doch das Grinsen war zu sanft um wie sonst kämpferisch zu sein. „Das werden wir wieder gut machen…mit der geballten Liebe und Freundschaft der Trojans.“ Jeremy schlürfte zustimmend seine Eisschokolade. Jean hatte das Komplettpaket verdient, dafür, dass Riko ihn gefoltert hatte, nur weil Jeremy es geschafft hatte, ihn zu umlaufen. Dafür, dass ihm Haare ausgerissen worden waren. Dafür, dass er gefesselt worden war. Dafür, dass er andere, verdeckte Verletzungen trug, deren Ausmaß Jeremy nicht erahnen konnte. Dafür, dass der Junge sich vor ihm erniedrigte und vor ihm zurückwich. Oder einfach dafür, dass er ein Mensch war, der gerade das Leben lernte. ~~**~~ Jean lauschte zweifelnd seinen Schritten, die ihn die metallene Treppe hinauf auf das Dach des Hauses führen würden, auf dem er vor ein paar Tagen den Sonnenaufgang beobachtet hatte. Morgen würde er zum ersten Mal mit den Trojans trainieren und eigentlich hatte er sich und seine unterschwellige Angst genau davor in Ruhe beruhigen wollen, doch sein Kapitän hatte andere Pläne gehabt und ihn gefragt, ob er mit aufs Dach zu den Anderen kommen wollte. Die Anderen…das war das Team und Jean hatte ausschließlich ungute Erinnerungen, was Zusammenkünfte von Teams anbetraf. Wobei das nicht ganz stimmte. Die Foxes hatten sich während seiner Zeit in Palmetto getroffen und er war mit dabei gewesen, auf Initiative von Renee. Auch dort war nichts passiert. Auch dort hatte er sich unwohl gefühlt unter den prüfenden und mitleidigen Blicken, den leisen Worten, die an ihn gerichtet waren. Entsprechend nervös war Jean jetzt und blinzelte, als er das Dach betrat und in das Licht der untergehenden Sonne starrte. Einige andere Trojans waren bereits schon da und begrüßten ihren Kapitän mit Winken und Rufen, weit weniger wagten den Blick zu ihm. Dafür hatte Jean selbst gesorgt, als er sie beim Training wieder und wieder ignoriert hatte, sie und ihre Versuche, Gespräche mit ihrem zu führen. Smalltalk. Oh in Gedanken hatte Jean alle Fragen beantwortet, auch wenn kein einziges Wort seine Lippen verlassen hatte. Wie geht’s dir? Prächtig, ich bin schon seit zwei Monaten nicht mehr geschlagen worden, auch wenn die Stichwunden noch ziehen, wenn ich mich falsch bewege. Wie findest du es hier? Zu warm, die Sonne sticht in meinen Augen und die Leute sind zu freundlich. Wie findest du unsere Farben? Grässlich auffällig und aufdringlich, aber passend zu diesem sonnigen Bundesstaat. Wie gefällt dir L.A.? In Anbetracht der Tatsache, dass ich das letzte Jahrzehnt eingesperrt gewesen bin, erscheint es mir groß und laut. Aber selbst das Haus von Abby war groß und laut mit den falschen Personen darin, daher fehlt mir der Vergleich. Der Kunstdistrict ist aber okay. Wie gefällt dir denn das Essen? Das, was Knox kocht, kann man nicht Essen nennen, das ist der Tod auf Raten. Die Eier sind aber passabel, der Toast ist auf den Punkt. Du kannst es sicherlich nicht erwarten, wieder auf dem Spielfeld zu stehen, mit uns dieses Mal, oder? Ja, es juckt mir in den Fingern, mit euch den Boden des Stadions zu wischen und euch zu zeigen, dass euer Training viel, aber nicht gut genug ist. Jean seufzte. „Hey ihr Beiden!“, rief ihnen der wandelnde Meter mit pinken Haaren zu, die Jean unweigerlich an Renee erinnerten. Valentine, so war ihr Name und sie war im diesjährigen Abschlussjahrgang. Wortlos starrte er auf sie herab, doch sie ließ sich von ihm nicht aus dem Konzept bringen. Schmunzelnd hob sie die Augenbraue und besah ihn sich von oben bis unten. „Cap, der Grill läuft schon, die Getränke stehen dahinten und die Spiele sind auch schon aufgebaut. Was ist mit Prinzessin Schweigsam hier? Hat er sich schon für etwas entschieden?“ Ach ja. Und sie hatte ein Maul wie ein Droschkenkutscher. „Für Jean…“, betonte Knox unnötigerweise seinen Namen. „…ist das hier eine Überraschung. Er weiß gar nicht, worum es hier geht, also nein, er hat sich noch für gar nichts eingetragen. Ich denke aber, ich werde ihn erstmal mitnehmen, ich habe zwei Personen eingetragen.“ Eingetragen? Mitnehmen? Zweifelnd sah Jean auf beide herab und musterte seinen Kapitän schließlich fragend. Knox lächelte sein strahlendes Lächeln und drehte sich auf dem Dach, über das sich der Geruch nach gegrilltem Fleisch schlängelte. „Das hier ist unser regelmäßiger Spieleabend mit Grill und Getränken, verbotenerweise auf dem Dach des Hauses. Wenn das Wetter gut ist, also meistens, dann machen wir das hier oben, wenn es regnet, bei uns im untersten Flur. Wer vom Team Lust hat, ist mit dabei und trägt sich idealerweise vorher in eine Spieleliste ein. Ich habe dir nichts gesagt, weil ich dich für dein erstes Mal überraschen wollte.“ Jean schluckte. Wenn er sich nicht täuschte, dann meinte Knox es nur gut. Trotzdem hasste er Überraschungen, bedeuteten sie für ihn doch nur etwas Schlechtes. Fast nur, denn Renees Auftauchen in seinem Leben war auch überraschend gewesen. Überraschend schön. „Okay“, erwiderte Jean entsprechend vorsichtig. Beinahe schon erleichtert war er, als Valentine sie in Richtung Alvarez und Laila lotste, die bereits um ein buntes Spielfeld einer Vulkaninsel herumsaßen, das Grillfleisch auf Papptellern neben sich. „Hey Jer, hey Jean“, grüßte Laila sie beide, während ihre Freundin mit vollem Mund winkte. Jean nickte. „Ich hole uns etwas zu essen und zu trinken. Jean, setz dich doch schonmal. Was möchtest du?“ Dass ihm sein Essen vorgesetzt wurde, kannte Jean bereits, aber dass er selber entscheiden konnte, was er wollte und dass es ihm von seinem Kapitän gebracht werden würde, das war neu. Unbegreiflich neu. „Ich…kann auch selbst gehen“, versuchte er sich in einer Abwiegelung, die an Knox abperlte wie nichts. „Ich weiß, dass du das kannst“, zwinkerte dieser, doch dahinter lauerte ein eiserner Wille, nicht von seinem Vorhaben abzuweichen. Jean wusste es besser, als noch einmal dagegen an zu argumentieren. „Also?“ „Ein Wasser bitte“, murmelte er und senkte den Kopf. „Und was zu essen?“ Was darf ich denn?, lag ihm auf der Zunge zu fragen. In Evermore wäre eben diese valide gewesen, hier aber wäre sie vermutlich unerwünscht. Jean schluckte. „Das ist mir egal“, wählte er die Antwort, die er für am Diplomatischsten hielt und begriff erst, nachdem sich Knox mit einem breitgrinsigen Nicken umgedreht hatte, dass er wieder einmal einen dummen Fehler gemacht hatte. Einen dummen Eisdielenfehler. Von allem ein Bisschen, tönte es in seiner Erinnerung und fassungslos starrte er Knox hinterher. „Ich…“, versuchte er unnötigerweise zu retten, was nicht zu retten war und zuckte zurück, als es gegen seine Hand schnippte. „Setz dich, Moreau, ich will mir nicht meinen Nacken verrenken, um dich anzustarren“, sagte Alvarez, die nun anscheinend den Mund frei hatte. Die ihn mitnichten in ihr Bett ziehen wollte, wenn er Renee glaubte. Wortlos ließ er sich auf das anscheinend freie Kissen neben Laila nieder, das die Balustrade im Rücken hatte und von dem er aus das ganze Dach überschauen konnte. Er warf einen Blick auf das Spielfeld vor sich und fragte sich, was der Sinn eine solches Treffens war, das sie alle vom Lernen abhielt. Wie schon beim Training auch, fragte Jean sich unweigerlich, wie die Trojans es schafften, ihre Prüfungen zu bestehen, wenn ihr Leben nur aus Spaß bestand. „Teambuilding“, erläuterte Alvarez, als hätte sie seine Gedanken gelesen und Jean wurde sich bewusst, dass eben jene vielleicht vollkommen offen auf seinem Gesicht gestanden hatten. „Wir lernen die Neuen kennen, die Neuen lernen uns kennen und so wird aus uns eine Mannschaft.“ Jean runzelte die Stirn. „Durch umfängliches Training und Disziplin wird aus Spielern eine Mannschaft“, widersprach er, eben weil es einen wunden Nerv traf, der schon seit Tagen offenlag. „Auch. Aber die Leute müssen sich kennenlernen, sie müssen wissen, wie jeder Einzelne des Teams tickt. Im Idealfall sollten sie Freunde sein.“ Jean dachte an Evermore. Freunde…dass er nicht lachte. Er öffnete den Mund um zu antworten, doch da kam Knox auch schon wieder auf sie zu und balancierte zwei Teller, die anscheinend tatsächlich mit allem beladen waren, was der Tisch mit dem Essen hergegeben hatte. Er reichte Jean beide und eilte noch einmal zurück, anscheinend um die Getränke zu holen. Mit einem Schnaufen ließ er sich schließlich neben ihn fallen und sah Jean erwartungsvoll an. Mit bedeutungsschwangerem Blick auf die Masse an Käsepampe – wer aß so etwas in diesen Ausmaßen? – reichte Jean Knox seinen Teller und musste unweigerlich an heute Nacht denken. Der gemeine Eisdieb. Ob Knox sich noch daran erinnerte? Im Gegenzug erhielt er sein Wasser und wartete, dass sein Kapitän zu essen begann. Erst danach griff er zu seiner Gabel und tat es ihm gleich. Stück um Stück probierte er das Essen und kostete den ungewohnten Geschmack der Dinge aus, die ihm manchmal vage bekannt vorkamen, die er aber zum Großteil nicht kannte. Er spürte, dass Augen auf ihm ruhten, die ganze Zeit. Ob nun Alvarez, Laila oder Knox oder von weiter weg. Es ließ Jeans Instinkt in seinem Nacken prickeln und er sah von einem Hackfleischröllchen hoch, das äußerst scharf gewürzt war und ihm beinahe die Tränen in die Augen trieb. „Was gibt es?“, fragte er direkt in die erwartungsvollen Augen der Torhüterin. Es kam nicht so unfreundlich heraus, wie er es eigentlich gewollt hatte. „Wie findest du sie?“ „Scharf.“ Das entsprach der Wahrheit, ohne zuviel zu verraten. Sie schmeckten ihm wirklich, jetzt, wo seine Geschmacksnerven auf dem besten Weg dazu waren, taub zu werden, doch alles in ihm sträubte sich, das zu sagen. „Scharf. So wie du, Babe“, warf Alvarez von der Seite in Richtung Laila ein und Knox prustete. „Wi-der-lich“, betonte er jede einzelne Silbe und Laila grinste. Jean widmete sich wieder seinem Teller, als das unmissverständliche Ping der täglichen Nachricht zu ihm drang. Er musste sie nicht öffnen um zu sehen, was sie ihm anzeigte. Weniger als fünfzig, mehr als vierzig. Die Hand, die sich in sein eingeschränktes Blickfeld schob, ließ ihn hochsehen. Alvarez gehörte sie, die ihn aufmerksam ansah. „Gib es mir“, forderte sie und Jean blinzelte. Er wusste sofort, was sie wollte. Das war er, der Moment, den er so sehr gefürchtet hatte. Dass sie diejenige sein würde, die ihm Renees Geschenk wegnahm, hatte er nicht vermutet, keine Sekunde lang. Doch war es nicht logisch gewesen? Sie war der Vizekapitän, sie hatte mit Knox und Rhemann die Macht. Trotzdem oder gerade deswegen irrte sein Blick beinahe hilfesuchend zu Knox, der diesen mit einem schrägen, leidenden Grinsen erwiderte. Jean empfand es als unangebracht, doch letzten Endes war es nichts im Vergleich zum gehässigen Lachen und Kichern von Riko. „Gib mir das!“, forderte Alvarez erneut, dieses Mal eindringlicher und Jean bat Knox stumm, dass er es ihr nicht erlaubte, dass er ihm sein Handy ließ. „Ich an deiner Stelle würde ihrem Wunsch folgen“, flüsterte Knox leidend mit hochgezogenen Schultern und Jean begriff, dass er keine Wahl hatte, dieser Hand zu entkommen. Ob Renee ihm wieder eines zustecken würde, wenn sie bemerkte, dass er nicht mehr antwortete oder dass es Alvarez war, die für ihn antwortete? Er schluckte schwer und konnte nicht verhindern, dass seine zitternden Hände sein rasendes Herz wiederspiegelten. Unsicher holte er das schmale, flache Gerät aus seiner Tasche und reichte es ihr mit gesenktem Blick auf das Telefon. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen, nicht in diesem Moment, und vergessen waren das warme Sonnenlicht, die lachenden Menschen im Hintergrund, das gute Essen. Das vorsichtige Vertrauen. Nur schale Bitterkeit blieb übrig, die Jean nicht überraschen sollte. Wirklich nicht. Dennoch hatte er anscheinend von seinem neuen Team tatsächlich etwas Anderes erwartet. Die Vizekapitänin grollte und murrte, während sie sein Handy mit einem Wischen entsperrte und sich durch sein Telefon suchte. „Wirklich, Moreau.“ Sie schnaufte und er ballte seine Hände zu Fäusten und verharrte angespannt. Alvarez holte nun ihr eigenes Handy hervor und begann anscheinend, Dinge abzutippen. Ob aus seinem heraus, das wusste er nicht, dafür kannte er sich auch nicht gut genug aus. Und hinsehen wollte er nicht. Würde sie ihn auch strafen für die Nachrichten, die er gestern Nacht Renee geschickt hatte? Würde sie es Knox sagen und Rhemann? Wie viele Minuten er hier saß, wusste er nicht. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Eine quälende, unendliche Ewigkeit. Wieso war er auch so unvorsichtig gewesen? Wieso hatte er sich einlullen lassen? Wieso hatte er vergessen, was er in Evermore auf sich genommen hatte? Wie dumm war er schon wieder gewesen, als hätte er aus der Folter nichts gelernt? Weder Knox noch Laila sagten einen Ton und schlussendlich schnaubte Alvarez. „Meine Güte, Moreau, das war ja nicht zum Aushalten“, sagte sie und Jean knirschte mit den Zähnen. „Komm, sieh mich mal an.“ Zögernd folgte er ihrem Befehl und hoffte, dass er die hilflose Wut auf sich selbst verbergen konnte. Schweigend starrte er auf sein Handy in ihrer Hand, auf den Bildschirm, den sie ihm entgegenstreckte. Es war das Nachrichtenprogramm, das er auch mit Renee und den Foxes nutzte. Zumindest waren ihre Namen dort eingespeichert. Bis auf Renee schrieb er die Spieler nicht von sich aus an, aber manchmal bekam er von ihnen Nachrichten, Hemmick an allererster Stelle. Über Renees Namen sah er eine andere Gruppe. Ab nach Troja hieß sie und Alvarez klickte darauf. „So, das hier ist der heilige Trojans-Gruppenchat. Das sind wir alle drin. Eine Schande, dass dir unser trotteliger Kapitän den noch nicht eingerichtet hat.“ Wütend knurrte sie in Knox‘ Richtung und Jean vertrödelte wertvolle Sekunden, in denen er sie schlicht anstarrte. Wieso sollte sie ihm etwas einrichten, wenn sie ihm sein Handy wegnahm? „Darüber hinaus habe ich dir alle unsere Kontakte auf dein Handy geladen. Kann ja wohl nicht sein, dass du die Foxes in deiner Liste hast, aber uns nicht.“ Sie hob vielsagend die Augenbrauen, als er sie immer noch schweigend anstarrte. „Ach ja, und ich lade dir gerade die essentiellen Apps herunter, die man heutzutage braucht. Du hast ja gar nichts auf deinem Gerät gehabt. Urghs. Man sollte meinen, dass Knox dir in den letzten Tagen mehr gezeigt hätte als sein doofes Kevin Day-Puzzle.“ Wieder schoss sie einen Vorwurf in Richtung Knox und Jeans linke Hand hob sich um zu widersprechen. „Na!“, unterband sie das mit dem Zeigefinger. „Also, Captain Sunshine. Wieso fehlen unserem neuen Backliner und deinem Zimmernachbarn die wichtigsten Kommunikationsinstrumente? Warum war er bis gerade eben nicht im Gruppenchat? Warum haben wir jetzt erst seine Nummer um ihn zu belästigen?“ Neben ihm gab Knox einen verlegenen, unsicheren Laut von sich. „Weil…also…“ Wie es schien, war sein Kapitän genauso sprachlos wie er auch und Jean griff nun endlich nach seinem Handy. Wie einen Schatz barg er es in seinem Schoß und lauschte dem beständigen Ping der Nachrichten, die in einer Schlagzahl bei ihm eintrudelten, die er so noch nie gehört hatte und die ihn mit jedem Ton mehr erschreckte. Etwas hilflos sah er auf. „Macht es jetzt die ganze Zeit diese Töne?“, fragte er in die Runde und dieses Mal war es Laila, die nachsichtig lächelnd ihre Hand nach seinem Telefon ausstreckte. Jean reichte es ihr zögernd und mit dem Bildschirm zu ihm gedreht, zeigte sie ihm, wie er die Gruppentöne auf lautlos stellte. „Wenn du Fragen hast, stelle sie ruhig“, ermutigte sie ihn und Jean fand in diesem Moment nicht die Kraft, nein zu sagen. Er sollte aufhören, Dinge anzunehmen, die sich im Nachhinein als falsch herausstellten, befand Jean und versuchte, sein schnell schlagendes Herz zu beruhigen. Es wollte ihm nicht gelingen, nicht, nachdem die Hoffnung, die nun auf die Verzweiflung gefolgt war, sein gesamtes Denken in Aufruhr versetzte mit ihrem warmen Gefühl tief in seiner Magengegend. ~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 15: Pommes im Kofferraum -------------------------------- Jeremy war erstaunt, wie unterschiedlich sich Jeans Charakter zeigte. Gestern, auf dem Dach, war er in sich zurückgezogen gewesen, verzweifelt teilweise. Mit dem Rücken zur Balustrade hatte er ihrem bunten Treiben zugesehen, angespannt und immer auf der Hut. Alvarez hatte ihn mit ihrer brachialen Herangehensweise mehr als verängstigt, wofür Jeremy ihr nachher noch verbal den Kopf abgerissen hatte, sobald der Backliner außer Hörweite gewesen war. Jean hatte sich trotz allem tatsächlich an dem Spiel, was sie gespielt hatten, beteiligt und sich größte Mühe gegeben, die Spielfiguren der Gegner durch Magmabälle vom Spielfeld zu kegeln. Er war sanfter gewesen als sie alle und hatte nicht wie Laila das halbe Spielfeld abgeräumt. Jeremy musste auch jetzt noch über den halb konzentrierten, halb ungläubigen Ausdruck auf Jeans Gesicht schmunzeln, mit dem er ihrem Abend beigewohnt hatte. Ihnen allen, wie sie Spaß hatten, der anscheinend so diametral allem gegenüber stand, das Jean jemals gekannt hatte, dass dieser sich vermutlich fragte, in welchem Irrenhaus er hier gelandet war. Einem sehr liebenswerten, wenn man Jeremy fragte. Und einem sehr sportlichen, wenn er sich seine Mannschaft gerade jetzt beim Training ansah. Seine nun vollständige Mannschaft, denn Jean hatte heute die Freigabe erhalten, wieder trainieren zu dürfen. Das, was er vorher nur in Ansätzen gesehen hatte, entfaltete sich in ihrem Abendtraining in seiner vollen Pracht und verursachte in Jeremy in Gefühl des Stolzes und der Freude. Jean war in menschliche Haut gepresste Perfektion. Seine Bewegungen waren effizient und austariert, er verlor sich nicht in unnötigen Kleinigkeiten oder überflüssigen Gesten. Sein Schläger war für ihn wie die Verlängerung seines Körpers und passte sich seinen Bewegungsabläufen perfekt an, als wären sie miteinander verwachsen. Jean ließ keinen einzigen Ball fallen. Keine einzige Übung führte er schluderig oder nachlässig aus. Beinarbeit, Körperspannung und Bewegungsmuster stimmten perfekt mit seinen oder Coach Rhemanns Anweisungen überein. Das abschließende Übungsspiel gegeneinander lastete ihn noch nicht einmal wirklich aus. Im Gegenteil. Jean war eine Naturgewalt, die mit Natürlichkeit und Zerstörung etwas Evolutionelles hatte. Er blockte jeden Versuch, an ihm vorbei zum Tor zu kommen, mit eiserner Härte ab. Er schlug gnadenlos zurück und holte sich Bälle, die unmöglich sein sollten, es für ihn aber nicht waren. Seine eigenen Pässe waren so genau und schnell, dass Jeremy und Logan teilweise noch nicht einmal die Möglichkeit hatten, schnell zu reagieren und, wenn sie zu langsam waren, den Ball gegen den Helm bekamen. Jeremy selbst hatte es nach Jeans Geständnis nicht über das Herz gebracht, sich für die andere Mannschaft aufstellen zu lassen, um Jeans Fähigkeiten auf die Probe zu stellen. Doch all das lastete den Ex-Raven noch nicht einmal wirklich aus. Während das restliche Team nach dem Spiel versuchte, verzweifelt Luft und Wasser zu bekommen, stand Jean mit gerunzelter Stirn und ungläubigen Blick in Richtung Bank auf dem Spielfeld und begriff nur langsam, dass damit auch das Training für heute vorbei war. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete Jeremy Jean, wie er Schritt um Schritt auf sie zukam, stumme Missbilligung in den Augen. „So Leute, genug für heute, morgen früh geht’s weiter!“, wandte er sich an die erleichterten Trojans und erhob sich mit schmerzenden Beinen. Aufstöhnend stützte er sich auf seinen Schläger und sah Jean gerade rechtzeitig ins Gesicht um zu sehen, wie dieser zweifelnd die Augenbraue hob. „Sag mir nicht, dass du nicht müde bist?“, fragte Jeremy und Jeans Kopfschütteln verwunderte ihn nicht wirklich. „Das war ein kurzes Training“, erwiderte der größere Junge indifferent und ließ seinen Blick zurück zum Spielfeld gleiten. „Kurz…“, ächzte Jeremy und grinste. „Wie ich sehe, haben wir da unterschiedliche Definitionen von kurz.“ „Lass das bloß nicht Coach Rhemann hören, dass sein Training nicht auslastend ist, Nummer sieben!“, mischte sich Valentine ein und hob warnend die Faust. Jeremy gab sich größte Mühe sein Grinsen im Angesicht des zweifelnden und ernsten Gesichtsausdrucks seines Backliners zu verbergen. „Ich würde es niemals wagen, dem Trainer wiedersprechen“, sagte Jean ohne Humor in der Stimme mit genau dem Quantum an beunruhigter Empörung, das Jeremy einen Einblick in die Ernsthaftigkeit der Aussage erlaubte. Jean würde es nicht wagen, weil es in Evermore anders gehandhabt worden war. Strenger. Brutaler. „Gut. Dann raus mit euch allen aus den stinkenden Klamotten und ab zum Wohnhaus. Morgen früh geht’s weiter!“, betonte Jeremy und scheuchte sie alle in die Umkleideräume. ~~**~~ Mit einem innerlichen Seufzen blendete Jean die Gespräche um sich herum aus und ließ sie an seinen Gedanken abprallen wie Wasser an Öl. In Evermore wäre das undenkbar gewesen, wenn ihm seine Gesundheit lieb gewesen wäre, hier war es eine Grundvoraussetzung dafür, dass sein Hirn und sein Hörsinn sich nicht überlasteten. Seine Gedanken kehrten zurück zu dem letzten Satz, den er heute Morgen in dem weißen und pastellfarbenen Buch niedergeschrieben hatte, das er sich bei seiner letzten Einkaufstour mit Knox vor zwei Tagen gekauft hatte. Es hatte ihn an Renee erinnert und so hatte er all die Dinge, die er zum ersten Mal gemacht und dort niedergeschrieben hatte, ihr gewidmet. Sein Kapitän war Inhalt des ersten Eintrages: er hatte unter Knox‘ Anleitung das erste Mal etwas selbst gekauft, Geld vom Automaten abgehoben und das Buch mitsamt des Einkaufs schlussendlich im Supermarkt mit seiner Karte bezahlt. Knox hatte protestiert und gesagt, dass er es selbst zahlen könne, doch Jean hatte ihn darum gebeten, die Kosten übernehmen zu dürfen. Schließlich hatte sein Kapitän ihn nun schon seit dreieinhalb Wochen ausgehalten. Dass die Tüten dann neben dem Obst und Gemüse, das ihm vage bekannt vorkam oder er schon in der Kantine gesehen hatte, auch haufenweise süßes Zeug enthalten hatten, dessen Verpackungen Jean schon entgegenschrien, wie ungesund sie waren, störte ihn nicht. Er musste sie ja nicht essen und Knox war trotz seiner Vorliebe für diesen Tod auf Raten erstaunlich gesund. Das hatte Jean in der vergangenen Zeit, die er hier in Kalifornien war, mehr als einmal gesehen, da nicht nur Knox, sondern auch der Rest der Studierenden anscheinend alle Gelegenheiten nutzten, um ihre freien Oberkörper ihren Teamkollegen, anderen Studenten und der Welt generell zu präsentieren. Damit waren sie nicht alleine, denn der Campus strotzte nur so vor nackter Haut. Die Selbstverständlichkeit, mit der dies geschah, hatte Jean am Anfang irritiert, da die Kälte von Evermore keinen einzigen Raven dazu angespornt hatte, sich derart zu entblößen. Mittlerweile hatte er sich jedoch daran gewöhnt und schätzte die Zeit, die sie im Stadion verbrachten, weil auch er dort kurze Hosen und luftigere Sporttrikots tragen konnte. Selbst in seinen Kursen war der Dresscode informell und lässig. Dass es noch nie anders gehandhabt wurde und hier die Dozenten keinen gesteigerten Wert auf ein gedrilltes Äußeres legten, hatte Knox ihm auf dem Weg zu seinen Vorlesungen erklärt. Denn trotz Jeans Versicherung, dass er den Weg finden, oder, wie er sich im Stillen gedacht hatte, suchen würde, ließ es sein Kapitän sich nicht nehmen, ihn von einem Ort zum anderen zu bringen und somit das Gefühl des Alleinseins zu mildern, vor dem Jean soviel Angst hatte. Anscheinend gehörte das zu den Dingen, die Day Knox erzählt hatte, denn wie durch Zufall war immer jemand da. Wenn Knox nicht konnte, war es Laila, die auf ihn wartete und die ihn mit einem Winken grüßte. Wenn sie nicht konnte, wartete Alvarez, zu der Jean einen größeren Abstand hielt als zu ihrer Freundin und vor der er sein Handy wohlweißlich immer versteckte, auf dem nun ständig Nachrichten aufploppten, die er in stillen Momenten nachlas und nicht einmal die Hälfte der Abkürzungen verstand. Wenn er mit Ajeet gemeinsame Vorlesungen hatte, ging dieser ganz zufällig in die Richtung seines nächsten Kurses und behauptete, dass er sowieso dorthin gehen musste. Dass das eine Lüge war, sah Jean sehr offensichtlich an dem kurzen, nervösen Zucken im Mundwinkel und daran, dass der Junge, sobald er sich in Sicherheit wähnte, wieder in die andere Richtung davoneilte. Selbst in der Mittagspause hatte er Begleitung. Soweit es möglich war, aßen alle wie jetzt auch gemeinsam zu Mittag und wer auch immer der Erste in der Kantine war, reservierte eine Tischgruppe drinnen oder draußen im Schatten des Gebäudes und der Sonnenschirme. Sie aßen nicht schweigend und zielgerichtet wie die Ravens, sondern laut durcheinanderredend und scherzend, absolut chaotisch. Es war nicht wie bei den Ravens ein Zwang… die Trojans kamen freiwillig zusammen, wer Zeit hatte, war da, wer nicht, der blieb fern und das hatte keine Bestrafung zur Folge. Ebenso wenig wie Jean dafür bestraft wurde, dass er sich selbst sein Essen von den unterschiedlichen Theken zusammenstellte. Soviel, wie er wollte, was er wollte und so oft er wollte. Es fiel ihm ebenso schwer wie alles Andere, das er für sich entscheiden sollte, so orientierte sich Jean auch immer an denjenigen Trojans, die bei der Essensausgabe in seiner Nähe waren und die, wie er mittlerweile gelernt hatte, sich an einen gesunden Essensplan hielten. Deswegen schaute er noch nicht einmal in die Richtung seines Kapitäns, wenn es um dessen Mittagsverpflegung ging. In Fahimas dahingehend schon. Sie war ebenso wie Knox auch ein Striker und Josten beängstigend ähnlich, was die Spielenergie und Fähigkeiten anbetraf. Sie hatte Talent und würde eine großartige Zukunft vor sich haben, wenn sie das richtige Training in Anspruch nahm. Sie war auch die Erste, die Jean im Gewimmel aus Köpfen in der Kantine wiedererkannt hatte. Wie denn auch nicht? Sie schmückte ihren Kopf täglich mit abenteuerlichen Konstruktionen ihres Kopftuches, ihres Hijabs, wie Jean gelernt hatte. Bunt, fröhlich, immer anders drapiert. Nach ihrer Stimmung und passend zu ihrer sonstigen Kleidung. Auch sie trug lange Kleidung und Jean fragte sich, welche Stoffe das wohl sein mochten, schien sie doch keine Probleme mit der Hitze hier zu haben. Mit den ihm verbleibenden Tagen war die Antwort darauf aber nicht mehr wirklich wichtig. „Moreau!“ Jean schreckte aus seinen Gedanken hoch und versuchte die Quelle des ungeduldigen Rufes zu finden, der ihm bedeutete, dass er anscheinend eine erste Frage bereits überhört hatte. „Hier hinten!“, winkte Valentine und er hob fragend die Augenbraue. Wie immer saß Jean am äußeren Rand der Gruppe, eine Seite neben ihm frei zur Flucht, wenn er sie brauchte. Valentine genoss da eher die Mitte, sie badete gerne in der Menge ihrer Mitspieler. „Kommst du am Samstag mit zum Strand?“ Die Aufmerksamkeit, die sie mit ihrer Frage abrupt auf sich selbst, vor allen Dingen aber auf ihn zog, behagte Jean ganz und gar nicht. Der ganze Tisch starrte ihn erwartungsvoll an, so als würde es von ihm abhängen, ob sie am Wochenende dorthin fuhren anstelle zu trainieren. Ein furchtbarer Gedanke, auf so vielen Ebenen. Wie konnten sie so nachlässig sein und die freie Zeit nicht dazu nutzen, ihre mangelnden Fähigkeiten zu steigern? Wie konnten sie so blind gegenüber der Realität sein und denken, dass sie mit ihrem jetzigen Aufwand auch nur unter die besten Drei kamen? Das war hanebüchen lächerlich und es machte ihn jetzt genauso wütend wie zu Beginn des Trainings. Und selbst wenn auch nur in Ansätzen in Ordnung gewesen wäre, dass sie das Training schwänzten, so war es immer noch Wasser in großen Mengen in Anwesenheit von vielen Menschen. Seines Teams. „Nein“, sagte er entschieden, feindselig gar. Ein Nein zu allem, was ihm Angst machte und was alleine diese einfache Frage an Erinnerungen in ihm hervorholte. Sie wären am Strand und er wäre ihnen ausgeliefert, sobald Knox den Befehl dazu geben würde. Dass sein Kapitän eben das nicht tun würde, wusste Jean, er hatte es mittlerweile begriffen. Das hielt aber nicht die Seite in ihm in Schach, die schreiend und nassgeschwitzt aus den Alpträumen hochschreckte und die minutenlang nicht richtig atmen konnte, weil sie immer noch das Gefühl hatte, zu ersticken. Es war die Seite, die ihm weder baden und schwimmen erlaubte. Duschen war eine Herausforderung für ihn, jeden Tag wieder, Wasser in seiner Nase eine Katastrophe. „Aber das ganze Team wird da sein“, gab Valentine nicht auf und Jean presste seinen Kiefer aufeinander. Das ganze Team umfasste auch ihn. Er würde dazu gezwungen sein, mitzukommen und im schlimmsten Fall mit ins Wasser zu gehen. Jean schluckte. Das würde er nicht durchstehen. Das konnte er nicht. Nicht noch einmal. Nie wieder. „Nein“, wiederholte er und starrte auf den Tisch. Nein würde es nur solange bleiben, bis Knox eine Entscheidung traf. Knox oder Alvarez, die schon sein Handy genommen hatte ohne ihm eine Wahl zu lassen. Dass Knox in dieser Pause nicht hier war, weil er eine Verabredung hatte, machte die Sache nicht besser. Jean runzelte die Stirn. Vielleicht konnte er den Striker ja davon überzeugen, dass er nicht mitkam. Wenn er ihm sagte, warum er nicht mitkommen konnte, dann würde sich sein Kapitän vielleicht überzeugen lassen. „Aber…“, setzte sie zum dritten Mal an und dieses Mal sah Jean hoch. Schweigend und ernst sah er ihr in die Augen, ließ sie teilhaben an seiner hasserfüllten Wut. Er wusste, sie würde das auf sich beziehen und das war auch beabsichtigt so, würde ihre falsche Annahme ihm doch jegliche Nachfrage vom Hals halten. Defacto war es aber die Wut, die er auf Riko und Evermore, aber auch auf sich selbst verspürte. Wut, dass ihm das angetan worden war und Wut, dass er immer noch nicht in der Lage war, das alles hinter sich zu lassen. Er sah zu, wie sie zuerst rot, dann bleich wurde und schlussendlich das Thema fallen ließ. Logan legte ihr die Hand auf die Schulter und flüsterte ihr etwas zu, während er Jean hasserfüllt anstarrte. Sollte er. Das war Jeans Zeichen dafür, dass er sich seinem Essen widmete und das übrige Team ausblendete, das ihn darauf bis auf Laila und Alvarez noch mehr ignorierte als zuvor. Es war Jean recht, konnte er doch die Erinnerungen nicht wirklich zurückhalten, die ihn nicht mehr loslassen wollten. Weder in seinen nachmittäglichen Kursen, noch in der Zeit zwischen diesen und dem Training, noch beim Training selbst, nach dem er mit abwesendem Blick in der Umkleide saß, die sich stetig leerte. Wieder und wieder spielte Jean den Gedanken an die kommende Katastrophe vor seinem inneren Auge durch. Beinahe ebenso oft machte er sich Mut für das Kommende. Der Besuch am Strand, das Wasser, das an den Strand rollte mit all seiner Wucht. Die fröhlichen Strandbesucher, die einfach freimütig ins Wasser sprangen, während er möglichst abgewandt vom Wasser im Sand sitzen würde. Jean warf einen Blick auf seine Ausrüstung, die er bereits ausgezogen und säuberlich neben sich auf der Bank gestapelt hatte. Nicht so wie Knox, der schier explodiert war, bevor er singend unter die Dusche getanzt war um dort weiter in schrägen und unpassenden Tönen irgendeinen Song von sich zu geben, den Jean natürlich auch nicht kannte. Leider hatte das gar nichts dazu beigetragen, seine Nervösität zu beruhigen, ganz im Gegenteil. So beobachtete er nun angespannt aus dem Augenwinkel heraus, wie sein Kapitän mit einem seiner riesigen Badehandtücher um sich geschlungen sich unweit von ihm auf die Bank fallen ließ. Knox beobachtete ihn auch, allerdings eher so, als wäre er eine tickende Zeitbombe. Vielleicht war Jean das ja auch. Eine tickende Zeitbombe. Mit den Stunden, die zwischen jetzt und der Mittagspause lagen, war ihm bewusst geworden, wie rüde er zu Valentine gewesen war, die vermutlich nicht wusste, warum er nein gesagt hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie tief und dunkel die Abgründe waren, die ihr Sport mit sich brachte. Nein, alles, was sie nun wusste, war, dass Jean sie hasserfüllt gemustert hatte. „Jean, was beschäftigt dich?“, fragte Knox schließlich mit einer schlafwandlerischen Zielsicherheit und Jean knetete sein Handtuch zwischen seinen Händen. Er verschwendete Zeit damit im Angesicht einer direkten Frage, auf die er zu antworten hatte. So war es ihm eingetrichtert worden. Er straffte sich. „Valentine hat gefragt…wegen dem Strand am Samstag.“ Ein überraschter Laut verließ seinen Kapitän. „Oh, das! Stimmt, das wollte ich noch mit dir besprechen. Was war denn damit?“ Jean schluckte schwer und schloss die Augen. Die Frage, die ihn ebenso beschäftigt hatte all die Stunden, war auch die gewesen, ob er Knox genug vertrauen konnte, um das Thema bei ihm anzusprechen. Um ehrlich zu sein, konkret und nicht vage. Er dachte daran, dass Knox ihn losgelassen hatte, als er ihn darum gebeten hatte. Er hatte ihm bisher nicht wehgetan. Er hatte ihn einen gemeinen Eisdieb genannt. Er hatte ihm ganz am Anfang ein Versprechen gegeben, das er bisher nicht gebrochen hatte. Das musste doch etwas wert sein, oder? „Ich kann nicht mit zum Strand“, presste Jean hervor, bevor er es sich anders überlegen konnte. „Warum das? Geht es dir nicht gut?“ Natürlich fragte Knox nach seinem Befinden. Jean hätte es sich denken können. Mit starrem Blick auf sein Handtuch schüttelte er den Kopf. „Ich kann dort nicht hin. Es…es geht nicht.“ Knox wandte sich ihm und rückte unbewusst ein Stück näher. Jean grauste es vor dem Gedanken, dass er ihn wieder anfassen würde, doch noch hielt sein Kapitän Abstand. „Hey…hey, das ist kein Zwang, Jean. Du musst nicht mit, wenn du das nicht willst.“ Jean schluckte und faltete den Frotteestoff. Er sah hoch und stählte sich für den Blickkontakt mit seinem Kapitän, der ruhig, entspannt und makellos perfekt auf der Bank saß. „Möchtest du mir sagen, was am Strand so schlimm ist?“, fragte Knox sanft. Jean wollte nicht wirklich, aber er fragte sich, ob es Sinn machte, es Knox zu verschweigen. Sie waren hier in Los Angeles, alleine durch pures Glück war er bisher einem Strandbesuch entkommen. Oder einem Schwimmtraining. Knox musste wissen, was sein Spieler für ein Handicap hatte. Er als Kapitän hatte das Recht dazu. Jean ballte seine Hände zu Fäusten und entspannte sie schließlich wieder. Er holte tief Luft und ließ die jahrelange Indoktrinierung gewinnen, die ihm in diesem Moment die Entscheidung abnahm, ob er ehrlich war oder nicht. „Riko hat mit ein paar Raven und mir damals regelmäßig Filme gesehen“, begann er und starrte an Knox vorbei auf die Spinde. Wenn er möglichst schnell und ohne Unterbrechungen sprach, würde er auch alles hervorbringen können, was wichtig war, bevor seine Stimme vor lauter Angst versagte. „In einem der Filme wurde der Hauptcharakter durch Waterboarding gefoltert. Riko hat daraufhin beschlossen, auszuprobieren, ob es tatsächlich so traumatisierend ist, wie es dargestellt wurde.“ Jean verstummte abrupt und wartete auf eine Reaktion seines Kapitäns. Die für lange, quälende Momente nicht kam. So stumm hatte er Knox noch nie erlebt. War es vielleicht das Falsche gewesen? Malte sich Knox gerade aus, wie er es Riko gleichtun konnte? Unsicherheit beschlich Jean wider besseren Wissens. „Er hat dich damit gefoltert?“, fragte Knox schließlich so erstickt, als wäre es ihm selbst passiert. Jean nickte. Wenn schon die Wahrheit, dann die ganze Wahrheit. „Zehn Mal, um sicher zu gehen. Seitdem kann ich nicht… ich habe Angst… vor Wasser“, beendete Jean sein Eingeständnis der Schwäche und wartete auf das vernichtende Urteil seines Kapitäns. ~~**~~ Jeremy war behütet aufgewachsen, umgeben von Menschen, die ihn liebten und die er liebte. Er war immer, zu jeder Zeit eingebettet gewesen in ein Netzwerk an Menschen, die seine Freunde oder seine Familie waren, die er schätzte und denen er vertraute und die ihm vertrauen konnte. Niemals war er mit weniger als Optimismus durch das Leben gegangen und hatte diesen an seine Mitmenschen weitergegeben. Geradezu unschuldig war er an die USC gekommen und in vielen Bereichen war er immer noch unschuldig und zum guten Teil auch naiv. Er hatte angenommen, dass ihr Sport sie alle einte. Dass ihr Sport Mannschaftsgeist und Ehrgeiz förderte. Dass alle Mannschaften ihrer Liga auf ihre ganz eigene Art und Weise zusammenhielten. Jeremy hatte sich noch nie in seinem Leben geprügelt. Er war noch nie in seinem Leben geschlagen worden. Und nun saß Jean vor ihm, ein Jahr jünger als er und sagte ihm, dass er durch Riko Moriyama gefoltert worden war, indem man ihn hatte glauben lassen, dass er ertrank. Eine Methode, die sein Land in Foltergefängnissen anwandte. Die erniedrigte Pose am zweiten Tag, die gebrochenen Finger, die offensichtliche Angst vor ihm, die Bestrafungen für sein Versagen…und nun…Waterboarding. Folter, durch und durch, die Jeremy sich unweigerlich fragen ließ, warum Jean erst jetzt aus den Klauen dieser sadistischen Arschlöcher befreit worden war. Und warum niemand, einschließlich ihm selbst, niemals etwas bemerkt hatte. Niemals auf Jean geachtet hatte oder auf das, was Evermore mit seinen Spielern machte. Spätestens bei den Banketten hätte es Jeremy doch auffallen müssen. Oder, wie er mit einem schmerzhaften Ruck feststellte, als Jean nach einem ihrer Zusammenstöße während eines Spiels liegen geblieben war, zu lang um nicht verletzt zu sein. War er dafür bestraft worden? War er sogar dafür bestraft worden, dass Jeremy ihm die Hand gereicht hatte? Wie konnte und sollte er dafür umgehen? Wie sollte er auf Jean reagieren, wie konnte er etwas wieder gut machen, dessen Ausmaß er noch nicht einmal kannte? Wie konnte er dieses Ausmaß an schlimmen Dingen wieder gutmachen, das dem Jungen vor ihm angetan worden war. Wie konnte er Jean überhaupt eine Hilfe sein? Ein kurzer Moment der Hilflosigkeit überschwemmte Jeremy mit einer solchen Wucht, dass es ihn sprachlos und verzweifelt machte. Doch er gab eben diesem Gefühl keine Chance, sich in ihm festzusetzen. Niemals würden ihn so negative Emotionen ausmachen und niemals würde er sich unterkriegen lassen, also würde er auch jetzt nicht damit anfangen. Jeremy holte tief Luft, er sah hoch und stählte sich für Jeans Ablehnung, seine Angst und sein Zurückweichen. Nichts davon trat ein. Jean starrte zu Boden, den Blick abwesend. Seine Hände krampften sich vermutlich unbewusst in das Handtuch, das auf seinem Schoß lag. Die aufrechte, angespannte Pose hatte er in diesem Moment für etwas aufgegeben, das Jeremy schwerlich beziffern konnte. Er war in sich gesunken. Besiegt, kam es Jeremy in den Sinn, auch wenn das der vollkommen falsche Begriff war. Jean war nicht besiegt, er hatte überlebt. Er hatte anscheinend die Hölle überlebt. „Davor… mochte ich das Meer. Ich mochte es, darin zu schwimmen. Den Salzgeruch, die Möwen, die Sonne, der Sand…all das habe ich geliebt und jetzt kann ich dem nicht nahekommen ohne dass ich verdammt nochmal Angst davor habe, wenn ich das Wasser sehe!“ Das, was als stockende, leise Worte begonnen hatte, war zum Schluss hin lauter und wütender geworden, hallte nun bitter und grausam von den Wänden der Umkleide wieder. Seine Hände krallten sich mittlerweile in seine Knie und sein Gesicht war zu einer schmerzerfüllten Grimasse verzogen. Es juckte Jeremy in den Fingern, Jean zu umarmen, an sich zu ziehen und jeden einzelnen Schmerz aus ihm herauszudrücken, der ihm jemals zugefügt worden war. Dass genau das der falsche Ansatz war, wusste er mittlerweile, was aber nicht bedeutete, dass er nicht auch anderweitig bereit war, Jean zu unterstützen und ihm zu helfen. Der andere Junge war aber noch nicht fertig, erkannte Jeremy jetzt. „Aber hier… ihr alle kennt keine Angst. Für euch ist alles so einfach hier. Anstelle den Tag über zu trainieren an den Strand zu gehen? Nichts leichter als das! Sich für Partys auf Dächern zu treffen? Das Normalste der Welt! Dinge zu essen, die ungesund sind und die Fitness des Körpers beeinträchtigen? Das steht hier nicht unter Strafe, jeder von euch macht es! Oder… oder… dass ihr euch Freundschaft untereinander erlaubt und euch sogar vertraut!“ Jeremy zuckte zurück, als sich Jean abrupt erhob und wütend auf ihn hinunterstarrte. „All diese…Farben…“, ziellos deutete der Backliner auf die roten Spinde, auf das Trojanswappen an der Wand. „…diese Fröhlichkeit… du strafst deine Spieler nicht, wenn sie dir im Training nicht gehorchen! Der Herr tut das nicht, er steht nur dabei und sieht zu, obwohl es offensichtliche Defizite gibt! Offensichtliche! Aber ihr… keiner von euch nimmt es ernst! Keiner von euch hat eine Ahnung, wieviel Disziplin und Ordnung und Blut und Leid in diesem Sport notwendig ist, mit all dem unschuldigen und naiven Spaß, den ihr habt! Das ist…unverdient! Den Vertrag mit der USC unterschreiben zu müssen, war keine Erlösung, es ist eine Strafe! All das hier ist eine Strafe für mich, weil ich niemals haben werde, was ihr habt, weil ich kein Recht dazu habe!“ Ehrlich gesagt hatte sich Jeremy noch nie so hilflos gefühlt wie in diesem Moment. Er versuchte mit Mühe Jeans Worten zu folgen, der Wut, die sich so abrupt über ihn ergoss und mit der er nicht gerechnet hatte. Mit nichts davon… oder wenig, denn Jeans Worte erklärten in Ansätzen seine wütenden Blicke während des Trainings. Doch das war hier nicht wichtig, nicht jetzt. Das Trauma, ausgelöst durch eine unschuldige Frage, die in ihrer Form schon hundertmal gestellt worden war. Der Schmerz, der hinter dieser hilflosen Wut stand, war es, der sich anscheinend endlich die Bahn brach, nachdem Jean ihn wochenlang in sich eingeschlossen hatte, aus Angst vor ihm. Jeremy besann sich innerlich zur Ruhe und atmete tief aus. Wortlos erhob er sich, die Hand vorsorglich auf das Handtuch gelegt. Wenn es gerade jetzt, in diesem Moment, den Abgang proben würde, würde das vermutlich mehr Schaden anrichten als in all seiner gloriosen Peinlichkeit für Entspannung sorgen. Wütend starrte Jean auf ihn hinunter und hoffte anscheinend etwas in seinem Gesicht zu sehen, was er dann doch nicht fand. Verächtlich schnaubte er. „Was siehst du in mir, dass dich schnauben lässt?“, fragte Jeremy offen und ehrlich. Er hielt seine Stimme ruhig und leise. Es schien, als wäre alleine schon diese Frage zuviel für Jean. Abrupt wandte der größere Junge seine Augen ab. Er presste seine Lippen zusammen und schwieg. „Jean?“, hakte Jeremy nach, als er keine Antwort erhielt. „Es tut mir leid, ich habe mich im Ton vergriffen, Kapitän.“ Formell und nichtssagend. Nein, so kamen sie nicht weiter. Jean war zum ersten Mal so brachial offen gewesen, dass er ihn unbedingt positiv darin bestärken musste. Im Handtuch in einer nach verschwitzten Sportlern riechenden Umkleide war das jedoch denkbar ungünstig. Jeremy straffte sich. „Sei so gut und ziehe dich um, Jean. Wenn du magst, geh noch duschen. Danach treffen wir uns an meinem Auto.“ Die Strenge seines Kapitänstons ließ Jean nun doch zusammenzucken und Jeremy hatte ein schlechtes Gewissen deswegen. Er war kein Psychologe und schon gar kein Traumatherapeut, aber er war der Kapitän dieses Teams. Er kümmerte und sorgte sich um seine Spieler und es würde mit dem Teufel zugehen, wenn er aus diesem Gespräch keine Grundlage für ein weiteres, offenes Gespräch ziehen würde, aus dem Jean gestärkt hervorgehen würde. Eben jener drehte sich ohne ein weiteres Wort um und suchte in seiner Tasche nach dem Duschgel. Jeremy wandte sich ab von ihm und zog sich an. Schneller als es sonst für ihn üblich war, hatte er seine Sachen zusammengepackt und wartete draußen bei seinem Wagen. Jean benötigte länger, schlussendlich kam er allerdings mit gesenktem Blick und geschulterter Sporttasche zu ihm. Jeremy deutete auf den geöffneten Kofferraum und Jean verstaute seine Tasche dort. Nachdem er die Klappe geschlossen hatte, ging Jeremy zum Fahrersitz und schnallte sich an. Jean tat es ihm auf dem Beifahrersitz gleich und legte seine Hände auf die nun in einer legeren Trainingshose steckenden Oberschenkel, nachdem auch er sich den Gurt umgelegt hatte. Von der Wut, die ihn befallen hatte, war nichts mehr zu sehen und noch viel weniger zu spüren. „Wir werden nicht zum Wohnhaus fahren“, verkündete Jeremy und sah, wie sich der Kopf seines Backliners senkte. „Wenn du damit nicht einverstanden bist, dann sage mir das bitte jetzt.“ „Es ist in Ordnung.“ Jeremy nahm das zur Kenntnis, verließ den Parkplatz des Stadions und nahm Kurs über ein Drive-In-Burgerrestaurant, wo er für Jean und sich selbst Essen bestellte. Für seinen Backliner gesundes Zeug, das dieser bei ihrem ersten Besuch in einem Diner gegessen hatte, für sich nach kurzem Überlegen ebenfalls einen weniger fettigen Burger. Aber Pommes. Ja, er war schwach im Grunde seines Herzens. Jean wohnte dem Ganzen ohne einen Ton zu sagen bei und so lauschte Jeremy die halbe Stunde lang, die sie in Richtung Norden durch die abendliche Stadt fuhren, den Songs im Radio. Als sie bei der zweiten Nachrichtensendung angekommen waren, lenkte er den Wagen von der Straße und brachte sie beide auf einen Parkplatz, der, wie er wusste, ruhig und abgelegen genug war, dass sie niemand stören würde. Er wusste auch, dass die Büsche, die den Schotterplatz umsäumten, den Blick auf das Meer versperrten, das unter ihm lag. Nur der Mond, der in seiner hellen, halbvollen Pracht samt der ihn umgebenden Sterne auf sie hinunterschien, würde die Umgebung erhellen. Jeremy drehte den Schlüssel im Zündschloss und ließ den Motor ersterben. Stumm verließ er den Wagen. Jean tat es ihm mit einer kurzen Verzögerung gleich und Jeremy wartete, bis sich der größere Junge bewusst wurde, wo sie waren. Es brauchte seine Sekunden, doch als er sich dessen gewahr wurde, konnte sich Jeremy der Aufmerksamkeit des Anderen zu hundert Prozent sicher sein. Mit der aufkommenden Angst, die er selbst in der relativen Dunkelheit auf dem scharf konturierten Gesicht sah, hatte Jeremy durchaus gerechnet und dennoch tat sie ihm weh. Er war nicht wie der tote Kapitän der Ravens. Er war kein schlechter Mensch, der Anderen wehtat und hatte auch nicht vor, zu so jemanden zu werden. Jeremy ließ Jean Zeit, sich von der Umgebung ein Bild zu machen und räusperte sich dann. Nur, weil er seine Kapitänpersona gerade in den Vordergrund gestellt hatte, hieß das nicht, dass er dahinter nicht nervös war und hoffte, das Ganze nicht so versemmeln, dass er Jean endgültig verschreckte. „Ich möchte dich bitten, mir auf meine kommende Frage eine vollkommen ehrliche Antwort zu geben, Jean. Denkst du, dass dir das möglich wäre?“, fragte er in die Stille hinein und es brauchte etwas, bis sein Gegenüber überhaupt reagierte. „Ja“, sagte Jean schließlich und Jeremy nickte. „Ist diese Entfernung zum Meer bereits schon unangenehm für dich?“ Es brauchte seine Zeit, bis Jean anscheinend überhaupt die Kraft fand, eine eigenen Entscheidung zu treffen. Noch viel mehr Zeit brauchte es, bis er den Mut fand, seinem Kapitän eine Antwort auf die Frage zu geben. „Es ist in Ordnung“, erwiderte Jean rau und Jeremy nickte. Damit konnte er arbeiten. „Dann komm, lass uns zu Abend essen.“ Ohne die Antwort des anderen Jungen abzuwarten, ging Jeremy zur Rücksitzbank und griff sich von dort die Tüte mit dem Essen und die Becher Limonade und Wasser. „Jean, könntest du mir helfen und den Kofferraum öffnen?“, ächzte Jeremy, als er feststellte, dass er so keine Hand mehr frei hatte und lächelte dankbar um die Hilfe, die er schlussendlich mit nachdenklich gerunzelter Stirn erhielt. „Schiebst du die Taschen beiseite?“ Jean tat ihm wie geheißen und Jeremy ließ sich mit einem Ächzen fallen, brachte damit die Hinterachse seines Wagens zum Knarzen. Hungrig breitete er seine Beute zwischen ihnen beiden aus und bedeutete Jean, sich ebenfalls zu setzen. Sorgfältig hatte er den Wagen so geparkt, dass diese Seite dem Meer abgewandt war, sodass man nur das Rauschen der Wellen hören und den salzigen Geruch riechen konnte. Mehr aber auch nicht, selbst wenn man genauer hinschaute. Jeremy schob sich sein ungesundes Abendessen in den Mund und deutete auf den Berg an Essen zwischen ihnen beiden. „Die Hälfte ist für dich, auch wenn du nicht auf ungesundes Essen stehst. Es dient auch nur zur Überbrückung, ich weiß, dass das gesunde Zeugs in unserem Kühlschrank noch auf dich wartet, was du täglich isst, deswegen habe ich ja auch den gesundesten Burger geholt, den es gab und den Salat, den du auch beim letzten Mal gegessen hast. Also nicht den genau, aber einen ähnlichen, zumindest hoffe ich, dass er ähnlich ist, ansonsten musst du ihn auch nicht essen. Und die Limonade ist zuckerfrei, weil du beim letzten Mal Wasser getrunken hast, aber ich dir hier kein Wasser holen konnte, weil das Wasser da nach Chlor schmeckt.“ Jeremy holte tief Luft und verordnete sich selbst eine Schweigepause. Er war nervös, was zur Folge hatte, dass er schwafelte, was wiederum zur Folge hatte, dass er Informationen bereitstellte, die sein Gegenüber sicherlich nicht interessierten. Auch wenn Jean den Eindruck machte, dass er an seinen Lippen hing. Besser das, als anscheinend an seinem Burger und seinem Salat, die auf ihn warteten. „Danke, dass du das Essen gekauft hast“, entschied der Ex-Raven sich für das Neutralste, was er anscheinend aufzubieten hatte und Jeremy brummte. „Jean?“ „Ja?“ Jeremy kaute seinen momentanen Bissen zuende und schluckte geräuschvoll. „Hasst du uns wirklich so sehr?“ Er hatte vor dem Stellen der Frage gewusst, dass er für die Antwort Geduld haben musste. So beobachtete er Jean dabei, wie dieser zu dem Limonadenbecher griff und mit ihm spielte, die grauen Augen abgewandt und die sonst glatte Stirn stürmisch gerunzelt. Er beobachtete seinen Backliner dabei, wie dieser den Strohhalm knickte, wieder und wieder, immer im gleichen Abstand. Als er damit fertig war, widmete er sich seiner Burgerpackung ohne deren Inhalt wirklich anzurühren. Schlussendlich legte er seine Hände auf die Oberschenkel und hob den Blick. „Meine Worte waren unüberlegt, respektlos und ohne eine wirkliche Grundlage. Ich möchte mich für sie entschuldigen.“ „Nein.“ Jean war genauso überrascht wie Jeremy selbst über seine knappe Antwort und er lächelte verlegen. „Also, das was ich meine, ist, dass du dich nicht entschuldigen musst. Du hast nichts falsch gemacht. Du hast ehrlich Dinge geäußert, die dich stören und die dich belasten. Ich wäre ein schrecklicher Kapitän, wenn ich deine Meinung nicht wertschätzen oder dich dafür bestrafen würde. Also?“ Wiederum brauchte Jean eine gefühlte Ewigkeit, bis er die Kraft fand, auf die eigentliche Frage zu antworten. „Ihr habt eine andere Art zu trainieren, die euer Potenzial nicht vollständig ausfüllt. Ihr albert herum, seid nicht präzise in den Übungen, der Herr lässt euch eure Disziplinlosigkeiten durchgehen“, gab Jean nach einer Zeit des Überlegens schlussendlich zu und Jeremy lächelte. „Unser Trainer, Coach Rhemann, Jean. Er ist nicht der Herr.“ Abrupt sah Jean hoch, in seinen Augen Frust über diesen Einwurf. „Das ist das Problem! So kann er euch nicht zur Disziplin rufen.“ Jeremy überdachte die Worte für einen Moment, rief sich vor Augen, woher sie kamen und durch was sie hervorgerufen worden waren. Offen und klar erwiderte er Jeans Aufmerksamkeit, die in dem spärlich erleuchteten Auto um ein Vielfaches eindringlicher wirkte. Kurz verweilte Jeans Aufmerksamkeit auf der eintätowierten 3 auf der Wange seines Gegenübers. „Das muss er auch gar nicht.“ Überrascht hob Jean die Augenbrauen. „Wir funktionieren ohne eine schädigende, strenge Disziplin, das haben wir immer. Das bedeutet aber nicht, dass wir unsere Fähigkeiten nicht weiter steigern können mit entsprechenden Verbesserungsvorschlägen.“ Jeremy zwinkerte und Jean sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Das steht mir nicht zu!“, empörte er sich und Jeremy seufzte. „Warum nicht?“ „Das ist Sache des H… Coaches und des Kapitäns.“ „Grundsätzlich schon. Aber weder Rhemann noch ich sind mit absoluter Weisheit gesegnet. Wenn du Verbesserungsvorschläge hast, her damit. Wenn sie gut sind, warum sollten wir sie dann nicht ausprobieren?“ „Das kann ich nicht“, protestierte Jean schwach, doch seine Barrieren gegen das Thema bröckelten merklich. Zumindest interpretierte Jeremy den Griff zu seinen Pommes so, mit dem sich Jean zwei in den Mund steckte. „Dass du es bereits konntest, hast du in der Umkleide bewiesen. Ich würde mich nur freuen, wenn du das jetzt auch noch mit Details unterfüttern würdest.“ „Ich kann nicht…“ Jeremy richtete sich auf. „Jean“, begann er streng. Zumindest strenger als zuvor, was anscheinend ausreichte, um den anderen Jungen verstummen zu lassen. „Du bist der fähigste Backliner, den ich jemals gesehen habe. Du bist ultrapräzise, hast einen Rundumblick auf deine Mitspieler und die gegnerische Mannschaft, von deiner Ausdauer können viele andere nur träumen. Deine Beinarbeit und Koordination sind ein Traum und ein Vorbild für andere. Du kannst. Deine Vorschläge wären eine Bereicherung für unser Team.“ Selbst im schummrigen Licht des Wagens sah Jeremy, wie Jean errötete und wenn er ehrlich war, war es das Bezaubernste, was er in der letzten Zeit gesehen hatte. Und weil er beschloss, dass Jean etwas Farbe auf seinen Wangen gut tun würde… „Du bist eine Naturgewalt, Jean. Du bist unaufhaltsam und wie eine Mauer, an der Myriaden an Strikern bereits verendet und verzweifelt sind. Dein Talent stellt das vieler anderer in den Schatten und ist ein gutes, nein, ein exzellentes Beispiel für Können und Übung, verschmolzen in Perfektion.“ Und wie da Farbe auf die zerschnittenen Wangen kam. „Das hat noch nie jemand gesagt“, murmelte Jean und Jeremy strahlte. „Dann wurde es verdammt nochmal Zeit. Also? Kann ich auf die Unterstützung des besten Backliners der Liga zählen, auf dass die Trojans die Meisterschaften gewinnen dieses Jahr?“ „Nicht, wenn ihr euch wieder entschließt, neun zu neun gegen die Foxes anzutreten und nicht auszuwechseln.“ „Das war ehrenhaft.“ „Das war dumm.“ Jeremy grinste. Das war der Widerstand, den er sehen wollte, die schonungslose Offenheit. Er klaute sich ein Salatblatt aus Jeans Salat, aus Rache für dessen Pommesdiebstahl und zuckte unschuldig mit den Schultern. „Ich ernähre mich zu ungesund, hat mir so ein gruseliger Backliner, von dem du vielleicht einmal gehört hast, gesagt.“ Jean rollte mit den Augen und Jeremy hielt sich wieder brav an seine ungesunden Pommes. „Ist es okay für dich, hier zu sein?“, fragte er erneut und Jean gab einen fragenden Laut von sich. „Das Geräusch der Wellen, der Salzgeruch“, präzisierte er und nach längerem Überlegen nickte der Ex-Raven. „Es ist okay.“ „Kein Unwohlsein oder Angst?“ „Nein.“ „Keine schlechten Erinnerungen?“ Jean schüttelte stumm den Kopf und Jeremy dämpfte sein Lächeln auf etwas Sanfteres. „Ich verspreche dir eins, Jean Moreau. Für jede schlechte Erinnerung, die du an Evermore hast, werde ich mich bemühen, dir eine positive Erinnerung an die USC zu schenken.“ „Und ungesundes Essen in einem Kofferraum im Dunkeln zu essen, gehört zu dieser Kategorie?“, fragte Jean und Jeremy begriff erst nach ein paar Sekunden, dass da Ironie mitschwang. Ironie war besser als Angst oder Verzweiflung, befand Jeremy und nickte leidenschaftlich. „Wollen wir nachher noch ein Eis essen?“, reizte er die Gewitterwolke vor sich und wurde nicht enttäuscht. „Nein!“, donnerte es ihm streng entgegen und Jeremy zuckte recht hilflos lachend mit den Schultern. ~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 16: Spuren im Sand -------------------------- Knox war gefährlich. Nicht in dem Maße, wie Riko gefährlich gewesen war, das nicht. Sein jetziger Kapitän schlug ihn nicht, folterte ihn nicht, nutzte seine Schwächen nicht aus, wenn sie sich ihm wie auf einem Silbertablett präsentierten. Er vergriff sich nicht an ihm und erlaubte ihm sogar, Verbesserungsvorschläge zu machen. Auch wenn dieses Konzept so unbegreiflich wie ungeheuerlich für Jean war, so hatte er doch begonnen, sich genau darum Gedanken zu machen. Doch nicht nur darum. Als sie in dem unaufgeräumten Kofferraum von Knox‘ Ungetüms gesessen hatten, hatte Jean die salzige Luft des Meeres gerochen und dem Rauschen der Wellen gelauscht, die unter ihnen an die Küste brandeten. Was ihm zunächst Angst gemacht hatte, war irgendwann zu etwas geworden, das er zaghaft mit seinen guten Erinnerungen an Frankreich verknüpfte. An Sonne, an Unschuld, an Glück. Knox hatte es ihm ermöglicht und hatte somit einen Gedanken hervorgerufen, der Jean mit seiner puren Existenz immer noch erschreckte. Einen Augenblick lang hatte er sich gefragt, wie es sein mochte, wenn er den Handel nicht einhielt und weiterlebte, wenn er sich erlaubte, tatsächlich ein Teil des Teams zu werden und ein Leben zu leben, das ihm seit neun Jahren versagt worden war. Dieser Gedanke war so brachial schön gewesen, dass er im gleichen Maße auch schrecklich war. Denn mit all der romantisierten Vorstellung davon, seine Meinung frei zu äußern, frei zu reisen, Hobbys für sich zu beanspruchen oder auch nur das zu tun, was er wollte, kam auch das Bewusstsein, dass all das Schlechte und Dunkle, das seine Alpträume und seine Ängste prägte, immer ein Teil seines Lebens sein würde, der ihn begleitete. Ein großer Teil, der nicht abschätzbar war. Wie die Narben auf seinem Körper auch würden sie bleiben und ihm das Leben schwer machen. Das war das eventuell kommende Gute nicht wert. Oder? „Guck mal, was hältst du davon?“ Jean tauchte aus seinen Überlegungen auf und nahm das Blatt Papier an, das sein Kapitän ihm reichte. Schweigend studierte er es und setzte vorsichtig den kleinen Käfer, der sich anscheinend vom Baum über ihnen darauf abgeseilt hatte, vorsichtig auf das noch halbwegs grüne Gras. Knox, Alvarez und Fahima waren mit ihrer Eisschokolade beschäftigt, während Jean sich an sein Wasser hielt. Laila und der Hüne, Ajeet, recherchierten gerade für ein gemeinsames Projekt, von dem nur leise Fetzen an Jeans Ohr drangen. Der Drang der USC-Studenten, sich in jeder freien Minute nach draußen zu begeben, sollte Jean wirklich nicht mehr überraschen und dennoch hatte er immer noch ein schlechtes Gewissen, wenn er Knox in den Schatten unter den Bäumen folgte und sich dort niederließ um zu lernen oder seine Hausaufgaben zu schreiben. Per Hand, weil er noch keinen Laptop hatte. Jean hielt es angesichts der noch ausstehenden Tage für eine Verschwendung, doch bald würde er Knox in seinen Überregungsversuchen nicht mehr abwimmeln können ohne sich verdächtig zu machen. Gerade jetzt hatte er seine Hausaufgaben zugunsten der erwünschten Taktikdiskussion mit seinem Kapitän zur Seite gelegt und sah sich dessen Entwurf für eine ausdauerstärkende Übung an. Ganz im Sinne seiner Worte hatte Knox nach ihrem heutigen Morgentraining explizit nach seiner Meinung gefragt und Jean hatte ihm in leisen, vorsichtigen Worten erklärt, was er für verbesserungswürdig hielt. Knox hatte sein Versprechen gehalten und ihm sogar für seine Einschätzung gedankt… nur um jetzt, in ihren freien Nachmittagsstunden, darauf zurückzukommen. Kritisch runzelte Jean die Stirn und besah sich Piktogramme der Bewegungsabläufe. Nachdenklich spielte er mit seinem Stift und dachte auf den Hand-Fuß-Koordinationen herum, als er eher aus dem Augenwinkel heraus sah, dass sich ihm kurze, muskulöse Beine näherten, die in einem Rock mündeten, der wiederum in ein übergroßes Trojans-Tanktop endete. Jean sah hoch und bemerkte Valentine, wie sie unweit von ihm stand und ihn vorsichtig musterte. Er saß zu nah an Knox, der das eigentliche Ziel ihrer Aufmerksamkeit war und Jean seufzte innerlich. Er war wütend gewesen und diese Wut hatte sich destruktiv auf sie entladen. In Evermore hätte ihm das überlebensnotwendige Distanz eingebracht und seine Position gestärkt, doch hier gab es so etwas wie den Kampf gegeneinander nicht. Die Trojans waren ein Team. Freunde. Miteinander anstatt gegeneinander war hier die Devise. Es war gewöhnungsbedürftig und so konnte Jean auch nicht gänzlich aus seiner Haut. Das bedeutete aber nicht, dass er nicht lernfähig war. Er hielt ihren Blick und nickte, in Anerkennung ihres Hierseins. Stumm musterte sie ihn, dann seufzte sie. „Hallo Jean.“ „Valentine.“ Damit senkte er seine Augen wieder auf das Stück Arbeit, das vor ihm lag und nutzte das Gespräch von Valentine und seinem Kapitän, um dessen Plan umzustellen um für noch mehr Ausdauer zu sorgen und auf der Rückseite des Blattes gleich noch einen weiteren Drill aufzuzeichnen, den er in Evermore gehasst hatte, der aber eine nützliche Übung für Präzision, Muskelaufbau und Flexibilität war. Er war beinahe fertig damit, als sein Handy klingelte und der Ton darauf hindeutete, dass es nicht Renee war, die ihn anrief. Entschuldigend sah Jean zu Knox, der ihm mit einem Lächeln zunickte und Jean zu verstehen gab, dass es in Ordnung war, wenn er ihre Runde verließ. Jean zog das Handy hervor und starrte irritiert auf den Namen des Anrufers. Stirnrunzelnd hob er ab. „Ja?“, fragte er ungnädig und wurde mit einem Schnauben belohnt, das er im ersten Moment Minyard zuordnete. Die Stimmfärbung passte aber nicht ganz. „Moreau“, drang sein Name möglichst neutral durch die Leitung und Jean überlegte für einen Moment, ob er wie bei Renee auch auf Videotelefonie umschalten sollte. Er entschied sich dagegen, wusste er doch nicht, was ihn am anderen Ende der Leitung erwarten würde. Oder vielmehr wer. „Josten.“ Day zum Beispiel oder Minyard. Auf beide war Jean nicht wirklich scharf. „Wenn das noch dein Name ist.“ Der rothaarige Striker lachte trocken und Schweigen trat zwischen sie beide. Jean war es, der eben jenes als Erster brach. „Was willst du?“, fragte er und gab sich keine Mühe, die Verwirrung aus seiner Stimme zu verbannen. Die Verbindung zwischen Josten und ihm war bestenfalls als vorsichtig zu bezeichnen. Aus offener Feindseligkeit beim Bankett und während der Spiele gegeneinander war eine Art wochenlanger Schicksalsgemeinschaft in Evermore geworden, in der Jean versucht hatte, den aufsässigen und ungehorsamen Jungen am Leben zu halten. Gute Ratschläge waren an Josten verloren gewesen und Jean hatte ihn mehr als einmal alleine aus hilfloser Wut geschüttelt. Mehr als einmal hatte Josten ihm Wahrheiten entgegen geschleudert, die überaus schmerzhaft gewesen waren. Ihre Symbiose aus Überlebenswillen, Notwendigkeit der gegenseitigen Gesellschaft und Hass auf die Umstände hatte sie aneinander gekettet und Jean hatte noch im Haus der Krankenschwester begriffen, dass er den Striker nicht loswerden würde. Selbst jetzt nicht, mit vier Flugstunden zwischen ihnen. Oft hatte Josten stundenlang an seinem Bett gesessen und mit ihm geschwiegen, wobei sich Jean immer gefragt hatte, was der andere Junge von ihm wollte oder erwartete. Auf seine abschätzige, wütende Frage hatte hin hatte dieser nur mit den Schultern gezuckt. Nichts, hatte er geantwortet. Ich bin hier. Dass das keinen Sinn gemacht hatte, hatte Jean für sich behalten und hatte es sogar gewagt, in der Gegenwart seines letzten Evermorepartners einzuschlafen. Sie hatten in den Wochen, in denen er bei Abby war, wenige persönliche Worte gewechselt, dafür aber umso mehr über Spiele diskutiert, die Josten mit ihm auf dem kleinen Fernseher in seinem Zimmer gesehen hatte. „Hören, wie du mit ihrer exzellenten Spielweise zurechtkommst.“ Jetzt war es an Jean zu schnauben. „Exzellent. Klar.“ „Nicht?“ „Verbesserungswürdig.“ „Haben wir dich in den falschen Flieger gesetzt? Wir reden schon von den Trojans, dieser fürchterlich talentierten Mannschaft, die locker in jeder Profiliga mithalten können, oder?“ „Sie sind undiszipliniert und haben zuviel Spaß beim Training.“ Jean konnte beinahe schon hören, wie Josten mit den Augen rollte. „Ja genau, Zwillingskevin.“ Jean grollte. „Hast du nichts Besseres zu tun? Minyard auf die Nerven gehen zum Beispiel.“ „Er raucht gerade.“ „Will er deiner Gegenwart mit Lungenkrebs entgehen?“ „Besorgt um ihn?“ Jean atmete tief durch. „Nein.“ Dass Josten mehr für Minyard empfand, als er offen zugeben würde, war Jean schon in Evermore klargewesen. Wieso sollte man sonst so überaus dumm sein, sich für jemand anderen zu opfern? Die Vorstellung an die Beiden zusammen war jedoch furchteinflößend und wenn Jean Renee um eines nicht beneidete, dann um die Nähe zu den Beiden. Das war beinahe so schlimm wie Day und Theodora. Eigentlich war es genauso wie bei Day und Theodora, wenn er näher darüber nachdachte. Jean schauderte. „Wie ist dein Kapitän?“ Jostens Frage war so neutral gestellt wie sie es nur sein konnte. Dass sie überhaupt den Mund des anderen Jungen verlassen hatte, war ein Testament daran, wie schnell sie sich in Evermore aneinander gewöhnt hatten und wie gründlich der dumme, vorlaute, unvernünftige Exyjunkie sich doch sein ganz eigenes Stockholmsyndrom eingefangen hatte. Auch jetzt noch. Jean war es ein Rätsel, wie Josten, nachdem er ihn auf Rikos Befehl hin, festgehalten und zugesehen hatte, wie er wieder und wieder aufgeschnitten worden war, immer noch Kontakt zu ihm suchen konnte. Noch viel mehr wunderte sich Jean aber über seine eigene Bereitschaft, über Unsinnigkeiten Auskunft zu geben. „Okay. Anders als vorher.“ Er sah sich um, um sich zu vergewissern, ob auch niemand zuhörte. „Er ist das Gegenteil zu Riko, gestattet mir Freiheiten, bestraft mich nicht, fragt mich, wie es mir geht, er isst ungesunde Dinge und viel zu viel Eis. Es ist zwar warm hier, aber soviel Eis kann nicht gesund sein.“ Jean schnaubte missbilligend, ganz zum Amüsement des Jungen am anderen Ende der Leitung. „Kevin leidet jeden Tag deswegen.“ „Weswegen?“ „Dass du seinem Idol so nahe sein darfst, während er bei uns versauert.“ Jean machte ein würdeloses Würgegeräusch. „Dann kannst du ihm sagen, dass Knox bis vor kurzem an einem Puzzle von ihm in Exymontur gepuzzelt hat.“ „Ekelhaft.“ „Ja.“ Einvernehmliches Schweigen trat zwischen sie und Josten schnalzte schlussendlich mit der Zunge. „Ich soll Grüße von Renee sagen.“ „Danke.“ Jean zögerte. „Grüße zurück.“ „Hmh. Und Nicky will wissen, wann du das nächste Mal bei uns aufschlägst.“ „Um ihn zu sehen? Gar nicht.“ „Französisches Arschloch“, sagte Josten in Jeans Muttersprache „Möchtegern-Striker mit Backlinerqualität“, gab eben jener in der gleichen Sprache zurück. Josten grollte und Jean konnte das Zucken in seinen Mundwinkeln nicht wirklich verhindern. Was in Evermore als eine Form des hilflosen Beleidigens begonnen hatte, geboren aus Schmerz und Folter, hatte sich über die Wochen hinweg zu einer Art Running Gag entwickelt, der darauf fußte, dass Riko Josten dazu gezwungen hatte, seine Position als Striker gegen die als Backliner einzutauschen. Es war ein harter, sadistischer Lernprozess gewesen, in dem Jean Josten soviel beigebracht hatte wie er konnte, immer in dem Bewusstsein, dass es nicht genug sein würde. So hatten sie beide gelitten und in diesem gemeinsamen Schmerz eine Humorbasis für sich gefunden. „Ich sag Nicky dann, dass du an deinem nächsten, freien Wochenende vorbeikommst und er viel Zeit mit dir alleine verbringen kann.“ „Träum weiter.“ „Wart’s ab. Renee hat dich schon einmal entführt.“ „Aber jetzt bin ich unverwundet“, knurrte Jean. „Das freut mich für dich, Nummer drei. Dann bringt sie ihren guten Freund Rohypnol mit.“ „Wie gut die Schlafmittelindustrie doch an euch Junkies verdienen muss“, ätzte Jean und ließ die eigentliche Bedeutung des Mittels außen vor. Insofern Day nicht geredet hatte, wusste Josten nichts davon, dass ihm vor seiner zweiten Vergewaltigung das Mittel verabreicht worden war, weil der entsprechende Spieler kein sich wehrendes Opfer hatte haben wollen. Jean wusste nur zu gut, wie es sich anfühlte, hilflos und unter Drogen stehend dem Tun anderer ausgesetzt zu sein. Ebenso wie Minyard auch. Ob Josten eben das wusste, war die Sache der Beiden und Jean hatte zu keinem Zeitpunkt, so sehr er sie auch gehasst haben mochte, Details von Minyards Vergangenheit oder seiner Therapie mit Josten geteilt. „Sie fahren morgen ans Meer“, wechselte Jean abrupt das Thema, als es ihm zu still wurde. „Und ich soll mitkommen.“ Josten wusste, aufgrund von Rikos menschenverachtenden Scherzen, was ihm geschehen war und welche Probleme er mit größeren Wassermengen hatte. Damals hatte sein Ex-Kapitän ihn schwach und weinerlich genannt und sich daran gemacht, dem Striker der Foxes erneut Benehmen beizubringen, unter dem Vorwand, zu sehen, ob Josten – oder Wesninski, wie er ihn genannt hatte – ebenso weinerlich war. Erst, als er sie beide verlassen hatte, hatte Josten sich mit Blut auf den Lippen zu ihm gedreht und Jean gesagt, dass er ihn nicht dafür hielt und niemals halten würde. Jean hatte sich revanchiert, indem er Josten zwei Schmerztabletten aus seinem schwindenden Vorrat gegeben hatte, die den Jungen trotz tiefer Schnittwunden hatten schlafen lassen. „Und, fühlst du dich soweit?“ Jean schnaubte verächtlich. „Fühlst du dich schon soweit, wieder in die Nähe der Küchenmesser zu kommen?“ „Wenn ich weiß, wo sie sich befinden, sie im Messerblock bleiben und ich sehen kann, wo sie sind, dann schon.“ Nachdenklich runzelte Jean die Stirn. Wäre ihm das auch möglich, jetzt, wo er Knox‘ Versicherung hatte, dass dieser ihn nicht ins Wasser zwingen und ihn damit foltern würde? Auch bei Tag? Könnte er, wenn er wusste, wo er sich befand und wie weit das Meer weg war, mitkommen? Hatte er überhaupt eine Wahl? Schließlich konnte Jean nicht alleine sein. Jedes Mal, wenn er nachts das Apartment verließ, verursachte es ihm Unwohlsein und Angst. Wie wäre es, wenn er einen ganzen Tag alleine in dem Apartment war? Wäre es schlimmer, als der Anblick des Wassers? „Der Scheißkerl ist tot. Wenn du dich immer noch von ihm unterdrücken lässt, dann hat er schlussendlich selbst im Grab gewonnen.“ Josten und sein verfluchter Pragmatismus. „So einfach ist das nicht.“ „Das ist richtig. Aber die Arbeit ist es wert.“ „Auch die Angst?“ „Um von ihm frei zu sein? Ja.“ Jean gab ein indifferentes Geräusch von sich und ließ seinen Blick über die sonnige Umgebung der Universität schweifen, die sich unbeschwert vor ihm ausbreitete. Hier gab es nur Licht, was in seiner Intensität genauso furchterregend war wie die Dunkelheit Evermores. Und Jean war gerade erst dabei, vorsichtig seine Hand in Richtung Licht auszustrecken, sodass er noch unsicher war, was sich daraus für ihn ergeben würde. Hinter ihm wurde es plötzlich laut und Jean fuhr bei dem spitzen Aufschrei herum, der augenscheinlich von seinem Kapitän stammte. Anscheinend hatte der sich einen unfreiwilligen Mitbewohner eingefangen, den es nun loszuwerden galt. Wenn Jean das richtig interpretierte, dann befand sich der Übeltäter in den blonden Haaren, die sein Kapitän wieder einmal liederlich zusammengebunden hatte. Dass Alvarez sich vor Lachen auf dem Boden krümmte, machte die Sache nicht weniger absurd und Jean stellte alles in Frage, was er jemals über die postenimmanente Würde eines Kapitäns gewusst hatte. Knox machte sich hier ganz klar ganz bewusst zum Affen um die ihn umgebenden Leute zu erheitern. Die mit ihm lachten und nicht über ihn. Etwas, das Jean auch in den letzten Tagen und Wochen auf dem gesamten Campus hatte beobachten können. Anscheinend kannte Knox jeden und jeder kannte Knox. Er hatte noch nie viele strahlende, freundliche Gesichter gesehen und alle hatten ein Ziel: Knox und dessen ebenso freundliches und strahlendes Lächeln voller Zuneigung und Freundschaft. „Stirbt da gerade ein Tier?“, fragte Josten in den Hörer und Jean schnaubte amüsiert. „Wie man es nimmt. Knox hat sich einen Mitbewohner eingefangen, der es sich in seinen Haaren bequem gemacht hat.“ „Mitbewohner, hmmmh. Meinst du nicht, dass das ein wenig forsch von deiner Seite aus ist, gleich so ranzugehen?“ Reichlich überfahren nahm Jean das Handy von seinem Ohr und starrte es fassungslos an. „Was?!“ Josten lachte. „Wir hören uns“, drohte er und legte auf, bevor Jean noch etwas dazu sagen konnte. Was vielleicht auch gut so war. Frustriert starrte er von dem flachen Gerät in seinen Händen zu der kritischen Situation unweit von ihm, die gar nicht mehr so kritisch war, weil Laila sich dazu erbarmt hatte, ihrem Kapitän zu helfen und nun den dicken, schwarzen, strampelnden Käfer sachte ins Gras setzte. Alle lachten, einschließlich Knox und Jean seufzte innerlich. ~~**~~ Verdammt nochmal, wo hatte er sie denn? Jeremy kroch bis zu seiner Hüfte in den Kleiderschrank. Er hatte schon alle anderen Stellen durchsucht, in denen er seine Badehose vermutet hatte, doch nichts. Es konnte doch nicht sein, dass er sie nach knapp vier Wochen nicht mehr wiederfand. Oder seine petrolfarbene Ersatzhose, die seine Mutter ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Ein Laut, irgendwo zwischen Verzweiflung und Frustration verließ seine Lippen und Jeremy wühlte sich nur zur Sicherheit auch durch die hinterletzte, dunkle Ecke. Doch da befand sich nur der ganze Weihnachtskram, nicht jedoch das Stück roter Stoff, das er seine Lieblingsbadeshorts nannte. Fluchend tauchte er aus den Untiefen des Schranks wieder auf und wurde Zeuge eines Seitenblicks, der sowohl von Unverständnis als auch Besorgnis sprach. „Meine Badeshorts“, erläuterte Jeremy seine Explosion und Jean hob eine Augenbraue. Ohne Kommentar wandte er sich wieder seinem Mikroökonmieskript zu, in dem er seit ein paar Stunden arbeitete. „Wie sieht die aus?“, fragte Jean schließlich, während Jeremy seine Sachen wieder so in den Kleiderschrank stopfte, dass er die Tür zumindest soweit zubekam, um den Inhalt im hungrigen Bauch des Schrankes zu halten. „Rot.“ In den grauen Augen stand sehr deutlich, dass Jean eigentlich nicht hatte fragen müssen. Rot wie so vieles hier. „Badezimmer.“ Überrascht hob Jeremy die Augenbrauen. „Wirklich? Da hätte ich sie am Wenigstens vermutet“, gab er verlegen zu und lächelte. Er betrat ihr Bad und fand sie tatsächlich hinter seinem Handtuch. Augenrollend schlug sich Jeremy vor die Stirn. Stimmt, einen Tag bevor er Jean vom Flughafen abgeholt hatte, war er noch am Strand gewesen. Im Wirbel nach dessen Ankunft hatte er ganz vergessen, dass er sie da geparkt hatte. Als er wieder in ihr Schlafzimmer kam, hatte Jean seine Unterlagen zur Seite gelegt und maß ihn vorsichtig. Nachdenklich hatte er den Kopf schief gelegt. „Knox?“ Jeremy warf die Hose in seine Strandtasche und wandte sich dann dem anderen Jungen zu. „Was gibt es?“ „Ich…“ Anscheinend bereitete etwas Jean Probleme, das er selbst für sich noch nicht ganz sortiert hatte. Stirnrunzelnd stockte er und knete unsicher seine Hände. Auch wenn es Jeremy in den Fingern juckte, so hielt er inne und wartete, was Jean ihm sagen wollte. Wie auch bei ihrem Gespräch im Auto am Meer in dieser Woche fuhr er damit besser und schlussendlich schnaubte Jean, anscheinend wenig erfreut über sich selbst. „Ich würde mitkommen. Wenn es erlaubt ist.“ Ein überraschter Laut verließ Jeremy, bevor er sich davon abhalten konnte. Er lächelte sanft, als er sah, dass genau dies den anderen Jungen verschreckte. „Natürlich ist es das, Jean. Ich würde mich freuen, wenn du mitkommst, ich möchte aber nicht, dass du dich dazu gezwungen fühlst.“ „Ich denke, wenn die Entfernung groß genug ist, dann dürfte es gehen.“ Nachdenklich mieden ihn die grauen Augen, sahen zur Seite, weg von ihm, als wenn Jean dadurch eine Schwäche offenbaren würde. Eine Schwäche, die es nicht gab. Denn Jean war nicht schwach und was, wenn nicht das hier, verdeutlichte das? Jean brachte den Mut auf, es zu versuchen. Er brachte ebenso den Mut auf, mit ihm darüber zu sprechen und sich ihm anzuvertrauen. „Entfernung…“ Jeremy legte nachdenklich den Finger an seine Lippen und schlug schließlich die Hände zusammen. Abrupt wandte er sich zu seinem Schreibtisch und wühlte in seinen Sachen nach einem Blatt Papier und einem Stift. „Einen Moment!“ Unter Jeans durchdringender Aufmerksamkeit holte er sich einen seiner Stifte und malte eine Skizze auf, die er Jean nach einer rekordverdächtig schnellen Minute langsam reichte. Erwartungsvoll sah Jeremy dabei zu, wie Jean die Zeichnung analysierte und anscheinend an Jeremys mangelnden Zeichenkünsten scheiterte. „Was ist das?“, fragte der Ex-Raven schließlich zweifelnd und Jeremy trat mit Bedacht auf ihn zu. Er nahm den Stift zuhilfe, um den Abstand zwischen ihnen beiden größer zu halten und deutete auf die verschiedenen Abschnitte in der dahingekritzelten Skizze. „Das ist ein Vorschlag. Also…hier ist der Bereich, wo die Wellen an den Strand treten, ganz hinten ist die Böschung, die den Strand begrenzt. Wenn es okay für dich ist, würde ich unser Lager direkt am Fels aufschlagen und für dich eine Strandmuschel aufstellen, die zum Aufgang offen ist, den Blick auf das Meer aber halb verdeckt. Daneben kommt ein Sonnenschirm, der ein weiterer Sichtschutz für dich ist.“ Reichlich überfahren sah Jean zu ihm hoch. Unverständnis machte die klar konturierten Gesichtszüge weicher, dann war es Ablehnung, die eben diese Weichheit wieder wettmachte. „Ich brauche keine Sonderbehandlung“, erwiderte Jean leise, legte aber die Zeichnung vorsichtig auf seine Oberschenkel. „Ich möchte, dass es dir möglich ist, einen schönen Tag zu haben, Jean. Wir schlagen immer ein Schattenlager auf, alleine schon für Fahima. Das erweitern wir dieses Mal auf eine Strandmuschel und unter dem Deckmantel des notwendigen Ausdauertrainings verlagere ich das Team weiter nach hinten. Also ist es nur halb eine Sonderbehandlung für dich.“ Kritisch schürzte Jean seine Lippen und für ein paar Sekunden war Jeremy sich sicher, dass der andere Junge ablehnen würde. Dass er doch nicht mitkommen würde. Jean rang mit sich, geistig wie körperlich, er setzte sich selbst unter Druck, das sah Jeremy. Der innere Kampf, den er austrug, blieb ihm jedoch verborgen, so konnte Jeremy nur abwarten, was kam. „Wird es mir erlaubt sein zu gehen, wenn es…nicht geht?“, flüsterte der Ex-Raven beinahe und Jeremys Herz zog sich bei dieser Formulierung schmerzhaft zusammen. „Du darfst jederzeit hingehen, wo du möchtest, Jean. Wenn es dir dort nicht gut geht, dann hält dich niemand auf. Versprochen. Es wird dich auch niemand zum Wasser zwingen. Du entscheidest, was du machst und wie weit du gehst. Niemand sonst.“ Dort, wo ihm am Anfang Unglauben und Misstrauen entgegengeschlagen war, sah Jeremy nun zaghaftes Vertrauen. „Okay“, erwiderte Jean schlicht und es klang fast ein Ritterschlag, befand Jeremy. ~~**~~ Jean ließ den Lärm der Trojans hinter sich und blieb an dem steinernen Trampelpfad zum Strand stehen. Schon während der Fahrt hatte er sich mit dem Glitzern des Meeres vertraut gemacht, das man hier anscheinend sah, sobald man das Innere von Los Angeles verließ. Es war okay, wenn man wusste, wo sich der Grund für Angst befand, wenn man ihn im Blick hatte. Wieder und wieder hatte Jean sich Jostens Worte vor Augen gehalten und versucht, sie zu verinnerlichen. Mit mäßigem Erfolg, befand er, während er neben Knox auf dem Beifahrersitz saß, Alvarez, Dermott und Ajeet hinter ihnen auf der Rücksitzbank des klapprigen Wagens. Das Meer war da, es bewegte sich nicht. In seiner sonnigen, blau-türkisenen Pracht war es ein stetiger Begleiter auf dem Weg zum Strand und Jean hatte mehr als einmal mühevoll geschluckt. Sein Herz schlug bis zum Hals und mehr als ein dutzend Mal hatte er die Frage beiseiteschieben müssen, ob die Trojans die Gelegenheit nicht doch nutzten, um ihm wehzutun. Knox hatte ihm gesagt, dass er nichts zu befürchten hatte und er wollte ihm glauben. Ebenso, wie sein Stolz ihm unterbewusst deutlich machte, dass er Josten in nichts nachstehen wollen würde. Das an sich war dumm, doch der partnerschaftliche Wettkampf, den sie beide in Evermore geführt hatten, wirkte immer noch nach. Und wie aus seiner Angst vor dem Alleinsein konnte Jean dieses Gefühl nicht abschütteln. Er seufzte und starrte die grün bewachsene Böschung hinunter, die in einem Strandstreifen endete, der einigen Abstand zum Meer bot. Jean hoffte, dass es genug war, auch wenn die Angst in ihm eine andere Sprache sprach. Lass nicht zu, dass sie es tun, flüsterte sie ihm ein, als er probeweise eine Stufe hinunterstieg. Sei nicht dumm, begib dich nicht in ihre Nähe, begleitete die nächste Stufe. Du hast keine Garantie, dass es keine Lüge war, die nächste. Das ging so weiter, bis Jean alle Steinstufen hinter sich gebracht hatte und mit seinen Füßen auf dem weichen Sand stand, den Blick angespannt auf die Trojans gerichtet, vielmehr auf seinen Kapitän, der wie angekündigt sie unter lauten Protesten seines Teams direkt an die Böschung platzierte. Das Ungetüm, was er nun zusammen mit Fahima aufbaute, war also eine Strandmuschel und Jean runzelte ungnädig die Stirn. Das schreiend bunte Ding in rot und gelb – in welchen Farben auch sonst – war eine Beleidigung für jede Muschel, die Jean jemals in der Hand gehalten hatte. Der Sonnenschirm war da schon besser. Jean beobachtete den Zusammenhalt des Teams beim Aufbau ihres Lagers und ließ seinen Rucksack neben sich auf den Sand fallen. Mit dem Blick auf die Wellen, die weit hinten an den Strand gespült wurden und einem Ohr auf das lärmende Team löste er die Schnürsenkel seiner Sneaker und streifte sie sich zusammen mit den Socken von seinen Füßen. Vor vier Monaten hatte er keinen einzigen Gedanken an den Strand verschwendet. Noch vor zwei Jahren hatte er nicht gedacht, dass er seine Füße jemals wieder in warmen Sand stellen und eben jenen zwischen seinen Zehen spüren würde. So war Jean in diesem Moment unfähig, sich auf etwas Anderes zu konzentrieren als auf das Gefühl des Sommers, das ihn mit einer Wucht überschwemmte, die er vorher nicht hatte kommen sehen. Keine Sekunde lang. Er war so sehr mit seiner Angst und den schlechten Erinnerungen an Rikos Folter beschäftigt gewesen, dass er vergessen hatte, sich das Schöne ins Gedächtnis zu rufen, das er mit dem Strand assoziierte. Jean hob seinen Fuß und sah den Abdruck, den er im Sand hinterlassen hatte. Er griff sich seinen Rucksack und seine Schuhe, trat einen Schritt nach vorne und sank ein, so weich war der Untergrund. Es nahm seinen Schritten die gewohnte Zielstrebigkeit und ließ ihn genauso durch den Sand staken wie der Rest des Teams auch. Beinahe lächelnd beobachtete Jean, wie seine Füße verschwanden, wieder und wieder, bis er bei der Strandmuschel angekommen war, die sich immer noch in fester Hand von Knox und Fahima befand. Jean blieb unschlüssig stehen und deutete auf seinen Rucksack. „Wohin soll ich den Inhalt bringen?“, fragte er den blonden Jungen, der auf einen Tisch unweit im Schatten deutete, wo schon der Rest der Esssachen lag. Ungesundes Zeug und ebenso ungesunde Getränke. Jean rollte innerlich mit den Augen und holte das geschnittene Gemüse und Obst, das er mit Renees Rat in Form von Fotos vor ein paar Tagen für sich eingekauft hatte, hervor, dicht gefolgt von der Flasche Isotonischem, die er mitgebracht hatte. Kommunistentisch, hatte Knox die Verpflegung genannt. Jeder brachte etwas mit, stellte es auf den Tisch und jeder aß das, was er wollte. Jean wollte noch nicht einmal die Hälfte der Dinge, die er hier sah, auch nur in die Nähe seines Mundes lassen. Er kehrte zurück zu der Muschel und begegnete einen Moment lang Knox‘ Blick, der ihn nonverbal fragte, ob alles in Ordnung war. Er nickte leicht und nahm auf Fahimas Einladung hin in gebührendem Abstand neben ihr Platz. Heute trug sie einen sandfarbenen Hijab, den sie wie einen Turban um ihre Haare gewickelt hatte. Bei näherem Hinsehen erkannte Jean eine Muschelkette in dem stofflichen Dutt, die in einem kleinen Seepferdchen mündete. Als er seine Aufmerksamkeit wieder auf ihr Gesicht richtete, blieb er an ihren aufmerksamen Augen hängen, die ihn amüsiert musterten. Jean senkte seinen Blick und sah anstelle dessen zu Knox, der sich wie Alvarez und Laila auch von seiner Kleidung befreite und sie zum Rest auf einen ungeordneten Haufen warf, aus dem doch niemals jemand seine eigenen Sachen wiederfinden würde. Mit hocherhobener Augenbrauen beobachtete Jean das Schauspiel und strich sich versichernd über seine Shorts. Es war eine derjenigen, die er auch beim Training trug und die lang genug war, die meisten seiner Narben zu verdecken. Er hatte sie als Ausgleich für sein leichtestes, langärmeligstes Shirt angezogen, das trotzdem zu warm war und es ihm schwer machte, die Ärmel nicht einfach hochzuschieben. „Das ist Teil des Gesamtschauspiels“, erläuterte Fahima in ihrer tiefen, weichen Stimme. „Zu Beginn können sie es gar nicht erwarten, so schnell wie möglich ins Wasser zu kommen und zum Schluss fluchen sie wie die Teufel über den Haufen an Klamotten, den sie nicht auseinanderhalten können.“ „Das ist nicht klug“, erwiderte Jean so diplomatisch, wie es ihm möglich war. Strunzendumm wäre vermutlich ein besserer Begriff dafür. „Nein. Aber wir sind die Netten, nicht die Klugen.“ Damit hatte sie ihn. Jean konnte es wirklich nicht verhindern, dass er sie mit einem minimalen Lächeln musterte. Er konnte auch das amüsierte Schnauben nicht verhindern. „Treffend.“ „Danke.“ Jean vergrub seine Zehen in den Sand und legte seine Arme auf die Knie. Erst jetzt hatte er bewusst Zeit, sich über die Geräusche und den Geruch Gedanken zu machen, die charakterisierend für das Meer waren. Das Rauschen war um ein Vielfaches lauter als an dem Abend. Der Geruch nach Meer und Sonne intensiver. Die Erinnerungen an Marseille waren so präsent wie nie und fast konnte er schon den französischen Stimmenwirrwarr von damals hören. „Als Jeremy mir gesagt hat, dass du mir in meiner Schattenecke Gesellschaft leistest, habe ich ein Spiel mitgebracht. Möchtest du?“ Jean sah auf und blieb an etwas Quietschbuntem hängen, das mit Sicherheit schonmal auf dem Dach gespielt worden war. Vielleicht würde es ihn von dem Gefühl des Wassers in seinem Rücken ablenken, das wie eine stetige, schlechte Vorahnung in seinem Nacken prickelte. Er nickte stumm und sie breitete das kleine Spielfeld zwischen ihnen beiden auf der Decke aus. Aufmerksam hörte ihr Jean zu, als sie die Regeln erläuterte und die ersten Runden spielten sie in einvernehmlicher Stille, nahmen sich nichts bei dem Kampf und Sieg und Niederlage. Nach der vierten Runde sah sie auf und deutete auf sein Shirt. „Ich habe mich aus religiösen Gründen für lange Kleidung entschieden. Was ist deine Ausrede um der sengenden Sonne hier deine Haut nicht zu präsentieren?“ Ihr Ton war leicht, freundlich, verlockend. Jean überlegte, wieviel er preisgeben konnte, ohne, dass er sich verdächtig machte. „Ich möchte es nicht“, erwiderte er schließlich so indifferent, wie er nur konnte, und hoffte, dass sie nicht nachbohren würde. Tatsächlich. Mit einem Nicken akzeptierte sie seine Worte und er deutete auf das weite Oberteil. „Aus welchem Material ist das? Das sieht luftig aus.“ Überrascht folgte Fahima seinem Fingerzeig. „Oh…das ist Leinen mit einem Seidenanteil. Im Sommer ist das schön kühl und es lässt sich angenehm tragen.“ Jean nickte. „Danke.“ „Klar, gerne, sag mir Bescheid, wenn du die Adresse des Ladens haben möchtest, der die Klamotten verkauft.“ Jean bedankte sich erneut und wagte einen Blick durch den Spalt zwischen Muschel und Sonnenschirm auf das glitzernde Meer hinaus und ihre wie Kinder tobenden Teammitglieder, die sich gegenseitig mit Wasser bespritzten und sich untertauchten, ohne dass sie auch nur einen einzigen Funken Bosheit zeigten. ~~**~~ Prustend und grinsend tauchte Jeremy wieder auf, schnippte währenddessen eine Alge von seinem Kopf. „Du spanisches Miststück!“, grollte er spielerisch in Richtung Alvarez und bespritzte sie mit Meerwasser. „Stets zu Diensten“, erwiderte sie und schwamm ein paar Züge um ihn herum, gab ihm Zeit, seine Haare zu ordnen und wieder zu Luft zu kommen. „So langsam bekomme ich Hunger“, sagte Jeremy schließlich und Alvarez nickte. „Ich habe gesehen, du hast Thunfischtaschen mitgebracht?“ „Nach dem guten, alten Rezept von meiner Mama.“ „Hmmmm.“ Genießend zog sie den Laut in die Länge und Jeremys Magen knurrte im Einvernehmen damit. Alvarez planschte und Jeremy tat es ihr gleich. Nach wochenlanger Abstinenz war er wieder in seinem Element und genoss jede einzelne Minute, die sie hier im warmen Wasser verbrachten und miteinander tobten. Der Teamtag war dringend notwendig und die Trojans genossen ihn. Überall sah er lachende, gelöste Gesichter und Zuneigung zueinander. War es nicht das, wofür sie standen? Ja, das war es und er erfüllte ihn mit stolz, dass sie eine Heimat waren für die Trojans. „Sag mal, Cap“, holte Alvarez seine Gedanken wieder in die unmittelbare Gegenwart und Jeremy wandte sich ihr mit einem Brummen zu. „Hast du eigentlich eine Ahnung, was das für ein Countdown auf Mr. Gewitterwolkes Handy ist?“ Jeremy runzelte die Stirn. „Countdown? Was meinst du?“ „Als ich sein Handy in den Fingern hatte, war da ein Chat offen. Mit Monster I, wer auch immer das ist. Und dieser Chat bestand nur aus Zahlen, die heruntergezählt wurden, sonst nichts. Mr. Tall, Dark and Handsome hat auf keine einzige Zahl geantwortet.“ Jeremy schnaubte wenig amüsiert. „Ich habe dir schon vor ein paar Tagen gesagt, dass deine Nummer mit dem Handy daneben war. Du solltest aufhören, ihn zu stalken, Alvarez. Egal, was für ein Fan du von ihm bist.“ Alvarez rollte mit den Augen, wenig einsichtig, wie Jeremy befand. „Aber findest du nicht auch, dass das komisch ist? Hat er mit dir nicht zufällig darüber gesprochen? Schließlich wohnst du mit ihm zusammen und ihr seid mittlerweile wie siamesische Zwillinge. Mich wundert es, dass er dich nicht zu deinem letzten Date begleitet hat.“ Jeremy bespritzte sie mit Wasser. „Lenk nicht ab von deinem eigenen Fehlversagen. Du lässt sein Handy in Ruhe! Und nein, ich werde ihn nicht danach fragen. Wenn es ein Countdown ist, dann ist es ausschließlich seine Sache, aber nicht unsere.“ Sie kabbelten sich erneut im Wasser und kamen schließlich lachend und triefend nass aus selbigem heraus. „Wetten, dass ich vor dir da bin?“, forderte Alvarez ihn heraus und Jeremy hatte überhaupt kein Problem damit, ohne Vorwarnung loszusprinten und seine Backlinerin hinter sich zu lassen um der Erste am Buffet zu sein. ~~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 17: "He just won't be back in black." --------------------------------------------- Jeans Augen huschten unruhig von dem Schreibtisch seines Trainers zu dessen Fotowand über den Linoleumboden hin zurück zu der Schreibtischplatte, auf der verschiedenste Dokumente lagen. Er schluckte und verschränkte seine Finger ineinander, knetete sie nervös. „So sieht der grobe Plan für die Pressekonferenz aus“, schloss Coach Rhemann und neben ihm brummte Knox wohlwollend. Jean musste nicht hinsehen um zu wissen, dass sein Kapitän lächelte, als wäre es das Leichteste der Welt, sich den inquisitorischen Fragen der Journalisten zu stellen, die sicherlich auf sie alle niederprasseln würde. „Finde ich grandios. Und ich freue mich schon, die Gesichter der Reporter zu sehen.“ Jean konnte das gar nicht nachempfinden. So überhaupt nicht. Er wollte die Gesichter der Reporter gar nicht sehen. Doch nicht mit seinem Trainer und seinem Kapitän. „In Ordnung für dich, Moreau?“, fragte Coach Rhemann und Jean sah hoch. Schweigend nickte er. Als wenn er nein sagen würde. Oder könnte. Zumal es nur eine halbe Stunde war, nichts, was er nicht schon überlebt hatte. Als Dank dafür, dass die Beiden ihn wie einen Menschen behandelten, war es sicherlich angebracht. „Ich mache es“, erwiderte er neutral und wunderte sich selbst, dass seine Stimme so ruhig klang. „Yeah, das wird grandios!“, sagte Knox in seiner besten Kapitäns-Motivationsstimme und Jean spürte latenten Kopfschmerz hinter seinen Schläfen pochen. Es war nur eine halbe Stunde. ~~**~~ „Für die kommenden Monate planen wir selbstverständlich, noch viel besser zu werden um so unseren gegnerischen Mannschaften eine spannende und harte Saison zu bereiten“, schloss Coach Rhemann seine kurze Einschätzung der kommenden Monate und lehnte sich mit einem zufriedenen Nicken zurück, gab den anwesenden Reportern Zeit und Möglichkeit, Fragen zu stellen. Kurz ruhten seinen Augen auf Allan, ihrem hauseigenen Universitätsreporter, der mit einem knappen Augenzwinkern ihren Plan bestätigte. Einen Plan, für den er die Exklusivrechte an dem Bild ihrer Startaufstellung erhalten würde. Jeremy lächelte sein charmantes PR-Lächeln und wandte sich an den Reporter, der sich zuerst gemeldet hatte. Natürlich gab es für Alisha Mertens von der L.A.-Times die Poleposition. Als größte und beliebteste Zeitung ihrer Stadt war es so etwas wie gute, alte Tradition, dass die erste Frage an sie ging. Sie nutzte dieses Privileg gerne, auch wenn die USC wenig Skandale aufzubieten hatte, die verwurstet werden konnten. Wenig war gut. Sie hatten noch nie wirklich einen Skandal gehabt und waren auch innerhalb von L.A. durch ihr Engagement in diversen Wohltätigkeitsprojekten hoch geschätzt. So war das Aufregendste, was die Presse von ihnen bekam, die jährliche Aufstellung und die Neuzugänge, die sie über das Jahr hinweg rekrutiert hatten. „Jeremy, was haben Sie sich für diese Saison vorgenommen, nachdem Sie durch Sportsgeist letzte Saison gegen das weitaus schlechtere Team der Palmetto State Foxes verloren haben?“ Gute Frage, befand er. Sie war eine leichte Einstiegsfrage, aus der Alisha einiges machen konnte. Er strahlte sie an. „Also zunächst einmal muss man sagen, dass die Palmetto State Foxes kein weitaus schlechteres Team sind. Sie sind hochklassig und haben, wie Sie ja vielleicht gesehen haben, in der Meisterschaft selbst gegen die Ravens gewonnen. Sie hatten einen holprigen Start, aber dieses Team ist zäh und wird uns ein großer Gegner sein diese Saison. Was mich jetzt zum ersten Teil Ihrer Frage bringt. Natürlich haben wir uns vorgenommen, unser Bestes zu geben und den Sportsgeist, den dieser Sport ausmacht, in die Liga zu tragen und dafür zu sorgen, dass Exy ein liebenswerter und leidenschaftlicher Sport bleibt! Und natürlich haben wir auch die feste Absicht, diese Saison die Meisterschaft für uns zu entscheiden.“ „Haben Sie sich schon für eine Startaufstellung entschieden?“, fragte John Bingham von der Exy Illustrated, die sich Jeremy zuverlässig jeden Monat kaufte. Aber das musste er ja dem Journalisten zu seiner Linken nicht erzählen. So gut die Zeitung war, Bingham war ein arrogantes Arschloch, das viel zu viel auf sich selbst hielt. „Nein, wir befinden uns noch in der Analysephase. Wenn ich etwas habe, dann werde ich Sie es als Ersten wissen lassen.“ Er grinste und wandte sich an Brandon Silberhorn, der für eine Onlinesportredaktion schrieb, dessen Namen er sich nie merken konnte, die aber latent mit ihrer aller Liebling Kathy zusammenhing. Das per se machte ihn zu einer Person, die mit Vorsicht zu genießen war. „In Ihrer Aufzählung vorhin haben Sie zwar die Foxes erwähnt, jedoch nicht die Ravens. Gehen Sie davon aus, dass diese nach dem Wegfall von Riko Moriyama kein ernstzunehmender Gegner mehr für Sie sind?“ Am Liebsten hätte Jeremy Brandon erzählt, dass sie die Ravens vernichtend schlagen würden und dass er nicht einen Funken Achtung vor den Trainingsmethoden des in Ruhestand versetzten Kapitäns hatte. Er schwieg dazu und ließ seine Gedanken auch nicht sein Lächeln erreichen. „Die Ravens sind für uns ein Gegner wie jeder andere auch. Wir respektieren sie und ihre Anwesenheit in unserer Liga, wir werden jedoch unser Bestes tun, sie auf dem Spielfeld mit der gebotenen, sportlichen Fairness zu besiegen.“ „Was halten Sie denn von dem abrupten Ableben des verstorbenen Ravenskapitäns? Meinen Sie nicht, dass es etwas seltsam ist, so kurz, nachdem Minyard ihm den Arm gebrochen hat?“ Oh ja, das hatte Jeremy gesehen und war trotz dem, was dem vorhergegangen war, aus Mitleid zusammengezuckt. Mitleid, das er mittlerweile nicht mehr hatte mit diesem Monster von einem Jungen. Schon damals hatte er wissen müssen, dass der Versuch Rikos, Josten den Schädel mit seinem Schläger zu zertrümmern, kein Ausdruck, rasender, hilfloser Wut gewesen war, sondern ein kalter Mordversuch eines Sadisten. „Brandon, es steht mir nicht zu, Spekulationen über den Tod des verstorbenen Ravens-Kapitäns anzustellen. Die Untersuchungen diesbezüglich sind Sache der Polizei und in diese vertrauensvollen Hände lege ich auch die Ergebnisfindung.“ „Bedauern Sie seinen Tod?“ Nein, erwiderte Jeremy in Gedanken und hielt mit Mühe sein Lächeln aufrecht. Wobei doch. Schon. Er würde ihn gerne für das, was er getan hat, hinter Gittern sehen bis zum Rest seines Lebens. „Aber ja. Der Tod eines jeden Menschen ist eine Tragödie“, erwiderte er nichtssagend und richtete seinen Blick auf Allan. Allan studierte Journalistik und führte recht erfolgreich ihr Campusmagazin. Sie mochten sich. Allan hatte ihm vor zwei Wochen in einem ihrer unregelmäßigen, leidenschaftlichen Stelldichein einen solchen Blowjob gegeben, dass Jeremy immer noch rot wurde, wenn er daran dachte. „Es ist ja noch jemand Anderes bislang vom Erdboden verschwunden. Jeremy, was sagen die Gerüchte zum Verbleib von Jean Moreau, dem Backliner der Ravens. Was weiß die Exy-Szene über sein Verschwinden?“, fragten diese sinnlichen Lippen, die Jeremys Ohren warm werden ließen. „Das ist eine spannende Frage, Allan, die ich aber nicht alleine beantworten kann und dafür einen weiteren Teilnehmer zur Pressekonferenz einladen möchte.“ Jeremy lächelte gewinnend und drehte sein Smartphone unauffällig so, dass er die Gesichter der Reporter filmen konnte, als nun Jean hinter der Werbewand der Trojans hervortrat. In rotem Trojanshirt, der passenden Collegejacke mit seinem Namen und seiner Nummer auf dem Rücken. Die hellgraue Beanie verdeckte die kahlen Stellen an seinem Kopf, die langsam soweit verheilten, dass erste Haare hervortraten. Zumindest hatte er das heute Morgen gesehen, als Jean seine Mütze kurz beiseite gelegt hatte, während er sich anzog. Jean sah gefährlich gut aus in ihren Farben und seinem ernsten, beinahe schon ablehnenden Gesichtsausdruck, mit dem er nun neben ihm Platz nahm. Jeremy sah, wie angespannt der Backliner war und beugte sich zu ihm herüber. „Alles wird gut, Jean. Mach dir keine Sorgen, der Coach und ich sind bei dir. Wenn sie unangenehme Fragen stellen, greifen wir ein“, wiederholte er das, was sie zuvor besprochen hatten. Jean nickte und Jeremy drehte sich dem Raunen und dem ungläubigen Flüstern der Journalisten zu. „Nun, die USC Exy-Szene sagt, dass Jean Moreau nach etwas längerer Abstinenz zurück ist auf dem Spielfeld. Wie du, Allan, und Sie alle, meine Damen und Herren, sehen können, trägt er jedoch nicht ein Bisschen Schwarz, sondern die Farben, die unsere wunderschöne Uni hier in L.A. repräsentieren. Rot und Gold, wie es sich für einen richtigen Backliner der Trojans gehört.“ Jeremy grinste sein breitestes, einnehmendstes Lächeln. „Fragen hierzu?“ Das Stimmgewirr, was nun aufbrandete und die Hände, die nun in die Höhe schossen, ließen ihn ehrlich lachen. ~~**~~ Während seiner ganzen, bisherigen Zeit an der USC war sich Jean noch nie so begafft vorgekommen, wie gerade jetzt, zu diesem Zeitpunkt, wo er mit seiner Trojanjacke über den Campus ging und überall Studenten sah, die ihn anstarrten oder sich zu ihm umdrehten und miteinander tuschelten. Er kam sich entblößt vor, im Fokus einer Aufmerksamkeit, die er nicht wollte, weil sie nur Schlechtes bedeuten konnte. Könnte, verbesserte er sich. Bisher hatte er weder in seinen Kursen noch auf dem Spielfeld Feindseligkeit erlebt. Gut… bis auf Mayson, dessen Abneigung ihm gegenüber selbst für einen Blinden sichtbar sein würde. Doch selbst er hatte keine Anstalten gemacht, sich ihm in gewalttätiger Absicht zu nähern. Das änderte aber an seiner anerzogenen Angst vor Aufmerksamkeit nichts und krampfhaft hielt sich Jean an dem Eiskaffee fest, den Knox ihm nach der Pressekonferenz, die erstaunlich gesittet vonstatten gegangen war, in die Hand gedrückt hatte. Die Fragen der Journalisten waren größtenteils annehmbar und wenig persönlich gewesen. Bis auf einen Reporter, von dem Knox ihm nachher gesagt hatte, dass er so oder so ein Arschloch wäre. Seine in Jean Innerstes dringenden Fragen, waren sowohl durch ihren Coach als auch durch Knox in ruhiger und bestimmter Art und Weise abgeschmettert worden. „Hey.“ Im ersten Moment nahm Jean den freundlichen Gruß noch nicht einmal wahr. Warum auch, schließlich lief er neben Knox. Dessen amüsiertes Räuspern teilte ihm allerdings mit, dass er besser hochsah. Direkt in die Augen einer Studentin mit hochrotem Kopf, die ungefähr anderthalb Köpfe kleiner war als er und unruhig vor ihm stand. Jean kannte sie nicht und fragte sich alleine schon aus dem Grund, warum ihr Gruß ihm galt und nicht Knox. „Du…du bist Jean, nicht wahr? Jean Moreau?“ Schweigend und zögerlich nickte Jean. Beinahe war er versucht, das blonde Mädchen zu fragen, wer sie war. „Ich habe die Pressekonferenz auf Twitter gesehen und…hey…äähm…cool, dass du jetzt bei uns bist, hier auf dem Campus.“ Irritiert sah Jean von ihr zu Knox, der viel zu unschuldig an seiner Eisschokolade nuckelte und ihn mit Amüsement in den Augen ansah. Jean wurde klar, dass er keine Hilfe von seinem Kapitän zu erwarten hatte. Er grollte innerlich. Sie starrte ihn immer noch erwartungsvoll an und ihr Ausdruck erinnerte ihn verdächtig an Hemmick. „Okay.“ „Ich bin natürlich Trojans-Fan, aber du warst schon bei den Ravens immer mein Favorit und deswegen finde ich es sehr sehr cool, dass du jetzt hier bist. Also so nah, auf unserem Campus. Das freut mich. Sehr.“ Jean blinzelte. Wieso fand sie das? Sie kannte ihn doch gar nicht. Er kannte sie nicht. Waren die Exy-Fans so? „Danke.“ Das war alles, was ihm dazu einfiel. Was sollte er auch sonst sagen? Was erwartete sie von ihm? Jean überlegte schon, ihr seinen Eiskaffee anzubieten, auch wenn er sich der Konsequenzen dessen nicht so sicher war. „Hey…ich werde auf jeden Fall zu euren Spielen kommen und vielleicht sieht man sich ja nochmal auf dem Campus. Ich bin im Übrigen Ellie.“ War sie vorher schon rot, wechselte ihre Gesichtsfarbe bei ihren letzten Worten auf ein ungesundes Tiefrot. Abrupt streckte Ellie ihm die Hand entgegen und Jean hob die Augenbraue. Vorsichtig umschloss er ihre mit seiner weitaus größeren und schüttelte sie sacht. „Jean.“ Ellie grinste verlegen. „Ich weiß…schon sehr lange.“ Jean nahm seine Hand wieder zu sich, als klar wurde, dass sie sie nicht loslassen würde. Er schwieg und schlussendlich hatte Knox ein Einsehen mit ihm, vielleicht aber auch mit dem Mädchen, das anscheinend noch auf Dinge wartete, die Jean verborgen blieben. „Jean, wir sollten weiter. Das Training ruft bald.“ Das Training war noch drei Stunden entfernt, aber Jean war froh um die Halblüge. Er nickte. Mit einem bedauernden Lächeln trat das Mädchen zur Seite. „Oh…dann will ich euch nicht weiter aufhalten.“ „Ach gar kein Ding. Hab noch einen schönen Tag!“, erwiderte Knox an seiner Statt. „Du auch! Und du natürlich auch, Jean!“ Sie zwinkerte ihm zu und Jean nickte. Erst, als sie aus der Hörweite des Mädchens waren, gestattete sich Jean ein erleichtertes Aufatmen und Knox kicherte. „Du hast einen Fan“, sagte er begeistert, ganz im Gegenteil zu Jean. Menschen, die ihre Aufmerksamkeit auf ihn anstelle seines Kapitäns richteten, waren eine Gefahr für ihn, denn das war ein Grund für Eifersucht und Eifersucht war ein Grund für Bestrafungen und eine Erinnerung daran, welchen Platz er in der Hierarchie hatte. Er schluckte schwer. „Das habe ich nicht beabsichtigt, ich werde das in Zukunft unterbinden“, presste er hervor und der Junge neben ihm blieb stehen. Abrupt löste Knox den Strohhalm, durch den er gerade noch seine Eisschokolade geschlürft hatte und Jean sah schon an dem Blick, was gleich kommen würde. Er hätte nicht auf seine Angst hören sollen. Er hätte nachdenken sollen, bevor er etwas sagte. Das zeigte ihm auch der Zeigefinger, der direkt vor seiner Nase schwebte, während Knox zu ihm hochsah, seine blauen Augen leuchtend. Jean las keine Aggressivität darin. „Moreau.“ „Kapitän?“ „Moreau.“ Jean blinzelte. „Ja?“, fragte er zögerlich. „Du gehörst dir selbst. Soweit richtig?“ Bei Riko wäre das eine Fangfrage gewesen, die Leid, Blut und Schmerz für ihn bedeutet hätte. Hier war es eine Frage, die ernst gemeint war. Jean schluckte. Er erinnerte sich an das, was Knox ihm vor ein paar Wochen, direkt nach seiner Ankunft gesagt hatte. „Ja“, erwiderte er schlicht. Alles andere konnte er seinem Kapitän nicht sagen. „Dazu gehört auch, dass du alleine und ohne schlechtes Gewissen Kontakte knüpfst. Oder dich anflirten lässt.“ Irritiert runzelte Jean die Stirn. „Anflirten?“ „Oh ja.“ Knox grinste breit. Dank Renee wusste er, was flirten war. Sie hatte es ihm erklärt, nachdem Hemmick ihn zum ersten Mal heimgesucht und Dinge zu ihm gesagt hatte, die Jean hatten vermuten lassen, dass der offen schwule Junge seinen Zustand ausnutzen und sich ihm aufzwingen würde. Renee hatte ihn beruhigt und ihm erklärt, was das genau war, was Hemmick mit ihm gemacht hatte. Er hatte sie gefragt, ob Josten und Minyard ebenso miteinander flirteten, wie es Hemmick getan hatte. Er hatte ihr das darauffolgende, minutenlange Lachen nicht nachtragen können, insbesondere als sie ihn umarmt hatte und in ihre Wärme gezogen hatte. Danach hatte er eine Nachhilfestunde in Sachen flirten erhalten. Das Verhalten des Mädchens gerade stellte ihn aber dennoch vor ein Rätsel. „Sie hat sich nur unterhalten“, hielt er dagegen. „Sie war hochrot im Gesicht.“ Kritisch runzelte Jean die Stirn. „Das bist du auch öfter.“ Wie zum Beweis färbten sich die Ohrläppchen seines Kapitäns und Jean hob die Augenbraue. Knox räusperte sich gleich mehrfach. „Das ist kein Vergleich! Außerdem hat sie hat dich angestrahlt.“ „Viele Menschen lächeln hier.“ Nicht zuletzt Knox selbst. Das war kein Grund, befand Jean. „Sie ist ein Fan von dir.“ „Du puzzelst Day zusammen.“ „Jean!“ Bevor Jean sich davon abhalten konnte, glitt ein weiteres Lächeln über seine Lippen. Es war nicht mehr als ein Zucken, doch es war Ausdruck von Jeans Amüsement über diese Situation und das überraschte ihn ebenso wie Knox, der ihn nun anstarrte, als wäre ihm ein zweiter Kopf gewachsen. Aus Ermangelung einer sonstigen Beschäftigung hob Jean den Strohhalm seines Eiskaffeebechers an seine Lippen und nahm einen Schluck. „Ich kann dir ihre Nummer besorgen, wenn du magst. Also wenn du nicht mit Renee zusammen bist, heißt das“, schlug Knox vor und prompt verschluckte sich Jean an dem kalten Getränk. Hustend versuchte er die Flüssigkeit wieder in die richtige Röhre zu bekommen und war die nächsten Augenblicke damit beschäftigt, seinen rasenden Herzschlag zu beruhigen. Er war nicht in Evermore. Die Sonne schien, er war draußen. Es war kein Wasser, das ihm suggerierte, zu ertrinken, sondern Eiskaffee, ein Getränk, das er in Evermore niemals hatte trinken dürfen. Er war in Sicherheit und der Junge neben ihm war nicht Riko. Er war nicht Riko. Jean atmete mit Tränen in den Augen durch und sah auf Knox hinunter. Nein, die Besorgnis auf Knox‘ Gesicht war nicht Rikos Sadismus. Es beruhigte ihn und es schenkte ihm Vertrauen. Genug davon, dass er das eigentliche Problem hinter Knox‘ Worten sah. „Ich…nein. Ich möchte ihre Nummer nicht. Und…nein“, erwiderte er reichlich überfahren. Wieso sollte er denn so etwas mit Renee teilen wie Josten und Minyard teilten… oder Alvarez und Laila? Wie kam Knox darauf? „Wieso sollte ich?“, fragte er. „Öhm…ich dachte, dass du und Renee, naja, dass ihr ein Paar seid. Also eventuell. Ich meine, schließlich hat Kevin gesagt, dass ihr sehr eng seid.“ Jean rollte mit den Augen, bevor er sich beherrschen konnte. „Day sollte den Mund halten. Er hat keine Ahnung und kein Recht“, grollte er mit plötzlich schäumender Wut, die sich auf Knox entlud, obwohl er nicht der Schuldige war. Day war derjenige, der seine Gegenwart gebraucht und ausgenutzt hatte, solange es nur Jean gewesen war, der Rikos unbändige Wut zu spüren bekommen hatte. Kaum war er jedoch selbst verletzt worden, hatte er sich davongemacht und ihn zurückgelassen. Alleine, mit Rikos Wut, in dem Wissen, was ihm widerfahren würde. Er hatte es in Kauf genommen und sich hinter Minyard versteckt, während Riko… Jean wandte sich abrupt ab, als sein Hass auf Day zu mächtig wurde, als dass er Knox nicht wieder ängstigen würde. Das wollte Jean nicht. Jetzt weniger denn je. Er ballte seine freie Hand zur Faust und versuchte, die Erinnerungen an Day aus seinen Gedanken zu verbannen. Day war Geschichte, er würde ihn nie wieder sehen. „Ihr seid nicht wirklich Freunde, oder?“, fragte Knox so sanft, dass es Jean schmerzte. „Nein, das sind wir nicht“, gab er zu. „Er macht sich Sorgen um dich und darum, dass es dir gut geht.“ Jean schnaubte. „Das macht er, um sein eigenes, schlechtes Gewissen zu beruhigen.“ Es dauerte eine Weile, bis Knox darauf reagierte und als er es tat, war seine Stimmlage so neutral, wie Jean sie selten zuvor gehört hatte. „Hat er dir genauso wehgetan wie Riko auch?“ Day hatte vieles getan, das aber nicht. Er hatte ihn nicht körperlich gefoltert. Er hatte niemals Hand angelegt. Nein, er hatte zugesehen, so wie Jean bei Josten zugesehen hatte. Er hatte ihn schlussendlich fallen lassen um ohne ihn weiterzugehen. War das schlimmer? Vielleicht, hatte es Jean doch schneller gebrochen, als es Riko jemals geschafft hatte. Langsam drehte er sich um, seinerseits ein Ausbund an Neutralität. „Er hat mir wehgetan, ja“, gab Jean zu und die Worte fühlten sich komisch in seinem Mund an. So viele Jahre hatte jedes Eingeständnis der Schwäche in Evermore drakonische Folgen gehabt und hier war es die Grundlage für Verständnis und Unterstützung. „Aber nicht so wie Riko.“ „Soll ich ihn in deiner Gegenwart nicht mehr erwähnen?“ Jean dachte darüber nach. Knox war ein Fan von Day und das konnte und wollte er ihm nicht madig machen. Jean seufzte. „Es ist okay. Er soll sich nur aus meinem Leben heraushalten.“ „Möchtest du, dass ich ihm das sage?“ „Ja.“ Knox lächelte und nickte. „Jean?“ „Ja?“ „Darf ich dich in den Arm nehmen?“ Jean blinzelte. Wo kam das denn jetzt her? „Warum solltest du das tun?“, fragte er, wie immer, wenn ihn etwas belastete und unsicher machte, mit schwerem, französischen Akzent, und erkannte anhand von Knox‘ Gesichtsausdruck, dass ihm etwas entging, was ihm nicht entgehen sollte. „Um dir etwas Gutes zu tun und dir zu zeigen, dass alles gut wird.“ Jean starrte. Es war nicht so, dass ihm das Konzept von Umarmungen fremd war. Renee hatte ihn an die freundschaftlichen Variante gewöhnt. Liebevoll war sie gewesen, warm und sanft. Ein Engel eben. Aber sie war nicht sein Kapitän. Konnte er eine solche Umarmung von seinem Kapitän akzeptieren? Knox hatte doch mehrfach bewiesen, dass er ihm trauen konnte. Warum also nicht jetzt auch? Er schürzte die Lippen und nickte knapp. „Ist das wirklich okay für dich?“, fragte Knox noch einmal nach und Jean nickte. „Ja“, sagte er und schon trat der blonde Junge in seine Nähe, langsam, damit er jeden Schritt nachverfolgen konnte. Ebenso gemächlich hob er die Arme und schloss Jean in selbige, zog ihn vorsichtig an sich, wodurch sich ihr Größenunterschied nur umso bemerkbarer machte. Jean stand für einen Moment auf dem Gehweg und ließ es stocksteif geschehen, dann machte er sich daran, sich willentlich zu entspannen. Muskel für Muskel. Sein Herz schlug zwar viel zu schnell, aber dennoch lösten Knox‘ Berührungen keine Panik in ihm aus, selbst jetzt nicht, als dieser ihm in sanften, kreisenden Berührungen über den Rücken strich und seine blonden Haare Jean im Gesicht kitzelten. Es war…okay. Ja, das war es in diesem Moment tatsächlich. Die Berührung eines Mannes, noch dazu seines Kapitäns war okay. Jean seufzte innerlich. In Evermore hatte ein guter Tag bedeutet, überhaupt Schlaf zu bekommen, Rikos Wut nicht ausgesetzt zu sein und keine Verletzungen davon zu tragen, immer jedoch unterlegt mit der Angst, dass es am nächsten Tag nicht mehr so sein würde. Hier bedeutete ein guter Tag, keine Angst zu haben und dabei noch eine Art von Lebenszufriedenheit zu spüren, die Jean verloren geglaubt hatte. ~~**~~ Es war Vollmond, als Jeremy sich bewusst wurde, dass etwas ganz und gar nicht stimmte mit den Schlafgewohnheiten seines Mitbewohners, der bisher immer nach ihm eingeschlafen und vor ihm wachgewesen war. An sich hatte das keinen Zusammenhang, aber es beleuchtete das Gesicht von Valentine ziemlich surreal, als sie neben seinem Bett stand und ihn mit ängstlichem Blick wachrüttelte. Jeremys schlaftrunkener Geist hatte Mühe, ihren hastigen Worten zu folgen, auch wenn er bereits im Alarmmodus halb aufgestanden war. Er rieb sich über das Gesicht um den Tiefschlaf zu vertreiben, der ihn so fest im Griff gehabt hatte, und warf dann einen besorgten Blick zu Jean, der sicherlich durch Valentines Lärm auch aufgeweckt worden war. Doch das Bett war leer. Unangetastet, wie Jeremy im Mondschein sah und langsam zog nun auch sein Geist nach. Sie hatte etwas von Jean gesagt. Sein Name war gefallen. „Was…was ist mit Jean?“, fragte er und fluchte unwillig, als Valentine die Deckenbeleuchtung anschaltete. Instinktiv hielt er sich die Hand vor Augen und grollte. „Er ist im Keller und es geht ihm anscheinend nicht gut.“ Diese Aussage als solche machte überhaupt keinen Sinn und für die ersten Sekunden starrte Jeremy Valentine verständnislos an. Was sollte Jean im Keller machen und wieso ging es ihm nicht gut? Heute Abend war doch noch alles in Ordnung gewesen. Sogar, als er Jean gute Nacht gesagt hatte, war es das. Was also….? „Was ist mit ihm?“, verbalisierte er seine Gedanken und ihre schreckensgeweiteten Augen lösten ein ungutes Gefühl in ihm aus. „Komm schon, Cap!“ Mehr hatte Jeremy nicht gebraucht, um aus dem Bett zu schießen und gemeinsam liefen sie in den Keller. Einen Moment lang bedauerte Jeremy es, sich nicht noch wenigstens ein T-Shirt angezogen zu haben. Es war kühl hier unten, so kühl, dass es ihn schauderte, doch momentan gab es andere Prioritäten. „Da hinten, bei Logan!“ Jeremy nickte und lief die letzten paar Meter zu ihrem Dealer, dessen Gesicht bleich und erschrocken war. „Was ist los?“ „Hör selbst“, murmelte der andere Junge und Jeremy lauschte den Geräuschen, die er bisher ausgeblendet hatte. Mühevoll schluckte er, als ein gepeinigtes Aufstöhnen durch die einen Spalt weit geöffnete Tür drang, gefolgt von der beinahe unverständlichen Bitte, aufzuhören, die immer und immer dringender wurde, bevor sie in einem Laut erstarb, der als solches nicht menschlich war. Entsetzt sah Jeremy Logan in die Augen und wollte die Tür aufreißen, als ihn Valentines Hand davon abhielt. „Jer, sei vorsichtig. Das ist ein Alptraum. Moreau schläft, das haben wir gesehen, als wir hier hinunter gekommen sind.“ Jeremy zuckte beinahe schon körperlich zurück. „Er schläft? Wieso das denn“, fragte er verständnislos. „Er hat doch ein eigenes Bett, ich habe ihm heute Abend noch gute Nacht gesagt, wieso…“ „Ich habe keine Ahnung, Jer, aber du kennst ihn von uns allen am Besten. Ich habe ein bisschen Sorge davor, ihn aufzuwecken. Vielleicht reagiert er auf dich nicht so schlimm?“ Das war der Grund, warum sie ihn geweckt hatten und Jeremy konnte sich der Logik dessen nicht gänzlich verschließen. Er wusste, dass Jean allen Grund hatte, Alpträume zu haben. Er hatte Einblicke in die Vergangenheit des Ex-Raven erhalten, über die Val und Logan sicherlich nicht verfügten. „Okay. Ich kümmere mich um Jean“, stimmte er zu und Valentine nickte. „Brauchst du Hilfe?“ „Erst einmal nicht, aber ich würde euch bitten, dass ihr euch in der Nähe haltet, falls es so sein sollte.“ „Klar sicher.“ Dass Val Logans Hand griff und ihn beiseite zog, nahm Jeremy nebenher zur Kenntnis und es wunderte ihn nicht. Es gab nur einen einzigen Grund, dass man sich nachts im Keller traf und das war nicht zum Reden. Anscheinend war ihr freies Zimmer schon anderweitig belegt. Vorsichtig öffnete er die Tür zu dem Kellerraum und gewöhnte sich erst einmal an das fehlende Licht. Er wusste, dass der Lichtschalter an der rechten Seite der Wand war, scheute sich jedoch davor, Jean abrupt dem kalten Licht des Kellers auszusetzen. Jeremy betrat den Raum und folgte den elenden Geräuschen, die aus einer der hinteren Ecken des Raumes zu ihm drangen. Aus den flehenden Worten, waren unverständliche Laute geworden, begleitet von einem Schaben, das auf dem Kellerboden fast wie Papierrascheln klang. Jeremy kam zu dem Stapel an Kartons, hinter denen er Jean vermutete und schluckte schwer, als er den Jungen tatsächlich erkannte, halb verborgen hinter der Unordnung abgestellter und vergessener Kisten auf dem nackten, kalten Kellerboden. Durch das hereinfallende Licht sah Jeremy den liegenden Körper, der nur seinen Hoodie, eine Jeans und Sneaker trug. Er sah die vor Angst verzerrten Gesichtszüge, mit denen sich Jean auf dem Boden hin und herwälzte, gefangen in Traumbildern, die ihm eine solche Angst machten, dass seine Hände zu starren Klauen geformt über den Boden schabten. „Bitte…nicht…“, wimmerte er und Jeremy hätte beinahe den Fehler gemacht, sich hier und jetzt neben ihn zu knien und ihn aus seinen dunklen Träumen zu holen. „Hör…auf…“ Auch wenn es ihm mehr als wehtat, trat Jeremy einen Schritt zurück und ließ sich unweit von ihm auf die Knie nieder. Die Kälte, die dadurch in seine Glieder zog, ließ ihn schaudern. „Jean, ich bin hier, ich bin bei dir“, begann er ruhig und der Körper vor ihm zuckte. Die Worte erstarben und ließen nur Laute zurück, die Jeremy eine Gänsehaut bereiteten. „Jean, komm zu dir. Du bist in Kalifornien, an der USC. Du bist bei den Trojans.“ Lauter nun, als er sah, dass Jean darauf reagierte, was er sagte. In anderen Worten, komplett still wurde. „Ich bin es, Jeremy. Jeremy Knox, dein Kapitän. Riko Moriyama ist tot, Jean. Du bist nicht mehr in Evermore. Vor anderthalb Wochen waren wir am Strand du hast mit Fahima unter der Strandmuschel gesessen und nachher mit uns ungesunden Kram gegessen.“ Jeans Augen waren offen, als Jeremy zu ihm sah. Unsehend starrten sie an die Decke, während sein ganzer Körper wie Espenlaub zitterte. Langsam beugte sich Jeremy vor. „Ich würde gerne deine Hand nehmen, Jean. Wäre das in Ordnung für dich?“ Er erhielt keine Antwort, so verharrte er in der Bewegung und kniete abwartend neben seinem Backliner. Seine Knie schmerzten, doch das war Nebensache im Angesicht des Leides, dessen er gerade ansichtig geworden war. Es schien eine Unendlichkeit zu vergehen, bis Jean überhaupt blinzelte. Langsam, als wäre er in Trance schloss und öffnete er seine Augen und bewegte seine Finger. Erst dann wandte er Jeremy den Kopf zu und zuckte so gewaltig zusammen, dass Jeremy sich ebenfalls erschreckte. Abrupt schoss Jean in die Sitzende und kroch mit einem erstickten Laut verzweifelt nach hinten, bis er mit dem Rücken an die Wand stieß. Dort zog er die Beine an seinen Körper und zog seinen Kopf ein. Durch die im Schatten liegende Gestalt blieb Jeremy nun der Blick in das Gesicht des anderen Jungen verborgen. Umso lauter hörte er allerdings dessen abgehackte Atmung, die von Panik und Angst zeugte und ihm sagte, dass Jean ihn bisher nicht bewusst wahrgenommen hatte. Jetzt aber schon. Jeremy schluckte. „Jean, ich bin’s, Jeremy. Du bist hier in Kalifornien, nicht in West Virginia. Du bist in Sicherheit und dir wird niemand wehtun.“ Für zähe, lange Sekunden schien es so, als würden seine Worte keinen Anklang finden. Jeremy verharrte beinahe bewegungslos, aus Angst, Jean noch mehr zu verschrecken. Wenn er es sich ehrlich eingestand, fühlte er sich schrecklich hilflos in diesem Moment. Er wusste nicht, was er noch tun konnte, um Jean nicht noch mehr zu verschrecken. Wobei… „Soll ich Renee anrufen? Möchtest du mit ihr sprechen?“ Stille antwortete ihm und Jeremy war sich sicher, dass er damit richtig lag. „Okay, pass auf, ich hole mein Handy und dann rufe ich sie an, ja?“ Mühsam schraubte er sich in die Höhe und seine Knie protestierten gegen den stechenden Schmerz. Aufstöhnend drehte er sich um und kam ganze zwei Schritte weit, bis Jean mit einem puren Laut des Entsetzens aus seiner Ecke kam und auf allen Vieren hinter ihm herkroch. Eine Hand umfasste sein Fußgelenk und brachte ihn in seinem momentanen, unsicheren Stand beinahe zu Fall. Jeremy fuhr herum und starrte auf den Jungen, der seine Stirn an seine Wade presste. „Bitte nicht. Bitte tu’s nicht. Sie… nein, sie soll das nicht sehen. Sie soll mich nicht so sehen. Bitte nicht.“ Ein paar Sekunden lang starrte er Jean an, dann kniete er sich zu ihm auf den Boden und zog ihn unwirsch hoch. Er wollte keinen Augenblick länger Zeuge dieser demütigenden Haltung werden. Er wollte nicht länger hilflos sein im Angesicht von Jeans Schmerz. Erschrocken sah Jean ihn an und Jeremy löste den festen Griff um die zittrigen Oberarme, ließ seine Hände zu Jeans Händen gleiten. Bevor er es sich überlegte, verschränkte er ihre Finger ineinander. „Okay, ich mach’s nicht. Versprochen. Alles ist gut. Es passiert nichts, was du nicht willst“, sagte er mit möglichst fester Stimme. Schweigen trat zwischen sie. „Möchtest du mit nach oben kommen, Jean? Raus aus der Kälte?“ Jean brauchte etwas, bis er so unmerklich nickte, dass Jeremy es sicherlich übersehen hätte, wenn er nicht jeden Zentimeter in Jeans Gesicht studieren würde. „Ich fürchte nur, dass du zuerst aufstehen musst“, gestand er schließlich mit einem schrägen Lächeln ein. „Und wenn du gerade dabei bist, wäre ich froh darum, wenn du mir aufhilfst.“ Jean folgte schweigend seinen Worten und zog ihn tatsächlich hoch. Jeremy nickte dankbar und löste langsam seine Hände von Jean. Er schüttelte seine eingeschlafenen Beine aus und sah dann ruhig zu Jean hoch, der ihn mit hängenden Schultern und eingefallenem Gesicht musterte. „Komm mit“, lockte Jeremy mit einem schiefen Lächeln und humpelte aus dem Raum. Er nickte Logan und Val zu, die am Treppenaufgang zum Erdgeschoss standen und ihn besorgt musterten. „Alles gut, danke euch beiden. Und zu niemandem ein Wort“, sagte er und sie flüchteten schier, bevor Jean aus dem Keller kam und zu ihm trat. Jeremy schauderte und verschränkte die Arme. Mit großen Augen sah er zu Jean hinauf. „Sorry, ich wurde aus dem Bett geholt, ich hatte keine Zeit, mir etwas anzuziehen“, rechtfertigte er seinen halbnackten Zustand und es schien Jean zumindest teilweise zu beruhigen. „Nach oben?“, fragte er leise. Jeremy seufzte glücklich. „Ab ins Warme!“ Gemeinsam gingen sie zurück in ihr Apartment, dessen Tür hinter Jeremy anscheinend zugefallen war, als er überhastet in Richtung Keller gestürmt war. „Oh scheiße…“, fluchte er und drehte sich hilfesuchend zu Jean um, der mit gesenktem Kopf bereits in seiner Hosentasche kramte und seinen Schlüssel hervorzog. Er reichte ihn Jeremy und dieser schloss nun selbst mit schlotternden Gliedern auf. Er ging vor und gab Jean seinen Schlüssel zurück. Sobald er ihr Wohnzimmer betreten und Jean seine Schuhe von den Füßen gestreift hatte, deutete Jeremy auf die Couch dort. „Komm, setz‘ dich.“ Zögernd folgte Jean seinem Vorschlag und ließ sich auf die Couch nieder, auch wenn er so aussah, als würde er jeden Moment wieder fliehen wollen. Ohne den Blick von seinem Backliner zu nehmen, der nun langsam die Kapuze seines Hoodies abnahm, holte Jeremy eine Decke aus dem Schlafzimmer. Es war seine eigene, weil er Jeans sauber gemachtes Bett nicht zerstören wollte. Überrascht sah Jean hoch als er mit dem guten Stück zu ihm zurückkam. Das war jedoch nichts im Vergleich zu seinem Gesichtsausdruck, als Jeremy ihm seine Decke um die Schultern legte und ihn bis oben hin darin einwickelte. „Knox…?“, entkam es immer noch viel zu leise den trockenen Lippen. „Was tust du?“ „Ich wärm‘ dich auf. Du bist viel zu kalt. Der Keller war viel zu kalt.“ Jean blinzelte. „Bleib einfach hier sitzen und mache es dir gemütlich, ich ziehe mir etwas an und komme dann wieder zu dir. Möchtest du etwas trinken oder essen?“ Jean schüttelte den Kopf und Jeremy eilte zurück ins Schlafzimmer, zog sich in Windeseile eine Jogginghose und ein T-Shirt über. Bedeutend langsamer kam er zurück ins Wohnzimmer und tauschte das ungemütliche Deckenlicht gegen den warmen Schein ihrer Stehlampe, bevor er sich in möglichst großer Entfernung zu Jean auf der Couch niederließ und tief durchatmete. Erst jetzt gestattete er sich, über das, was gerade passiert war, nachzudenken und überhaupt logische Schlüsse zu ziehen. „Jean, was hast du da unten gemacht?“, fragte er sanft. Der eingemummelte Junge reagierte zunächst gar nicht, dann setzte er sich gänzlich auf die Couch und zog die Beine an, blieb aber immer noch unter der Decke vergraben. „Ich habe dort geschlafen“, murmelte Jean beinahe unhörbar und Jeremy blinzelte. „Warum? Ist es dir hier zu warm? Soll ich einen Ventilator oder eine Klimaanlage besorgen?“ Was genau an seiner Frage so amüsant war, dass Jean schnaubte, entging Jeremy zunächst, unter anderem auch, weil er viel zu beschäftigt damit war zu beobachten, wie Jean sich bis zu seiner Nasenspitze in dem Deckenwust vergrub und für einen Moment die Augen schloss. „Mir ist nicht zu warm“, erwiderte er schließlich und runzelte die Stirn, als müsse er sich über etwas klar werden. „In Evermore war es nie warm. Es ist angenehm hier.“ „Das ist schön?“, lächelte Jeremy zögerlich. Wenigstens das konnte er als Grund ausschließen. Wieder kämpfte Jean mit sich und rang anscheinend mit jedem Wort, das schlussendlich seine Lippen verließ. Jeremy ahnte, welcher Kraftakt das für ihn sein musste und doch wollte er verstehen, ob etwa er derjenige war, der Jean aus ihrer gemeinsamen Wohnung vertrieben hatte. „Habe ich im Schlaf irgendetwas gemacht, was dich vertrieben hat? Habe ich etwas gesagt? Oder war ich zu laut?“, fragte er und malträtierte seine Unterlippe zwischen seinen Zähnen. Nun sah Jean ihn offen an und in den großen, grauen Augen stand neben Schrecken auch etwas Anderes, das Jeremy schwer beziffern konnte. „Du hast mich vor zwei Wochen einen gemeinen Eisdieb genannt, aber ansonsten eigentlich nicht, nein“, kam auch schon sein Todesurteil in Form von fürchterlich trockenen Worten und Jeremy spürte unweigerlich heiße Röte auf seinen Wangen. Dass er das aber auch nicht abstellen konnte… das war peinlich. Und seine Alpträume waren es ebenso. „Habe ich?“, fragte er krächzend und Jean nickte. „Es war nach dem Besuch in dem Eisladen. Du warst sehr aufgeregt und hast mir gesagt, dass ich dein Eis nicht stehlen soll.“ „Jean…Gnade bitte“, wimmerte er. „Das ist peinlich.“ Nur an den Augen sah Jeremy das zaghafte Lächeln, das auf den Lippen des Backliners liegen musste. „Du hast an deinen Fingerspitzen genuckelt, als ich dir gesagt habe, dass da noch genug Eis ist“, setzte Jean zum staubtrockenen Todesstoß an und Jeremy verbarg sein Gesicht an der Sofalehne. Das durfte doch nicht wahr sein, ausgerechnet vor Jean. Oh nein… Jeremy wimmerte und wedelte blind mit seiner Hand, in der Hoffnung, dass da nicht noch mehr kam. „Ich habe auch Alpträume, allerdings sind sie anders. Ich…schreie. Oder schlage um mich“, gestand Jean ein und Jeremys Kopf ruckte hoch. Er brauchte etwas, um die Worte zu verstehen, um nachzuvollziehen, was sie implizierten und als es soweit war, zuckte er auch körperlich zusammen. Gleichwohl widerte ihn seine eigene Dummheit an. Nachdem, was Jean angetan worden war, hatte er allen Ernstes keinen Gedanken darüber verloren, ob der Junge neben ihm Alpträume davon hatte. Wie dumm war er bitteschön? „Du bist wütend“, sagte Jean leise in seine Gedanken hinein und die Angst in seiner Stimme ließ Jeremy aus seinen Gedanken auftauchen. „Auf mich, Jean, nicht auf dich“, stellte er richtig. „Ich hätte das wissen müssen.“ Jean legte den Kopf schief und die rechte Wange auf seine Knie. Er sah ihn direkt an und Jeremy zog unweigerlich den Vergleich zu Jeans Ankunft am Flughafen. Dort hatte der Junge ihm noch nicht einmal in die Augen sehen können und nun war es Jeremy, der Mühe hatte, der durchdringenden Musterung stand zu halten. „Am Anfang hatte ich Angst, dass du dich m…dass du so bist wie Riko. Und ich brauchte etwas, das mich an Evermore erinnert, damit zumindest etwas vertraut ist und wenn es nur die Kälte und die Dunkelheit ist“, gestand Jean mit einer derartigen Neutralität ein, dass es Jeremy schauderte. „Aber du bist nicht wie Riko und es fällt mir mittlerweile schwer, jede Nacht nach unten zu gehen.“ Jeremy schluckte mühevoll. Jede Nacht, seitdem er hier war? Jean hatte kein einziges Mal in seinem Bett geschlafen und er hatte es nicht mitbekommen? Ihm lag so vieles auf der Zunge, Entschuldigungen, Flüche, Versprechungen, Wiedergutmachungen… „Dann bleib hier“, konzentrierte er alles, was ihm auf der Zunge lag, in diesem ernsten Vorschlag. „Du bist hier in Sicherheit und die Betten sind verdammt bequem. Es wäre eine Schande, wenn du niemals in den Genuss dessen kommen würdest. Oder deiner Decke. Oder deines Kissens.“ „Ich werde dich aufwecken. Vielleicht sogar jede Nacht.“ „Das ist okay. Dann ist jemand da, der dich aus seinen Alpträumen holt.“ „Das ist eine Bürde, die nur ich zu tragen habe.“ „Jetzt nicht mehr.“ Jean blinzelte verständnislos und erst, als Jeremy dazu ansetzen wollte, seine Kapitänsansprache über den Zusammenhalt des Teams zu halten, begriff er. „Das ist alles so anders“, sagte er indifferent, als wäre er erst jetzt zu dem Schluss gekommen. Jeremy musterte sein Gegenüber. „Möchtest du darüber sprechen?“ „Nein.“ Er nickte. „Ich bin da, wenn es so sein sollte.“ „Ja“, sagte Jean und runzelte die Stirn. Zunächst verständnislos, dann beinahe schon fassungslos, sah er hoch. „Ich weiß…“, schloss er nachdenklich. „Danke.“ Jeremy lächelte und legte die Hand auf den Bereich der Decke, wo er die Schulter des Backliners vermutete. Spielerisch und sanft schubste er Jean, was dieser mit einem bösen Blick konterte, der Jeremy vermutlich das Fürchten hatte lehren sollen. „Bleibst du hier?“, fragte er und Jean vergrub sich mit der Nase wieder in der Decke. Er schloss die Augen und Jeremy sah mit Erstaunen, wie er unauffällig daran roch. An seiner Decke. Seiner. Jeremy spürte, wie er wieder rot wurde, als Jean anscheinend Gefallen daran fand, wie die Decke sich anfühlte und wie sie roch. „Bist du sicher?“ „Absolut.“ Jean nickte schließlich langsam. „Okay.“ Niemand von ihnen bewegte sich in Richtung Schlafzimmer und Jeremy beobachtete sein Gegenüber dabei, wie er mit seinen Fingern über die Decke strich. „Wäre es in Ordnung, wenn ich diese Nacht erst einmal auf der Couch verbringe?“, fragte Jean schließlich und Jeremy hielt inne. Es gab vieles, was er darauf antworten konnte. Dass er nicht in der Position war, es Jean zu erlauben oder zu verbieten. Dass Jean sein eigener Herr war. Dass er selbst die Entscheidungen traf. Nichts davon sagte er, weil Jean alles davon bereits wusste, aber noch nicht verinnerlicht hatte. „Nur wenn du dabei die Decke behältst“, hielt Jeremy anstelle dessen dagegen und der aufkommende Protest in Jeans Gesicht hielt sich nicht lang. Aus welchem Grund auch immer Jean anscheinend eine Vorliebe für das Stück Stoff und Federn unter seinen Händen entwickelt hatte, Jeremy förderte das gerne. „Okay.“ „Jean?“ „Ja?“ „Nicht mit der Decke in den Keller abhauen, okay?“ Jean hob die Augenbraue. „Aber ohne?“ „Dann komme ich dich wieder besuchen.“ „Heimsuchen ist das Wort, dass du suchst“, sagte Jean trocken und schockiert schlug sich Jeremy die Hand vor den Mund. „War das ein Witz, Moreau? Das war ein Witz! Du hast einen Witz gemacht!“ Jean rollte mit den Augen. „Va te coucher“, murmelte er und Jeremy war durchaus entzückt von der fremden Sprache, die sich ihm entgegentrug und von der er kein einziges Wort verstand. ~~~~~~ Wird fortgesetzt. Va te coucher! = Geh schlafen! Kapitel 18: Vierzehn -------------------- Jean hatte zwar den Rest der Nacht nicht geschlafen, aber er war auf der Couch geblieben, unter Knox‘ Decke, die ihn nicht nur mit ihren Daunen gewärmt hatte. Sie roch durch und durch nach dem blonden Jungen: ein bunter Mix aus Sonne, Sonnencreme, Duschgel und Knox hatte. All das hatte Jean seine Alptraumbilder nach und nach vergessen lassen, die ihn in der Nacht so fest im Griff gehabt hatten, dass er für einen Moment geglaubt hatte, Riko vor sich zu sehen und nicht seinen Kapitän. Der raue Stoff des Sofas hatte sich seltsam an seiner Wange angefühlt, während er mit dem Rücken zur Lehne die letzten, dunklen Stunden der Nacht wie auch die ersten, grauen des kommenden Morgens gedöst hatte, die Schlafgeräusche des anderen Jungen im Nebenzimmer. Soviel also zu seinem Plan, dass er unten im Keller schlief. Soviel dazu, dass er seine Alpträume vor Knox verheimlichte. Jean fragte sich schon, ob die Entführung aus Evermore und die Sonne Südkaliforniens seinen Überlebensinstinkt so gedämpft hatten, dass er so unvorsichtig wurde, sich in den ersten zwei Monaten bei einer solchen Respektlosigkeit und Schwäche erwischen zu lassen. Noch vor einem Monat wäre er vor Angst nicht in der Lage gewesen, richtig zu atmen und zu denken. Er hätte sich zusammengekauert und auf eine Strafe gewartet, die in Evermore mit Sicherheit gekommen wäre. Und nun? Ja, auch jetzt hatte er Angst gehabt, doch diese hatte sich von Knox‘ Stimme und seinen Worten, vielmehr aber von dieser blöden, verfluchten Decke beruhigen lassen, die sein Kapitän ihm um die Schultern gelegt hatte. Knox hatte ihn nicht nur nicht gestraft, er hatte ihn auch weder verspottet noch ausgelacht für sein Verhalten und im Nachhinein wunderte Jean das überhaupt nicht. So war er, der Kapitän der USC Trojans. Wenn Knox wüsste, was er mit seinen Worten und seinem Handeln in ihm angerichtet hatte. Jean zog sein Handy hervor und öffnete sein Nachrichtenprogramm. Wie immer waren die Gruppenchats der Foxes und der Trojans voller Abkürzungen, die er nicht verstand, die aber anscheinend zur allgemeinen Erheiterung beitrugen. Es war wieder ein Zeichen dafür, wieviel er über die Jahre verpasst hatte in Evermore. Josten verstand sie ebensowenig, aber im Gegensatz zu dem rothaarigen Jungen machte Jean nicht durch seine gravierende Unkenntnis auf sich aufmerksam. Lange musste er nicht scrollen, bis er auf Minyard stieß und ihren Chat öffnete. Jean schnaubte. Chat? Countdown. Seit seiner Ankunft hier in Los Angeles zählte der blonde Junge herunter, bis zum Ende ihres Deals, ohne dass Jean jemals darauf geantwortet hatte. Nun aber schwebten seine Finger über der Tastatur und für einen Augenblick lang wollte Jean seine Gedanken nicht verschriftlichen. Er wollte weiterhin schweigen, bis der Tag null kam, ohne seine Gedanken jemals zu verdeutlichen, doch etwas in ihm wehrte sich dagegen, das er schwerlich beziffern konnte. ~Warum hast du dich nach dem Missbrauch nicht umgebracht?~, fragte er so direkt, wie sie auch in Abbys Haus miteinander gesprochen hatten, erwartete aber nicht wirklich eine Antwort. Minyard beteiligte sich nur selten an den Chatexzessen seines Teams und wenn, dann waren die Nachrichten zynisch und geradezu unfreundlich. Doch noch während er auf seine Frage starrte, sah er, dass Minyard diese nicht nur gelesen hatte, sondern auch tippte. ~Es hat keinen Unterschied gemacht.~ ~Was?~ ~Zu leben oder zu sterben.~ ~Wie kann das keinen Unterschied machen?~ ~Indem es egal ist.~ Jean rollte mit den Augen. Eigentlich hätte er keine andere Antwort erwarten sollen. Er schnaubte lautlos. ~Du hast dir die Arme aufgeschnitten~, schrieb er genauso schonungslos, wie sie jede ihrer Unterhaltungen geführt hatten. Keiner von ihnen nahm ein Blatt vor den Mund, wenn es um die Vergangenheit des jeweils anderen ging. Ein bitteres quid pro quo, mit dem sie beide anscheinend eine Basis gefunden hatten. Jean hatte sich schon bei Abby gefragt, wie es wohl gewesen wäre, wenn Minyard tatsächlich Rikos Angebot angenommen hätte, Torhüter der Ravens zu werden. ~Dabei ging es um Macht und Kontrolle.~ Jean verstand das, auch wenn er es nicht nachvollziehen konnte. Macht über andere und Macht über sich selbst war letzten Endes immer Macht. ~Ist dir jetzt immer noch egal, ob du lebst oder stirbst?~, fragte er und dachte an Josten. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, was die Beiden aneinander und an den Neurosen des Anderen fanden. Minyard hatte Riko für Josten den Arm zertrümmert. Er war immer an der Seite des rothaarigen Großmauls, sich wie ein Hütehund immer wieder versichernd, dass seine Herde bei ihm war. ~Planst du, mich umzubringen? Wenn ja, bist du nicht sonderlich gut darin~, wich Minyard einer Antwort aus und Jean schnaubte. Wie immer, wenn es um Josten ging. Es sei denn, man bedrohte den rothaarigen Jungen. ~Du schon~, erwiderte er und es war keine Frage, ganz und gar nicht. ~Es ist immer noch Selbstmord.~ Jean hielt inne. Technisch gesehen würde es das sein, schließlich hatte er sein Einverständnis gegeben. ~Wir haben einen Deal~, schrieb er zurück, wenngleich das mehr eine Erinnerung für ihn selbst war an das, was kommen würde. Minyards Antwort war entsprechend schlicht, auch wenn sein Teil des Handels das garantiert nicht war. Wie konnte der andere Junge Damit leben? Wie hatte er mit dem ersten Tod leben können? Jean runzelte die Stirn. In Abbys Haus hatte er auf die mörderische Ruchlosigkeit des Torhüters gezählt und hatte verloren. Zumindest augenscheinlich. ~Ja.~ Es brauchte etwas, dann schickte ihm Minyard die Zahl des heutigen Countdowns. Früher als sonst, dennoch nicht weniger einprägsam. 14 Jean starrte die Zahl mit gemischten Gefühlen an und senkte das Handy. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte er vor Freude gelacht über diese Zahl. Nun war er sich dessen nicht mehr so sicher. Vierzehn Tage waren wenig. Sie würden, wie der Rest auch, verfliegen wie nichts und am Ende der zwei Monate könnte Jean sagen, dass sich keine seiner Erwartungen, mit denen er nach Los Angeles geflogen war, erfüllt hatte. Das wäre doch ein guter Grabsteinspruch. Jean seufzte drehte sich auf den Rücken. Die Couch war verführerisch bequem und lullte ihn ein, lockte ihn weg von seinen düsteren Gedanken, ohne dass er sich wirklich dagegen wehren konnte. Erneut nahm er sein Handy hoch und öffnete die Bilder-App. Instagram, so hieß sie. Knox hatte ihm das Bild von ihm, sich selbst und Coach Rhemann nach der Pressekonferenz geschickt, das durch den Campusreporter gemacht worden war. Für seine mittlerweile bestätigten, offiziellen Social Media-Accounts, wenn er es denn hochladen wollte. Bislang hatte Jean kein Interesse daran gehabt, nun jedoch rief er es auf und besah sich das Bild noch einmal genauer. Knox stand ganz vorne, was seiner Position innerhalb des Teams und seiner tatsächlichen Größe geschuldet war. Links von ihm stand Jean, rechts davon Coach Rhemann vor der Pressewand der Trojans. Knox grinste breit und es war ein ebensolches Lächeln, wie auch Day der Presse schenkte, nur eben ehrlicher. Coach Rhemann lächelte weniger strahlend und Jean gar nicht. In Evermore war es Riko und Day vorbehalten gewesen, sein Part war immer derjenige, andere einzuschüchtern. Das war ihm ganz gut zu pass gekommen, da er sowieso keinen Grund gehabt hatte zu lächeln. Jean schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte sich auf das Bild. Er musste etwas suchen, bis er die Funktion fand, mit der er es hochladen konnte. Die Filter, die ihm automatisch vorgeschlagen wurden, ignorierte er. Sollte er etwas unter das Bild schreiben? Jean runzelte die Stirn. Er wüsste nicht was. Vielleicht die Namen? Die waren doch bekannt. Wo das war? Ja, das vielleicht. Pressekonferenz USC Trojans, Los Angeles, tippte er und postete das Bild, bevor er sich davon abhalten konnte. Nicht, dass ihn das von dem Problem befreite, dass er zusätzlich auch noch ein Profilbild brauchte. Jean wechselte auf seine Bildergalerie und scrollte sich durch die wenigen Bilder, die er bisher gemacht hatte. Es gab eines, was er von dem Sonnenuntergang über dem Meer gemacht hatte. Das könnte er nehmen, doch das wäre zu kitschig. Vielleicht war da das von dem Strand besser. Wellen im Sand, hatte er das Foto innerlich an jenem Tag, an dem er ein Stück seiner Angst abgelegt hatte, getauft. Er wählte den warmen, weichen Sand, den er in jeder Ritze seiner Tasche und seiner Kleidung gefunden hatte. Auf seiner Haut, als wäre es Puderzucker. Jean lud es als sein Profilbild hoch und stellte fest, dass er bereits Herzchen dafür erhalten hatte. Likes, wie Knox es ihm beigebracht hatte. Die Namen, die er las, waren ihm völlig fremd und er fragte sich, wie sie das so schnell gefunden hatten. Er schloss die App und wechselte zu der mit dem Vogel. Twitter, so hieß sie. Auch hier konnte man Bilder hochladen und etwas dazu schreiben. Jean sah zwar nicht den Sinn darin, etwas doppelt zu posten, aber Knox hatte gemeint, dass er es bei offiziellen Exyposts genauso machte. Hier ging es ihm schneller von der Hand und er dachte sogar daran, den entsprechenden Hashtag der USC-Trojans zu verwenden und die jeweiligen Namen zu taggen. Es dauerte keine zwei Minuten, da lachte es im Schlafzimmer und Jeans Kopf ruckte in die Richtung der angelehnten Tür. „Du hast das Bild getwittert!“, rief sein Kapitän hellwach und Jean hob die Augenbrauen. Er fragte sich, ob es respektvoll war, von der Couch aus zurück zu rufen und entschied sich dagegen. Langsam löste er die Decke von seinem viel zu warmen Körper und kam zur Schlafzimmertür. Vorsichtig öffnete er sie und sah den anderen Jungen auf seinem Bett sitzen, der blonde Haarwust eine Unordnung sondergleichen. Knox kämmte sich sie jeden Abend, wie konnten die Strähnen nur so durcheinanderstehen? „Das habe ich“, erwiderte er mit Bedacht und wurde mit einem Lächeln bedacht. „Sieht gut aus! Und dein Profilbild auch.“ „Ich habe es am Strand gemacht“, erwiderte Jean unnötigerweise. Lob an sich war etwas, das er nicht wirklich kannte und dem er auch nicht traute. Lob für etwas, das nichts mit Exy zu tun hatte, war unverständlich für ihn. „Du hast ein gutes Auge dafür.“ „Für Sand?“, fragte er staubtrocken mit einer Spur Zynismus und Knox grollte, aber Jean erkannte keine Spur an echter Wut. „Du spottest noch vor dem ersten Kaffee, Moreau?“, fragte er mit zusammengekniffenen Augen „Gerade vor dem Ersten“, korrigierte Jean und hob die Augenbrauen, als sein Kapitän sich mit einem leidenden Laut unter der Bettdecke begrub und etwas darunter vordrang, das verdächtig nach „Geh weg, du grausamer Franzose!“ klang. Jean blinzelte. Für einen Moment lang erlaubte er sich die irrwitzige Vorstellung, Knox die Decke wegzuziehen. Es ließ ihn ob der vollkommenen Unmöglichkeit schmunzeln und er verschränkte die Arme, starrte auf den Deckenberg hinunter. Schlussendlich drehte er sich um und ging ins Wohnzimmer, holte sich die rote Decke, unter der er geruht hatte. Kommentarlos warf er sie auch noch auf den Deckenwust und Knox protestierte gedämpft, aber nicht minder leidenschaftlich. „Ich würde gerne joggen gehen“, stellte Jean leise in den Raum und langsam schraubte sich der Kopf aus dem Berg an Decken. „Jetzt?“ Jean starrte Knox in die erschrockenen Augen und schüttelte den Kopf. „Grundsätzlich“, korrigierte er. „Außerhalb des Stadions.“ Knox nickte. „Klar, natürlich! Du kannst laufen, wo du willst.“ Kurz stockte sein Kapitän. „Soll ich mitkommen?“ Stumm nickte Jean. Alleine würde er keinen Schritt vor die Tür setzen können, geschweige denn zurückfinden. Er wusste, dass Knox das wusste und er war dankbar darum, dass der andere Junge darüber keinen Ton verlor. „Okay, dann heute Abend! Wo möchtest du denn laufen?“ Jean musste unwillkürlich an sein Bild vom Sonnenuntergang denken. Er räusperte sich. „Am Strand entlang?“, schlug er vor und erntete dafür ein begeistertes „Ja!“ von seinem Kapitän. ~~**~~ Abwehrend hielt Jeremy die Hand hoch, während er sich vorneüberbeugte und seinen überflüssigen Speichel neben sich auf die Grasnarbe der Strandpromenade von Venice Beach spuckte. Verzweifelt versuchte er nach Luft zu schnappen, was ihm seine schreienden Lungenflügel zunächst einmal verweigerten. Seine schmerzenden Beine zeigten ihm ganz klar, dass er mit seinem Backliner, der ihre kleine Joggingrunde weniger desolat überstanden hatte als er, nicht hatte mithalten können. Klein. Wenn er noch hätte lachen können, Jeremy hätte gelacht. Sein Blut rauschte in seinen Ohren und für einen Moment musste er die Augen schließen. Er war komplett schweißgebadet. Jean hingegen… Jean hatte auch auf die letzten Meter so gewirkt, als könne er immer noch weiterlaufen und stand nun auch wie eine stumme Statue neben ihm, wartete mit vermutlich hoch erhobener Augenbraue, dass er wieder zu Besinnung kam. Anklagend richtete Jeremy seinen Finger auf Jean, der – wie er nun sah - ebenfalls schweißgebadet neben ihm stand und den Anstand hatte, zumindest in Ansätzen außer Atem zu sein. „Du…du…“, presste er hervor und atmete tief durch. „Du…verdammt, Moreau, ich verfluche dich, den Tag deiner Geburt und den Tag deiner Zeugung und ich verfluche meine Naivität!“, keuchte er und Jean hob nun tatsächlich die Augenbraue. „Du solltest eher deine mangelnde Kondition verfluchen“, erwiderte er brutal ehrlich, wie immer neuerdings, wenn es um Sport oder Exy ging, und erhielt ein Zischen als Antwort. „Wir sind Exyspieler, keine Marathonläufer“, wimmerte Knox und begann mit seinen Dehnungsübungen zum Entspannen, was seinem marathonlaufenden Backliner anscheinend nicht gefiel. Mit sturmgeweihter Stirn sah er auf ihn hinunter und Jeremy hatte eine wirklich schlimme Vorahnung. „Wir sind noch nicht fertig. Wir haben noch drei Kilometer im Sand“, sagte Jean stirnrunzelnd und Jeremy riss entsetzt die Augen auf. „Niemals!“ „Knox, das…“ Jeremy ließ sich ohne viel Federlesens auf seinen Hintern fallen und verschränkte die Arme. „Ich bleibe hier.“ Jean sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. Fragend hob er die Hände. „Knox, was…?“ „Wenn du willst, dass ich da unten“, er deutete auf den Strand. „noch weiterlaufe, dann musst du mich tragen!“ Taxierend musterte Jean ihn und eine Sekunde lang hatte Jeremy Angst, dass Jean ihn wirklich hochnahm. Doch dann ließ sich der Junge neben ihm nieder um seine Muskeln ebenfalls zu dehnen und Jeremy atmete innerlich erleichtert auf. So langsam kam er auch wieder zu Atem und sah auf seine Uhr und damit auf die zwanzig Kilometer, die sie am Strand von Venice Beach hinter sich gebracht hatten. Jeremy stöhnte auf. Wie gut, dass sein Auto unweit von ihnen auf dem Parkplatz stand. „Du solltest dich mit Neil zusammentun, der läuft auch so gerne und so viel“, ächzte Jeremy und Jean sah auf. Er schien kurz mit sich über etwas zu ringen, dann straffte er sich. „Als Josten in Evermore war, sind wir zusammen gelaufen“, erwiderte er schließlich und Jeremy bemerkte, dass sein Akzent wieder stärker hervortrat als sonst. Jean belastete das, was er ihm sagte. Vorsichtig hielt Jeremy inne. „Es war der letzte Rest an Freiheit und Selbstbestimmung, egal, wieviel Schmerzen das verursacht hat.“ Jeremy nickte stumm. Er würde es niemals nachvollziehen können, aber er verstand, was es nicht nur für Jean bedeutet haben mochte. Und vor allen Dingen, was es ihm jetzt bedeutete. Freiheit. „Er ist schnell und ausdauernd.“ Jeremy verzog das Gesicht, als hätte er in eine saure Zitrone gebissen. „Das habe ich bei unserem Spiel gegen die Foxes gesehen.“ Jean hob eine Augenbraue. „Es war immer noch keine taktisch gute Entscheidung.“ „Aber immer noch sportlich fair“, hielt Jeremy dagegen. Jean schwieg bedeutungsschwanger und widmete sich wieder seinen Übungen. „Willst du das eigentlich entfernt haben?“, fragte Jeremy schließlich, als er sich soweit gelockert hatte, dass er seine Beine bequem von sich strecken konnte. Wortlos deutete er auf die Drei auf Jeans Wange und unwillkürlich befühlten dessen Finger die Tätowierung. „Das geht?“ „Mittlerweile schon. Hier in L.A. werden viele Laserbehandlungen angeboten. Man braucht zwar mehrere Sitzungen, aber danach sieht man fast gar nichts mehr.“ Dass es Jean schwer fiel, auch nur darüber nachzudenken, sah Jeremy. Seine Mimik spiegelte nur zu deutlich die Erinnerungen, die mit der Drei auf seiner Wange einhergehen mussten und Jeremy tat es leid, das Thema angeschnitten zu haben. Nicht jetzt, wo Jean trotz des Alptraumes in der Nacht gut durch den Tag gekommen war. So gut, dass er Jeremy in eine Jogging-Falle gelockt hatte, deren Auswirkungen er sicherlich übermorgen noch spüren würde. „Sorry, ich hätte das Thema nicht anschneiden sollen“, entschuldigte er sich und Jean schüttelte den Kopf. „Es ist in Ordnung. Es ist nur so…einfach.“ Jeremy hob die Augenbrauen. „Einfach?“ „Schlimmes wieder gut zu machen.“ Er lächelte. „Wir bemühen uns hier in L.A..“ Schlichte Worte, hinter denen soviel mehr steckte, insbesondere in Bezug auf Jean und dem, was er in Evermore hatte erleiden müssen. Jean nahm das zur Kenntnis und seufzte. „Danke“, sagte er schließlich und verzog das Gesicht, als wäre dieses Wort etwas Bitteres, Saures gewesen. „Danke dafür.“ Das ist selbstverständlich, wollte Jeremy aufbegehren. Das mache ich gerne und ich werde es jederzeit wieder tun, wenn es dir gut tut. Er ahnte, dass er Jean damit überfordern würde, also begnügte er sich mit einem Lächeln und einem ruhigen „Gerne.“. Die grauen Augen huschten, wie so oft während ihres Laufes, in Richtung Wasser, nur um dann wieder zum sicheren Boden zurück zu kehren. „Alvarez meinte, dass die Trojans nach dem Saisonbankett am Wochenende auf einer Party seien“, sagte er, nicht ganz eine Frage und Jeremy hob die Augenbrauen. Wie er Alvarez kannte, hatte sie es so klingen lassen, als müsste Jean mitkommen. „Sie sagte, dass es Pflicht für alle Spieler sei“, fuhr Jean fort und Jeremy grollte innerlich. Als Jean ihn erwartungsvoll ansah und nicht wusste, wie er weitersprechen sollte, seufzte er. „Für gewöhnlich gehen wir alle zu den After-Bankett-Partys, das stimmt. Aber niemand ist gezwungen. Du musst nicht gehen, wenn du nicht willst.“ Unwirsch runzelten sich die schmalen Lippen, als Jean versuchte, aus seinen Worten etwas anscheinend für ihn Sinnvolles zu machen. „Ist es eine dieser Teambuildingmaßnahmen?“, fragte er schließlich. „So wie das Spielen auf dem Dach?“ Nachdenklich wiegte Jeremy seinen Kopf hin und her. „Könnte man so sagen. Wir waren bisher immer zusammen dort.“ „Was wird dort geschehen?“ „Schwer zu sagen. Meist wird in irgendeiner Bar oder einem Club getanzt, viel getrunken und gequatscht. Danach gibt sehr viel ungesundes Essen, falls das Bankettessen nicht ausreichend war.“ Jeremy grinste in die offene Missbilligung hinein, die die grauen Augen soviel dunkler machte. Jean damit aufzuziehen war seine Lebensaufgabe geworden und er fand diese mittlerweile offene Kritik um Längen besser als die Angst, die vorher dort gelauert hatte. „Wie wäre es, wenn du mal für mich nach deinen Vorstellungen kochst?“, fragte er und Jean runzelte nachdenklich die Stirn. „Ich habe noch nie einen Menschen vergiftet“, erwiderte er dann ernst mit gerade eben jener Spur an beißendem Zynismus, den Jeremy so gerne herausforderte. „Es gibt für alles ein erstes Mal!“ „Das wäre nicht praktikabel. Das Team benötigt seinen Kapitän.“ Theatralisch fasste Jeremy sich ans Herz. „Nur deswegen?“ Jeans Augen waren zu neutral, als dass das nicht etwas Bitterböses kommen würde. Jeremy ahnte es. Er wusste es. „Weswegen denn sonst?“. Da hatte er sie, die staubtrockene Bosheit, die sich hinter dem minimalen Lächeln verbarg. Nicht minder theatralisch warf sich Jeremy in das Gras hinter ihnen. „Dann lass mich gleich hier zurück, du Elendiger!“, jammerte er, doch seine Beschwerde traf auf taube Ohren. Ungerührt kümmerte sich Jean um seinen Körper und die Dehnübungen, lediglich einen Seitenblick gönnte er Jeremy. „Das geht nicht. Du hast den Wagen“, argumentierte Jean schließlich und Jeremy rollte sich zu ihm. Mit großen Augen starrte er zu seinem Backliner hoch und verzog die Lippen zu so etwas wie einer traurigen Grimasse. Dass es eher amüsant aussehen musste, erkannte er an dem minimalen Lächeln, das Jean sich gönnte. „Dann wird es Zeit, dass du den Führerschein machst“, grinste er und das gerade noch existente Lächeln verschwand zugunsten von etwas, das Jeremy als nachdenkliche Sehnsucht interpretieren würde. Sicher war er sich da aber nicht, insbesondere jetzt nicht, wo Jean sich von ihm abwandte und wieder zum Meer sah, das ruhig und in der Abendsonne glitzernd vor ihnen lag. Das gab Jeremy die Möglichkeit, das Profil seines Backliners genauer zu betrachten. Jean hatte mehr Farbe bekommen und das stand ihm gut. Es ließ die Verletzungen in den Hintergrund treten, die Hämatome und Narben, auch an den langen Schenkeln, die wie beim Training auch in einer kurzen Hose steckten und Muskeln zum Vorschein kommen ließen, die Jeremy Respekt verschafften. Die Schenkel, die ihn – Starting Striker der USC Trojans – in einem derart ausdauernden Tempo gefordert hatten, dass Jeremy sich vorgekommen war wie die lahmste Schnecke auf der Welt. Trotz allem war es ein Ansporn gewesen, schneller und besser zu werden. „Knox?“ Jeremy tauchte auf seinen Gedanken auf. „Hmh?“ „Könnte ich dorthin gehen?“ Jeremy folgte dem Fingerzeig des anderen Jungen zum Strand hin und zuckte mit den Schultern. „Klar. Willst du alleine gehen?“ Jean nickte stumm und Jeremy winkte lächelnd. „Dann geh, Großer, ich kann mich sowieso nicht von der Stelle bewegen.“ Überrascht sah Jean ihm in die Augen und Jeremy zuckte unschuldig mit den Schultern. „Beschwer dich bei Renee?“, versuchte er sich zu rechtfertigen und das traf auf ein leises Schnauben. Unverschämt behände erhob Jean sich und trat nach einem weiteren, versichernden Blick auf ihn auf den Strand. ~~**~~ Er hatte nur noch zwei Wochen, bis Minyard nach Los Angeles kommen und seinem Leben ein Ende setzen würde. Das war Jean in all seiner Finalität bewusst geworden, als Knox den Führerschein erwähnt hatte. Er würde nicht mehr genug Zeit haben, fahren zu lernen. Er würde auch nicht mehr genug Zeit haben, ein Spiel gegen Renee und Josten zu gewinnen. Beide würde er zum letzten Mal am Wochenende sehen, ebenso wie die übrig gebliebenen Ravens. Eine Tatsache, die Jean wortwörtlich den Atem raubte, wenn er daran dachte und so schob er es bis in die hinterletzte Ecke seiner Gedanken. Er würde sich ihnen nicht nähern müssen, sie nicht anschauen müssen, das wusste er, aber dennoch hatte er Angst. Unsinnige Angst davor, dass sie ihn zurückschleiften, obwohl der Hauptzweig der Familie ihm anderes befohlen hatte. Auch das würde vergehen, denn eine Woche später hätte er sein erstes und letztes Spiel mit den Trojans. Vier Tage später würde es nur noch ein letztes, erstes Mal geben und dann wäre es vorbei. Jean ahnte, dass es genau das war, was ihn in Richtung Meer getrieben hatte. Eisern richtete er seinen Blick auf den Sand und nicht auf das Wasser, zu dem es ihn zog. Einmal noch wollte Jean sich näher trauen, als er es beim letzten Mal geschafft hatte. Einmal, ein einziges, wollte er in der Nähe des Wassers stehen und auf das Glitzern starren, bis seine Augen schmerzten. Wie in Marseille vor gefühlt ewig langer Zeit. Hellwach waren seine Ohren und schlussendlich blieb er stehen, als das Rauschen zu laut wurde um noch angenehm zu sein. Sein Herz setzte für einen Schlag aus, nur um dann umso schneller weiter zu schlagen. Nichts konnte ihm hier passieren, das wusste er, das interessierte nur seine Angst nicht, die ihm einflüsterte, wie es gewesen war, als die Spieler der Ravens ihn niedergehalten hatten, damit Riko ihn foltern konnte. Doch Riko war tot und er war hier, stand unter freiem Himmel am Strand und konnte sich in relative Nähe zum Wasser begeben, ohne, dass er in kalten Schweiß ausbrach. Ein weiterer Sieg über seinen Ex-Kapitän war das und Jean gestattete sich ein Lächeln. Eben jenes nahm er nun auch als Schutz, als er den Blick hob und sich an dem Glitzern festbiss, das ihm die Unmengen an Wasser verdeutlichte, die noch weit genug entfernt vor ihm lagen. Nichts konnte ihm passieren. Nichts. Er war hier in Sicherheit, das wusste er. Jean atmete tief durch, atmete den Salzgeruch des Meeres ein, das an den Strand rauschte. Über ihm schrien Möwen auf der Suche nach Futter und er wusste unwillkürlich an die Möwe Jeremy denken, die sicherlich immer noch von Alvarez auf dem Dach ihres Hauses gefüttert wurde. Ob die Möwe auch hier war? Jean blinzelte die Tränen weg, die sicherlich durch die brennende Helligkeit kamen. Das hier war ein Fortschritt und mit mehr Zeit, mit mehr Wochen, Monaten, Jahren, hätte er es vielleicht auch geschafft, einen Schritt ins Meer zu treten. Doch heute stand das außer Frage, also begnügte er sich mit diesem Anblick, den er mit ins Grab nehmen würde, wenn Minyard das tat, wozu ihm selbst der Mut fehlte. ~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 19: Die nackte Wahrheit ------------------------------- Nachdenklich betrachtete Jean seinen auf dem Bett ausgebreiteten Anzug, den er mit Fahima für heute gekauft hatte. Knox war im Bad und sang wie so oft lautstark unter der Dusche, so hatte er noch ein wenig Zeit, die Kühle auf seiner noch feuchten Haut zu genießen. Wer hätte gedacht, dass es einmal eine Zeit geben würde, in der er sich nach Kühle sehnen würde? Oder dass er freiwillig nur in seiner Boxershorts im gemeinsamen Schlafzimmer mit seinem Kapitän stehen und keine Angst haben würde? Jean wusste, dass er solange Zeit hatte, bis Knox mit dem Singen aufhörte. Dann sollte er zusehen, dass er sich das Hemd anzog um seine Narben zu verdecken und sich Knox so zudrehte, dass dieser den Schriftzug an der Innenseite seines Oberschenkels nicht sah. Bis es soweit war, konnte er seine Gedanken noch schweifen lassen, hin zu Renee, die er heute wiedersehen würde. Endlich, nach so langer Zeit. Er freute sich darauf, sie zu umarmen und sich von ihrem warmen Lachen einfangen zu lassen. Er würde auch Josten und Minyard sehen, ebenso wie Day. Es war nicht so schlimm wie die Vorstellung an die Ravens, die dort sein würden, aber das machte es nicht weniger unangenehm. Wenn er an die Mannschaft dachte, deren Klauen er vor ein paar Monaten entrissen worden war, bekam er klamme Hände. Sein Herz schlug schneller beim Gedanken daran, diejenigen zu treffen, deren Collegezeit nicht zum Ablauf des alten Semesters geendet hatte. Waren sie immer noch 22, hatten sie aufgestockt? Wer war jetzt Kapitän, wer hatte seinen Platz eingenommen? Wer trainierte sie? Wie sie sich ihm gegenüber verhalten würden, war Jean klar. Er rechnete mit Spott und höhnischen Bemerkungen, aber auch mit Versuchen, ihm Gewalt zuzufügen. Es war nichts, was er nicht schon erlebt hatte. Neun Jahre hatten ihn die Facetten der menschlichen Abgründe sehr genau ergründen lassen – auch seine eigenen. Doch die letzten Monate ohne Gewalt, dafür mit umso viel größerer Freundlichkeit, hatten eine Lücke in seinen inneren Wall aus Ertragen und Stark bleiben gerissen. Jean seufzte innerlich. Zum Glück war niemand mehr mit dabei, der sich ihm aufgezwungen hatte. Riko hatte immer nur ältere Spieler in sein Bett gelassen, diejenigen, die im gleichen oder im darauffolgenden Jahr Evermore verlassen hatten. Worte konnten ihn nicht verletzten, doch was gewesen wäre, wenn er einem seiner Vergewaltiger hätte gegenüberstehen müssen… Er schauderte ob der Erinnerungen und riss sich mit Mühe aus den dunklen Gedanken los, sich plötzlich bewusst, dass das Singen aufgehört hatte. Wann genau, wusste er nicht, er wusste nur, dass er den Zeitpunkt verpasst hatte und dass das unangenehme Prickeln in seinem Nacken in jedem Fall seine Berechtigung hatte. Jemand Anderes befand sich im gleichen Raum mit ihm. Jean sah hoch und atmete zittrig aus. Langsam drehte er sich um und begegnete dem kalkweißen Gesicht seines Kapitäns, der nur mit einem Handtuch bekleidet im Durchgang zwischen Bad und Schlafzimmer stand und ihn entsetzt anstarrte. Nicht ihn, wusste Jean, sondern seinen narbenübersäten Körper, auf den Knox dank Jeans Nachlässigkeit einen ungehinderten und ungeschönten Blick hatte. Er glaubte nicht, dass der blonde Junge merkte, wie sehr sich seine Finger in das Handtuch krallten. „Jean…?“, bat Knox rau um eine Erklärung, die er schon längst erhalten hatte, wenngleich auch nicht in dieser detaillierten und plastischen Form. Es war zu spät, sich jetzt zu bedecken und so ertrug er das Hin- und Herhuschen der blauen Augen von Narbe zu Narbe mit mühevoller Ruhe, die jeden Moment zu zerreißen drohte. „Ist das…war das alles…Riko…?“, fragte Knox zaghaft, beinahe unhörbar, als hätte er Angst, die Frage zu stellen oder nur den Mund aufzumachen. Jean schmeckte diese Angst nicht, ganz und gar nicht, erinnerte sie ihn doch an seinen zweiten Tag hier. Knox war kein Mensch, der Angst haben sollte, schon gar nicht vor ihm oder vor dem, was ihm geschehen war. Er hatte genug Angst für ein ganzes Leben gehabt, als ihm die Wunden zugefügt worden waren. „Riko, der Herr, ich selbst, wenn er es befohlen hat“, antwortete Jean so ungeschönt, wie er vor Knox stand, während sein Herz bei dem Gedanken daran raste, dass sie beide halbnackt waren. Nein, sein Kapitän würde ihm nichts tun. Nicht wahr? Knox war nicht so. Nein, das war er nicht. Eben jener schluckte hörbar und es waren tatsächlich Tränen, die in den blauen Augen schimmerten. „Wie…?“, fragte er, verstummte aber und Jean musste nicht an sich hinuntersehen um in Details all das aufzählen zu können, was ihm zugefügt worden war. „Mit einem Gürtel, einem Stock, einer Rute, einem Messer, einem Brotmesser, einem Viehtreiber, einem Bunsenbrenner, einem Lötkolben oder dem, was gerade da war“, gab er eine erschöpfende und detaillierte Antwort auf die Frage. Knox schlug sich die Hand vor den Mund und strauchelte. Entsetzt musste er sich am Türrahmen abstützen und nach ein paar Sekunden waren es tatsächlich Tränen, die Knox über die noch von der Dusch geröteten Wangen laufen sah. Unsicher verharrte Jean. Sollte er seinen Kapitän trösten, sollte er etwas sagen, um seine Worte weniger schlimm zu machen? „Sie sind gut verheilt“, versuchte er es probeweise, doch das hatte keinen wirklichen Erfolg. Im Gegenteil. „Das ist grausam“, wisperte Knox erstickt und Jean senkte den Blick. Natürlich waren seine Worte für einen normalen Menschen grausam. Das hätte er auch schon vorher wissen müssen. „Entschuldigung, ich hätte das nicht sagen sollen“, erwiderte Jean entsprechend reumütig. „Das wird nicht wieder vorkommen.“ Anscheinend hätte er nichts Schlimmeres sagen können. Knox‘ Geschwindigkeit als Striker war ein Nachteil für Jean, der auf die Bewegungen seines Kapitäns erst viel zu spät reagierte. Schneller, als er es sich bewusst war, hatte Knox seine Hände umfasst und sah zu ihm hoch, die Augen groß und bittend. „Jean. Niemals… niemals wirst du dich für etwas entschuldigen, das dir zugestoßen ist. Niemals wirst du dich für etwas entschuldigen, was Andere dir angetan haben. Oder für etwas, das du darüber erzählst. Niemals, hörst du?“, fragte der blonde Junge beschwörend und Jean schluckte. Knox war ihm so nah, dass dessen Geruch alles dominierte und um ihn herumschwirrte wie eine schützende Blase. Er war ihm so nah, dass Jean die Feuchtigkeit spüren konnte, die sich noch auf Knox‘ Haut befand und die wie ein feiner Nebel zu ihm herüberwehte. Der Geruch war auch das Einzige, was Jean davon abhielt, hier und jetzt in Panik zu geraten. Das letzte Mal, als ein halbnackter Junge ihm im Stehen so nahe gewesen war, hatte dieser ihn mit dem Gesicht in die Fliesen der Raven-Gemeinschaftsduschen gepresst. Der daraus resultierende Schmerz hatte wochenlang angehalten. Knox‘ Geruch, der ihm nicht mehr aus der Nase gehen wollte, beruhigte ihn zumindest soweit, dass er nicht überhastet vor seinem Kapitän zurückweichen oder gar flüchten würde. Mühevoll versuchte Jean sich auf die Worte des anderen Jungen zu konzentrieren. „Niemals“, echote er, weil er nicht wusste, was er sonst darauf sagen sollte. „Sie haben dir das angetan, du musst dich für gar nichts entschuldigen!“ Jean runzelte die Stirn. „Ich bringe dich zum Weinen. Dafür muss ich mich entschuldigen.“ Erschrocken riss Knox die Augen auf. „Ich weine, weil es so grausam ist, was sie dir angetan haben. Weil es du es in keiner Sekunde verdient hattest, so behandelt zu werden. Und ich weine, weil sie dir das auch wegen mir angetan haben.“ Jean schluckte schwer. Nun war er es, der Knox‘ Hände enger umfasste und gefangenhielt, als es vermutlich gut für ihn war. „Nein! Du bist nicht Schuld daran, dass das passiert ist!“, begehrte er auf, lauter und emotionaler als beabsichtigt. „Sie haben dich dafür bestraft, dass ich ein paar Mal besser war als du, Jean. Sie haben mich zu einem Werkzeug gemacht um dir wehzutun und das ist meine Schuld, die ich begleiche!“ Die er beglich? Jean zuckte zusammen, als ihm der Sinn der Worte bewusst wurde. Deswegen spielte Knox niemals gegen ihn, bei keinem einzigen Training. Deswegen waren die Übungen zwischen ihm und Knox immer von Vorsicht und Zurückhaltung dominiert. Deswegen offenbarte Knox ihm nicht sein ganzes Potenzial. Jean knurrte unwirsch. „Du nimmst dich zurück. Wegen mir?“ „Ich will dir nicht wehtun!“, begehrte Knox auf. „Dir wurde genug wehgetan, diese Zeit ist jetzt vorbei! Und wenn die Gefahr besteht, dass ich dir damit unschöne Erinnerungen bereite, dann…“ „Nein!“ Vehement widersprach Jean seinem Kapitän, verzweifelt gar. Er wollte nicht, dass der andere Junge ihn schonte, aus einer aus seiner Sicht irrationalen Angst heraus. Das war… er würde… Jean fehlten die Worte. „Doch! Es ist meine Aufgabe als Kapitän, dich zu schützen!“ „Deine Aufgabe als Kapitän ist es, aus der Mannschaft das Beste herauszuholen!“ „Nicht zu Lasten der Spieler!“ Jean grollte. „Ich bin Schlimmeres gewohnt.“ Der Griff, mit dem Knox die ihn festhaltenden Hände umfasste, zeigte zum ersten Mal die Stärke, die dem Striker eigentlich innewohnte und etwas in Jean triumphierte dabei. „Wir sind hier aber nicht in Evermore, du sollst hier nichts Schlimmes erleben!“ Leidenschaftlich presste Knox die Worte hervor, genauso leidenschaftlich gestikulierte er mit seinen Händen in der Gefangenschaft von Jeans Fingern. Zu Lasten seines Handtuches, das nun mit einem leisen Rauschen und einem dumpfen Laut auf den Boden auftraf und wie ein Donnerschlag die darauffolgende Stille einläutete. Jean vergaß, was er hatte sagen wollen, sondern fror auf der Stelle und in der Bewegung ein. Pointiert starrte er auf den Punkt, den er als Letztes fixiert hatte, also den Wassertropfen unter Knox‘ rechtem Auge. Er wagte es nicht, sich zu bewegen, aus Angst, dass er hinuntersehen würde und alleine die Vorstellung, dass Knox gerade vollkommen nackt vor ihm stand, ließ verräterische Röte seinen Nacken hochkriechen. Dass diese natürlich nichts im Vergleich zur Röte auf Knox‘ Gesicht war, war ihm klar. Hysterische Belustigung krallte sich ihren Weg durch Jeans überreiztes Nervensystem. „Nichts Schlimmes sagst du?“, fragte er mit eben jenem Unterton der Verzweiflung, der kurz davor war, in ein Lachen zu münden. Die Situation war so surreal. Einen Moment lang stritten sie und er wagte es tatsächlich, seinem Kapitän Widerworte zu geben und im nächsten wollte er einfach nur noch lachen. Nicht über Knox, sondern über die Absurdität der Situation. Knox räusperte sich verzweifelt. „Das ist für mich gerade schlimmer als für dich, das kannst du mir glauben“, sagte er zwei Tonlagen höher als normal und Jean nickte mit festem Blick auf den Wassertropfen, der sich nun auf den Weg nach unten machte. Oh nein. Jean starrte Knox anstelle dessen in die hellen, blauen Augen. „Jean?“ „Ja?“, krächzte er. „Du hältst meine Hände noch fest. So kann ich nicht…“ Er deutete nach unten und Jean ließ wie verbrannt die Finger seines Kapitäns los, richtete seine Augen abrupt zur Decke. Er trat einen Schritt zurück und wartete mit hellwachen Ohren darauf, dass Knox ihm ein Zeichen gab, dass er sich wieder bedeckt hatte. „So.“ Langsam senkte Jean seine Augen wieder. Er holte tief Luft, kehrte zurück zu ihrem vorherigen Gespräch. „Knox, ich bin in der Lage, gegen dich zu spielen. Ich kann zwischen dir und ihm differenzieren.“ Mittlerweile. Am Anfang sicherlich nicht. „Aber dein Körper…“, begann der blonde Junge kleinlaut und Jean schüttelte entschlossen den Kopf. „…trägt die Spuren jahrelanger Folter. Aber die Wunden sind zum Großteil verheilt und weder du noch jemand anderes hier an der USC hat in den letzten anderthalb Monaten die Hand gegen mich erhoben. Im Gegenteil. Ihr alle seid…so unbedarft und freundlich, ihr seid wie nichts, was ich jemals erlebt habe. Ihr seid…“ Jean brach ab, bevor er etwas Dummes sagen konnte. „Wir sind dein Team. Deine Freunde, Jean, wenn du das möchtest“, schloss Knox das, was Jean niemals so formuliert hätte. Das machte es aber nicht unschöner. Die Sehnsucht genau danach überraschte Jean mit all ihrer Intensität. Wenn er es sich ehrlich eingestand, dann wollte er das mit allem, was er noch aufzubieten hatte. Er nickte und schluckte gegen den allzu großen Kloß in seinem Hals an. „Ich habe die Jahre in Evermore überlebt. Wozu ist das denn gut, wenn ich mich jetzt durch ein Spiel gegen meinen Kapitän ängstigen lassen würde?“, fragte er rau und erkannte, dass seine Worte endlich Gehör in Knox‘ sturer Argumentation gefunden hatten. „Ist es wirklich okay für dich?“ „Ja.“ „Würdest du es mir sagen, wenn nicht?“ Jean überlegte. Früher wäre die Antwort ein Nein gewesen. Auch das hatte sich geändert, wie so vieles. „Ja, das würde ich.“ „Versprochen?“ „Ja.“ Knox seufzte. „Wenn ich könnte, würde ich sie alle dafür zur Rechenschaft ziehen, was sie dir angetan haben.“ Seltsame Wärme breitete sich in Jeans Brust aus und er schluckte. „Riko ist tot, der Herr hat seine Mannschaft und seinen Trainerstatus verloren, wurde aus Evermore verbannt. Sie sind beide auf ihre Art und Weise bestraft worden.“ „Nicht genug. Zumindest Moriyama gehört ins Gefängnis für das, was er dir angetan hat.“ Jean schnaubte. Als wenn das jemals geschehen würde. „Das wird niemals passieren. Dafür ist diese Familie zu mächtig.“ „Ich weiß und das macht mich wütend.“ „Das…ehrt dich“, erwiderte Jean zögernd, sich seiner eigenen Worte nicht wirklich sicher. Knox lächelte. „Und weil ich nichts gegen sie tun konnte und kann, verspreche ich dir hiermit hoch und heilig, dass ich dich vor den Ravens beschützen werde, falls sie dich heute auch nur schief anschauen“, sagte er sehr mit einem derartigen autoritären Ernst, dass Jean unbewusst zusammenzuckte. Im Angesicht dessen wurde Jean sich unangenehm seiner Nacktheit bewusst und unsicher verschränkte er die Arme, rieb sich über die Oberarme. „Das ist das Mindeste, was sie heute tun werden“, gestand er schließlich ein. „Sie werden die Antwort darauf bekommen.“ Jean schwieg dazu, die Stirn stürmisch gerunzelt. Würde sein Kapitän ernsthaft so für ihn eintreten, dass es sich auf ihren Sport und die kommende Saison auswirken würde? Das war er nicht wert, ganz sicher nicht. Mal ganz davon abgesehen, dass alleine der Gedanke, jemand würde für ihn einstehen, so unvorstellbar absurd für Jean war, dass er ihn nicht wirklich zu fassen bekam. „Es macht keinen Sinn, wenn du wegen mir für die Saison gesperrt wirst“, erwiderte er und schürzte die Lippen. Knox hob die Augenbrauen und lächelte. „Das werde ich nicht, versprochen.“ „Wenn du sie schlägst, dann schon.“ Knox lachte verlegen. „Dazu müsste ich erst einmal wissen, wie man sich prügelt.“ Jean blinzelte ungläubig. „Du weißt nicht, wie man sich schlägt?“, echote er. „Du bist Kapitän eines Class I Exy Teams, Kapitän eines Teams der drei führenden Universitäten in der Liga und weißt nicht, wie man sich prügelt?“ „Nein…?“ Jean hob die Augenbraue. Blinzelte erneut. Lachte dann trocken. „Du hast dich noch nie geschlagen?“, fragte er nochmal ungläubig. „Immer noch nein…?“ „Huh.“ Jean atmete langsam aus, konnte nicht glauben, was er gerade gehört hatte. Kritisch musterte er seinen Kapitän und schüttelte schlussendlich seinen Kopf. Unsicheres Schweigen trat zwischen sie. Bevor eben jenes die Grenze zwischen unsicher und unangenehm passieren konnte, wurden sie durch lautes Klopfen an ihrer Zimmertür unterbrochen, das sie beide panisch zusammenzucken ließ. „Knox! Moreau! Wir müssen bald los, kommt in die Puschen!“, dröhnte Alvarez‘ Stimme durch die geschlossene Tür. „Wir kommen gleich!“, rief Knox zurück und Alvarez entwich ein angeekelter Laut. „Das will ich gar nicht so genau wissen, Cap!“, rief sie zurück und Jean runzelte verständnislos die Stirn. Hatte sie genau das nicht gerade gesagt? Was es auch war, sie hatte Recht, also griff er zur Hose seines Anzuges. ~~**~~ Jean hatte den ganzen Tag nichts gegessen und je näher sie dem Bankettsaal im Grand Long Beach kamen, desto erleichterter war er genau um diesen Umstand. Seine Magensäure war um ein so vieles leichter in Schach zu halten, als es jedes Frühstück jemals gewesen wäre. Mühevoll schluckte er, als der Bus, der sie durch den dichten Verkehr von Los Angeles zum Ausrichtungsort gefahren hatte, anhielt und der Rest des Teams begeistert aufsprang. Am Liebsten wäre Jean in der hintersten Ecke des Busses, in die er sich zu Beginn der Fahrt zurückgezogen hatte, sitzen geblieben und hätte gewartet, bis diese unnötige Veranstaltung ein Ende gefunden hatte. Er hasste Bankette. Riko hatte früher die Veranstaltungen dazu genutzt um ihm den Befehl zu geben, andere, unliebsame Spieler zu terrorisieren. Damit er seine Aufgabe auch bloß erfüllte, hatte er ihm vor jedem einzelnen Bankett klargemacht, dass die Strafe, die er gerade erhielt, noch viel viel schlimmer werden konnte, wenn er versagte. Und so hatte er Jostens wahre Identität vor ihm ausgebreitet, hatte ihn bedroht, mit seiner eigenen Vergangenheit und mit Minyards Wohlergehen, ihm Flugtickets in sein Verderben überreicht, für Riko andere Spieler bedroht und beleidigt… Und er war von Renee angesprochen worden. In ihrem dunkelblauen, wunderschönen Kleid, während er versucht hatte, Josten aus der Reserve zu locken. Sie hatte sich ihm ohne Angst vorgestellt, mit sanften Worten, aber Augen, die ihn vom ersten Moment an gefangen genommen hatten. Minyard war in seiner unberechenbaren Emotionslosigkeit beängstigend gewesen, aber in dem Moment, als sie ihren Blick auf ihn gerichtet hatte, hatte sein Instinkt ihn angeschrien, seine Aufmerksamkeit bloß nicht von ihr abzuwenden. Riko hatte ihm dafür im Anschluss daran den Rücken blutig gepeitscht, doch Jean hatte um nichts in der Welt den Blick von diesen wissenden und gleichzeitig latent todbringenden Augen abwenden können. Dass er nun keine Schmerzen und keine Wunden hatte, aus denen er blutete, machte die Sache nur marginal besser, wenn überhaupt, weil es gefährlich ungewohnt war. Das Team, für das er beinahe ein ganzes Jahrzehnt gespielt hatte, war nicht mehr seins. Und doch fühlte er den Zug hin nach Evermore so schwer wie zu Beginn in Abbys Haus. Jean blinzelte. Für einen Moment stimmte nichts und alles war surreal. Die Farben, die ihn umgaben, passten nicht. Die Farben, die er selbst trug, passten nicht. Die Art, wie sie in einer chaotischen Wolke den Bus verließen und ohne Ordnung das Gebäude betraten, war nicht das, was er gewohnt war. Schon gar nicht, als sie nun auf die Foxes trafen, die bereits auf sie gewartet hatten und er keinen Befehl erhalten hatte, einen ihrer Spieler zu bedrohen. Jean schluckte gegen sein wild schlagendes Herz an. Durch das Rauschen in seinen Ohren hörte er seinen Namen beinahe nicht, den Renee ihm entgegenrief, während sie ihm vom anderen Ende der Eingangshalle zuwinkte. Gerne hätte Jean die Geste erwidert, doch die Konditionierung der letzten Jahre schrie ihn an, dass er Rikos Aufmerksamkeit nicht auf sich ziehen und eine solche Geste offen erwidern durfte. Dass er keinerlei Aufmerksamkeit auf sich ziehen durfte, weil es vom Team nicht gewünscht war. Neben ihm schrie Alvarez auf und Jean zuckte zusammen, als sie losstürmte um Danielle Wilds in die Arme zu springen. Er blinzelte ungläubig, als er sich bewusst wurde, dass er kein Raven mehr war. Uniformität war unerwünscht. Die Trojans waren nicht so. Er…er…durfte… Unsicher huschte sein Blick zu Knox, der ihm zulächelte und mit erhobener Augenbraue in Richtung Renee nickte. Es brauchte seine Zeit, doch dann fasste Jean all seinen Mut zusammen und trat vor, ging ihr langsam entgegen. Sie war schneller, natürlich, selbst mit ihren High Heels, die auf dem marmornen Boden klackerten und dem dunkelblauen, engen Kleid, in dem er sie kennengelernt hatte. Ihre regenbogenfarbenen Haare trug sie offen und ihr Make-Up ließ sie noch viel engelgleicher erscheinen, als er sie von ihrem letzten Videotelefonat in Erinnerung hatte. Er lächelte, als sie vor ihm stehen blieb und ihm in die Augen sah. Als sie die Hände hob und ihm sacht über seine Wangen strich, schmiegte er sich in die Berührung, die ihm soviel bedeutete. „Hey Großer“, begrüßte Renee ihn mit Freude in der Stimme und Jean ließ alles Positive, was darin lag, ungefiltert in sich eindringen. „Hey Regenbogenmädchen“, murmelte er und bekam ein spielerisches Grollen. „Knapp zwei Monate und schon nimmst du die schlechten Eigenschaften deines Kapitäns an. Ich glaube es nicht!“ Er rollte mit den Augen und seufzte. „Komm her“, befahl sie sanft und Jean bettete gehorsam seine Stirn an ihre. Er schloss die Augen und genoss ihre Nähe, ihren Geruch, ihre Präsenz, die soviel Wärme für ihn bedeutete. Natürlich grölte und johlte ihr Team im Hintergrund. Das hatten die Foxes schon getan, als sie sich am Flughafen in der Nähe der Palmetto State University verabschiedet hatten. „Wetten sie immer noch?“, murmelte Jean. „Nachdem ihre Wette um Andrew und mich geplatzt ist, was glaubst du denn?“ Er lauschte ihrer Stimme. „Hast du sie noch nicht aufgeklärt?“ „Als ob die Idioten sich eines Besseren belehren lassen. Außerdem werde ich an Allisons Gewinnquoten beteiligt, also werde ich den Teufel tun, es zu unterbinden.“ Ein kurzes Lachen entkam seinen Lippen und er löste sich langsam von ihr, ließ seine Augen über die anwesenden Spieler schweifen. Er hob die Augenbraue, als Hemmick ihm begeistert zuwinkte und Danielle zwei Finger in den Mund steckte und anerkennend pfiff. Selbst Josten konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und wurde von Boyd mit dem Ellbogen in die Seite gestoßen. Die Zwillinge waren auch da und durch die Anzüge, die sie beide trugen, war es Jean beinahe unmöglich, den unfreundlichen von dem noch unfreundlicheren zu unterscheiden. Er tippte darauf, dass Andrew näher an Josten stand, sicher war er sich dessen aber nicht. Reynolds und Day waren die Einzigen, die sich in dem ganzen Zirkus zurückhielten. Er wandte sich wieder an Renee. „Irgendwelche Tipps, wie ich die Minyards auseinanderhalte?“, fragte er mit einem gequälten Gesichtsausdruck und sie lachte. „Ausprobieren.“ „Du bist grausam.“ „Das weißt du doch.“ Jean seufzte. Sein Team war verdächtig still und er wagte einen kurzen Seitenblick auf die Trojans, die allesamt nur eine Blickrichtung kannten. Seine. Er war im vollen Fokus ihrer aller Aufmerksamkeit, insbesondere von Knox und Laila, die ihn beide mit breiten Grinsen auf ihren Gesichtern anstarrten. „Könntest du sie auch so aus der Fassung bringen, wenn wir gegen euch spielen? Das wäre sehr hilfreich“, grinste Renee in seinem Rücken und Jean fuhr mit großen Augen zu ihr herum. „Aus der Fassung bringen?“ „Na, anscheinend haben sie gerade einen Geist gesehen.“ Jean verzog unwirsch die Lippen. „Hey, wollen wir uns noch an die Bar setzen? Wir haben noch ein bisschen Zeit, bis die anderen Mannschaften eintreffen!“, rief Knox in den Raum und erntete begeisterte Zustimmung. Erst, als die meisten Spieler die Eingangshalle verlassen hatten, folgte Jean ihnen und es war natürlich Day, der auf ihn wartete. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war vorsichtig, als würde er sich einem gefährlichen Tier nähern. Natürlich… denn Jean war nie etwas Anderes als ein Tier für Day gewesen. Gut genug, um ihm die Flucht vor Riko zu ermöglichen, ihn solange abzulenken, bis Day seine Sachen hatte packen und fliehen können. Ohne ihn, im vollen Bewusstsein, dass Riko ihn dafür leiden lassen würde. „Jean. Ich bin…“, begann Day zögerlich und ihm entwich ein Laut irgendwo zwischen einem Grollen und Zischen. Wie immer war es Hass, der ihn zuverlässig beim Anblick von Days reuemütigem Gesicht überschwemmte. „Spare es dir, Day. Ich will es nicht hören“, spie er ihm verächtlich vor die Füße. Der andere Junge wollte noch etwas sagen, doch Jean folgte seinem Team und Renee ohne ein weiteres Wort an die Bar. ~~**~~ Vorsichtig ließ sich Jean neben Renee an dem kleinen Tisch nieder, den sie abseits der anderen Spieler ihrer Mannschaften in der kleinen Bar ergattert hatte. Immer noch hatte er mit dem Gedanken zu kämpfen, dass er sich bei einer solchen Veranstaltung auf eigenen Wunsch viel zu weit von seinem Kapitän entfernt hielt, weil dieser seine Anwesenheit nicht einforderte. So huschten seine Augen immer wieder zu Knox und damit zwangsweise auch zu Day, der sich mit seinem Kapitän unterhielt. Der Anblick verursachte Jean Übelkeit und er konzentrierte sich letzten Endes vollständig auf Renee, die geduldig und aufmerksam neben ihm saß. „Wie geht es dir?“, fragte sie, während sie an ihrem Drink nippte, den sie sich an der Bar geholt hatte und nun auf dem kleinen Glastisch abstellte. Jean hingegen rührte sein Wasserglas nicht an. „Ich bin nervös.“ „Wegen deiner alten Mannschaft?“ Wie immer umschiffte sie den Namen der Ravens, als wäre er etwas Böses, das nicht beschworen werden durfte. Wenn es so einfach wäre, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen, dann würde Jean das mit Freuden ebenfalls tun. Doch sie atmete ihm in den Nacken, jetzt mehr denn je. „Ja.“ Sie legte sanft ihre Hand auf seine verkrampfte. „Sie werden nicht an dich herankommen.“ Jean erkannte den Ernst hinter dem Versprechen, er erkannte jenen eisernen Willen, mit dem sie sich ihm damals vorgestellt und mit dem sie ihn halbtot aus Evermore entführt hatte. „Danke.“ „Nicht dafür.“ Renee nutzte das aufkommende Schweigen für einen weiteren Schluck. „Wie geht es dir mit Captain Sunshine?“ Jean verzog nachdenklich die Lippen. Wie ging es ihm mit Knox? „Er irritiert und überrascht mich mit seinem Verhalten. Ich habe nicht die gleiche Angst vor ihm wie bei meiner Ankunft und oftmals habe ich gar keine mehr. Er nimmt sich Zeit und albert herum. Und ich habe ihn heute Morgen zum Weinen gebracht.“ „Wieso denn das?“, fragte sie sanft und er seufzte. „Er hat heute meine Narben gesehen.“ „Oh?“ „Ich war nachlässig und habe nicht gehört, dass er mit dem Singen unter der Dusche aufgehört hat.“ „Er singt?“ „Öfter. Aber immer schief.“ Renee schmunzelte, dann wurde sie wieder ernst. „War es schlimm für dich, dass er sie gesehen hat?“ „Er hat geweint“, wiederholte er. „Das beantwortet meine Frage nicht, Jean.“ Nein, das tat es tatsächlich nicht. Aber Jean hatte auch nicht wirklich eine Antwort darauf. Auf der einen Seite war er immer noch erschüttert von ihrer Begegnung. Er fühlte sich ebenso entblößt wie er sich sichtbar fühlte. Gesehen. Erkannt. Das, was ihm angetan worden war, lag nicht mehr im Dunkeln, versteckt unter langer Kleidung. Jemand hatte darauf reagiert und so sehr sich Jean das über die Jahre hinweg gewünscht hatte, so wusste er nun wenig damit anzufangen, dass Knox für ihn geweint hatte. Er verstand es nicht. „Ich bin mir noch nicht sicher“, erwiderte er entsprechend wahrheitsgetreu und sie nickte. „Er ist eine gute Seele.“ Jean griff zu seinem Wasserglas und hielt es zwischen seinen krummen Händen. „Er sagt, der Herr gehört ins Gefängnis dafür.“ Renee nickte. „Da hat er Recht. Moriyama hat jede Strafe verdient.“ Nicht sie auch noch. Jean seufzte. „Ich war am Strand“, lenkte er vom Thema ab und sie ließ ihn. In Anerkennung der Bedeutung seiner Worte nickte Renee. „Wie war es für dich?“, fragte sie ruhig. „Es war…nicht so schlimm wie erwartet.“ „Warst du freiwillig da?“ Jean nickte. „Sie zwingen mich zu nichts. Es ist anders als in Evermore.“ „Sie sind gute Menschen.“ „Sie spielen Gesellschaftsspiele auf dem Dach ihres Hauses.“ „Cool!“ „Sie essen zusammen. Jeden Tag.“ „Auch cool!“ „Sie liegen während ihrer Kurse zusammen im Schatten der Bäume auf dem Campus.“ „Ich bin ein bisschen neidisch. Machen nur sie das oder bist du auch mit dabei?“ „Letzteres.“ Jean zögerte. „Und ich war joggen. Mit Knox. Am Meer.“ Renee sagte nichts dazu, sondern strich ihm sacht über den Oberarm. „Das sind großartige Dinge, Jean.“ Jean wollte zu einer Antwort ansetzen, als er aus seinem Augenwinkel heraus einen schwarzen Schatten sah. Alle Entspannung, die er bis gerade sein Eigen nennen durfte, war mit einem Mal verschwunden, als es tatsächlich Ravens waren, die nun die Bar betraten. Schwarz in Schwarz, eine einzige Masse, die abrupt den ganzen Raum einnahm und ihm das Atmen zur Qual machte. Verzweifelt umfasste er sein Glas, das, wenn er so weitermachen würde, unter dem Druck seiner Finger zerbrechen würde. Er zuckte regelrecht zurück, als Renee es ihm aus den Händen nahm und sacht abstellte. Er fing ihre Finger ein und hielt sie bei sich, aus der irrationalen Versicherung heraus, dass sie ihn erneut vor dem Team schützen und in Sicherheit bringen würde, bevor sie ihn umbringen konnten. Doch all diese Angst war nichts im Vergleich zu dem Moment, in dem sie ihn sahen und sich all ihre Blicke auf ihn richteten. Einige Gesichter kannte er nicht, ein paar aber schon. Engle, Jenkins, Williams, Reacher und Johnson, konnte Jean ihre Namen wie im Schlaf aufzählen. Williams nickte seiner Mannschaft kurz zu und gemeinsam kamen sie auf ihn zu. ~~**~~ Jeremy hatte sich angeregt mit Kevin über neue Spielzüge und Strategien unterhalten, als er aus dem Augenwinkel heraus sah, wie Jean mitten im Gespräch mit Renee einfror. Er hatte immer wieder ein Auge auf seinen Backliner und die Umgebung, um notfalls eingreifen zu können, wenn etwas passierte. Wenn die Ravens ankommen und versuchen würden, Jean unter Druck zu setzen. Was sie jetzt taten. Jeremy wunderte das gemeinsame Auftauchen nicht. Schon seit die Edgar Allan die richtigen Leute bestochen hatte, um unter fadenscheinigen Gründen in ihren District zu wechseln, war das uniforme schwarz-in-schwarz Bild, was die Mannschaft abgab, nichts Neues. Die Disziplin, die er vorher immer bewundert hatte und die ihn zu einem großen Kevin Day-Fanboy gemacht hatte, war ihm nun zuwider, weil er wusste, welche Konsequenzen sie mit sich gebracht hatte. Die Jungs und Mädchen in Schwarz waren keine starke Mannschaft, sie waren eine Sekte und niemand konnte ihm sagen, dass keiner von ihnen den Missbrauch an Jean nicht mitbekommen hatte. Etwas, über das er mit Kevin heute auch noch sprechen würde. Jeremy stand auf und warf einen Blick in Kevins Gesicht um sich zu entschuldigen, als er sah, dass auch er erstarrt war und bleich in Richtung Ravens starrte. Jeremy seufzte innerlich. „Ich bin gleich wieder da“, murmelte er und ging den Ravens entgegen, stellte sich zwischen ihn und dem Tisch, an dem Jean und Renee saßen und Jean ein einziges Sinnbild von Angst war. „Hi, Jeremy Knox“, lächelte er und streckte Samuel Williams, dem neuen Kapitän der Ravens, seine Hand entgegen. Dessen Augen wechselten von Jean auf ihn und maßen ihn und seine ausgestreckte Hand mit einer derartigen Verachtung, dass es Jeremy eiskalt den Rücken herunterlief. Es schien wie ein billiger Abklatsch von Rikos über allem stehender Arroganz und das machte es noch viel schlimmer. „Geh mir aus der Sonne, Trojan“, troff Spott aus jeder Pore und Jeremy dachte nicht daran, seine Hand zu senken. „Ich nehme an, du hast den Kapitänstitel von Riko Moriyama geerbt“, erwiderte er so freundlich, als hätte Williams nichts gesagt. Er würde nicht zulassen, dass diese Sadisten Jean zu nahe kamen und ihn ängstigten. „Selbst wenn, geht’s dich nichts an, Blondchen. Verpiss dich aus meinem Weg, ich will zu meinem Backliner.“ Selbst die letzten Gespräche in der Bar erstarben bei den Worten des Strikers und tauchten den Raum in unwirkliche Stille. Jeremy hingegen büßte keinen Millimeter seines Lächelns ein. „Dann hast du die falsche Richtung gewählt. Deine Backliner stehen hinter dir und tragen schwarz. Hinter mir sehe ich nur die Torhüterin der Foxes und meinen Backliner.“ Dass seine Worte den anderen Jungen wütend machten, erkannte Jeremy, noch bevor dieser einen Schritt auf ihn zutrat und somit in seine Reichweite kam. Wütend schlug dieser seine Hand weg und sah an ihm vorbei zu Jean, den Jeremy hinter sich wusste. „Dein Backliner?“, sagte er zu Jean. „Dir gehört hier gar nichts. Nummer drei in all seiner feigen, abtrünnigen Glorie gehört uns. Er gehört den Ravens und wir werden nicht tolerieren, was für eine Scheiße hier abgezogen wird.“ Ruhig blieb Jeremy stehen, auch wenn er aus dem Augenwinkel sah, dass Alvarez und Ajeet langsam, aber zielstrebig zu ihm kamen. „Das ist richtig, Jean gehört mir nicht. Er gehört nur sich selbst und ihr hattet, um damit zu beginnen, nie einen Besitzanspruch an ihm“, erwiderte Jeremy und ließ etwas von eben jener Autorität in seine Stimme einfließen, die er als Kapitän innehatte. Seine Freundlichkeit behielt er bei. „Das sehen wir anders und jetzt verzieh dich. Wir wollen mit Nummer drei ein paar Worte wechseln.“ Williams versuchte, sich an ihm vorbei zu drängen, doch es war Ajeet, der ihm nun mit seinem großen, breitschultrigen Körper den Weg verbaute. „Du hast unseren Kapitän gehört, Ex-Nummer neun. Nummer drei bin ich, Williams, und ich habe kein Interesse, mit einem Arschloch wie dir zu reden“, schaltete sich ebenso Alvarez ein und Jeremy wurde sich bewusst, dass sein Vizekapitän mehr Ahnung darin hatte, sich zu prügeln als er. Nicht, dass er es zulassen würde, dass sie den ersten Schlag führte. Wenn, dann würde Williams die Sperre kassieren. „Du dummes Stück Sch…“ „Was ist hier los?“, donnerte eine durchaus unerfreute und befehlsgewohnte Stimme durch Williams‘ Worte und Jeremy sah erfreut an den Spielern in schwarz vorbei. Coach Rhemann stand am Eingang zur Bar und bahnte sich nun einen Weg durch die Reihen der Ravens bis zu ihnen. „Coach“, grüßte Jeremy mit knappen Nicken. Es wunderte ihn nicht, dass er nur eine hochgezogene Augenbraue erhielt. „Der neue Kapitän der Ravens scheint noch nicht zu wissen, dass Jean nicht mehr zu seinem Team, sondern zu unserem gehört und besteht darauf, dass er ihn bedrohen kann.“ Rhemann bedeutete Ajeet, zurück zu treten und wandte sich an den Raven. „Ist das so, Williams?“, fragte er wütend nach und der Junge schwieg eisern. „Ich habe dir eine Frage gestellt.“ „Das ist eine Sache zwischen Nummer drei und uns, Rhemann.“ Jeremy rollte mit den Augen. Williams wusste wirklich nicht, wann es gut war. „Und wenn du deinen Arsch und die Ärsche deines Teams nicht sofort hier rausbewegst, dann ist das eine Sache zwischen euch und dem Sicherheitsdienst, der euch vom Bankett ausschließen und euch in den Flieger zurück nach West Virginia setzen wird. Also?“ Für einen Moment sah es so aus, als würde sich Williams verweigern und Jeremy gönnte ihm jede einzelne Konsequenz seines Handelns. Doch dann drehte er sich abrupt zu seiner Mannschaft und verließ ohne einen weiteren Kommentar die Bar. Jeremy atmete erleichtert auf. „Danke, Coach“, sagte er, als die Ravens außer Sichtweite waren und die Gespräche im Raum wieder langsam zur Normalität zurückkehrten. Rhemann nickte und gemeinsam drehten sie sich zu Jean um, der Renees linke Hand eisern umfasst hatte und sie beide nun bleich mit großen Augen anstarrte. „Alles in Ordnung, Moreau?“, fragte ihr Trainer und Jean nickte mit bleichem Gesicht und großen Augen. „Kann ich dich bei Knox lassen?“ Wiederum nickte Jean und Rhemann schnaubte. „Gut, dann knöpfe ich mir jetzt den Trainer der Ravens vor, damit das nicht noch einmal vorkommt.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich um und verließ ebenfalls die Bar. Jeremy setzte sich auf den freien Platz neben Jean und lotste dessen Aufmerksamkeit zu sich. „Hey, alles klar?“, fragte er nochmal und erhielt tatsächlich ein Kopfschütteln. „Sie werden mich zurückbringen“, flüsterte Jean beinahe unhörbar, den Blick nun starr auf den leeren Durchgang zum Eingangsbereich gerichtet. Er zitterte am ganzen Körper und die Verzweiflung in Jeans Stimme schmerzte Jeremy. „Nein, Jean, nein. Sie werden dich nicht mitnehmen, wir lassen sie nicht“, erwiderte er fest und nahm seine linke Hand barg sie in seiner eigenen. Knapp lächelte er Renee zu, deren zustimmendes Nicken ihm eine Versicherung war, dass er sich auf dem richtigen Weg mit Jean befand. Langsam wandte Jean ihm den Kopf zu. „Gegen den Herrn kommt niemand an. Er bestimmt, was geschehen wird.“ Jeremy schüttelte den Kopf. „Den Herrn gibt es nicht mehr. Er ist nicht mehr der Trainer und du hast einen Vertrag mit uns unterschrieben. Dein alter Vertrag gilt nicht mehr.“ Es schien, als würde dieses Wissen erst jetzt in Jean einsickern und ein Schaudern durchlief seinen Körper. „Du behältst mich?“, fragte er und es zerriss Jeremy schier das Herz. Er konnte Jean nicht behalten, weil Jean ihm nicht gehörte, doch diese Diskussion würde dem anderen Jungen gerade rein gar nichts bringen. „Ich gebe dich nicht her“, sagte er anstelle dessen ernst, weil es das war, was Jean gerade brauchte, auch wenn alles, aber auch wirklich alles, in Jeremy sich dagegen wehrte. „Wir geben dich nicht her. Du gehörst zu unserem Team.“ Die Hoffnung in den grauen Augen tat weh, aber es war Hoffnung. Wenigstens. „Williams ist ein Arschloch. Er will dich nur ängstigen, ohne dass etwas dahintersteckt. Und wenn er so weiter macht, werden die Ravens noch vor Ende dieses Abends von der Veranstaltung fliegen.“ Jean tat einen vorsichtigen, zittrigen Atemzug. „Williams war schon immer ein Arschloch“, erwiderte er und Renee schnaubte amüsiert. „Gibt es einen aktiven Raven, der keins ist?“ Stumm schüttelte Jean den Kopf und Renee hauchte ihm einen Kuss auf die Hand, die sie hielt. „Wir sind hier, Großer. Die Sitzordnung hat unsere beiden Mannschaften weit weit weg von den Ravens platziert. Sollen die sich mit Breckenridge auseinandersetzen, da sind die ätzenden Mannschaften zusammen. Und für den Rest gilt, dass immer jemand von uns bei dir sein und dich beschützen wird.“ Jeremy schauderte unwillkürlich ob dem eisernen Unterton, der Renees Worte begleitet hatte. Er passte absolut nicht zu ihrem Aussehen und zu ihrem beinahe engelsgleichen Gesicht. Ihre Augen gaben ein Versprechen, das einen derart dunklen Unterton hatte, dass ihm das Blut in den Adern gefror. Er konnte den nicht genau beziffern, aber er war sich sicher, dass er diese junge Frau niemals gegen sich haben wollte. ~~**~~ Nur langsam beruhigte sich Jeans brachial schnell schlagendes Herz und ersetzte Angst und Panik vor einer Rückkehr in die dunkle Kälte Evermores und damit endloses Leiden und nie endende Folter durch Vertrauen in Knox‘ Versprechen. Er hatte Williams schon als Raven gehasst und war nur durch Rikos schlussendliche Langeweile davor bewahrt worden, dass auch der Striker ihn vergewaltigte. An Williams eigenem Willen hatte es jedenfalls nicht gemangelt, so war er als Ausgleich immer zur Stelle gewesen, wenn Riko eine helfende Hand bei seinen Bestrafungen gebraucht hatte. Jean empfand Wut und Hass gegen den Jungen und verspürte jetzt, wo die unmittelbare Angst verschwunden war, einen nicht zu geringen Drang, ihm das Gesicht zu Brei zu schlagen. Zu einem blutigen, leblosen Brei. Doch das lohnte sich nicht, denn sein Verhalten würde auf die Trojans zurückfallen. Es würde dem makellosen Ruf der Mannschaft schaden und sie vermutlich sogar den Day Spirit Award kosten. In ein paar Tagen musste sich Jean damit nicht mehr beschäftigen, so würde er Williams tatsächlich so gut er konnte ignorieren. Wen er nicht ignorieren konnte, war Day, der durch welchen dummen Zufall auch immer direkt vor ihm platziert worden war. Renee hatte nicht gelogen, als sie gesagt hatte, dass sich die Foxes und die Trojans direkt gegenüber voneinander befanden. Links neben Jean saßen Alvarez und neben ihr Laila, rechts von ihm Knox, Ajeet und Fahima. Neben Day saß links Renee und rechts Josten mit Minyard an seiner Seite, neben ihm Hemmick und der andere Minyard. Die Nähe zu Day und zu Josten legte die Vermutung nahe, dass es sich bei dem mittleren Zwilling um Andrew handelte. Jean sah pointiert zu Renee und versuchte Day und seine sinnlosen Versuche, mit ihm in Kontakt zu treten, auf ein Minimum zu reduzieren. Er war noch nicht in der Lage, sich an den Diskussionen rund um Exy, die Vorzüge und Nachteile der jeweiligen Universitäten, oder generell Dingen, die Jean nichts sagten, zu beteiligen, doch er entspannte sich zumindest so weit, dass er eine der Wasserflaschen, annehmen konnte, die Minyard für ihren Tisch besorgt hatte. Josten, Day, sich selbst und, wie er nun erkannte, auch Knox und ihm. Ungerührt öffnete Jostens Freund mithilfe seines Besteckes den Kronkorken und mit Hilfe seines Kapitäns tat Jean es ihm gleich. Ohne Regung ließ er die üblichen Ansprachen über sich hinwegwaschen, die ihnen eine gute und sportlich faire Saison wünschten und den Zusammenhalt der Liga beschworen. Zusammenhalt…dass Jean nicht lachte. „Josten“, war es Alvarez, die bei der Vorspeise die Aufmerksamkeit des Strikers ungeniert auf sich zog. „Auf wen konzentrierst du eigentlich jetzt dein schändliches Maul, jetzt, wo Riko tot ist?“ Day zuckte zusammen, ebenso wie Jean selbst und ungläubig starrte Jean seinen Vizekapitän an. Jostens Lachen ließ seinen Kopf wieder herumschnellen und er fragte seinen ehemaligen Partner stumm, ob er den Verstand verloren hatte. „Vielleicht auf dich, Alvarez?“, gab er zurück und sie lachte laut. „Dann lass mich nicht unnötig warten, Kleiner!“ Minyard rollte mit seinen Augen und für einen Augenblick lang hielt er Jeans Blick. „Kevin, seid ihr schon vorbereitet für euer erstes Spiel nächstes Wochenende?“, fragte Knox neben ihm und Jean starrte auf seinen Teller und das Essen, dessen Geruch sich ihm verlockend genug entgegenschlängelte, dass er in Erwägung zog, einen Bissen zu nehmen. Die Foxes spielten auswärts gegen die Belmonte Terrapins, ein Spiel, das sie leicht für sich entscheiden würden. „Wie immer nicht so sehr, wie wir es sein könnten“, erwiderte dieser mit einem Seitenblick auf Minyard und Hemmick. Renee lachte. „Ich bin mir sicher, dass ihr eure sehr guten Leistungen vom letzten Jahr noch toppen werdet, allerdings werden wir euch die Meisterschaft abjagen. Wir haben eine sehr gute Mannschaft und mit Jean werden wir euch in der Defensive die Hölle bereiten. Josten und Day werden noch in der ersten Halbzeit weinen.“ Knox grinste, während er das sagte und normalerweise hätte Jean dem mit einem gewissen Gefühl der Befriedigung, Josten daran zu hindern, Tore zu machen, zugestimmt. Nun aber hob er seine Augen und begegnete Minyards Blick, der vielsagend auf ihm ruhte. Nein, die Trojans würden ihn zum Spiel gegen die Foxes nicht mehr haben. „Als wenn Andrew und ich euch Tore machen ließen“, schaltete sich Renee ein und Jean hob die Augenbraue. Auch wenn das Training der Trojans zuweilen eine Katastrophe war, so waren die Striker aus Los Angeles doch durchaus dazu in der Lage, die Foxes nass zu machen. Wenn sie genug trainierten. Und kein ganzes Spiel durchspielten, verdammt nochmal. „So gerne ich dich auch sonst in jeder horizontalen Lebenslage reinlassen würde, wirst du auf dem Spielfeld nicht durch meine Verteidigung kommen“, flirtete Hemmick ungeniert mit seinem Kapitän und Jean verschluckte sich prompt an dem Bissen Salat, den er gerade zu sich genommen hatte. Der andere Zwilling, Aaron, machte angewiderte Würggeräusche, während Alvarez ihr Bier vor Lachen fast über den Tisch spuckte. „Nicky!“, tadelte Wilds ihn und Jean senkte seinen Blick um das Lächeln zu verbergen, das seine Lippe hochzuziehen drohte. Mittlerweile wusste er, dass Hemmick wild in einen Deutschen namens Erik Klose verliebt war und dass von ihm keine Gefahr ausging. Wenn sich dann noch dessen Flirtversuche auf jemand anderen konzentrieren, war es gar nicht mal so unwitzig. „Nimmst du den Mund nicht ein wenig zu voll für jemanden, den ich in der letzten Saison in jedem Zweikampf umlaufen habe?“, grinste Knox gutmütig und Hemmick lehnte sich vor, stützte seinen Ellbogen auf den Tisch und legte sein Kinn auf die Hand. „Ich nehme meinen Mund immer zu voll, dafür schlucke ich dann ordentlich“, wackelte er mit seinen Augenbrauen und Jean richtete während des aufbrandenden Protestes des gesamten Tisches seine Augen gen pompös geschmückter Decke. Er nahm seine Einschätzung von vorhin zurück. Das war nicht witzig. Nein. ~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 20: Die Kunst des Krieges --------------------------------- Wie gut die Spieler beider Mannschaften miteinander harmonierten, wurde Jeremy während des Hauptgangs bewusst. Komplimente wechselten sich nahtlos mit wenig ernstgemeinten Beleidigungen ab, gemeinsame Interessen mit angeregten Diskussionen über Spielzüge in ihrer Liga. Von der Bösartigkeit anderer Mannschaften war an diesem Tisch nichts zu spüren und Jeremy war froh, dass er den Abend mit ihnen allen verbringen konnte. Seinem Team ging es da nicht anders und entspannt verwickelten sie die Foxes in Gespräche oder ließen sich selbst verwickeln. Sogar Jean, der einzig Kevins Versuche, ihn anzusprechen, ignorierte. Mit Renee aber auch mit Josten hatte er da weniger Probleme, auch wenn Jeremy durchaus das eine oder andere Mal die Augenbrauen gehoben hatte bei ungeschönten Wahrheiten, die der rothaarige Junge und sein Backliner sich gegenseitig um die Ohren schlugen wie zwei Brüder, die nicht miteinander, aber eben auch nicht ohne einander konnten. Mit ihm sprach Jean nie so und Jeremy wusste nicht, ob er das schade finden oder ob er erleichtert sein sollte. „…deine Fähigkeiten als Backliner waren und sind mittelmäßig und nicht der Rede wert“, schloss Jean seine brutal ehrliche Kritik am letzten Spiel der Foxes gegen die Ravens und Jeremy zuckte innerlich wie äußerlich zusammen. Definitiv war es Erleichterung, dass er nicht am empfangenden Ende dieser Kritik war, die Neil anscheinend überhaupt nichts ausmachte. „Der Schüler kann nur so gut sein wie sein Lehrer“, hielt dieser vollkommen entspannt, jedoch mit einem bissigen Unterton dagegen. Jean schnaubte. „Deine Beinarbeit war nachlässig, deine Körperspannung die eines Anfängers und deine Bewegungskoordination hat vermuten lassen, dass du betrunken warst, als wir zusammen trainiert haben.“ „Deine Beinarbeit war so nachlässig wie die Übungen, die du mit mir geübt hast“, schoss Josten zurück und Jeremy sog die Informationen in sich auf wie ein Schwamm. Er wusste, dass Riko Moriyama Neil Josten über den Winter zum Training nach Evermore eingeladen hatte. Dass Jean sein Partner gewesen war, war ihm bisher nicht bewusst gewesen. Jeremy blinzelte. „Als wenn du zugehört hättest.“ „Wenn du nicht wie Kevin gekeift hättest, dann wäre das vielleicht möglich gewesen.“ Jeremys Blick richtete sich auf eben jenen, dessen schweigende Missbilligung und Verzweiflung über den Vergleich nur zu deutlich sichtbar war. Abrupt erhob er sich und noch im gleichen Moment legte Jeremy seine Serviette zur Seite. Er wandte sich an Jean, dessen Blick eisern auf den Tisch gerichtet war. „Ist es okay, wenn ich dich für einen Moment alleine lasse?“, fragte er und Jean nickte ohne ihn anzusehen. Jeremy erhob sich und ging Kevin nach. Auf dem Weg zum Außenbereich der Location holte er sich zwei alkoholfreie Bierflaschen und kam langsam zur Brüstung, an der sich Kevin festhielt, als würde sein Leben davon abhängen. Mit schmerzvoll verzogenem Gesicht starrte er auf den rot leuchtenden Sonnenuntergang und Jeremy nahm sich einen Moment Zeit, Kevins wunderschönes, attraktives Profil zu betrachten, bevor er ihm wortlos eine der beiden Flaschen reichte und die andere selbst öffnete. „Dein Spielzug mit Josten im Spiel gegen Breckenridge war krass. Ich schaffe es bis heute nicht, deine Schrittfolge mit meinem Schläger und meiner Armkoordination zu verbinden“, lenkte er sie beide vom Offensichtlichen ab und Kevin entkorkte die Flasche. Schweigend trank er zwei Schlucke. „Danke“, deutete er auf das Bier und verzog das Gesicht. „Dafür könnte ich mir stundenlang deine Koordination und Schnelligkeit anschauen, mit der du die Bälle passt und die gegnerische Verteidigung nass machst in jedem einzelnen, verdammten Spiel.“ Jeremy lachte. Kevin hatte das schon so oft gelobt, aber jedes Mal wieder bescherte es ihm rote Ohren. „Gerüchte besagen, dass die Nationalmannschaft dein Talent sehr genau beobachtet“, erläuterte Kevin weiter und das war neu. Überrascht sah Jeremy zu ihm. Wer, wenn nicht Kevin, der bereits Teil der Nationalmannschaft gewesen war, bevor er wegen seiner Hand ausgefallen war, hätte die entsprechenden Verbindungen, um diese Art von Gerüchte aufzuschnappen. „Wenn du dich weiter so steigerst wie bisher, werden sie vermutlich in den nächsten drei Jahren auf dich zukommen.“ Wow. Jeremy schluckte. Wow. Das war… wow. Damit hatte er niemals gerechnet, das hatte er noch nicht einmal gehofft, als er mit dem Sport zuhause angefangen hatte. Sie beobachteten ihn, obwohl er noch im College war und erst nächstes Jahr fertig war. Das war eine Ehre und ein Druck sondergleichen. Doch mit letzterem konnte er umgehen. Es war ein Ansporn für ihn, noch besser zu werden. Glücklich grinste Jeremy und stieß Kevin mit seiner Schulter an. „Dann können wir endlich zusammen und nicht gegeneinander auf dem Feld stehen. Gefällt mir.“ Kevin schnaubte. „Ich muss mich erst wieder beweisen.“ Jeremys Strahlen verlor etwas an seiner Intensität. „Wegen deinem Handwechsel.“ Der andere Junge nickte knapp und trank einen Schluck. „Sie sagen, ich bin wieder auf einem guten, vielversprechenden Weg.“ Nachdenklich kamen Jeremys Augen auf der durch Riko zerstörten Hand zum Ruhen. Sie war nicht ganz gerade und die Narben auf ihr sprachen von Operationen, die dazu gedacht gewesen waren, sie wieder bestmöglich zu richten. Sacht legte Jeremy seine Hand über Kevins. „Das freut mich für dich. Ich bin mir sicher, dass du das packst. Wer, wenn nicht du, hat einen Anspruch auf einen Platz?“ Grüne Augen maßen ihn durchdringend. „Weil meine Mutter diesen Sport erfunden hat? „Nein!“ Jeremy knurrte gutmütig und löste seine Hand wieder. „Weil du der beste Spieler bist, den ich kenne. Und weil ich tage- und nächtelang damit verbracht habe, deine Bewegungen zu kopieren, Bälle von A nach B zu schlagen und mir meinen Schlaf zu rauben, in dem ich mehrfach jedes einzelne deiner Spiele geschaut und deine Spielzüge imitiert habe. Ich habe die Zusammenstellung der Videos heute noch.“ Er überraschte Kevin und brachte ihn damit zum Lächeln. „Ich habe deine Spiele auch alle gesehen, Captain Sunshine. Auch mehrfach. Ich habe eine Playlist mit deinen besten Spielzügen und Ausschnitten aus deinen Pressekonferenzen und deinen Interviews.“ „Oh Gott!“ Jeremy warf den Kopf in den Nacken und lachte befreit. „Du bist wie Alvarez… die hat das Ganze von Neil Josten, weil sie so ein derartiges Fangirl von seiner großen Klappe ist. Sie hat sogar eine Best Of und ich möchte wetten, dass sie sich gerade mit Neil darüber unterhält.“ Kevin rollte mit den Augen. „Bitte nicht. Josten kann schon jetzt nicht an sich halten. Wenn er darin auch noch bestärkt wird, dann…“ „Hmm. Das könnte jetzt schon zu spät sein.“ Jeremy erntete ein Grunzen für seine Worte und lehnte sich an das Geländer. Er genoss die Nähe und die Gegenwart des Foxes sehr, auch wenn ihm noch Fragen unter den Nägeln brannten, die ihre gelassene Stimmung ganz sicher zerstören würden. Als wenn Kevin seine Gedanken gelesen hätte, schlug er genau das Thema an. „Wie geht es ihm?“, fragte er leise. Jeremy musste nicht fragen, wen er meinte. Die Frage an sich hatte es in sich. Ja, wie ging es Jean? Jeremy fiel auf, dass er sie Jean so direkt noch nie gestellt hatte. Er war eher damit beschäftigt gewesen, es dem Ex-Raven recht zu machen und anhand von seinen Worten und seiner Mimik herauszufinden, wie es ihm ging. „Ich denke, er ist nicht mehr ganz so zurückhaltend wie bei seiner Ankunft. Er hat Kontakte zum Team geknüpft und hat, nachdem wir darüber gesprochen haben, sogar den Mut gefasst, Verbesserungsvorschläge für unser Training zu machen. Seitdem lassen wir Ravendrills, die zu uns passen, dort einfließen, wer hätte das gedacht.“ Jeremy lachte über den perplexen Ausdruck auf Kevins Gesicht. „Ja, hätte ich auch nicht für möglich gehalten. Aber keine Sorge, wir werden jetzt nicht anfangen, schmutzig zu spielen.“ Der andere Junge schnaubte. „Hast du ihn jemals nackt gesehen?“, fragte Jeremy und das Zusammenzucken war ihm Antwort genug auf seine Frage. Kevins Nicken war da nur Bonus. „Gestern habe ich das auch. Eher durch Zufall, denn bisher war er immer peinlich darauf bedacht, die Narben vor dem Team und mir zu verbergen. Er hat Schreckliches durchgemacht“, formulierte Jeremy es nicht als Frage. Wieder nickte Kevin stumm, bevor er seine freie Hand um das Geländer krampfte. „Der Herr und Riko haben ihm übel zugesetzt und zusetzen lassen.“ „Wie dir und deiner Hand auch.“ Kevin schluckte schwer. „Das weißt du?“ „Er hat es erzählt.“ „Auch wie es dazu gekommen ist und wie er es getan hat?“ Jeremy schüttelte den Kopf. „Riko hatte eine Vorliebe für Gewalt und er war unberechenbar, wenn er wütend war.“ „So wie bei Neil, als er versucht hat, ihm den Schädel einzuschlagen?“ „Exakt.“ Seufzend wandte Jeremy dem Meer seinen Rücken zu um Kevin direkt in die starren Augen schauen zu können. „Wieso hat niemand eher eingegriffen? Hier geht es um jahrelangen Missbrauch.“ Kevin schnaubte erneut selbstzynisch, bitter und verächtlich. „Weil es niemanden interessiert hat, solange das Team die Anforderungen erfüllte. Es hatte ja auch niemand Zutritt zu Evermore, nicht einmal der Präsident der Universität. Der Herr konnte schalten und walten, wie er wollte. Bestrafen, wie er wollte. Riko konnte das machen, was er wollte.“ „Aber du bist entkommen.“ „Ich bin erst gegangen, nachdem er mir die Hand zertrümmert hat. Vorher habe ich all das ertragen, was er getan hat. Und…“, Kevin stockte und schloss die Augen. Er atmete tief durch, als müsse er sich Mut machen für das, was kommen würde. „…ich war dabei, als er Jean wieder und wieder bestraft hat und ich habe nichts gemacht aus Angst heraus, dass er mir etwas antun würde.“ Jeremy ließ sich die gepeinigten Worte durch den Kopf gehen. „Als du gegangen bist, warum hast du ihn nicht mitgenommen?“ Die Möglichkeit wäre doch da gewesen, oder? Wenn Kevin hatte fliehen können, dann hätte er Jean doch mitnehmen können, oder? Die ehemals zertrümmerte Hand ballte sich zur Faust. Es gelang Kevin nicht ganz. „Als Riko das gemacht hat… da hat er sich geweigert, meine Hand von einem Spezialisten versorgen zu lassen. Er hat sich geweigert, sie überhaupt versorgen zu lassen. Jean hat sich um sie gekümmert und nachdem der erste Schock vorbei war, habe ich ihn darum gebeten, Riko für ein paar Stunden abzulenken. Er… er hat das für mich getan und ich habe alles zusammengerafft, was ich mitnehmen konnte und bin geflohen. Ohne ihn, während er mir Riko vom Hals gehalten hat. Ich wusste, was Riko ihm dafür antun würde, ich wusste, dass er ihn weiter verletzen wird und dennoch hatte ich eine solche Angst um meine Hand, dass ich aus Evermore geflohen bin. Ich hatte Angst, nie wieder spielen zu können und habe das über Jeans Wohlergehen gestellt.“ So geflüstert die Worte auch gewesen waren, so sehr verzogen sich Kevins Lippen nun zu einem stummen Schrei, mit dem er sich nach vorne beugte als würde er krampfen. Überhastet stellte Jeremy seine Bierflasche ab und schloss den größeren Jungen wortlos in seine Arme. Beinahe augenblicklich bettete Kevin seine Stirn an Jeremys Schulter. „Ich bin so feige, Jer. So verflucht feige. Andrew musste mich vor ihnen beschützen, vor Riko, und hat den Preis dafür bezahlt. Ich habe mich hinter den Foxes versteckt und gehofft, dass es vorbei geht, ohne auch nur einen Schritt zu unternehmen, Jean da rauszuholen. Selbst, als Renee ihn aus Evermore geholt hat, war ich immer noch zu feige, die Verantwortung zu übernehmen und mich um ihn zu kümmern. Neil und Andrew haben das für mich übernommen. Ich konnte nicht… noch nicht einmal einen Satz…. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen, in sein zerstörtes Gesicht. Aber nicht aus schlechtem Gewissen heraus, sondern aus Angst, dass es meiner Karriere schadet. Ich bin ein absolutes Arschloch, ein verdammtes, feiges Arschloch, das willentlich ein Menschenleben riskiert hat für seine Karriere.“ Erstickt wisperte Kevin die Worte, die Jeremy mehr als alles andere in ihrer Deutlichkeit und Bedeutung verletzten. „Und das Schlimmste und Verachtenswerteste ist, Jer, dass ich es wieder tun würde. Ich würde wieder Exy wählen, weil es das Einzige ist, was von meiner Mutter geblieben ist. Es ist das Einzige, mit dem ich sie stolz machen und ihr Erbe bewahren kann.“ Kevin schluchzte nun offen und Jeremy spürte, wie die Tränen des größeren Jungen sein Hemd durchnässten. Still barg er den bebenden Kopf des Strikers an seiner Halsbeuge und wiegte ihn sacht hin und her, seine eigenen Gedanken ein widerstreitender Tumult an Unverständnis, Ekel, aber auch Mitleid und Freundschaft. Er würde heute Abend keine Einschätzung treffen können. Sicher auch noch nicht morgen, vielleicht in ein paar Tagen. Er musste all das Schreckliche, das er gerade gehört hatte, verarbeiten. „Das kriegen wir hin“, war daher alles, was er nach endlosen Minuten sagen konnte. Er drückte Kevin einen Kuss auf die braunen Haare. „Irgendwie, Kevin, bekommen wir das wieder hin.“ Jeremy wusste zwar noch nicht ganz, wie, aber er würde sich etwas einfallen lassen. Er war niemand, der seine Freunde sofort fallen ließ, wenn sie etwas Schlimmes getan hatten. Er war niemand, der nicht vergeben konnte. Im Gegenteil, was ihn schon als kleinen Jungen oftmals in große Schwierigkeiten gebracht hatte. Er würde Kevin nicht alleine lassen, auch wenn das bedeutete, dass er sich Hals über Kopf in einen Konflikt stürzte, der vermutlich nicht lösbar war. ~~**~~ Wenn Jean eines wirklich unklar war, dann, wieso die Foxes sich immer noch mit ihm abgaben. Er war als eine Belastung zu ihnen gekommen, gegen seinen Willen, und hatte alles daran gesetzt, es sich mit ihnen zu verscherzen und wieder aus dem Haus zu fliehen. Er hatte keinen von ihnen wirklich gut behandelt, Renee eingeschlossen. Er war nur solange dagewesen, bis es Zeit für die neue Saison gewesen war. Monate, ja. Aber Monate reichten doch nicht aus, um jemanden zu vertrauen und ihn einzubinden, oder? „Wann kommst du denn das nächste Mal vorbei?“, fragte Hemmick wie angedroht und Jean hob eine Augenbraue. Er sah von seinem Nachtisch auf, einem süßen, klebrigen Zeug, das er so noch nie gegessen hatte. Gar nicht, hätte er geantwortet, wenn er ehrlich gewesen wäre. „Ich habe eine Saison zu spielen“, erwiderte er so neutral, wie es ging. Er mied den Blick auf Minyard und ertrug so das Schmollen seines unzufriedenen Cousins. „Nie hast du Zeit für mich.“ „Ich habe dir genug Zeit geschenkt, als du mir einen Abend lang dein Gespräch aufgezwungen hast“, erwiderte Jean zynisch und Josten lachte trocken, jedoch nicht so laut wie Alvarez. Hemmicks Augen waren ein Sinnbild von Leid und Trauer, die Jean ihm keinen Moment lang abnahm. „Wie grausam kann ein Mensch sein?“, fragte er theatralisch. Jean kannte die Antwort, ebenso wie Josten und Minyard auch. Renee kannte sie und wie viele der Trojans sie kannten, konnte er sich nur ausmalen. „Auf einer Skala von eins bis das Monster bekommt seine Süßigkeiten nicht?“, fragte Allison und Alvarez hob die Augenbraue. „Wer ist das Monster?“ Entspannt deutete Allison auf Andrew Minyard. Monster? Es war seltsam passend für den blonden Jungen, der durch alles unbeeindruckt schien. „Andrew ist fürchterlich, wenn er sein Eis nicht bekommt“, sagte Hemmick und Jean hob bedeutungsschwanger die Augenbrauen in Richtung des Torhüters, dessen Mimik noch viel unleserlicher wurde. „Dazu braucht es keinen Eismangel“, erwiderte dieser schlicht und widmete sich intensiv seinem Nachtisch, sie alle ignorierend. „Wohl wahr“, murmelte sein Zwillingsbruder, ganz zur Freude von Ajeet, der nervös lachte. Jean hob die Augenbraue. Der Trojan-Torhüter war ungefähr das Dreifache von Andrew und trotzdem hatte er schon den ganzen Abend Angst vor dem blonden Jungen gehabt. Ein Blick auf die unsichere Gestik des Hünen hatte gereicht, um Jean in seinem Verdacht zu bestätigen. Jean starrte die süße Katastrophe an, die nicht weniger wurde und sicherlich auch nicht besser schmeckte mit jedem Löffel und so gab er es auf, sie in sich hineinzwingen zu wollen. Was das für ein Fortschritt zu Evermore war, wurde ihm erst jetzt bewusst. Dort wurde gegessen, was auf den Tisch kam und mehr als einmal hatte Riko Nahrungsentzug als Strafe genutzt. Es wäre noch vor einem Jahr undenkbar gewesen, dass er selbst entschied, etwas stehen zu lassen und Jean machte sich eine gedankliche Notiz, das in sein Buch einzutragen. „Isst du das noch?“, fragte Minyard, als hätte er seine Gedanken gelesen, und Jean sah auf. Er lächelte ironisch. „Was bekomme ich dafür?“, erwiderte er in Anerkennung ihres bisherigen Umgangs miteinander. „Kevin.“ Jean versteifte sich. Aus dem Augenwinkel heraus sah er, wie Laila ihm einen fragenden Blick zuwarf und die Stirn runzelte. „Ich will ihn nicht“, erwiderte Jean angewidert und verächtlich, als er wieder sprechen konnte und schob Minyard seinen Nachtisch schlitternd über den Tisch. Nein, er wollte Day nicht. Nicht mehr. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sich Jean auf jeden Fitzel an Aufmerksamkeit gestürzt, hatte gehofft, dass Kevin trotz all den Malen, die er nicht eingegriffen hatte, als Riko ihm wehgetan hatte, so etwas wie Freundschaft und Zuneigung für ihn empfand. Natürlich, wie hatte Jean auch die geflüsterten Worte in seiner Muttersprache interpretieren sollen, all die Versuche, ihn zu heilen oder zu trösten? Oh wie sehr war er doch eines Besseren belehrt worden, als dieser ihn darum gebeten hatte, Riko abzulenken und dann verschwunden war. Ohne ihn. Ohne ihn. Obwohl er es versprochen hatte. „Ich werde dich nicht in seiner Gewalt lassen“, hatte Kevin ihm versprochen, als sie wieder einmal gesponnen hatten, von ihrer Freiheit, ihrer Zukunft ohne die beengenden Mauern von Evermore. Letzten Endes hatte er Jean genauso verraten wie es seine Eltern getan hatten. Wie ihnen auch hatte Jean Kevin sein Vertrauen geschenkt und war enttäuscht worden. Jean hielt inne, als er mit plötzlicher Klarheit begriff, dass er dabei war, den gleichen Fehler erneut zu begehen. Er begann, den Trojans zu vertrauen, insbesondere Knox. Das war dumm. In seiner Verzweiflung, die zwei Monate zu überstehen, hatte er sich wieder an einen Strohhalm geklammert, der ihm entzogen werden würde. Mehr als die Erinnerung an Kevin vertrieb ihn seine eigene Schwäche aus dem Stuhl. Er musste weg von diesen Leuten, weg von den Menschen, die er wieder einmal zu nah an sich herankommen ließ, als hätte er verdammt nochmal nichts gelernt aus seiner Vergangenheit. „Jean?“, fragte jemand besorgt und seine Augen ruckten zu Ajeet. „Geht es dir gut?“ Er nickte, obwohl das eine Lüge war. „Es ist okay“, brachte er rau hervor. Doch nichts war gut. Nichts war okay. Jean drehte sich um und verließ den Tisch, den Raum, er verließ die Menschen und ihre Gespräche, die niemals für ihn gedacht gewesen waren. Das alles hier war eine Illusion, ein temporäres Glück, an dem er teilhaben durfte, damit es umso schmerzhafter war, es ihm wieder zu nehmen. Er brauchte Abstand. Blind stolperte er durch die Räume und fand einen leeren Tagungsraum, der ihm die Einsamkeit brachte, die er so dringend benötigte. Sein Herz raste und mit Mühe zog er Luft in seine Lungen. Wut auf sich selbst war nicht gut, sie führte zu einem Ungleichgewicht, das ihn von innen heraus zerstören würde. Doch es war so einfach, auf seine eigene Dummheit wütend zu sein, mit der er sich in Situationen begab, die ihm nur Schmerzen zufügen würden. Riko hatte es ihm anders beigebracht. Jean kam bis zur ersten Tischreihe, bis er sich abstützen musste. Er ließ den Kopf hängen und konzentrierte sich auf eine einzelne Kerbe in dem sonst so makellosen Tisch, ließ sie zum Mittelpunkt seiner Welt werden, wie er es sich in Evermore angewöhnt hatte. Immer wenn Riko ihn gefoltert hatte, hatte er sich etwas gesucht, an dem er sich festhalten konnte. Ein Makromodus in dem Moment, den er sonst nicht hatte kontrollieren können. Wie oft hatte er sich über Beschaffenheit oder Herkunft Gedanken gemacht? Wie oft hatte er Geschichten gesponnen, um nur dem Schmerz zu entkommen, der ihm wieder und wieder und wieder aufgezwungen worden war? Zu oft, als dass es nun nicht eine natürliche Reaktion war. Dass sich nun hinter ihm die Tür öffnete, war ganz und gar nicht gut. Knox vermutlich um zu fragen, wie es ihm ging. Um ihm Vertrauen zu entlocken, wo er eigentlich keines mehr geben sollte, aber immer noch zu schwach war, sich dagegen zu wehren. Verschwinde, wollte Jean sagen, und brachte weder die Kraft noch den Mut dazu auf. Lass mich alleine, in ein paar Tagen ist es sowieso vorbei, doch auch das verschwieg er. „Na schau mal einer an, wen wir da haben. Den aus dem Nest geflohenen Raben“, war es nicht Knox, der hinter ihm stand. Es war auch nicht Day, nicht Minyard, nicht Josten. Es war Williams, der neue Kapitän. Jean schluckte mühevoll. Nein. Nein. Ruckartig fuhr er herum und starrte auf Williams und die Raven, die hinter ihm den Raum betraten und nun die Tür hinter sich schlossen. Sechs zu eins, das war keine gute Quote. In Evermore hatte Rikos sadistischer Besitzanspruch ihn zumindest vor den anderen Ravens geschützt, doch diesen fragwürdigen Schutz gab es nun nicht mehr. Er war für sie Freiwild und das sah Jean auch klar und deutlich in Williams‘ Augen, die ihn maßen, wie ein Jäger seine Beute taxieren würde. Auch wenn das Rauschen in seinen Ohren mit jeder Sekunde zunahm, wusste Jean, dass er zumindest Williams, wenn nicht sogar auch noch zwei oder, wenn er Glück hatte, drei andere Ravens mit sich nehmen würde. Knochen brechen konnte er, das hatte Riko ihm beigebracht. Jemanden zu Fall bringen, umso mehr, denn das war immanenter Bestandteil seiner Aufgabe als Backliner. Er wusste, wie er sich mit Dingen verteidigen konnte. Jean fletschte die Zähne. Sollten sie doch kommen. Doch so schnell der Gedanke auch kam, so abrupt wurde ihm bewusst, dass er das nicht konnte. Die Ravens würden es so hindrehen, dass er die Schlägerei angefangen hatte und als Spieler der Trojans würde es Knox‘ Mannschaft den Day Spirit Award kosten, den sie dieses Jahr zum neunten Mal in Folge gewinnen würden. Wenn er sich nicht schlug. Jean hielt inne. Wollte er Knox so vergelten, was dieser bisher für ihn getan hatte? Wollte er alles, was die Trojans bisher getan hatten, mit einem Verlust des Awards vergüten, Tage bevor er sich umbringen würde? Bei allem, was die Trojans für die Zukunft für ihn vielleicht geplant haben mochten, das war nicht das, was er wollte. Jean sah auf, direkt in die höhnischen Augen des Ravenskapitäns. Er presste den Kiefer eisern aufeinander. Er musste aushalten, was seine alte Mannschaft für ihn vorgesehen hatte…schlimmer noch. Er durfte auch keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, auf sich, die Trojans, auf ihren guten, makellosen Ruf. „Was willst du?“, presste er zwischen seinen Zähnen hervor und das Lachen des anderen Jungen verätzte seine Gehörgänge. „Dir die Fresse polieren für deinen Verrat. Unter anderem.“ Jeans Herz schlug brachial schnell. Gewalt? Die kannte er, auch wenn er seit Monaten nicht mehr damit konfrontiert worden war. Trotzdem lächelte er. Er würde sicherlich nicht schweigend untergehen. „Warum? Durch meinen Weggang bist endlich du an der Reihe, den Rest ins Feld zu führen. Du solltest mir und Rikos Selbstmord dankbar sein“, spuckte er Williams vor die Füße und grinste dunkel. „Nummer neun, gerade noch einstellig, niemals Teil des perfekten Teams und jetzt Nummer eins und Kapitän. Was. Für. Ein. Aufstieg.“ Dass seine Worte nicht auf Gegenliebe stießen, sah Jean an den vier Ravens, die nun auf ihn zukamen. An der Tür stand ein unbekanntes Gesicht, Engle, Jenkins, Reacher und Johnson hatten jedoch anscheinend noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen. Als sie ihn erreichten, beschloss Jean, dass er zwar nicht angreifen, sich aber durchaus wehren konnte, ohne sie zu verletzen. Wieder und wieder wich er ihren Händen aus, die ihn greifen wollten. Er ließ sich zurückfallen, umlief ihre Versuche, ihn in die Ecke zu drängen und war am Ende doch hilflos im Angesicht der Gewalt, mit der sie ihn jagten. Reacher hatte ihn schlussendlich am Kragen seines Anzuges gepackt, während Engle ihm seinen Unterarm gegen den Kehlkopf drückte und ihn damit beinahe erstickte. Jean röchelte und gab Williams doch nicht die Befriedigung, ihn ängstlich zu sehen. Nein, denn da waren die Ravens niemals wirklich Raben gewesen, sondern ein Rudel an Hyänen. Zeige Angst und sie zerfleischen dich, das hatte Jean von klein auf gelernt. Das tat Williams‘ Faust in seinem Magen keinerlei Abbruch und Jean stöhnte schmerzerfüllt auf. „Immer noch eine große Klappe? Man sollte meinen, dass du es mittlerweile besser wüsstest, als deinem wahren Kapitän Widerworte zu leisten, du nutzloses Stück Scheiße.“ Jean röchelte und es war tatsächlich ein Lachen, das er hervorpressen konnte. „Einem peinlichen Abklatsch eines Kapitäns, der versucht, Riko zu kopieren, weil er selbst nichts drauf hat“, spuckte er ihm ins Gesicht und erntete dafür einen zweiten Schlag auf die gleiche Stelle, der ihn Sterne sehen ließ. Williams‘ Lächeln bedeutete nichts Gutes für ihn, insbesondere jetzt, wo er sanft über seine Schläfe strich und dann die Beanie, die Jean trug, ebenso sacht vom Kopf zog. Nachdenklich streiften seine Augen die verheilten Wunden und seine Finger legten sich spielerisch auf die noch kurzhaarigen Stellen. Übelkeit und Panik wallten in Jean hoch, als er ahnte, was kommen würde. Angst krallte sich ihren hässlichen Weg durch sein Innerstes, befeuert durch das erlittene Trauma. „Wie es mir scheint, hast du vergessen, was dir blüht, wenn du deinen Mund zu weit aufmachst. Lass mich dich daran erinnern…“ Williams lächelte und packte die übrigen Haare im eisernen Griff. Jean keuchte schmerzerfüllt auf, insbesondere jetzt, wo der größere Junge ihn daran weg von der Wand und hin zu den Tischen zog. Als Jean sich wehrte, schlug er seinen Kopf gegen die Tischplatte. Es reichte, damit Jean für einen Moment lang unaufmerksam und wehrlos wurde. Ein Moment, der ausreichte, damit brutale Hände seine Arme hinter seinem Rücken verschränken konnten, die Handgelenke so verdreht, dass sie zu brechen drohten, wenn er sich weiterhin wehrte. Es reichte, um ihn mit dem Oberkörper über den Tisch beugen zu können. Durch den Schmerz und den Schwindel hindurch wurde sich Jean bewusst, dass sie ihn umzingelt hatten und dass Williams hinter ihm stand. Nein…sich an ihn presste, die Hand ein schmerzhafter, ekelhafter Zug an seinen Haaren. Als wenn das nicht reichen würde, hatte er seine Vorderseite an Jean gepresst und zeigte ihm, wie erregt er war, während er sich an ihm rieb. Jean konnte nicht atmen. Kein einziger Hauch an Luft wollte mehr in seine Lungen kommen, als ihn Panik mit einer solchen Wucht überschwemmte, dass ihm jedwede Fähigkeit zu logischem und bewusstem Denken genommen wurde. Er war nicht viel mehr als ein Tier, gefangen in seinen schlechten Erinnerungen, die nun wieder Realität zu werden drohten. Nein…Nein, bitte nicht, nein, gellte es erneut in ihm, obwohl er doch wusste, dass es keinen Sinn machte, um Gnade zu bitten. Das hatte Riko doch nur umso mehr angespornt, es schlimmer für ihn zu machen. Und dennoch waren sie da, die Worte, lauerten unter der Oberfläche seiner Panik. Bitte nicht. Bitte tu mir das nicht noch einmal an. „Für mehr bist du nicht zu gebrauchen, du nutzloses Stück Besitz. Deine Aufgabe ist klar und deutlich umrissen und es wird Zeit, dass sie dir jemand in Erinnerung ruft.“ „Und dieser jemand wirst du sein?“, fragte eine gelangweilte Stimme, die Jean um nichts in der Welt hier erwartet hatte. Panisch verdrehte Jean den Kopf um sich sicher zu sein, dass es keine Einbildung war und tatsächlich. Minyard stand in einer Ecke des Raumes, neben ihm Renee. Sie waren hier. Er war… er war nicht mehr alleine. Sie… ein erleichtertes Schluchzen entkam Jean. „Wie seid ihr an Muller vorbeigekommen?“, knurrte Engle und überrascht hob Minyard seine Augenbrauen. „Oh, gute Frage. Lass mich kurz überlegen. Ach ja. Seitentüren. Grandiose Erfindung.“ Betont laut ließ Minyard besagte Tür hinter sich zufallen und blieb dort stehen. Renee hingegen trat Schritt um Schritt nach vorne und Jean folgte gebannt ihrem Weg. „Vielleicht solltest du stehen bleiben, Blondie. Ansonsten bist du genauso fällig wie er auch“, war es dieses Mal Williams und Renee hielt inne. Ihre Augen waren unleserlich, ihre Lippen eisern. „Nur damit wir uns richtig verstehen. Drohst du mir mit Schlägen und einer Vergewaltigung?“, fragte sie so ruhig, wie Jean sie noch nie erlebt hatte. Williams lachte und gab sich den falschen Schein einer Unschuld, die er nicht hatte, während er Jean eisern auf dem Tisch hielt. „Ist das so? Ravens, habe ich das gesagt?“ Die anwesenden Spieler verneinten geschlossen. „Siehst du? Und jetzt mach mit oder verzieh dich, Blondie.“ Renee legte den Kopf schief und Jean erkannte mit plötzlicher Klarheit, dass sie ihn nicht alleine lassen würde. Auch Minyard nicht. Keiner von ihnen beiden würde ihn hier bei den Ravens lassen, in ihrer Gewalt. Er war nicht mehr alleine. „Lass ihn los“, sagte sie, ohne auf Williams Worte einzugehen. „Sagt wer?“ „Du kennst meinen Namen.“ „Moreaus Bückstück, ja. Seine Retterin, Schutzengel, bla…du bist unwichtig.“ Renee ließ sich von den beleidigenden Worten keine Sekunde aus der Ruhe bringen. „Ich möchte dich noch einmal bitten, ihn loszulassen.“ Ihr warnender Unterton machte deutlich, dass ihre Bitte nicht wirklich eine solche war, doch Williams, so arrogant wie er war und so sehr er sich im Vorteil glaubte, ignorierte sie. Er lachte höhnisch und fasste Jeans Haare enger, ließ ihn vor Schmerz aufstöhnen. Stumm um Hilfe flehend bohrte Jean seine Augen in Renees. „Du willst es nicht anders, Blondchen.“ Williams nickte den Anderen zu und Jean sah aus seinem eingeschränkten Blickwinkel, wie die Hölle losbrach. Renee war schneller als die Ravens, die sie angriffen, ebenso wie Minyard, der seine Position an der hinteren Tür aufgab um sich um die beiden Jungen zu kümmern, die sich nicht in Renees Blickfeld befanden. Aus seiner Position heraus hörte Jean mehr als dass er sah, dass einer nach dem anderen in einem Konzert aus unterdrückten Schreien und Stöhnen zu Boden ging. Er spürte es an Williams, der es Riko gleichtat und anscheinend versuchte, seine Haare auszureißen, bevor er und derjenige, der seine Hände auf dem Rücken fixiert hatte, abrupt von ihm gelöst wurden. Unfähig sich zu bewegen, blieb Jean in der Position, in die sie ihn gezwungen hatten. Unfähig, sich zu artikulieren, spürte er dem Schmerz nach, kaum glauben könnend, dass der Grund hierfür weg war. Erst ein schmerzvoller Aufschrei löste ihn aus seiner Starre und er rutschte vom Tisch auf den Boden, wo er zittrig sitzen blieb und verständnislos nach oben sah. Vier Ravens lagen auf dem Boden, zwei hatten sich an die Tür zurückgezogen. Zwischen ihnen und Renee stand Minyard, ein Versprechen an Gewalt und Tod. Renee selbst hatte Williams mit der einer Hand an dessen Eiern gepackt und hielt ihm mit der anderen ein Messer an den Hals, dessen Herkunft Jean schleierhaft war. „Ja, ich will es nicht anders“, sagte sie leise. „Ich will, dass du dich nie wieder an meinen Freunden vergreifst. Ich möchte dein Gesicht nie wieder hier sehen, nicht in der Nähe der Trojans, der Foxes und schon gar nicht in der Nähe von Jean. Nicke, wenn du das verstanden hast.“ Williams zischte, ganz der arrogante Raven, der glaubte, immer noch unter dem Schutz der Moriyamas zu stehen. „Du kannst mir nichts, Drecksnutte. Ich und mein Team zerquetschten dich zwischen meinen Fingern, wenn du es am Wenigsten vermutest. Nochmal kommst du nicht so einfach davon!“ Renee lächelte. „Bevor oder nachdem ich deine Eier zwischen meinen Händen zerquetsche, Williams?“, fragte sie freundlich und schickte ihn mit einem gezielten Griff auf die Knie. Williams schrie unterdrückt auf und wollte hasserfüllt etwas erwidern, als sich die Tür hinter den dort stehenden Ravens öffnete. Jeans Augen ruckten zu dem Eingang, in der Befürchtung, dass es mehr Ravens waren, die das Verhältnis zu ihren Gunsten entscheiden würden. Doch es waren Knox und Day, die nun in den Raum kamen. „Was ist hier los?“, verlangte sein Kapitän mit großen Augen zu wissen und Jean konnte nur blinzeln. Sie waren alle da, sie würden nicht zulassen, dass Williams ihm etwas tat, oder? Sie würden ihn nicht alleine lassen, oder? Da war sie wieder, die zerstörerische Hoffnung auf Rettung, an die er sich wie sein dummes, elfjähriges Ich klammerte. Jean sah, wie Renee das Messer in ihrer Hand versteckte und sich mit einem warnenden Blick auf Williams zu Knox umdrehte. „Die Ravens meinten, dass sie noch etwas mit Jean zu klären hatten. Wir haben eingegriffen und ihnen erläutert, dass dem nicht so ist.“ Nüchterne Worte für das, was geschehen war und dessen Nachspiel erst jetzt in Jeans Gedanken Einzug hielt. Betäubt sah er, wie sein Kapitän auf ihn zukam, die Schritte zu schnell, das Gesicht zu emotional, die nach ihm ausgestreckten Hände ein Versprechen auf mehr Gewalt. Jean wich zurück so schnell er konnte. Ein Teil von ihm wusste, dass es sich bei dem Jungen vor ihm um Knox handelte und nicht um Riko. Doch dieser Junge hier war zuviel… zuviel Mann, zuviel Kapitän, zuviel Emotion, als dass es Jean in diesem Moment händeln konnte. Mit einem nicht wirklich menschlichen Laut fixierte er sich auf Renee, die ihn und nur ihn maß. Sie konnte er ertragen. Knox blieb wie angewurzelt stehen. „Was haben sie getan?“, fragte er rau, doch Jean konnte ihm nicht antworten. Wollte nicht. „Sich so verhalten, wie Ravens sich verhalten“, antwortete sie ausweichend und Jean sah mit Schrecken, wie sich Williams erhob. Arrogant klopfte er sich den Dreck von seinem schwarzen Anzug und sah angewidert auf Jean hinab. Schritt um Schritt humpelte er zurück zu den anderen Ravens. „Jean, bist du verletzt?“ Knox erneut, mit Besorgnis in der Stimme. Mühevoll schüttelte er den Kopf. Sein Magen schmerzte und er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Er hatte Kopfschmerzen, seine Kopfhaut brannte und er hatte das Gefühl, dass er blutete, auch wenn Jean wusste, dass es nur Einbildung war. Erinnerungen an Gewalt, die Monate zurücklag. Ein Trauma, das er nie wirklich verarbeitet hatte. Williams lachte abwertend und Jean zuckte zusammen. „Wie romantisch. Die Schwuchtel von einem Kapitän sorgt sich um seinen Backliner. Da haben sich ja zwei gefunden. Du wusstest doch hoffentlich, dass unser talentierter Franzose hier leidenschaftlich gerne Schwänze lutscht, oder, Knox? Und dass er sich ebenso leidenschaftlich gerne dabei filmt.“ Jean schloss die Augen, als er dem Unausweichlichen nicht ins Gesicht sehen wollte. Williams würde ihnen allen sagen, was mit ihm passiert war. Was ihm aufgezwungen worden war. Er würde es so hinstellen, dass er es gewollt hatte. Ein Grollen verließ die Lippen seines Kapitäns, das Jean Angst verursachte. Er hörte wie Knox sich umdrehte. Vorsichtig wagte Jean ein Blick auf den blonden Jungen, auf dessen Profil, das sich Williams zugewandt hatte, ernst und eisern, ohne jedwede Freundlichkeit. „Wie du schon selbst gerade festgestellt hast, Williams, stehe ich auf Männer. Und daher habe ich auch kein Problem damit, die Schwänze anderer Männer zu lutschen oder meinen gelutscht zu bekommen. Was Jean mit seinem Körper und seinen Vorlieben anstellt, ist hingegen alleine seine Sache und geht weder mich noch dich etwas an. Deine Worte sind daher nur eine billige Provokation eines homophoben Menschen, der mit einer Wut nirgendwo anders hinkann als sie auf Andere zu projizieren, die nicht seiner eingeschränkten Blase entsprechen, an die er sich verzweifelt klammert, weil er sonst kein Talent hat.“ Williams knurrte und wollte einen Schritt nach vorne machen, wurde aber von Renee davon abgehalten. „Du wagst es, Trojan…“ „Du bist eine Nullnummer, Williams. Du bist auf dem Spielfeld die Ersatzbankwahl und damit momentan das Beste, was Evermore zu bieten hat, nachdem es von der internen Untersuchung zerpflückt worden ist. Sonst hättest du deine Chance niemals erhalten. Jean war schon immer besser als du und die Ravens, die hinter dir stehen. Das weißt du und deswegen willst du ihn zerstören. Wenn ich raten müsste, würde ich darauf tippen, dass er sogar ein besserer Striker wäre als du.“ Knox‘ Ton war so eisern, wie er autoritär war. Er hatte keinen Spielraum für Widerworte. „Ich sorge dafür, dass die die Ermittler der NCAA und die Leitung von Evermore von eurem Handeln hier erfahren, aber erst einmal wartet draußen Coach Rhemann zusammen mit eurem Trainer, dem Ausrichter des Banketts und dem Sicherheitsdienst auf euch um euch von der Veranstaltung zu schmeißen.“ Knox nickte knapp in Richtung der Tür, wo Jean die Schatten von anderen Menschen nur erahnen konnte. „Das war es für euch heute Abend. Und wenn wir uns dann auf dem Spielfeld wiedersehen, vernichten wir euch, ganz ohne schmutzige Tricks. Wir werden euch so fertig machen, dass es keiner von euch mehr in die Startaufstellung schafft, geschweige denn, in eine Profimannschaft oder aber in die Nationalmannschaft.“ Knox grinste und das Grinsen war noch nie so furchteinflößend gewesen. Jean schluckte mehrfach. Bevor Williams auch nur einen Ton gegen die Worte seines Kapitäns sagen konnte, kamen tatsächlich Rhemann und der neue Trainer der Ravens in den Raum. Jean kannte ihn nicht, hatte ihn in seiner Zeit in Evermore kein einziges Mal gesehen. „Raus.“ Ein knappes, leises Wort auf Japanisch, viel mehr brauchte es nicht, um alle Ravens aus dem Raum zu schaffen. Als die schwarzen, unerfreuten Augen des Mannes auf Jean zum Ruhen kamen, wimmerte er unwillkürlich. Zu sehr erinnerte ihn der Japaner an den Herrn und dessen Autorität, dass er sich nun nicht unweigerlich zusammenkauern würde um sich in Demutshaltung auf den Boden zu begeben. Er hatte versagt, er war schwach gewesen und er hatte Schwäche demonstriert. „Lord Moriyamas Anweisungen bezüglich der vergangenen Geschehnisse waren klar und deutlich. Die Spieler waren sich dieser bewusst und haben wissentlich gegen meine Befehle gehandelt. Insbesondere Mr. Williams befindet sich in einem besonderen Fokus. Es werden weitere Schritte eingeleitet“, sagte er in ruhigem Japanisch, das, wie Jean hoffte, niemand hier verstand. Niemand außer ihm und Day. Jean wagte es nicht, den Blick abzuwenden, stark genug für eine Antwort war er allerdings nicht. Erst, als er Trainer sich umgedreht und den Raum verlassen hatte, wagte Jean es zumindest, wieder Luft zu holen. Scheu huschte sein Blick zu seinem Trainer. Rhemann sah nicht erfreut aus, ganz und gar nicht. Doch er kam nicht näher, er zerrte ihn nicht an seinen Haaren auf die Beine. Er schlug ihn nicht. Weil es nicht die Art der Trojans war, rief sich Jean in Gedächtnis. Dennoch war ihm die Musterung des älteren Mannes unangenehm, insbesondere, als sie auf seinen Haaren zum Ruhen kam. „So, genug gestarrt“, knurrte Rhemann und Jean fragte sich, ob der Mann es zu sich selbst sagte. „Moreau, benötigst du einen Arzt?“ Schweigend schüttelte Jean den Kopf. Er wusste, dass er zur Doktor Chandler musste, doch der Gedanke, dass er in der nächsten Zeit berührt werden würde, verursachte ihm Angst weit über die Grenzen des Ertragbaren hinaus. „Wenn doch, dann rufe ich dir Fiona, okay?“ „Okay“, krächzte er. „Das Komitee wird auch noch einmal mit dir sprechen wollen, aber das hat Zeit. Bis dahin glaube ich, dass du…“ Rheman sah sich suchend um und blieb an den anwesenden Jungen und Mädchen hängen. „…in guter Gesellschaft bist. Soll ich auch hierbleiben?“ „Es geht schon“, erwiderte er rau und Rhemann nickte nach einem weiteren, prüfenden Blick. Wortlos verließ er den Raum und lehnte die Tür an, um sie vor den neugierigen Blicken der anderen Teams zu schützen. Jean war dankbar darum. Er würde die Nerven verlieren, wenn er weiteren Reizen ausgesetzt wäre. Er brauchte Ruhe, um das, was gerade geschehen war, in den hinterletzten Winkel seines Selbst zu verschieben. Er brauchte kein Mitleid, Mitleid hatte noch nie geholfen und würde es nicht. Renee kam zu ihm und kniete sich neben ihn, ihre Präsenz an seiner Seite ein Versprechen darauf, dass es gut werden würde. „Jean“, holte sein Kapitän seine unsichere Aufmerksamkeit zu sich und Jean sah hoch. Knox zitterte, die Hände zu starren Fäusten geballt. „Er ist nicht auf dich wütend“, soufflierte Renee ohne hinzusehen und Jean fragte sich, wie offen die Angst vor eben dieser Wut gerade auf seinem Gesicht oder in Knox‘ Stimme zu lesen sein mochte. „Ja?“, krächzte Jean das Wort nach ein paar Versuchen heraus und Knox atmete tief ein. „Möchtest du, dass ich hier bei dir bleibe oder fühlst du dich wohler, wenn ich den Raum verlasse?“ Er war so gänzlich anders und doch sah Jeans Angst nur Riko ihn in. Es war unfair und Jean hasste sich dafür, doch er war machtlos gegen das Gefühl. „Letzteres“, flüsterte er beinahe unhörbar und Schmerz huschte über das braungebrannte Gesicht des blonden Jungen. „Okay. Dann bin ich draußen. Wenn du mich brauchst, ich bin da. Versprochen.“ Jean nickte und schloss die Augen. Er hörte, wie Menschen den Raum verließen und als er sie erneut öffnete, befanden sich nur noch Renee und Minyard bei ihm. Erleichtert atmete Jean auf und lehnte sich vorsichtig an das Tischbein. Mit dem Schweigen, das sie ihm schenkten, kehrten auch die Ruhe und das Vertrauen in seine Umgebung zurück, was er so dringend brauchte, um sich wieder mit der Realität zu verbinden. Er vertraute Renee, weil sie sein Schutzengel war, der ihn vor dem sicheren Tod bewahrt hatte. Er vertraute Minyard, weil seine Zeit noch nicht gekommen war. Erst in anderthalb Wochen würde dieser seinen Teil ihres Handels einhalten. Sie beide schenkten ihm Ruhe und das auf vollkommen unterschiedliche Art und Weise. Renee mit ihrer Güte, Minyard mit seiner teilnahmslosen Kälte. Beide waren sie tödlich, auf ihre eigene Art und Weise. „Ich wusste gar nicht, dass du dir Minyards Messerkampf abgeschaut hast“, sagte Jean schließlich in die eingetretene Stille, testete seine Stimme und stellte fest, dass er in der Lage war, ganze Sätze zu bilden. Renees Lächeln war amüsiert. „Soll ich dir ein Geheimnis verraten, Großer?“, fragte sie ruhig und er nickte unmerklich. Sie warf einen Blick über ihre Schulter zurück zu Minyard, der eine seiner hellen Augenbrauen hob und mit den Schultern zuckte. „Ich habe es ihm beigebracht.“ Überrascht weiteten sich Jeans Augen und er starrte erst Renee, dann Minyard an. Sie, die Heilige, die Sanfte, er, das mörderische Monster. Wie… was…? „Erklärst du es mir?“, bat er und sie nickte. „Aber nicht hier. Später und in Ruhe.“ Jean atmete zittrig ein und schluckte. „Danke… Danke, dass ihr eingegriffen habt“, sagte er schließlich und Minyard schnaubte. Mit missbilligendem Stirnrunzeln wandte der Torhüter sich an Renee. „Ich habe dir gesagt, ich will keinen weiteren Schützling.“ Renee drehte sich zu ihm um und zuckte mit den Schultern. „Du bist freiwillig mitgekommen, Andrew. Ich habe dich hierzu nicht dazu gezwungen.“ „Soll ich zusehen, dass er vor Ablauf seiner Zeit von diesen Idioten umgebracht wird?“ Pointiert lagen die hellbraunen Augen auf ihm und Jean erwiderte den Blick offen. Die Worte galten nicht Renee, sie galten ihm, waren eine Beschwerde an ihren Deal. „Ich gebe mir Mühe, mich nicht umbringen zu lassen“, erwiderte Jean mit vorsichtigem Zynismus und stützte sich mit seinen Händen auf dem Boden ab, um sich hochzustemmen. Es wurde Zeit, dass er diesen Raum verließ. Er hatte genug von den Eindrücken und frischen Erinnerungen, die ihm dieses Zimmer verschafft hatte. Renee half ihm, sich aufzurichten und hielt ihn, während er in den ersten Momenten schwankte. Übelkeit kroch seinen Rachen hoch und Jean wartete mit geschlossenen Augen ab, ob sich sein Magen beruhigte. Es brauchte etwas, doch dann hatte er Erfolg mit seiner Atmung. Den Schmerz minderte das jedoch nicht. „Du hast eine Beule an deiner Schläfe. Eure Ärztin sollte sich das ansehen“, sagte Renee mit kritisch gerunzelter Stirn und Jean schnaubte. Er hob die Augenbraue. „Ich hatte schon Schlimmeres.“ Tadelnd schnalzte sie mit der Zunge. „Evermore ist kein Maßstab.“ „Ich habe mit gebrochenen Knochen gespielt, Renee. Mit einer Gehirnerschütterung. Er hat mich nur geschlagen und mir den Kehlkopf leicht gequetscht. Nichts, für das ich einen Arzt aufsuchen müsste.“ Sie starrte ihn an und er starrte zurück. Wie immer gewann sie ihr Duell und Jean senkte mit einem Grollen den Blick. Langsam näherte sich Renees Hand seinem Gesicht und noch viel langsamer strich sie über das warme Fleisch dort. „Danke, Großer. Ich bin stolz auf dich.“ Jean seufzte innerlich. Aus dem Augenwinkel heraus sah er, wie Minyard sich nach seiner Beanie bückte und sie nachdenklich betrachtete, bevor er sie ihm zuwarf. Jean fing sie auf und schluckte schwer, als er seine Finger um den leichten Stoff krampfte. Seinen Kopf zu berühren, das schloss sich in diesem Moment aus. Auch nur daran zu denken, dass er in die Nähe seiner Haare kam, war eine Unmöglichkeit. Es Renee oder gar Minyard oder jemand anderen tun zu lassen, ebenso. Und doch konnte er sich hier nicht ewig verstecken. Er musste sich den Anderen stellen, allen voran den Trojans. „Soll ich?“, fragte Renee mit einem Nicken zur Mütze und Jean schüttelte den Kopf. Wenn sowieso schon alle Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet war, weil die Ravens wegen ihm der Veranstaltung verwiesen worden waren, dann würden seine Haare nur eine Ergänzung dieser Aufmerksamkeit sein und nicht der Hauptfokus. So zumindest sein Plan. „Ich muss zurück“, erwiderte Jean leise und sah zu dem Spalt in der Tür, der etwas von dem hellen Licht des Flurs in den Raum ließ. „Du musst erst zurück, wenn du dich danach fühlst.“ So selbstverständlich die Worte für sie waren, so selbstverständlich war die Verneinung auf Jeans Lippen. „Wenn es danach geht, kehre ich nie wieder zurück“, gab er zu und richtete sich auf. Mit zittrigen Fingern richtete er sein Hemd und den Anzug, den er trug und straffte so gut es ging die Schultern. Sie sollten glauben, dass es ihm nichts ausgemacht hatte, zumindest für die letzten paar Stunden des Abends und der sich anschließenden Party in der Nacht. Wie Jean diese überstehen sollte, wusste er noch nicht wirklich. „Was haben sie getan, bevor wir gekommen sind?“, überraschte Minyard Renee und Jean gleichermaßen mit seiner ruhigen Frage. Jean schnaubte. „Mir gedroht. Mich geschlagen und gewürgt. Alles andere habt ihr verhindert.“ Minyard rollte mit den Augen. „Trottel.“ „Andrew“, tadelte Renee und Jean blinzelte. „Wie bitte?“ „Du bist wegen Kevin weggerannt, obwohl es klar war, dass die Arschlöcher dich auf dem Kieker haben werden. Das ist dumm. Day ist das nicht wert.“ Verächtlich schnaubte Jean. „Bei letzterem gebe ich dir Recht.“ „Dann sei keine Belastung.“ „Werde ich nicht sein“, erwiderte Jean und ebenso wie Minyard auch dachten sie nicht an das Handeln der Ravens. Der blonde Junge stieß zischend Luft zwischen seinen Zähnen hervor und drehte sich um. Ohne ein weiteres Wort verließ er den Raum und ließ Jean alleine mit Renee zurück. „Soll ich hier bleiben?“, bot sie an. Hier in Los Angeles. Hier bei dir. Was für eine schöne Vorstellung das war. Doch Jean schüttelte den Kopf. Wenn sie hier bliebe, dann würde er sich nicht mehr sicher genug sein, dessen war er sich sicher. „Ich bekomme das hin.“ „Das habe ich nie bezweifelt, Großer.“ Ernst und offen begegnete Jean ihren Augen. „Ich bin dir dankbar, Renee. Für alles, was du für mich getan hast und tust.“ „Immer wieder und jeder Zeit“, bekräftigte sie und deutete dann zur Tür. „Bereit?“ Unsicher folgte Jean ihrer Blickrichtung. Bereit war er nicht, würde er noch lange nicht sein, auch weit über diesen Abend hinaus. Aber er konnte sich aufraffen und Stärke vor sich her tragen wie einen Schutzschild. Wie in Evermore auch. Jahrelang hatte er das praktiziert, nun würde es auch für einen Abend gehen. Jean steckte die Beanie in seine Hosentasche und wandte sich zur Tür. Schritt um Schritt trat er an Renees Seite nach draußen, trat auf den Flur, begegnete den sorgenvollen Augen seines Kapitäns, die sich nun überrascht weiteten, als er die fehlende Beanie sah. Neben ihm stand Day und Jean wandte den Blick ab. „Ich gehe zurück an den Tisch oder ist etwas Anderes geplant?“, fragte er Knox und dieser schüttelte den Kopf. „Alle noch da, bis auf die Ravens. Sie wurden vom Sicherheitsdienst nach draußen eskortiert.“ Jean nickte und warf einen letzten Blick auf Renee, die ihm aufmunternd zunickte, bevor sie sich an Day wandte. „Was hast du ihnen erzählt?“, fragte Jean. „Nichts, außer, dass es einen Zusammenstoß zwischen dir und den Ravens gab, wir aber das Schlimmste haben verhindern können. Allerdings…“ Knox stockte. „…stimmt das auch wirklich?“ Jean wusste, dass die Frage ihre Berechtigung hatte. Schließlich war er vor seinem Kapitän zurückgewichen. Er hatte sich nicht von ihm anfassen lassen, was in Knox‘ Augen vermutlich den Rückschluss zuließ, dass die Ravens mehr getan hatten, als es augenscheinlich der Fall war. „Es ist nichts weiter passiert“, erwiderte er indifferent und Knox glaubte ihm kein Wort. „Wir können auch nach Hause fahren. Du musst nicht hier bleiben.“ So sehr Jean das Angebot auch verlockte, so wenig würde er es annehmen können. Er würde nicht schwach sein. Niemals. „Es geht.“ „Sicher?“ Anstatt einer Antwort betrat er nun den Festsaal und setzte sich unter den Blicken seines Teams und der Foxes zurück auf seinen Platz. Natürlich war er sich bewusst, worauf ihre Aufmerksamkeit gerichtet war. Natürlich war er sich der stummen Fragen bewusst. Es brauchte seine Sekunden, bis Jean seinen Blick heben konnte und die Trojans offen anstarrte. Alvarez, mit all ihrem Wissen um seine Haare, die nicht im Geringsten überrascht war und ihm mit einem aufmunternden Lächeln begegnete. Laila, die anscheinend nichts darüber gewusst hatte und ihn mit großen, traurigen Augen anstarrte, in denen Tränen schwammen. Ajeet, der mühevoll schluckte. Fahima, deren Sanftheit sich in Härte umwandelte, als sie begriff, was sie sah. Logan, der wegsah und auf den Tisch starrte, als könne ihn dieser vor dem Anblick bewahren. Valentine neben ihm, mit bleichem Gesicht und erschrocken geöffneten Lippen. Als Knox neben ihm auftauchte, konnte Jean ein Zusammenzucken beim besten Willen nicht verhindern. „Ist es okay, wenn ich mich setze?“, fragte sein Kapitän und perplex nickte Jean. „Natürlich. Es ist dein Platz“, erwiderte er und langsam ließ sich Knox nieder, ebenso wie Renee und Minyard ihm gegenüber. Nur Day fehlte und das war auch gut so. Wenn der andere Junge auch nur den Mund aufgemacht hätte, hätte Jean vermutlich den Drang, ihm einen Kinnhaken zu verpassen, nicht unterdrücken können. ~~**~~ Dass Jean den ganzen Abend unter Beobachtung – unter Schutz – stand, war ihm klar gewesen, als er Knox‘ besorgten Gesichtsausdruck gesehen hatte. Dass dieser Schutz sich aber auch darauf erstreckte, dass er Begleitung erhielt, wenn er das Wasser loswerden wollte, das er den ganzen Tag getrunken hatte, damit hatte er nicht wirklich gerechnet und war dementsprechend ungnädig, als er merkte, dass ihm Minyard wie ein Schatten folgte und mit dem blonden Teufel auch sein feiges, grünäugiges Protegé. Zu dritt standen sie nun im leeren Toilettenraum für Männer und Jean verschränkte die Arme. Wütend starrte er die Beiden nieder und bekam eine Mischung aus Vorsicht und Ausdruckslosigkeit als Gegenleistung dafür, was er beides überhaupt nicht zu schätzen wusste. „Dich kann man nicht alleine lassen und er will reden“, deutete Minyard zuerst auf ihn, dann auf Day und rollte mit den Augen. Jean war versucht, es ihm gleich zu tun, hielt sich aber zurück und starrte Day offen in das Gesicht. „Jean, bitte, hör mir zu“, begann der Junge, den er einmal Freund genannt hatte mit eben jener Intonation, die ihn Jean gleich viel Schönes wie Schreckliches auslöste. Viele Evermorenächte lang hatte ihn diese Stimme vor der allumfassenden Dunkelheit bewahrt um dann mit einem einzigen Satz einen Verrat zu zementieren, der Jean beinahe zerstört hatte. Anscheinend nahm Day sein Schweigen als das, was es nicht war: eine Aufforderung fortzufahren und ihm näher zu kommen. „Ich hätte dich nicht dort zurücklassen sollen. Ich hätte stark genug sein sollen, dich da rauszuholen. Ich hätte alles daran setzen müssen, dich aus ihren Klauen zu befreien“, spulte er die alte Leier ab und Jean hob die Augenbraue. Mit jedem Wort rauschte sein Puls mehr in seinen Ohren, wurde seine Wut größer und verzehrender. Mit jeder Sekunde, die Day damit seine Erinnerungen an Evermore heraufbeschwor und an jede, schicksalshafte Nacht. „Ich hätte Riko Widerstand leisten müssen. Ich hätte mich an die NCAA wenden sollen.“ Jean ballte seine Hände zu Fäusten. Er war nicht stabil genug für diese Art der Unterhaltung, wirklich nicht. Natürlich interessierte das Day nicht. Natürlich sah er nur seinen Vorteil aus dem Ganzen, nämlich, sich ihm gegenüber auszukotzen und seine nichtigen Entschuldigungen hervorzubringen, die Jean ihm schon in Abbys Haus verwehrt hatte. Selbst Alvarez hatte mehr Fingerspitzengefühl als der Striker, der vor ihm stand und der seine Hände nervös knetete. „Ich hätte so vieles tun können, aber…“ Weiter kam Day nicht, als Jean ihm seine Faust ins Gesicht trieb und befriedigt dabei zusah, wie dessen Kopf unter der Wucht des Schlages zur Seite ruckte. Erst verspätet bemerkten auch die Schmerzrezeptoren seiner nicht gut verheilten Fingerknochen, dass es nicht das Klügste war, was er hätte tun können und er keuchte schmerzerfüllt auf. Unterdrückt fluchend schüttelte er seine Hand aus und wich keine Sekunde später vor Minyard zurück, der erst jetzt reagierte, entweder, weil er zu langsam oder zu unaufmerksam gewesen war. Jean glaubte an keine der beiden Möglichkeiten, wusste aber, dass Days Schatten keinen Spaß verstand, was seinen grünäugigen Schützling anbetraf. So war die Warnung in den Augen auch unmissverständlich. „Wirklich, Moreau?“, schnarrte Minyard auf seine ganz eigene Art und Weise furchteinflößend und tobringend und Jean schnaubte. „Bedrohst du mich etwa?“ „Du wärst nicht der Erste, der eine fatale Fehleinschätzung trifft.“ Jean lachte, seine überreizten Nerven ein Wechselspiel an Belustigung und cholerischer Wut, die sich ihren Weg nach oben bahnen wollte. „Was willst du denn machen, mich früher umbringen als geplant?“, höhnte er zügellos und begriff erst bei dem verwirrten Aufkeuchen hinter Minyard, dass Day anscheinend zugehört hatte. Erst nach und nach spielte das eine Rolle und Jean begriff, was er in seiner blinden, zerstörerischen Wut gerade getan hatte. Die erhobene, blonde Augenbraue des Jungen vor ihm teilt ihm mit, wie dumm seine Wut gewesen war und Jean schluckte mühevoll. Schneller, als es ihm lieb war, richtete sich Day auf und wischte sich das Blut, was sich in seinem Mundwinkel gesammelt hatte, weg. Verwirrt sah er von Minyard zu ihm und wieder zurück. „Andrew…?“ Der Torhüter atmete tief ein und erwiderte herausfordernd Jeans hilfesuchenden Blick. „Jean, was hat das zu bedeuten? Andrew? Was soll das heißen?“ „Nichts, Day, das ist nicht deine Angelegenheit“, zischte Jean und erkannte erneut zu spät, dass das, was er gesagt hatte, genau das Falsche gewesen war, hatte er doch bestätigt und nicht abgetan, was Day hinter seinen bis zu dem Zeitpunkt unwissenden Worten vermutet hatte. „Es war blöde dahingesagt, ein Sprichwort“, versuchte er zu retten, was zu retten war, doch zu spät. Day streckte die Hand nach ihm aus und Jean wich zurück. Zweimal, bevor der andere Junge es gut sein ließ. Den Horror und das Unverständnis konnte er damit aber nicht tilgen. „Andrew, bitte, erkläre mir das“, flehte er. „Nicht meine Geschichte.“ Jean schnaubte verächtlich, wurde sich allerdings bewusst, dass Minyard damit durchaus Recht hatte. Er hatte um diesen Deal gebeten, Minyard hatte ihn nicht eingefordert. Days Augen kamen bittend auf ihm zum Liegen und Jean drehte sich weg. „Misch‘ dich nicht in Sachen ein, die dich nichts angehen… und mach einfach mal das, was man von dir erwartet“, zischte Jean, doch Day ließ sich davon nicht einschüchtern. „Du planst einen Mord, Andrew? An Jean? Das lasse ich nicht zu.“ Minyard rollte mit den Augen. „Ich plane keinen Mord an Moreau“, erwiderte er und keines der Worte war eine Lüge. Rein technisch gesehen. Assistierter Selbstmord, ja. Mord. Nein. „Was dann?“ Es war Jean, dem der Kragen platzte. Kevin Days selbstgerechter Zorn war das Widerlichste, was er in der letzten Zeit gesehen hatte. Jetzt tat er so, als würde er sich dafür interessieren, was Jean tat? Nachdem es Renee und Josten waren, die ihn aus Evermore befreit und ihn davon abgehalten hatten, wieder zurück zu kehren? „Minyard und ich haben eine Abmachung, die dich nichts angeht. Diese Abmachung ist in beiderseitigem Willen getroffen worden und geht, ich wiederhole es, dich nichts an. Du hast dich ein Jahr lang nicht darum gekümmert, ob Riko mich umbringt oder nicht, dann wirst du dich auch jetzt nicht um mein Leben oder Sterben kümmern, hast du mich verstanden?“ Jean grollte hasserfüllt, insbesondere jetzt, da Day tatsächlich den Kopf schüttelte. „Das kann ich nicht zulassen, Jean. Du… du kannst nicht einfach… und du, Andrew! Du kannst noch viel weniger…“, stotterte Day und Jean lachte höhnisch. „Ich kann, ich werde und es ist meine Entscheidung. Endlich ist es meine, eigene Entscheidung, meine Wahl, die ich getroffen habe und in die mir niemand reinreden wird, schon gar nicht du!“ Day wäre nicht Day, wenn er auch nur einen Funken Einsicht zeigen würde. „Nein! Nein, das werde ich nicht akzeptieren! Ich sehe doch nicht zu, wie du deinem Leben ein Ende setzen lässt. Das kannst du vergessen, Jean, das werde ich niemals mittragen. Ich werde dafür sorgen, dass Wymack und Rhemann das erfahren!“ Noch während Day sich umdrehte, um den Raum zu verlassen, war Jean erneut bei ihm und donnerte ihm mit dem Rücken an die Toilettentür. Dieses Mal hielt Minyard ihn nicht auf und Jean presste seinen Unterarm gegen Days Hals. „Das wirst du nicht“, sagte er mit tödlicher Ruhe und wurde mit der Wut des Foxes konfrontiert, die klar und deutlich in den grünen Augen stand. „Du kannst mich nicht abhalten.“ Jean lächelte und an dem Lächeln war nichts Freundliches. Im Gegenteil. „Doch, das kann ich und zwar aus zwei Gründen.“ „Und zwar?“, fauchte Day, wehrte sich aber nicht gegen den ihn haltenden Griff. Jean hielt seinen rechten, krummen Zeigefinger hoch. „Nummer eins. Du willst Vergebung, denn aus keinem anderen Grund lässt du mich nicht in Ruhe. Du möchtest, dass ich dir dein feiges Handeln vergebe, das dich Jahre an Folter hat mit ansehen lassen. Du willst Absolution für dein schlechtes Gewissen. Die bekommst du. Wenn du schön still bist und deine Klappe hältst, vergebe ich dir noch am Tag meines Todes und du kannst mit reinem Gewissen deine Exykarriere weiterführen.“ Day schwieg, doch in seinen Augen sah Jean immer noch Widerstand, den er zu brechen gedachte. „Kommen wir zu Nummer zwei, die dich weitaus mehr interessieren dürfte als meine Vergebung“, fuhr er fort und hob zusätzlich den Mittelfinger, ebenso missgeformt durch Rikos Handeln. „Wenn du zu irgendjemandem gehst, irgendjemandem sagst, was du hier gehört hast, und verhinderst, dass Minyard und ich unseren Deal abschließen können, dann werde ich über meine Social Media-Accounts und über Sport-Interviews der ganzen Welt bekannt geben, dass der heißgeliebte Star unseres Sportes daneben gestanden hat, während ein Spieler in Evermore fünfmal vergewaltigt und über neun Jahre hinweg systematisch gefoltert wurde. Selbst wenn es nicht zu einer Anklage gegen dich reichen sollte, so bist du sportlich tot. Niemand wird einen Spieler, der tatenlos dabei zugesehen und nicht eingegriffen hat, auf dem Titelbild seines Magazins oder seiner Kampagne haben wollen. Niemand wird dein Gesicht als Aushängeschild haben wollen. Und viel wichtiger: keine Mannschaft wird dich mehr haben wollen, schon gar nicht die Nationalmannschaft. Mischst du dich hier ein und nimmst mir das, was ich will, zerstöre ich dein Leben, deine Karriere und deine Träume, Kevin Day.“ Die Stille, die seinen Worten nachfolgte, war ohrenbetäubend. Day rang nach Worten, ohne Erfolg. Minyard schwieg, eine schwere Präsenz in Jeans Rücken. Jean hatte alles gesagt, was er zu sagen hatte und abwartend starrte er dem anderen Jungen in die Augen, in die nun Tränen traten. Natürlich. Schließlich ging es ja auch um Exy, Kevins Lebenswerk. Das war schon ein Grund zum Weinen. „Warum?“, flüsterte er rau und Jean zischte. „Warum was?“ „Warum willst du nicht mehr leben?“, fragte Kevin, während nun tatsächlich die ersten Tränen seine Wangen hinunterliefen. Jean sollte sich an ihnen laben, er sollte glücklich sein mit dem, was er angerichtet hatte, doch das war er nicht. Die Rache, so süß sie auch sein sollte, war schal und bitter. „Die Nacht meines Abschlusses wäre sowieso meine letzte Nacht gewesen und nun ziehe ich dieses Datum vor, damit all das hier, all der ganze Scheiß, endlich ein Ende hat! Nach neun Jahren und ohne eine nennenswerte Zukunft habe ich einfach genug.“ Jean war immer lauter geworden, bis er schlussendlich schrie und Day mit jedem einzelnen Wort erneut gegen die Tür presste. Der andere Junge ließ es geschehen, ohne dass er sich dagegen wehrte, stumm weinend. „Aber die Trojans…“, presste er hervor. „Ich werde die Erwartungen der Trojans an mich nie erfüllen können. Nie!“, fuhr Jean ihm unwirsch über den Mund. „Sie sind hell und freundlich und lebensfroh. Sie baden in der Sonne und dem Meer, sie blicken mit Freude auf die Zukunft. All das habe ich nicht.“ „Das ist nicht wahr!“, begehrte Day auf und Jean löste sich angewidert von ihn. „Kein weiteres Wort mehr, Day, oder ich mache meine Drohung hier und jetzt wahr.“ Hilflos irrten die grünen Augen zu Minyard. „Wir gehen, Kevin“, ertönte dessen sonore Stimme in Jeans Rücken und der blonde Torhüter tauchte an seiner Seite auf. „Und natürlich wirst du nichts zu niemandem sagen.“ Finale Worte, ein eiskalter Befehl, der mit der Sicherheit ausgesprochen worden war, dass ihm gehorcht werden würde. „Nein…ich…ja…ich…schweige. Ich…“ Day verstummte. „Wann wird es sein?“ Jean grollte und trat einen Schritt zurück, weiter in den Raum hinein. „Nicht heute.“ „Kevin, wir gehen“, wiederholte Minyard und packte seinen Striker mit ungeahnter Kraft am Arm, zog ihn aus dem Raum heraus, dessen Leere und Stille Jean vorkam wie der Tod selbst. Er zählte darauf, dass Day seine Karriere wichtiger war als die Verhinderung seines Selbstmordes. Warum sollte der andere Junge nach einem Jahrzehnt sich plötzlich anders verhalten? Das war mehr als unwahrscheinlich. ~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 21: Badgeflüster ------------------------ „Ich habe mich an der Toilettentür gestoßen.“ Ungläubig starrte auf die Spuren von getrocknetem Blut in Kevins Mundwinkel. Die Haut über seinem Wangenknochen verfärbte sich bereits rot-bläulich aufgrund des kommenden Hämatoms und der Striker sah aus, als hätte er einen Geist gesehen, die Augen starr und leicht geweitet, gleichzeitig aber unfokussiert und unruhig, die Gesichtsfarbe ein wenig vornehmes Weiß. „An der Toilettentür“ echote er leise und Kevin nickte abgehackt. Jeremys Augen richteten sich auf Jean, der wie eine Statue neben ihm saß und seit seinem Besuch auf der Toilette kein einziges Wort mehr gesagt hatte, beide Hände sorgsam unter dem Tisch verborgen. Jeremy war zwar gutgläubig, aber nicht dumm. Er konnte eins und eins zusammenzählen und würde nicht auf drei kommen. Jeremy runzelte die Stirn. „Könnten wir für den Rest des Abends Toilettentüren umgehen?“, fragte er in die Runde ohne jemanden anzusehen und sah aus dem Augenwinkel heraus, wie Jean minimal nickte. Dass das Verhalten der Ravens und das, was sie ihm angetan hatten, bevor Renee und Andrew eingegriffen hatten, nicht spurlos an ihm vorbeigegangen war, war Jeremy klar. Das Wissen darum machte seine eigene Hilflosigkeit nur noch viel schlimmer. Er hatte Angst, das Falsche zu tun, nachdem Jean so panisch vor ihm zurückgewichen war, als wäre er derjenige gewesen, der ihn verletzt hatte. Dass es nicht das Einzige war, was den Jungen an seiner Seite beschäftigte, sah Jeremy deutlich, doch er wollte nicht drängen und hoffte, dass Jean sich ihm schlussendlich freiwillig öffnete und ihm sagte, was genau den gewalttätigen Konflikt mit Kevin ausgelöst hatte. Dass er das nicht hier und auch nicht heute tun würde, war Jeremy durchaus bewusst und so ließ er die Anspannung an seinen Nerven zerren und ziehen. Ob es eine gute Idee war, in diesem Zustand noch in eine Bar oder eine Disco zu gehen, insbesondere, wenn Jean ganz klar den Eindruck machte, dass er sich am Liebsten fern von anderen Menschen aufhalten würde, bezweifelte er stark. Noch hatte er den Backliner aber nicht gefragt, was er davon hielt, in ihr Apartment zurück zu kehren und Jeremy hatte die starke Befürchtung, dass er keine ehrliche Antwort erhalten würde. „Cap… nehmen wir die Foxes mit zum Feiern?“, holte Alvarez ihn aus seinen Gedanken und warf seine gedankliche Frage noch einmal ganz offen auf. Jeremy sah fragend zu Dan, die die Frage schulterzuckend zu ihrem Team weiterleitete. Es überraschte ihn nicht, dass es Nicky war, der dem als Erster begeistert zustimmte. Matt folgte, ebenso wie Neil, Allison und Renee. Nur die Zwillinge und Kevin enthielten sich. Ganz im Gegensatz zu den Trojans, die zum größten Teil dem Vorschlag begeistert zustimmten. „Gut, dann ist es entschieden“, grinste sein Vizekapitän und Jeremy lächelte etwas gezwungen. Mit über dreißig Personen feiern zu gehen, machte die Sache momentan nicht besser. „Wohin soll’s denn gehen?“ Mit der Personenanzahl würden sie die klassischen Bars mit Leichtigkeit sprengen. Bliebe eine Disco zum Feiern. Wenn sich Jeremy Jeans Reaktion auf das kurze Gespräch ins Gedächtnis rief, so würde dieser vermutlich lieber in der Hölle schmoren als das Nachtleben von Los Angeles zu genießen. „Wir könnten zu euch ins Stadion“, schlug Neil vor und Jeremy hob überrascht die Augenbrauen. „Wir feiern nicht bei uns im Stadion“, erwiderte er und wurde mit einem energischen Kopfschütteln belohnt. „Nicht zum Feiern. Wir könnten unsere Leute durchmischen und spielen.“ Jeremy starrte den rothaarigen Striker der Foxes ungläubig an. Jetzt? Mitten in der Nacht wollte der Junge Exy spielen? „Da wäre ich dabei, das wäre so cool!“, fiel Ajeet in diese vollkommene Schnapsidee mit ein und Alvarez neben ihm jubelte erfreut auf. „Wenn, dann will ich aber mit unserem Wunderkind hier antreten“, deutete sie auf Neil und Jeremy hob ungläubig seine Hände. „Was. Zur. Hölle…?“, versuchte er das Unvermeidliche noch abzuwenden, doch er scheiterte. Laila und Fahima fielen ihm genauso enthusiastisch in den Rücken, wie sie auch schon einem gemeinsamen Weggehen zugestimmt hatten, und wenn er sich am Tisch umsah, auch der verdammte Rest seines 28-köpfigen Teams. Der Einzige, der das nicht tat, war Jean, dessen Augen mörderisch auf Neil lagen. „Junkie“, sagte Andrew in den Aufruhr hinein zu Josten und rollte mit den Augen. Jeremy pflichtete ihm aus vollem Herzen bei. „Das ist echt keine gute Idee“, versuchte er es noch einmal mit Vernunft. „Außerdem habt ihr keine Schutzausrüstung und Schläger dabei.“ „Wir können für die, die mitspielen wollen, unsere doppelte Ausrüstung nehmen und jeder von uns hat mehr als einen Satz Trainingsklamotten“, hielt Alvarez dagegen und Jeremy überlegte sich, ob Mord seiner Exykarriere in der Nationalmannschaft schaden würde. Er war zwar kein Strafrechtler, aber er glaubte schon. „Coole Sache! Dabei!“ Kevins Mimik teilte ihm mit, dass auch er ein gemeinsames Training für keine gute Idee hielt, aber, wie Jeremy nun erkannte, aus einem völlig anderen Grund. Kurz ruhte seine Aufmerksamkeit auf Jean, um dann wieder zu Jeremy zurück zu kehren. Trotzdem lag schlussendlich ein schwaches Lächeln auf seinen Lippen. „Wir beide gegen Alvarez und Neil?“, fragte er noch unsicher, aber durchaus mit Interesse und Jeremy seufzte. Er sah schon, warum Neil und Kevin sich letzten Endes so gut verstanden. Ernst wandte er sich an Jean. „Ist das auch okay für dich?“ „Selbstverständlich.“ Alleine die viel zu schnelle, zu neutrale Antwort und die zu Fäusten geballten Hände machten deutlich, dass es das eben nicht war und Jeremy hob vielsagend seine Augenbraue. Jean schien zu begreifen, dass seine allzu offensichtliche Lüge nicht unkommentiert bleiben würde und er schnaubte. Dennoch brauchte es seine Zeit, bis er die richtigen Worte fand. „Ich finde das Stadion besser als eine Disco“, gab er schließlich zu. „Auch nach heute Abend?“, hakte Jeremy vorsichtig nach. „Gerade danach“, gab Jean nach einem Moment des Überlegens zu und dieses Mal war sich Jeremy sicher, dass er ihn nicht anlog. „Wenn nicht, kann ich dich immer noch zum Apartment bringen.“ Jean hob die Augenbraue. „Um mir die Gelegenheit entgehen lassen, Jostens Selbstvertrauen in seine Strikerfähigkeiten zu zerstören?“ Es schnaubte von der anderen Seite des Tisches. „Als wenn, Moreau.“ Das, was Jeremy nicht gelungen war, Jean zu entspannen, war anscheinend für Josten kein Problem. Zumindest interpretierte Jeremy das minimale Lächeln auf den schmalen Lippen seines Backliners so. „Wir sehen uns auf dem Spielfeld.“ „Junkies“, mischte sich Minyard ein und betonte jede einzelne Silbe, als hätte er Zahnschmerzen. ~~**~~ So besorgt Jeremy darum war, dass nichts passierte… kaum, dass er sich zögernd umgezogen hatte, erfasste ihn eine Aufregung, die ihn unruhig von einem Bein auf das andere treten ließ. Die Foxes in ihrer Kleidung zu sehen, machte ihn stolz und ließ ihn von einem bis zum anderen Ohr grinsen. Er war versucht, Fotos zu machen, doch sie hatten sich darauf geeinigt, diesen Abend unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit mit nichts festzuhalten, was ihnen allen Ärger einbringen könnte, nachdem sie ihre beiden Trainer mit dem Versprechen auf eine ruhige Nacht losgeworden waren. Kevin hieß nun Anand, Josten Alvarez, Allison Dermott, Renee Moreau. Das würde auf dem Spielfeld das reinste Chaos werden und Jeremy liebte es jetzt schon. Übermütig winkte er zu den Zuschauerrängen, auf denen die Foxes und Trojans saßen und tranken, die nicht mitspielten. Andrew und Aaron saßen etwas weiter von ihnen, auf die Entfernung ein doppeltes Lottchen, ein Glitch in der Realität. Es war Nicky, der zum Aufwärmen ein Ballspiel vorschlug, das sie alle quer durch über das Spielfeld jagte und die beiden Mannschaften an den Rand der lachenden Erschöpfung brachte. Mit einem kurzen Blick auf Kevin und auf Jean erkannte Jeremy, dass die Beiden fast identische Gesichtsausdrücke von schweigender Missbilligung für diesen Spaß zeigten. Es mochte die fortgeschrittene Uhrzeit sein oder aber die freigesetzte Energie nach dem Bankett, aber irgendwann endeten sie alle in einem riesigen Haufen aus Beinen, Armen und Gelächter, deren Zentrum Dan, Renee und er waren. Jeremy grinste keuchend und quietschte, als der Kapitän der Foxes ihm ihre Finger in die Seite trieb, damit er den Ball losließ und sie somit das Spiel für ihre Mannschaft entscheiden konnte. Er warf ihn hoch und versuchte, zu Jean zu passen, der abseits des ganzen Knäuels stand, allerdings war Fahima schneller und jagte triumphierend mit dem Football davon, wirbelte ihn durch die Luft und jubelte zum Leidwesen und kollektiven Aufstöhnen seines Teams. „Nimm das, Captain Fehlpass!“, schrie sie und warf sich in Siegerpose. „Ich werde mich auf dem Spielfeld rächen, du Hexe!“, gab Jeremy lachend zurück und befreite sich ächzend nach und nach aus dem Knäuel an Gliedmaßen und daran angeschlossenen Menschen. Jean beobachtete ihn dabei, als hätte er den Verstand verloren, ganz im Gegensatz zu Kevin, der ihn mit einem warmen Lächeln maß, das Jeremy ohne Umschweife erwiderte. „Also, wollen wir?“, fragte er und deutete auf ihre Schläger, die noch unangetastet an der Plexiglasscheibe des Stadions lehnten. Sie teilten sich in gemischte Teams auf. Jeremys Team konnte sich über Allison, Ajeet, Matt, Nicky und Kevin freuen, während ihnen mit Dan, Renee, Alvarez, Jean, Fahima und Neil eine äußerst hart zu knackende Nuss gegenüberstand. „Okay, Leute. Die haben keine Chance gegen uns, wir machen sie alle und gewinnen zehn zu null“, schwor er seine Mannschaft ein und konnte sich doch sein Lachen nicht verkneifen. Auf der anderen Seite erzählte Dan vor Pathos triefend etwas von einer schon bereits gewonnenen Meisterschaft und dass sie sich im Endspurt befanden, ebenfalls zum hochgradigen Amüsement ihres zusammengewürfelten Teams. Dass sie sich nichts schenkten, davon war Jeremy ausgegangen und genau das ließ seinen Puls nun höher schlagen, während sie im Chaos um falsch lautende Trikots, gleichen Farben und ungewohnten Teammitgliedern versuchten, irgendwie Tore zu machen, die Anderen davon abzuhalten, es ihnen gleich zu tun und generell in einem Durcheinander an Professionalität und Humor gefangen war, die das eine oder andere Mal dafür sorgte, dass sie in einem Knäuel am Boden landeten und lachend liegen blieben, weil sie falsch gepasst hatten oder dem Gegner den Ball zugespielt hatten. Darüber hinaus liebte Jeremy es, mit Kevin zusammen zu spielen. Sie harmonierten perfekt zusammen, hatten die gleiche Geschwindigkeit und verstanden sich beinahe ohne Worte. Er liebte es, Ajeets Tor durch Matt und Nicky geschützt zu wissen. Allisons Pässe waren wundervoll, auch wenn Jeremy immer wieder den Verdacht hatte, dass sie beiden Mannschaften zupasste. Dass sein Team fantastisch war, war unbestritten, Jeremy hatte jedoch sehr viel Liebe dafür, dass im gegnerischen Team Jean und Neil sich sowohl Bälle als auch Beleidigungen hin und herspielten, Renee ihr Möglichstes gab, das Tor zu verteidigen und Alvarez, Dan und Fahima eine Phalanx der Vernunft bildeten, die abwechselnd Späße auf Kosten der Jungs und ernstgemeinte Spielzüge tätigten. Alvarez ließ es sich nicht nehmen, bei jeder Gelegenheit Jostens Können in den Himmel zu loben und ihm anzubieten, doch zur USC zu wechseln, was Jeremy mit einem Aufstöhnen und einem Augenrollen zur Kenntnis nahm. Die Einzigen, die in aller Ernsthaftigkeit aufeinandertrafen, wenn sie sich gegenüber standen, waren Kevin und Jean. Die Checks, die die Beiden miteinander austauschten, waren das, was Jeremy schon teilweise als illegal und gewalttägig über die Grenzen ihres Sportes bezeichnen würde. Für die ersten paar Male hatte er das Gefühl, dass lediglich Jean Kevin so hart anging und er ahnte aus den spärlichen Erzählungen Jeans über ihre Beziehung zueinander auch warum. Dass Kevin sich schließlich zu Wehr setzte und Jean ebenso hart checkte, ließ Jeremy mühevoll schlucken. Fünf Mal sah er sich den Krieg zwischen den beiden Jungen an, bevor er dazwischen gehen wollte. Wenn das hier zu einer Prügelei ausartete, war niemandem gedient, wirklich nicht. Doch es war ausgerechnet Neil, der ihn zurückhielt und den Kopf schüttelte. „Das sind Raven Drills, Knox. Lass sie. Und lass sie ein wenig Dampf ablassen, den sie bei unseren Spielen gegeneinander nicht ablassen können.“ Jeremy runzelte die Stirn. „Aber sie verletzen sich.“ „Nicht mehr als sonst und beide kennen ihre Grenzen.“ „Das sieht mir eher nach dem Beginn einer Prügelei aus.“ „So wird es nicht.“ „Aber sie mögen sich offensichtlich nicht.“ „Jean mag Kevin nicht und Kevin ist ein Feigling, der nicht bereit ist, Jeans Wut zu ertragen. Das ist nichts Neues und wird sich so schnell nicht mehr ändern. Lass sie ihren Dampf ablassen.“ Jeremy hob die Augenbraue. Dafür, dass Neil Josten sehr oft sehr hilflos schien, was zwischenmenschliche Beziehungen anbetraf, so waren seine Worte jedoch merkwürdig zutreffend. Unwirsch schürzte Jeremy die Lippen. Nach weiteren drei Zweikämpfen und einem vierten Mal, bei dem er von Jean grob, aber im Rahmen der Regeln gegen die Plexiglaswand des Stadions gedrückt wurde, beschloss Jeremy, seine Gedanken zu dem Thema fallen zu lassen und sich darauf zu konzentrieren, das Spiel zu gewinnen. Vergebens. Die Kombination aus Neil und seiner verfluchten Schnelligkeit, Fahima in ihrer Durchtriebenheit, Alvarez und Jean in der gemeinschaftlichen Mauerbildung mit Dan als Dealer und Renee, die das Tor verdammt nochmal genauso dicht machte wie Minyard auch, verloren sie. Klar und deutlich. Außer Atem und glücklich grinsend klatschte Jeremy schließlich alle Spieler ab und verließ dann vor Erschöpfung wankend das Spielfeld. Er öffnete die Tür zu den Zuschauerrängen und ließ sich dort auf eine der Bänke fallen, grinste die blonden Zwillinge an, die unisono auf ihn hinuntersahen, als hätte er den Verstand verloren. Hinter ihm kamen auch die restlichen Spieler und ließen sich bei ihnen nieder. Alkohol und ungesundes Knabberzeug kreiste und Jeremy nahm Letzteres dankbar an. „Das hat Spaß gemacht!“, rief er in die Runde und erhielt von Andrew lediglich eine hoch erhobene Augenbraue. Schuldig zuckte Jeremy mit den Schultern und klopfte Kevin, der unweit von ihm saß, freundlich auf die Schulter. Minyard richtete den Blick zum Dach der Tribüne, als könne ihm die Decke Antwort auf die Frage geben, warum er mit solchen Menschen wie Jeremy gestraft war. Wenn Jeremy sich nicht vollkommen täuschte, las er so etwas wie Resignation in dem ausdruckslosen Gesicht. Vielleicht war das aber auch eine Täuschung. „Und nun? Duschen und dann Eis essen gehen?“, fragte er in die Runde und fand definitiv Resignation. Nicht auf Andrews Gesicht, oh nein, sondern auf Jeans. Andrew hingegen war mit einem Mal sehr interessiert an dem, was er zu sagen hatte. Ausnahmsweise. Sein striktes, keinen Widerspruch zulassendes „Ja.“ erstickte auch Jeans übliche Antwort im Keim. ~~**~~ Jean starrte in sein müdes Konterfei, das ihm mit Augenringen und eingefallenen Wangen kein schönes Spiegelbild präsentierte. Drei Tage war das Bankett nun her, drei Tage, seitdem Williams ihn angefasst und viele der kleinen Fortschritte, die er gemacht hatte, wieder zunichte gemacht hatte. Jean hatte gekämpft, dass er nach Rikos letzten Gewalttaten wieder dazu in der Lage sein konnte, sich die Haare zu waschen, ohne dass ihm übel würde. Nun konnte er mit viel Überwindung die Beanie über seinen Kopf ziehen und brauchte Minuten, bis sich sein wild schlagendes Herz wieder beruhigte. Er träumte schlecht und hatte Knox jede Nacht durch seine Alpträume aufgeweckt, in denen Riko ihn oder – und das war neu – auch Josten oder Knox vergewaltigen oder foltern ließ, während er neben sich oder den beiden anderen Jungen stand, unfähig, etwas zu tun oder sich zu rühren. Knox sagte nichts dazu, dass er keine Nacht hatte durchschlafen können. Er sagte auch nichts dazu, dass Jean sich beharrlich dazu ausschwieg, was wirklich passiert war. Er saß lediglich im Schein seiner Nachttischlampe auf seinem Bett, die Beine über die Kante geschwungen und bot Jean jedes Mal seine Decke an. Jean hatte sie jede einzelne Nacht angenommen und sich unter dem Sonne versprechenden Geruch seines Kapitäns vergraben, die Tage auch ohne Countdown zählend, die ihm noch blieben. Vielleicht war es auch besser so, so zu gehen als mit noch mehr Bedauern als sowieso schon. Das chaotische Spiel am Abend des Banketts hatte ihm gut getan um etwas von der Wut auf Day ablassen zu können, auch wenn er das mit teilweise fürchterlichen Magenschmerzen von Williams Schlägen bezahlt hatte. Renees und Jostens Fragen in den darauffolgenden Tagen, wie es ihm ging, hatte er mit einsilbigen Antworten abgetan und Jean wusste, dass sie ihn zunächst damit in Ruhe lassen würden. Dass weder sie noch er ihm glaubten, war Jean nur zu bewusst und er fürchtete den Moment, in dem er ein letztes Mal mit Renee telefonieren würde. Vorgestern hatte Jean in Coach Rhemanns Beisein mit dem Komitee gesprochen und ihnen geschildert, was passiert war. Er hatte von den Schlägen erzählt, weil sein Trainer um diesen Umstand bereits seit seinem Besuch bei der Teamärztin wusste. Von Minyards und Renees Eingreifen auch, jedoch ließ er die Gewalt und das Messer weg, schließlich wollte er Renee nicht in Schwierigkeiten bringen. Die Frauen und der Mann des Komitees hatten sich schweigend seine Fassung angehört und einzelne Nachfragen gestellt. Sie hatten versprochen, den Sachverhalt zu prüfen und die anderen Zeugen zu befragen. Nichts davon konnte Jean gleichgültiger sein, auch wenn sie schließlich die Ravens, die ihn angegriffen hatten, für drei Spiele gesperrt und unter besondere Beobachtung gesetzt hatten. So hatte es Coach Rhemann ihm gesagt. Jean kehrte zurück zu seiner jetzigen Realität, in der Knox Frühstück machte, das er mit Mühe und Not herunterzwingen würde. Er kehrte zurück zu seinen Haaren, die dringend gewaschen werden mussten. Seine Hände zitterten alleine schon bei dem Gedanken daran und er musste mehrfach schlucken, um die Übelkeit nicht siegen zu lassen, die Auswuchs seiner Angst war. In Abbys Haus war es Renee gewesen, die diese Aufgabe für ihn erledigt hatte, bis er in der Lage gewesen war, seine Haare und seinen Kopf zu berühren. Renee war aber nicht mehr hier, sie war mit den anderen Foxes vor drei Tagen abgereist. Jean versuchte, seine Hände zu heben und scheiterte. Wütend presste er sie auf den Rand des Waschbeckens, ebenso wütend grollte er und fluchte hilflos. Es dauerte keine halbe Minute, bis es vorsichtig an der Tür um Badezimmer klopfte. „Jean, ist alles in Ordnung?“, fragte Knox und er zuckte so gewaltig zusammen, dass er seinen Zahnputzbecher umwarf, der scheppernd zu Boden fiel. Hastig bückte sich Jean danach und zischte schmerzerfüllt, als sich die Hämatome in seinem Bauch bemerkbar machten. „Jean?“ Das war seine zweite Warnung, wusste er, bevor sein Kapitän schlussendlich versuchen würde, die Tür zu öffnen, aus Sorge, dass er sich etwas getan hatte. „Es ist okay“, krächzte er die Lüge heraus, die er in den vergangenen vier Tagen den Trojans gegenüber mehr als ein dutzendmal hervorgebracht hatte. Ging es ihm gut? Es war okay. Hatte er das Bankett überstanden? Es war okay. Er sah schlecht aus, hatte er geschlafen? Es war okay. Das, was im Nest so überlebenswichtig gewesen war, sich selbst nicht vor anderen zu entblößen, kam ihm hier wie ein Verrat vor und das machte es absolut nicht besser. Jean war jeden Tag mehr versucht, ihnen entgegen zu schreien, wie wenig okay alles war und dass er, wenn er es sich ehrlich eingestand, Hilfe brauchte. Er konnte das nicht alleine. Schon damals, als Riko ihn mit Waterboarding gefoltert hatte, hatte er die einfachsten, normalen und natürlichen Dinge nicht mehr alleine tun können. Duschen. Das Gesicht waschen. Wasser trinken. Day hatte ihm damals geholfen, mit kleinen Schritten und sicheren Händen, die keine Gewalt beherbergten und Jean fragte sich, ob es möglich wäre, dass Knox ihn ebenso unterstützte. Er hatte doch seine Narben gesehen. Er gab ihm seine Decke. Verlangte Jean da nicht zuviel, wenn er ihn um etwas Weiteres bat? Wurde er in den letzten Tagen nicht zur Belastung, wenn er es tat? Vielleicht hätte Jean sich die Frage eindringlicher mit ja beantwortet, wenn es den Countdown nicht gegeben hätte. Zittrig stellte er seinen Becher auf die Anrichte und machte die Antwort auf die Frage davon abhängig, ob Knox noch vor der Tür stand, wenn er sie öffnete. Er öffnete das Schloss und drückte die Klinke herunter, vergaß für einen Moment zu atmen, als Knox näher davor stand als erwartet, Unsicherheit quer über sein Gesicht geschrieben. Natürlich glaubte sein Kapitän ihm seine Lügen nicht und anders als Riko wartete er, bis Jean die Wahrheit von alleine sagte. „Ich brauche Hilfe“, presste er hervor, bevor er es sich anders überlegen konnte. Knox brauchte keine drei Sekunden, um sich zu fangen und sein Gesicht von Besorgnis auf Problemlösung zu schulen. „Natürlich, Jean. Wobei?“, fragte er sanft und hob abwartend die Augenbrauen. Jean schwieg. Um Hilfe zu bitten, war das Eine. Zu definieren, was ihm unmöglich war, das Andere. Im Gegensatz zu Knox war Day dabei gewesen oder hatte es gewusst, als ihm Gewalt angetan worden war. Ihm hatte er nichts erklären müssen. Renee und Abby auch nicht. Doch nun stand er vor der Frage, wie er dem anderen Jungen deutlich machte, dass er noch nicht einmal in der Lage war, für seinen Körper zu sorgen, weil er so traumatisiert und schwach war. Aber… er war nicht schwach… er hatte doch beinahe ein Jahrzehnt in einer feindlichen Umgebung überlebt. Das erreichte man nicht durch Schwäche. Jean schluckte. Knox quietschte wegen Käfern, die in seinen Haaren krabbelten und Jean würde den Teufel tun und seinen Kapitän aus einem solchen Grund als schwach zu bezeichnen. Warum also sollte er dann schwach sein? „Ich kann meine Haare nicht waschen“, presste er hervor, impulsiv, wieder, bevor er es sich anders überlegen konnte und es war, als hätte das einen Damm gebrochen. „Beim Bankett hat Williams daran gezogen und es hat Erinnerungen an Riko geweckt. Seitdem kann ich sie nicht anfassen…“ Jean erläuterte nicht, was er meinte, doch das musste er auch nicht. Knox begriff auch so und beinahe unmerklich lächelte er. „Wie kann dich dir dabei helfen?“, fragte Knox sanft. „Ich weiß es nicht.“ Jean zuckte ratlos mit den Schultern. Vielleicht war es durch einen Befehl möglich. Vielleicht durch eine ruhige, schlüssige Argumentation, dass ihm nichts passieren würde. Vielleicht, wenn sein Kapitän seinen Kopf unter das Wasser zwang. Stirnrunzelnd sah der blonde Junge an ihm vorbei zur Dusche, zum Waschbecken, dann drehte er sich mit einem Laut des Nachdenkens zur Küche. „Wäre es in Ordnung, wenn ich deine Haare berühre?“, fragte er schließlich und Jean zuckte hilflos mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“ „Okay…“ Anscheinend hatte Knox einen Geistesblitz, so wie sich sein Gesicht erhellte. Abrupt drehte er sich um. „Warte, ich komme gleich wieder.“ Stumm sah Jean seinem Kapitän hinterher und hörte ihn im Küchenschrank rumoren. Nervös nestelte Jean an dem T-Shirt, das er in ihrem Apartment trug, jetzt, da Knox seine Narben gesehen hatte. Wenigstens hier war es damit luftig. Mit einem unterdrückten, triumphierenden Laut endete das Scheppern und Knox tauchte wieder in seinem Blickfeld auf, in seinen Händen einen ein-Liter-Messbecher, den er für gewöhnlich zum Kochen gebrauchte. Jean sah mit großen Augen zu, wie er ihn auf den Rand des Waschbeckens stellte und dann zu seinem Schreibtisch ging. Er holte seinen Hocker, den er in das Badezimmer vor die Dusche hievte, das mit ihnen beiden darin schon eng war. Kritisch die Lippen schürzend betrachtete Knox das Ensemble und wandte sich dann wieder ihm zu, ruhig und gefasst. Jean schluckte. Wie selbstverständlich Knox die Initiative ergriff, erstaunte ihn über alle Maßen. Er stellte keine Fragen, er kritisierte nicht, er runzelte noch nicht einmal mit der Stirn. „Sag mir, was du davon hältst“, deutete Knox auf den Hocker. „Du setzt dich hierhin und ich knie mich neben dich. Ich mache nicht die Dusche an, sondern nehme den Messbecher und habe meine Arme immer da, wo du sie sehen kannst, während ich dir deine Haare wasche. Nebenbei singe ich schief, damit du etwas hast, was dich mehr irritiert, als meine Finger in deinen Haaren?“ Jean blinzelte. Was? Knox wollte was? Für seine Unzulänglichkeit aufkommen, indem er seine Aufgabe übernahm. Jean hatte wirklich vieles erwartet, aber das nicht. Ihm helfen, indem er ihm die Haare wusch? Er schluckte. „Nur, wenn du möchtest“, schob Knox nach, wartend, selbst unsicher, wie Jean nun an den Händen sah, die nicht stillstehen wollten. Anstelle einer Antwort setzte sich Jean langsam auf den Hocker und sah zu Knox hoch. Wie groß der Unterschied auch hier zu Riko war, wurde ihm bewusst, als ihm vollständig die Angst vor dem Jungen fehlte, der nun bedeutend größer als er war. Er wusste, dass Knox ihm nichts tun würde. Er wusste das. „Okay.“ Knox füllte den Messbecher bis zur Hälfte mit warmen Wasser und hielt zeigte es ihm, damit Jean schauen konnte. Unmerklich nickte er, um irgendwie ein Gegengewicht zu seinem rasend schnell schlagenden Herz zu haben, das ihm deutlich zeigte, wie groß seine unlogische Angst vor Fingern in seinen Haaren und der Möglichkeit, dass sie an seinen Strähnen zogen und ihm ganze Haarbüschel ausrissen, war. Wie er angekündigt hatte, kniete sich Knox neben ihm auf den Boden. „Kannst du den Kopf ein wenig in den Nacken legen?“, fragte er leise und Jean folgte angespannt seiner Bitte. „Ich beginne jetzt mit dem Wasser. Wie geht es dir damit, Jean?“ Er schluckte. „Nicht gut.“ „Soll ich aufhören?“ „Nein.“ „Ich werde dich das jetzt öfter fragen und ich möchte, dass du mir darauf eine ehrliche Antwort gibst.“ Jean nickte mit einem Blick in die ernsten, blauen Augen. Brachial zuckte er zusammen, als das erste Wasser auf seine Haut traf, ein schweres Gewicht auf seinen Haaren. Er ballte die Hände zu Fäusten, hielt sich jedoch mit Gewalt davon ab, aufzuspringen und aus dem Badezimmer zu fliehen. Anstelle dessen klammerte er sich an die Erinnerungen an Renee. Sie hatte es ähnlich getan. Ähnlich vorsichtig. Sie hatte ebenso gesummt, wie Knox es nun tat und gewartet. Die Hälfte des Wassers befand sich in seinen Haaren oder in der Dusche und Knox nahm vorsichtig den Messbecher nach vorne um ihm den Fortschritt zu zeigen. „Du machst das sehr gut, Jean“, lobte Knox ihn. „Soll ich fortfahren?“ Nicken war leichter als Kopfschütteln, stellte Jean fest und so arbeitete sein Kapitän den restlichen Viertelliter in seine Haare, lehnte sich schließlich langsam zurück und holte sich aus der knienden Position heraus neues Wasser. Mehr dieses Mal, 250 Milliliter mehr. 750 Milliliter befanden sich in den Messbecher, den Knox zur Seite stellte. „Wolltest du nicht schief singen?“, fragte Jean zittrig, während er hörte, dass Knox sein Shampoo zur Hand nahm. Trocken schluckte er. „Gleich…gleich“, murmelte der andere Junge und gab sich anscheinend Shampoo in die Handfläche. Er streckte die Hand aus und hielt sie ihm hin. „Ist das okay für dich?“ Jean nickte. „Ist es auch okay für dich, wenn ich meine Hand nun auf deine Haare lege und die Menge darauf verteile?“ „Ich weiß es nicht.“ Unsicher suchten Jeans Augen die seines Kapitäns. „Hmm. Also, ich würde es folgendermaßen machen: zuerst würde ich vorne auf deinem Kopf anfangen, nahe der Stirn und mich dann langsam nach hinten arbeiten, von dort aus zu den Seiten. Das Ganze aufschäumen und dann mit Wasser wieder abspülen. Natürlich würde ich zu keinem Zeitpunkt an deinen Haaren ziehen, das ist selbstverständlich.“ Jean lauschte der Erklärung und nickte. Das machte seine Angst vor den einzelnen Abschnitten nicht besser, aber es half. Das Wissen um das, was kam, half. Das Wissen um die Schritte half. „Und du möchtest wirklich, dass ich singe?“ Zittrig schnaubte Jean. „Ich kann dich doch sonst auch nicht davon abhalten, wenn du unter der Dusche stehst.“ Empört grollte Knox und platzierte seine Hand so sacht auf seinen Haaren, dass Jean es beinahe nicht gespürt hätte. Sein Körper war da schneller als er und zuckte zusammen. „Noch okay?“ „Ja.“ Knox strich langsam und sacht über seine Haare und sang leise und schief dabei. Schritt für Schritt ging er das ab, was er vorher angekündigt hatte und Jean hielt dem mit Mühe stand. Wieder und wieder hielt er sich vor Augen, dass Williams nicht hier war. Riko auch nicht. Sie würden ihn nie wieder anfassen. Knox würde es ihnen nicht gleich tun. „Warum weint man denn in einem Club?“, fragte Jean rau, als er dem Text zuhörte, den Knox in den engen Raum zwischen sie krächzte und sein Kapitän lachte. „Weil man verlassen wird und nun Angst hat, für immer alleine zu sein, aber im Club gibt es das nicht, da werden die Tränen hinter dir gelassen und die Musik trägt dich davon, während du im Feuer der Musik verbrennst.“ Jean verzog das Gesicht. „Das ist kitschig.“ „Das ist der neueste Scheiß. Du solltest mal Laila, Alvarez und mich dazu tanzen sehen.“ Tanzen? Jean schluckte und sah mit großen Augen zu, wie Knox seine schaumbedeckten Hände nach vorne nahm. „Fertig mit Einseifen. Soll ich sie nun ausspülen?“, fragte er der blonde Junge und Jean nickte. Ebenso vorsichtig und wachsam wohnte Jean dem bei und hörte einem neuen Text zu, der sich ihm wieder nicht wirklich erschloss. „Wieso ist es wichtig, dass sie einen Engländer kennenlernt?“, fragte er wieder und Knox brummte nichtssagend. „Na weil sie ein Galway Girl ist, deswegen!“, erwiderte er, während das Wasser über seinen Kopf floss, ein schweres, aber nicht verletzendes Gewicht. Kühle, da wo die Hitze von Williams Zerren und Ziehen an seinen Haaren nichts als brennende Erinnerungen zurückgelassen hatte. „Das ist keine Begründung.“ „Für Ed Sheeran schon.“ „Wer?“ „Der Sänger, sieht so ein bisschen aus wie Neil Josten.“ Jean versuchte sich vorzustellen, wie Josten sang und scheiterte. Vielleicht war das auch gut so. Jeder hat sein Schicksal und das des rothaarigen Jungen war es, Exy zu spielen. Wenn es etwas gab, worin er exzellent war, dann darin. Und darin, Gebrauch von seiner großen Klappe zu machen und sich in Schwierigkeiten zu bringen. Jean war sich nicht sicher, welches Talent größer war. „So, fertig mit waschen.“ Worte, die soviel Erleichterung brachten, dass beinahe Jeans Augen brannten. Er neigte seinen Kopf wieder nach vorne und sah Knox in das erwartungsvolle Gesicht, während dieser ihm vorsichtig das Handtuch auf den Kopf legte und die Feuchtigkeit in seinem Nacken auffing. „Wie geht es dir?“, fragte er schließlich und Jean brachte es nicht über sich, ihn mit einem „Okay.“ oder einer Lüge abzuspeisen. „Immer noch nicht gut, aber besser“, erwiderte er und Knox nickte. „Fortschritt ist Fortschritt, Jean. Egal, wie klein, egal, wie groß. Wir sind hier und helfen dir. Ich helfe dir gerne und ich werde nicht zulassen, dass Williams noch ein einziges Mal Hand an dich legt.“ „Das kann er auch nicht, er und die anderen fünf Raven sind schließlich für die ersten drei Spiele gesperrt“, gab Jean mit zittrigem Selbstbewusstsein wieder, was Coach Rhemann ihm gesagt hatte. Knox legte seine Hand auf Jeans angespannte Faust und Jean sah auf ihrer beider Hände herab. „Richtig so“, nickte sein Kapitän und ungebeten kamen Jean Kevins Worte ins Gedächtnis. In seiner Wut hatte er Day gesagt, dass die Trojans zuviel von ihm verlangten, doch dem war nicht so. Sie verlangten gar nichts, sie gaben ihm Möglichkeiten, die er ergreifen konnte oder eben auch nicht. Sie waren gut, doch all das Gute in seinem Leben verriet Jean irgendwann und so wäre es doch nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn auch verrieten. Oder? Die Statistik gab ihm recht, auch wenn ein kleiner, kindlicher Teil in ihm hoffte, dass es vielleicht irgendwo jemanden gab, der bei ihm bleiben würde. Ein dummer, kindlicher Teil an Hoffnung. Vielleicht sollte er ihn Neil nennen, so stur, unbelehrbar und untötbar wie der Teil war. Trotz oder gerade wegen seiner Angst fand Jean diesen Gedanken durchaus amüsant. „Wir haben noch eine Sache vergessen“, löste sein Kapitän ihn zuverlässig aus seinen Gedanken und fischte nach etwas, das Jean nach ein paar Sekunden als Bürste identifizierte. Mühevoll schluckte er. Waschen war das Eine, aber durch die Haare zu kämmen, etwas vollkommen Anderes. Es würde sicherlich schmerzen, wenn Knox ihm die Strähnen kämmen würde. „Das hier, Jean Moreau, ist ein Wunderwerk“, präsentierte er die Bürste und Jean hob die Augenbrauen. Sie hatte Borsten, mehr als andere Bürsten. Was war daran ein Wunderwerk? „Diese Bürste wurde für Kids konzipiert, vielmehr für deren empfindliche Kopfhaut. Das Ding hält, was es verspricht: kein Ziepen. Kann ich dir sagen, ich nutze sie seit Jahren.“ Das sah Jean bei näherer Betrachtung auch. Sie war abgegriffen und strotzte nur so vor blonden, langen Haaren. Er streckte die Hand nach der Bürste aus und Knox reichte sie ihm. Vorsichtig strich Jean mit seinen Fingern über die Borsten und stellte fest, dass sie viel weicher als die in seiner Bürste waren, die vergessen auf der Anrichte lag. Jean blinzelte unter dem Handtuch zu Knox empor und reichte sie ihm mit einem Nicken zurück. „Ich glaube schon“, murmelte er und wartete, dass der andere Junge ihm das Stück Frottee sacht vom Kopf hob. „Du kannst jederzeit Stopp sagen, Jean und ich höre sofort auf.“ Er nickte und Knox sah ihn erwartungsvoll an. Erst nach ein paar Sekunden begriff Jean, dass sein Kapitän darauf wartete, dass er aufstand. Jean räusperte und erhob sich ruckartig. „Möchtest du mir dabei im Spiegel zusehen?“, fragte Knox und Jean nickte, positionierte sich so, dass er den anderen Jungen und sich im Blickfeld hatte. „Ich würde hinten in deinem Nacken anfangen und ganz langsam nach oben bürsten.“ „Okay.“ Während Jean seine Fingernägel in die Handinnenflächen bohrte, begann Knox und verursachte gleich mit den ersten, vorsichtigen Strichen eine Gänsehaut, die selbst noch auf Jeans Unterarmen zu sehen war. Anscheinend konnten seine Rezeptoren sich nicht entscheiden, ob sie entsetzt oder erleichtert über den Kontakt der Borsten mit seiner Haut sein sollten und so war Jean gefangen in einem Wechselspiel aus Angst, Vorsicht und kribbelnder Unbekanntheit, die er nicht definieren konnte. Knox hatte Recht, die Borsten fühlten sich ganz anders an, während sie Knox sanft mit vor Konzentration gerunzelter Stirn durch seine Haare strich. Strähne um Strähne löste sich von ihrem Wirrwarr und Jean ließ sich Zeit, seinen Kapitän dabei zu beobachten. Wenn er sich konzentrierte, dann grub er seine oberen Schneidezähne in seine Unterlippe. Im rechten Mundwinkel hatte er eine kleine, schmale Narbe, die Jean gerade zum ersten Mal auffiel. Seine Nase war für ihre brutale Sportart geradezu unverschämt gerade und er hatte tatsächlich Sommersprossen. Ein paar wenige, aber sie waren da, selbst durch die Bräune hin gut sichtbar. Jean bemerkte, dass die hellblauen Augen von einem dunkelblauen Ring umschlossen waren, was ihnen mehr Tiefe verlieh. Eben jene huschten von Zeit zu Zeit zum Spiegel und Knox hielt fragend inne. Jedes Mal nickte Jean und schlussendlich waren seine Strähnen entwirrt und gelockert. Stolz trat der andere Junge zurück und strahlte ihn über die Spiegel hinweg an. Jean schluckte. „Knox?“ „Ja?“ „Danke. Dafür. Und für alles.“ Es fiel Jean nicht leicht, diese Worte freiwillig auszusprechen, ohne, dass sie mit Gewalt aus ihm herausgepresst wurden. Dennoch waren sie seltsam befreiend, weil es seine eigene Wahl gewesen war, sie zu äußern. Das Lächeln, das ihm geschenkt wurde, war so sanft, wie es sonnig war. „Gerne, Jean. Und ich mache es auch gerne so lange, bis du dich wohl genug fühlst, es selbst zu tun.“ Jean wollte etwas sagen, als sein Handy pingte und Knox herumfuhr. „Ich habe es gerade gesehen, warte, wo ist es denn?“, sagte er zu sich selbst und war aus dem Bad verschwunden, bevor Jean ihn davon abhalten konnte. Er blinzelte und sah seinem Kapitän zweifelnd hinterher. „Da ist es!“, ertönte es aus dem Schlafzimmer und Knox‘ Schopf tauchte ruckartig wieder im Türrahmen auf. Grinsend hielt er ihm das Handy hin und Jean musste nicht den Bildschirm erhellen um zu wissen, was es für eine Nachricht war. „Sorry, als ich es geholt habe, war der Bildschirm noch an. Ich habe gesehen, dass Monster I dir geschrieben hat, aber nicht, was. Tut mir leid!“, entschuldigte sich der blonde Junge, der ihm seine Haare gewaschen hatte, bei ihm, als wäre es etwas Schlimmes. „Das ist okay“, murmelte Jean, während sich seine Hände um den Countdown krampften. Wieder verfielen sie in Schweigen und Jean fragte sich, ob nun ein guter Zeitpunkt dafür wäre, eine der Sachen anzusprechen, die er seit Williams hasserfüllter Worte geradestellen wollte. Er hatte keine Ahnung, wie Knox sie auffassen würde, ob Jean ihn womöglich dadurch beleidigen würde. „Knox?“ Anscheinend hatte sein spontanes Denken die Antwort für ihn übernommen und Jean schluckte, als er sich erneut im vollständigen Fokus seines Kapitäns sah. „Ja, Jean?“ Unsicher sah er zur Seite und ballte die Hände zu Fäusten. Wie sagte man das? Gab es einen guten Weg? Und warum war es ihm denn wichtig, mit was für einem Eindruck er Knox im Gedächtnis blieb? Jean konnte keine der Fragen beantworten. „Ich bin so nicht“, erwiderte er dementsprechend neutral. Zu neutral, denn Knox konnte nichts mit seinen Worten anfangen. „Wie bist du nicht?“ Jean seufzte innerlich. „So wie Williams es gesagt hat“, spezifizierte er und wagte es nicht, seine Augen von Knox zu nehmen, in der Befürchtung, dass dieser wütend wurde. Knox lächelte sanft. „Schwul meinst du?“, fragte er sacht nach und Jean schüttelte den Kopf. „Ich habe Riko nie…“ Etwas hilflos deutete er auf seine eigene Körpermitte und zuckte mit den Schultern. „Und ich würde mich auch nie filmen dabei.“ Knox seufzte. „Jean. Ich meinte das, was ich gesagt habe. Dein Körper gehört dir. Was du damit machst und was dich glücklich macht, ist ganz alleine deine Sache. Du musst dich vor mir nicht rechtfertigen, ich habe kein Recht, über dich zu urteilen. Zumal Williams‘ einziges Ziel war, dir damit eins mitzugeben und uns beide zu beleidigen. Alles gut, Jean, mach dir keinen Kopf darum. Was auch immer dich glücklich macht, soll mir nur recht und billig sein.“ Noch vor Wochen hätte Jean all seine Kraft dazu aufbringen müssen, Knox zu fragen, ob das auch bedeutete, dass er sich ihm weder aufzwingen noch Sex von ihm erwarten würde. Nun wusste er, dass dem nicht so war und er konnte lächeln, weil ihm die Worte seines Kapitäns gut taten. „Okay“, sagte er und das war es auch. Okay. ~~**~~ Verstohlen warf Jeremy einen Blick aus der Küche in ihr Schlafzimmer. Er gab sich große Mühe, wirklich leise zu sein und seinen Mitbewohner nicht auf sich aufmerksam zu machen. Jeremy vermutete, dass es auch ohne seine Vorsicht von Erfolg gekrönt gewesen wäre, da sich Jean für gewöhnlich wie ein Besessener auf seine Bücher stürzte, als würde er morgen Klausuren schreiben. Es wäre nicht das erste Mal in diesen Tagen, dass Jean ihn einfach ignorieren oder nicht hören würde, nur um dann zusammenzuzucken, als hätte Jeremy ihn verbrannt. In zwei Tagen hatten sie ihr erstes Spiel der Saison und Jeremy war fürchterlich aufgeregt, ob das Training, die harten Stunden an Arbeit, die sie im Stadion verbrachten und durch ihren Coach, ihn selbst oder Drills, altbekannt oder neu hinzugekommen, sich auszahlen würden. Auch wenn Jean kein Anzeichen dafür gab, so hatte er das Gefühl, dass es ihrem neuen Backliner nicht anders ging und dass er sich deswegen derart in die Bücher vertiefte. Deswegen war es umso besser, dass seine Bestellung heute angekommen war, die er gerade hinter seinem Rücken versteckte. Jetzt wäre doch ein guter Zeitpunkt, um es Jean zu geben, oder? Hmmm. Jeremy räusperte sich vernehmlich, erhielt jedoch keinerlei Reaktion darauf. Jean war wieder tief in seinen Büchern versunken. Verdammt. „Jean?“, fragte er ruhig, um den anderen Jungen nicht zu verschrecken und erhielt daraufhin ein „Hmmh.“ als Antwort, von dem er mittlerweile wusste, dass es nicht wirklich ein Zeichen von Aufmerksamkeit war. Also schon, aber nur nicht von bewusster Aufmerksamkeit. Jeremy kam langsam zu Jean und begab sich in die Hocke, als er in Reichweite des Anderen war. Jean saß mit gebeugtem Rücken über seinem Schreibtisch, die Stirn selbst aus Jeremys eingeschränktem Blickwinkel nachdenklich gerunzelt. Langsam zog er das Geschenk hinter seinem Rücken hervor und schraubte es durch Jeans auf dem Tisch abgestützte Arme nach oben in Richtung Tischplatte. Auch das wurde zunächst missachtet, bis Jean wie so oft in den letzten beiden Wochen mit einem Mal zu sich kam und zurückzuckte. Jeremy war darauf vorbereitet und hielt sein Geschenk eisern fest, während er sein strahlendstes Grinsen aufsetzte. Mit vor Schreck geweiteten Augen sah Jean ihn an, bevor sein Blick zu dem Gegenstand in Jeremys Händen huschte. Verwirrt maß er diesen um dann wieder zu Jeremy zurück zu kehren, der ihm das runde Stück Filmgeschichte feierlich überreichte. „Für dich“, sagte er schlicht, während er nicht mehr aufhören konnte zu grinsen und sich über die geweiteten, grauen Augen zu freuen, die vollkommen verwirrt nichts daraus zu machen wussten. Jean blinzelte. „Für mich“, echote er und machte keine Anstalten, das Plüschtier anzunehmen. Jeremy nickte. „Ein Geschenk.“ Ein Geschenk, wiederholte Jean dieses Mal stumm, als könne er nicht glauben, was gerade geschah und schluckte dann. „Für mich?“, fragt er erneut zögernd und Jeremy hob die Augenbraue. „Ja!“ „Warum?“ „Einfach so.“ Stürmisch runzelte Jean seine Stirn. „Niemand schenkt einfach so.“ „Ich schon.“ Oh wie eindringlich konnten diese grauen Augen doch werden. Wie streng der Zug um die Mundwinkel. Unwirsch knirschte Jean mit seinem Kiefer und verlegen zuckte Jeremy mit den Schultern. „Na gut. Okaaay. Nicht einfach so“, gab er schließlich zu. „Als ich vor ein paar Wochen den Film beim Puzzeln habe laufen lassen, habe ich mitbekommen, dass du auch zugesehen hast.“ Er wackelte mit den Augenbrauen, als Jeans Ohrläppchen sich rot färbten. „Und da dachte ich, weil du interessiert warst, dass ich dir ein Plüschtier zu diesem Film schenke. Du hast ja noch keins, also hat sich das ja angeboten. Jeder braucht ein Kuscheltier und einen Glücksbringer. Und da habe ich mir überlegt, ob es Wall-E oder Eva sein soll, weil du die Szenen der Beiden schon sehr genossen hast. Eva schien mir da dann passender zu sein, außerdem schaut sie hier genauso wie du.“ Jeremy grinste sein bestes, charmantestes Schwiegermutterlächeln und streckte Jean die streng bis missbilligende schauende Eva entgegen. Sie als Schutzschild gegen den vernichtenden Blick zu missbrauchen, war zwar ein feiger Zug, aber einer, den Jeremy dringend nötig hatte. Nichtsdestotrotz nahm Jean das Kuscheltier an und barg es vorsichtig in seinen Händen. „Eva“, sagte er und strich über den weißen Plüschstoff, Verwunderung und Unverständnis in seinen Augen. „Eva.“ Jeremy konnte nicht anders. „Wall-E!“, imitierte er ihre empört-genervte Stimme aus dem Film und erhielt einen durchdringenden Blick dafür. „Du kannst sie überraschend gut imitieren“, sagte Jean. „Jahrelange Übung!“ „Und sie ist wie ich?“ Jeremy nickte. „Hochklassig, zerstörerisch, kritisch und zum Fürchten, aber gleichzeitig sorgend um andere und bereit, die todbringenden Fähigkeiten zurück zu stellen, wenn es um ernstgemeinte Freundschaft und Zuneigung geht. Oder sie für die richtige Seite einzusetzen.“ Er machte Jean mit seinen Worten sprachlos, das sah Jeremy an den Lippen, die sich nutzlos öffneten und schlossen. Das sah er an den Augen, die wieder und wieder zwischen Eva und ihm hin- und herhuschten. Erneut strich Jean zart über das handballgroße Kuscheltier und ein Ausdruck, den Jeremy nicht anders als Sehnsucht und Bedauern interpretieren konnte, huschte über sein Gesicht. „Dankeschön“, sagte Jean erstickt und Jeremy nickte überglücklich. Eine Sekunde später war er derjenige, der vor Erstaunen und Unglauben verstummte, als er durch starke Arme an einen muskulösen Körper gepresst wurde. Es war alles andere als bequem mit Eva zwischen ihnen und seiner an Jeans Brust gequetschten Nase, doch Jeremy würde den Teufel tun und sich darüber zu beschweren, als er seine erste, durch Jean initiierte Umarmung erhielt. ~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 22: Erste und letzte Male --------------------------------- Jean saß in der Umkleide, seinen Helm und seinen Schläger neben sich auf der Bank und starrte für einen Augenblick ohne wirkliches Ziel auf die Wand ihm gegenüber. Im Gegensatz zum Rest des Teams war er vollkommen ruhig und still, seitdem sie das Stadion der Wilkes-Meyer Hornets betreten hatten. Nach all den Monaten und den neuen Eindrücken war es ihm immer noch ein Rätsel und schleierhaft, wie er hier sitzen konnte, ohne Angst, dass Riko ihn noch vor dem Spiel bestrafen würde. Ohne Schmerzen und im Bewusstsein, dass er durch seinen Kapitän keine Schmerzen erleiden würde, selbst wenn er auf dem Spielfeld versagte. Er war aufgeregt, aber ihm war nicht übel. Er war konzentriert, hatte sich aber nicht aus seinem Körper gelöst wie sie oft vorher. Jean atmete tief durch und kehrte wieder zurück zu seinem Team. Valentine grinste ihn an und er hob die rechte Augenbraue. Seitdem Knox ihm erzählt hatte, dass es ausgerechnet sie und Logan gewesen waren, die ihn im Keller gefunden hatten, hatte sie anscheinend ein besonderes Augenmerk auf ihn gerichtet und nutzte die bisherigen Mittagspausen für einen kurzen Smalltalk. Am Anfang war es Jean befremdlich vorgekommen, mittlerweile wusste er sogar, was er auf ihre Fragen antworten sollte. Dass sie den Keller niemals zum Thema zwischen ihnen gemacht hatte, darum war Jean wirklich froh. „Alles gut, Moreau?“, fragte sie und Jean nickte. Es war tatsächlich alles gut und das war erstaunlich. „Dann hoch mit deinem Hintern, wir gehen gleich ins Stadion.“ Er schnaubte, erhob sich aber dennoch und griff zu seinem Helm und seinem Schläger. Er war Teil der Startaufstellung und würde mit Knox, Alvarez, Ajeet, Fahima und Valentine das erste Viertel spielen. Es war die geringste Spielzeit, die er jemals auf dem Feld gestanden hatte, aber ihr Coach hatte keinem seiner vorsichtigen Versuche, ihm mitzuteilen, dass er eine größere Ausdauer hatte, mehr als ein Nicken und ein Lächeln geschenkt. Es ist dein erstes Mal mit den Trojans, Moreau. Ich möchte dich nicht überfordern. Das und nichts Anderes hatte Rhemann gesagt und Jean hatte zähneknirschend akzeptiert, was er anscheinend nicht ändern konnte. Er lief mit seiner Mannschaft ins Stadion der Hornets und war überrascht, wie sehr ihn seine Aufregung im Griff hatte, jetzt, wo er nichts hatte, was ihn dazu zwang, mit Gewalt bei Bewusstsein zu bleiben. Williams‘ Schläge waren zwar noch nicht abgeheilt, aber sie schränkten ihn nicht wesentlich ein. Im Vergleich Rikos Gewalt überhaupt nicht. Der Geruch des Stadions war anders, als er ihn in Erinnerung hatte, die Größe sowieso. War es beim letzten Mal genauso weitläufig gewesen? Er sah auf die Zuschauerränge und die Menschen, die dort applaudierten und Namen riefen. Die auch seinen Namen riefen. Hatten sie das immer schon getan? Das Aufwärmen, die Ansprachen von ihrem Coach und seinem Kapitän zogen an Jean vorbei wie nichts. Wo er früher Angst vor dem Anpfiff und Schlechtleistungen gehabt hatte, konnte er es nun nicht erwarten, seine Bestleistung zu zeigen. Einmal noch. Dabei hatte er nur zwanzig Minuten dafür um sein Erbe zu zeigen und zu zeigen, dass er gut war. Als es schlussendlich soweit war, konzentrierte sich Jean vollständig auf die gegnerische Mannschaft und auf die Spielzüge, die sie im Training wieder und wieder durchgegangen waren. Er war eins mit seinem Schläger und ebenso eins mit der Mannschaft, die ihn umgab, mit dem Stadion und seinen Wänden und dem Ball. Er war nicht mehr Jean Moreau, er war Exy. Seine Bewegungen und Reaktionen waren instinktiv. Er blockte, passte, bewegte sich, als wäre er fremdgesteuert durch die Dynamik ihres Sports. Er spielte ohne dass es ihm schlecht ging, ohne Angst und Behinderung durch Verletzungen, er spielte in dem Wissen, dass Riko tot war und er lebte. Riko hatte versucht, ihn umzubringen und ihn zu verstümmeln und trotzdem stand er hier, inmitten einer Mannschaft, die das Gegenteil war von allem, was er kannte. Er spielte und er war erfolgreich in dem, was er tat. Wie viele Tore Knox und Fahima machten, konnte er nicht sagen, nur, dass Alvarez, Ajeet und er in perfekter Harmonie keinen einzigen Striker erfolgreich sein ließen. Sie ließen keinen Hornet durch, passten die Bälle zurück, an die Wände, nach vorne, weiter nach vorne, immer und immer weiter. Jean spürte das Lächeln auf seinen Lippen. Das war es, wofür es sich lohnte. Das war es, was er sich immer gewünscht hatte, was durch seine Adern floss wie Blut. Das Spiel kam für einen Moment zum Erliegen und er merkte erst dann, als Alvarez ihn anstieß, dass seine und ihre Nummern aufgerufen wurden zum Wechseln. Wild starrte er sie an und grinste zurück. „Komm, Großer. Pause für uns!“, lockte sie ihn von dem Spielfeld auf die Mannschaftsbank hinter der Plexiglasscheibe und Jean folgte ihr widerwillig, nickte Logan und Richard zu, die sie ersetzten. Das war zu wenig gewesen. Er wollte noch mehr. Er wollte weiterhin diesem Rausch erlegen sein, für immer, wenn es sein musste. Er wollte nicht, dass es endete. Nicht hier, nicht schon so bald, nicht auf diese Art und Weise. Coach Rhemann erwartete sie und schlug Alvarez auf den Rücken. Ihm selbst legte er die Hand weitaus vorsichtiger auf die Schulter. Wohlwollend nickte er ihnen zu, während sie ihre Helme abnahmen und auf die Bank legten. „Sehr gute Leistung, Alvarez und Moreau. Ich bin stolz auf euch.“ Blinzelnd blieb Jean stehen, als das Lob seines Trainers seine bewussten Gedanken erreichte und er ein paar Sekunden brauchte um wirklich zu verstehen, dass Rhemann ihn gelobt hatte. Für ein Spiel. Nach einer Spielleistung von gerade mal zwanzig Minuten. Jean schluckte und Rhemann starrte ihn mit gerunzelter Stirn an. „Alles klar, Moreau, oder bekommst du gerade einen Herzinfarkt?“, fragte er und Jean schüttelte den Kopf. „Gut, dann ab mit dir auf die Bank, da warten Jacke, Handtuch und was zu trinken auf dich.“ Immer noch ungläubig starrte Jean an ihm vorbei in Richtung Bank und sah, wie Alvarez neben sich auf den schwarzen Plastiksitz schlug. „Los, hinsetzen, du französisches Wunderkind und Mauer von einem Mann. Deine Muskeln sind nicht durchsichtig und ich will was sehen“, grollte sie und verwundert kam er zu ihr, ließ sich vorsichtig nieder. Sie legte ihm seine Jacke über die Schultern und reichte ihm sein Wasser wie auch sein Handtuch. Einen Moment lang wollte Jean ablehnen. In Evermore hätte er zum jetzigen Zeitpunkt niemals genug für Wasser geleistet. Doch hier… hier zählte auch diese Leistung. Langsam nahm er sie an und ebenso langsam trank er die Flasche leer, wertschätzte jeden einzelnen Schluck, den er nehmen konnte, weil es nicht verboten war. „Wir waren der Burner!“, grinste Alvarez und hielt ihm ihre Faust hin. Nur weil Jean im Training gesehen hatte, wie man darauf reagierte, wusste er auch, was er zu tun hatte und er stieß ihre vorsichtig mit seiner an. Es war besser, als nicht zu reagieren, das wusste er von Ajeets gemurmelten Erzählungen zwischen ihren Vorlesungen. „Es gibt Verbesserungspotenzial“, erwiderte Jean und Alvarez schnaubte laut. „Verbesserungspotenzial bei fünf zu null? Moreau, hier geht es nicht darum, die Herzen der Gegenspieler zu brechen und sie emotional zu vernichten!“ „Aber sicher.“ „Spielphilosophie, Mr. Gewitterwolke, Spielphilosophie.“ Das war ihr Stichwort, immer, wenn sie ihn darüber belehrte, dass seine Art zu denken mehr den Ravens als den Trojans entsprach und Jean grollte. „Es geht um die Meisterschaft.“ „Es geht um Sportsgeist, nicht Sportspoltergeist.“ Er verdrehte die Augen anhand ihres Wortspiels und lehnte sich zurück, beobachtete gebannt das Zusammenspiel der Mannschaft, umschlossen von der tosenden Begeisterung der Zuschauer. Jean staunte. Früher hatte er das nie so wahrgenommen. Es dauerte nicht lange, da lehnte sich Alvarez erneut vor. „Minyard ist also das Monster“, sagte sie und überrascht sah Jean zu ihr. Woher kam das? „Ja“, erwiderte er vorsichtig und Alvarez runzelte die Stirn. „Also schreibt er dir diese Zahlen, auf die du nie antwortest.“ Jean schluckte, seine Kehle plötzlich trocken. „Was?“ „Als ich dir die Apps auf dein Handy geladen habe, war ein Chatfenster offen. Mit Monster I, also anscheinend Minyard. Ein Countdown, pro Tag eine Zahl, die Zahlen absteigend.“ Es war Wut, die Jeans euphorische Freude über das Spiel so schnell ablöste, dass er alleine schon aus dem Grund wütend auf Alvarez war. Er wollte nicht wütend sein, er wollte keine negativen Emotionen. Nicht hier, nicht jetzt. „Hat Day mit dir gesprochen?“, zischte er trotzdem oder gerade deswegen so abfällig, dass Alvarez im ersten Moment zusammenzuckte, bevor sie sich fing. „Nein, wieso…“ „Dann lass es, Alvarez. Das ist meine Sache“, grollte Jean mit panisch schlagendem Herzen. Sie wusste von dem Countdown. Sie wusste es. Oh Gott. Wenn sie es wusste und wenn sie Day fragte… doch sie hatte zu Day keinen Kontakt und der andere Junge hatte sicherlich noch deutlich seine Drohung vor Augen. Seine Karriere war ihm wichtiger. Ein Teil von Jean hatte panische Angst, dass sie den Hintergrund erfahren würde. Ein anderer Teil aber, derjenige, der frisch vom Spielfeld gekommen war und zum ersten Mal erlebt hatte, was es bedeutete, mit einer Mannschaft zu spielen, die kein Interesse an seinem Leid hatte, gierte danach, ihr zu sagen, was dahintersteckte, in dem Wissen, dass sie ihn aufhalten würde. Andrew und ihn. „Jean…“, setzte sie noch einmal an und er sah ihr durchdringend in die hellbraunen Augen. „Lass es Sara, es ist nicht deine Angelegenheit“, sagte er mit einer Ruhe, die er nicht fühlte. Ganz und gar nicht. Sie lenkte schließlich ein. „Wie du willst, Mr. Tall, Dark und Creepy.“ ~~**~~ Es regnete. Nach knapp zwei Monaten regnete es Hunde und Katzen und Jean verbrachte den Morgen nach dem Sieg der Trojans gegen die Hornets am Fenster des Apartments. Mit dem Finger zeichnete er die dicken Regentropfen nach, die an der Scheibe hinunterliefen und genoss die leichte Kühle, die ihm entgegenstrahlte. Knox hatte sich nach dem Aufwachen mit einem verächtlichen Blick auf das schlechte Wetter die Decke über den Kopf gezogen und war anscheinend wieder eingeschlafen. Zumindest bewegte sich der Deckenberg nicht und Jean vermeinte, regelmäßige Atemgeräusche zu hören. So trank er in Ruhe seinen Kaffee und sah hinaus auf den beinahe menschenleeren Campus. Wie es schien, war Regen das zuverlässigste Mittel, um die Studenten zu vertreiben und eine surreale Stille zu hinterlassen. Jean, der seit seiner Ankunft hier in Amerika niemals alleine gewesen war, verursachte das eine Gänsehaut. Früher, ganz früher, hätte er nichts dagegen gehabt. Früher hätte er sich mit einem Buch in sein Zimmer zurückgezogen und gelesen. Nun aber brauchte er die Präsenz eines Menschen, und war es auch nur ein schlafender Deckenberg, um sich sicher zu fühlen. Nun konnte er noch nicht einmal in den Regen hinaustreten, weil er Wasser auf seinem Kopf nur dann ertrug, wenn Knox ihm die Haare wusch. Seine durch die Brüche krummen Finger krallten sich in das unnachgiebige Glas der Scheibe. So vieles war zerstört, was ihn ausgemacht hatte und hatte etwas zurückgelassen, dessen Jean sich nicht sicher war. In Evermore hatte er funktioniert und reagiert, doch bei den Foxes und hier musste er agieren und das überforderte ihn. Mit Gewalt sahen sie das in ihm, was er schon lange aufgegeben hatte. Oder vielmehr glaubte, aufgegeben zu haben. Sie alle, Renee, Josten, Minyard, Knox, die Trojans im Gesamten, zogen und zerrten an seiner menschlichen Persönlichkeit um sie ans Licht zu bringen. Sie provozierten am laufenden Band Emotionen und Reaktionen, die Jean nicht für möglich gehalten hatte. In einem Bruchteil der Zeit, die Riko gebraucht hatte, um ihm seine Menschlichkeit abzuerkennen, hatte Knox sie ihm wiedergegeben. Und Jean hatte ein nicht unerhebliches Problem. Der Deal mit Andrew war eine Sicherheit gewesen, als er hierhergekommen war. Nicht noch einmal hätte er sich jahrelang von einem minderwertigkeitskomplexgeplagten Sadisten foltern lassen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ihn Minyard schon im Haus der Krankenschwester umbringen können. Das blonde Monster hatte das anders gesehen und seine Gegenleistung für den Handel in den Raum gestellt. Zwei Monate. Was auch immer Minyard daraus bekam. Jean hatte eingewilligt und nun saß er hier. Nach zwei Monaten. Nicht im Ansatz so unglücklich, wie er gedacht hatte. Auf seinem Schoß lag sein Buch mit ersten Malen, das schon gut voll war. Auf seinem Bett lag das Kuscheltier, das Knox ihm geschenkt hatte und starrte dessen schlafende Form missbilligend an. Erste Male. Das erste Spiel ohne Schmerzen. Das erste Kuscheltier, seit er nach Amerika gekommen war. Das erste Eis seit zehn Jahren. Der erste Strand in Amerika. Der erste Kapitän, der ihn fragte, was er wollte und dem die Antwort wichtig schien. Der erste Trainer, der ihn nicht strafte. Das erste Handy, das er nicht verstecken musste. Die erste Nacht ohne Alpträume. Das erste Mal essen, was er wollte. Das erste Mal leben wollen. Genau das war sein Problem. Gestern, als er im Stadion gesessen hatte, hatte er einen solchen Drang danach verspürt, die nächsten Tage nicht die letzten seines Lebens sein zu lassen, dass es regelrecht wehgetan hatte. Er hatte seine ewige Angst, verraten und hintergangen zu werden, für einen Moment lang in den Hintergrund geschoben und sich erlaubt, nur das, nur diesem unbändigen Willen zu leben zu spüren. Das bereute er jetzt. Jean seufzte leise und sah auf sein Buch herab, in dem er alles notiert hatte. Er nahm den Stift zur Hand und hielt inne, als sein Handy zuverlässig pingte. Renees Ton war es nicht, Minyards auch nicht. Die Gruppen hatte er schon lange auf stumm gestellt um nicht verrückt zu werden. Stirnrunzelnd beugte sich Jean nach vorne und haschte nach dem Telefon. Keine drei Sekunden später hob er die Augenbrauen und starrte den Deckenberg düster an. ~Kaffeeee~, lautete Knox‘ Nachricht, die dieser anscheinend getippt hatte, während er keine drei Meter von ihm lag und perfekt selbst in die Küche gehen konnte. Oder es ihm schlicht sagen. Schließlich befanden sie sich im gleichen Raum. Schließlich sprach Knox auch sonst bei jeder Gelegenheit mit ihm. Irritiert legte Jean den Kopf schief, insbesondere, als Knox einen weinerlichen Smiley hinterherschickte. Er grollte leise. „Du bist wach.“ ~Nein~, bekam er die Antwort als Nachricht und starrte ungläubig auf sein Handy. „Knox…“ ~Kaffeeee.~ Jean fühlte sich in einer Zeitschleife gefangen. „Du hast einen Mund zum Sprechen.“ ~Es regnet.~ „Das hindert dich am Sprechen?“ ~Ich bin eine Wehrsonne!~ Jean hatte keine Ahnung, was eine Wehrsonne war. Und selbst wenn er eine Ahnung hätte, dann würde das sicherlich nicht die Faulheit seines Kapitäns erklären. ~Kaffeeee…~ Umrahmt von traurigen Smileys kam ihm der Begriff entgegengeflogen und Jean musste sich wirklich beherrschen, Knox nicht die Decke vom Körper zu ziehen. Lieber suchte er da auf seinem Handy nach einem entsprechenden Symbol und schickte es seinem Kapitän. Mit einem bösartigen Zug um die Mundwinkel starrte er auf den Deckenberg, der hin- und herschaukelte. ~Nein, nicht so einen!~ Jean rollte mit den Augen und dieses Mal suchte er nach einem Bild, das er Knox schicken konnte. ~Neeein.~ Ajeet hatte ihm erklärt, was ein Gif war. Also suchte Jean sich ein entsprechendes heraus und schickte es dem unzufrieden schunkelnden Berg vor sich. ~Du nimmst mich nicht ernst!~ „Ach.“ Eigentlich hatte Jean es nur denken wollen, aber uneigentlich hatte er sich nicht wirklich viel Mühe gemacht, den ironisch-spöttischen Laut über seine Lippen zu verbergen. Siehe da, es kam eine Hand aus der Festung und streckte sich, das begriff Jean nun, in einer fordernden Geste nach oben. Auf der Suche nach Kaffee, natürlich. Als wenn er dem blonden Jungen diesen Wunsch erfüllen würde. Schweigend sah Jean sich in ihrem Zimmer um und blieb an Knox‘ Schreibtisch hängen, auf dem der Ball der Konzentration – so hatte sein Kapitän es ihm erklärt – lag, den er immer knetete, wenn er sich konzentrieren musste. Perfekt, befand Jean und legte diesen Knox in die Hand. Und fing ihn ein paar Augenblicke später wieder auf, als die Hand begriffen hatte, dass das kein Kaffee war und ihn liederlich ungeschickt in seine Richtung warf. Jean fing ihn kopfschüttelnd auf, während Knox die Decke mit einem nicht ganz menschlichen Laut zurückschlug und sich wie eine dieser Mumien in den alten Filmen aufsetzte. Jean blinzelte. Der blonde Junge sah eher aus wie Frankenstein mit seinen wild abstehenden Haaren und seinem von den Stofffalten zerknautschen Gesicht. Anklagend starrte er Jean ins Gesicht und verschränkte seine Arme. Er konnte einfach nicht anders. Der Reiz war da und er hatte wahrlich nichts mehr zu verlieren. Jean hob die Augenbraue, während es um seine Mundwinkel herum zuckte. „Oh, du bist wach, Knox“, sagte er mit einem Hauch unverhohlener, belustigter Ironie. „Möchtest du einen Kaffee?“, schob er neutral hinterher und die empörte Verzweiflung in Knox erreichte astronomische Höhen. „Jean…du…du…DU“, jaulte Knox auf und Jean verschränkte die Arme. Ein Lächeln drohte, seine Mundwinkel nach oben zu ziehen und er wandte sich ab, bevor es sichtbar werden konnte. Kommentarlos ging er in die Küche und füllte für den anderen Jungen eine große Tasse Kaffee ab, brachte sie ihm ans Bett. Vorsichtig übergab Jean den Becher den gierigen Händen und versuchte sich daran zu erinnern, wann er das letzte Mal mit einer solchen Dankbarkeit angesehen worden war. Jean wusste es nicht und so brauchte er einen Moment um zu verarbeiten, was Knox so freigiebig schenkte. Verlegen stand er vor seinem Kapitän, dessen Grinsen wohl wirklich der Sonne Konkurrenz machen wollte. „Kaffee ans Bett“, schwelgte Knox zwischen zwei Schlucken in dieser einfachen Handlung und platzierte sich so, dass er mit dem Rücken an der Wand lehnen konnte. Er zog seine Beine zu sich und stellte die Tasse auf seine Knie. „Du hast die Nacht durchgeschlafen“, merkte er schließlich an und Jean runzelte fragend die Stirn. Knox deutete auf seine Decke und er begriff. Nein, er hatte seinen Zimmernachbarn nicht aufgeweckt, weil er gar nicht geschlafen hatte. Nicht aus Angst oder schlechten Erinnerungen, sondern weil er den Nachhall des gestrigen Tages noch hatte genießen wollen. Er hatte wach bleiben und über das Spiel nachdenken wollen. Er hatte Knox beim Schlafen zusehen und zuhören wollen, weil es ihn beruhigte. Jean brummte, weil er eine Lüge nicht über die Lippen brachte und überließ es Knox, sich daraus einen Reim zu machen. Einvernehmliches Schweigen trat ein und Jean kehrte zurück zu seinem Platz am Fenster. Sein Buch mit dem angefangenen Eintrag platzierte er auf seinem Schreibtisch und sah hinaus in den Regen. „Jean?“ „Hmm.“ „Ich freue mich, dass du deine anfängliche Angst vor mir abgelegt hast.“ Überrascht fuhr sein Blick zu Knox, dessen Worte mit einem Mal zu ernst waren, als dass Jean sie wirklich hören wollte. Insbesondere wollte er nicht das sanfte Lächeln sehen, weil es ihn schmerzte. „Meine anfängliche Angst“, echote er und der blonde Junge interpretierte es fälschlicherweise als Frage. „Am Anfang hast du gedacht, dass ich dir genauso wehtun würde wie Riko, oder?“, fragte Knox so vorsichtig, dass Jean ihn am Liebsten geschüttelt hätte, weil es seiner Schwäche eine Stimme gab, die ihm das ganze Elend, was ihn umgab, nur umso bewusster machte. Es machte ihn gläsern und wund. Jean brachte es nicht über sich, darauf zu antworten, also nickte er knapp, wünschte sich, dass es Knox dabei belassen würde. Natürlich hatte er nicht soviel Glück. „Und seit geraumer Zeit stelle ich fest, dass mein neuer Zimmernachbar durchaus in der Lage ist, Späße auf meine Kosten zu treiben und ich finde das großartig.“ Knox grinste und Jean Augen weiteten sich überrascht, auch wenn es ihn nicht mehr überraschen sollte. Wirklich nicht. „Wer sagt, dass das ein Spaß war?“, gab er entsprechend ernst zurück und legte den Kopf schief, musterte Knox so eindringlich wie er es ohne das Gesicht zu verziehen konnte. Sein Kapitän lachte wieder und widmete sich seinem Kaffee. „Du bist ein sehr witziger Mensch.“ Jean bezeichnete sich wirklich als viel, aber nicht als witzig. „Hast du gestern etwas auf den Kopf bekommen? Da war ein Check, der nicht ganz sauber war“, erwiderte er und verzog den Mund. Er hatte nicht richtig sehen können, wie Knox auf den Boden aufgekommen war. Vielsagend hob eben jener eine Augenbrauen und Jean begriff verspätet. Er schnaubte und suchte sich etwas Anderes zum Anschauen. Sein Blick blieb auf Eva hängen, deren Missbilligung ihm vertrauter war. „Machst du dir etwa Sorgen um mich?“, kam die verspätete Frage, die ihm sich zuerst gar nicht erschließen wollte. Dass er sich um seinen Kapitän Sorgen machte, war so abstrakt, dass Jean die Worte innerlich wiederholte, bevor er sich klar wurde, was das bedeutete. Sich um jemanden Sorgen zu machen war etwas grundlegend Anderes als sich wegen jemandem Sorgen zu machen. Letzteres kannte er schon, Ersteres… auch. Um Renee und Abby. Um Knox? „Sorgen um deine Menschenkenntnis, wenn du mich als witzig bezeichnest, ja“, gab Jean zurück, um sich vor einer Antwort zu drücken. Er erhob sich und ging in die Küche, um sich seine eigene Tasse wieder aufzufüllen und ins Schlafzimmer zurück zu kehren, wo sich Knox die Decke bis unter das Kinn hochgezogen hatte. Jean hob die Augenbraue. „Ich nehme an, das Frühstück soll noch warten?“ Knox brummte. „Was gibt es denn?“ „Rührei mit Toast oder Omelette mit Paprika.“ „Nehme ich.“ „Beides?“ „Ja.“ „Jetzt?“ Knox bemühte sich um das, was, wie Jean gelernt hatte, puppy dog eyes genannt wurde. „Ja.“ Jean hatte erst vor kurzem damit begonnen, sich für die Male, die Knox ihm Frühstück gemacht hatte zu revangieren. Zunächst vorsichtig, dann mutiger, hatte er die Dinge nachgekocht und gebraten, die Knox gemacht hatte und war nun durchaus in der Lage, Rühreier und Omeletts selbst zuzubereiten. Somit hatte auch er seinen Beitrag zu ihrer Wohngemeinschaft dazu tun können. Er nickte und ging in die Küche zurück, suchte sich die Zutaten für beides heraus. Er machte den Herd an und es rumorte im Schlafzimmer. Wenig später kam Knox in Shirt, kurzer Hose und dicken Socken in die Küche und ließ Spülwasser für das Geschirr des gestrigen Tages ein. „Was machst du eigentlich an Thanksgiving?“, fragte er aus heiterem Himmel und Jean hielt mit der Schüssel der geschlagenen Eier inne. In Vorbereitung auf seine Zeit bei den Trojans hatte Renee mit ihm die amerikanischen Feiertage geübt, da sie in Evermore niemals eine Rolle gespielt hatten. Thanksgiving war im November. Vorsichtig sah er zu dem blonden Jungen, der seinen Blick erwartungsvoll erwiderte. Jean zuckte mit den Schultern und hoffte, dass das Thema damit durch wäre. Natürlich war es das nicht. „Wir haben da mehrere Tage frei und ich werde zu meinen Eltern fahren.“ So weit, so uninteressant für ihn. Er würde dann schon nicht mehr sein, auch wenn alleine der Gedanke an die kommende Woche Jean mittlerweile Übelkeit vermittelte. Er wusste, welche Frage gleich kommen würde. Ob er die Tage mit den Foxes, im Speziellen mit Renee, verbringen würde. Jean müsste nur nicken, eine kleine, stumme Lüge und schon würde Knox Ruhe geben. „Möchtest du mitkommen?“ Jean entglitt die Schüssel mit den Eiern und fiel in die Pfanne. Schade eigentlich, denn es begrenzte den Schaden und nahm ihm die Ablenkung, sich um das Saubermachen kümmern zu müssen. So war er gezwungen, eine Antwort auf eine Frage zu geben, die er unter anderen Umständen sicherlich irgendwann mit ja beantwortet hätte. Vielleicht, wenn er den Mut dazu gefunden hätte, seinem Kapitän zu seiner Familie zu folgen. Eine richtige Familie. Jean schluckte und fischte mit eisernem Blick auf die Pfanne die Schale heraus und lauschte seinem hochschnellenden Puls. Natürlich interpretierte Knox das anders. „Sorry, ich wollte dich damit nicht überfallen. Du musst natürlich nicht, wenn du nicht möchtest, das ist ganz klar. Ich dachte nur, weil dir die Bilder der Farm so gut gefallen haben, als ich sie dir gezeigt habe und du so viel Interesse an den Tieren gehabt hast, könnte ich euch einander vorstellen. Also dich den Tieren und meinen Eltern und Geschwistern. Die Zwillinge sind Fans von dir und würden sich freuen, dich kennen zu lernen.“ Jean starrte auf die Schüssel in seinen Händen und wünschte sich, dass Knox aufhören würde zu reden. Wirklich. Er räusperte sich. „Danke, aber ich…ich habe schon etwas vor…“, presste er rau hervor und mied Knox‘ Blick. Wenn er seinem Kapitän jetzt in die Augen sah, dann wüsste er nicht, ob er nicht selbst Minyards und seinen Plan ausplaudern würde, damit Knox ihn verhinderte. „Oh. Okay. Alles gut, ich dachte mir nur, vielleicht hast du ja noch nichts.“ Jean schüttelte den Kopf. „Nein. Ich…ich habe schon.“ Er atmete tief durch, versuchte, Luft in seine Lungen zu ziehen. Er musste seinen Kapitän ablenken. Mit irgendetwas. Fieberhaft überlegte Jean. „Geh doch schonmal duschen. Ich mache in der Zeit das Frühstück fertig“, wich er aus, lenkte ab, tat alles, um unbeschwert zu wirken. Knox verharrte unendlich lange Sekunden in seiner Gegenwart, bevor er ihn in der Küche alleine ließ. Jean hatte wartete angespannt, bis sich die Badtür hinter Knox schloss, bis er leise fluchend seine Finger in die Kante der Anrichte krallte. Natürlich hatte er gespürt, wie schwer die blauen Augen auf ihm gelegen hatten. So als ob der andere Junge seine Lügen sofort durchschaut hatte. Und wieder wünschte Jean sich, dass es so wäre. ~~**~~ Sara starrte auf ihr Handy, die Lippen unwirsch verzogen. Laila war im Fitnessstudio und die Stille ihres Apartments brachte sie auf dumme Gedanken. Nicht, dass es die Schuld ihrer Freundin gewesen wäre, ganz und gar nicht. Moreau war schuld, ganz klar. Der ach so zurückhaltende und ewig auf Eierschalen laufende, französische Musterknabe wurde bei der Erwähnung des Countdowns, den er mit Minyard am Laufen hatte, schlagartig wütend und ablehnend und brachte Kevin Day ins Spiel, seinen Ex-Ravenpartner, der anscheinend auch etwas mit der Sache zu tun hatte, obwohl die Beiden sich offensichtlich hassten. Es ging ihr nicht mehr aus dem Kopf, schon seit gestern nicht. Dumm für Moreau, dass sie sich genau an die Zahl erinnerte, die sie auf dem Dach gesehen hatte und ausgerechnet hatte, wann dieser ominöse Countdown endete, nämlich in der nächsten Woche. Dienstag, um genau zu sein. Es konnte nichts Gutes bedeuten, denn Dienstage waren Scheißtage, an denen nie etwas Gutes passierte. Laila und Jer nannten sie deswegen abergläubisch, aber bisher hatte es sich immer bestätigt. Immer. Also musste sie herausfinden, was es mit diesem Moreau erzürnenden Countdown auf sich hatte und wer war da besser als Kevin Day, der begabteste Exyspieler ihrer Liga selbst? Sie hatte nur ein Problem: sie hatte seine Nummer nicht. Nichts, was ihr Lieblingskontakt der Foxes nicht richten konnte. ~Hey, Lieblingskapitän, wie geht’s dir? Seid ihr gut nach Hause gekommen?~, schrieb sie Dan, die keine Minute brauchte, um ihr zu antworten. ~Hey Lieblingsvize, hat alles bestens funktioniert, wir haben glaube ich alle wieder mitgenommen. Zumindest fehlt mir keiner in dem Flohzirkus hier. Und bei euch? Gratulation zu eurem Spiel gestern. Krasse Leistung, ihr habt die Hornets zerrissen!~ Sara grinste. ~Danke danke, das war aber auch ein wunderschönes Spiel. Eures gegen die Tornados war ebenso grandios. Tolle Leistung, Kapitän!~ Dan schenkte ihr zwei Reihen an stolz grinsender Smileys. ~Danke danke!~ ~Ich freue mich schon, auf unser Spiel, dieses Mal in allem Ernst.~ ~Das kann ich auch kaum erwarten!~ ~Sag mal, darf ich dich um einen Gefallen bitten?~ ~Klar, worum geht es denn?~ ~Du hast doch sicherlich die Nummer von Kevin, oder?~ ~Klar. Willst du sie haben?~ ~Wenn das ginge?~ ~Ich frag ihn und leite dir dann den Kontakt weiter.~ ~Du bist die Beste, Dan!~ Es dauerte nicht lang, bis Kevins Kontakt aufpingte und Sara entschlossen ihr Handy anstarrte. Sie vertraute auf ihr Bauchgefühl. Immer. Und bei der Sache zwischen Moreau und Minyard war etwas komisch, das sagte ihr Instinkt, auch wenn sie nur eine Sache genau benennen konnte: Jeans abrupte und seltsame Wut, als sie ihn gestern auf den Countdown aufmerksam gemacht hatte. Um das Ganze ruhen zu lassen, war sie zu stur, dafür war das Bauchgefühl zu schlecht. Sie wählte Kevins Nummer. „Ja bitte?“ Beinahe hatte Sara vergessen, was für ein arrogantes Arsch Kevin Day sein konnte, wenn er sich nicht gerade mit Jer unterhielt und vor Bewunderung zerfloss. Niemand von ihnen war anscheinend in seinen Augen würdig und gut genug, Exy zu spielen. Niemand außer seiner perfekten Nationalmannschaft, Neil Josten und Jer. Sara schnaubte innerlich. Kevin Day, der eigentliche König ihrer Klasse. Die Diva unter den Exyspielern. „Alvarez hier, hallo Kevin.“ „Was willst du?“ Sara rollte mit den Augen. Sie war in seinen Augen definitiv unwürdig. „Dir auch einen schönen Tag“, erwiderte sie mit einem Hauch an Ironie. Andererseits machte er ihr das Gespräch so auch einfacher, musste sie sich ihm gegenüber nicht mit unnötigem Smalltalk und langweiligen Nettigkeiten aufhalten. „Was ist nächste Woche Dienstag?“, fragte sie ohne Umschweife und er brummte verwirrt. „Was soll dann sein?“, stellte er die unfreundliche Gegenfrage und Sara schnaubte. „Das Ende des Countdowns zwischen Moreau und Minyard.“ Wieder herrschte einen Moment Schweigen. „Ich weiß nichts von einem Countdown.“ Sara grollte. Bullshit. Er log, das hörte sie selbst über das Telefon hinweg. Seine Stimme war für eine glaubwürdige Wahrheit viel zu gepresst. „Du bist dir ganz sicher?“ „Was willst du, Alvarez?“, wechselte sein Ton von arrogant auf abweisend und sie schnaubte. „Ich möchte wissen, was Dienstag passiert.“ „Dann frag Jean.“ „Habe ich.“ „Und?“ „Hat mich gefragt, ob du gequatscht hättest.“ Das Schweigen wurde unangenehm zwischen ihnen und für Sekunden hatte Sara das Gefühl, dass Kevin einfach auflegen würde. Das tat er nicht. „Du kannst ihm sagen, dass ich nicht darüber sprechen werde und ich will nicht, dass du mich noch einmal anrufst, ist das klar?“ Sara blinzelte und kam noch nicht einmal dazu, etwas zu erwidern, als Kevin bereits aufgelegt hatte. Was zum Teufel?, war ihr erster Gedanke. Arschloch!, der zweite. ~~**~~ Kevin starrte sekundenlang auf sein Handy, bevor er es wütend auf sein Bett warf. „Scheiße!“, fluchte er laut und vergrub seine Hände in den Haaren, zog an den Strähnen, bis ihm seine Kopfhaut wehtat. Wie verbrannt ließ er sie los, als er sich daran erinnerte, wie Jean ausgesehen hatte, als Renee ihn mehr tot als lebendig in Abbys Haus gebracht hatte. Die kahlen, blutigen Stellen an seinem Kopf, wo Riko ihm Haare ausgerissen hatte, waren jetzt noch immer wiederkehrender Bestandteil in seinen Alpträumen. Wie schon so oft zuvor verspottete der Schmerz, den er erfahren oder den er sich selbst zugefügt hatte, eben jenen, der Jean immer und immer wieder aufgezwungen worden war. Jean, der so unglaublich stark war, im Gegensatz zu ihm. Kevin war schon immer feige gewesen, tief im Grunde seines Herzens. Er hatte Angst zu versagen, zu enttäuschen, zu verlieren. Er hatte Angst, das Erbe seiner Mutter zu beschmutzen und seine Aufgabe nicht zu erfüllen, die ihm mit in die Wiege gelegt worden war. So hatte er alles daran gesetzt, dass das nicht passierte. Doch das, was damit einhergegangen war, hatte er nicht gewollt und er glaubte auch nicht, dass seine Mutter nur den Hauch einer Ahnung davon gehabt hatte, was für ein Sadist derjenige war, mit dem sie diesen Sport erfunden hatte. Er hatte auch jetzt noch, nachdem der Mann zwangsweise in den Ruhestand versetzt worden war, Angst, seinen Namen auszusprechen, weil es ihm in Evermore so beigebracht worden war. Schon bei seiner ersten Ankunft war ihm das klargemacht worden. Ebenso wie ihm gesagt worden war, wie wertvoll er für den Sport und die Familie Moriyama war. Eine Investition, dazu aufgezogen, Teil der Nationalmannschaft zu sein. Die Nummer zwei hinter Riko zu sein. Dass das nicht gut gehen würde, war ihm spätestens dann klargeworden, als Riko ihm aus lauter Eifersucht seine Schlaghand zertrümmert hatte. Das zufriedene Lächeln, mit dem sein damaliger Kapitän ihm mitgeteilt habe, dass er einen ausgezeichneten Assistenzcoach abgeben würde, hatte sich in Kevins Erinnerungen gebrannt. Wie so viele Grausamkeiten. Kevin hatte Alpträume von ihnen und in fast jedem dieser Träume war Jean ein fester Bestandteil, der wegen ihm unter Rikos Sadismus litt. Auch wegen seiner Unbedarftheit. Kevin hatte aus seiner Bewunderung für Jeremy keinen Hehl gemacht und Riko hatte Jean dafür vergewaltigen lassen. Kevin hatte sich in dem Moment geschworen, nie wieder Interesse an Männern zu zeigen. Nie wieder. Dieser Schwur galt einzig und alleine Jean und war so nutzlos, wie er fälschlicherweise beruhigend gewesen war. Immer wieder hatte sich Kevin eingeredet, dass er damit eine Gegenleistung für all das Leid erbrachte, das Jean zu erdulden hatte. Insbesondere, nachdem er ohne Jean aus Evermore geflohen war, hatte er sich das wieder und wieder gesagt. Nachdem er in der Lage gewesen war, an etwas Anderes zu denken als an seine Hand und dass er schlussendlich wieder spielen können würde. Er war krank vor Sorge gewesen – um sich selbst. Als er sich aus dem Loch wieder hochgezogen hatte, war er krank vor Angst gewesen – vor den Ravens. Und mit der Zeit und Abstand hatte das, was Riko ihm vorgelebt hatte, nämlich, dass Jean nicht seinen Status und seinen Wert besaß, wie Gift Einzug in seine Gedanken gehalten, wie ein Schutzschild, der ihn vor seinem schlechten Gewissen bewahren sollte, das ihn mit Sicherheit auffressen würde. Selbst, als Renee Jean zu ihnen geholt hatte, hatte Kevin sich dem Ergebnis seines Nichthandelns nicht stellen können und alle Anderen vorgeschoben. Allen voran Renee und Neil, aber auch Andrew. Wieder war jemand da gewesen, der ihm seine Verantwortung abgenommen hatte. Wieder hatte er Jean nicht den Wert zuerkannt, den der andere Junge ohne jede Frage besaß. Wieder hatte er versucht, seine Schuld möglichst weit von sich zu schieben. Zu Jeremy, von dem er wusste, dass er die Antithese zu Riko war. Zu Jeremy, der weit weg war, weit genug, dass Kevin Jean umgehen könnte. Sonnig genug, um damit sein schlechtes Gewissen zu beruhigen und sich einzureden, dass es Jean schlussendlich gut gehen würde. Es war Andrew gewesen, der ihm die schmutzige und widerwärtige Wahrheit seines eigenen Seins um die Ohren geschlagen hatte. Neil war bei ihm gewesen, als er zum ersten Mal sein schlechtes Gewissen wirklich und offen zugelassen hatte und von der Schuld und der Schwere seiner Taten schier zerdrückt worden war. Dan war diejenige, die ihn mit ihrer ruhigen Stärke immer wieder von seinen schlechten Gedanken zurückgeholt hatte, in denen er sich daraufhin verstecken wollte. Auch jetzt, immer noch. Mit ihrer Hilfe hatte Kevin den Mut gefunden, Jean zu kontaktieren und ihn anzusprechen. Natürlich hatte er gewusst und erwartet, dass Jean ihn zurückweisen würde, aber er wollte, dass Jean sah, dass er bereute. Nicht um seiner, sondern um Jeans Willen. Er wollte, dass Jean wusste, dass er ihm nicht egal war und nie sein würde, dass er jeden Tag gegen das Gift in seinen Gedanken kämpfte und einen Weg fand, seine absolute Hingabe und Leidenschaft für Exy mit seinen Gefühlen für andere Menschen zu vereinbaren. Es war nicht leicht, aber er versuchte es. Immer und immer wieder. Und jetzt, da er in Jean einen wirklichen Menschen sah, jetzt, da er begriffen hatte, wie toxisch sein Verhalten war, jetzt, wo es ihm gelang, auch das Leben außerhalb von Exy zu würdigen, würde er Mitwisser und Zuschauer sein bei Jeans Selbstmord. Kevin schossen Tränen in die Augen, als er an sein letztes Gespräch mit Jean dachte. Die wütenden und hasserfüllten Worte, die ihm entgegengeschleudert worden waren. Zurecht. Er war zurecht geschlagen worden und doch war es nicht genug gewesen um seine Schuld zu tilgen. Wie konnte er zulassen, dass Jean, kaum, dass er die Möglichkeit hatte, das Leben zu leben, was er eigentlich hätte leben sollen, eben jenes beendete? Aus dem falschen Glauben heraus, dass Jeremy und die Trojans genauso widerwärtig handeln würden wie er auch. Dabei würden sie Jean niemals verraten, sie waren nicht so schwach wie Kevin. Ein großer Teil in Kevin drängte ihn dazu, das zu verhindern, was kommen würde. Noch war Andrew da und er wusste jetzt auch warum. In zwei Tagen würde er Jean umbringen. Zwei Tage. Zwei wenige Tage. Kevin presste die Hand vor den Mund, als die Tränen über seine Wangen liefen. Aber wenn er es verhinderte, würde Jean alles zerstören, was ihn jemals ausgemacht hatte. Er würde ihm Exy nehmen und damit den Sinn seines Lebens. Kevin hätte nichts mehr außer seinem kümmerlichen Selbst, was so verachtenswert war, dass es keinen eigenen Wert besaß. Der Gedanke alleine daran war so furchterregend und schrecklich, dass er tief in seinem Herzen bereit dafür war, Opfer zu bringen. Und wieder würde das Opfer Jean Moreau heißen. Die Stimme, die ihm einflüsterte, dass Jean es doch so wollte, schrie er nieder, bis sie verstummte. Wenn sein Leben anders verlaufen wäre, dann würde Jean es niemals wollen. Wenn er wüsste, was das Leben noch für ihn bereithalten würde, ebenso nicht. Doch er war nicht alleine. Alvarez ahnte etwas. Sie wusste es nicht, aber sie ahnte etwas und sie kannte den Zeitpunkt. Vielleicht würde sie es Jeremy mitteilen oder selbst tätig werden und sie würden Jean dann retten. Kevin hielt inne. Nein. Nein. Wieder wälzte er seine Verantwortung und seine Entscheidung auf jemand anderen ab. Diese Entscheidung war ganz alleine seine, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie er sie treffen sollte. ~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 23: Der letzte Tag -------------------------- Knox sprach schon wieder im Schlaf. Er lag auf dem Rücken und grimmte just in diesem Moment unzufrieden, murmelte ein entschlossenes „Nein.“ Unruhig bewegte er sich und seine Hände, als würde er nach etwas greifen wollen. Jean kniete seit geraumer Zeit in der Nähe seines Kapitäns und beobachtete diesen stumm. Er hatte latente Angst, dass der andere Junge aufwachen würde, dennoch wollte er sich das Gesicht desjenigen einprägen, der ihm nur Gutes getan hatte, obwohl er ein Kapitän eines hochbegabten Exyteams – mit Disziplinschwierigkeiten – war. Er wollte nicht mit der Erinnerung an Riko sterben, sondern an Knox. „Jeremy“, korrigierte Jean sich selbst beinahe lautlos, leise genug, damit sein Kapitän nicht aufwachte. Wie schon bei der Möwe auf dem Dach fühlte sich der Name komisch in seinem Mund an, so freiwillig ausgesprochen. Auch das, seinen Wunsch nach Distanz, hatte Knox ohne zu zögern anerkannt und ihn kein einziges Mal korrigiert. Jean versuchte sich an einem Lächeln. Es wollte nicht so wie er, dafür war es zu ungewohnt, aber seine Mundwinkel hoben sich leicht. „Danke für alles“, murmelte er in gleicher Lautstärke und erhob sich. Hinter ihm leuchtete sein Handy auf und Jean erstarrte für einen Augenblick. Langsam ging er zu seinem Bett und nahm es hoch, öffnete seine Nachrichten. Minyard hatte ihm geschrieben, mehr als eine Zahl und doch nur zwei Worte, die alles beenden würden. ~Bin da.~ Jean wusste, was er zu tun hatte und wo er Minyard finden würde. Der Torhüter der Foxes benötigte keine Antwort, so öffnete Jean das Chatfenster mit Renee. Er wollte nicht einfach so gehen ohne ihr ein letztes Mal geschrieben zu haben. Alles in ihm sträubte sich gegen den Gedanken. Noch würde sie schlafen, zumindest hoffte Jean das für drei Uhr nachts. Doch was er ihr schreiben sollte, wusste er nicht. Er wünschte ihr das Beste. Er wünschte ihr alles Gute der Welt. Er wünschte ihr, dass sie glücklich wurde. Er wünschte ihr so viel, was er nicht hier schreiben konnte, ohne dass er sich und damit auch Minyard verdächtig machte. Jean runzelte die Stirn und wechselte auf die Smileys. Er tippte auf eine Tulpe – ihre Lieblingsblume – und einen Regenbogen und schickte ihr beides, dann steckte er das Handy in seine Tasche und warf einen letzten Blick auf Knox, der wieder ruhig schlief. Würde sein Kapitän traurig sein, wenn er nicht mehr da wäre? Jean glaubte es nicht. Würde er um seine Startaufstellung besorgt sein? Das glaubte er ebenso wenig. Wenn die Trojans weiterhin verstärkt trainierten, dann wären sie in der Lage, die Meisterschaft zu erringen und sicherlich würde es zumindest Knox auch in die Nationalmannschaft schaffen. Jean drehte sich abrupt weg und verließ leise das Apartment. Seinen Schlüssel ließ er dort, er würde ihn nicht brauchen. Ebenso wie er Renees Pullover sorgsam gefaltet unter Eva gelegt hatte. Er wollte nicht, dass dieses wundervolle Geschenk mit seinem Blut beschmutzt wurde. Seine Schuhe zog er erst im Gang an und verließ nach einem letzten Blick die sonst hellen und lichtdurchfluteten, von unzähligen Studenten gekennzeichneten Flure, die nur so vor Leben strotzten. Die kühlere Nachtluft schlug ihm entgegen, als er heraustrat und Jean schauderte kurz. Natürlich erwartete Minyard ihn nicht direkt vor der Tür und natürlich musste er alleine bis zum Parkplatz gehen. Selbst das war schon eine Herausforderung für ihn und Jean schluckte mühevoll. Ihr Deal war es, der seine Füße in Bewegung setzte. Immer noch, nachdem er schon Monate aus Evermore entkommen war, konnte er immer noch nicht alleine sein. Für jeden Weg hatte er Begleitung gehabt, auch hier und nun musste er alleine vorwärts kommen. Jean schnaubte. Wie ging das Sprichwort? Den letzten Weg ging man immer alleine? So war es wohl, egal, wie kitschig das klang. Als er den Parkplatz erreichte, sah er, wie Minyard aufblinkte und langsam begab er sich zu dem Wagen, der so anders aussah als die sonstige Luxusschüssel, die der blonde Junge fuhr. Jean öffnete die Tür und setzte sich hinein. Desinteressiert starrte Minyard geradeaus, das Sinnbild an Langeweile und Teilnahmslosigkeit, das er nach außen hin war. „Neuer Wagen?“, hakte Jean spöttisch nach, als er die schmucklose Inneneinrichtung begutachtete. „War der Alte nicht mehr bezahlbar?“ Ein geisterhaftes Lächeln huschte über die schmalen Lippen. „Nicht jeder lässt sich von den Moriyamas um seine Einnahmen erpressen, also nein. Ich bin geflogen.“ Jean rollte mit den Augen und lehnte sich zurück. Mit zittrigen Fingern schnallte er sich an. Das war sicherlich der Schlafmangel der letzten Tage. ~~**~~ Seine Hände zitterten, als er die zweite Flasche Whiskey zu öffnen versuchte. Billiges Zeug, nichts Teures, das hatte er nicht verdient. Wirklich nicht. Nicht, wenn er trank, um zu vergessen, dass Andrew seit ein paar Stunden mit seinem Auto weg war, in Richtung Los Angeles. Fünfundreißig Stunden fuhr man mit dem Wagen nach L.A., einmal quer durch die Staaten. Mit dem Flugzeug wäre es bedeutend schneller. Aber Andrew hasste fliegen. Andrew würde niemals fliegen. Also hatte er noch Stunden Zeit um eine Entscheidung zu treffen, die er nicht treffen konnte. Seine Karriere oder Jean? Jean oder seine Karriere? Beides? Ging nicht. Keins von beidem? Stand außer Frage. Er war nicht gut darin, Entscheidungen zu treffen. Er kannte nur einen Weg, seine Straße war gerade, keine zwei Richtungen. Kreuzungen oder Gabelungen waren scheiße. Wirklich. Scheiße. Der Verschluss der Flasche löste sich und Kevin trank drei große, gierige Schlucke um den brutalen Schmerz in sich zu betäuben und um überhaupt atmen zu können. Andrew hatte nichts gesagt. Ausgeschwiegen hatte er sich zu all seinen Fragen. Kevin hatte es nicht gewagt, jemandem davon zu erzählen, bis heute nicht. Jean würde Wind davon bekommen und dann würde er ihren Sport an den Nagel hängen müssen. Kevin nahm vier weitere, kräftige Schlucke. In einer perfekten Welt würde er sich in einem Team mit Thea, Neil, Andrew, Jean und Jeremy befinden. In einer perfekten, utopischen Welt würde Jean ihm irgendwann seine Feigheit vergeben. Irgendwann würden die grauen Augen ihn sogar mit einem Lächeln ansehen. Irgendwann würde er kein Leid mehr hinter ihnen lauern sehen. Ja, das wäre eine perfekte Welt. Eine perfekte Welt, die er gar nicht erst soweit kommen ließ, indem er nichts sagte, lieber trank und sich anschließend übergeben würde. Oh Gott. ~~**~~ Jean sah aus dem Fenster hinaus in die dunkle Stadt, die von gelben Straßenlaternen unwirklich erleuchtet wurde. Es sah trostlos aus, heruntergekommen. „Wo fahren wir hin?“, fragte er über das einlullende Rauschen des Autos hinweg. „Kennst du dich hier aus?“ „Nein.“ „Was willst du dann mit der Antwort?“ Er zuckte mit den Schultern. Nichts eigentlich. Selbst wenn Minyard ihm sagen würde, wo er mit ihm hinfuhr, dann würde er nicht wissen, wo es war. Er kannte nichts in diesem Land außer Evermore, Los Angeles und die Stadien, in denen er gespielt hatte. Das, was er gesehen hatte, auch auf seinem Flug hierhin, war so weitläufig gewesen. Stundenlang nichts als Landschaft, ohne einen Menschen zu sehen. Wege ins Nirgendwo, die in die Wüste führten oder in die Wälder. Minyard deutete auf den Thermosbecher neben sich. „Trink das.“ Jean folgte dem Fingerzeig und runzelte die Stirn. „Was ist das?“ „Kaffee, schwarz.“ „Und?“ „Was und?“ „Und was sonst noch?“ „Beruhigungsmittel.“ Er schnaubte. „Das brauche ich nicht.“ „Glaubst du.“ „Siehst du mich in Panik ausbrechen?“ „Dieses Mal nicht.“ Das letzte Mal, als sie alleine in einem Wagen gesessen hatten, war er tatsächlich in Panik ausgebrochen und nur Minyards abfällige Ruhe hatte ihn an einen Punkt zurückgebracht, der Basis für ihren jetzigen Handel gewesen war. „Ich will das nicht“, nickte Jean in Richtung des Bechers und Minyard zuckte mit den Schultern. „Deine Sache. Wenn du irgendwelche Stunts wagst, breche ich dir die Nase.“ „Wie innovativ, hatte ich ja noch nie“, schnarrte Jean, während sie die Straßen der Stadt hinter sich ließen, die auch jetzt noch bunt angeleuchteten Geschäfte in der Ecke, die Frauen, die am Straßenrand ihr Geld verdienten. Anderthalb Stunden waren es noch bis zum letzten Sonnenaufgang. Schweigen beherrschte die nächsten Kilometer, bevor Jean seinen Gedanken erlaubte, sich zu vokalisieren. „Hast du jemals darüber nachgedacht, dich umzubringen?“ Minyard schnaubte verächtlich. „Keine Rührseligkeiten, Moreau.“ „Ich habe Interesse an der Antwort.“ „Klar.“ Jean wandte sich zur Seite und starrte den blonden Jungen schweigend an. Sekunden wurden zu Minuten, dann wurde es dem Torhüter zu bunt. „Du starrst.“ „Ich höre damit auf, wenn ich eine Antwort erhalte.“ „Wenn ich dich am Highway aussetze, hörst du auch damit auf.“ „Dann erfährt Renee, welchen Handel wir abgeschlossen haben.“ „Sie wird es verstehen.“ Jean rollte mit den Augen und lehnte sich im Sitz zurück. Er verschränkte locker die Arme und streckte seine Beine aus. „Also?“ Minyard gab einen verächtlichen Laut von sich und Jean wusste, dass er gewonnen hatte. „Ja, habe ich.“ Er nickte nachdenklich. „Aber du lebst noch“, stellte er in den Raum zwischen ihnen, nicht wirklich eine Frage und auch nicht dazu gedacht, eine Antwort zu erhalten. „Mit einem Blister Aspirin kann man sich nicht umbringen. Mit neun weiß man das noch nicht.“ Jean blinzelte. Soviel zu der Antwort, die er nicht erwartet hatte. Er gab einen nichtssagenden Laut von sich und richtete seine Aufmerksamkeit auf die spärlich bewohnte Umgebung und die schlechten Straßen. ~~**~~ Kevin starrte auf sein Handy, das auf der Anrichte lag, ein flaches, schwarzes Ding neuester Generation, tolle Kamera, viel Speicherplatz und schnellem Internet. Er hatte es sich vor einem Monat gekauft, eigentlich viel zu teuer, aber das war es ihm wert gewesen. Seine Nummer hatte er beibehalten, für den Fall, dass Jean ihn erreichen wollte. Dass das nicht der Fall sein würde, war spätestens seit letzter Woche klar. Jean war durch mit ihm, für immer. Kevin stierte das Handy an und erhob sich schwankend. Der Raum inklusive dem Telefon verschwamm vor seinen Augen und er musste sich an der Wand festhalten. Einmal im Leben so wenig Angst haben, dass er mutig genug sein würde, etwas für andere zu tun, nicht nur für sich und seine tote Mutter. Einmal im Leben die Größe besitzen, das Richtige zu tun. Mit Mühe entsperrte er das teure Ding und ging seine Anrufliste durch. Fluchend versuchte er, den richtigen Namen zu treffen und hatte nach vier Anläufen Glück damit. Mühsam presste er sein Handy an sein Ohr und wartete, dass der andere Teilnehmer des Gespräches auch abnahm. Ungeduldig grollte Kevin, bevor er sich bewusst wurde, dass vielleicht nicht jeder um drei Uhr nachts noch wach war. Oder wie spät auch immer es sein mochte. Er konnte ja nachgucken, aber das war zuviel gerade. „Ja?“, grollte es missgelaunt in den Hörer und Kevin seufzte erleichtert auf. „Dad?“, lallte er und war froh, dass er wenigstens ein Wort gerade herausbringen konnte. Einen Moment herrschte Stille in der Leitung. „Kevin?!“, schnaufte Wymack dann ungläubig ins Telefon. „Bist du betrunken?“ Kevin brummte zustimmend und starrte blind auf die Wand vor sich, während er nach Formulierungen suchte. „Ja“, fiel ihm schließlich ein. „Steckst du in Schwierigkeiten?“ „Nein“, presste er mit Mühe hervor und überlegte es sich dann anders. „Ja, doch, irgendwie schon.“ Wymack grollte und Kevin hörte, wie er aufstand. Natürlich hatte er geschlafen. Jeder schlief, außer ihm, Andrew und Jean. „Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen, Kevin, was ist los?“ „Hast du irgendwann mal eine schwierige Entscheidung treffen müssen?“, fragte er und runzelte die Stirn. „Also so richtig schwierig?“ „Schonmal geschaut, welches Team ich trainiere? Ich treffe ständig irgendwelche schwierigen Entscheidungen“, brummte er und Kevin tat es ihm gleich. „Hast du dich schonmal für einen Menschen und nicht für deine Karriere entschieden?“, fragte er mit Mühe verständlich artikuliert und schloss für einen Moment die Augen, damit die Welt aufhörte, sich zu drehen. Tat sie nicht, ganz und gar nicht, so riss Kevin sie wieder auf und starrte auf seine Wand mit Ansichtskarten. Er hatte eine neue Wand aufgebaut, nachdem er die alten Karten nicht hatte mitnehmen können. Sie war schön, aber nicht das Gleiche, was er in Evermore gehabt hatte…wie Jean auch. Unter all dem Gift, den Verleugnungen, die er sich aufgebaut hatte, war Jean sein Bruder. Er liebte ihn wie einen Bruder, das wusste Kevin. Hier bei den Foxes war alles, was er sich jemals aufgebaut hatte, nur eine Kopie davon gewesen. Die Erkenntnis war bitter, insbesondere die letzten Tage über. „Ich entscheide mich ständig für Menschen und nicht für die Karriere, falls du es noch nicht gemerkt hast.“ Kevin schluckte. „Ist das schwer?“ „Was soll daran schwer sein?“ „Sich für andere Menschen zu entscheiden?“ „Klar ist es das. Ich möchte euch ständig aussetzen, in einen Sack stopfen, euch gefesselt und geknebelt in einen Keller sperren und euch nie wieder herauslassen, ich verfluche jeden zweiten Tag, an dem bei mir eingebrochen wird und Minyard mir meine verfluchten Alkoholvorräte leersäuft.“ „Warum ist es dann wert?“ Sein Vater schnaubte. „Weil ich sehe, wie ich euch, trotz aller Scheiße, mit der das Leben euch bewirft, die Basis bieten kann, dass ihr Glück und Zufriedenheit findet, auf die eine oder andere Art und Weise.“ Würde es für Jean auch möglich sein, Glück und Zufriedenheit zu finden, nach all dem, was geschehen war? „Klar wird es das“, antwortete der Mann am anderen Ende der Leitung und Kevin wurde sich bewusst, dass er seine Frage laut ausgesprochen hatte. Elendig zuckte er zusammen, doch sein Vater würde von Jeans Absichten nichts wissen, oder? „Jean wird auch seinen Weg finden. Mit der Zeit und langsam und mit der Hilfe von Mr. Sunshine-“ „Captain Sunshine“, verbesserte Kevin ihn instinktiv und Wymack grollte unerfreut. „…aber er wird wieder. Und er hat alles Glück auf der Welt verdient, was ihm entgegengebracht werden kann, nachdem, was Moriyama und diese Arschlöcher ihm angetan haben“, schloss Wymack wütend, wie immer, wenn es um Leid und Gewalt ging. „Ich war ihm kein guter Freund“, gestand Kevin ein und befühlte seine Wangen, stellte mit Erstaunen fest, dass sie nass waren. „Kann ich nicht beurteilen, Kev. Aber du hast alle Möglichkeiten, ihm jetzt einer zu sein.“ Es klang so simpel aus dem Mund seines Vaters und vielleicht war es das auch. Kevin schluckte. „Danke“, murmelte er. „Immer. Also, steckst du in Schwierigkeiten?“ Kevin schüttelte den Kopf, bevor er merkte, dass sein Vater das nicht sehen konnte. „Nein.“ Das an sich war gelogen. Noch nicht, wäre die richtigere Antwort. „Sicher?“ „Ja, Dad.“ „Hör auf damit. Das macht mich alt.“ Kevin lächelte. „Ja, Vater.“ Ein Grollen antwortete ihm. „Schlaf jetzt endlich und lass mich in Ruhe, du Satansbraten.“ Bevor Kevin etwas antworten konnte, hatte der andere Mann aufgelegt und nachdenklich starrte er seinen schwarz werdenden Bildschirm an. Nüchterner als noch vor dem Telefonat, zumindest bildete er sich das ein, erweckte er es wieder zum Leben und ging erneut seine Kontaktliste durch. Sie war lang genug, dass er ein paar Sekunden hatte um bis zu Jeremy zu kommen und ebenso lange verharrten seine Finger über dem Namen des Trojankapitäns. Er tippte auf das Bild des Jungen und schaffte es im zweiten Versuch. Zitternd presste er sich das Handy an sein Ohr. ~~**~~ Jeremy war sich nicht sicher, was er geträumt hatte. Er wusste nur, dass es gut gewesen und er entsprechend genervt davon war, dass ihn sein blödes Handy aus dem Schlaf riss. Vielmehr der Klingelton, den er für Kevin genommen hatte. Das wurde ihm aber erst spät bewusst, erst, als er sich schon im Automatikmodus hingesetzt hatte und nach seinem Telefon gegriffen hatte. Um Jean nicht aufzuwecken war er gleichzeitig aufgestanden und in die Küche gewankt, wo er ein schläfriges „Ja, hallo?“ herauspresste, während er versuchte, seinen Magen zu beruhigen, der aufgrund des abrupten Wachwerdens mit Übelkeit reagierte. Ganz zu schweigen von seinem viel zu schnell schlagenden Herzen. „Jer?“ Jeremy blinzelte und versuchte, den Schlaf aus seinen Gedanken zu vertreiben, der ihm komische Dinge einflüsterte, so zum Beispiel die Angst in der Stimme des anderen Jungen. „Kev?“ „Jeremy. Ich…“ Kevin verstummte und Jeremy erkannte, was ihm komisch vorkam. Er lachte. „Allen Ernstes, Kev? Du rufst mich an, während du betrunken bist? Und das auch noch unter der Woche mitten in der Nacht?“ „Ja, ich habe etwas getrunken“, gab Kevin zu und Jeremy schüttelte amüsiert den Kopf. „Was kann ich denn für dich tun? Außer, dir eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen, damit du besser einschläfst?“ Wieder schwieg Kevin und Jeremy fröstelte. Es war noch kühl, obwohl die Dunkelheit der Nacht bereits dem ersten, seichteren Grau wich. Das Ganze würde bald in einen wunderschönen Sonnenaufgang münden, den Jeremy mit Sicherheit verschlafen würde, wenn er erst einmal wieder zurück ins Bett kriechen konnte. Sie hatten heute um sieben Training, das hieße, er könnte bis um halb sieben schlafen. Zwei Stunden mehr als das unchristliche halb fünf, das sie gerade vermutlich hatten. Oder so. „Jean wird sich heute umbringen.“ Das war ein Satz, der so keinen Sinn ergab. Absolut und überhaupt gar nicht. Jeremy runzelte die Stirn. „Kevin, das ist nicht witzig. Noch nicht einmal im betrunkenen Zustand“, hielt er mit einem Mal wach und streng dagegen. Er erntete einen Laut, der mehr verzweifelt als alles andere war. „Nein...das ist auch kein Spaß. Hör mir zu, Jer! Jean hat mit Andrew einen Deal und einen Countdown laufen. Der Countdown endet heute mit Tag null. Der Deal besagt, dass Andrew Jean dabei hilft, sich umzubringen.“ Jeremy wollte noch einmal sagen, wie wenig witzig er die verzweifelt dahingelallten Worte fand und ging ein paar Schritte zurück in die Wohnung, um einen Blick auf Jeans Bett zu werfen, auf dem der andere Junge schlafen würde, wenn er ihn nicht geweckt hatte. „Das kann nicht sein, er ist hier und…“, erwiderte Jeremy und hielt abrupt inne, als er sah, dass das Bett ihm gegenüber leer war. Leer, ordentlich gemacht, der Lieblingshoodie sauber gefaltet unter Eva, die ihn über die Dunkelheit hinweg ansah. Panisch schlug Jeremy auf den Lichtschalter und noch viel panischer klopfte er an die Badezimmertür, nur um sie einen Moment später aufzureißen. „Jean?“, rief er, doch niemand antwortete ihm. Da war nur Stille. Abrupte Panik hielt Jeremy im eisernen Griff, als er mit einem Mal den ganzen Sinn von Kevins Worten begriff und es Angst war, die ihn nicht klar denken ließ. „Kevin, er ist nicht hier, er ist weg… sein Bett ist gemacht und er hat…“, Jeremy stoppte sich, als er merkte, wie er unnütz brabbelte. Kevin keuchte am anderen Ende der Leitung erstickt. „Seit wann, Jeremy?“ „Ich weiß es nicht! Du hast mich gerade geweckt, ich habe bis gerade eben geschlafen!“, sagte er lauter, als er es eigentlich wollte, in den Hörer und lief panisch umher. „Kevin, erklär mir das! Wo ist Jean? Wo ist Andrew?“, forderte er schließlich und schaltete das Handy auf laut, zog sich währenddessen an. Er musste die Polizei informieren. Er musste Alvarez aufwecken. Sie mussten Jean suchen, Jean und Andrew, damit…damit… Jeremy schluckte, auch wenn ihm das beinahe unmöglich schien. Oh Gott, warum hatte er nichts gemerkt? Nichts hatte sich Jean anmerken lassen, rein gar nichts, auch wenn er in sich zurückgezogener gewesen war nach dem Spiel am Wochenende. War es das? Hatte Exy diese Gedanken ausgelöst? Oder etwa er? Warum hatte er nicht besser aufgepasst? Warum hatte er nicht auf die Anzeichen geachtet? Weil es keine gegeben hatte, flüsterte ihm eine Stimme zu, die Jeremy in diesem Moment nicht hören wollte. „Jeremy…ich…“ Mehr war aus dem anderen Jungen nicht herauszubekommen und Jeremy versuchte, seine Ruhe zurück zu gewinnen. „Ich werde jetzt versuchen, Jean anzurufen. Dann werde ich die Polizei informieren und Alvarez und Laila aufwecken, um mit ihnen nach Jean zu suchen.“ „Nein! Keine Polizei! Jeremy, alles, nur das nicht! Du darfst die Polizei nicht rufen, hörst du mich!“ Jeremy blinzelte. „Wieso nicht, Kevin? Sie können helfen. Sie müssen helfen! Ohne sie schaffen wir es nicht.“ „Die Moriyamas werden uns alle töten, wenn die Polizei anfängt, sich da einzumischen. Außerdem werden die Bullen Andrew mitnehmen und er… er darf nicht… er ist…“ Wieder stockte Kevin und nur langsam begriff Jeremy. „Er ist auf Bewährung“, vollendete er den Satz und Kevin entwich ein Laut der Verzweiflung. Wortgewaltig fluchte Jeremy und holte seine Schuhe aus dem Flur. „Sie werden ihn für eine lange Zeit hinter Gittern stecken, wenn sie mitbekommen, was er tut, Jer. Bitte mach es nicht. Bitte nicht!“ Jeremy schluckte. „Aber er bringt Jean um.“ „Weil Jean ihn darum gebeten hat!“ Die Wahrheit war so schrecklich wie sie unbegreiflich war. „Warum?“ „Weil Jean durch ist mit diesem Leben und glaubt, dass es nichts mehr für ihn bereithält!“ Die simplen, immer wieder ineinanderlaufenden Worte trafen mühelos Jeremys Innerstes und ließen nur Fassungslosigkeit zurück. Das stimmte doch nicht, wieso sollte das Leben nichts mehr für Jean bereithalten? Er war doch auf einem guten Weg. Er war doch dabei, sich dem Team zu öffnen und Jeremy hatte doch gesehen, dass er entspannter wurde, dass er sich öffnete…warum? „Dein weiblicher Backliner hat mich angerufen und erzählte etwas von einem Countdown“, fuhr Kevin fort und Jeremy zuckte so gewaltig zusammen, dass ihm das Handy aus den Fingern glitt, welches er gerade wieder aufgenommen hatte. Mühevoll fing er es auf. Kevin hatte Recht. Ja, sie hatte auch ihn nach dem Countdown gefragt. Und er hatte es abgetan. Er hatte dem keine Beachtung geschenkt. Schon damals nicht, vor… oh Gott. Das war vor Wochen gewesen! „Vielleicht weiß sie mehr“, mutmaßte Jeremy, auch wenn die Hoffnung verschwindend gering darauf war, nicht mehr als ein Strohhalm, dazu gedacht, mit ihm einzuknicken. „Ist sie in der Nähe?“ „Klar.“ „Bitte frag sie. Bitte, Jeremy. Bitte!“ „Ja doch! Ich wecke sie auf und melde mich bei dir!“ Jeremy legte auf und riss die Wohnungstür auf. Er schlitterte über den Flur zu Alvarez und Laila, öffnete ihre Apartmenttür mit einer solchen Wucht, dass sie gegen die Wand knallte und schaltete sämtliche Lichter an. „Sara!“, rief er und stürmte in das Schlafzimmer der Beiden. Verzweifelt schüttelte Jeremy seinen Vizekapitän wach und kassierte im ersten Moment einen unkoordinierten Schlag gegen seine Nase, der ihm die Tränen in die Augen trieb. Aufstöhnend hielt er sich die Nase. „Jer? JER? Was zur Hölle?!“, fluchte Alvarez und schraubte sich in die Höhe. Wild starrte sie ihn an, während hinter ihm Laila ebenfalls abrupt hochschoss. „Der Countdown, den du auf Jeans Handy gesehen hast…hast du da noch etwas Anderes gesehen? Eine Uhrzeit, einen Ort, irgendetwas?“ Verwirrt starrte sie ihn an und verschwendete wertvolle Zeit mit ihrer Nichtantwort. „Nein, habe ich nicht. Da war nur der Countdown, der heute endet. Wieso?“ Jeremy setzte sich auf ihr Bett und sah zuerst sie, dann Laila verzweifelt an. „Kevin hat mich gerade angerufen. Er sagt, dass Jean plant, sich heute umzubringen und Minyard ihm dabei helfen wird, das ist anscheinend der Grund für den Countdown. Und er ist weg, er ist nicht mehr in seinem Bett. Das ist ordentlich gemacht und leer.“ Jeremy schossen vor Verzweiflung Tränen in die Augen. Was, wenn Jean bereits tot war? Es brauchte seine Zeit, bis seine Worte auch wirklich Gehör fanden und Alvarez begriff, was er damit sagte. Als sie es tat, schlug sie wütend mit der Faust auf ihre Matratze. „Ich werde Day umbringen, Jeremy. Wenn Jean stirbt, werde ich ihn umbringen! Dieses gottverdammte Arschloch!“ Fragend sah er auf sie herunter. Unwirsch schälte sie sich aus dem Bett und ging zu ihrem Laptop, ließ ihn hochfahren, während sie aus ihrem gemeinsamen Kleiderschrank sich etwas zum Anziehen nahm und Laila ebenfalls Klamotten zuwarf. „Was machst du?“, fragte Jeremy und deutete auf den Computer. Alvarez lächelte grimmig. „Was ich dir nicht erzählt habe, Cap, ist, dass ich, als ich das Handy unseres Backliners in den Fingern hatte, ihm nicht nur Spaßzeug draufgezogen habe, sondern auch einen Tracker.“ Jeremys Augen weiteten sich wenig amüsiert darüber. „Du hast was?“ Sie rollte mit den Augen. „Verklag mich nachher und beschwer dich nicht. Ich habe es wegen der Ravensscheiße gemacht, falls sie ihn entführen oder sonstwas. Und das wird uns jetzt hoffentlich verraten, wo Moreau sich befindet, also klemm dir deine Vorwürfe, Cap!“ Mühevoll schluckte Jeremy. Natürlich hatte sie recht mit dem, was sie sagte. Vielleicht war das ihre Chance, Jean noch zu retten. Stumm nickte er und stand wie angewurzelt in dem Apartment, wartete angespannt, bis sie soweit waren, dass Alvarez die entsprechende Website aufrufen und Jeans Nummer eingeben konnte. Das war jedoch nichts im Vergleich zu den Sekunden, die sie alle Drei auf die Suche starrten und hofften, dass sie ein Ergebnis bringen würde. Panisch knetete Jeremy seine Finger, Alvarez zischte ein Gebet zwischen ihren Zähnen hervor und Laila zog sich im Hintergrund schweigend an. Als die Website einen Treffer anzeigte, stöhnte Jeremy erleichtert auf. Das hielt jedoch nicht lange an, als er sah, wo sich der Punkt befand und wie weit er entfernt war. Entsetzt sah Jeremy hoch und begegnete Saras und Lailas bleichen Gesichtern. „Jer…“ „Ich versuche, Jean zu erreichen!“ Zittrig rief Jeremy den Kontakt und wählte Jeans Nummer. Es klingelte und klingelte, doch der andere Junge nahm nicht ab. Panisch schluckte Jeremy. Nahm er nicht ab, weil…? „Der Punkt bewegt sich, Jer! Schau hin!“ Jeremys Augen ruckten zurück zum Bildschirm und er keuchte erleichtert auf. „Lebt er noch?“ Sara starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Keine Ahnung, aber wir bewegen jetzt unsere Ärsche in Richtung dieses Punktes.“ Saras Entschlossenheit war wie Balsam in Jeremys verzweifelter und aufgewühlter Seele. Er nickte stumm und starrte für einen Moment blind auf den Bildschirm des Laptops, bevor er erneut Kevins Nummer wählte. „Wir wissen, wo er ist und versuchen, ihn zu erreichen, Kev“, sagte er, kam aber gar nicht bis zu Kevins Antwort, als ihm das Telefon aus der Hand gerissen wurde. Es war Alvarez, die warnend ihren Zeigefinger erhoben hatte. „Hallo Arschloch, Alvarez hier, du erinnerst dich?“, zischte sie so wütend, wie Jeremy sie selten gesehen hatte und er zuckte unwillkürlich zusammen. „Du blöder Wichser hast davon gewusst, als ich dich gefragt habe, was es mit dem Countdown auf sich hat, denn dein Torhüter will jetzt unseren Backliner umbringen und du hast nichts gesagt. Gar nichts. Wenn ich dich das nächste Mal sehe, dann…“ Alvarez verstummte, als Kevin ihr etwas antwortete, das er nicht verstand. Es machte ihre Wut nicht besser, ganz und gar nicht. „Dann wirst du dich in den nächsten Flieger setzen, Day, und wag es nicht, das nicht zu tun. Denn sonst komme ich nach Columbia und dann unterhalten wir beide uns unter vier Augen, bevor ich dir deine Eier abreiße und sie deinem arroganten Maul zu fressen gebe. Ist das klar?“ Sie legte auf, bevor Kevin etwas erwidern konnte und warf Jeremy das Handy zu. „Los, wir fahren mit meinem Wagen.“ Erleichtert nickte Jeremy. „Ich hole noch kurz etwas aus unserem Apartment, dann können wir los.“ ~~**~~ Der Sonnenaufgang war in der Tat wunderschön. Das dunkle Blau der Nacht bereitete den Weg für ein sachtes Babyblau und Rosa, welche sich in ein glühendes Rot ergaben, als der Feuerball der frühen Sonne am Himmel emporstieg. Die Umgebung hier war geprägt von Büscheln, bodennahen Pflanzen und Hügeln, die sich sanft ineinanderschlangen und die Jean so noch nie gesehen hatte. Los Angeles hatten sie schon vor einer halben Stunde hinter sich gelassen und waren in die Berge gefahren, die die Stadt umgaben. Jean hatte sie von weitem gesehen und sich mehr als einmal gefragt, wie sie wohl von nahem aussehen mussten. Diese Antwort hatte er jetzt und er war fasziniert von der Landschaft, die in ihren wenigen Farben so reichhaltig war, dass er nicht wusste, wo er zuerst hinsehen sollte. Die Luft, die durch sein geöffnetes Fenster hereinkam, war frisch und roch nach einem noch kühlen Morgen voller Tau der vergangenen Nacht. „Du wirst rührselig.“ Minyard, dessen Apathie so viele Schattierungen hatte, dass Jean mit den Augen rollte über die resignierte Genervtheit, die er dort heraushörte. „Hast du das auch über dich selbst gesagt, als du Rikos Arm gebrochen hast, um Josten zu retten?“ Spöttisch maß Jean den Fahrer des Wagens, der es vorzog, darauf nicht zu antworten und sie sicher durch die Serpentinen in den Bergen brachte. „Zweifel?“ Minyard stellte das Wort als Frage in den Raum und Jean schwieg einen Moment lang. „Nein“, sagte er schließlich und wandte sich wieder der Landschaft zu. Das stimmte nicht, warum log er Minyard an? Weil er Angst hatte vor den Konsequenzen, die er nicht abschätzen konnte. Weil er Angst hatte vor dem, was das für ihn bedeuten konnte. In Evermore war der Gedanke eine Erlösung gewesen, weil es das Ende seines Leides bedeutet hatte. Nun gab es dieses Leid nicht mehr und der Gedanke an ein Weiterleben machte ihm Angst, weil er keine Ahnung hatte, was das Leben noch für ihn bereithielt…gute Dinge, schlechte Dinge…einen weiteren Verrat oder Schmerzen, die er nicht mehr ertragen konnte. „Lügner.“ Wie nichts durchdrang Minyards ruhige Stimme seine Gedanken und Jean verzog bitter die Lippen. „Wir haben einen Deal.“ Als wenn das irgendetwas außer seiner Flucht begründen würde. Minyard selbst ließ sich nicht dazu aus, sondern bog in eine der Nebenstraßen ab. Er verlangsamte den Wagen und brachte sie schließlich auf einem schmalen Parkstreifen am Rand zum Stehen. Stumm bedeutete er Jean, auszusteigen und zündete sich selbst eine Zigarette an, rauchte sie, während er am Wagen lehnte. Jean warf währenddessen einen Blick auf den Canyon, der sich vor ihnen erstreckte. Von der Sommersonne verbranntes Grün schimmerte im Licht der aufgehenden Sonne rötlich und erstreckte auf einer ganzen Ebene aus Büschen, Bäumen und Gras. Die Weite raubte Jean den Atem. „Es ist schön hier“, sagte er, doch Minyard zuckte mit den Schultern. Jean starrte in die teilnahmslosen, braunen Augen. „Was findet Josten eigentlich an dir?“, fragte er zynisch. „Deine Leidenschaft kann es nicht sein.“ „Und du verstehst was genau von Leidenschaft?“ „Mehr als du.“ „Denkst du?“ „Weiß ich. Ich habe deine Krankenakten gelesen.“ Schweigend kam der blonde Junge zu ihm und zog den letzten Zug seiner Zigarette. Angewidert zuckte Jean zurück, als Minyard ihm den Rauch ins Gesicht blies. „Du weißt gar nichts, Whipping Boy“, schnarrte er und verzog die schmalen Lippen zu einem abfälligen Lächeln. Jean ballte die Hände zu Fäusten und starrte auf ihn hinunter. Er rief sich ins Gedächtnis, dass er etwas von Minyard wollte und es ihm überhaupt nicht half, den Jungen zu verärgern, der ihn umbringen würde. „Ich weiß das, was ich gesehen habe“, sagte er ohne den beißenden Unterton von vorher. Was das war, wussten sie beide. „Wir gehen zu Fuß weiter“, lenkte Minyard auf ein anderes Thema und nahm einen Rucksack aus dem Auto. Jean schätzte, dass sich darin die Waffe befand, mit der er ihn töten würde. Das war seine Bedingung gewesen. Kein Messer. Nie wieder wollte er das Gefühl einer Klinge auf seiner Haut spüren. Nie wieder kalten Stahl. Eine schnelle, einfache Kugel, die durch sein Hirn dringen und alle lebenswichtigen Funktionen ausschalten würde. Eine Sekundensache. Jean folgte Minyard in den Canyon hinein, der sich vor ihnen erstreckte. Langsam verschwand die Straße hinter ihnen und langsam wich die Kühle des Morgens der Hitze des letzten Tages. ~~**~~ Jeremy war kotzübel. Er wünschte sich, dass es nur an Saras Fahrstil läge, mit dem sie durch die Straßen schoss, konstant alle Regeln der Geschwindigkeit und vor allen Dingen Vorfahrt ignorierend, doch dem war nicht so. Entsetzen und Fassungslosigkeit hatten seinen Magen fest im Griff und machten ihm das Atmen zur Qual. Kilometer um Kilometer flog an ihm vorbei und beantwortete doch keine seiner Fragen. Was hatte er übersehen, was hatte er falsch gemacht? Hatte er nicht genau genug aufgepasst, war ihm etwas entgangen, hatte er etwas überhört? Es hatte doch sicherlich Anzeichen gegeben, die er übersehen hatte in seiner naiv-blinden Annahme, dass alles wieder gut werden würde mit Jean. Anders konnte er es sich nicht erklären, wie er nachts durch Kevin aus dem Bett geklingelt werden konnte, völlig betrunken und panisch mit schrecklichen Worten, die Jeremy immer noch nicht begreifen konnte. Sein positives Denken verbot ihm auch nur einen Moment darüber nachzudenken, was passieren würde, wenn sie zu spät kämen. Mitnichten wollte er sich vorstellen, wie es wäre, wenn sie ankommen und nur noch Jeans toten Körper finden würden. In dem Wagen herrschte gespenstische Stille. Noch nicht einmal das Radio war an und weder Alvarez noch Laila sagten einen Ton, während Alvarez sie hinaus zum Tujunga Canyon fuhr. Sie alle kannten das Gebiet nur zu gut, machten regelmäßige Wanderausflüge in der überirdisch schönen und kargen Landschaft. Vielleicht war das ein Vorteil, vielleicht verschaffte es ihnen die Zeit, die sie brauchten, um Jean und anscheinend auch Andrew einzuholen. Die Rolle des blonden Torhüters in dem Ganzen war Jeremy nach wie vor ein Rätsel. Wieso hatte sich Andrew bereiterklärt, Jean umzubringen? Wieso hatte er sich überhaupt dazu bereiterklärt, irgendjemanden umzubringen? Jeremy begriff es nicht. Wie konnte ein Mensch das tun? Warum? „Wir müssen direkt zum Canyon“, gab er tonlos das wieder, was er auf dem Bildschirm des Laptops sah und Laila zuckte zusammen. Verdenken konnte er es ihr nicht. „Der Punkt bewegt sich langsamer“, sprach sie aus, was er nicht hatte wahrhaben wollen und Alvarez‘ Finger krampften sich um das Lenkgrad. „Wir sind gleich da. Eine Viertelstunde noch“, sagte sie gepresst und Jeremy schloss die Augen. Er flehte, dass sie rechtzeitig kamen. „Der Punkt ist stehen geblieben“, sagte Laila und Jeremy riss die Augen auf. Nein… nein… „Fahr schneller. Ich zahle dir jedes Ticket, das du bekommen solltest“, wisperte er und sie erhöhte ihre Geschwindigkeit auf das Anderthalbfache. Noch während Alvarez auf einem Parkplatz ausrollte, auf dem ein Mietwagen aus Los Angeles stand, sprang Jeremy aus dem Wagen, den Laptop und auch Eva fest in den Händen. „Ich laufe vor!“, rief er und hörte, wie hinter ihm Laila ebenso aus dem Fahrzeug stieg. Gemeinsam sprinteten sie in den Canyon hinein, die Wanderwege entlang, die in die Mitte des Canyons führten. ~~**~~ „Hier.“ Jean sah sich um und nickte stumm. Sie waren umgeben von Büschen, die ihnen Sichtschutz vor etwaigen, neugierigen Augen boten. Die Nervosität, die er auf der Autofahrt vermisst hatte, war während ihres Spaziergangs um ein Vielfaches zurückgekehrt. Seine Hände zitterten wie Espenlaub und sein Rachen war trotz des Wassers, das Minyard ihm gegeben hatte, wie ausgedörrt. Es roch nach Sommer und Sand und das trockene Gras knirschte unter seinen Schuhen. Weite umfing ihn und ließ ihn unwillkürlich lächeln. „In Evermore wäre es das Badezimmer gewesen“, sagte er zu niemand Speziellem. Ein kleines, fensterloses, dunkles Badezimmer in den Tiefen der Unterkünfte. Er wäre alleine gewesen, mit sich, seinen Erinnerungen und der Gewissheit, dass die Folter nach einem Jahrzehnt ein Ende hatte. Minyard erwiderte erwartungsgemäß nichts. Jean war sich noch nicht einmal sicher, ob der andere Junge ihm zugehört hatte, während er den Rucksack absetzte und die Waffe aus dem Fach nahm, mit der er ihn umbringen würde. Jean runzelte die Stirn. Als sie ihren Deal gemacht hatten, hatte er die Anwesenheit eines anderen Menschen als positiv angesehen. Er würde nicht alleine sterben und er würde sich nicht umbringen. Er konnte also nicht im letzten Moment einen Rückzieher machen. Nun war er sich nicht mehr sicher. Doch jemand anderen zu fragen, hätte sich nicht angeboten. Minyard hatte bereits einmal getötet und war entsprechend skrupellos. Dass er keine Empathie zeigen würde, hätte Jean klar sein müssen. „Evermore ist tot“, überraschte Minyard ihn dann doch mit einer Antwort. „Sie sind nicht mehr als Schatten eines Kults, der sich verzweifelt am alten Ruhm festkrallt.“ Jean musterte das engelsgleiche Gesicht, hinter dem soviel Dunkelheit lauerte. „Es wäre beinahe auch dein Kult geworden.“ Der Herr hatte zumindest Andrew haben wollen, doch dieser hatte zugunsten der Foxes abgelehnt. Etwas, das ihm Riko nie verziehen hatte. Minyard schnaubte und deutete auf die Freifläche vor sich. „Wenn du so weit bist, knie dich dahin. Ich werde die Waffe an deinen Hinterkopf ansetzen und abdrücken.“ Jean schauderte ob der schlichten Sachlichkeit. „Macht dir das gar nichts aus?“, fragte er stirnrunzelnd und Minyard sah hoch. In seiner ganz eigenen Art und Weise legte er prüfend den Kopf schief. „Dich zu töten?“ „Ja“, grollte Jean und war versucht, den anderen Jungen zu schütteln, als dieser mit den Schultern zuckte. „Warum sollte es?“ „Weil jeder normale Mensch irgendwie reagieren würde“, platzte es nervös aus Jean heraus und er rollte mit den Augen. Er brauchte Reibungsfläche, er brauchte Emotion, er brauchte irgendetwas Menschliches in diesem Moment. „Ich habe aufgehört, ein normaler Mensch zu sein, als ich meinen siebten Geburtstag gefeiert habe. Jean verstummte. Er brauchte etwas, dann nickte er in Anerkennung der warnenden Worte. „Josten wird dir gut tun“, lenkte er ab von diesem dunklen Thema und Minyard schnaubte. „Moreau, der Amor spielt, dass ich das noch erleben darf.“ „Habe ich nicht Recht?“ „Da ist nichts.“ Nun war es an Jean zu lachen. „Klar. Dass da nichts ist, sieht man sogar, wenn man ganz Amerika zwischen Josten und dich packt und die Scheiße aus ihm herausprügelt.“ „Er war dumm genug zu gehen.“ „Da widerspreche ich dir nicht.“ „Da ist nichts.“ „Hmmh.“ Jean hob die Augenbraue und machte sehr deutlich, dass er überhaupt nichts von der Verneinung des Anderen hielt. „Bist du soweit?“ Jean seufzte und warf einen Blick auf den Flecken Erde, auf den er sich knien würde. „Würdest du auf Renee achten?“ „Das kann sie alleine.“ „Falls sie wütend werden sollte, wenn sie erfährt, dass ihre Bemühungen umsonst gewesen sind“, spezifizierte Jean und Minyard brummte. Schweigend sah er zur Seite und Jean nahm das als Zeichen, dass es nun soweit sein würde. „Danke für alles.“ Ohne auf die Antwort des blonden Jungen zu warten, kniete sich Jean auf den Boden und legte seine Hände auf die Oberschenkel. Kleine Steine bohrten sich in seine Knie und die Sonne brannte unangenehm auf seinem Nacken. Er hatte die Sonnencreme vergessen, wieder einmal. Wichtig war das jedoch nicht. Jean ließ seinen Blick in die Weite der Natur schweifen und zuckte zusammen, als er hörte, wie Minyard das Magazin in die Waffe steckte und durchlud. Das Geräusch erinnerte ihn an das Schlagen der Tür im Stadion der Trojans und er fragte sich, ob er es nicht wirklich hätte versuchen sollen. Vielleicht wäre es ja gut gegangen. Vielleicht hätten sie ihn nicht verraten und alleine gelassen. Vielleicht hätte er zumindest erahnen können, was Glück bedeutete. Der mutigere Teil in ihm bejahte diesen Wunsch mit aller Macht und Jean schluckte. „Minyard, ich…“, begann er, kam er jedoch nicht soweit, seine Worte zu formulieren, als er hinter sich Geschrei hörte. Erschrocken fuhr er herum und sah zu Minyard hoch, der in die gleiche Richtung starrte, dann seufzte und in aller Ruhe die Waffe sicherte, sie zurück in den Rucksack steckte. „Wer ist da?“, fragte Jean verwirrt und versuchte, etwas zu erkennen, konnte jedoch aus seiner Position heraus nichts sehen. Langsam erhob er sich und blinzelte, als das Geschrei mit einem Mal einen Namen bekam. Seinen. Die zwei Personen, die auf Minyard und ihn zusprinteten, riefen seinen Namen. Dass sie überhaupt hier waren, war ein Ding der Unmöglichkeit und eine Tatsache, die Jeans Hirn einfach nicht begreifen wollte. Da war sein Kapitän mit einem Laptop und etwas Anderem in der Hand, das Jean nicht identifizieren konnte, direkt hinter ihm Laila. Sie schrien seinen Namen und Jean blinzelte. Verständnislos wandte er sich an Minyard. „Hast du ihnen Bescheid gesagt?“, fragte er. „Ist das eine ernstgemeinte Frage?“, entgegnete sein Gegenüber mit eben jenem genervten Unterton, den er oftmals im Haus der Krankenschwester innegehabt hatte. „Wieso sind sie dann hier?“, fragte Jean mit klopfendem Herzen und Minyard neben ihm grollte, während sie die Beiden anstarrten, die immer und immer näher kamen. „Gib mir dein Handy“, forderte der blonde Junge und Jean gehorchte automatisch. Zitternd förderte er sein Telefon zur Tage und reichte es dem Anderen, der nach kurzer Suche das fand, was er anscheinend gesucht hatte und zischte. „Tracker“, spuckte Minyard das Wort aus wie einen Fluch. „Du hast einen Tracker auf deinem Telefon.“ Jean runzelte die Stirn. „Ich… weiß nicht, was das ist.“ Bevor Minyard seine deutlich sichtbare Ablehnung in Worte fassen konnten, hatten Knox und Laila sie erreicht und sein Kapitän stockte abrupt. Sacht setzte er den Laptop neben auf den Sand und kam zu ihnen. Schwer atmend starrte er Jean an, die Augen schreckensgeweitet, das Gesicht bleich und verstört. In seiner anderen Hand befand sich Eva, wie Jean nun sah und wie betäubt starrte er auf das Kuscheltier, während sich Knox Meter um Meter an ihn annäherte. Mit Gewalt hielt sich Jean davon an, zurück zu weichen. „Jean bitte, du musst das nicht tun. Bitte, lass uns darüber sprechen, was dich bedrückt. Du musst dich nicht umbringen.“ Knox schnaufte. „…also dich umbringen lassen…“, korrigierte er sich und Minyard neben ihm steckte die Hände in die Hosentaschen, während er mit den Augen rollte. „Kevin war’s“, sagte der Torhüter scheinbar ohne Zusammenhang und Jean zuckte zusammen. Er wagte es nicht, sich zu ihm umzudrehen, aus Angst, dass er damit seinen Kapitän aus den Augen lassen würde, der gerade jetzt wieder einen Schritt näher an ihn herangetreten war und somit auf eine Armlänge herangekommen war. Unsicher schwankte Knox Aufmerksamkeit zwischen ihnen beiden, während Laila wie eine schweigende Statue hinter ihm stand und sie beide maß. Hinter ihr sah Jean, wie Alvarez ebenfalls kam. „Ja, Kevin hat angerufen. Er war vollkommen verzweifelt und zu gleichen Teilen betrunken. Er hat gesagt, dass du planst, dich heute…umzubringen.“ Das letzte Wort kam als nicht mehr als ein Flüstern heraus und Knox‘ Stimme brach unter der Wucht der Bedeutung. Tränen traten in seine blauen Augen, die er so freigiebig und ohne Angst zeigte. Jean stand wie vom Donner gerührt da, als sein Kapitän, der gar nicht hier sein durfte, vor ihm stand und weinte. Er wusste nicht, was er machen sollte, wusste nicht, wie es von hier aus weitergehen sollte. So war es nicht geplant gewesen, sie waren doch extra weit weggefahren, damit niemand kam und sie daran hinderte. Aber wollte er überhaupt, dass Minyard ihren Deal vollendete? Wollte er es im Angesicht von Knox, der Sinnbild eben jener Verzweiflung war, die Jean über Jahre hinweg so fest im Griff gehalten hatte? „Ich…ja, es war geplant“, gab Jean zu und senkte den Blick zu Boden, weil er nicht ertrug, in Knox‘ verzweifelte Augen zu sehen. „Für heute. Ich habe Andrew darum gebeten, ihn trifft keine Schuld.“ „Aber warum?“ Jean hielt inne. Seine Hände ballten sich zu eisernen Fäusten. In Evermore hätte eine wahrheitsgetreue Antwort auf die Frage weiteres Leiden bedeutet. Mehr, als er sich vorgestellt hätte. Nicht hier. „Dafür gibt es viele Gründe“, erwiderte er ausweichend. „Was habe ich falsch gemacht?“ Die Frage ließ Jeans Blick hochschnellen. Wieso sollte Knox etwas falsch gemacht haben? Wieso sollte es überhaupt auch nur in Ansätzen seine Schuld sein? „Habe ich dir mit irgendetwas wehgetan? Habe ich etwas übersehen? Hätte ich etwas besser machen sollen?“ Fragen wie Pistolenschüsse, von denen jede einzelne zielsicher in Jeans Herz traf. „Nein, du hast nichts gemacht“, erwiderte er verwirrt. „Es liegt nicht an dir.“ Knox verstummte und sah hilfesuchend zu Laila. Sie trat langsam einen Schritt vor und lächelte minimal. „Jean?“ Er sah zu ihr. „Dir ist klar, dass weder Jer, noch Sara oder ich es zulassen werden, dass du dir hier und jetzt das Leben nimmst, oder?“, sagte sie ruhig und Widerstand regte sich in Jean. Verzweiflung anhand des Gedankens, dass er keine Wahl hatte und gezwungen war, schlussendlich ein Leben zu führen, das er nicht führen konnte. „Laila, das…“, begann er, doch sie brachte ihn mit einer sanften Geste zum Schweigen. „Du gehörst zu uns, bist Teil unseres Teams. Du bist ein Trojan und Trojans schaffen das gemeinsam. Wir sind füreinander da, in guten wie in schlechten Zeiten. Gerade auch in schlechten Zeiten, denn wir stehen füreinander ein. Wenn es dir schlecht geht, dann lass uns dir helfen. Wir kriegen das gemeinsam hin, Jean, du musst das nicht alleine mit dir ausmachen.“ Hinter ihm hörte er, wie sich Minyard eine Zigarette anzündete und ungläubig drehte sich Jean um. Der blonde Junge zuckte mit den Schultern. „Was? Das hier dauert sowieso noch länger.“ Er schnaubte und Jean tat es ihm gleich. Er wusste, dass er den Beiden sagen sollte, dass sie gehen sollten. Er wusste ebenso, dass es vergebens sein würde, zumal er sich nicht mehr sicher war, was er wirklich wollte. Fassungslos fixierte Knox Minyard. „Wie kannst du so abfällig darüber sprechen?“, fragte sein Kapitän erstickt und Minyard musterte ihn von oben bis unten. „Er hat darum gebeten. Ich erfülle ihm seinen Wunsch. Mehr nicht.“ „Und was, wenn wir das nicht zulassen?“ Minyard seufzte. „Dann fahre ich.“ „Nein!“, begehrte Jean auf, plötzlich voller Angst vor dieser Möglichkeit. Wenn Andrew fuhr, dann würde er auch die Möglichkeit mit sich nehmen, dass er dem ein Ende setzte. Knox‘ Hand auf seinem Arm erschreckte ihn mehr als dass er es zuzugeben bereit war und Jean konzentrierte sich auf die blauen Augen, die ihn verzweifelt maßen. „Jean, warum?“, fragte Knox leise und er schwieg einen Moment. „Weil die Nacht meines Abschlusses in Evermore sowieso die letzte Nacht gewesen wäre. Ich habe den Deal mit Minyard gemacht, weil ich keinen weiteren Kapitän habe wollte, der mich quält. Ich wollte kein Leben mehr, das nur Leid und Verrat für mich bereithält. Ich wollte selbstbestimmt sterben und nicht zu den Konditionen anderer. Also haben wir einen Handel über zwei Monate abgeschlossen und der endet heute.“ Knox schluckte schwer. „Aber du weißt doch gar nicht, was das Leben für dich bereithält.“ „Ich weiß, was es mir die letzten zehn Jahre angetan hat“, schnaubte Jean. „Und was, wenn ich dir verspreche, dass auch noch weitere, schöne Jahre mit den Trojans kommen werden? Ich…nein wir können deine Vergangenheit nicht ungeschehen machen, Jean, aber wir können dir eine schöne Zukunft bereiten.“ Der Teil in Jean, der bereits seit Tagen an seinem Plan zweifelte, stürzte sich natürlich auf das Versprechen und klammerte sich an die Worte seines Kapitäns. Er ließ Jean sprachlos zurück, gefangen in seinem inneren Kampf um einen leichten Ausweg oder eben ein wagemutiges Leben. „Ich war nie dazu bestimmt, eine eigene Zukunft zu haben“, murmelte er, doch Knox schüttelte vehement den Kopf. „Du warst seit deiner Geburt dazu bestimmt. Nur weil sie es dir genommen haben, heißt das nicht, dass du es dir nicht zurückholen kannst und sollst.“ „Ich werde wieder alleine zurückbleiben“, begehrte Jean ein letztes Mal auf, verzweifelt beinahe und scheiterte an der Entschlossenheit seines Kapitäns. „Niemals wirst du das, das schwöre ich dir. Die Ravens mit ihrem Sekten-Bullshit und jeder muss das machen, was die Anderen machen? Die sind ein Dreck gegen unsere lebenslangen Freundschaftsbande, Jean Moreau, das verspreche ich dir.“ „Hört noch jemand, das Pathos triefen?“, mischte sich Minyard erneut in das Gespräch ein und starrte zu ihnen dreien empor. „Also, bezaubernde Jeannie, du hast sie gehört. Für welches Tor entscheidest du dich? Und du wirst die Entscheidung hier und jetzt treffen. Ja oder nein?“ Jean starrte Minyard in die hellbraunen Augen, deren Farbe eigentlich so warm gewesen wäre, hätte die Kälte in ihnen nicht alles vernichtet, was den Anschein zulassen würde. Er versuchte dort eine Antwort zu finden, ein Gegengewicht zu Knox‘ blauen Augen, die nur ein Ziel kannten: ihn am Leben zu halten. Mühevoll schluckte er. Er wusste, dass ein Handel alles für Andrew war. So tickte der andere Junge, er schloss Deals ab, die er einhielt, er band sich nicht emotional. Nicht nach seiner Vergangenheit. Doch in diesem Moment las er genau das nicht in Minyards Augen. Die kalte Teilnahmslosigkeit beinhaltete eine weitere Facette, die Jean schwer benennen konnte. Er öffnete den Mund, doch nichts kam heraus. Konnte er das Leben wagen, selbst mit allem, was kommen würde? Konnte er das Sterben wagen, mit allem, was er vielleicht verpassen würde? „Ich…“ ~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 24: Eva --------------- „Du bist ein Scheißidiot, Moreau!“ Überrascht zuckte Jean zusammen und sah hoch, direkt in Alvarez‘ wütende Augen. Er blinzelte verständnislos. „Weißt du eigentlich, was du den Menschen, die dich mögen, damit antust?“, fragte sie und kam bedrohlich auf ihn zu. Unsicher wich er zurück und sie wurde von Knox zurückgehalten. Das hinderte sie aber nicht daran, anklagend mit dem Finger auf ihn zu zeigen. „Anscheinend nicht, wenn du dich hier von Minyard in der Wüste umlegen lässt und denkst, dass es OKAY für uns alle anderen ist, du Arschloch!“ Jean schluckte. Noch nie hatte er den Vizekapitän so wütend gesehen und noch nie hatte sie ihm solch eine Angst gemacht. „Spoiler, ist es nicht! Für niemanden von uns ist es okay, wenn du nicht mehr da bist! Wir wollen alle nicht, dass du gehst. Du bedeutest uns etwas. Was glaubst du denn, was mit Jeremy passiert, wenn er plötzlich alleine in eurem Apartment aufwacht, in dem Wissen, dass er deinen Selbstmord nicht verhindern konnte und dass du in seinem Beisein gestorben bist, hm? Was glaubst du, was mit mir ist, wenn du mich nicht bei einer unserer Spielerunden abzockst oder neben mir auf dem Spielfeld stehst? Was glaubst du, was es mit Fahima macht, wenn du beim Mittagessen nicht mehr neben ihr sitzt und ihr eine qualitativ hochwertige Unterhaltung bietest, während der Rest des Teams blödsinnigen Mist erzählt? Oder mit Ajeet, der dich als einen Freund bezeichnet?“ Jean erstarrte unter dem schieren Gewicht ihrer Worte und traute sich für einen Moment noch nicht einmal zu atmen, aus Angst, dass es ihr missfiel. „Hör auf, ihn unter Druck zu setzen“, merkte Knox in der darauffolgenden, schweren Stille, leise an. „Es ist seine Entscheidung, nicht unsere.“ „Für ihn ist es vorbei, wir leiden weiter!“, fuhr sie ihren Kapitän an, doch der schüttelte nur sacht den Kopf. „Jean hat genug gelitten. Wenn er…“ Knox schluckte. „Wenn er seinem Leben ein Ende bereiten möchte, dann ist das seine Entscheidung, die wir letzten Endes akzeptieren müssen.“ „Bullshit, Captain!“ Jean hatte Alvarez noch nie schreien hören und er wusste auch, dass er auf diese Erfahrung gerne verzichtet hätte. Wütend riss sie sich von Knox los und kam auf ihn zu. Dieses Mal wich Jean nicht vor ihr zurück und machte sich auf alles gefasst, was da kommen mochte, in dem Wissen, dass es ihm Schmerz bereiten würde. Schweigend starrte Jean auf sie hinunter und wagte es nicht, auch nur einen Moment lang den Blick von ihren zornigen, braunen Augen abzuwenden. Doch sie schlug ihn nicht. Zweimal atmete sie tief durch, bevor sie anscheinend die Kraft fand, mit ihm zu sprechen. „Du hast keine Ahnung, was dir entgeht, Moreau. Ich weiß nicht, was die Arschlöcher in Evermore mit dir gemacht haben, aber so, wie du dich verhältst, muss es eine richtig große Scheiße gewesen sein. Denk ja nicht, ich hätte nicht mitbekommen, dass vieles, was normal sein sollte, für dich neu und unbekannt ist. Das ist zum Kotzen und all das, was sich dir hier nun eröffnet, ist erschlagend, manchmal auch zuviel. Aber du bist nicht alleine, weder mit deinen Erinnerungen, deiner Unsicherheit noch mit deiner Verzweiflung, die dich dazu getrieben hat, dich von dem blonden Mörderzwerg umbringen lassen zu wollen. Wir sind da, wenn es sein muss, jede Sekunde des Tages, um dir die Schönheit, die das Leben zu bieten hat, unter die Nase zu reiben, bis sie dir zu den Ohren herauskommt.“ „Alvarez“, versuchte Knox ein weiteres Mal zu beschwichtigen, doch sie wehrte ihn wütend ab. „Du glaubst, du bist alleine? Es mag dich überraschen, Moreau, aber du bist es nicht. Du bist geschätzter Teil eines Gefüges, der merkt, wenn du fehlst. Der leidet, wenn du fehlst.“ All das, was Alvarez gesagt hatte, war unverständlich für Jean, schwer zu begreifen. In Evermore war er niemals Teil von etwas gewesen. Ein Ding, eine Sache, die kein eigenständiger Mensch war. Hier war er derart eingebunden, dass sie um ihn trauern würden, wenn er nicht mehr wäre? Hier würden sie leiden, wenn er sich umbrachte? Das war neu für ihn und er brauchte etwas, um sich dessen bewusst zu werden, was es bedeutete. Eben, dass sie ihn nicht alleine lassen würden. Oder? Ajeet bezeichnete ihn als Freund? Für Fahima war er mehr als eine knappe Mittagsunterhaltung? Für Knox mehr als eine spielerische Bereicherung? Unwillkürlich huschten Jeans Augen zu Eva und er sah in ihr missbilligendes Gesicht, das ihm zu sagen schien, wie falsch er lag. Wenn er an den Film zurückdachte, so hatte Wall-E seine Aufgabe auch immer weiter erfüllt und schlussendlich sein Glück gefunden, egal, vor wie vielen Sandstürmen er sich hatte verstecken müssen. Unsicher sah er Minyard an, der seinen Blick ruhig erwiderte. Von ihm aus zu Knox, dessen Mimik weitaus offener war. Stumme Verzweiflung stand auf seinem Gesicht und in seinen Augen schimmerten Tränen. Wegen ihm, begriff Jean. Er war nicht alleine. Er tat Menschen weh mit seinem Plan. In Evermore wäre es alles gewesen, was er sich gewünscht hatte, hier war es alles andere als erstrebenswert. Die Frage war jedoch, ob er den Mut hatte, seine Hand nach ihnen auszustrecken und sich auf das einzulassen, was sie ihm anboten. „Woher weiß ich, dass ihr mich nicht wegsperrt, jetzt, nachdem ich…“ Er verstummte und machte eine vielsagende, allumfassende Handbewegung, die Knox ein wildes Kopfschütteln entlockte. „Das würden wir niemals tun, Jean! Wir sind nicht Evermore!“ „Kevin hat mich alleine gelassen“, begann er mit seiner zweiten Sorge, wurde sich aber schon nach den ersten Worten bewusst, dass sie ihm nicht folgen können würden. „Er hat mich zurückgelassen. Wie kann ich sicher sein, dass ihr nicht…“ „Kevin ist ein Arschloch“, fiel ihm Alvarez ins Wort. „Und wir sind nicht Kevin. Ganz einfach.“ War es das? Ganz einfach? Jean ballte seine Hände zu Fäusten und sah zu Minyard, der sich eine zweite Zigarette ansteckte. Er schluckte und sein Herz schlug brachial schnell. Seine Hände waren klamm und zitterten. Er hatte Angst, große Angst, dass seine Entscheidung die Falsche war, doch ein Blick auf Knox, wie er Eva umklammerte, reichte, damit er die Kraft für seine Worte fand. „Ich möchte unseren Handel auflösen“, sagte er zu Minyard, der ihn mit erhobener Augenbraue musterte. „Ganz sicher?“ „Ja.“ „Du weißt, dass es kein zweites Mal geben wird. Bist du dir ganz sicher?“ Nein, ganz sicher war sich Jean definitiv nicht. Er hatte Angst vor der Zukunft, Angst vor aller Unsicherheit, die noch kommen würde. Doch er hoffte und dieser Funke gab ihm Kraft zu nicken. „Ganz sicher nicht, aber es reicht, um dich von deinem Teil des Handels zu entbinden.“ Minyard machte ein abfälliges Geräusch. „Das ist der Text des Junkies.“ „Das macht es nicht unwahrer.“ Der blonde Junge rollte mit den Augen und zuckte dann mit den Schultern. „Okay.“ So einfach beendete er ihren Handel. Ein Wort und schon nahm er den Rucksack auf, schulterte ihn und wollte gehen, doch es war Laila, die sich ihm in den Weg stellte. „Nein.“ Minyard hob die Augenbrauen, seine Haltung noch entspannt, doch Jean sah bereits jetzt schon die aufkommende Gewaltbereitschaft. „Nein?“, echote Andrew gelangweilt und Laila seufzte. „Bitte komm mit uns zurück zur Uni.“ „Kein Bedarf an sonnigem Getue.“ „Ich glaube, es würde uns allen gut tun.“ Minyard schnaubte. „Immer noch nicht an eurem sentimentalen Scheiß interessiert.“ „Wir könnten zu dem Eisladen, der dir am Wochenende so gut gefallen hat“, zog sie ihren Trumpf aus dem Ärmel und Jean sah, wie es tatsächlich hinter der glatten Stirn arbeitete. Andrew kämpfte mit seiner Sucht nach Süßem, das war offensichtlich und auch wenn er es nicht zugeben würde, so verlor er den Kampf gerade. Unwirsch brummte er und Jean war sich nicht wirklich sicher, ob das Zustimmung zu dieser surrealen Frage war. Unschlüssig stand er neben Andrew und knetete seine Finger, den Blick nun zu Boden gerichtet. Knox trat auf ihn zu, langsam genug, dass sich Jean auf die Reaktion des anderen Jungen einstellen konnte. Einen wahnwitzigen Moment lang hatte Jean das Gefühl, dass Knox ihn schlagen, anschreien, wegzerren würde. Doch das war nicht sein Kapitän. Das machte aber das Gefühl der Scham nicht besser, das ihn seit Alvarez‘ Ausbruch fest im Griff hielt. Doch es war nicht Knox, der mit ihm kommunizierte, sondern Eva, die sich von unten in sein Blickfeld schob und ihn missbilligend anschaute. War es das, was Knox empfand? Missbilligung ob seines Versuches, sich allem zu entziehen? Unsicher, wie er diese Geste interpretieren sollte, sah Jean hoch und ließ sich von den blauen Augen seines Kapitäns gefangen nehmen, in denen immer noch Tränen schwammen. Jean wagte es nicht, wegzusehen, auch dann nicht, als die Tränen fielen. Er war versucht, sie von den Wangen zu streichen um seine Spuren zu verwischen. Um eben das nicht zu tun, griff er nach Eva und für einen Moment hielten sie beide das Kuscheltier fest. Dann ließ Knox es los und Jean nahm den Plüschroboter an sich. Nachdenklich strich er über den weichen Stoff. „Kommst du mit zurück?“, fragte der blonde Junge beinahe unhörbar und Jean nickte. „Bleibst du auch?“ Er hasste die Angst, die er aus den Worten heraushörte. Er hasste sie zutiefst. „Ja, ich bleibe.“ „Versprochen?“ Jean sah hoch. Hoffnung konkurrierte mit der Angst und ließ Jean schwer schlucken. „Versprochen.“ ~~**~~ So sehr, wie die Zeit auf der Hinfahrt verflogen war, so langsam krochen die Sekunden auf der Rückfahrt, die sie alle zusammen in einem Auto verbrachten. Alle bis auf Laila und Andrew, die in Andrews Mietwagen zum Eisladen fuhren, wie sie es dem Torhüter der Foxes versprochen hatte. Das ließ Alvarez, Jean und ihn übrig, die ruhiger und vor allen Dingen langsamer zurückfuhren. Jean saß vorne, was sich alleine aufgrund seiner Körpergröße anbot und so konnte Jeremy immer wieder einen Blick auf den Jungen richten, der schweigend und in sich verschlossen, mit in Eva verkrampften Fingern neben Alvarez saß. Er hatte keinen Ton gesagt, seitdem er eingestiegen war und damit traf er auch auf gute Gesellschaft. Alvarez sagte nichts, ebenso wie er selbst auch und zum ersten Mal in seinem Leben war Jeremy wirklich hilflos. Jetzt, wo sie Jean in Sicherheit hatten, wusste er nicht, wie er an ihre vorherigen Gespräche anknüpfen sollte. Er konnte nicht einfach so über das hinweggehen, was geschehen war und zur Normalität zurückkehren. Er brauchte Zeit, um sich bewusst zu werden, was das auch für die Zukunft bedeutete. Ja, Jean hatte ihm das Versprechen gegeben, aber er war doch auch vorher bereit gewesen zu sterben. Was, wenn es aus einem Impuls heraus wieder passierte? Was, wenn sie nicht soviel Glück hätten wie jetzt? Die Unsicherheit darüber hielt Jeremy in eisigen Klauen gefangen und verhinderte jedes unbeschwerte Wort, das ihm sonst über die Lippen kommen würde. Zumal er nicht wusste, wie sehr Jean das schätzen würde und wieviel Freiraum er brauchte. Wie sehr auch er einfach das verarbeiten musste, was gerade passiert war. Alvarez räusperte sich und Jeremy zuckte unisono mit Jean zusammen. „Männer, ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich habe einen Mordskohldampf“, erläuterte sie, ihre Stimme ernst und ruhig, nicht im Ansatz der wütende Ton, den sie im Canyon gegenüber Jean angeschlagen hatte. Jeremy wusste nicht wirklich, ob er etwas essen konnte und wenn er Jeans Profil musterte, dann hatte der andere Junge eine ebenfalls keine klare Meinung. „Kein Widerspruch? Gut, dann halten wir an unserem Stammdiner.“ Zu eben jenen fuhren sie immer dann, wenn sie von ihren Wanderausflügen wiederkamen. Sie alle liebten das familiengeführte Restaurant und vielleicht wäre es genau die Wohlfühlatmosphäre, die sie nun bräuchten. „Jean?“, fragte Jeremy ruhig. „Was meinst du?“ Nachdenklich drehten die vernarbten Finger Eva in ihren Händen und Jean schien nach einer richtigen Formulierung zu suchen. Er räusperte sich und nickte dann. „Ja, das ist okay“, sagte er vorsichtig und senkte seinen Blick wieder. Jeremy brummte und schob langsam seinen Zeigefinger nach vorne. Behutsam stupste er Eva auf die Stirn und begegnete den ihn seitlich musternden Augen mit einem Lächeln. „Evaaaa“, machte er in einer jahrelangen perfektionierten Imitation Wall-E nach und Alvarez schnaubte amüsiert. Jean selbst hob die Augenbraue. „Dir ist klar, dass unser Kapitän diesen Film mindestens schon zwanzigmal gesehen hat, oder?“, stellte sein Vizekapitän eine rein rhetorische Frage. Natürlich war es Jean nicht klar und überrascht hob er die Augenbrauen. „Warum sollte man das tun?“, fragte er schließlich zweifelnd. Jeremy lächelte und dieses Mal ging es ihm leichter von der Hand. „Weil es ein toller Film ist!“ „Und die anderen, sehenswerten Filme?“ „Bestandteil unserer Filmabende. Spoiler: unser Kapitän ist lebenslang von der Auswahl der Filme verbannt.“ Vor beinahe zwei Monaten hatte Jean bei der bloßen Ankündigung, einen Film zu schauen, ablehnend und beinahe panisch reagiert, aus Gründen, die Jeremy nur zu gut nachvollziehen konnte. Nun aber brummte er nur und Jeremy wusste nicht, ob es tatsächlich eine Besserung war, oder ob Jean Angst hatte, Alvarez zu enttäuschen. „Du musst nicht an den Filmabenden teilnehmen, wenn du nicht magst“, stellte Jeremy deswegen klar und ihre Fahrerin schnaubte. „Und ob, Cap. Ich möchte sehen, ob die Auswahl des französischen Wunderkindes hier besser ist als deine. Wenn ich mir allerdings dessen nonverbale Liebe für das Kuscheltier so anschaue, wage ich es zu bezweifeln.“ Jeremy grollte und Jean schnaubte. Wieder strichen seine Finger über Eva. „Ich habe kein Bedarf an einem Filmabend“, erwiderte er dann und Alvarez tat das mit einer unwirschen Handbewegung ab. „Jetzt sag mir nicht, dass du keine Filme schaust“, deutete sie auf Eva und Jean rollte mit den Augen. Jeremy öffnete den Mund, um Alvarez zum Schweigen zu bringen, bevor sie tatsächlich schlechte Erinnerungen in Jean triggern konnte, doch der andere Junge kam ihm zuvor. „Das letzte Mal, als ich einen Film mit meinem Team gesehen habe, hat es mein damaliger Kapitän für amüsant erachtet, die im Film gezeigte Folter an mir auszuprobieren. Ich habe kein Interesse an einer Wiederholung dessen und damit auch kein Interesse an einem Filmabend“, sagte Jean schlicht, ohne einen wirklichen Vorwurf in seiner Stimme. Jeremy konnte auch keine Angst in den Worten hören und begriff, dass diese Offenheit in all ihrer brachialen und brutalen Ehrlichkeit Jeans Art war, sein Vertrauen zu zeigen. Jeremy schloss den Mund wieder. Er hatte ihren Backliner verteidigen wollen, doch Jean konnte für sich selbst einstehen. Wenn er genauer hinsah, kam es Jeremy wie eine Emanzipation vor. Notwendiger Widerstand, den Jean leisten musste, damit Alvarez ihn nicht immer wieder überfuhr mit ihrem Wesen. So wie bei seinem Handy. Er hatte ihr eine Grenze gesetzt und das, was Jeremy an seinem Vizekapitän so schätzte war, dass sie diese schlussendlich auch respektierte. „Das ist eine ganz große Scheiße“, gestand sie die Einhaltung dieser Grenze ein und Jean zuckte mit den Schultern. Schweigend wandte er seinen Blick nach draußen und zog schließlich nachdenklich sein Telefon hervor. „Minyard sagte, dass da ein Tracker drauf ist“, stellte er zur Diskussion und Jeremy warf einen bedeutungsschwangeren Blick zu seinem Vizekapitän, die mit ihren Augen rollte. „Jaa, den habe ich dir draufgespielt, damit die Arschlöcher aus Evermore dich nicht einfach entführen können ohne dass wir eine Ahnung haben, wo du bist“, erwiderte sie und Jean blinzelte. Jeremy schnaubte und lehnte sich zurück, verschränkte die Arme. „Ich möchte das nicht“, sagte Jean ruhig, doch Jeremy hörte, wie vorsichtig er diese einfachen und selbstverständlichen Worte aussprach. Er erwartete, dass seinem Wunsch nicht entsprochen wurde, doch da kannte er sie beide schlecht. Alvarez deutete mit ihrem Kinn auf das Handy. „Wenn du mit dem Finger auf das Symbol der App tippst, dann kannst du sie deinstallieren. Damit ist sie dann verschwunden.“ Jean starrte auf sein Telefon und runzelte ratlos die Stirn. „Welches Symbol hat sie denn?“ Jeremy lehnte sich nach vorne und schob den Kopf zwischen den beiden Sitzen hervor. Halb hing er über Jeans Finger, noch viel näher war er dadurch aber dessen Kopf. Beruhigend lächelte Jeremy und hob fragend die Augenbrauen. „Darf ich?“ Jean nickte und Jeremy wischte durch den App-Dschungel, den Alvarez Jean auf das Telefon geladen hatte. „Hier ist der Übeltäter!“, schmunzelte er und Jean tippte mit dem Finger darauf. Er deinstallierte die App und sah dann fragend zu Jeremy. „Genauso.“ Durch die Enge des Wagens waren sie sich so nahe, dass Jeremy auch die kleinen Narben auf Jeans Gesicht sehen konnte, ebenso wie er sein Shampoo roch, mit dem er Jean aus Versehen die Haare gewaschen hatte, weil er instinktiv nach der anderen Packung gegriffen hatte. Der Gedanke brachte Jeremy zum Lächeln und graue Augen verfolgten seine Mimik aufmerksam. Zum ersten Mal fiel ihm wirklich auf, dass Jean dunklere Ränder um das ebenmäßig-hellere Grau hatte und seine Augen so eine größere Tiefe bekamen. Hübsch sah das aus. „Ist etwas?“, fragte Jean und aus seiner Stimme hörte Jeremy genau das Quantum an Unsicherheit heraus, das er brauchte, um zu einem eigenen Platz zurück zu kehren. „Nein, nichts. Ich habe nur festgestellt, dass du unterschiedliche Grautöne in deinen Augen hast“, erwiderte er wahrheitsgemäß und auch das stieß auf Verwirrung. „Und?“ „Nichts und. Es ist mir nur aufgefallen.“ Alvarez grollte, während sie langsamer wurde und auf den Parkplatz des Diners abbog. „Sucht euch ein Zimmer, Jungs, okay? Das ist hier ein anständiges Auto!“ „Als wenn, Alvarez, als wenn!“, lachte Jeremy, während er ausstieg und Jean mit gerunzelter Stirn die Beifahrerseite verließ. „Wieso sollten wir nach einem Zimmer suchen?“, fragte er und Alvarez begriff um Längen langsamer als Jeremy, dass Jean die Frage tatsächlich ernst meinte, weil er nicht wusste, was damit gemeint war. „Frag mal Ajeet, der kann dir eine Antwort darauf geben“, grinste Alvarez hinterhältig und Jeremy rollte mit den Augen. Je mehr sie herumalberten, desto mehr ließ das innere Zittern nach, das Besitz von ihm ergriffen hatte und desto mehr konnte er sich vorstellen, dass doch alles gut werden würde. ~~**~~ Jean stand wie zum ersten Mal in diesem Raum, der immer noch so sehr nach Knox aussah. Wie vor zwei Monaten war er fremd – dieses Mal jedoch nur für wenige Augenblicke. Meins, geisterte durch seine Gedanken, als er das in die Jahre gekommene Bett mit der Bettwäsche sah. Meins, als er das Buch sah, was er auf seinem Schreibtisch deponiert hatte. Meins, als er nicht zuletzt Renees Geschenk aufnahm und mit seinen Fingern über den dunkelblauen Stoff strich. Knox hantierte in der Küche und gab Jean somit Freiraum, sich wieder in dem Apartment zu akklimatisieren, von dem er gedacht hatte, dass er es nie wiedersehen würde. „Wir haben das Training verpasst“, sagte er, alleine um ein Stück Normalität zurück zu gewinnen und Knox erschien im Türrahmen. Entspannt winkte er ab. „Der Coach weiß Bescheid und hat das Training ohne uns durchgeführt.“ Jean blinzelte. „Du hast es ihm gesagt?“, fragte er nach und Knox‘ Augen weiteten sich. „Nein. Nein, Jean, das habe ich nicht. Er weiß nur von Laila, dass wir heute nicht am Training teilnehmen können. Es wissen nur Alvarez, Laila und ich.“ „Wirst du es den Anderen erzählen? Oder dem Coach?“ Wenn Jean es sich ehrlich eingestand, dann hatte er Angst vor der Antwort. Was, wenn sie alle wussten, wie schwach er war? Wie undankbar, dass er all ihre Mühen mit Füßen treten wollte? Doch Knox schüttelte den Kopf. „Nein, werde ich nicht. Es ist deine Sache, wem du es erzählst und wem nicht. Ich möchte dich nur um eins bitten.“ Zögerlich brach er ab und Jean runzelte die Stirn. Ihm schwante Schlimmes und Knox unsicherer Ausdruck auf dem sommersprossigen Gesicht machte es nicht besser. Ganz im Gegenteil. „Um was?“, hakte Jean nach und der blonde Junge verschränkte seine Finger ineinander. „Ich möchte dich bitten, dass du dir Hilfe suchst. Wir haben da einen Therapeuten…“ „Brian“, spezifizierte Jean mit einem Augenrollen. Überrascht hielt Knox inne. „Du kennst ihn?“ „Die Ärztin hat mir nach der Untersuchung seine Karte gegeben“, erwiderte Jean ehrlich und Knox blinzelte. „Ich habe ihn aber noch nicht angerufen“, ergänzte er, als er die aufkommende Frage auf den Lippen seines Kapitäns sah. Jean schwieg und seufzte schließlich, als Knox ihn weiterhin erwartungsvoll anstarrte. „Wieso soll ich zu ihm?“ „Weil er dir vielleicht anders helfen kann als wir es tun.“ Helfen. Jean war versucht zu schnauben. Als wenn ihm jemand bei seinen Erinnerungen und schlechten Träumen helfen konnte. Oder dabei, dass sein Körper bei falschen Bewegungen schmerzte. Oder dass er die Narben der Folter immer auf seinem Körper tragen würde. Er war versucht, nein zu sagen und abzulehnen, doch die Sorge, die Knox umgab wie eine dieser Pustefix-Blasen aus seiner Kindheit, hielt ihn davon ab. Ergeben nickte er. „Ich werde ihn kontaktieren“, erlöste er seinen Kapitän aus dessen Anspannung und für einen Moment sah Knox so aus, als würde er ihn umarmen wollen. Mit Sorge betrachtete Jean das Zusammenspiel der entsprechenden Muskeln und trat vorsorglich einen Schritt zurück. Das minderte das Strahlen auf Knox‘ Gesicht nicht, zumindest nicht, bevor ihm anscheinend etwas anderes einfiel und er verlegen zur Seite sah. Jean hob die Augenbraue. „Was noch, Knox?“, fragte er mit einer unguten Vorahnung in seiner Magengegend und hätte beinahe hinterhergeschoben, dass er es auf den Tod nicht ausstehen konnte, wenn schlechte Nachrichten mit einem Lächeln überbracht wurden. Doch das war zuviel Kritik, selbst jetzt. Sein Kapitän brauchte geschlagene zwei Anläufe, bevor er überhaupt Worte über seine Lippen brachte. „Kevin hat mir geschrieben, er ist um vier am Flughafen und kommt dann hierher.“ Worte, die offen gestanden keinen Sinn ergaben. Ja, erinnerte sich, dass Day Knox Bescheid gegeben hatte und er dafür verantwortlich war, dass er noch hier stand. Warum Day allerdings die sechs Stunden Flug auf sich nehmen sollte, um nach Los Angeles zu kommen, das war ihm schleierhaft. Außer um sich noch einen Faustschlag abzuholen, den Jean gerne bereit war, auszuteilen. „Und?“, fragte er entsprechend ungnädig und Knox vergrub seine unruhigen Hände in seinen Hosentaschen. „Und ich hatte gehofft, dass ihr miteinander sprechen könntet… und dass du ihm keine reinhaust.“ Jean knirschte unwirsch mit seinen Zähnen und Jeremy versuchte, dieses eine, bestimmte, bittende Gesicht aufzusetzen, das ihn um zehn Jahre jünger machte und es ihm schwer machte, ihm etwas abzuschlagen. „Jean, bitte keine Schläge hier in unserem Wohnheim.“ Er schnaubte. „Gut, dann gehe ich nach draußen.“ Knox gab einen Laut der Verzweiflung von sich. „Auch da nicht. Bitte…hör an, was er dir zu sagen hat.“ Jean wandte sich ab, weg von den ehrlichen, nichtsahnenden, blauen Augen voller Unschuld, die so vieles von ihm erbeten konnten, was er nicht würde abschlagen können. Eben das wurde Jean mit aller Wucht gerade bewusst und es fühlte sich zunächst bitter an. Machte er denn den gleichen Fehler wieder? Kevin hatte er auch nichts abschlagen können, aber Knox war nicht Kevin. Knox war nicht verdorben, er war rein. „Ich kann nichts versprechen“, erwiderte er indifferent. Knox gab einen Laut der Zustimmung von sich, zumindest interpretierte Jean das Brummen seines Kapitäns so. Immer noch verloren stand er in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer und gab es schließlich auf, seine Überlegungen in eine weitere Runde zu schicken. Ruckartig drehte er sich zu Knox, der ihn überrascht maß. „Wie geht es nun weiter?“, fragte Jean das, was ihm auf der Zunge lag. Irritiert runzelte der blonde Junge die Stirn. „So wie bisher?“, gab er fragend zur Antwort und Jean legte unwirsch den Kopf schief. „Mit dem Training, dem Studium, der…Freizeit? Genauso wie vorher?“, hakte Jean ungläubig nach und Knox nickte. „Oder möchtest du etwas anders gestalten?“ Jean überlegte. Akut nicht, nein. Er war froh, dass das, was heute passiert war, keine Auswirkungen hatte. Zumindest nicht auf seine Freiheiten, die er hier hatte. Doch je länger er darauf herumdachte, desto mehr Dinge fielen ihm ein, die er tatsächlich anders machen wollte. „Ich möchte kochen“, zählte er das Erste auf, was ihm in den Sinn gekommen war und Freude erhellte das Gesicht seines Kapitäns. „Immer gerne!“ „Ich möchte dünnere Kleidung. So wie Fahima sie trägt.“ „Frag sie, sie geht sicherlich gerne mit dir shoppen.“ „Ich möchte Auto fahren lernen.“ „Mit meiner Rostlaube? Oder mit jemand anderem?“ „Dir.“ „Gott steh‘ mir bei“, grinste Knox und Jean hob die Augenbraue. „Der hört dich über die lauten Geräusche deines Motors nicht.“ „Oho…war das ein Scherz, Moreau? Höre ich da Humor?“ Jean seufzte schwer und angelte nach Eva. Kommentarlos ließ er sie seine Missbilligung zeigen und Knox bedachte das mit seiner beängstigend akkuraten Imitation des kleinen Roboters. „Hast du den Film wirklich zwanzig Mal gesehen?“, fragte er und sein Kapitän zuckte mit den Schultern. „Und ich werde ihn noch zwanzig Mal sehen!“ „Und ich möchte einen neuen Zimmerpartner“, führte Jean seine Aufzählung trocken und latent ironisch fort. Knox fasste sich theatralisch an sein Herz. „So gemein!“ Jean schnaubte und sein Handy pingte. Es war der Klingelton für Andrew und fragend zog er sein Mobiltelefon hervor. Jean blinzelte, als er die Nachricht las und rollte dann mit den Augen. ~L.A. ist scheiße.~ Jean sah zu Knox. „Darf ich ihm kurz antworten?“, fragte er und der blonde Junge hob bedeutungsschwanger die Augenbrauen. Er musste nicht fragen. Nicht mehr. Jean nickte in Anerkennung der Geste und widmete sich wieder dem Torhüter der Foxes. ~Warum? Gibt es nicht genug Eis um dich ins Koma zu essen?~ ~Das würdest du dir wünschen.~ ~Nein. Josten Geheule über deine Abwesenheit wäre nicht zu ertragen.~ ~Wie kommst du darauf, dass er sich bei dir ausweinen würde?~ ~Wie kommst du darauf, dass er es nicht täte? Falls es dir entgangen ist, er redet viel. Mit jedem.~ ~Das ist Teil seiner problematischen Persönlichkeit.~ ~Q.E.D.~ ~Nerd.~ Jean sah irritiert auf und drehte sein Handy so, dass Knox es sehen konnte, der geduldig gewartet hatte, bis er mit seinem Schlagabtausch fertig war. „Was bedeutet dieses Wort?“ Knox las die kurze Diskussion, da war er sich sicher und zum Teil war es Jean auch recht. Er wollte nicht, dass Knox ihm misstraute, weil er dachte, dass er es wieder versuchen würde. Oder weil er dachte, dass Minyard und er sich über das normale Maß heraus hassten. Nichts davon war der Fall. Im Gegenteil. Knox wurde rot und Jean sah dieser unerwarteten Veränderung mit gerunzelter Stirn zu. Hatte Minyard etwas Unanständiges geschrieben? Plötzlich unsicher zog Jean sein Handy wieder zu sich und wollte schon abwinken, als Knox sich besann und nun seinerseits sein Handy hervorzog. Er tippte etwas und reichte Jean dann sein Telefon. „Nerd ist eine Bezeichnung für an Spezialinteressen hängende Menschen mit sozialen Defiziten. Das Wort weist vom Kontext abhängig anerkennende oder abwertende Anklänge auf. In Computerkreisen gilt es als echtes Kompliment (*)“, las er laut vor und sah irritiert auf. „Aber ich habe keine speziellen Interessen und einen Computer besitze ich auch nicht.“ Die sozialen Defizite konnte er dahingehend nicht verneinen. Er sah Knox hilflos lächeln und der Ausdruck in den Augen seines Kapitäns irritierte ihn dabei fast noch mehr als Minyards Worte. „Nenn es liebevolle Beleidigung“, erläuterte sein Kapitän und Jean besah sich sein Handy. Das glaubte er nicht wirklich. Andrew war nicht so. „Er droht selbst Josten mit dem Tod“, winkte er ab und blinzelte irritiert ob der Stille, die ihn begrüßte. „Ihr hasst euch nicht“, stellte Knox fest und Jean schüttelte den Kopf. „Am Anfang schon. Mittlerweile nicht mehr.“ Knox zögerte. „Ich dachte, weil er bereit dazu ist…war, dich umzubringen.“ „Das war ein Handel. Ich habe ihn darum gebeten.“ „Und er hat dem aus Freundschaft zugestimmt?“ Überrascht hob Jean seine Augenbrauen. Freundschaft mit Minyard? Der Gedanke als solches war absurd. „Wir sind nicht befreundet.“ Glaubte Jean zumindest. Er wusste nicht wirklich, was Freundschaft ausmachte. Wenn er es an Treue und Worthalten festmachte, dann war Andrew mehr sein Freund als es Day jemals gewesen war. Er griff wieder zu seinem Handy. ~Wenn du dich noch nicht ins Koma gefressen hast, dann kannst du nachher die Reste von Day aufsammeln. Er kommt um vier.~ ~Idiot.~ ~Ich oder er?~ ~Beide.~ Jean rollte mit den Augen und warf das Handy auf sein Bett. „Ich werde das Training verpassen, wenn Day da ist.“ Das zweite in seinem Leben, wurde ihm bewusst. Es verursachte ihm kein gutes Gefühl, im Gegenteil. Die latente Angst, dass er dafür bestraft werden würde, war wie ein stetiges Hintergrundmurmeln, egal, wie oft er sich vor Augen hielt, dass die USC anders war. „Das ist in Ordnung. Ich spreche mit unserem Coach und er wird Verständnis dafür haben“, sagte Knox wie selbstverständlich und Jean seufzte innerlich. „Ich würde lieber trainieren, als mit Day zu sprechen“, gestattete er sich ein einziges Mal eine nahezu weinerliche Beschwerde, für die er sich Alvarez Tonfärbung ausborgte und Knox lachte. „Ich bin mir sicher, dass das eine genauso anstrengend wird wie das Andere. Aber beides lohnt sich.“ Jean kam es so vor, als wäre das nicht nur eine Prognose, sondern auch ein Versprechen an die Zukunft. Seine Zukunft im Team. ~~**~~ So emotionslos wie Jean zur Kenntnis genommen hatte, dass Day hierherkommen wollte, so zerrissener wurde er, je mehr Zeit verging. Er war wütend, wie immer, wenn er an den anderen Jungen dachte. Er hasste die Erinnerungen, die sich mit Day verknüpft hatten. Zu dieser Wut kamen jetzt jedoch auch noch Verwirrung und Unsicherheit, warum Day hier war und nicht zuletzt auch darüber, wie er sich selbst verhalten sollte. Er hatte eine eindeutige Drohung ausgesprochen und immer, wenn er den Gedanken auch nur touchierte, dann hatte er nicht übel Lust, sie auch wahr zu machen. Doch nicht alles in ihm wollte das und das machte ihn rastlos. Als es an der Tür klopfte, zuckte er zusammen, als hätte man ihn verbrannt und sah mit großen Augen zu Knox, der bisher auf der Couch gesessen und ohne wirkliches Ziel auf dem Laptop herumgeklickt hatte. Jean legte das Buch, was er bis gerade eben gelesen, aber nicht wirklich verinnerlicht hatte, zur Seite und verschränkte die Arme vor seinem Körper. Er wollte nicht. Er wollte diese grünen Augen nicht sehen, die um seine Vergebung heischten, als hätten sie ein Recht darauf. „Soll ich ihn hineinlassen?“ Nein!, begehrte Jean stumm. Lass ihn dort stehen, bis er von alleine geht. Für immer! Doch die vernünftige Seite in ihm sagte ihm bereits, dass das nicht eintreffen würde, also nickte Jean und Knox erhob sich mit einem weiteren, fragenden Blick auf ihn und öffnete dann ihre Eingangstür. Jean hörte, wie die beiden Jungen sich stumm umarmten. „Komm herein, er ist im Schlafzimmer“, murmelte sein Kapitän und er grollte. Stumm sah er hoch, als tatsächlich Day im Türrahmen stand. Die Überreste seines Schlages sah Jean immer noch. Passend dazu sah Day so schlecht aus wie schon lange nicht mehr mit tiefen Augenringen und todesbleicher Gesichtsfarbe. Er roch bis hierhin nach Alkohol und Jean rümpfte die Nase. „Ernsthaft? Du kommst besoffen hierher?“, zischte Jean angewidert und Day schüttelte leicht den Kopf. „Ich habe die Nacht zuvor getrunken… mittlerweile habe ich alles ausgekotzt. Im Flugzeug und auf dem Flughafenklo.“ Wie er auch. Auch Jean hatte sich auf dem Flughafen übergeben, vor lauter Angst, was ihm hier in Los Angeles zustoßen würde. „Ähm… soll…kann ich euch beiden alleine lassen?“, fragte Knox in seine Erinnerungen hinein und Jean nickte knapp. „Wirklich?“ Mit Mühe hielt er sich davon ab, mit den Augen zu rollen. „Ich werde ihn nicht umbringen, falls es das ist, was du befürchtest.“ „Und auch nicht schlagen.“ Jean nickte knapp, auch wenn er gerne Day die Sicherheit dieses Versprechens erspart hätte. Knox zögerte und sah von ihm zu Day und wieder zu ihm. „Bitte… redet. Miteinander. Bitte. Ich weiß nicht, was zwischen euch gelaufen ist, aber bitte sprecht darüber.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich mit einem Streichen über Days Schulter, das Jean innerlich grollen ließ, um und verließ ihr Apartment. Angespannt lehnte Jean sich an die Wand zurück und zog die Beine zu sich auf das Bett. Day ließ sich nach einem Moment der bewegungslosen Stille auf dem Boden nieder und lehnte an Knox‘ Bett. Sicherlich war das sein geheimer Traum. Sich einmal in den Laken des Trojanskapitäns zu wälzen. Jean schwieg und Day wurde mit jeder Sekunde, die er nichts sagte, unruhiger. „Es…“ „Wenn du sagst, dass es dir leid tut, dann schlage ich deinen Kopf solange gegen die Bettkante, bis du ein sabbernder Idiot bist“, fuhr Jean ihm ins Wort. Er hatte keine Lust mehr auf Entschuldigungen, die sinnentleerter nicht sein konnten. Day tat ihm und sich den Gefallen und verstummte. Aufstöhnend schloss er die Augen und presste die Handballen auf die Lider. „Ich habe es Jeremy gesagt, weil ich nicht ertragen konnte, dass du stirbst. Ich will nicht, dass du das Leben, so wie es wirklich ist, nicht richtig kennenlernst. Ich will nicht, dass du in dem Wissen stirbst, nicht alles Gute der Welt erlebt zu haben, was das Schlechte, das dir wiederfahren ist, wieder gutmacht.“ „Was du willst, interessiert mich nicht.“ „Das weiß ich, Jean, und du hast jedes Recht dazu.“ „Warum bist du dann hier?“ „Um zu sehen, dass du lebst. Um dir zu sagen, was ich fühle und denke. Um dir zu sagen, dass ich mir bewusst bin, wie niederträchtig und abartig ich dich behandelt habe und dass ich Abbitte leisten werde.“ Jean lachte abfällig. „Wie?“ Langsam nahm Day seine Hände hinunter und starrte ihm in die Augen. „Wie du es mir erlaubst, Jean. Ich bin fertig damit, dich hinten anzustellen. Ich werde Rikos Worte und Taten, die mein Denken vergiftet und es mir einfach gemacht haben, dich nicht als Mensch anzusehen, den ich liebe, nicht mehr zulassen. Ich werde gegen mich kämpfen, gegen jede einzelne Faser, die mich anschreit, dass nichts außer Exy wichtig ist.“ Jean glaubte, nicht richtig zu hören. „Als wenn du zu Liebe fähig wärst“, grollte er unwirsch und beugte sich vor. Noch verließ er die rettende Sicherheit seines Bettes nicht, doch es war knapp. „Du kennst nur dich und Exy, alles Andere ist dir egal!“ Day blieb ruhig und das machte Jean noch wütender, als wenn er ihn angeschrien hätte. „Ich lerne, dass andere Menschen nicht egal sind und dass es ein Leben außerhalb von Exy gibt“, widersprach er und Jean warf impulsiv sein Kissen nach Day, der noch nicht einmal Anstalten machte, es abzuwehren. Kommentarlos legte er es sich auf seinen Schoß. „Das ist Jahre zu spät“, schrie Jean unbeherrscht. „Du hast mich Jahre in seiner Gewalt gelassen, in dem Wissen, was er mir antut! Du hast selbst in Evermore nie eingegriffen, mich nie verteidigt oder gerettet! Und jetzt kannst du wunderbar sagen, dass du dich ändern willst, jetzt gibt es Riko nicht mehr und ich bin hier, umgeben von Menschen, die mit den Begriffen Gewalt und Vergewaltigung nichts anfangen können!“ Day schossen Tränen in die Augen und er krallte seine Hände in das Kissen. „Ich weiß, dass es viel zu spät ist, Jean, ich weiß das! Das ist eine Schuld, die ich immer mit mir herumtragen werde, weil ich nichts von dem wieder gutmachen kann, was dir in meiner Gegenwart angetan wurde und was ich dir angetan habe! Ich versuche aber, dass es dir jetzt gut geht und dass du jetzt ein sehr gutes Leben führen kannst!“ Nun stand Jean doch auf und war mit zwei Schritten bei Day. Wütend packte er ihn am Kragen seines Shirts und zog ihn halb zu sich hoch. „Du versuchst gar nichts. Du sitzt sechs Stunden in deinem Fuchsbau entfernt, betrachtest all das aus sicherer Entfernung und lässt andere für dich arbeiten! Mich aus Evermore holen? Das muss Renee machen. Sich um mich im Haus der Krankenschwester kümmern. Das überlässt du lieber Minyard und Josten. Mich umbringen? Minyard. Dafür sorgen, dass ich mich von Evermore erhole und lerne, ein richtiges Leben zu leben? Knox. Und nur, wenn es um deinen Ruf und deine Karriere geht, kommst du, zeigst dich.“ So bewegungslos und passiv Day seinen Angriff über sich hatte ergehen lassen, so wendig war er plötzlich, als es darum ging, sich hochzustemmen. Jean richtete sich darauf ein, dass Day versuchen würde, ihn zu schlagen, doch von eisernen, muskulösen Armen umarmt zu werden, damit hatte er nicht gerechnet. „Lass mich los!“, grollte Jean und wehrte sich gegen Day, doch anscheinend gab ihm dessen Verzweiflung einen nicht zu unterschätzenden Vorteil. Keinen Zentimeter gab er nach. „Nein.“ „Ich meine es ernst, Day, lass mich los!“ Entsetzt weiteten sich Jeans Augen, als er eine von Days Händen an seinem Nacken spürte, eine Geste, die ihn früher immer beruhigt hatte und deren Erinnerung daran ihm auch jetzt einen Strich durch die Rechnung machte. Dennoch wehrte Jean sich, versuchte mit aller Macht von Day loszukommen. „Du sollst mich loslassen!“ Sein Kopf wurde unnachgiebig und verzweifelt an Days Schulter gepresst und durch ihre direkte Nähe konnte Jean spüren, wie der andere Junge schluchzte. „Nein, denn wenn ich dich loslasse, dann verliere ich dich, Jean, und ich möchte dich nicht verlieren. Nie wieder.“ Jean zischte. „Immer noch der Egoist, nicht wahr? Was ich will, interessiert dich nicht! Möchte ich von dir angefasst werden? Nein. Möchte ich von dir umarmt werden? Nein. Doch das interessiert dich nicht, du zwingst mich dazu. Du zwingst mich, weil du glaubst, es besser zu wissen und weil du nur von deinen Bedürfnissen ausgehst! So warst du schon immer und deine Worte sind nichts als eine leere Hülle!“ Ein beinahe schon schmerzhafter Ruck ging durch den anderen Jungen und schneller, als Jean es wirklich verstehen konnte, hatte Day ihn losgelassen und war einen Schritt zurückgetreten. Die grünen Augen quollen über vor Schmerz, den sich Jean so lange gewünscht hatte. „Es tut mir leid, Jean. Es tut mir so leid. Ich… ich bin noch am Anfang, ich lerne noch, wie es ist…“ Er machte eine nichtssagende Handbewegung, die Jean schnauben ließ. Unwohl verschränkte er seine Arme und trat einen Schritt zurück. „Wie was ist? Die Regeln und Grenzen anderer Menschen zu respektieren? Oh, darin bist du sehr langsam und ob du jemals akzeptabel darin wirst, wage ich zu bezweifeln.“ Jean wünschte sich, dass er wütender wäre. Er wünschte sich, dass er Day genauso wie beim Bankett auch ohne zu zögern verletzen konnte, doch nichts davon brachte er gerade auf. Im Gegenteil. Er sah, was der wohl berühmteste, für die Medien charmanteste College-Exy-Spieler in Wirklichkeit war. Ein verlorenes, zerstörtes, erbärmliches Wesen voller Lebensunfähigkeit. „Ich konnte dich nicht sterben lassen, Jean, diese Grenze konnte und kann ich nicht respektieren. Ich werde sie auch immer wieder nicht respektieren, egal, wie sehr du mich dafür an den öffentlichen Pranger stellen wirst und mich für die Vergewaltigungen verantwortlich machen willst. Ich kann mir eine Welt ohne dich nicht vorstellen.“ Ungläubig versuchte Jean, den Worten zu folgen. „Machst du mir gerade zum Vorwurf, dass ich wegen deiner dummen Schwärmerei für Knox wochenlang nicht ohne Schmerzen sitzen konnte? Dass Martinsen mich solange gefickt hat, bis ich geblutet habe, nur weil dir gezeigt werden sollte, wie es sich mit homosexuellen Sportlern verhält?“, fragte er lauernd und pochender Kopfschmerz ließ ihn für einen Moment seine Augen schließen. „Nein, Jean, darum geht es nicht. Ich werde zu dem stehen, was ich getan habe. Ich werde für das geradestehen, was ich getan habe und werde Verantwortung übernehmen.“ Lauernd taxierte Jean den anderen Jungen. „Du willst Verantwortung übernehmen? Dann nimm dein Handy und mach es öffentlich. Na los.“ Schweigend starrten sie sich an, Day mit schreckensbleichem Gesicht, Jean mit langsam peinigenden Kopfschmerzen. Beide gefangen in ihrer gemeinsamen Vergangenheit und dem Gift, das sie für immer auseinander getrieben hatte. Langsam zog Day sein Handy aus der Tasche und neue Tränen fielen aus den sonst so emotionslosen Augen. Jean sah zu, wie er schrieb und sah überrascht auf seine Hände, die, wie er nun feststellte, so gewaltig zitterten, dass er sie mitnichten ruhig halten konnte. Day tippte und tippte und als er fertig war, hielt er Jean kommentarlos sein Handy hin. „So?“, fragte er erstickt und Jean sezierte Wort für Wort des langen Textes, in dem Day alles offenbarte, Taten, Gefühle, die ganze Schande, die er über sich und auch Jean gebracht hatte. Seine schmerzliche Vergangenheit in so wenige Worte gepresst zu lesen, war zuviel für Jean und er zischte. „Nein!“, war das Einzige, was er herauspressen konnte, bevor er Day zur Seite schob und aus dem Apartment stürmte, in den Flur hinein, von dort aus nach draußen, nur weg von diesem Haus. Das erste Mal, dass er sich alleine, ohne Begleitung aus dem Haus entfernte und er konnte nicht aufhören zu laufen und Abstand zwischen sich und der Essenz seines Leides zu gewinnen. ~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 25: Das blonde Gift --------------------------- Als Jean wieder zu Sinnen kam, stellte er fest, dass er instinktiv zu einem Punkt geflohen war, den er bereits kannte und mit dem er, wenn er es sich ehrlich eingestand, positive Erinnerungen verknüpfte. Zittrig atmend stand er vor dem Eisladen, den anscheinend alle Studenten der USC so vergötterten und nach dem nun auch noch Minyard süchtig war. Mit wild klopfendem Herz starrte er auf das Gebäude und die Fensterfront. Wenigstens konnte er hier Bescheid sagen, wo er war, denn alleine zurück zu finden, das stand außer Frage für ihn. Auch jetzt schon kribbelte es überall auf seinem Körper und sein Instinkt schrie ihn an, dass er falsch gehandelt hatte. Dass er niemals, unter keinen Umständen alleine sein durfte. Sein Blick fiel auf den Verkäufer. Es war der Gleiche, der Knox beim letzten Mal so freundlich und überschwänglich bedient und Minyard eine Kugel Eis extra gegeben hatte und der ihn nun ohne Umschweife entdeckte. Jean schluckte und wollte sich wegdrehen, als dieser schon sein anscheinend typisches Lächeln auflegte und ihn zu sich heranwinkte. „Hey, Lieblingsbackliner!“, grüßte er ihn und Jean versuchte, sich an den Namen des Mannes zu erinnern. Er scheiterte und so nickte er nur stumm. Wie angewurzelt stand er vor dem Laden, nicht wissend, was er tun sollte. „Möchtest du ein Eis?“ Er wollte vor allen Dingen ein Stück Gewohnheit und etwas Positives in all dem Chaos dieses Tages. „Von allem ein Bisschen?“, echote Jean, bevor er seine Lippen davon abhalten konnte, Worte in die Welt heraus zu posaunen, die er definitiv bereuen würde. Überrascht zog der Mann seine Augenbrauen hoch und lachte dann schallend. „Jers Einfluss, ich sehe das schon! Kommt sofort, Lieblingsbackliner!“ Während Chris, so hieß er, eine Teller voller Eis vorbereitete, setzte sich Jean langsam in Bewegung und betrat umsichtig den Laden. Er mied den Blick auf die anderen Gäste, die zu dieser Uhrzeit spärlich anwesend waren und konzentrierte sich auf die Theke, die ihm soviel buntes Eis zeigten, das er noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Zumindest nicht, bevor er hierher gekommen war. Jean beendete seine stumme Auflistung der Eissorten, als ihm sein Teller gereicht wurde und er diesen mit seiner Karte bezahlte. Wie Knox es ihm mitgeteilt hatte, wurde Bargeld in Los Angeles eher weniger gerne gesehen und so war es auch einfacher, hatte er doch immer noch Probleme, die Münzen und Scheine auseinander zu halten. „Guten Hunger, Moreau!“, grinste Chris und zwinkerte ihm zu. Jean nickte, sich immer noch darüber wundernd, dass jemand wie er der Lieblingsbackliner von einem Fremden war, und nahm sich seinen Teller um hinter dem Laden zu einem der Bäume zu gehen, die im Schatten lagen. Dort würde er sich keinen noch größeren Sonnenbrand holen und konnte sich in aller Ungestörtheit durch das Eis beruhigen lassen. Der einzige Wermutstropfen war, dass er es nicht alleine schaffen würde, soviel Eis zu essen. Vielleicht würde sich das Problem erledigen, denn er musste sowieso Knox Bescheid geben, wo er war. Insbesondere nach dem heutigen Morgen würde sein Kapitän mehr als ungehalten darauf reagieren, wenn er ihn plötzlich aus den Augen verloren hätte. Nein, nicht ungehalten. Verzweifelt, was viel schlimmer war. Jean ließ sich mit dem Rücken zum Stamm nieder und zog sein Handy hervor, während er den Teller vorsichtig auf seinen Oberschenkeln balancierte. Er machte ein Bild davon und schickte es seinem Kapitän. ~Ich bin hier~, schrieb er dazu, nur um sicher zu gehen und erhielt keine Sekunde später einen geschockten Smiley zurück. ~Soviel Eis ohne mich?~, erläuterte Knox eben jenen und Jean schnaubte. ~Wenn du schnell genug bist, Kapitän, ist noch etwas da.~ So ganz genau wusste er auch nicht, warum er den letzten Satz so formuliert hatte, insbesondere, weil er in seinen Augen außerordentlich forsch klang, neckend beinahe. Vielleicht war der damalige Traum seines Kapitäns Schuld und die ihm darin unterstellte Rolle des Eisdiebes. ~Du wirst dich noch wundern, wie schnell ich sein kann!~ Nein, das würde Jean sicherlich nicht, schließlich kannte er Knox doch auf dem Spielfeld. Er hatte seine Schnelligkeit genauestens analysiert. Jean runzelte die Stirn und legte das Handy beiseite. Langsam begann er zu essen und erneut explodierten Zucker, Sahne und verschiedenste Geschmacksrichtungen in seinem Mund, die er nicht alle benennen konnte. Er kam noch nicht einmal bis zum letzten Viertel der Eissorten, dann hörte er eilige Schritte hinter sich und sah gerade rechtzeitig hoch, um Knox dabei zu beobachten, wie er vor ihm zum Stehen kam und sich neben ihm ins kühle Gras fallen ließ: rotgesichtig, außer Atem und mit wild abstehenden Haaren. Jean hob die Augenbrauen. „Meine persönliche Bestleitung!“, grinste Knox. „Anscheinend mit Platz nach oben“, erwiderte Jean ironisch und sein Kapitän grollte spielerisch. „Kann ja nicht jeder deine langen Beine haben“, ließ er seinen Blick bedeutungsvoll auf eben jenen ruhen und Jean folgte der Richtung unsicher. Er hatte, weil er wenigstens an seinem letzten Tag eine kurze Hose tragen wollte, seine Shorts angezogen. Es war luftig, allerdings sah man auch Teile seiner Narben. Niemand hatte ihn deswegen schief angesehen oder angestarrt, wurde Jean bewusst. „Neil ist auch schneller“, sagte er stirnrunzelnd. „Neil ist ja auch kein Mensch.“ Überrascht hob Jean die Augenbrauen. Was meinte Knox damit? Kein Mensch? Er hatte doch auch gesagt, dass er kein Besitz, sondern ein Mensch war, wieso sah er Josten anders an? Unsicher spielte er mit dem Löffel in seiner Hand. „Was ist er dann?“, fragte er um sicher zu gehen. „Irgendetwas zwischen Gepard und Graukopfalbatros.“ Jean blinzelte. „Warum das? Und was ist ein Graukopfalbatros?“, fragte er perplex und Knox zog mit einem Grinsen sein Handy hervor. „Zum Einen, weil es das schnellste Tier an Land ist und zum Anderen deswegen“, erwiderte sein Kapitän und hielt ihm ein Bild unter die Nase, das Jean unweigerlich lächeln ließ. Ja, da bestand tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit. Als er aufsah, traf er direkt auf die Augen seines Kapitäns, die an seinem Mund festzukleben schienen und Jean hielt irritiert inne. „Was ist?“, fragte er und erst verspätet schüttelte Knox den Kopf. „Gar nichts“, grinste er zurück und nickte dann in Richtung des Tellers. „Du vernachlässigst dein Eis.“ Jean war, als hörte er einen latenten Vorwurf aus den Worten heraus und er hob die Augenbraue. „Der Rest gehört dir“, erwiderte er und reichte Knox den Teller samt Löffel. Entsprechend zeremoniell wurde dieser angenommen, bevor sich Knox daran machte, in aller Windeseile die erheblichen Reste des Eis zu vernichten. Jean schnaubte innerlich und lehnte seinen Kopf an den Stamm, ließ den Blick über das Gelände schweifen und hin und wieder zu seinem Kapitän zurückkehren. „Ich habe Kevin auf unsere Couch verfrachtet und Laila hat Andrew aus dem Auto geholt, damit er sich um ihn kümmert“, sagte Knox schließlich und Jean nahm das stumm zur Kenntnis. Natürlich wusste er, dass es eine Bitte um Informationen wie auch ein Hilfsangebot war. Jean zuckte mit den Schultern. Es schmerzte ihn, über Day nachzudenken und über das, was er bereit gewesen wäre zu posten, hätte Jean ihn nicht davon abgehalten. Überhaupt war er über seine gemischten Gefühle verwirrt, die es ihm schwierig machten, eine Entscheidung zu treffen. Day war hierher gekommen, nicht, wie er sagte, um seinen Ruf zu retten, sondern weil ihm etwas an Jean lag. Das zu glauben, fiel ihm schwer. Dennoch hatte Day in all seiner Feigheit den Weg hierhin aufgenommen und war sogar soweit gegangen, Knox zu warnen. Was das bedeutete, wollte Jean nicht wissen und auch nicht darüber nachdenken. Er wollte das Wissen darum ruhen lassen, damit er sich in Ruhe damit auseinandersetzen und Frieden finden konnte. Das, was er definitiv nicht wollte, war, das zu lesen, was ihm im Beisein von Day angetan worden war, auch wenn sich Jean darüber im Klaren war, dass er dadurch das Leben des anderen Jungen eben nicht zerstören würde, wie er es angedroht hatte. „Ich habe ihn nicht geschlagen“, sagte Jean schließlich und Knox fuhr sich verlegen durch seine Haare. Er kräuselte die Nase und fuhr mit seinem Finger über den Teller, leckte das Eis davon ab. Stirnrunzelnd beobachtete Jean ihn dabei. Für einen Striker hatte Knox schmale Finger, auch wenn sie verhältnismäßig lang waren und viele Schwielen aufwiesen. „Das habe ich auch nicht angenommen.“ „Unsere Vergangenheit ist schwierig.“ „Wird es eure Zukunft dadurch auch sein?“ Jean sah auf seine eigenen Hände. Day hatte sich mehr als einmal um ihn gekümmert, nachdem seine Finger gebrochen worden waren. „Wir haben keine gemeinsame Zukunft.“ „Ihr werdet beide in die Nationalmannschaft kommen.“ Überrascht sah Jean hoch und schnaubte. „Unwahrscheinlich.“ „Du bist der beste Backliner der Liga, Jean.“ „Aber nicht der beste Backliner.“ „Das kommt noch.“ Darüber hatte sich Jean nie Gedanken gemacht. Musste er bisher auch nicht. Dieses Ziel war so weit außerhalb seiner Reichweite gewesen, dass er es noch nicht einmal ins Auge gefasst hatte. „Mal sehen“, erwiderte er entsprechend ausweichend. „Erst muss ich meinen Abschluss schaffen.“ Knox winkte ab. „So diszipliniert, wie du lernst, sehe ich da kein Problem.“ „Der Abschluss war immer nur Mittel zum Zweck gewesen“, gestand Jean schulterzuckend ein. „Es ist nichts, was mich sonderlich reizt oder herausfordert.“ Für einen Moment herrschte Stille und Jean fragte sich mit einem Blick auf den gequälten Ausdruck auf Knox‘ Gesicht, ob er wieder etwas Falsches gesagt hatte. „Sie haben dir noch nicht einmal dabei die Wahl gelassen?“, fragte der andere Junge schließlich leise nach und Jean schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht.“ Für einen Moment sah es so aus, als würde Knox seine Hand drücken oder ihn umarmen wollen, doch dann entspannten sich die Muskeln seines Kapitäns wieder. Jean war dankbar darum. „Gibt es denn etwas, das du lieber machen würdest?“ Die Frage hatte sich Jean schon öfter gestellt und war nie zu einem schlüssigen Ergebnis gekommen. Er war gut darin, Sprachen zu lernen. „Ich weiß es nicht. Ich mochte den Rundgang in diesem Kunstdistrict und ich lese gerne“, gab er zu und kam nicht umhin, festzustellen, was für ein Fortschritt das doch war. Früher hätte er Riko niemals solche Schwächen offenbart, in dem Wissen, dass sie ihm verleidet werden würden. „Dann könntest du dein Wirtschaftsstudium mit Kunst oder Literatur verbinden. Also nach deiner exorbitant durch die Decke schlagenden Exy-Karriere, die dich bis an dein Lebensende reich machen wird“, grinste Knox und Jean rollte mit den Augen. „Ich habe mir nie darüber Gedanken gemacht.“ Knox stellte den Teller neben sich ins Gras, lehnte sich zurück und stützte sich auf seine Hände ab. Er legte den Kopf schief und musterte Jean schweigend. „Wenn du es dennoch tun möchtest und Hilfe brauchst, sag Bescheid. Niemand von uns ist Kunststudent, aber wir finden da jemanden, der jemanden kennt. Ellie hat Literatur belegt, sie kann dir zumindest da weiterhelfen.“ „Ellie?“, fragte Jean und sein Kapitän schnaubte. „Die große Blonde deines Teams“, erwiderte er lakonisch. „Die so aussieht wie Allison.“ „Die Foxes-Allison?“ „Ja.“ Knox brummte und Jean kam nicht umhin, sich darüber glücklich zu schätzen, dass er den Deal mit Andrew abgelehnt hatte. Auch wenn es nur ein normales Gespräch war, so tat es ihm gut. Es tat ihm gut, dass es seine Wünsche waren, die zählten. Es machte die Angst vor einer ungewissen Zukunft geringer und gab ihm eine Perspektive, die er niemals vorher gehabt hatte. ~~**~~ „Wirst du es eigentlich nie leid, dich um ihn zu kümmern?“, fragte Jean verächtlich, während er auf die abgewandten, schlafenden und leise schnarchenden Körper starrte, der seine Couch verpestete. Jeremy sah von der Kaffeemaschine auf, die er gerade zum Laufen brachte und warf einen Blick auf Andrew, der an ihrem geöffneten Wohnzimmerfenster saß und rauchte. Wirklich gut hieß Jeremy das nicht, aber er war sich nicht sicher, ob der blonde Torhüter das nicht als Kompensation brauchte. Man erklärte sich doch nicht einfach so dazu bereit, einen Menschen umzubringen ohne dass es spurlos an einem vorbeiging. Zumindest fiel es Jeremy schwer, das zu glauben, insbesondere, weil die beiden anderen Jungen eine Art hatten, miteinander umzugehen, die nicht wirklich nahelegte, dass sie sich hassten. Im Gegenteil. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr Situationen vom letzten Bankett fielen Jeremy ein, die dagegen sprachen. „Wenn er schläft oder betrunken ist, ist er erträglich“, erwiderte Andrew, ohne den Blick von draußen abzuwenden und Jeremy kam nicht umhin, festzustellen, dass der Unterton nicht wirklich zu den unsensiblen Worten passte. Wenn er sich nicht recht irrte, dann sorgte sich Andrew um Kevin, wie er sich auch um Jean sorgte. Er füllte Kaffee in den Filter und sorgte dafür, dass die Maschine ausreichend Wasser hatte, bevor er ebenso ins Wohnzimmer kam. „Trotzdem lässt du ihn nicht aus deinen Augen“, sagte er und Andrew schnaubte. Er klopfte die Asche von der Zigarette und bedacht ihn mit einem kurzen, verächtlichen Blick. „Er ist ein Idiot.“ „Nein, ist er nicht. Er ist jemand, den du schützt.“ Andrew rollte mit den Augen und Jeremy spürte, wie Jeans Blick Löcher in seine Seite bohrten. Sicherlich kam das auch deswegen, weil er zwischen Jean und Kevin stand und sein Backliner seit ihrer Rückkehr nichts Anderes getan hatte, als Kevin aus sicherer Entfernung heraus wütend anzustarren. Jeremy räusperte sich mit einem minimalen Lächeln und Jean löste sich aus seiner Starre. Mit einem Schnauben wandte er den Blick ab. „Vielleicht geht es ihm nicht gut und wir sollten Doc Chandler holen?“, schlug Jeremy vor und wurde mit einem zweifachen Grollen belohnt. „Das Prinzesschen schläft seinen Rausch aus“, schnarrte Andrew und drückte seine Zigarette aus. Er schnippte den Stummel zu Jeremy Missbilligung aus dem Fenster und sprang von der Fensterbank. „Das Mädchen hat mir Kaffee versprochen“, sagte er und Jeremy deutete mit einem Nicken auf die vor sich hin sproddelnde Kaffeemaschine. „Ist gleich fertig.“ „Gut. Nach einem Kaffee werde ich fahren und den Betrunkenen hier mitnehmen, es sei denn, du willst noch mit ihm reden, Moreau?“ „Nein.“ „Wenn du ihm eine reinhaust, dann haue ich dir eine rein, damit das klar ist.“ Nun war es Jeremy, der missbilligend grollte. „Hier schlägt niemand irgendjemanden.“ Andrew sah ihn an, als hätte er etwas sehr Dummes gesagt. „Klar, hier in eurem Elfenbeinturm aus Kristall, Glitzer und Watte passiert so etwas nicht“, spottete Andrew zu seinem Missfallen und kritisch runzelte Jeremy die Stirn. „Ich werde ihn nicht schlagen“, lenkte Jean neutral zum eigentlichen Thema zurück. „Gut“, erwiderten Andrew und Jeremy unisono und Jean hob die Augenbrauen. „Hast du ihm noch etwas zu sagen?“ Entschieden schüttelte Jean den Kopf. „Nein, es ist alles gesagt.“ Das wagte Jeremy zu bezweifeln, wenn er die Anspannung in Jeans Körper sah, doch er sagte nichts darauf. Er hatte das Gefühl, dass das, was zwischen den Beiden stand, Zeit brauchte, viel Zeit, um schlussendlich bewältigt zu werden. Oder aber viel Zeit, damit die Beiden sich in Ruhe ignorieren konnten. An Letzteres glaubte Jeremy jedoch nicht. Jean hätte Kevin ignorieren können, als sie von der Eisdiele zurückgekehrt waren, doch seine Augen hatten den anderen Jungen immer wieder gesucht. Jetzt galt es erst einmal, den Status Quo hier in L.A. auf 200 Prozent zu pushen, damit Jean noch nicht einmal mehr im Ansatz daran glauben konnte, dass Selbstmord ein besserer Weg war als mit ihnen zu leben. Jeremy schluckte, doch bevor seine Gedanken wieder in eine dunkle Spirale geraten konnten, klingelte ein Handy. Jeans Handy um genau zu sein und Jeremy zuckte beinahe genauso ertappt zusammen wie der größere Junge auch, der noch nie so zögerlich sein Telefon hervorgezogen hatte wie in diesem Moment. Mühevoll schluckte er und nahm den Videoanruf, wie Jeremy nun sah, mit zittrigen Fingern an. „Hallo Großer“, drang Renees ruhige Stimme durch den Lautsprecher und an Jeans großen Augen sah er, dass das Regenbogenmädchen am anderen Ende der Leitung genauso wenig eingeweiht gewesen war wie er selbst auch. „Hallo“, erwiderte er rau, das Wort in einen tiefen, französischen Akzent getaucht. Jean nestelte nervös mit seinen Fingern und ließ beinahe das Handy fallen. „Wie geht es dir?“, fragte Renee sanft und er nickte abgehackt. „Und dir?“, fragte er zurück und für einen Augenblick herrschte Schweigen in der Leitung. Jeremy konnte es von seiner Position aus nicht sehen, doch er hatte das Gefühl, dass er den Ausdruck, der gerade auf Renees Gesicht liegen musste, durchaus bereits kannte. Ihr Stirnrunzeln hörte er bis hierhin. Es war Andrew, der Jean mit einem Grollen das Telefon aus der Hand riss und es zu sich drehte. „Ich bin hier und der Idiot liegt hier und schläft.“ Abrupt drehte er das Handy zu Kevin und dann wieder zu sich zurück. „Lass mich raten, der Junkie hat geplaudert?“ „Andrew.“ Zuckersüß formulierte Renee den Namen ihres Teamkollegen und nun konnte Jeremy tatsächlich sehen, wie sie mit den Augen rollte. „Tatsächlich hat er das. Er sagte so etwas wie ‚Kevin und Andrew sind nach Los Angeles geflogen. Andrew hat mir gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen.‘“ „Soweit korrekt.“ „Andrew.“ Ihre Stimme hatte etwas Warnendes, das Jeremy die Nackenhaare zu Berge stehen ließ und der blonde Junge seufzte. „Ja, Kevin hat rechtzeitig das Maul aufbekommen und dem Sonnenschein-Frieden auf der Welt-Team gesagt, dass Moreau sich umbringen möchte. In einer herzzreißenden Rettungsaktion in der Wüste haben sie ihn dann davon abgebracht, seinen Deal mit mir einzuhalten.“ Während Jeremy und Jean noch ungläubig auf Andrew starrten, warf dieser bereits das Handy zurück zu Jean und nickte knapp in Richtung Schlafzimmer. „Sei ein braver Überlebender und erklär deinem Schutzengel, was passiert ist, bevor sie auch noch hierherkommt“, schnarrte er und Jean war ebenso stumm vor Fassungslosigkeit wie Renee und Jeremy für einen Moment auch. Renee gab einen erstickten Laut von sich. „Jean? Stimmt das, was er sagt? Jean?“, fragte sie dann eindringlich und Jean nickte. Wortlos drehte er sich von ihnen weg und ging in Richtung Schlafzimmer, schloss die Tür leise hinter sich. Stumm sah Jeremy ihm nach und als er sich wieder umdrehte, sah er sich im Fokus des blonden Jungen, der ihn mit einer Mischung aus Teilnahmslosigkeit und Abneigung anstarrte. „Was?“, fragte Jeremy unsicher, als das Schweigen zwischen ihnen beiden anhielt und Andrew lächelte. Es war kein schönes Lächeln, ganz und gar nicht. Es war mörderisch und grausam. „Ich sehe, wie du ihn ansiehst, Captain Sunshine“, sagte Andrew nonchalant und Jeremy schauderte. Er fühlte sich bedroht und wusste noch nicht einmal wirklich warum. „Wenn also hinter deinem sonnigen Los Angeles-Lächeln auch nur einen Funken Gewalt oder Sadismus steckt und du unserem suizidalen, französischen Idioten auch nur eine Sekunde Schmerz zufügen solltest, dann komme ich dich holen und höre nicht wie bei Riko auf, dir den Arm zu brechen.“ Jeremy blinzelte vollkommen perplex ob der plötzlichen Gewaltandrohung und schluckte schwer. Ebenso überhastet wich er zurück, als Andrew in seine Richtung kam, dann aber Gott sei Dank an ihm vorbeitrat und in die Küche ging um sich Kaffee zu holen und den mit ordentlich Milch und Zucker zu süßen. Während der andere Junge so tat, als wäre nichts gewesen, versuchte Jeremy sein wild klopfendes Herz zu beruhigen und sich darüber im Klaren zu werden, dass diese Drohung nur aus Sorge um Jean ausgesprochen worden war. Und weil er ein Kapitän war, der seine Macht dazu missbrauchen könnte, schlimme Dinge zu tun. Dass es Jeremy niemals einfallen würde, das stand außer Frage. ~~**~~ Am Liebsten hätte Jean den Videochat ausgeschaltet. Er verfluchte Minyard, der es sich nicht hatte nehmen lassen, mit einem einzigen Satz ein solches Chaos anzurichten, dass Jean kaum wusste, wie er es wieder aufräumen sollte. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hätte er es Renee und allen anderen gerne verschwiegen, was in der Wüste beinahe geschehen wäre. Er hätte gerne so weitergelebt, als hätte er nie versucht, all ihre Mühen mit Füßen zu treten. Doch das gönnte ihm Minyard nicht und dafür hatte er nicht übel Lust, das blonde Gift solange zu schütteln, bis dieser einsah, in was für einen tiefen Mist er ihn hineingestoßen hatte. Jean hielt sein Handy zwar in den Händen, starrte jedoch, seit er sich auf sein Bett gesetzt hatte, eisern auf seine Beine, die er im Schneidersitz unterschlagen hatte. Er wollte die Bestürzung in Renees Gesicht nicht sehen, die Trauer und die Enttäuschung. „Jean?“, drang ihre Stimme zu ihm und sie enthielt nichts von all dem. Sie ließ ihn zusammenzucken und unwillkürlich zog er die Schultern hoch. „Es tut mir leid, Renee“, murmelte Jean, ohne sie anzusehen. „Es tut mir wirklich leid und ich kann verstehen, wenn du mich hasst und nie wieder etwas von mir hören möchtest, jetzt, wo ich dein Vertrauen wieder enttäuscht habe, obwohl ich dir etwas Anderes versprochen habe. Und auch, weil ich Minyard mit hineingezogen habe.“ Er schloss die Augen und presste die Lider so stark aufeinander, dass er bunte Sterne in der Dunkelheit tanzen sah. Ergeben wartete er auf ihr Urteil, das für endlose Sekunden – oder waren es Minuten? – nicht kam. Als sie schließlich die Stimme erhob, war sie streng und unnachgiebig, wie zu dem Zeitpunkt, als sie ihn aus Evermore herausgeholt hatte. „Sieh mich an, Jean Moreau.“ Er brauchte etwas Zeit, doch dann öffnete er seine Augen und sah sie vorsichtig an. Sie nickte, als hätte er etwas Gutes getan, etwas Mutiges. Letzteres war definitiv der Fall, denn sein Herz raste vor Angst. „Ich möchte wissen, was passiert ist. Erzähle es mir bitte.“ Jean schluckte. Wer war er, dieser Bitte nicht zu entsprechen? Er brauchte noch ein paar Momente, dann erzählte er Renee detailliert alles, von Anfang an, von dem Moment an, in dem Andrew und er ihren Handel auf seinen Wunsch hin abgeschlossen hatten, über den Countdown hin bis zum heutigen Tag. Er ließ nichts aus, weder seine Verzweiflung zu Beginn seines Hierseins noch seine Zweifel zum Ende der Frist hin bis zur Erleichterung, die er jetzt gerade empfand, noch am Leben zu sein, und dass sein Kapitän seinen Fluchtversuch nicht strafte, sondern ihn mit offenen Armen und hilflosen Scherzen begrüßte. Er erzählte, dass Day trotz seiner Drohung sich tatsächlich auf den Weg hierhin begeben hatte, nun aber auf ihrer Couch seinen Rausch ausschlief und dass Minyard sich von Laila zu einem Eis hatte überreden lassen. Renee war eine ruhige Zuhörerin, deren Mimik nichts als Ruhe zeigte und die seinen Worten aufmerksam lauschte. Zum Schluss hin lächelte sie sanft und Jean gestattete es sich, dieses Lächeln zu erwidern. „Ich werde dich niemals hassen oder im Stich lassen für etwas, das du empfindest, Großer. Ich bin immer an deiner Seite und werde niemals den Kontakt zu dir abbrechen. Du hast mein Vertrauen nicht enttäuscht, in keinem Fall. Ich hatte Vertrauen in dich, dass du stark genug bist, das Leben zu versuchen und das hast du. Und ich bin wirklich froh, dass du noch hier bist, Jean“, sagte sie schlicht, als er verstummt war und Jean schossen Tränen in die Augen. Erschrocken blinzelte er sie weg, als sie sein Sichtfeld verschwimmen ließen. „Ich bin es auch“, murmelte er und sie legte den Kopf schief. „Wirklich?“ Jean nickte aus vollem Herzen. Er empfand keinerlei Unsicherheit diesbezüglich. „Ja, wirklich.“ Renee lächelte ihr sanftes Lächeln voller Zuneigung und Jean verlor sich in der Güte, die ihm zuteil wurde. „Wenn ich könnte, würde ich dich jetzt gerne umarmen, Jean Moreau. Aber da ich nicht da bin, kannst du Andrew sagen, dass er das für mich erledigen soll.“ Ein wenig erschrocken schnaubte Jean. „Niemals.“ „Er ist ein guter Ersatz.“ „Er mag es nicht, Menschen anzufassen.“ „Menschen, die ihm nichts bedeuten.“ „Also so wie ich.“ Renee lächelte vielsagend, schwieg jedoch und Jean gab sich schließlich geschlagen. Er würde es trotzdem nicht tun, denn das Seltsamste, was er sich vorstellen konnte, war, von Minyard umarmt zu werden. ~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 26: Jeremy ------------------ Jean setzte sich auf den Beifahrersitz zu Fahimas Wagen, schloss die Tür hinter sich und atmete zweimal tief durch. Weil es so schön kühl und ruhig war, wiederholte er das Ganze noch weitere zwei Male, bevor er sich an die Fahrerin wandte, die ihn amüsiert anlächelte. Heute trug sie einen violett-magentafarbenen Hijab, der von einer glitzernden Blumenbrosche verziert wurde. „Froh, ihm entkommen zu sein?“, fragte sie ruhig und Jean hätte gerne aus ganzem Herzen mit ja geantwortet. Doch Jahre der verbotenen Kritik an seinem Kapitän lagen hinter ihm, also zuckte er nur mit den Schultern und erlaubte sich, kurz die Augen zu schließen. Fahima schnaubte und startete den Wagen. „Ich verstehe.“ Während Jean sich anschnallte, fuhr sie los und fädelte sich in den Stadtverkehr von Los Angeles ein um mit ihm zu dem Laden zu fahren, in dem sie ihre Kleidung kaufte. Erschöpft lehnte Jean seinen Kopf an das Beifahrerfenster und brauchte einen Moment, um wirklich ansprechbar zu sein. Eine Woche war vergangen, seitdem er den Handel mit Andrew aufgelöst und dieser einen sich wehrenden Kevin Day mit sich ins Auto gezogen hatte um zurück nach Columbia zu fahren. Eine Woche, seitdem Jean den Beiden nachgesehen und beschlossen hatte, ein neues Kapitel in seinem Leben anzufangen. Eine Woche, seitdem er wieder und wieder über Days Handlungen nachdachte und zu keinem schlüssigen Ergebnis kam. Eine Woche und Knox, Laila und Alvarez gaben sich die größte Mühe, ihn nicht alleine zu lassen, weder vor seinen Vorlesungen noch dazwischen oder danach. Das, was Jean vorher wie die Luft zum Atmen gebraucht hatte, nahm ihm nun eben jene und er spürte, dass ihre mal mehr mal weniger auffällige Anwesenheit seine Ruhe ausfranste, die er mit Mühe zu finden versuchte. Immer wieder hielt sich Jean vor Augen, dass sie ihn nicht kontrollierten, sondern dass sie ihm in all ihren Gesprächen und Freizeitaktivitäten zeigen wollten, wie es war zu leben. Ein Besuch im Café hier, ein Besuch am Strand da, ein gemeinsames Kochen dort, sogar eine gemeinsame Urlaubsplanung… und Jean fiel jeden Abend müder ins Bett und wachte in der Nacht durch seine Alpträume geplagt nach wenigen Stunden Schlaf auf. Gestern wäre er beinahe in seiner Wirtschaftsrechtsvorlesung eingeschlafen und war nur durch das vielsagende Räuspern des Professors davon abgehalten worden, sich von dessen beruhigender Stimme einschläfern zu lassen. Er war ratlos, wie er den Dreien zu verstehen geben konnte, dass er gerne Ruhe hätte. Ruhe und Einsamkeit. Ja, einen Abend Einsamkeit. Da waren die Einkaufsstunden mit Fahima eine willkommene Abwechslung, die er jetzt schon zu schätzen wusste. Fahima und er konnten zusammen schweigen, ohne dass es sich komisch anfühlte und ohne, dass er mit Seitenblicken bedacht wurde, die sich auf seine Haut brannten. Jean fühlte sich wohl in ihrer Gegenwart und genoss die immer wiederkehrenden, kurzen Gesprächsabschnitte und Diskussionen, die sie miteinander führten. Die Fahrt verbrachten sie in eben diesem gemeinsamen Schweigen und schließlich hielt Fahima auf dem Parkplatz eines kleinen Geschäftes außerhalb der vollkommen überfüllten Stadt. Heiß war es auch hier und Jean kniff die Augen zusammen, als er ausstieg. Er ächzte leise und folgte ihr in das Geschäft, das ihm zumindest Linderung von seinem Problem mit zu heißer Kleidung versprach und nebenher auch noch angenehm klimatisiert war. Er brauchte einen Moment, um sich am Eingang auf die angenehme Kühle einzustellen und warf währenddessen einen Blick auf seine Umgebung. Es war hell und liebevoll eingerichtet. Überall konnte Jean seltsame und gleichzeitig doch auch amüsante Gegenstände entdecken, die mehr den Eindruck eines Wohnzimmers denn eines Geschäftes erweckten. Es roch frisch und angenehm. Die Verkäuferin hinter der Ladentheke sah bei ihrem Eintreten auf und winkte. Fahima erwiderte diesen Gruß und schickte ein paar Handbewegungen hinterher, die Jeans Aufmerksamkeit einfingen, insbesondere, da die Frau diese zu erwidern schien, ansonsten aber schwieg. Fragend sah er auf Fahima hinunter. „Sind das geheime Zeichen?“ Sie lachte. „Fast. Das ist Gebärdensprache. Alima ist gehörlos.“ Überrascht weiteten sich Jeans Augen und mit größerer Faszination sah er zu, wie die Beiden miteinander mit ihren Händen kommunizierten. Wie flüssig das aussah, wie mühelos und fliegend. „Wollen wir?“, riss Fahima ihn aus seinen Gedanken und Jean nickte. Langsam ließ er sich von ihr durch den Laden führen und erklären, welche Kleidung er wo fand und aus welchen Materialien die einzelnen Stücke bestanden. Sie erläuterte ihm ebenso, welche Farben zu ihm passen würden und er untereinander kombinieren konnte. Nachdenklich folgte Jean ihr und berührte die Stoffe, die sie ihm entgegenhielt. Es fühlte sich weich und luftig an, obwohl vieles davon lang war. „Möchtest du ein paar Sachen anprobieren?“, fragte Fahima schließlich mit einem Lächeln, das nichts von ihm erwartete, und Jean gab dem Gedanken eine zweite Chance. Sicherlich half es auch dabei, dass die Umkleidekabinen durch richtige Türen getrennt waren und nicht nur durch Vorhänge. „Ich denke schon“, stimmte er dem schlussendlich zu und ging zu der Reihe mit den T-Shirts aus einem Baumwolle-Seide-Gemisch, die sich so wunderbar weich angefühlt hatten. Gleich daneben waren die langärmeligen Leinenhemden, die etwas weiter fielen und dadurch luftig waren. Und einen entsprechenden Hoodie. Als Jean einen Blick auf die Leinenhosen warf, deutete Fahima auf den Saum. „Die kann man auch hochkrempeln.“ Jean sah irritiert zu ihr. „Hochkrempeln?“ „Na die Hosenbeine, damit es ein wenig mehr nach einem Casuallook aussieht.“ Unwillkürlich sah er an ihr herunter. „So wie du?“, fragte er, denn sie hatte genau das getan und trug dazu Sneaker. „Exakt!“ Sie schenkte ihm einen hocherhobenen Daumen und Jean griff ebenfalls zu der Hose. Er machte bei den kurzen Hosen aus Leinen weiter, die bis zu seinen Knien reichen würde und nahm auch hier ein Exemplar von auf. Und von einer halblangen Hose in Blau, die anscheinend etwas weiter saß und unter dem Knie endete. Fragend drehte er sich schließlich zu ihr um und Fahima nickte mit einem Blick auf die Kleidung, die er sich ausgesucht hatte, anerkennend. „Ich bin gespannt!“, grinste sie. „Jetzt fehlen nur noch Schuhe.“ Irritiert musterte Jean sie. „Ich trage doch welche“, erwiderte er und deutete auf seine Sneaker. „Hast du denn Sandalen?“ „Nein.“ „Flipflops?“ „Nein.“ „Slipper?“ „Nein.“ „Leinensneaker?“ Jean grollte und Fahima schmunzelte. „Man kann nie genug Schuhe haben“, behauptete sie, doch Jean bezweifelte das deutlich. Er hatte ein Paar für den alltäglichen Gebrauch und ein Paar Sportschuhe für das Training sowie für ihre Spiele. Drei Paar Schuhe waren doch ausreichend, oder nicht? „Probiere sie einfach mal an und schau, ob sie dir gefallen. Wenn nicht, kannst du sie ja hier lassen“, schlug Fahima ihm vor und Jean beschloss, dass es ein guter Kompromiss sein würde. Er hatte noch nie Sandalen getragen und hatte keine Vorstellung davon, was passen würde und was nicht. „Soll ich mal ein paar holen, während du dich umziehst?“, fragte sie und Jean nickte. Als er zu den Umkleiden ging, war er insgeheim froh darum, dass die Verkäuferin in diesem Geschäft weniger aufdringlich war als derjenige in dem Sportgeschäft, in das ihn Knox gebracht hatte. Sicherlich, er war bemüht gewesen, ihm die richtigen Sachen herauszusuchen, aber Jean hatte sich damals überfahren gefühlt von der Aufmerksamkeit. Hier war alles ruhig und die entspannte Musik im Hintergrund vermittelte ihm ein gutes Gefühl. Dennoch wechselte er schnell in die neue Kleidung, die sich im ersten Moment komisch anfühlte. Noch etwas steif, aber mit jeder Sekunde schien sie sich seinem Körper mehr und mehr anzupassen. Die Farben waren ungewohnt hell – wieder hatte er alles, was schwarz war, gemieden wie die Pest. Das Dunkelste, was er sich ausgesucht hatte, war ein Shirt aus einem satten Grünblau – Petrol, wie Fahima ihm erläutert hatte. Ansonsten hingen hier noch Dunkelrot, Hellblau, Weiß, Creme – dunkles Weiß, wenn man ihn fragte -, Dunkelblau, Mittelblau und Türkis. Nachdenklich betrachtete sich Jean im Spiegel und war sich nicht sicher, was er von der Kombination halten sollte. Wenn Fahima wieder da war, würde er sie fragen müssen und so verharrte Jean hinter der geschlossenen Tür, bis er ihre Schritte hörte. „Bin zurück!“, rief sie und Jean öffnete vorsichtig die Tür. Er erstarrte, als er die Kartons auf ihren Armen sah. Hatte sie nicht von einem Paar gesprochen? Das waren neun Kartons. Jean blinzelte. Ächzend stellte Fahima ihre Last vor ihm ab, richtete ihren in Unordnung geratenen Hijab und sah dann an ihm hoch. Überrascht weiteten sich ihre Augen und sie schnaubte in einer Mischung aus Anerkennung und Verwunderung, die Jean gleich doppelt unsicher machte. Wortlos sah er auf seine nackten Füße, damit sie ihn mustern konnte, ohne dass er ihr dabei zusehen musste. „Jean Moreau, wir sind auf einem richtig guten Weg und dein Geschmack ist extrem gut!“, lobte sie ihn und er verfluchte die Röte, die sein Gesicht erwärmte. Als Ablenkung deutete er auf die Kartons. „Was hast du denn dort mitgebracht?“, fragte er in ihr strahlendes Gesicht hinein und Fahima öffnete nacheinander jeden Karton, den sie mitgebracht hatte. Jean probierte so viele Paar Schuhe an, wie er noch nie in seinem Leben überhaupt getragen hatte und ließ sich von Fahima sogar überreden, sie mit der übrigen Kleidung, die er sich ausgesucht hatte, zu kombinieren. Als sie schlussendlich zur Kasse gingen, trug Jean die Kleidung auf seinen Armen, während Fahima mit den Kartons neben ihm ging und von einer Art stolzer Zufriedenheit umgeben war, die ansteckend auf Jean wirkte. Wie denn auch nicht, besaß er nun neun Paar Schuhe und einen Haufen an Kleidung mehr als vorher. Mit einem stummen Lächeln scannte die Frau hinter der Theke - Alima, so hieß sie, erinnerte sich Jean - die Sachen ein und verstaute sie sorgsam in sieben riesigen Tüten, die Fahima ihm feierlich überreichte. Wieder tauschten die beiden Frauen ihre Handzeichen aus und wieder sah Jean dem fasziniert zu. Alima wandte sich ihm zu und legte die Fingerspitzen ihrer flachen Hand an ihr Kinn, dann wies sie mit ihrer Hand in seine Richtung. Fragend blinzelte Jean und sah hilfesuchend zu Fahima. „Das bedeutet „Danke““, erläuterte sie und Jean erwiderte die Geste unsicher, ob es richtig war. Alina lachte lautlos und nickte. Sie verabschiedete sie und sie verließen den Laden um die heiße, kalifornische Sonne zurück zu kehren, die Jean ächzen ließ. Er verstaute seine neuen Errungenschaften im Kofferraum von Fahimas Wagen und ließ sich auf den viel zu heißen Beifahrersitz fallen. „Danke, dass du mich begleitet hast“, sagte er, als Fahima um Längen vorsichtiger als er ebenfalls einstieg und leise über das Lederlenkgrad fluchte, das anscheinend zu diesem Auto gehörte, in der Sonne Kaliforniens aber nicht das Beste war, was sie sich hatte aussuchen können. Sie sah ihn an und lächelte. „Aber klar doch. Gerne! Sollen wir noch irgendwo hinfahren?“, fragte sie gut gelaunt und Jean überlegte. „Ich brauche einen Laptop“, gab er dann zu bedenken. „Ich habe keine Ahnung, wo man so etwas kauft.“ Nonchalant winkte sie ab. „Nichts leichter als das! Ajeets Bruder hat einen Technikladen und wir bekommen bei ihm einen speziellen Trojansrabatt, nur für uns, weil er so ein großer Fan ist.“ Jean nickte. Fahima schnallte sich an und er tat es ihr gleich. Sie fädelte sich wieder in den Verkehr ein. „Weißt du denn schon, was du möchtest?“ „Nicht wirklich. Ich habe noch nie einen eigenen besessen“, erwiderte er offen und sie bedachte ihn mit einem seltsamen Blick, der ihm mitteilte, dass es wohl eines der Dinge war, das ihn von anderen Menschen unterschied. „Amir wird dir da sicherlich gut weiterhelfen können. Er ist ein Technikfreak und hat tonnenweise Ahnung von allem, was auch nur ein Kabel hat und Strom braucht.“ „Okay.“ „Okay? Gut, dann auf geht’s!“ Sie brauchten eine Weile, bis sie sich zu Ajeets Bruder durchgekämpft hatten und sie einen Berg von einem Mann begrüßte, dass – so unwahrscheinlich es auch war – noch größer als Ajeet war, jedoch genauso überschwänglich zu sein schien, als er Fahima und seiner ansichtig wurde. „Bei Brahma! Trojans!“ Mit einem lauten Aufschrei des Glückes kam der Hüne hinter seiner Ladentheke hervor und Jean trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als dieser Berg von einem Mann ihn umarmen wollte. Fahima war jedoch schneller als er und trat Amir in den Weg, warf sich mit voller Wucht in dessen Arme und grollte spielerisch. „Nur gucken, nicht anfassen!“, schalt sie den Mann spielerisch, jedoch mit einem eisernen Unterton und das nächste Mal, als er ins Auge gefasst wurde, winkte Ajeets Bruder ihm aus sicherer Entfernung entgegen. „Hi“, grüßte Amir ihn mit einem schiefen, entschuldigenden Lächeln und schob die Hände in die Taschen seiner Jeans. „Und sorry, ich bin es so gewohnt, meine Lieblingstrojans zu umarmen und zu herzen, da ist es einfach mit mir durchgegangen. Ich finde es aber auch SO COOL, dass du gewechselt hast und nicht mehr bei diesen arroganten Schwarz-Roten spielst. Hier in L.A. gibt’s die einzig wahre Mannschaft, die die Collegeliga zu bieten hat, das kannst du mir glauben. Niemand kommt an die Trojans heran. Meine Trojans, oh ja!“ Überrascht hob Jean die Augenbraue und lauschte dem Monolog der Begeisterung. Das hatte er nun wirklich nicht erwartet und war entsprechend sprachlos, insbesondere, als der Mann nun bei seiner eigenen Spielleistung weitermachte und die zwanzig Minuten, die er auf dem Spielfeld gestanden hatte, so skizzierte, als hätte er ein ganzes Spiel lang Höchstleistungen erbracht. „Fahima hat ebenso großartige Leistungen vollbracht“, versuchte Jean sich zu rechtfertigen und von sich abzulenken, als Amir einen Moment nach Luft schnappte und warf ihr einen hilflosen Blick zu. Sie zuckte amüsiert mit den Schultern. „Er ist halt ein großer Fan“, grinste sie. „Aber keine Sorge, da mussten wir alle durch, nicht wahr, Amir?“ Dieser nickte begeistert. „Absolut! Die Trojans sind nun einmal die beste Mannschaft in der Liga.“ Aus dem Blickwinkel der gewonnenen und verlorenen Meisterschaften gesehen hatte er damit Unrecht, aber Jean beschlich das Gefühl, dass seine Meinung zu diesem Thema kontrovers aufgenommen werden würde. „Ich bräuchte einen Laptop“, versuchte er deswegen reichlich ungeschickt vom Thema abzulenken und Amir stieg dankbarerweise darauf ein, musterte ihn aufmerksam. „Und ich habe keine Ahnung davon“, schob Jean hinterher, als er sah, dass Amir schon den Mund aufmachte um ihn vermutlich mit Fragen zu löchern, die er nicht beantworten konnte. Nachdenklich strich der Hüne sich über den Kinnbart. „Hmmm. Wofür soll er sein?“ „Für’s Studium.“ Jean stockte, als ihm eine Idee kam, die er eventuell weiterverfolgen würde. „Und…ich möchte Fotos darauf anschauen.“ „Preislich?“ Das war die weitaus schwierigere Frage. Jean wusste durch sein Wirtschaftsstudium, wie er hohe Summen einzuschätzen hatte. Was im Alltag teuer oder günstig war, das musste er noch lernen. „Ich weiß nicht?“, erwiderte er etwas hilflos und wandte sich an Fahima, die ihn verwundert ansah. Auch das war anscheinend etwas, das sein Kapitän nicht an den Rest seines Teams preisgegeben hatte. Jean sollte das wirklich nicht mehr wundern. „Etwas im Mittelklassesegment?“, zitierte er seinen Professor. Dieser hatte zwar über die Kosten-Nutzen-Rechnung von Firmenwagen gesprochen, aber das ließ sich doch auch auf Laptops umwandeln, oder? Amir nickte und führte ihn tatsächlich zu den Geräten, die erheblich günstiger waren als die teuersten, aber jedoch nicht so günstig wie die, die direkt am Anfang des kleinen Ganges standen. Er deutete auf ein hellsilbernes, sehr flaches Gerät, dessen Tastatur beim Schreiben leuchtete und das einen vergleichsweise großen Bildschirm hatte. Die technischen Details, die Amir benannte und auf die Bildbearbeitung bezog, sagten Jean allesamt nichts, aber Fahimas Gesichtsausdruck sprach Bände. Begeistert nestelte sie an ihrem Hijab, wie sie es immer tat, wenn ihr etwas sehr gefiel. Jean nickte zur Freude von Ajeets Bruder. „Den nehme ich“, sagte er und Fahima stieß einen Laut der Freude aus, der Jean irritierte. Sich Dinge zu kaufen war für ihn immer noch ein Mittel zum Zweck, eine Notwendigkeit, die ihn unsicher machte, weil ein Teil von ihm erwartete, dafür bestraft zu werden, dass er sich einen solchen Luxus erlaubte. Wie er an Fahima sah, gab es aber Menschen, die glücklich waren, wenn etwas gekauft wurde. Auch wenn er, wie bei der Kleidung auch, einen gewissen eigenen Stolz nicht verneinen konnte. „Dann bekommst du noch mehr Follower!“, zwinkerte sie und Jean schnaubte. „Du meinst mehr als meine zwölf?“ Fahima lachte ihr warmes, tiefes Lachen, das er so gerne mochte und verstummte, als sie begriff, dass er es nicht als Scherz gemeint hatte. Dass überhaupt Menschen seinem Profil folgten, war Jean ein Rätsel und er hatte sich noch nicht getraut, auf die zwölf Namen zu klicken. Sie blinzelte und hob die Augenbrauen. Unsicher steckte Jean seine Hände in seine Hosentasche und zog das Handy hervor, auf dessen Startbildschirm die hundertvierundfünfzig neuen Nachrichten des Foxes-Chats angezeigt wurden. Hatte er gedacht, dass sie ihn aus ihrer Gruppe werfen würden, nachdem er seinen Handel mit Andrew beendet hatte, so hatte Jean sich getäuscht. Mehr denn je bezogen sie ihn ihre Abkürzungs- und Beleidigungsexzesse mit ein, die Jean immer besser entziffern konnte. Er öffnete die App und hielt sie ihr unter die Nase. „Hier, zwölf.“ Die dunkelbraunen Augen folgten seinem Fingerzeig und sie hob die Augenbraue. „Jean, hast du das K übersehen?“, fragte sie sanft und tatsächlich. Hinter der zwölf stand ein K. „Wofür steht es?“, fragte er stirnrunzelnd und sie tippte auf die Zahl. Ein neuer Bildschirm öffnete sich und er las lauter Namen, von denen er noch nie etwas gehört hatte. Fahima sah hoch und in ihren Augen tanzte Belustigung. „Du hast keine zwölf Follower, Jean Moreau. Das K steht für tausend. Das sind zwölftausend.“ Jean starrte sie an. Dann starrte er sein Handy an und scrollte die Namen hinunter und hinunter…bis er es aufgab, weil er nicht zum Ende kam. Mit großen Augen sah er zu Fahima und sie legte ihm langsam und sanft ihre Hand auf den Arm. „Oh je, Großer. Da haben wir noch einiges vor.“ ~~**~~ Jeremy starrte nachdenklich auf Fahimas Antwort auf seine dritte Nachfrage, ob sie und Jean denn Spaß hätten und ob alles in Ordnung sei. Ja, sicherlich, sie hatte Grund, genervt zu sein. Sicherlich, sie hatte Grund, mit den Augen zu rollen und ihm zu schreiben, dass es langsam gut war mit den Sorgen, dass sowohl sie als auch Jean schon groß waren und dass sie sich hier zwar in einer latent kriminellen Großstadt, aber keinesfalls im Krieg befanden. Er seufzte und legte das Handy weg, bevor er erneut nachfragen konnte. Jean war in guten Händen und er würde sicherlich nicht wieder in die Wüste fahren. Er hatte es Jeremy versprochen und er würde sein Versprechen auch halten. Daran hielt sich Jeremy fest, wenn die Angst in ihm, dass Jean etwas passierte, zu groß und zu erdrückend wurde. Häufiger als er es vermutet hatte, war das in den vergangenen Tagen passiert und er beruhigte sich damit, dass Jean tatsächlich schon einen Termin bei Brian wahrgenommen hatte und dass er seinen Backliner immer in seiner oder Alvarez‘ oder Lailas Nähe wusste. Bis auf heute. Vorsichtig hatte Jean angemerkt, dass er mit Fahima in diesen Laden wollte und wer war Jeremy gewesen, etwas dagegen zu sagen? Ebenso wenig hatte er ein Recht darauf, mitzukommen, wenn Jean das nicht wollte. So blieb ihm nichts Anderes übrig, als sich seine Zeit, die er eigentlich mit Lernen hatte verbringen wollen, mit Tätigkeiten zu verplempern, die ihn von Jeans Abwesenheit und den damit kommenden Sorgen ablenkten. Da kam ihm Mias Videoanruf sehr entgegen. Als sein Telefon klingelte, legte Jeremy sein strahlendstes Lächeln auf. „Schwesterchen“, grinste er in die Kamera und wurde mit einem Winken belohnt. „Großer Bruder, wie geht es dir?“, fragte die Ruhigere der Zwillinge in ihrer unvergleichlichen Phase des jugendlichen Erwachsenseins. Dass sie mit ihren dreizehn Jahren noch viel Zeit hatte, erwachsen zu werden, das wollte sie seit Monaten schon nicht hören und so hatte es Jeremy aufgegeben, ihr das ausreden zu wollen. „Gut geht‘s mir, Mia. Das Training ist anstrengend und die Vorlesungen werden anspruchsvoller.“ Sie brummte anerkennend. „Wie geht’s deinem Zimmernachbarn?“ Jeremy rollte schnaubend mit den Augen. Natürlich hatte er beiden Schwestern erzählt, wer zu ihnen kam, als es spruchreif gewesen war. Seitdem ließen die Beiden ich nicht mehr in Ruhe und drängten darauf, Jean Moreau einmal persönlich kennen zu lernen. Um Jean allerdings nicht zu verschrecken hatte er mit den kleinen Exyhyänen immer nur dann telefoniert, wenn er kurz vor die Tür gegangen war. Beide, sowohl Mia als auch Charlotte waren Fans schlimmster Sorte, die zwar selbst nicht spielten, aber jedem gutaussehenden Spieler hinterhergeiferten. Jeremy konnte sich nicht erinnern, in seiner Pubertät genauso schlimm gewesen zu sein, allerdings hatte er sich auch noch nicht getraut, seine Eltern zu fragen. „Jean geht es gut“, sagte er und anscheinend war das das Stichwort für den Backliner, als sich nun ihre Tür öffnete und dieser ihr Apartment betrat. Oh nein. „Aber wie geht es dir denn?“, versuchte er abzulenken und Jean kam mitsamt eines riesen Berges an Tüten in ihr Schlafzimmer, auf seinen Lippen ein Gruß, der erstarb, als er sah, dass Jeremy telefonierte. Aus seinem Handy quietschte es. „Ist er das? >Ist er das? Los, zeig ihn mir mal!“, gellte es um ein Vielfaches lauter und Jeremy verzog seine Lippen, als Jean wortlos die Augenbrauen hob. „Die gierige Hyäne am anderen Ende der Leitung ist meine Schwester, Mia“, stöhnte er mit einem Augenrollen auf. „Sie möchte dir hallo sagen. Möchtest du ihr auch hallo sagen? Du musst nicht, du kannst gerne auch nein sagen.“ Verwirrt sah Jean zu ihm und stellte währenddessen seine Tüten ab, die sein ganzes Bett ausfüllten. Mit einem Schulterzucken kam er zu Jeremy und der blonde Junge robbte sich ans Ende seiner Matratze. „Aber nur, wenn du dich benimmst, Mia!“, warnte Jeremy und sie schnaubte naserümpfend. „Als wenn ich mich daneben benehmen würde!“ Jeremy hatte dutzende Beispiele für das Gegenteil, seufzte nun aber schicksalsergeben und drehte sein Handy mit einem entschuldigenden Lächeln in Jeans Richtung. „Cooool!“ Das begeisterte Quietschen, das aus seinem Lautsprecher drang, ließ ihn auch körperlich zusammen, so konnte er Jean seinen instinktiven Schritt zurück nicht verdenken. „Oh mein Gott, oh Gott, Charlie, komm mal. CHARLIE!“ „Ihre Zwillingsschwester“, seufzte Jeremy entschuldigend und bald hörte er zwei aufgeregte Mädchenstimmen. „Hi!“, grüßten die Beiden Jean unisono und der Backliner nickte. „Hallo.“ „Du siehst brauner aus als auf den Bildern!“ Charlie, die Frechere von beiden, ging natürlich gleich zum Angriff über und Jeremy drehte das Handy zu sich zurück. Streng runzelte er die Stirn. „Das brav sein gilt nicht nur für deine Schwester, Fräulein“, sagte er und sie protestierte wild. Mia grinste währenddessen und winkte ihm zu. „Ich habe überhaupt nichts Gemeines gefragt! Oder Jean?“ Jean sah aus, als hätte er Angst vor der Antwort. Zögerlich erwiderte er ein „Nein, das war nicht gemein.“ und Jeremy drehte das Handy nun so, dass sie beide zu sehen waren. Ganz zur Freude seiner jüngeren Geschwister. „Wuppwupp! Und wie ist es sonst so? Schnarcht Jer auch nicht zu laut? Hat er dir schon Bilder von der Farm gezeigt? Er zeigt jedem, den er mag, Bilder von der Farm! Wer ist denn dein Lieblingstrojan? Kannst du uns ein Autogramm von Kevin und Neil besorgen? Hast du schon eine Freundin gefunden? Sind die Mädchen cool in Kalifornien? Und die Jungs?“, prasselten von beiden Seiten Fragen auf Jean ein, die Jeremy grollen ließen. „Ernsthaft, Mädels?“ „Jer, das ist wichtig! Wirklich!“ Dass es für Jean primär verstörend war, konnte er nur zu gut an dessen Händen ablesen, deren Finger sich unruhig hin und her bewegten und dessen graue Augen sich ihm hilfesuchend zuwandten. „Ja, er hat mir schon Bilder von der Farm gezeigt“, entschied sich Jean für die anscheinend einfachste und ungefährlichste Antwort. „Sie ist hübsch. Ihr habt viele Tiere dort.“ „Stehst du auf Tiere? Was ist dein Lieblingstier?“ „Charlie!“, stöhnte Jeremy auf. „Hör auf ihn mit unsinnigen Fragen zu löchern!“ „Das ist nicht unsinnig! Das sind wertvolle Informationen, die wir eintauschen können!“ Jeremy blinzelte unverständig. „Eintauschen?“ Mia grinste stolz und legte einen Arm um ihre Schwester. „Gegen Süßigkeiten und Gefallen in der Schule.“ „Was?!“, fragte Jeremy perplex, während Jean ein Laut verließ, der verdächtig nach einem amüsierten Schnauben klang. „Entschuldigung, ihr macht was?“, wiederholte Jeremy um noch einmal ganz sicher zu sein. Beide nickten stolz und mit Horror erinnerte sich Jeremy an alles, was er ihnen erzählt hatte. „Moment mal, verkauft ihr auch die Infos, die ich euch gegeben habe?“ „Aber klar! Dafür gibt es von Adam besonders viele Süßigkeiten. Der steht nämlich auf Jungs und findet dich süß!“ Geschockt grunzte Jeremy. „Er ist vierzehn!“ „Ja, er ist ein bisschen komisch…er mag halt alte Knacker wie dich.“ „Du bist ein verdammter Satansbraten, Mia!“, fluchte Jeremy und sah hilflos zu Jean, dem nun deutlich das Amüsement ins Gesicht geschrieben stand. Charlie räusperte sich erneut. „Also, Jean, hast du eine Freundin?“ „Du musst ihnen ihre Fragen nicht beantworten“, mischte Jeremy sich ein. „Insbesondere dann nicht, wenn sie mit den Antworten Geld verdienen.“ „Süßigkeiten und Gefallen“, wurde er von beiden Mädchen korrigiert und Jeremy rollte mit den Augen. „Wie hoch ist denn meine Beteiligung an euren Geschäften?“, fragte Jean und brachte damit sie alle Drei zum Schweigen. Die Mädchen starrten ihn fassungslos an, Jeremy glaubte, sich verhört zu haben und Jean hob vielsagend die Augenbraue. „Das müssen wir besprechen“, erwiderte Charlie und drehte das Handy so, dass die Kamera nun auf ihre Zimmereinrichtung gerichtet war. Im Hintergrund murmelte es enthusiastisch und Jeremy wandte sich an Jean. „Wirtschaftsstudium, hm?“, fragte er grinsend und sein Backliner zuckte mit den Schultern. Geduldig wartete er, bis die Mädchen sich beraten hatten. „Wir lassen dich auf Sally reiten und du bekommst eine halbe Schüssel Süßigkeiten, wenn Jeremy dich mit nach Hause bringt.“ „Falls“, korrigierte eben jener Mia und Jean nickte. „Abgemacht.“ Die beiden Mädchen kreischten vor Glück und Jeremy zuckte zusammen. Charlie fing sich als erste. „Hast du eine Freundin?“ „Nein.“ „Freund?“ „Nein.“ „Lieblingstier?“ „Graukopfalbatros.“ Charlie runzelte verwirrt die Stirn und sah zu Mia. „Los, schreib das auf, das müssen wir googlen.“ Sie drehte sich wieder zurück. „Okay. Lieblingsexyspieler?“ „Habe keinen.“ „Lieblingsexyspielerin?“ „Thea Muldani.“ Überrascht sah Jeremy zu Jean und dieser runzelte mit der Stirn, als gäbe es darüber gar keinen Diskussionspunkt. „Sie ist gut.“ Das an sich war reichlich untertrieben, aber nachvollziehbar. Theodora Muldani war furchterregend gut und talentiert. Darüber hinaus war sie auch noch angsteinflößend, Ex-Raven und eine von zwei Frauen in der Nationalmannschaft. „Findest du sie süß?“ Jean blinzelte. „Nein, bestimmt nicht.“ „Was ist dein Lieblingsessen.“ Die Antwort darauf kam mit etwas Zeitverzögerung und Jeremy erinnerte sich, wie sehr er am Anfang um eine Antwort hatte kämpfen müssen, weil Jean sich vor ihm gefürchtet hatte. „Lasagne“, erwiderte eben jener schließlich und Jeremy lächelte voller Stolz. „Was ist deine Lieblingssüßigkeit?“ „Ich habe keine.“ Empörung schallte laut und deutlich hörbar zu ihnen. „Das geht doch gar nicht! Jeder mag Süßigkeiten!“ „Ich habe nicht gesagt, dass ich sie nicht mag, ich habe nur keine Präferenz.“ „Okay.“ Mia nickte staatstragend. „Und warum bist du zur Mannschaft unseres Bruders gewechselt? Ich meine, die Ravens sind zwar doof, weil sie immer gewinnen, aber ich habe nachgeschaut, der Weg ist ja schon weit und da bist du sicherlich weit von deinen Freunden entfernt.“ Kaum hatte sie ihre Frage zu Ende formuliert, hatte Jeremy das Handy wieder zu sich gedreht und Jean damit vor den Blicken seiner Schwestern geschützt. „So, jetzt ist Schluss mit der Fragerunde“, sagte er streng, während er im Augenwinkel sah, dass Jean mehrfach mühevoll schluckte und seine Hände sich zu hilflosen Fäusten ballten. „Beim nächsten Mal gibt es mehr, ihr Hyänen, jetzt könnt ihr aber erstmal mit den vorhandenen Informationen euer Business am Laufen halten. Küsst Mom und Dad von mir und drückt sie ganz toll.“ Den zweifachen Protest ignorierte er mit einem breiten Grinsen und beendete den Anruf. Noch bevor sein Display erlosch, drehte er sich zu Jean und maß den angespannten Jungen ruhig. „Hey, alles gut? Es tut mir leid, dass sie dir die Frage gestellt haben, das hätte nicht sein dürfen.“ Vorsichtig erwiderte Jean seinen Blick. „Das ist okay. Sie wissen es ja nicht.“ „Ich rede mit ihnen und sage ihnen, dass sie nicht über die Ravens sprechen sollen.“ „Das musst du nicht.“ „Fühlst du dich denn wohl, wenn Evermore erwähnt wird?“ Jean überlegte einen Moment und schüttelte dann den Kopf. „Eben. Du sollst dich nicht unwohl fühlen. Insbesondere dann nicht, falls du tatsächlich meine immer noch stehende Einladung zu Thanksgiving annehmen möchtest und sie dann live und in Farbe kennenlernst.“ Jeremy verzog das Gesicht eher aus Spaß, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Er wurde jedoch ernst, als Jeans Stirn sich in sorgenvolle Falten legte. „Du hältst die Einladung aufrecht, obwohl ich dich angelogen habe?“ Jeremy musste nicht fragen, was Jean meinte. Er hatte gesagt, dass er etwas vorhätte und dort, wo Jeremy gedacht hatte, dass sich es dabei um ein Treffen mit Renee oder den Foxes handelte, hatte Jean geplant, längst tot zu sein. Einen Moment lang spürte Jeremy die latente, irrationale Angst in sich, dass es doch so sein würde. Etwas gezwungen lächelte er. „Aber sicher steht die Einladung noch, Jean. Ich nehme sie doch nicht zurück und ich würde dich gerne mit nach Hause nehmen, damit du den chaotischen Haufen kennenlernst.“ Jean malträtierte seine Unterlippe zwischen den Zähnen und sah an Jeremy vorbei zu seinem Schreibtisch. „Ich würde gerne mitkommen“, erwiderte er dann unsicherer als vorher, als hätte er die Befürchtung, dass es die falsche Antwort sein würde. „Das freut mich sehr, Jean!“, lächelte er offen und warm, in der Hoffnung, dass der andere Junge Kraft aus seiner Bestärkung und Ehrlichkeit ziehen würde. Die grauen Augen, die nun zu ihm sahen, teilten ihm mit, dass er tatsächlich Erfolg gehabt hatte und Jeremy strahlte. „Das freut mich sehr. Apropos rausgehen. Alvarez, Laila und ich hatten uns gedacht, dass wir heute Abend essen gehen könnten. Es gibt da einen neuen Diner am anderen Ende der Stadt, der…“ Jeans Gesichtsausdruck ließ Jeremy abrupt verstummen, zeigte er doch so offensichtliches Missfallen, dass sich Jeremy fragte, ob er etwas Falsches gesagt hatte. „Alles in Ordnung, Jean?“ Der größere Junge blinzelte und kehrte dann abrupt zu einem neutralen Ausdruck zurück. „Natürlich“, erwiderte er und wandte den Kopf zur Seite. „Wenn du möchtest, können wir auch zu etwas Anderem fahren.“ „Nein, das ist es nicht.“ „Oder hier etwas kochen?“ „Nein, ich…“ Jean verstummte und Jeremy wartete, ob er es weiter ausführen würde. Als nichts kam, erkannte Jeremy, dass Jean vielleicht schon gegessen hatte. Er und Fahima waren lange unterwegs gewesen. „Möchtest du vielleicht etwas Anderes machen, wir könnten in diese neue Kunstausstellung, von der wir gestern die Werbung gesehen haben?“ „Nein.“ „Oder das Feuerwerk am Strand?“ „Knox, ich…“ Wieder kam Jean nicht weiter und hilflos zuckte der blonde Junge mit den Schultern. „Wir können machen, was du möchtest, Jean! Egal, worauf du Lust hast, wir sind dabei, also ich…“ „Jeremy!“ Alles in ihm kam zum Erliegen, als Jean seinen Namen, seinen Vornamen, zum ersten Mal und vor allen Dingen mit einer solchen Wucht aussprach, dass es ihm jedwede Luft zum Atmen nahm. Jeremy war wie paralysiert und das nicht nur, weil es hier und jetzt eine Premiere war, seinen Vornamen aus dem Mund des größeren Jungen zu hören. Nein, jede Silbe seines Namens war unterlegt und getragen von Jeans französischem Akzent, der, wie immer dann, wenn ihn etwas belastete, dominant hervortrat. Dass es noch keine Sorge in ihm hervorrief, lag daran, dass Jeremy hingerissen vom Klang seines Namens in der Sprache und aus diesem Mund war. So brauchte er auch etwas, um ein leises „Ja?“ hervorzubringen und Jean starrte frustriert auf ihn hinunter. Dann öffnete er den Mund und es kam ein langer Monolog an Worten heraus, von dem Jeremy nur Bruchstücke verstand, was einzig und allein auch nur daran lag, dass Französisch und Englisch sich manche Wortstämme teilten. Dass Jean passend dazu gestikulierte und anscheinend damit einem Unmut Luft machte, von dem Jeremy bis gerade eben noch nicht gewusst hatte, dass es ihn gab, machte die ganze Sache nur unmerklich besser und er hob an, Jean zu sagen, dass er kein Wort verstand, weil er das letzte Mal in der Highschool ein bisschen Französisch gehabt hatte, das ihm nun so gar nicht weiterhalf. Jean ließ ihn jedoch nicht und zählte ihm gerade etwas auf, zumindest interpretierte Jeremy das an den Fingern, die dieser abzählte und zu einem finalen Ergebnis kam, nachdem er verstummte und mit einem Schnauben die Arme verschränkte. Jeremy blinzelte hilflos. „Jean?“ Sein Backliner grunzte bejahend und er starrte mit großen Augen zu ihm hoch. „Ich habe kein Wort von dem verstanden, was du gerade gesagt hast. Du hast… in deiner Muttersprache mit mir gesprochen“, sagte er und lachte nervös. Ebenso unstet rieb er sich mit seiner Hand über den Nacken und sah zu, wie Jean langsam aber sicher begriff, was er gesagt hatte und zuverlässig Röte auf seine Wangen kroch. „Was?“, fragte Jean bestürzt und Jeremy nickte. „Ich kann kein Französisch“, wiederholte er, als wäre das nicht vollkommen überflüssig. Jean wusste das bereits. „Aber es hat sich gut angehört.“ Dass das vielleicht das Falsche war, erkannte er an dem Frust, der sich in den grauen Augen und um die Mundwinkel herum sammelte. Jean atmete schwer aus und ließ sich auf sein Bett fallen. „Ich kann das nicht“, sagte er schließlich mit schwerem, französischen Akzent, aber dankbarerweise auf Englisch und Jeremy hob die Augenbrauen. „Was kannst du nicht?“ „Jeden Mittag und jeden Abend irgendetwas machen. Es ist zuviel. Bitte, es ist wirklich zuviel.“ Jean hatte in seiner Muttersprache deutlich mehr gesagt, als er jetzt kurz zusammenfasste, aber dennoch kam die Botschaft bei Jeremy an. Mühevoll schluckte er. „Ihr sorgt euch und das ist sicherlich logisch, nachdem, was in der Wüste passiert ist, aber ich werde es nicht tun. Versprochen. Ihr müsst mich nicht jeden Abend bewachen oder mir das Leben zeigen, wie es sein könnte. Ihr überfordert mich damit. Ich fühle mich gefangen.“ Mit jedem Wort war die Verzweiflung größer geworden und Jeremy fand zunächst keine Antwort dafür. Hatten sie es wirklich so übertrieben? Wenn Jean sich wie ein Gefangener fühlte, dann sicherlich. Wenn er sich überfordert fühlte, ebenso. Entsetzt ließ sich Jeremy auf seinem Bett nieder. „Das tut mir fürchterlich leid, Jean. Wirklich. Wir…ich…hatten nicht im Sinn, dich so sehr zu bedrängen oder zu behandeln, als wärest du ein Gefangener. Wir wollten dir nur etwas Freude bereiten und für dich da sein.“ Jean grollte hilflos. „Dafür ist es nicht notwendig, jeden Tag etwas Anderes zu erleben. Ihr… ihr seid auch so da und ihr… ich…“ Ebenso hilflos gestikulierte er mit seinen Händen. „Bitte macht langsamer“, schloss er schließlich und das Flehen, das bei den Worten mitschwang, zerriss Jeremy beinahe das Herz. „Es tut mir leid Jean, wirklich sehr leid, wenn wir dir wehgetan oder dich gestresst haben sollten. Das lag nicht in meiner Absicht, ganz und gar nicht. Sicherlich auch nicht in Alvarez‘ oder Lailas. Von nun an machen wir es so langsam, wie du es wünschst, okay? Versprochen. So langsam, wie du dich damit wohlfühlst.“ Jean starrte ihn an, als könne er immer noch nicht wirklich glauben, dass jemand seiner Kritik zuhörte und sie auch beherzigte. Bei genauerem Hinsehen war es auch das erste Mal, dass Jean derart direkte Worte über etwas verloren hatte, das ihn bedrückte. Offen hatte er ihn kritisiert und Jeremy hoffte und betete inständig, dass er die richtige Erwiderung darauf gefunden hatte um Jean zu ermutigen, ihm auch weiterhin offen zu sagen, was ihn störte. Dieser räusperte sich, plötzlich schüchtern und mit gesenktem Blick, der überall hinsah, nur nicht zu ihm. „Ich würde gerne das Leben kennenlernen, so wie es…normale Menschen kennen. Ich würde gerne diese Kunstausstellung sehen und in diesen Diner gehen. Oder auf das Dach um bunte Spiele zu spielen. Oder zum Strand.“ „Aber so, dass du die Eindrücke auch verarbeiten kannst“, schlussfolgerte Jeremy leise und Jean nickte abgehackt. Er bemühte sich um positive Zuversicht. „Okay. Das bekommen wir hin.“ Vorsichtig sah Jean auf und Jeremy hob fröhlicher, als er sich wirklich fühlte, die Augenbrauen. „Aber eine Bitte hätte ich.“ Jean runzelte die Stirn. „Welche?“ „Könntest du öfter mit mir auf Französisch schimpfen? Das klingt so wunderschön melodisch.“ Auf Jeans ungläubigem Gesichtsausdruck hin zuckte er verlegen mit den Schultern und legte seine beste, bittende Mimik auf. Er blinzelte, wie er hoffte, charmant genug, damit seinem Anliegen stattgegeben werden würde. „Das ist nicht dein Ernst“, stellte Jean schließlich fest und Jeremy lächelte. „Doch, leider.“ Verschämt zuckte er mit den Schultern. Der Backliner grollte ohne wirkliches Missfallen dahinter und seufzte ergeben. ~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt Kapitel 27: Jungfräulich ------------------------ Jean fragte sich schon, ob Knox‘ lautes und schiefes Gesinge ein Ausdruck von Vertrauen war oder ob sein Kapitän manchmal einfach vergaß, dass er nicht alleine in diesem Apartment lebte. Jean glaubte Letzteres zwar nicht und war aber umso zurückhaltender damit, Ersteres anzunehmen. Zumindest er hatte das Vertrauen gehabt, sich in aller Offenheit seinem Kapitän zu öffnen und die Dinge anzusprechen, die ihn störten. Er hatte ihm sogar einzelne Situationen geschildert, kurz bevor Knox ihm zu verstehen gegeben hatte, dass er dabei in seine Muttersprache gerutscht war. Was hatte Jean innerlich geflucht und die Hälfte dessen, was ihm vorher herausgerutscht war, wieder verschluckt. Doch das, was übrig geblieben war, hatte anscheinend gereicht, damit dieser seinen Worten Gehör schenkte und seinem Wunsch entsprach. Worüber Jean immer wieder staunte. Drei Tage war es nun her und Knox gab sich wirklich Mühe, seinen Wünschen zu folgen. Dann, wenn er nicht hinsah oder Knox unbeobachtet fühlte, war das allerdings nicht der Fall, was Jean auch nur herausgefunden hatte, als er durch Zufall durch das Schlüsselloch ihres Bades geschaut hatte, nachdem es im Schlafzimmer verdächtig still geworden war. Und siehe da, Knox hatte abwechselnd auf sein Handy und dann auf die geschlossene Badezimmertür geschaut, das Gesicht sorgenvoll gerunzelt. Wäre Jean sich nicht wie ein Spanner vorgekommen, hätte er etwas dazu gesagt, doch so beobachtete er das Verhalten seines Kapitäns mit klopfendem Herzen und stellte fest, dass dieser mit jedem Mal, das er im Bad war, weniger nervös wurde. Und weniger zur geschlossenen Tür sah. Dafür sah Jean öfter durch das Schlüsselloch und war fasziniert von dieser beschränkten Welt, die nur einen Ausschnitt der Realität erlaubte und den Fokus auf etwas setzte, das einer Momentaufnahme glich, einem absoluten Fokus. Auf Knox, auf Eva oder einfach auch auf einen schlichten, alltäglichen Gegenstand in ihrem Raum. Vielleicht sollte er Fotos von eben dieser Welt machen, befand Jean. Vor ein paar Sekunden hatte er einen Blick in ihr leeres Schlafzimmer geworfen und festgestellt, dass Knox sich bereits in der Küche befand, wo er Kaffee zubereitete. Er nutzte anscheinend Jeans bisherige Anwesenheit im Bad um sich anzuziehen um zu singen, zu tanzen und den Raum zu einer Disco umzufunktionieren. Jean warf einen kurzen Blick in den Spiegel und sah an seinem Ebenbild herab. Die letzten drei Tage hatte er damit verbracht, sich langsam an die neuen Sachen zu gewöhnen, die er gekauft hatte. Immer ein Teil, lange Sachen, die er zu seiner Jeans trug, wenn er nicht gerade eine der Trainingshosen der Trojans und ein rotes Shirt mit seiner Nummer darauf trug. Heute jedoch war Samstag und sie hatten die erste Runde Fitnessstudio schon hinter sich. Die nächste Trainingseinheit stand für den Nachmittag an und in der Zwischenzeit hatte Knox ihm angeboten, dass er ihm Fahren beibrachte. Und da war dann noch die Party, von der Valentine gesprochen hatte, bei der Jean sich aber nicht sicher war, ob er sie überhaupt ansprechen sollte. Es würde sicherlich warm werden, so hatte Jean sich die locker sitzende Leinenhose ausgesucht, deren gedecktes Blau ihm so gut gefiel. Sie wurde vorne mit einer Kordel befestigt und saß so locker, dass Jean hin und wieder fühlen musste, ob er überhaupt Kleidung trug. Dazu hatte er eines der weißen Leinenhemden angezogen, die die Narben an seinen Handgelenken überdeckten. In dem Geschäft hatte er das Hemd hochgekrempelt, wie er es bei Ajeet öfter gesehen hatte und da er heute alleine war, machte er es auch. Die leichten Sneaker aus Leinen trug er auch schon und sie passten sehr gut zu der wadenlangen Hose. Jean strich nachdenklich über die hellen Stoffe, die ihn ganz anders wirken ließen. Seine Augen waren auch heller und er bildeten mit der Beanie, die er auf dem Kopf trug und aus der seine überlangen Strähnen fielen, ein harmonisches Farbschema. Die Schnitte waren verheilt und er hatte keine Hämatome im Gesicht. Fasziniert blinzelte Jean, als er sich vor Augen hielt, was das eigentlich für ihn bedeutete. Die Hämatome, die er auf seinem Körper finden konnte, kamen durch ihr Training. Er wurde nicht exzessiv gecheckt oder mit Schlägern verprügelt, er spielte einfach, wie alle anderen auch. Er hatte die gleichen Blessuren, wie alle anderen auch. Huh. Jean löste sich von seinem Anblick und drehte sich um, drehte sich so, dass er Knox in der Küche beobachten konnte. Die Geräuschkulisse hatte noch um ein Vielfaches zugenommen und als er einen Blick in den Raum warf, sah er, wie Knox seine Hüfte in komischen Bewegungen an der Küchenanrichte hin und herwiegte und dabei anscheinend einen der Pfannenwender dazu missbrauchte, ein Mikrofon darzustellen. Er war sich nicht sicher, was er davon halten sollte und ob das etwas war, das normale Menschen so machten. Er hatte Laila sich ein paar Mal so ähnlich bewegen sehen und auch einige andere Mitglieder der Trojans. Aber nie in dieser speziellen Art und Jean kam nicht umhin, sich zu fragen, ob das tanzen war. Jean lehnte sich an den Türrahmen und beobachtete das Ganze aus sicherer Entfernung, da sein Instinkt ihm riet, nicht in die Nähe dieses Schauspiels zu kommen. Er wusste auch nicht, was er sagen sollte, also wartete er geduldig ab, bis Knox sich seiner gewahr wurde. Dass dieser sich erschreckte, hatte Jean bedacht, dass dieser allerdings erstarrte, als er Jean sah, weniger. Groß und rund wurden die hellen blauen Augen, als Knox ihn anstarrte und seine Augen ihn von oben bis unten musterten, bevor sie abrupt und irgendwie auch ertappt zu seinem Gesicht zurückkehrten. Ohne Nutzen hielt sein Kapitän den Pfannenwender weiterhin aufrecht, während auf dem Herd das Rührei vor sich hinbriet, das er wie so oft für Jean zubereitete und es sich nicht nehmen ließ, das immer wieder zu tun. Jean blinzelte und wartete darauf, dass irgendetwas die Lippen des blonden Jungen verließ, das erklären würde, warum er derart angestarrt wurde. „Wow“, wurde sein Wunsch schließlich auch belohnt, wenngleich auch wenig aufschlussreich. Fragend legte Jean den Kopf schief. „Wow?“, echote er und Knox deutete mit dem Pfannenwender auf ihn. Reflexartig sah Jean an sich hinunter. „Das sieht toll aus“, erläuterte sein Kapitän mit einem Lächeln und Jean löste seine Hände um sie unsicher in seine Hosentaschen zu stecken. Er wusste nichts mit den Worten anzufangen, war er doch nicht an Komplimente gewöhnt, schon gar nicht an diejenigen, die sich auf sein Aussehen bezogen. Er trug Kleidung, wie jeder andere auch. Das war doch keine Leistung, wieso gab es dafür ein Lob? „Das Rührei brennt an“, konzentrierte sich Jean deswegen auf die greifbaren Dinge der momentanen Situation. Er deutete auf den Herd und Knox fuhr mit einem Laut des Entsetzens herum. Fluchend versuchte er mit dem Pfannenwender das Meiste zu retten und betrachtete das Ergebnis, das er auf einen Teller geladen hatte, mit kritisch gerunzelter Stirn. „Ich mache dir Neues“, entschied er dann und Jean schüttelte den Kopf. „Das ist doch essbar“, deutete er auf das vollkommen normal aussehende Ei. „Ich habe es anbrennen lassen.“ Jean schüttelte den Kopf. „Es ist okay. Ich esse das.“ „Ich kann dir wirklich Neues machen.“ „Ich esse das hier, kein Problem.“ Hilflos gestikulierte Knox. „Das dauert keine zwei Minuten, wirklich nicht.“ Jean starrte schweigend auf seinen Kapitän hinunter und kam langsam zwei Schritte auf ihn zu. Ohne seine Augen von Knox abzuwenden, griff er zu dem Teller des Anstoßes und zog ihn mit einem schabenden Laut über die Arbeitsfläche zu sich. „Es ist okay“, sagte er noch einmal und trat einen Schritt zurück, als er den Striker zucken sah. Instinktiv wechselte Jean seine Position und drehte sich so, wie er einen Check abfedern würde. Der Gedanke daran, dass sie um das Frühstück kämpfen würden, war absurd und anscheinend hatte auch Knox gerade den gleichen Eindruck. Zumindest brach er in sonniges Gelächter aus, als er Jeans Körpersprache gewahr wurde. „Ganz ruhig, Jean Moreau, Backliner der USC-Trojans, unser nächstes Spiel ist erst nächstes Wochenende“, grinste er und Jean schnaubte, während er sich mit samt seines Tellers an den Bartisch begab. „Und Training ist erst heute Abend.“ „Man kann nie genug trainieren“, erwiderte Jean und kam, immer noch mit aufmerksamen Blick auf seinen Teller, zur Kaffeemaschine. Er holte zwei Tassen aus dem Schrank und füllte sie mit der schwarzen, bitteren Flüssigkeit, misshandelte Knox‘ Kaffee zusätzlich noch mit Milch und Zucker. „Sagt derjenige, der gleich mein Auto fahren möchte.“ Herausfordernd hob Knox seine Augenbrauen und Jean schnaubte, während er die Tasse seines Kapitäns an seinen Platz stellte. Schließlich hatte er nun mehr als genug Zeit gehabt, diesen dabei zu beobachten, wie er seinen Kaffee trank und so konnte er sich wenigstens für das Rührei revangieren, das er nun motiviert mit einer großen, gehäuften Gabel aß... und es beinahe augenblicklich bereute. Es schmeckte verbrannt und fürchterlich, ungefähr so, als würde er Asche essen. Aber er würde den Teufel tun, das jetzt zuzugeben. ~~**~~ Die Tatsache, dass Jean schon öfter in einem Auto gesessen hatte und mitgefahren war, hatte ihn absolut nicht darauf vorbereitet, wie es sein würde, wenn er mal hinter dem Steuer saß und von ihm erwartet wurde, dass er dieses Gefängnis aus Stahl und Rost zum Fahren brachte. Zumal ihn ein Augenpaar dabei beobachtete, dass er auch ja nichts falsch machte, auch wenn der Besitzer sich noch so Mühe gab, das vor ihm zu verbergen. Bemüht ruhig bettete Jean seine Hände auf den Schoß und sah nach rechts und begegnete dem unsicheren Lächeln seines Kapitäns, der ein einziges Nervenbündel war, schon seit sie die Plätze getauscht hatten. Jean runzelte die Stirn. „Wir müssen das nicht tun.“ Knox winkte ab, doch auch die Geste hatte nichts Ruhiges an sich und schon gar nichts Nonchalantes. „Doch doch, du sollst ja nicht vollkommen unbeleckt in deine erste Fahrstunde gehen.“ „Unbeleckt?“, fragte Jean ungläubig nach und der blonde Junge lachte zittrig. „Das sagt man so. Also jungfräulich halt.“ Aber auch das war er nicht. Er war schon lange nicht mehr jungfräulich und wenn Jean es sich ehrlich eingestand, dann konnte er auch keine Verbindung zwischen seiner ersten Vergewaltigung und einer Fahrstunde herstellen. Nun selber unsicher ballte er die Hände zu Fäusten und schluckte mühevoll, als sich durch seine Schweigen Stille zwischen ihnen ausbreitete, die mehr als schwer lastete. Vielleicht sollte er es einfach lassen. Dann würden auch keine Fragen kommen und er würde nicht in seine Vergangenheit zurückgestoßen werden. „Ich habe etwas Falsches gesagt, oder?“, drang die Stimme seines Kapitäns durch Jeans dunkle Erinnerungen und für einen Moment lang war er irritiert darüber. Knox hatte es damals noch nicht in seiner Nähe gegeben, wieso war er dann hier? Weil er nicht mehr in Evermore war, stellte Jean blinzelnd fest. Er war in Los Angeles und saß mit Knox in dessem Wagen auf einem leeren Industriegelände, auf dem er ungestört Auto fahren üben konnte. Knox war nicht Riko, nicht einmal im Ansatz. Knox war genauso unsicher wie er. Jean wollte etwas sagen, doch es kam nur ein Krächzen hervor. Er räusperte sich. „Ich verstehe nicht, warum man für die Fahrschule jungfräulich sein muss“, erwiderte er nach einer kurzen Weile ehrlich und starrte auf seine Finger. Der überraschte und beinahe schon erleichterte Laut des anderen Jungen ließ ihn zusammenzucken und fragend sah Jean zu Knox. „Das sagt man so, wenn man etwas zum ersten Mal macht. So wie du gerade zum ersten Mal hinter einem Steuer sitzt. Oder wie ich dich zum ersten Mal fahren lasse. Dann ist man jungfräulich.“ Jean blinzelte. „Das hat nichts damit zu tun, dass man…“ Er konnte den Satz nicht beenden, doch Knox verstand auch so. „Nein, das muss es nicht. Es kann alles Mögliche sein.“ Das Konzept, dass er trotz der Spieler, die sich ihm aufgezwungen hatten, noch Jungfrau war, weil er viele Sachen in seinem Leben noch nicht gemacht hatte, hinterließ in Jean eine Art Beruhigung, die er selbst noch nicht ganz verstand. Sein Buch war voll mit Dingen, die er zum ersten Mal gemacht hatte und bisher hatte er noch nie wirklich darüber nachgedacht, was es überhaupt bedeutete. Er nickte und atmete tief durch. „Also bin ich eine Autofahrjungfrau?“, fragte er trocken nach und Knox räusperte sich. „Ja, wenn du es so nennen magst, dann schon.“ Jean musterte seinen Kapitän, dessen braungebranntes Gesicht wieder einen peinlich berührten Rotschimmer zeigte. Er kam nicht umhin, sich darüber zu wundern, was genau daran die Röte ausgelöst hatte und seine Gedanken kehrten zurück zu den Kondomen in Knox‘ Kulturtasche, die seit geraumer Zeit verschwunden waren. Kritisch runzelte Jean die Stirn. „Bist du noch Jungfrau? Errötest du deswegen?“, fragte er so offen und ehrlich, wie Knox es von ihm wünschte, doch anscheinend löste er damit eine noch größere, peinliche Berührtheit aus. Knox riss entsetzt die Augen auf. „Oh mein Gott, Jean! Nein, natürlich nicht, aber ich…“ Sein Kapitän verstummte. So ganz verstand er Knox‘ gestotterten Protest nicht, musste Jean gestehen. Anscheinend zeigte sich das auch deutlich auf seinem Gesicht. „Das war eine sehr direkte Frage“, presste dieser schließlich hervor und Jean hob die Augenbrauen. Langsam verstand er, wo das Problem war. Das machte die Sache für Knox nicht besser. „Du wolltest direkte Fragen“, erwiderte er beinahe inquisitorisch und der Junge neben ihm öffnete hilflos den Mund, während seine Hände stumm gestikulierten. „Ja, aber.“ „Aber?“ „Lass einem Mann doch sein Rotwerden!“ Das war nun keine gute Begründung, befand Jean, zeigte aber Mitleid und Gnade. Er nickte und deutete auf das Lenkrad. „Soll ich?“ Tapfer lächelte sein Kapitän. „Aber klar!“ Schritt für Schritt erklärte der blonde Junge ihm, wie er den Automatikwagen dazu brachte, sich zu bewegen, wie er bremste, anfuhr, was die Buchstaben auf dem Steuerknüppel bedeuteten und worauf er achten musste. Das war gar nicht so schwer und Jean vermutete, dass das Schwere an dem Ganzen die Teilnahme am Straßenverkehr sein würde mit all seinem Chaos. Nicht, dass er die Herausforderung scheute, ganz im Gegenteil. Alleine schon die niedrige Geschwindigkeit, in der sie sich bewegten, verursachte ihm eine Gänsehaut, weil er wusste, dass er derjenige war, der dieses laute Ungetüm lenkte. Die Vorstellung, dass er selbst einen Wagen besitzen und ihn bewegen würde, verursachte ein Kribbeln in seiner Magengegend, das er bisher so noch nicht gekannt hatte. Als er den Wagen nach mehr als zehn Runden schließlich zum Stehen brachte, war Knox deutlich entspannter und grinste ihn stolz an. Auch Jean zuckte es kurz um die Mundwinkel und er atmete bewusst aus. „Und?“ Jean überlegte, auch wenn es da eigentlich nichts zu überlegen gab. „Es ist ein gutes Gefühl.“ „Also willst du richtige Fahrstunden nehmen? Mit einem richtigen Lehrer?“ Jean konnte sich einen amüsierten Seitenblick mit hoch erhobener Augenbraue nicht verkneifen. „Angst, dass ich das Ungetüm hier in den Graben setze?“ Gespielt geschockt griff Knox sich an sein Herz und tätschelte liebevoll das in die Jahre gekommene Armaturenbrett. „Ist das eine ernstgemeinte Frage?“ Nein, das war es nicht gewesen und deswegen tat ihr kurzes Geplänkel auch so gut. Wann und wem hatte er in Evermore Fragen zum Spaß gestellt? Nie und niemandem. Kevin vielleicht, als er noch da gewesen war. Josten auch, aber diese Fragen waren eher rhetorischer Natur gewesen. „Ich weiß gar nicht, welches Auto ich mir kaufen soll“, stellte Jean dieses Mal aber wirklich ernst gemeint in den Raum. „Wenn du Beratung möchtest, dann stehe ich jederzeit gerne zur Verfügung.“ Jean ließ Knox sehen, wie wenig überzeugt er von der möglichen, kommenden Beratung war. Entschieden deutete er auf den Innenraum des Wagens. „Du hast eine Vorliebe für Oldtimer“, formulierte er das, was ihm eigentlich auf den Lippen lag, so neutral um, dass Knox es nicht als Kritik verstehen würde. „Ich glaube, ich habe lieber ein neues Auto.“ So eins, wie Andrew hatte. Knox verzog das Gesicht zu einer leidenden Grimasse. „Ich habe keine Vorliebe für Oldtimer, du Banause, ich kann mir nur kein neues Auto leisten. Und ich liebe diese alte Möhre hier, weil sie mich schon überall sicher hingebracht hat und weil man viel aufladen kann!“ Jean verbiss sich einen weiteren Kommentar. Er hatte aus Andrews Stimme einen ähnlichen Stolz herausgehört, als dieser über seinen Wagen gesprochen hatte. Vielleicht würde er genauso sein, wenn er erstmal ein eigenes Auto hatte, wer wusste das schon? „Der Fahrersitz hat noch mehr Federn als der Beifahrersitz“, merkte Jean anstelle dessen an und Knox seufzte schwer. „Ja, das merke ich auch. Trotzdem tut es mir leid, dass du hier sitzen musst.“ Jean seufzte innerlich. Nur sein Kapitän entschuldigte sich für geringe Schmerzen, die er noch nicht einmal selbst zu verantworten hatte. „Alles okay. Man gewöhnt sich daran.“ „Sicher?“ „Wenn ich meinen Führerschein habe, werde ich fahren.“ „Falls“, korrigierte Knox mit einem breiten Grinsen und Jean hob vielsagend die Augenbrauen. „Falls…?“, echote er langsam. „Du musst erst einmal durch die Prüfung kommen.“ Jean wusste nicht wirklich, was ihn ritt, als er den anderen Jungen mit gerümpfter Nase ansah. „Wenn du durch die Prüfung gekommen bist, wird das für mich kein Problem sein“, erwiderte er schneller, als er sein Mundwerk davon abhalten konnte und Knox‘ Augen weiteten sich fassungslos. „Du Gemeiner!“, jaulte dieser und Jean schnaufte, um sein Lachen zu verstecken. Er löste den Gurt und öffnete die Tür, tauschte mit Knox die Plätze. Schneller, als er es selbst gerade gewagt hat, den Wagen zu bewegen, brachte sein Kapitän sie zurück zum Highway und Jean nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche. Er betrachtete das gute Stück in seinen Händen und ungebeten kamen ihm Andrews Worte ins Gedächtnis. Immer wieder hatte ihm der blonde Junge gesagt, dass er trinken solle, in seiner desinteressierten Stimme, die Andrews Gedanken mitnichten widerspiegelte. Es hatte seine Zeit gebraucht, bis er selbst zu einer Flasche gegriffen hatte, ohne, dass Minyard sie ihm geöffnet in die Hand gedrückt hatte. Es war egal gewesen, ob Renee oder Abby ihm versichert hatten, dass er soviel trinken konnte, wie er mochte – erst Minyard hatte es ihm durch simple Gesten beigebracht. Wenn Jean es sich ehrlich eingestand, hatte er zum Schluss damit nur auf Minyard gewartet, weil es den anderen Jungen nervte. Deutlich sichtbar nervte. Soviel schuldete er ihm nach dessem Versuch, ihn zum Reden zu bringen. Jean seufzte und drehte die Flasche in seinen Händen. Gedanken an Andrew brachten auch Valentines Einladung wieder hervor, die er bisher geflissentlich ignoriert hatte. Gebracht hatte es ihm nichts, sie hatte ihm unlängst eine Nachricht geschrieben, dass es sie sehr freuen würde, wenn er auch käme. „Die Uniparty heute Abend“, begann er und wusste nicht recht, was er überhaupt fragen sollte. Er kannte Knox‘ Antwort. Nur, wenn er wollte, das war das Credo, aber Jean wusste gar nicht, ob er wollte. „Was passiert dort?“ „Das ist die klassische Studentenparty“, erwiderte sein Kapitän, begriff aber nach Jeans Schweigen, dass er mit dem Begriff nichts anfangen konnte. „Es wird viel auf engem Raum getanzt, gesungen und getrunken. Wenn wir es können, gehen wir zu den guten Partys. So wie heute Abend nach dem Training.“ „Gehst du auch dahin?“, fragte Jean nun direkt. Knox hatte noch nichts davon erwähnt und hatte sich auch, als das Thema beim Training zum ersten Mal aufgekommen war, nicht dazu geäußert. Auch jetzt neigte er seinen Kopf in der für ihn typischen Art und Weise, eine Antwort herauszuzögern. „Wenn es sich anbietet, dann schon.“ Jean grollte innerlich. Wenn es sich anbietet war nichts Anderes als eine seichte Umschreibung dafür, dass er ihn nicht alleine lassen würde. Darüber mit Knox zu diskutieren, hatte wenig Sinn, also musste er einen anderen Weg gehen, auch wenn ihm dieser Weg Unbehagen bereitete. Das war das Mindeste, was er für den anderen Jungen tun konnte. „Hast du Lust darauf?“, fragte er dementsprechend direkt und Knox nickte. „Das wird sicherlich witzig.“ „Gut, dann gehen wir“, betonte er das „Wir“ in einer Art, die Knox sichtbar schlucken ließ. „Jean, du musst nicht…“ „Du sagst, es ist eine der guten Partys?“ „Ja, aber…“ „Ich schulde Valentine noch etwas. Wenn ich ihre Einladung annehme, dann habe ich das vom Tisch.“ „Aber…“ „Knox?“ „Ja?“ „Was soll daran schon so schlimm sein?“, fragte Jean mutiger, als er sich wirklich fühlte und der blonde Junge neben ihm strich sich die aus dem Minidutt gefallenen Strähnen zurück und seufzte leise. Aber er nickte. Wenigstens das. ~~**~~ Alles. Alles war schlimm daran. Die Musik, deren Lautstärke, die reine Fülle an Menschen, die Enge, mit der sie freiwillig aufeinanderklebten, die fürchterlichen Getränke, die nichtssagenden, viel zu betrunkenen und lauten Gespräche, alles. Jeans erste Party würde auch seine letzte sein, das schwor er sich und gleichzeitig versprach er Valentine einen blutigen Tod dafür, dass sie ihn in diese Falle gelockt hatte. Ihr und Knox. Gute Party? Soviel schlechter Geschmack auf einem Haufen war doch gar nicht möglich. Die Trojans waren beinahe komplett anwesend. Ajeet konnte nicht, er musste seinen Eltern aushelfen, aber ansonsten waren alle da und mischten sich unter die Studenten. Der Boden klebte unter den Sohlen seiner Sneaker und Jean schauderte es. „Alles in Ordnung?“, brüllte Valentine ihm ins Ohr und er sah blinzelnd auf sie herab. Ihre pinken Haare hatten seit Neuestem auch noch türkisfarbene Strähnen und Jean ertappte sich immer wieder dabei, wie er fasziniert auf ihre Haare starrte. „Der Boden klebt, es ist laut, eng und voll“, erwiderte er ehrlich und sie lachte. „Der feine Herr! Sind wir etwa aus Evermore Besseres gewohnt?“, spottete sie und Jean grollte. Auch wenn die Erinnerung an Evermore ein schales, bitteres Gefühl in seinem Mund hinterließ und ihn gefährlich nahe an den Rand eines Flashbacks brachte, so war es doch eben jener, rücksichtsloser und frecher Spott, den er in den letzten Wochen zu schätzen gelernt hatte. Valentine nahm kein Blatt vor den Mund, nirgendwo und bei keinem Thema. Jean hatte es sich angewöhnt, es ihr gleich zu tun, auch aus dem Grund, dass sie immer in gewissen Grenzen Respekt zeigte. „In Evermore wurde sich mit so etwas Banalen nicht abgegeben“, erwiderte er mit erhobener Augenbraue und Valentine lachte. „Deine Nase ist banal! Das hier ist Teambuilding, Netzwerken, PR-Arbeit, du Banause!“ Das ewige Trojansmantra. Freundlich zu allen sein. Jean rollte mit den Augen. Dies war ein Punkt, in dem er vermutlich immer Raven bleiben würde. Andere Menschen waren ihm egal, insbesondere die, die nicht Exy spielten. Mit Mühe konnte er sich vorstellen, sich auf sein Team einzulassen und tat hier die ersten, vorsichtigen Schritte. Der Rest des Teams hatte mit dem Netzwerken da weniger Probleme und Jean wusste, wenn er sich umsah, würde er sie weit verstreut in der Menschenmenge finden. Oder auf der improvisierten Tanzfläche. Jean musste gestehen, dass die Studenten dort alle so aussahen wie Knox in der Küche. Er stellte fest, dass das Gewackel und die Bewegungen seines Kapitäns noch nicht einmal das Schlimmste war, was er zu Gesicht bekommen hatte. Stumm lauschte er dem Bass des Liedes, das durch die Boxen schallte und seine Ohren mit einem Text belästigte, der ihm sehr flach schien. Das interessierte die Tänzer aber nicht, die ihre Körper im Takt zur Musik bewegten und sich aneinanderrieben, als hätten sie ihre intimen Aktivitäten vom Bett auf die Tanzfläche verlagert. Das Lied änderte sich und Valentine lachte. „Oh, nein… pass auf, Moreau, jetzt kommt die Alvarez-Laila-Jeremy-Show“, sagte sie und stieß ihn leicht an. Er sah zu ihr und sie nickte mit ihrem Kinn zur Tanzfläche, auf der er alle Drei entdeckte. Sie alberten herum, während sie ihre Körper zur Musik bewegen, deren Text Jean sofort bekannt vorkam. Knox hatte das gesungen, als er ihm zum ersten Mal die Haare gewaschen hatte. Wie anders es geklungen hatte, wie anders Knox sich nun verhielt, als er gelöst und ohne Zurückhaltung seinen Körper zum Rhythmus der Musik bewegte, vor ihm Laila, hinter ihm Alvarez, die sich mit ihm bewegten und die vollkommen in ihrem Moment aufzugehen schienen, ihre Gesichter gerötet und gelöst vor Freude und Lachen. Jean runzelte die Stirn. Er sah die Präzision und Körperspannung, die alle Drei auch beim Training aufzuweisen hatten. Er konnte die Muskeln sehen, deren Zusammenspiel sie zu guten Spielern machten. Dass diese Kraft und Präzision dazu missbraucht wurden, sich in rhythmischen Bewegungen auf der Tanzfläche hin und her zu wiegen, war frustrierend und verstörend gleichzeitig, eben weil Jean seine Gefühle diesbezüglich nicht einordnen konnte. Der Raven in ihm schrie, dass es Zeitverschwendung war, was hier geschah. Der Mensch in ihm, nahm die Ästhetik dessen vorsichtig zur Kenntnis wie er auch gutes Spiel zur Kenntnis nahm. Als die Musik sich noch einmal änderte, sah Jean den Collegereporter auf der Tanzfläche, der damals die Eingangsfrage gestellt hatte. Dieser näherte sich Knox und übernahm seinen Kapitän aus den Händen der beiden Mädchen. Knox lächelte voller Freude und Jean sah das Leuchten in den Augen des blonden Jungen, als er dem Reporter über das Gesicht strich und sich im Takt der Musik an ihn schmiegte. Sie bewegten ihre Hüften so eng aneinander, dass kein Blatt Papier dazwischen passte. Sie tanzten Stirn an Stirn, die Lippen geöffnet. Der Reporter, Allan, hatte seine Hände an Knox‘ Hüften, während sein Kapitän seine Arme auf den Schultern des etwas größeren Jungen abgelegt hatte. Überrascht blinzelte Jean. Er hatte nicht vermutet, dass Knox einem anderen Jungen so nahe war, denn das zwischen den Beiden eine eindeutige Anziehung bestand, das sah selbst er. Sie schienen perfekt aufeinander abgestimmt zu sein, miteinander im Einklang und Wohlwollen. Es war ein wenig wie die selbstverständliche Leidenschaft, die Wilds und Boyd teilten, nicht der verborgene Hürdenlauf zwischen Josten und Minyard. Das, was in Evermore Demütigung und Strafe war, war hier gelebte Normalität und wider Willen starrte Jean fasziniert auf die beiden Jungen. Auch das schien hier so einfach zu sein, so selbstverständlich. Ohne Gewalt, ohne Sadismus, sondern…normal, dass ein Mann einem anderen Mann nah war. Er schluckte und stellte fest, dass sein Hals trocken war, obwohl er heute eigentlich genug getrunken hatte. Sein Plastikbecher war ebenfalls leer und so wandte er sich mit einem Schnauben ab. Direkt zu den aufmerksamen Augen von Valentine, deren Gesicht ruhiges Wissen ausdrückte. „Allan oder Jer?“, fragte sie und Jean runzelte die Stirn. „Was meinst du?“ Sie glaubte ihm keine Silbe seiner Frage, das sagte ihm das Zucken um ihre Mundwinkel und ihre spöttisch erhobene Augenbraue. „Du bist kein überzeugender Lügner, Nummer sieben“, schnarrte sie und er grollte. Wenn er nicht so auf Gesellschaft angewiesen wäre, dann hätte er sich jetzt umgedreht und wäre gegangen. So blieb ihm nichts Anderes übrig, als ihre Worte zu ertragen. „Was hat das mit den Beiden zu tun?“, deutete er unwirsch auf die Tanzfläche. Sie musterte ihn für schier endlos lange Sekunden, dann lächelte sie wissend. „Viel. Alles. In deinen Augen: nichts.“ Einer der Vorteile seiner Größe war, dass er mit Leichtigkeit über andere hinwegsehen und sie ignorieren konnte. Das tat er nun. Nicht, dass es ihm bei dem pinkhaarigen Sturkopf etwas brachte, egal, wie unerfreut er sie versuchte zu ignorieren, während sie ihn mit Details über den Reporter und seine On-Off-Nichtbeziehung mit Knox fütterte. ~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 28: Die Zweischneidigkeit von Berührungen ------------------------------------------------- Laila exte ihren wirklich schlechten, dafür umso stärkeren Cocktailmix, von dem sie glaubte, dass es Tequila Sunrise sein sollte, und stahl sich einen letzten, innigen Kuss von Sara. „Ich schau mal nach unserem französischen Adoptivsohn da draußen“, nickte sie in Richtung der Eingangstür, aus der Jean vor nicht ganz einer Stunde verschwunden war. Da Jeremy gerade mit Allan beschäftigt war und so schnell nicht wiederkommen würde, hatten sie Jean von ihm übernommen und warfen regelmäßig einen Blick nach draußen auf den Jungen, der es sich unter einem der alten Bäume gemütlich gemacht hatte und nun mit dem Rücken an ihn gelehnt im Halbdunkeln dort saß und vor sich hinstarrte. Der Lärm war ihm zuviel geworden, was Laila gut verstehen konnte. Wie alle Collegepartys war auch diese irgendwann in Lautstärke und albernen Gesprächen explodiert. Jean selbst war, zumindest was Aktivitäten des Teams anbetraf, zurückhaltend. Er nahm daran teil, aber entspannt war er nicht, das hatte sie mittlerweile begriffen. Aus dem scheuen, oft zurückzuckenden Backliner war ein in sich gekehrter Teil ihres Teams geworden, den sie – vorsichtiger als vorher – in das integrierten, was sie ausmachte. Laila war stolz auf die Fortschritte gewesen, die er offensichtlich ängstliche Junge gemacht hatte und sie war stolz darauf gewesen, dass sie ihm etwas von dem fehlenden Vertrauen zurückgeben konnten. Sie hatte wirklich geglaubt, dass Jean bereit war, den Weg mit ihnen zu gehen. Bis er versucht hatte, sich umzubringen. Nein, bis er mit Andrew Minyard in die Wüste gefahren war um sich von dem Torhüter der Foxes umbringen zu lassen. Ein Freundschaftsdienst sozusagen. Lailas Glauben an ihre eigene Intuition war an diesem Tag schwer erschüttert worden. Mitnichten hatten sie damit gerechnet, dass Jean seinem Leben ein Ende setzen wollte. Keine Sekunde lang hatte sie es angenommen. Mitnichten hatte sie gedacht, dass ein anderer Mensch dazu fähig war, jemanden aus einem Gefallen heraus zu töten. Oder weil sie einen Handel miteinander gehabt hatten. Das war unmöglich und unglaublich in ihrer Welt gewesen. Bis zu dem Moment, in dem Jeremy sie wachgerüttelt hatte. Nun war er hier, doch wie Sara und Jer auch hatte sie große Angst, dass er es - genauso stumm wie an dem Tag in der Wüste - irgendwann nicht mehr sein würde. Andrew Minyards spöttische Versicherung, dass er sicherlich keine Hand mehr an Jean legen würde, war da nur bedingt hilfreich. Dass sie ihn mit ihrer Angst und ihren Bemühungen, ihm positive Eindrücke zu verschaffen, einengte, sah Laila und arbeitete aktiv dagegen. Leicht war das nicht, aber sie versuchte es. So gab sie ihm auch den Raum, den er anscheinend am heutigen Abend brauchte, bevor sie sich zwei Becher Wasser schnappte und langsam zu ihm nach draußen ging. Er musterte sie auf ihrem Weg und sah fragend auf den Becher, den sie ihm entgegenstreckte. „Wasser?“ „Ja. Den Alkohol möchte ich dir nicht zumuten.“ Wenn sie ehrlich war, hatte sie Jean noch nie etwas trinken sehen und war sich nicht sicher, ob es ein Sportlerding oder ein Ravending war. Was auch immer es war, sie würde den Teufel tun, es nicht zu akzeptieren oder Jean auf eine Antwort zu drängen, die er noch nicht zu geben bereit war. „Darf ich mich setzen?“, fragte Laila und deutete auf den freien Flecken Gras neben ihm. Er nickte, während er gedankenverloren in seinen Becher starrte. „Alles okay bei dir?“ Jean gab einen nichtssagenden Laut von sich. „Zu laut, zu eng, zu stickig, zu viele Menschen“, fasste er kurz zusammen, was sie bereits vermutet hatte und Laila gab einen Laut der mitfühlenden Zustimmung von sich. „Verständlich. War es in Evermore nicht so?“ „Dort gab es keine Partys.“ Überrascht hob sie die Augenbrauen. „Das tut mir leid für dich.“ Ironisch hob Jean die Augenbraue und deutete mit dem Becher in Richtung Haus. „Mir nicht.“ Laila hob in Anerkennung der durchaus validen Argumentation den Ihren. „Wohl wahr.“ In schweigendem Einvernehmen lauschten sie dem dröhnenden Bass, der aus dem Haus trat. Jean mit gerunzelter Stirn und anscheinend etwas, das er in Gedanken hin und herbewegte, Laila entspannt, jetzt da sie in seiner direkten Nähe war. Eine trügerische Sicherheit, wie sie wusste. „Wie ist es, so zu sein?“, fragte Jean schließlich und spielte mit dem Becher, ließ das Wasser in ihm kreisen, als wäre es kostbarer Wein und sein Glas ein Weinglas. Franzose durch und durch, mutmaßte sie liebevoll für sich. „So?“ Entgegen ihrer vorherigen Gedanken drückte er das Plastik ein. „So wie ihr. Anders.“ Laila blinzelte. „Anders?“, fragte sie zweifelnd nach, nicht sicher, ob sie das richtig verstanden hatte. „Nicht so wie normale Menschen.“ Oha. Oh. Sie schluckte und hoffte, dass Jean keiner dieser stummen, intoleranten Menschen war, die Homosexualität als etwas Unnormales ansahen. Es schien nicht so, auch wenn seine Worte ihr schon Zahnschmerzen bereiteten. „Jean, jeder Mensch ist normal. Oder keiner, je nachdem, wie es du sehen magst. Aber es gibt keinen Unterschied zwischen den einzelnen Ausrichtungen der sexuellen Orientierung.“ Ruhig und besonnen musterte Laila den Jungen und wartete darauf, dass er diese Information in seinen Gedanken hin und herbewegte. Ein Gedanke kam ihr, der so offensichtlich wie bitter war. „Wurde das in Evermore anders gehalten?“ Er gab ein nichtssagendes Geräusch von sich, doch Laila hatte gelernt, den Ausdruck auf seinem Gesicht gepaart mit der Abwesenheit, die sie in den grauen Augen des Backliners erkennen konnte, zu interpretieren. Sie hatte ihn mit ihrer Frage nach seiner Vergangenheit in Erinnerungen gestoßen, die vermutlich nicht schön waren. Laila seufzte. „Es tut mir leid, wenn das schlechte Gedanken aufwirft“, murmelte sie und Jean schüttelte den Kopf. „Normal und gewünscht war nur das, was Männer und Frauen miteinander haben. Alles andere…“ Er ließ das Ende des Satzes offen, doch sie konnte sich nur zu gut vorstellen, was er damit ausdrücken wollte. West Virginia war nun kein Bundesstaat, der die Rechte der LGBTQ+-Community mit offenen Armen willkommen hieß. Dass in Evermore da ein ähnliches Klima geherrscht hatte, verwunderte sie nicht, aber es machte sie wütend. So wütend, dass sie ein paar Mal tief durchatmen musste. „Hier ist es anders. Ich…nein, wir leben das anders. Jeder hat es verdient, gewertschätzt zu werden. Niemand hat das Recht, jemand anderen wegen seiner sexuellen Orientierung oder seiner Hautfarbe oder seines Geschlechtes oder seiner Religion oder wegen irgendwelchen anderen Gründen zu diskriminieren.“ Seitdem sie in der Highschool war, wurde sie nicht müde, genau die Worte immer und immer wieder zu sagen und für sie einzustehen. Für Gleichheit und ein respektvolles Miteinander. Für Akzeptanz von allen Menschen. Seit ihrer Highschoolzeit begegnete sie immer wieder Menschen, die diese Rechte mit Füßen traten und meinten, ihre zerstörerische Meinung in die Welt hinausblasen zu können. „Denkst du, dass Sara, Jer und ich unnormal sind?“, fragte sie schließlich und Jean schüttelte beinahe augenblicklich den Kopf. Es dauerte dennoch etwas, bis er anscheinend den Mut dazu fand, dass auszusprechen, was ihm auf der Zunge lag. „Nein, das seid ihr nicht. Ihr seid nur so offen mit dem, was ihr tut. Mit euren Berührungen, euren Tänzen, euren…Intimitäten.“ Jeans Pause vor seinem letzten Wort sprach Bände. Sie sprach von Unsicherheit und Unwissen. „Ist das ungewohnt für dich?“, fragte sie und er nickte. „Ist es schlimm, uns so zu sehen? Sara und mich, Jer und Allan?“ Wieder zögerte er, doch dieses Mal war es nicht ganz so lang. „Nein.“ „Findest du es schön?“ Überrascht fuhren Jeans Augen hoch und der Junge zuckte beinahe körperlich zusammen. „Schön?“, wiederholte er und das Wort enthielt so viele Emotionen, dass es Laila schwerfiel, eine einzelne daraus zu extrahieren. Sie hatte das Eindruck, dass nicht alle positiv waren. „Ich weiß nicht“, setzte Jean nun eindeutig unsicherer nach und Laila schwieg. Wenn sie eines gelernt hatte, dass es stille Geduld war, die Jean Moreau aus seinem Schildkrötenpanzer aus Schweigen lockte. Bisher hatte sie immer eine ausführliche Antwort bekommen, aber dafür hatte sie warten müssen. Es schmerzte sie zu sehen, wie sehr der ehemalige Raven mit Antworten haderte, für die er glaubte, bestraft zu werden. Sie wartete auch jetzt und nippte an ihrem eigenen Wasser, während er seines in den Fingern drehte und den Becher schließlich auf das Gras neben sich absetzte. Er verschränkte die Hände in seinem Schoß und starrte auf die prägnanten Knöchel. Zeichen der Gewalt, die er in Evermore erlebt hatte. So wie die Narben, die hin und wieder aufblitzten. Um seine Handgelenke. Auf seinen Unterarmen. In seinem Nacken. Auf dem Kopf. „Ich weiß nicht, wie es ist, jemanden in eurer Art und Weise körperlich nah zu sein“, presste Jean schließlich hervor und seine Worte wurden von einem schweren, französischen Akzent getragen. „Gleichgeschlechtlich?“ Jean schüttelte den Kopf. „Unbeschwert und offen.“ Laila lächelte sanft. Sie glaubte, dass sie wusste, womit Jean ein Problem hatte und was sie vorsichtig angehen mussten. Und sie würde den Teufel tun, Sara davon zu erzählen, denn so sehr sie diese Frau auch liebte, so direkt würde sie das Thema Jungfräulichkeit und sexuelle Unsicherheit angehen. Das war bei Jean der falsche Weg, wenn sie wollten, dass er eine Entscheidung traf, die er wollte und nicht eine, von der er meinte, dass sie die richtige wäre um ihnen zu gefallen. Oder einer Strafe zu entgehen. Oder Alvarez von seiner Spur abzubringen. „Möchtest du es ausprobieren?“, fragte Laila und seine Lippen verließ ein nicht wirklich menschlicher Laut. Er war bestürzt über ihre Frage, aus seiner mühevollen Ruhe gebracht und war kurz davor, sich in sich selbst zu verschließen. Laila begriff warum und sie schnaubte. „Nicht mit mir, nicht hier oder jetzt. Irgendwann, wenn du Lust hast. Meine Frage geht auch eher in die Richtung, ob du dann Fragen hast und ob ich sie dir beantworten soll“, erläuterte sie und nach und nach kehrte Entspannung ein auf dem aufgewühlten Gesicht. Es brauchte etwas, bis er ihr antwortete. „Ich…“, Jean räusperte sich erleichtert. Er sank in sich zusammen und schien über etwas nachzudenken. „Wie fühlt es sich an?“ „Sex?“, fragte Laila nach und er schüttelte den Kopf. „Jemanden zärtlich zu berühren.“ Wieder einmal kam Laila nicht umhin, sich zu fragen, wie schlimm die Zustände in Evermore wirklich gewesen sein mussten. Die Fragen, die Jean stellte, waren von einer derartigen Unschuld, dass sie unweigerlich mutmaßte, dass er wenig bis keine Erfahrungen im liebevollen Miteinander hatte. Das war fürchterlich. Jean war über zwanzig und hatte noch nie jemanden erlebt, der ihm auf eine vertraute, liebevolle Art nahe war? Sie schluckte. „Streck mal deine Hand aus, mit der Handinnenfläche nach oben“, sagte Laila, als sie ihrer Stimme wieder zutraute, fest zu klingen. Sie machte vor, was sie meinte und zögerlich folgte er ihrem Beispiel. „Dann nimm deine andere Hand und streiche ganz zart mit den Fingerkuppen über deine Haut deiner Handinnenfläche.“ Zweifelnd runzelte Jean die Stirn und sah ihr zu, wie sie ihm das vormachte. Zögernd tat er es ihr gleich und sein kritisches Sezieren des Ganzen nahm für einen Moment sogar noch zu. Als er seine Hände wieder auf seine Oberschenkel senkte, rieb er sie für einen Moment an seiner Hose, als wolle er das Gefühl loswerden, das ihm seine Nervenbahnen sicherlich gesendet hatten. „Es kribbelt“, murmelte er und beinahe hatte der kurze Satz etwas von empörtem Verrat. „Ist es ein gutes Kribbeln?“ Jean brummte. „Fühlt sich das auf dem ganzen Körper dann so an?“ Laila schmunzelte. „Das kommt darauf an. Manche Stellen sind nicht ganz so empfindsam, manche sind viel empfindsamer. Und manche sorgen für Erregung. Man kann aber sagen, dass die Berührung von einem anderen Menschen sich immer anders anfühlt als die eigene. Spannender.“ „Spannender?“ Zweifelnd sah Jean zu ihr und Laila grinste, zuckte mit den Schultern. „Finde ich zumindest.“ Er verfiel wieder in sein Schweigen und sie schwieg in Eintracht mit ihm. ~~**~~ Nervös schloss Jean die Tür auf und trat zur Seite, damit sein Kapitän an ihm vorbei in das Apartment humpeln konnte. Er wartete, bis der andere Junge sich unter Aufstöhnen die Schuhe ausgezogen hatte, bis er ihm nachfolgte und die Tür hinter sich schloss. Sein Kapitän war verletzt, gefoult durch den gegnerischen Dealer. Ein geprellter Fußknöchel und eine leichte Gehirnerschütterung, laut Doktor Chandler genug, um ihn für die nächste Woche auf die Bank zu verbannen. Der Herr hätte niemanden mit solch minderen Verletzungen pausieren lassen, doch hier war das anders. Jean hatte sich während der langen, acht Stunden ihrer Rückfahrt desöfteren dabei ertappt, genau das zu verdammen, in einer Gedankenspirale, die sich um ihren viel zu knappen Sieg, Knox‘ in seinen Augen leichte Verletzungen und die in ihn selbst hineingeprügelten Trainingsmoralvorstellungen der Ravens drehte. Angefeuert wurde sie durch die außergewöhnliche Schweigsamkeit seines Kapitäns, der eine der Bänke ihres Busses für sich in Beschlag genommen hatte und versuchte, zu schlafen, während der Rest seines Teams die Stunden der Nacht dazu nutzten, das übrige Adrenalin abzubauen. Jean hatte ihn keine der acht Stunden aus den Augen gelassen, gefangen zwischen Kritik an seinem Team und seinem Kapitän, die direkt unter der Oberfläche schlummerte, und Anspannung darüber, wie Knox sich ihm gegenüber verhalten würde. Immer wieder hatte er sich gesagt, dass Knox nicht Riko war. Er würde ihn nicht dafür bestrafen, dass er verletzt worden war, oder? Wenn er Knox selbst glaubte, dann nicht, doch jahrelange, gewaltsame Indoktrinierung hielten sein logisches Denken davon ab, seine Erinnerungen zurück zu drängen. Der blonde Junge warf seine Sporttasche in die Ecke und Jean zuckte bei dem dumpfen Geräusch unbewusst zusammen. Erschrocken sah er hoch, doch Knox kam nicht auf ihn zu und schlug ihn, wie es Riko mehrfach getan hatte. Nein, sein Kapitän ließ sich mit einem Aufstöhnen langsam auf das Bett sinken und vergrub seinen Kopf unter seinem angewinkelten Arm. Jean machte sich bewusst, dass es früh am Morgen war und erst jetzt spürte auch er, wie die Erschöpfung an ihm zog. Doch schlafen kam nicht in Frage, so blieb Jean am Türrahmen stehen und beobachtete seinen Kapitän. Es dauerte, bis Knox seinen Arm senkte und sich blinzelnd aufrichtete. Er wischte sich den Schlaf aus den Augen und sah entschuldigend zu ihm hoch. „Sorry…ich musste mich nur kurz ausstrecken, mein Kopf bringt mich um. Sollen wir?“ Jean ballte seine Hände zu Fäusten. „Sollen wir?“, echote er unsicher. „Ins Bad, deine Haare waschen.“ Ein einfacher Satz, der doch so schwer an Bedeutung war, dass er Jean hilflos schlucken ließ. Er hatte Angst, dass sein Kapitän ihn verletzten würde, weil er selbst verletzt war. Doch Knox lag nichts ferner als das. Im Gegenteil. Müde, erschöpft und verletzt wie er war, dachte er nur daran, was mit seinem Backliner war, der sich nicht selbst die Haare waschen konnte. Immer noch nicht, weil er zu schwach war, sich gegen seine Erinnerungen durchzusetzen. Jean wusste nicht genau, wie er das Gefühl in seinem Inneren benennen sollte, das in seiner Brust brannte und ihm für einen Moment die Luft zum Atmen nahm. Er wollte lächeln, brachte aber nicht Kraft dazu auf. Im Gegensatz dazu brannten seine Augen und mit Schrecken erkannte Jean, dass er kurz davor war, dass ihm Tränen in die Augen traten. Warum, das wusste er nicht…das letzte Mal, als er wegen einer solch unbedeutenden Kleinigkeit geweint hatte, musste Jahre her sein. „Nein“, presste er hervor. Es war weniger ein Nein zu Knox‘ Worten, denn eher ein Nein zu den dummen Tränen, die er unverständlicherweise immer noch weinen konnte, nach all den Jahren. Die Trojans kitzelten das aus ihm heraus…mehr noch. Sein Kapitän tat das. „Oh…entschuldige. Ich dachte, du würdest nach dem Spiel noch deine Haare waschen wollen, schließlich ist das ja schon ein paar Stunden her. Wenn du es alleine machen möchtest, dann will ich dich natürlich nicht dazu überreden.“ Jean wollte nichts lieber als das. Wenn er es sich ehrlich eingestand, so war die reine Notwendigkeit, dass Knox ihm half, in den letzten Tagen und Wochen zu etwas geworden, das Jean vorsichtig als Gewohnheit bezeichnete. In dem Wissen, dass es irgendwann aufhören musste, besser früher als später. Knox hatte diesen Allan, mit dem er intime Berührungen austauschte. Da war alles, was Jean verlangte oder erbat, eigentlich zuviel. „Danke, dass du dich dazu bereit erklärst“, sagte Jean und Knox lächelte müde. „Ich habe es dir versprochen.“ „Aber du bist verletzt.“ Knox hob die Augenbraue. „Ich habe noch zwei gesunde Arme. Das reicht aus, um dir die Haare zu waschen.“ „Du hast Kopfschmerzen und bist müde.“ „Schlafen kann ich auch danach. Der Kopfschmerz hält sich in Grenzen.“ „Nein.“ Dieses Mal bezog Jean es tatsächlich auf das Haarewaschen. Er verschränkte seine Arme und schüttelte den Kopf. „Nachdem du ausgeschlafen hast“, sagte er bestimmt und für einen Moment fochten sie ein stummes Blickduell aus, dem sich Knox schließlich ergab. Seufzend ließ er seine Schultern zusammensacken und nickte. Jean runzelte die Stirn. Seinen Kapitän ohne eine typische Fröhlichkeit und sein strahlendes Lächeln zu sehen, hinterließ ein bitteres Gefühl in ihm. Er wollte nicht, dass es ihm schlecht ging, das hatte Knox nicht verdient. Ebenso kritisch musterte Jean die Tür zum Badezimmer, die leicht angelehnt war. Leise Zweifel überkamen ihn bei der Idee, die sich nun in ihm formte. Was, wenn das, was er tun wollte, unerwünscht war? Was, wenn Knox es dann immer wieder von ihm verlangte? Letzteres würde sein Kapitän nicht tun und wenn doch, so sagte Jean es sich, hatte er jedes Recht dazu, eben weil Knox nicht zögerte, ihm jeden zweiten Tag die Haare zu waschen, obwohl es nicht seine Aufgabe war. Trotz seiner nicht gerade leisen Bedenken setzte Jean sich in Bewegung und ging ins Badezimmer. Wieder verschwendete er ein paar Sekunden, in denen er einfach in den Becher starrte, der vor ihm stand, bevor er sich mit einem ungelenken Ruck nach vorne bewegte. Er nahm Knox‘ bunte Zahnbürste auf und verteilte Zahnpasta auf die Borsten. Damit kam er zurück und hielt sie seinem Kapitän vorsichtig hin. Mit großen, blauen Augen starrte Knox zu ihm hoch, dann auf die Zahnbürste, dann wieder zu ihm. Der Ansatz des vermissten Strahlens kehrte zurück und ergoss sich in all seiner Pracht über ihn. Jean drehte sich mit einem nichtssagenden Laut weg, als Knox ein überraschtes und begeistertes „Dankeschön!“ hervorbrachte. Da holte er lieber schweigend die Wasserflasche, die sein Kapitän immer neben seinem Bett brauchte und stellte sie ihm ebenfalls hin, partout den Blickkontakt mit dem anderen Jungen meidend. ~~**~~ „Lässt du es mich auch versuchen?“ Überrascht sah Jeremy von seiner momentanen Tätigkeit auf und begegnete dem vorsichtigen Ausdruck auf Jeans Gesicht. Langsam nahm er seine Hände zurück und lächelte sanft, wie er es immer tat, wenn er Jean so nahe war, dass er ihn mit einer Bewegung verschrecken konnte. Eben jenes Lächeln hatte Jean nachweislich nachweislich beruhigt und das gemeinsame Haarewaschen erträglicher für ihn gemacht. Dass der andere Junge seit ein paar Tagen dazu in der Lage war, sich zu entspannen, während Jeremy ihm den Schaum aus den Strähnen wusch, wertete er als Fortschritt und freute sich, dass er Jean zumindest damit helfen konnte, seine fürchterliche Vergangenheit ein Stück weit erträglicher machen zu können. „Aber klar.“ Abwartend verharrte Jeremy und ließ ihm den Raum und die Zeit, das Shampoo selbst in seinen Haaren zu verteilen. Dass es ein Problem für Jean war, erkannte Jeremy weniger an den zitternden Händen, mehr jedoch an der angespannt zusammengepressten Kieferpartie, die die schmalen Lippen eisern verschloss, als dieser versuchte, seine Finger auf seine Kopfhaut zu bringen und es schließlich aufgab. Frustriert starrte er zur Seite, den Blick auf Jeremy meidend. Einen Moment lang gab er Jean Zeit, sich zu fangen. „Wie wäre es, wenn wir das zusammenmachen?“, schlug er dann vor, langsam und neutral genug. Zweifelnd huschten die grauen Augen über sein Gesicht, bevor sie wieder dahin zurückkehrten, die eigenen Hände zu durchbohren. „Wie soll das gehen?“ „Ich lege meine Hände wieder auf deinen Kopf und du legst deine Finger auf meine. Gemeinsam waschen wir dann deine Haare.“ Jean schnaubte. „Das ist kindisch und lächerlich. Ich sollte überhaupt kein Problem damit haben, mir selbst die Haare zu waschen. Geschweige denn, dass dich dafür missbrauche, dass du sie mir wäschst“, grollte er und Jeremy seufzte. „Nichts davon ist lächerlich oder kindisch, Jean. Du hast ein Problem damit und wir werden dieses Problem gemeinsam lösen. Du missbrauchst mich dafür nicht.“ Jean grollte so angewidert, dass Jeremy einen minimalen Schritt zurücktrat. Er erschreckte sich immer wieder vor der Wut und dem Zorn, insbesondere, wenn beides sich ungefiltert auf ihn projizierte, obwohl er wusste, dass Jean ihm nichts tun würde, das hatte der andere Junge bereits bewiesen. Die Erkenntnis dessen sah er nun auch in den grauen Augen des sitzenden Jungen und Jeans Schultern sackten zusammen. Nunmehr hilflos starrte er auf seine Finger. „Diese Berührung…sie ist so intim, dass du sie für diesen Allan aufheben solltest“, sagte er schließlich leise und Jeremy blinzelte irritiert. „Für Allan? Was hat er denn damit zu tun?“ „Du bist doch mit ihm intim. Und das ist eine eben solche Berührung, die du an mich verschwendest. Wie du auch Zeit an mich verschwendest, die du mit ihm verbringen kannst.“ Viel zu langsam begriff Jeremy, was Jean meinte und noch viel langsamer reagierte er darauf. Viel zu geschockt war er von Jeans Konzept, was das Recht auf Berührungen anging. Betont langsam atmete Jeremy aus und brachte etwas Abstand zwischen sie beide. Unweit von Jean ließ er sich auf dem angenehm kühlen Badezimmerboden nieder, den er mal wieder saugen sollte, schließlich war er ja an der Reihe. Eingedenk seines verletzten Knöchels schlug er vorsichtig die Beine zum Schneidersitz unter und bettete seine Arme auf seine nackten Unterschenkel. „Hey, Jean?“, fragte er und sah auf die niedergeschlagenen Augen, versuchte sie, zu sich zu locken. Der andere Junge tat ihm den Gefallen und Jeremy lächelte. „Ich verschwende keine Berührungen an dich, Jean. Ich mache es auch nicht gegen meinen Willen und ich habe keine Sekunde das Gefühl, dass ich dadurch gemeinsame Zeit mit Allan verpasse. Ich mache das gerne, weil ich dir etwas Gutes tun möchte und weil ich sehe, wie es dich entspannt. Und du hast weiß Gott wirklich verdient, entspannt zu sein!“ Seine Worte ergaben in diesen misstrauischen, französischen Ohren keinen Sinn, das sah Jeremy nur zu deutlich. Doch Jean kämpfte damit und mit sich und zum Schluss schloss er resignierend die Augen. „Ich bin eine Last“, murmelte er und es zerbrach Jeremy beinahe das Herz. Jean war keine Last und dass er sich so sah, sagte viel über das aus, was ihm in Evermore anscheinend wieder und wieder eingefoltert worden war. Seine Worte waren Sinnbilder für seine eigene, vermutete Nutzlosigkeit und Jeremy konnte und wollte dem nicht zustimmen. Anstelle einer Antwort, schnippte er ihm daher leicht mit seinen Fingern gegen die rechte Kniescheibe, die ausnahmsweise frei lag, weil selbst Jean es heute nicht aushielt, eine lange Hose zu tragen und sich deswegen für eine kurze entschieden hatte, die seine nassen Haare bereits vollgetropft hatte. Überrascht fuhr Jeans Kopf hoch und Jeremy hob herausfordernd die Augenbrauen. „Du bist keine Last, Jean Moreau. Du bist ein Mensch, der es verdient hat, gut zu leben. Und wenn ich dazu beitragen kann, dass du in der Lage bist, dein Leben zu leben, dann mache ich das gerne.“ Oh wie groß waren immer noch die Zweifel, die er auf dem von Narben gezeichneten Gesicht erkannte. „Wieso solltest du das tun?“ „Einfach weil.“ „Niemand tut etwas einfach weil.“ „Ich mag dich.“ „Du magst auch Eis.“ „Der Vergleich hinkt.“ Jean gab auf und schnaubte, doch Jeremy erkannte den Anflug eines Lächelns auf den Lippen und eben das machte ihn unanständig glücklich. Sein Backliner bückte sich und haschte nach der Shampooflasche. Nachdenklich drehte er sie in seinen Händen und atmete dann tief durch. Graue Augen suchten Jeremys blaue Gegenstücke und in ihnen sah der blonde Junge die gleiche Entschlossenheit, wie wenn Jean etwas auf dem Feld missfiel und er diesen Fehler ausmerzen wollte. „Nächster Versuch?“, fragte Jeremy und Jean nickte. „Wie wäre es, wenn ich mir das Shampoo auf die Hände gebe und du führst sie mit seinen über deinen Kopf? Dann hast du immer noch meine dazwischen, kannst aber bestimmen, wo sie hingehen.“ Jean bedachte das und nickte schließlich. Jeremy erhob sich und streckte ihm seine Hände entgegen. Jean verteilte eine kleine Menge Shampoo darauf und sanft legte er seine Finger auf die nassen Haare. Erst zögernd, dann mit einer Entschlossenheit, für die Jeremy ihn bewunderte, hob Jean seine Hände und legte sie auf seine. Es war etwas umständlich und sicherlich auch ein komischer Anblick, aber gemeinsam schafften sie es. Jean, wie er ihn führte, Jeremy, der sich führen ließ und das Shampoo nach und nach auf der Haut verteilte und es einrieb. „Deine Haare sind schon so lang geworden, dass sie die verletzten Stellen bedecken“, murmelte Jeremy, während er schlussendlich den Schaum ausspülte. Jean hatte den Kopf leicht nach hinten gekippt und konnte ihm so prüfend wie auch kritisch in die Augen sehen. „Ist das schlimm? Muss ich sie schneiden lassen?“ „Möchtest du es denn?“ Kaum merklich schüttelte Jean den Kopf. „Nein. Ich möchte nicht, dass jemand außer dir meinen Kopf anfasst.“ „Und ich bin ein fürchterlicher Friseur.“ Jean ließ seine Augen vielsagend über die wilde, abstehende Mähne schweifen und Jeremy schnaubte. „Kein Wort, du stilverwöhnter Franzose.“ „Meine Lippen sind versiegelt.“ „Ich mag den Mop.“ „Und der Mop mag die Steckdose.“ „Jean!“ ~~**~~ „Was hältst du von dem Drill, Knox?“, fragte ihr Coach und Jeremy ließ seinen Blick über das übende Team schweifen, das unter dem von Jean vorgeschlagenen Drill ächzte und stöhnte. Es ging darum, Präzision zu schulen und den richtigen Zeitpunkt bei Passen zu erwischen. Es handelte sich um eine Mischung aus Sprint und Checks am Rande der Legalität, deren Intensität sie schon heruntergefahren hatten. Das war der Kompromiss gewesen, den Jean eingegangen war, nachdem er am Sonntag nach dem Spiel gegen die Longhorns seinen Teil der Kritik Jeremy gegenüber geäußert hatte. Jean hatte lange mit sich gehadert und war schlussendlich mit einem frustrierten Laut auf ihn zugetreten. Noch bevor er sich hatte wappnen können, hatte der ehemalige Raven jeden Kritikpunkt am Spiel der USC Trojans vor ihm ausgebreitet und ihn zum Schluss unsicher gemustert, wie er es immer tat, wenn er sich kritisch äußerte. Jeremy hatte ihm versprochen, es mit ihrem Coach zu besprechen und daraus war ein neuer Drill entstanden, der ihre Mannschaft gerade an den Rand der Verzweiflung und Erschöpfung brachte. Insbesondere Logan, dessen Trainingspartner Jean war und der nun einen weiteren, erfolglosen Versuch startete, dem Check des Backliners zu entkommen und derweil den Ball durch geschicktes Abprallen von der Bande wieder aufzunehmen. Krachend landete er auf dem Boden. Schlitternd entglitt ihm sein Schläger und blieb unweit von den Beiden auf dem Stadionboden liegen. Jeremy setzte sich humpelnd in Bewegung, besorgt darüber, dass Logan sich etwas getan hatte, doch der Defensive Dealer rappelte sich schneller auf, als Jeremy nach ihm rufen konnte. Er wollte erleichtert ausatmen, als Logan Jean mit wutverzerrtem Gesicht zurückstieß. „Was soll das, Arschloch?“, fauchte er und setzte noch einmal nach. „Geht’s noch ein bisschen brutaler? Wir sind hier nicht bei deinen heißgeliebten Ravens, mit denen du andere Spieler terrorisieren kannst!“ Jean schnaubte verächtlich und Jeremy schluckte anhand der absoluten Arroganz, die er auf dem Gesicht des Backliners sah. „Gerade du solltest anstelle rumzuweinen deine Beinarbeit, Kondition und Zielfähigkeit präzisieren. Dein Spiel ist unterirdisch und eine Belastung für die Mannschaft.“ Mittlerweile zogen die Beiden mehr und mehr die Aufmerksamkeit des restlichen Teams auf sich und Jeremy wartete angespannt, ob sich die Situation weder beruhigen würde. Tat sie nicht, denn Logan stieß Jean ein weiteres Mal nach hinten und dieses Mal parierte der ehemalige Raven mit einem derart verächtlichem Grinsen, dass es Jeremy kalt den Rücken hinunterlief. Logan selbst machte das nur wütender. „Du bist so ein Gott verdammtes Arschloch, weißt du das? Natürlich reicht es dir nicht, Spieler ins Krankenhaus zu prügeln, Wunderkind Nummer drei. Es geht ums Gewinnen und nur darum. Dass dir auf dem Spielfeld andere Menschen gegenüberstehen, das hat dich von je her nicht interessiert, du Scheiß Wichser!“ Heiß und kalt lief es Jeremy bei diesen Vorwürfen den Rücken hinunter. Logan war letztes Jahr nach einem Spiel gegen die Ravens ins Krankenhaus gekommen und hatte dort die nächsten paar Tage mit einer mittelschweren Gehirnerschütterung verbracht. Aber das war doch nicht… Perplex starrte er Jean an. War es Jean gewesen? Er war gegen die Bande gestoßen worden und hatte Kontakt mit dem Knie eines gegnerischen Spielers gemacht, was die Gehirnerschütterung ausgelöst hatte. Bis heute hatte er verächtlich abgewunken, wenn das Thema darauf kam. Ravens. Alle gleich. Alles Hurensöhne. Das wiederholte er immer und immer wieder. Jeremy war nahe genug, um zu sehen, wie sich Jeans Finger um seinen Schläger krampften. Er war bis auf das Äußerste angespannt und Jeremy war sich nicht sicher, ob er Logan nicht gleich angreifen würde. Nicht, dass seine Worte nicht mindestens genauso schlimm waren. „Die Schuld an deiner groben Unfähigkeit trägst nur du, Mayson. Sie macht dich zum leichten Opfer, schon immer. Ein Bauer auf dem Spielfeld, der leicht auszuradieren ist. Das ist eines starken Teams nicht würdig.“ Jeremy setzte sich humpelnd in Bewegung, doch Coach Rhemann überholte ihn mit Leichtigkeit. „Schluss! Auseinander! Sofort! Mayson, Moreau, es reicht!“ Logan brauchte etwas länger, um sich von seinem Vorhaben zu lösen, Jean zu schlagen, doch Jean senkte beinahe sofort den Kopf und trat einen Schritt zurück, seine Haltung angespannt und offen gleichzeitig. Damit ihr Coach ihn leichter bestrafen könnte, erkannte Jeremy mit Horror. Jean hatte seit seiner Ankunft Angst vor Coach Rhemann und das lag nur zum geringen Teil an seiner großen, breitschultrigen Erscheinung. Es lag an seinem Status als Trainer und als in Jeans Augen unangefochtener Besitzer dieses Teams. Jean ordnete sich ihm immer unter, stetig unsicher und auf der Hut in seiner Gegenwart. Da schlug die Lautstärke ihres wütenden Trainers natürlich in genau die gleiche Kerbe. Ebenso wie dessen Grollen. „Moreau, Mayson, Knox, ihr kommt mit in mein Büro.“ Er drehte sich zum Rest des Teams. „Für den Rest des Teams gibt es keinen Grund, weiter herumzustehen und zu starren. Die Show ist vorbei, Leute! Noch fünf Abläufe, dann werden Runden gelaufen, bis das Training vorbei ist.“ Jeremy versuchte, einen Blick in Logans und Jeans Augen zu erhaschen. Logan erwiderte seine Musterung wütend, wenn nicht sogar hasserfüllt, Jean ging an ihm vorbei, ohne auch nur wirklich Notiz von ihm zu nehmen und folgte Rhemann mit angespannten Schultern und zu Biden gesenktem Blick. Jeremy humpelte ihnen langsam und mit sorgenvollem Ausdruck hinterher. ~~**~~ Jean hatte Angst. Er war zu weit gegangen, das sah er jetzt klar und deutlich. Dummerweise erst jetzt, nachdem ihr Trainer sie mit Gewalt auseinandergezogen hatte, seine erboste Stimme eine Landkarte aus sicher kommender Gewalt. Seine eigene Kritik an Mayson war berechtigt, der Defensive Dealer war nachlässig und einer der Schwachpunkte der Mannschaft. Er war ehrlich gewesen in diesem Punkt und hatte dabei vergessen, dass die Ehrlichkeit, die von ihm erwünscht war, immer Grenzen hatte. Immer. Grenzen, die er nicht kannte und die ihm nun aufgezeigt werden würden. Jean war kalt vor Angst, trotz der hohen, heißen Temperaturen, die Los Angeles seit Tagen schon im Griff hielten. Er fröstelte und auf seinen Armen konnte er eine Gänsehaut erkennen, die nichts mit derjenigen zu tun hatte, die er nach Knox‘ Hilfe beim Haarewaschen auf seinen Armen gesehen hatte. Ohne den Abstand zu ändern folgte Jean Mayson und seinem Trainer in dessen Büro und machte sich darauf gefasst, für seine Unverschämtheit bestraft zu werden. Unschlüssig blieb er im Eingang stehen, nicht sicher, ob es gewünscht war, dass er sich setzte. „Setz dich, Moreau, das ist keine Stehparty“, schnarrte ihr Coach und Jean suchte mit seinen gen Boden gerichteten Augen nach einem freien Platz. Er ließ einen Stuhl zwischen sich und Mayson frei, der nun durch Knox belegt wurde, nachdem der Kapitän hinter ihnen den Raum betrat und die Tür schloss. Jean schluckte. Er kannte das. Der Herr hatte auch immer die Tür geschlossen, kurz bevor er ihn bestraft hatte. Das würde jetzt genauso sein und mit drei weiteren Personen im Raum war er sicherlich nicht in der Lage, sich richtig zu wehren. Wenn er jemals den Mut dazu haben würde, sich überhaupt zur Wehr zu setzen. Jean ballte die Hände zu Fäusten, als er merkte, in welche Spirale seine Gedanken abglitten und wie sehr das helle Büro von Coach Rhemann zu dem dunklen Gegenstück des Herrn wurde, als sich die Erinnerungen übereinander schoben. Er wusste, dass Knox ihm nichts tun würde. Er wusste, dass sein Kapitän ihn nicht bisher angelogen hatte und nun plötzlich zu einem Monster wurde. Er wusste das. Mayson und Coach Rhemann hingegen kannte er nicht. Er mied ihren Trainer, wo es nur ging und den anderen Jungen kannte er nur als Valentines Freund. Sie beide hatten ihn im Keller gefunden und so Knox auf seine Spur gebracht. Er hatte ihnen zu verdanken, dass er schlussendlich den Mut gefunden hatte, in seinem Bett zu schlafen. Doch das hatte er sicherlich mit seinem Verhalten von gerade wieder wett gemacht, so war die Frage durchaus valide, wie die Beiden ihn bestrafen würden. Denn dass Mayson nichts Anderes fordern würde, wusste Jean. Da war er sich zu hundert Prozent sicher. „Also?“, verlangte ihr Trainer nach einer Erklärung und Jean presste seine Lippen aufeinander. Er würde nicht noch mehr sagen, was ihn ins Verderben führen würde. Vielleicht würde Mayson auch gnädiger gestimmt sein, wenn er nichts sagte und ihm seine Version ließ. „Moreau hat Gefallen daran gefunden, mich am Rand der Legalität zu checken und damit erneut Verletzungen zu riskieren“, erläuterte Mayson den Ursprung dessen und Jean konnte ihm da nur beipflichten. „Seine Kritik ist weit davon entfernt, konstruktiv zu sein. Das hat mit Fortschritt nichts mehr zu tun, sondern ist reine Raven-Arroganz.“ Coach Rhemann schnaufte und durch das Knirschen des Schreibtischstuhls hörte Jean, dass ihr Trainer sich ihm zuwandte. „Moreau? Deine Version der Dinge?“ Wenn er die Stimmfärbung analysierte, dann kam Jean zu dem Schluss, dass da immer noch Wut mitschwang, aber auch Beherrschung. Noch würde Rhemann also nicht zu Gewalt greifen. Jean räusperte sich trocken. „Mayson hat Recht“, sagte er der Einfachheit halber. Zustimmung würde vielleicht weniger Bestrafung bedeuten. Hoffentlich. „Das ist keine Version“, brummte Rhemann und Jean zuckte hilflos zusammen. „Also, was ist da passiert?“ Bevor er antworten konnte, sah er aus seinem eingeschränkten Blickwinkel, wie Knox sich ihm zuwandte. „Jean, es ist okay. Du kannst ehrlich sein.“ Nein, konnte er nicht. Das führte nur zu Problemen. Das führte ihn in das Büro seines Trainers. „Wir haben geübt. Ich habe ihn gecheckt, er ist gefallen. Ich habe Kritik an ihm geübt und mich im Ton vergriffen“, zählte Jean auf, was passiert war und verharrte. Er würde auch sagen, dass es ihm leid tat, aber noch nicht jetzt. Er musste dem Coach erst die Gelegenheit geben, zuzuschlagen oder ihn anderweitig zu strafen. Wenn Rhemann so tickte wie der Herr. Das Problem war, Jean wusste es nicht. Mayson schnaubte verächtlich. „Du hast mich zu Boden gestoßen Moreau. Fehlt nur noch, dass du mich gegen die Bande gecheckt und beim Abprallen dein Knie in meine Schläfe gebohrt hättest.“ Irritiert runzelte Jean die Stirn. „Das habe ich nicht getan“, erwiderte er leise, probeweise, ob sein Widerspruch auch überhaupt erlaubt war. Ihr Coach sagte nichts, als ging er davon aus, dass es ihm gestattet war, etwas zu sagen. „Heute nicht, nein.“ Der Hass, der in Maysons Worten mitschwang, überraschte Jean nicht. Hass hatte er über die vergangenen Jahre zur Genüge kennengelernt, schließlich war er dazu da gewesen, gehasst zu werden. Was ihn irritierte, waren die Worte des Jungen, die implizierten, dass er es vorher getan hatte. Nur konnte sich Jean nicht daran erinnern. War es während ihrer Spiele gegeneinander gewesen? Oder beim Training? Mayson war schon wütend auf ihn gewesen, als er hier angekommen war. Also musste es vorher gewesen sein. „Ich weiß nicht, wann“, gestand er schließlich ein und wagte einen Blick zur Seite, auf Maysons perplexes Gesicht. „Du weißt nicht, wann?“, echote dieser ungläubig und Jean nickte leicht. „Du Arschloch!“ „Mayson, Ton!“, grollte Rhemann und Jean zuckte zusammen. Er verschränkte die Finger ineinander, bis sie schmerzten und schüttelte den Kopf. „Ich weiß es wirklich nicht“, sagte er zum Boden und Mayson zischte. „Dann lass mich deinem ach so bruchstückhaften Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Letztes Jahr hattet ihr mich auf dem Kieker bei unserem ersten Spiel gegen euch. Ich stand euren preisgekrönten Strikern im Weg, also hat mich dein ach so verehrenswerter Kapitän gegen die Bande gecheckt und du hast mir dein Knie in die Schläfe getrieben. Natürlich außerhalb der Sichtweite des Schiedsrichters. Du hast mich ins Krankenhaus gecheckt, Arschloch, und das mit Absicht. Raventaktik. Und die willst du jetzt auch hier einführen? Kannst du vergessen, du wirst mich nicht anrühren.“ Jean hörte genauestens zu, auch wenn sein Kopf sich bereits bei den ersten Vorwürfen zu drehen begann. Er glaubte Mayson, dass es so passiert war, schließlich war das ein Vorgehen, das Riko ihm wieder und wieder eingeprügelt hatte um unliebsame Spieler loszuwerden. Er konnte sich nur nicht daran erinnern, die Taktik letztes Jahr angewendet zu haben. Er erinnerte sich noch nicht einmal an das Spiel gegen die Trojans. Jean grub seine Nägel in die Handinnenflächen. Konnte er diese Schwäche zugeben? Sollte er es? „Jean?“, fragte Knox sanft und seine Augen fuhren hoch. Hilfesuchend maßen sie das besorgte Gesicht seines Kapitäns, bevor sie sich auf Mayson richteten. Er öffnete die Lippen und ließ die Worte herausströmen, bevor er sie aufhalten konnte. Er wollte nicht auch gar nicht aufhalten, stellte er fest. „Ich erinnere mich nicht mehr daran. Ich weiß, dass es eine Taktik war, die Riko und ich“, er würgte bei der Nennung seines ehemaligen Kapitäns mit sich selbst in einem Satz. „…öfter angewandt haben, wenn ein Spieler unliebsam geworden war. Er hat es von mir verlangt. Aber ich erinnere mich nicht mehr daran und ich erinnere mich auch nicht mehr daran, ob du es warst.“ Woran er sich erinnerte, waren die Schmerzen, mit denen er zu kämpfen gehabt hatte. Riko hatte ihn in dem Hotelzimmer, in dem sie die Nacht vor dem Spiel verbracht hatten, geschlagen und die Haut seiner Fußsohlen mit einem Feuerzeug verbrannt. Er hatte ihn aufgeschnitten, damit er nicht vergaß, wem er gehörte und dass ihm selbst in einem Hotel niemand helfen würde. Jean war derart neben sich gewesen, dass er nur anhand des Aufdrucks auf der Seifenpackung gewusst hatte, wo sie waren und gegen wen sie spielen würden. Alles Weitere war in einer Kakophonie aus Schmerzen untergegangen. „Und dadurch soll ich mich besser fühlen?“ Jean schüttelte schweigend den Kopf. „Was dann?“ Hilflos schloss er die Augen. Nichts und dann. Er wusste nicht, was er nun tun sollte. Bislang war es ihm egal gewesen, wen er verletzt hatte, weil eine Verweigerung von Rikos Befehlen bedeutet hätte, dass ihm noch größerer Schmerz zugefügt werden würde. Es war wichtig gewesen, dass er eine Strafe vermied oder minderte. Jean schluckte. Er hatte gelernt, auf diese brutale Art und Weise Exy zu spielen und ein Teil in ihm hatte in hasserfüllten Momenten jeden einzelnen Spieler, der auf dem Feld stand, dafür bestrafen wollen, dass sie diesen Sport ausübten. Er hatte sie alle zerfleischen wollen für die Freude, die sie empfanden, wo er doch nur litt und wo er gezwungen war, diesen Sport auszuüben. Er hatte jeden und alles gehasst und ja, es hatte ihm Befriedigung verschafft, andere leiden zu sehen in unbeherrschten Momenten, blind und tollwütig wie ein Tier. Doch nichts davon erlaubte Jean sich hier in Los Angeles, auch wenn das durch die Abwesenheit von Zwängen und die Abwesenheit eines Plans, wie es in der Zukunft für ihn weitergehen sollte, fürchterlich erschwert wurde. Er wusste nicht mehr, wie er sich verhalten sollte und in welche Richtung er gehen sollte. Er hatte Orientierungspunkte, ja. Knox war einer. Die Anweisungen seines Trainers waren welche. Die Freundlichkeiten seines Teams waren kleine Laternen am Wegesrand. Und dennoch… Die Weite, die vor ihm lag, war erstickend und damit kamen die Gefühle, die ihn überfallartig überschwemmten. Positive wie negative. Unpassende, wie jetzt gerade. „Ich weiß es nicht“, gestand er hilflos ein und sah hoch, wagte den Blick in Rhemanns Gesicht, auf dem keine Wut stand. Überrascht blinzelte er. Da war Bedauern. Da war Schmerz, den er nicht entziffern konnte. „Möchtest du Mayson etwas von deiner Zeit in Evermore erzählen?“, fragte der Hüne von einem Mann und Jean schluckte. Natürlich wusste Rhemann durch den Trainer der Foxes und vermutlich auch durch Knox, was ihm widerfahren war. „Vielleicht würde es ihm helfen, wenn du ihm erzählst, warum du dich nicht mehr daran erinnerst.“ Es brauchte all seinen Mut, doch Jean schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht“, erwiderte er beinahe unhörbar und presste seine Schenkel zusammen. Er konnte wirklich nicht. Er wollte nicht erzählen, was Riko ihm angetan hatte. Wirklich nicht. Oder von seinen dunklen Emotionen. Er brachte die Worte nicht über die Lippen. „Das ist okay.“ Sein Kopf schnellte so abrupt in die Höhe, dass seine Halswirbelsäule knackte. Zunächst glaubte er, sich verhört zu haben. Seine Weigerung war okay? Sein Trainer akzeptierte die Weigerung, ohne ihm Anderes zu befehlen? Das war ein Konzept, das für Jean so ungeheuerlich wie unwahrscheinlich war. „Okay?“, echote er und Rhemann nickte. „Okay. Allerdings steht da etwas zwischen dir und Mayson im Raum, das ihr aus der Welt schaffen solltet.“ Jean brauchte einen Moment, um zu verstehen, was gemeint war. Er sah Mayson in die wütenden Augen. „Ich werde deine Nähe meiden, wenn du das wünschst“, sagte er vorsichtig und Mayson schüttelte schnaubend den Kopf. Ablehnend verschränkte der Defensive Dealer die Arme. „Ich will, dass du einsiehst, dass deine Mitspieler verletzende Ravenmethoden hier fehl am Platz sind. Ich will, dass du aufhörst, mich zu behandeln, als wäre ich dein Feind.“ Jean zögerte. „Die Drills machen euch besser.“ „Aber nicht, wenn wir einander Gewalt antun.“ „So wie bei der letzten Übung, meinst du?“, vermittelte Knox und Mayson nickte. Jean versuchte sich einen Reim darauf zu machen, welcher Aspekt gemeint war und glaubte, die Lösung gefunden zu haben. „Okay“, imitierte er Coach Rhemann und Mayson starrte ihn an, anscheinend noch auf etwas wartend. Das Krankenhaus, flüsterte es in Jean. Der illegale Check. Das, was in Evermore erwünscht war, war hier anscheinend etwas, für das man sich auch noch nach Monaten entschuldigte. „Es tut mir leid“, sagte Jean den Satz, der ihm Übelkeit verursachte. „Ich bitte um Entschuldigung.“ Da war er, der Zweiklang an Unterordnung, der ihm wieder und wieder eingeprügelt worden war. Er musste sich dafür entschuldigen, versagt zu haben. Er musste sich dafür entschuldigen, nicht gut genug zu sein. Oder ein Mensch sein zu wollen. Er musste sich dafür entschuldigen, leben zu wollen. Oder auch, wie hier, dass er jemanden verletzt hatte. „Entschuldigung angenommen.“ Jean schauderte. Niemals hatten Riko oder der Herr diesen Satz gesagt. Nie war eine seiner Entschuldigungen gut genug gewesen, um akzeptiert zu werden. Doch Mayson, so abweisend seine Worte auch klangen, akzeptierte das, was er zu sagen hatte. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass Jean am Liebsten geflohen wäre. Er starrte wieder auf seine Hände und wartete auf das Urteil ihres Coaches. „Ich möchte, dass ihr in Zukunft über solche Dinge offen und ehrlich sprecht. Mayson, Moreau, ich möchte, dass die Mannschaft ein vertrauensvolles Verhältnis zueinander hat. Wenn ihr einen Mediator braucht, dann wendet euch an Knox oder mich, aber lasst es nicht wieder eskalieren. Verstanden?“ „Ja, Coach“, sagten sein Kapitän und Mayson und Jean nickte schweigend. Rhemann brummte und lehnte sich in seinem abgewetzten Ledersessel zurück. „Gut, dann raus mit euch. Zieht euch um, geht ein Bier trinken, macht irgendetwas. Aber das Training ist für euch heute vorbei.“ Während die anderen beiden Jungen Laute der Freude von sich gaben, kam es Jean wie eine Bestrafung vor. Eine Bestrafung für sein Versagen, ein Mensch zu sein. ~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 29: Überraschungen -------------------------- Jean thematisierte Mayson bei Brian. Es war das erste Gespräch über seine Gefühle, dass er mit dem Mittvierziger führte. In den vergangenen Sitzungen hatte er mit dem Universitätspsychologen über Nichtigkeiten gesprochen. Wie sein Tag war, wie die Kurse für ihn liefen, wie er sich hier an der USC eingefunden hatte, wie er die Stadt fand, ob die Spieler seiner Mannschaft für ihn okay waren… alles, was ungefährlich war und ihm leicht von den Lippen ging. Über mehr wollte er in dem aufgeräumten Büro mit den gemütlichen, abgegriffenen Stoffsesseln nicht sprechen und Brian ließ ihn bislang. Knox hatte ihn darum gebeten, zu Brian zu gehen und mit ihm über die Dinge, die ihn belasteten, zu reden, aber Jean konnte und wollte das, was in ihm schwelte, nicht mit einem Menschen teilen, den er nicht kannte und von der er nicht wusste, was er mit den Informationen machen würde. Natürlich, wie Knox auch hatte Brian ihm versichert, dass alles vertraulich behandelt werden und dass er den Inhalt ihrer Gespräche an niemanden weitergeben würde, doch das hatte der Arzt, der ihn einmal im Jahr in Evermore untersucht hatte, auch gesagt. Nur um dann alles, was Jean ihm erzählt hatte, an den Herrn weiter zu geben. Die Strafe darauf war fürchterlich gewesen und Jean hatte nach zwei Jahren begriffen, dass er den Mund zu halten hatte, wenn er gefragt wurde, wie es ihm ging und woher er die Verletzungen hatte. Das Wissen, dass er hier nicht bestraft werden würde, festigte sich von Tag zu Tag, doch das bedeutete nicht, dass Brian alles, was er mit ihm besprechen würde, nicht an Coach Rhemann oder Doktor Chandler weitergeben würde. Oder an Knox. Und das konnte er sich nicht leisten. Niemand durfte erfahren, was ihm passiert war. Nicht über das jetzt schon bekannte Maß hinaus. Niemand durfte erfahren, wie sehr er schwamm in dem großen Ozean namens Leben ohne ein Ufer in Sicht. Vor allen Dingen Letzteres nicht, denn ansonsten würden sich Knox, Laila und Alvarez wieder derart Sorgen machen, dass seine Freiheit verlor, die er gerade vor ihren Versuchen, ihn zum Leben zu bewegen, besaß. Unsicher rutschte Jean auf dem Sessel hin und her und sah aus dem Fenster, direkt hinaus auf eine der Palmen, die auf der Wiese davor standen. Zwischen ihnen war ein Springbrunnen und das Plätschern des Wassers drang selbst durch das geschlossene Fenster zu ihm. Trotz der sengenden Hitze war es hier schön kühl, denn Brian hatte eine Klimaanlage in seinem Raum, für die Jean sehr dankbar war. Trotzdem lagen seine Hände angespannt auf seinem Schoß und er wog ab, was er wie sagen sollte. „Ich habe jemanden verletzt“, begann er mit dem Offensichtlichen. Das wusste auch schon der Coach. Wenn Brian durch sein Vorpreschen überrascht war, so zeigte er es nicht, sondern hielt aufmerksam seinen Blick. Der Drei-Tage-Bart erinnerte ihn unwillkürlich an den Coach der Foxes, auch wenn Brians ganze Statur anders war. Schmaler, größer, weniger geprägt von dem Leid, das ihn umgab. Wie immer strahlte er eine ruhige Präsenz aus, die ihre Sitzungen nicht ganz so unerträglich machten. „Wie ist das geschehen?“, fragte Brian in seiner ruhigen Stimmfärbung, die Jean wieder und wieder aus seiner Deckung hervorlocken wollte. Nie machte er ihm Vorwürfe, nie kritisierte er ihn. Alleine das machte Jean schon misstrauisch. „Es war während eines Spiels.“ „Also war es unabsichtlich.“ Jean schüttelte den Kopf und fragend hob Brian seine Augenbrauen. Er gab Jean Zeit, sich die Worte zu überlegen, die der Wahrheit am Nächsten kamen, aber nicht zuviel verraten würden. Langsam und stockend gab er das wieder, was Mayson ihm erzählt hatte und selbst, als er zugab, dass er das Knie auf Weisung seines Kapitäns in Richtung Schläfe gezogen hatte, verurteilte ihn der Psychologe nicht. „Wolltest du es tun?“ Diese Frage hatte er sich seit zwei Tagen immer und immer wieder gestellt und war zu einem vorsichtigen Ergebnis gekommen. Jean schüttelte den Kopf. „Ich habe Befehlen gehorcht.“ „Was wäre passiert, wenn du es nicht getan hättest?“ „Dann hätte es eine Strafe gegeben.“ Brian fragte nicht weiter und Jean war froh darum. Er hätte auch keine weiteren Antworten darauf geben können. „Wie fühlst du dich nach der Konfrontation mit Logan?“ Jean brauchte etwas, um darauf eine Antwort zu finden. Er traute seinen Gefühlen nicht, weil er sie nicht klar benennen konnte. „Ich habe mich entschuldigt. Das fühlt sich schlimm an“, nahm er das, was er beziffern konnte und Brian legte fragend den Kopf schief. „Möchtest du das näher erläutern?“ Eigentlich wollte Jean es nicht, doch seit zwei Tagen ließ ihn der eiskalte Griff von Evermore nicht mehr los und bestimmte sowohl die freien Minuten seines Tages als auch die Träume seiner Nacht. Es war, als hätte diese Entschuldigung etwas losgetreten, das er bisher unter Kontrolle gehabt hatte und das jetzt ohne Fesseln in ihm tobte. Etwas, das an dem Wesen riss, das er vorsichtig aus den Ruinen seiner Persönlichkeit aufbaute, und ihn fahrig und nervös machte. Phantomschmerzen und Phantomworte machten ihm das Atmen schwer und er wusste nicht, wie er ihnen entkommen konnte. Also musste er ehrlich sein, oder? „In Evermore war das erforderlich, dabei war es egal, ob es vor oder nach einer Strafe war. Es war ein Zeichen von Respekt und Unterordnung.“ „Also war es nicht freiwillig?“ Jean nickte. „Fühlst du den Druck auch jetzt?“ „Ich fühle das, was damit verbunden war.“ „Kannst du das beschreiben?“ Jean zögerte sehr lange, bevor er den Mut fand zu antworten und hoffte, dass dem Coach bereits bewusst war, was Knox auf seinem Körper gesehen hatte. „Der Herr hat meistens mit seinem Stock zugeschlagen. Riko hat das genommen, was da war. Eine Entschuldigung durfte nicht zu früh erfolgen, denn das galt als respektlos und als aufsässig. Aber auch nicht zu spät. Und seitdem ich mich vor zwei Tagen bei Mayson entschuldigt habe, kommen die Erinnerungen daran immer wieder. Ich habe Schwierigkeiten zu schlafen, ich bin tagsüber unaufmerksam.“ Aufmerksam hörte Brian ihm zu und Jean sah, wie der Psychologe seine Schlüsse daraus zog. Die Frage, welche es waren, stellte sich Jean nicht, dafür waren die Untersuchungen der Ärztin und die sonstigen Informationen zu eindeutig. „Deine Entschuldigung bei Logan, war sie freiwillig?“ Jean zuckte mit den Schultern und sah auf seine Finger. „Es wurde von mir erwartet.“ „Also hat man dich gezwungen?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein. Das nicht. Aber es war sozial adäquat. Das macht man doch so…also normaler Mensch, oder?“ Fragend sah er hoch und bemerkte, dass die letzte Frage zuviel gewesen war. Das Interesse auf Brians Gesicht war etwas gewichen, dass Jean am Ehesten mit Professionalität übersetzte. Er hatte seinen Schweigekodex gebrochen. Jean schluckte. „Ich meinte…“, begann er, wusste aber nicht, wie er den Satz beenden sollte. Wusste auch nicht, was er eigentlich meinte. „Was hättest du in dieser Situation denn lieber getan?“, fragte Brian und überrascht zuckte Jean. „Die Worte nicht gesagt“, gab er dann zu und begriff, als er sie ausgesprochen hatte, wie nachhaltig schmerzhaft es tatsächlich gewesen war, das wiederholen zu müssen, was ihm in Evermore aufgezwungen worden war. „Du hast das Recht, für dich selbst zu entscheiden, was du sagst“, erwiderte Brian ruhig. „Aber ich habe ihn verletzt. Er war im Krankenhaus wegen Riko und mir.“ „Was hättest du ihm gesagt, wenn ihr beiden alleine gewesen wärt?“ Die Antwort darauf war einfacher, also kam sie auch schneller. „Dass es nicht wieder vorkommen wird und dass ich es nicht getan habe, weil ich es wollte. Aber das wäre ihm nicht genug gewesen.“ „Hat er das gesagt?“ „Nein. Aber er ist ein Mensch. Er erwartet das.“ „Du bist auch ein Mensch, du hast auch Gefühle, die du und er berücksichtigen sollten.“ Jean schnaubte verächtlich ob der Naivität, die Brians Worte ausmachte. „Für neun Jahre waren meine Gefühle egal“, erwiderte er unachtsam und wieder sah er, wie der Psychologe sich gedankliche Notizen machte. Jean begriff, was für einen großen Fehler er begangen hatte und schluckte. Abrupt erhob er sich. „Ich…“ mehr bekam er nicht heraus, ehe er sich zur Tür wandte und sich zwei Schritte von dem anderen Mann entfernt hatte. „Nur weil dir für neun Jahre diese Gefühle vorenthalten wurden, hast du trotzdem ein Anrecht darauf, dass sie für den Rest deines Lebens fester Bestandteil deines Seins sind und dass sie positiv sein dürfen.“ Wie einfach es doch war, ihn zum Stehenbleiben zu bringen. „Möchtest du eine Empfehlung, was Logan betrifft?“, fragte Brian weiter. Wollte Jean das? Anscheinend schon, da er jetzt steif nickte. „Du könntest noch einmal mit ihm sprechen. Schildere ihm, was du denkst und was du fühlst. Wenn du etwas über seine Gefühle wissen möchtest, dann frag ihn, was er dabei gefühlt hat und was ihn so wütend macht.“ Jean fuhr herum. Ungläubig starrte er auf Brian hinunter und hob die Hände. „Das kann ich nicht. Gefühle sind Schwäche und werden von Gegnern dazu benutzt, sich einen Vorteil zu verschaffen. Sie werden dazu missbraucht, zu verletzen, zu verhöhnen…zu…“ Abrupt verstummte Jean. Was tat er hier? Er vergaß sich und seine Verpflichtungen wegen einer Nichtigkeit. Wegen dummer Gefühle. Hilflos ballte er seine Hände zu Fäusten. Er sollte gehen. Jetzt. Sofort. Und er sollte nie wiederkommen. Doch warum konnte er sich dann nicht bewegen? Das voreilige Versprechen an Knox konnte es nicht sein. Seine Gesprächigkeit auch nicht. Was dann? „Ist das die Erfahrung, die du gemacht hast?“, fragte Brian ruhig und Jean hätte ihm am Liebsten diese Ruhe aus dem Gesicht geschlagen. „Würde ich es sonst sagen?“, knurrte er und der Mann in seinem Rücken brummte zustimmend. „Möchtest du-“, begann Brian und Jean fuhr herum. „Nein! Nein, ich möchte nicht! Und ich möchte eigentlich gar nicht mit dir sprechen und würde es auch nicht, wenn Knox…“ Wieder verstummte er abrupt, seine Hand vor den Mund gepresst. Was fiel ihm ein, jetzt auch noch seinen Kapitän mit hinein zu ziehen? Er sah zum ersten Mal, dass Brian auch in der Lage war, seine Stirn zu runzeln. „Was hat Jeremy getan?“, fragte er streng nach und Jean schluckte. Ruckartig schüttelte er den Kopf. „Er hat nichts getan. Ich…habe ihm versprochen, dass ich hierhin komme. Damit er keine Angst mehr hat.“ „Wovor sollte er Angst haben?“ Jean grollte. Impulsiv drangen Worte an die Oberfläche seiner Selbstbeherrschung, die seine rationale Seite niemals zugelassen hätte. Er konnte und wollte sie nicht zurückhalten, wollte Brian mit ihnen verletzen und von ihm wegscheuchen. „Ich wollte mich umzubringen, okay? Ich habe mich anders entschieden, aber Knox ist der Meinung, dass mir das hier etwas bringt. Tut es aber nicht, weil ich nicht reden will. Ich mache es, damit er beruhigt ist, weil ich seine Verzweiflung nicht ertragen kann. Ist das besser jetzt?“ Wütend schnaubte er und atmete tief durch. Das erste Mal, seitdem er sich bei Mayson entschuldigt hatte und es tat gut. Wie ein Befreiungsschlag kam es ihm vor, dem Psychologen im Rahmen seiner Grenzen gesagt zu haben, was er wollte. Nicht, was er für andere tat. Was er tatsächlich dachte. Dass er versucht hatte, Selbstmord zu begehen, war nun kein Geheimnis. Selbst wenn Brian es an ihren Coach weitergeben würde, so wusste dieser das sicherlich längst. Natürlich würde Brian gleich Fragen stellen und ihn über seine Motive ausquetschen. Ihm sagen, dass das Leben doch lebenswert wäre. Den ganzen Sermon eben, den er schon kannte. Doch es kam nichts. Der Psychologe atmete nur betont ruhig aus und erhob sich. Langsam ging er zu seinem Schreibtisch und lehnte sich dagegen, die Arme links und rechts locker auf der Tischplatte abgestützt. „Ist es für dich besser?“, fragte er und Jean hielt inne. „Warum interessiert dich das?“ „Weil ich da bin um zuzuhören.“ „Wozu, wenn ich nichts zu erzählen habe?“ „Das stimmt nicht.“ Irritiert runzelte Jean die Stirn. „Du hast mir viel erzählt. Über deinen Sport, deine Mannschaft, die Universität hier, deine Fächer. Nur um ein paar Dinge zu benennen.“ „Belangloses Zeug.“ „Aber gehaltvoll genug, dass du es erwähnenswert fandest.“ Jean schwieg und verschränkte unwohl die Arme. Der andere Mann reagierte nicht so, wie er es sich gedacht hatte und das machte ihn unsicher. Da kamen keine inquisitorischen Fragen. Da kam keine Sorge, keine Bestürzung, nichts, sondern nur Ruhe und eine Themenwahl, die damit nichts zu tun hatte. Er hatte den Psychologen mit seinen Worten nicht vertrieben, im Gegenteil. Lange wurde er schweigend gemustert, bis sich Brian räusperte. „Aus Jeremys Standpunkt heraus kann ich verstehen, dass er sich Sorgen macht, schließlich seid ihr befreundet.“ „Er ist mein Kapitän“, korrigierte Jean ihn wenig erfreut über diese intime Bezeichnung. Brian erkannte das mit einem Nicken an. „Nichtsdestotrotz bin ich kein Freund davon, dass meine Patienten unfreiwillig zu mir kommen. Wenn du nicht hier sein möchtest, dann werde ich dich nicht dazu zwingen. Es geht darum, was du willst und womit du dich wohlfühlst.“ Wohlfühlen. Jean ließ sich den Begriff auf der gedanklichen Zunge zergehen. Fühlte er sich wohl? So ganz genau wusste er es nicht. Die Mannschaft behandelte ihn wie einer der Ihren. Er wurde nicht geschlagen, nicht gefoltert, niemand nutzte seine Hilflosigkeit dazu aus, sich ihm aufzuzwingen. Er tat Dinge, an denen er Gefallen fand. Er machte Dinge zum ersten Mal. Und zum Zweiten. Zum Dritten. Er war draußen, in der Sonne und hatte sogar nicht so starken Sonnenbrand wie im Anfang. Eigentlich nur noch, wenn er vergaß, Sonnencreme aufzutragen und Knox oder jemand aus seinem Team nicht da war, um ihn daran zu erinnern. Er entdeckte eine Welt abseits von Exy und seiner Mannschaft. Wie fühlte er sich damit? Oftmals überfordert. Ohne Land in Sicht. Ängstlich, dass es nur temporär war und Evermore ihn wieder zurückholen würde. Aber auch…zufrieden. Ruhig. Gelassen. Teilweise amüsiert. Beschenkt, wenn er an Eva dachte. „Knox wird unglücklich, wenn ich nichtmehr hierher komme“, schloss er das Thema schließlich für sich und Brian hob die Augenbraue. Das Verständnis, was er in den braunen Augen erkannte, schmerzte Jean ebenso sehr, wie es ihn irritierte. „Und was willst du?“ „Dass er mich nicht mit seinen großen, traurigen Augen ansieht.“ Jean grollte und Brian lächelte tatsächlich. „Hast du einen Plan um das zu verhindern?“ Ja, wenn er das wüsste. Wenn er nicht mehr hierherkam, würde Knox das als Anlass sehen, sich Sorgen zu machen. Aus den Sorgen würde schlussendlich eben jene Verzweiflung aus der Wüste werden, die sich so tief in Jean hineingeschnitten hatte, dass er glaubte, mit ihrem Anblick Ewigkeiten leben zu müssen. „Darf ich dir einen Vorschlag machen?“, fragte Brian und Jean nickte zögerlich. „Wie wäre es, wenn wir uns trotzdem jede Woche treffen und wir einfach über dies und das plaudern? Über Dinge, die okay für dich sind. Oder wir reden gar nicht. Du könntest dir etwas zum Lernen mitbringen und dir die Zeit so vertreiben.“ War das der Kompromiss, den er eingehen musste? Einmal die Woche eine Stunde im Gegenzug zu Knox‘ Seelenfrieden für den Rest der Zeit? Jean seufzte innerlich. Über Nichtigkeiten sprechen? Das war immer noch ein Konzept, dem er mit einem Stirnrunzeln begegnete, aber rein pragmatisch war die Kosten-Nutzen-Rechnung auf Seiten von Brians Vorschlag. „Okay.“ Brian lächelte. „Ich freu mich auf dich. Nächste Woche, gleiche Zeit.“ Unwirsch verzog Jean seine Lippen und presste einen weniger erfreuten Laut hervor. Ohne sich zu verabschieden drehte er sich um und verließ das Büro des Psychologen. Vor der Zeit, aber mit einer akzeptablen Verkürzung, dass es nicht wie eine Flucht aussah. Im Schatten der Bäume entdeckte er den in Rede stehenden Jungen, der mit dem Rücken zu ihm gegen einen der Stämme gelehnt saß. Er chattete gerade mit jemandem, den Jean bei näherem Hinsehen als Day identifizierte und innerlich grollend blieb er stehen. Eigentlich sollte es ihm egal sein, ob Knox unglücklich war. Eigentlich. Uneigentlich…ja, das stand auf einem vollkommen anderen Blatt. ~~**~~ Alles, was Jeremy bisher versucht hatte, um Jean aus seinem Schneckenhaus zu locken, nachdem sie in Rhemanns Büro gewesen waren, war fehlgeschlagen. Der andere Junge war nicht unfreundlich, ganz im Gegenteil. Er war höflich und zurückhaltend bis zur Frustration. Jean hatte sich erneut in sich zurückgezogen und Jeremy so die Möglichkeit entzogen, dem Backliner Mimik oder Gestik zu entlocken und dadurch zumindest einen minimalen Einblick in dessen Gedankenwelt zu erhaschen. Dass es Jean in der Situation nicht gut gegangen war, war nur zu deutlich gewesen. Er hatte Angst gehabt. Vor Rhemann? Sicherlich. Vor Logan und ihm? Jeremy vermutete es, auch wenn Jean seine Frage danach mit einem stummen Kopfschütteln beantwortet hatte. So blieb ihm nichts Anderes übrig, als darauf zu lauern, dass er erneut Zugang fand und hoffte, dass es Ajeet schaffte, als er just in diesem Moment eine samstagnachmittägliche Poolrunde im Haus seiner Familie über ihren Gruppenchat vorschlug. „Hast du Lust darauf?“, fragte Jeremy und Jean sah fragend von seinen Büchern auf. Natürlich hatte er sein Handy noch nicht gecheckt. Mittlerweile lag es offen auf Jeans Bett, aber selten wagte der andere Junge es, es in Jeremys direkter Gegenwart aufzunehmen. Auch einer von Rikos Verdiensten, für die Jeremy den verstorbenen Ravenskapitän wirklich hasste. „Ajeet hat uns zum Pool bei seinen Eltern eingeladen“, erläuterte er und sah, wie Jean sich versteifte. Vielleicht war es doch nicht das Richtige, mutmaßte Jeremy und seufzte innerlich resigniert. „Nicht gut?“, schob er entsprechend unsicher hinterher und Jean schluckte. Der andere Junge haderte mit sich und kämpfte um die Worte, die auf seinen Lippen lagen, das sah Jeremy. „Ich weiß nicht“, erwiderte er schließlich und ballte seine Hände zu Fäusten. „Das Meer ist eine Sache, aber ein Swimmingpool…“ Jeremys Augen weiteten sich, als er Jeans verklingenden Worten lauschte. Wieder einmal umfasste ihn kaltes Grauen bei dem Gedanken daran, was dem anderen Jungen alles vorenthalten worden war und unter welchen Umständen er nach Amerika gekommen war. Dass er Poolbillard nicht kannte, war nicht erstaunlich und doch ließ es Jeremy trocken schlucken. Er hätte es besser wissen müssen. „Das hat nichts mit Wasser zu tun“, erläuterte er, als er seine Stimme wiederfand und suchte auf seinem Handy ein Video. Mit einem Lächeln hielt er es Jean hin. „Schau, das ist ein Spiel, bei dem es darum geht, eine bestimmte Anzahl an Kugeln in eine bestimmte Reihenfolge an Löchern zu stoßen, mit einem sogenannten Queue, also grob gesagt, einem Holzstock. Hier geht es um Präzision und Taktik, aber auch um Ruhe und Perfektion.“ Jean blinzelte nicht, während er auf den Bildschirm starrte. Erst nach Ende des Videos richtete er seine volle Aufmerksamkeit auf Jeremy. „Ich habe dieses Spiel noch nie gespielt.“ Jeremy strahlte und winkte ab. „Dann bringe ich es dir bei. Gar kein Ding. Ich kann das ziemlich gut.“ „Aber ich halte euch damit nur auf.“ Jeremy starrte auf den anderen Jungen hinunter. „Jean?“ Fragend hob der Backliner seine Augenbrauen. „Du hältst niemanden auf. Wir würden uns freuen, wenn du da bist. Plus, im Anschluss gibt es leckeres, original indisches Essen! Hast du schonmal Indisch gegessen?“ „Nein.“ „Siehst du, dann wird es gleich ein Tag voller doppelter, erster Male!“ Ganz überzeugt war Jean nicht, aber Jeremy sah Interesse in den grauen Augen. Mittlerweile wusste er, dass dieses Interesse schlussendlich zu einem Ja führen würde und das ließ ihn hoffen. ~~**~~ Verstohlen sah sich Jean in dem Haus um, das sie vor ein paar Minuten betreten hatten. Schon beim Hereinkommen war er schier erschlagen worden von der Vielfalt an Gerüchen, die seine Nase überwältigt hatten. Keinen davon konnte er identifizieren und so war er kaum in der Lage, den lauten und chaotischen Gesprächen seines Teams zu folgen. Überall gab es etwas Neues zu entdecken, das auf das Leben der Bewohner dieses Hauses hindeutete. Er sah Schreine in einem Zimmer, die jedes Kreuz, das seine Mutter damals in ihrem Haus aufgehängt hatte, wie ein billiger Religionsabklatsch aussehen ließen. Dazwischen hingen haufenweise Bilder von Menschen, die anscheinend Ajeets Familie waren und alle so breit lächelten, als wäre gerade die Sonne nur für sie aufgegangen. Überhaupt sprach alles hier so sehr von Lebensfreude und familiärer Intimität, dass es ihn schmerzte. Sein eigener Verlust wurde ihm dadurch umso mehr bewusst und ließ ihn schlucken. „Jean?“ In der Kakophonie der Trojans, die sich zum Pool eingefunden hatten, hatte Jean vergessen, dass ihm auch Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Mühevoll riss er sich aus seinen Gedanken los und sah hoch zu Ajeet, der ihn mit einem vorsichtigen Lächeln musterte. „Ist alles in Ordnung?“ Schweigend nickte er und deutete dann auf die Wand voller Fotos. „Es ist alles so viel“, erläuterte er, als würde das seine Abwesenheit erklären. „So viele Fotos.“ Ajeet seufzte tief. „Meine Familie liebt es, Fotos zu machen und jeden einzelnen Moment festzuhalten. Es gibt ganze Schrankregale voller Alben mit Kinderbildern, die dir alle gezeigt werden, wenn du meine Mutter auch nur darauf ansprichst.“ Jean konnte sich erinnern, dass sein Vater auch Bilder von ihm gemacht hatte. Er bezweifelte aber, dass diese noch existierten. Vermutlich waren sie weggeworfen worden, als sie ihn nach Amerika verkauft hatten. Die Trauer, die Jean bei dem Gedanken daran erfüllte, schmerzte ihn mehr als dass er es gedacht hatte und mit Gewalt riss er sich aus den dunklen Erinnerungen los, die damit einhergingen. Aufmerksam musterte Ajeet ihn und Jean bemühte sich, all das, was vermutlich auf seinem Gesicht geschrieben stand, hinter die sorgsam neutrale Fassade zu schieben. „Sollen wir auch?“, fragte Ajeet und Jean nickte schweigend. Langsam folgte er dem Hünen von einem Torhüter durch das Haus in das erste Obergeschoss, in das die Anderen schon verschwunden waren. Ajeet drehte sich im Gehen halb zu ihm um. „Sag mal, hast du keine Angst vor den blonden Zwillingen?“, fragte er Jean blinzelte irritiert. Blonde Zwillinge? „Den Minyards.“ Überrascht schnaubte er. Wie kam Ajeet denn ausgerechnet jetzt darauf? Und vor allen Dingen, warum? „Nicht mehr“, erwiderte er. „Warum?“ „Wie hast du das geschafft? Ich meine…Andrew ist super gruselig.“ Dem hätte Jean vor Monaten noch beigepflichtet. Das war nun anders. Andrews Präsenz hatte ein Versprechen von Verbindlichkeit an sich, das es Jean einfacher machte, Jostens Vorliebe für den blonden Jungen zu verstehen, auch wenn er weit davon entfernt war, sie nachvollziehen zu können. Jean überlegte, ob es Sinn machte, Ajeet zu sagen, was er von Andrew hielt, doch er sah davon ab. Andrew nutzte sein Auftreten auch als Schutzschild, damit ihm Menschen, die er nicht in seiner Nähe haben wollte, nicht zu nahekamen und in Ruhe ließen. Wenn er nun damit hausieren ging, dass unter all der Gewaltbereitschaft jemand lauerte, der sich mit Leib und Seele dem Schutz seiner Familie und seines engsten Kreises verschrieben hatte, würde das vermutlich eher stören als etwas Gutes hervorbringen. „Ja, das ist er. Aber bevor ich nach Los Angeles gekommen bin, war ein für ein paar Wochen dort. Da gewöhnt man sich an die Angst.“ „Ist er denn wirklich so brutal?“ Jean seufzte innerlich. War Andrew das? Brutal? Manchmal schon, sowohl mit Worten als auch mit dem, was er tat. Aber nie…ungerechtfertigt. Er war kein Sadist so wie Riko einer gewesen war. Auch wenn Jean auf das, was Andrew ihm versucht hatte, mit der Spritze anzutun, immer noch nicht gut zu sprechen war, so konnte er nachvollziehen, welcher Gedankengang dahinter gestanden hatte. „Er ist pragmatisch“, erwiderte Jean ausweichend und Ajeet brummte. „Wie war es denn mit ihnen?“, fragte er dann und Jean war sich nicht sicher, warum der andere Junge das alles wissen wollte. Eine Stimme, die verdächtig wie Knox klang, sagte ihm, dass es hier zählte, was er erlebt hatte. Hier interessierten sich die Menschen für ihn und Neugier gehörte anscheinend auch dazu. Jean sah keinen Grund, sie nicht zu befriedigen. „Chaotisch. Verrückt. Völlig anders als hier. Sie sind wie ein Hyänenrudel. Solange sie keinen haben, der sie bedroht, lassen sie ihren zweifelhaften Humor aneinander aus und tragen ihre Kämpfe unter sich aus. Aber sobald jemand von außen kommt, sind sie eine Einheit. Auch wenn sie es sich nicht eingestehen, mögen sie sich doch alle.“ Beeindruckt blinzelte Ajeet. „Wow. Das ist krass. Hätte ich nicht gedacht.“ „Ich auch nicht.“ „Sag mal, Jean…“ Unweigerlich zuckte er zusammen. In seiner kurzen Zeit hier in Los Angeles hatte er gelernt, dass das nie, niemals, eine gute Einleitung für den nachfolgenden Satz war. Da würde immer etwas kommen, das ihn herausfordern würde. Vorsichtig hielt er inne und maß Ajeet aufmerksam. „Das mit Logan“, begann er und Jean verzog anscheinend so deutlich sein Gesicht, dass es als Schmerz gewertet wurde. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Ajeet besorgt und tat einen Schritt auf ihn zu, was Jean mit größerer Sorge, als ihm lieb war, zur Kenntnis nahm. Abwehrend hob er die Hand und nickte. „Was ist damit?“, fragte er und Ajeet seufzte. „Hast du das getan, was er dir vorwirft?“ Jean nickte schlicht. „Warum?“ „Weil mein Kapitän mir das befohlen hat und ich nicht bestraft werden wollte“, erwiderte er ehrlich und Ajeet brauchte einen Moment, um den Worten einen Sinn zu geben. „War Riko gemein zu dir?“ Kurz deutete er auf seine Haare, die Jean heute wieder unter seiner Beanie verborgen hatte. War Riko gemein gewesen… was für eine Formulierung. „Er war sadistisch und brutal“, bestätigte Jean neutral und sah, wie Ajeet mühevoll schluckte. Er sah zur Wand und deutete dann auf eines der Fotos. „Mein Opa war das auch zu meiner Oma, deswegen ist sie hierher gekommen. Er hat sie geschlagen und ihr andere Dinge angetan, die ihr wehgetan haben.“ Ajeet hielt inne und Jean wartete geduldig, dass er fortführte, was er sagen wollte. „Du… hast genauso wie sie reagiert, als ich dich das erste Mal umarmt habe.“ Reichlich sprachlos starrte Jean dem Hünen in das abgewandte Gesicht. Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte und beschloss, dass Stillhalten ein guter Anfang sein würde. Warum er so derart hilflos war in diesem Moment, wusste er auch nicht, aber er fand keinen Weg, eine gute Reaktion darauf zu zeigen. Glücklicherweise lächelte Ajeet und zuckte mit den Schultern. „Ist es denn zwischen dir und Logan geklärt?“ Die Frage war einfacher zu beantworten. „Ich glaube schon. Allerdings würde ich verstehen, wenn er nicht will, dass ich in seine Nähe komme.“ „So ist er sicherlich nicht!“ Jean wich den braunen Augen aus, die ihn mit soviel Vertrauen und Zuneigung ansahen, dass es beinahe schmerzte. „Ich habe es verdient, Ajeet. Ich habe ihm wehgetan“, erwiderte er mit einer Finalität, die den anderen Jungen davon abhielt, weitere Fragen zu stellen. „Wenn etwas sein sollte, ich bin da.“ Jean blinzelte, nicht sicher, womit er das verdient hatte. Er nickte jedoch, wenn auch nur, um der Diskussion zu entgehen. Es fühlte sich nicht schlimm an, aber diese offene, selbstverständliche Darstellung von Freundschaft machte ihn unsicher. „Danke“, erwiderte er und das Wort wurde mit jedem Mal weniger schlimm. ~~**~~ „Cap, hör auf mit deinem halbhorizontalen Poledance und sieh zu, dass du die Kugeln in die entsprechenden Löcher bekommst!“, grollte Alvarez und Jeremy wackelte aufreizend mit seinem Hintern, den er herausgestreckt hatte, als er sich über den Pooltisch gebeugt hatte. Belohnt wurde seine Provokation mit einem harten Schlag auf eben jenen, der ihn erschrocken fiepen ließ. Abrupt richtete er sich auf und funkelte seinen Vizekapitän wütend an. „Das gibt Extrarunden, Alvarez!“, fauchte er und sie verschränkte lachend die Arme. „Beschwer dich ruhig… du willst ja nur davon ablenken, dass unser Poolbaby hier dich abzieht und das nichts mit Anfängerglück zu tun hat!“ Jeremy grollte erneut, wusste aber, dass sie nur zu Recht damit hatte. Jean hatte nicht nur Gefallen an dem Spiel gefunden, nachdem ihm ausführlich die Regeln erklärt worden waren, nein, er war auch noch gut darin. So gut, dass er beinahe aus dem Stegreif eine ernstzunehmende Konkurrenz für Jeremy war und das war hochgradig besorgniserregend. Er warf einen Blick auf den Jungen, der am anderen Ende des Tisches stand und ihn mit hoch erhobener Augenbraue maß. Jean war überaus konzentriert bei der Sache und wenn Jeremy sich nicht fürchterlich täuschte, was er nicht glaubte, dann hatte Jean sogar Spaß daran, die Wege der Kugeln so zu berechnen, dass sie exakt dorthin gelangten, wo er sie hinhaben wollte. Wie auch beim Lernen nahm Jeans Mimik dabei etwas konzentriert Raubtierhaftes an, das Jeremy schlucken ließ, insbesondere, wenn Jean mit eben jenem Ausdruck seine Handlungen analysierte. „Ich mach ja schon!“, grimmte er und versenkte seine Kugeln in die dafür vorgesehenen Löcher. Triumphierend grölte er und streckte Alvarez die Zunge heraus nur um dann mit dem nackten Zeigefinger auf einen angezogen Jean zu deuten. „Das musst du mir erst einmal nachmachen!“ Jean sagte nichts darauf, aber seine Augen verrieten, dass er die Herausforderung angenommen hatte. Konzentriert beugte er sich seinerseits hinunter und gewährte Jeremy damit einen Einblick auf seine Schlüsselbeinknochen. Selbst dort befanden sich Narben von Rikos Gewaltexzessen und Jeremy schluckte unwillkürlich. Dass dies nur bedingt wegen Riko geschah, wurde ihm bewusst, als sein Verstand ihm meldete, dass Jean sich hier, genauso wie auf dem Spielfeld, wie ein Raubtier bewegte, das seine Beute im Visier hatte. Und da, wo Exy brutal, strategisch und schnell war, war Pool voller strategischer Raffinesse. Da war es überhaupt nicht hilfreich, dass Jeans Körper in ruhiger Präzision sich in einer perfekten Linie über den Tisch beugte um den Queue anzusetzen. Dass die Kugeln ihre Ziele fanden, war beinahe schon eine Selbstverständlichkeit und Jeremy seufzte innerlich. „Gib’s zu, du hast das schonmal gespielt!“, beschwerte er sich zum dutzendsten Mal an diesem Tag und beinahe schon genauso oft bekam er einen nichtssagenden Laut als Antwort, der alles bedeuten konnte. „Vielleicht bist du einfach schlecht“, murmelte Ellie und Jeremy streckte ihr den Mittelfinger entgegen. Dass Jeremy schlussendlich gewann, war an Knappheit nicht zu überbieten. So wie Jean auf den Tisch starrte, überlegte er sich auch schon eine Strategie, wie er es besser machen konnte. Noch besser und Jeremy freute sich schon auf die Revanche. Nun gab es aber erst einmal Essen und darauf freute er sich um ein Vielfaches mehr. Das Essen von Ajeets Mama und Oma war grandios und schmeckte so gut, dass sich Jeremy regelmäßig überfraß. Also eigentlich immer überfraß und sich dann noch eine Tupperdose voller Leckereien einpacken ließ. Voller Elan sprang er die Treppen herunter, während der Rest seines Teams langsamer folgte und sich brav an den gedeckten Tisch setzte. Vor Kopf saß Ajeets Oma und seine Mutter, der Rest der hungrigen Baggage an den Seiten. Gemeinsam machten sie sich über das wundervoll angerichtete, aufgetischte Essen her und die Gespräche explodierten in einer Lautstärke, die Jeremy schon beinahe in den Ohren schmerzte. Jean musste das noch viel stärker wahrnehmen, so wie er in sich gekehrt neben ihm saß und von den Schalen, die ihm gereicht wurden, probierte. Angestrengt starrte er auf den Tisch und Jeremy beugte sich langsam zu ihm herüber. „Alles in Ordnung?“, fragte er leise und Jean sah kurz hoch. Schweigend nickte er und Jeremys Blick fing sich an den geröteten Wangen und Ohrläppchen, an den leicht geöffneten Lippen, deren warmer, schnell gehender Atem über Jeremys Wange strich. „Es ist scharf“, erläuterte Jean schließlich rau und räusperte sich, griff zu dem Wasser, das vor ihm stand. Instinktiv legte Jeremy seine Hand auf Jeans um ihn aufzuhalten. Er lächelte und beugte sich zu der Kanne, die unweit von ihnen neben Fahima stand. „Kein Wasser, Jean. Milch.“ Der Junge blinzelte und starrte auf ihre Hände hinunter. „Milch?“, echote er irritiert und Jeremy nickte. „Gegen die Schärfe.“ „Oh.“ „Probier’s.“ Jeremy löste seine Finger von Jeans Hand und schenkte ihm ein gutes Glas davon ein. Jean trank es in drei gierigen Zügen leer. Fragend hob Jeremy die Augenbraue und Jean nickte. „Besser.“ Er grinste. „Sehr gut. Hast du schon einmal scharf gegessen?“ Jean schüttelte den Kopf und Jeremy schalt sich innerlich. Sportlernahrung war alles andere als scharf und natürlich hatte Jean in Evermore nichts dergleichen bekommen. Seine Geschmacksknospen waren also noch nicht einmal im Ansatz das gewöhnt, was Amanpreet und Nilay kochten. Jeremy seufzte mitfühlend. „Verdammt, das tut mir leid. Soll ich dir die einzelnen Schärfegrade des Essens erklären?“ Jean nickte knapp und Jeremy deutete auf die einzelnen Schälchen und deren Schärfegrade, hob das hervor, was für Einsteiger geeignet war, sehr zur Freude und zum Amüsement von Ajeets Familie. Jean hörte dem Ganzen still zu und nickte schließlich. Nach einem weiteren Glas Milch nahm er sich noch etwas, dieses Mal weitaus vorsichtiger und wählerischer als beim ersten Mal. Ihm schmeckte es, das sah Jeremy und insgeheim freute er sich diebisch, dass er die Freude über diesen Tag auch jetzt noch auf Jeans Gesicht sehen konnte. ~~**~~ „Was bedeutet der Begriff „sich ein Zimmer zu nehmen“, Ajeet?“, fragte Jean, während er mit Ajeet, Ellie, Knox und Ajeets Mutter Nilay in der Küche stand und das Geschirr trocknete. Sie hatten bis jetzt konzentriert gearbeitet und Jean hatte gedacht, dass dies der richtige Moment wäre, diese Frage zu stellen, von der Alvarez ihm gesagt hatte, dass Ajeet sie am Besten beantworten könnte. Mit der bewegungslosen Stille und der ungeteilten Aufmerksamkeit, die er damit auslöste, hatte er nicht wirklich gerechnet. Insbesondere von Ajeet nicht. Wie versteinert stand dieser mit einer halbtrockenen Schüssel unweit von ihm und starrte ihn mit weit geöffneten Augen an. „Was?“, krächzte der große Junge und Jean runzelte die Stirn. „Ich kenne den Begriff nicht und Sara meinte, dass du wüsstest, was damit gemeint ist“, erläuterte Jean und sah irritiert, wie sich Panik auf dem Gesicht des Jungen ausbreitete und seine Augen ängstlich zu seiner Mutter huschten. „Ich weiß es auch nicht. Wirklich“, krächzte er und Jean hörte die Lüge aus jeder Pore tropfen. „Bist du dir sicher?“, hakte er deswegen noch einmal nach. Ajeets Mutter drehte sich mit einem strengen Räuspern um, das Jean unwillkürlich an seine Mutter erinnerte. „Ajeet Anand, hast du etwa Sex?“, fragte sie in aller Offenheit und Jean blinzelte irritiert. Es schien, als wäre die Luft in diesem Raum um ein paar Grade gefallen, trotzdem wurde sein Torhüter mit einem Schlag rot im Gesicht. Jeans Nackenhaare standen zu Berge, weil er instinktiv spürte, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte. Er wurde vorsichtig und fixierte sich auf die augenscheinliche Gefahr vor sich, die er in der freundlichen Frau mit den schwarzen Haaren erkannte. Er verstand auch nicht, warum sie nach Geschlechtsverkehr fragte und was das mit dem Zimmer zu tun hatte. Jean räusperte sich. „Wenn meine Frage unangebracht war, dann ziehe ich sie zurück. Ich…“ Er verstummte und es war sein Kapitän, der ihn mit einer Hand auf seinem Oberarm zum Schweigen brachte. Viel zu verständnisvoll sah er ihn an, wenn man Jean fragte, denn das Mitleid, was er unweigerlich auch dort fand, ließ all seine Alarmglocken schrillen. Ajeet lachte nervös und Jean erkannte das Lachen wieder. Er hatte über Andrews Worte in der gleichen Art gelacht. „Alles gut. Alvarez war das, ja?“ Seine Augen huschten zu seiner Mutter, die ihnen mit in die Hüften gestemmten Händen zusah. Es war schließlich aber Ellie, die mit ihrer typischen Ruhe antwortete. „„Sich ein Zimmer zu nehmen“ bedeutet nichts Anderes als mit jemandem das Bett zu teilen auf eine sehr intime Art und Weise.“ Die Worte klangen selbst in Jeans Ohren formell und verwundert nahm er zur Kenntnis, wie Ajeets Augen entschuldigend auf seiner Mutter ruhten. Wieso musste er sich für Ellies Erklärung entschuldigen? War es in irgendeiner Art unanständig oder anrüchig? Unwirsch verzog Jean die Lippen und sah hilfesuchend zu seinem Kapitän. Es war Mrs. Anand, die jedoch antwortete und in deren Ton Strenge mit Nachsicht konkurrierte, die Jean unweigerlich an Doktor Chandler erinnerte. „Diese Familie legt sehr viel Wert auf Tradition“, sagte sie. „Zu unserer Tradition gehört es, dass man sich vor der Eheschließung kein Zimmer sucht, sondern sich erst nach der Zeremonie körperlich nahekommt und das Bett teilt.“ Jean blinzelte. Das gab es? „Aber wieso meinte Alvarez dann, Ajeet könnte…“ „Weil sie mich ärgern wollte“, jaulte Ajeet und auch das war nur zum Teil wahr. Irritiert runzelte Jean die Stirn. Warum er vor seiner Mutter log, war ihm ein Rätsel, aber er neigte zustimmend den Kopf. „Ich lasse sie definitiv Extrarunden laufen“, sagte Knox und Jean war hin und hergerissen zwischen einer Verneinung oder Zustimmung aus ganzem Herzen, denn er wurde das Gefühl nicht los, dass der Vizekapitän versucht hatte, Ajeet und ihn in Bedrängnis zu bringen. ~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 30: Alte Bekannte ------------------------- Wer auch immer es sich ausgedacht hatte, unter den locker sitzenden Sportshorts auch noch schwarze, enge, oberschenkellange Leggins anzuziehen und das als gut zu befinden, hatte nicht an Jeremys Seelenheil gedacht. An sein armes, schwules Seelenheil, das diese attraktiven, muskulösen, männlichen Männerschenkel, die in trainierten Hintern mündeten, jedes Mal sah, wenn er sich Videos von Exyspielern in ihren Trikots ansah. Das war Jeremys ganz persönlicher Kink und einer, der ihm das Leben nicht leichter machte, zumindest, wenn es darum ging, sich die Spieler der gegnerischen Mannschaften anzusehen und ihr Können einzuschätzen. Wenigstens sortierte sein anderer Kink – Jungs, die größer waren als er – zum Glück mehr als die Hälfte aus. Momentan war er wieder einmal bei Kevin, dessen Spielstil ihn immer noch beeindruckte. Wenn er sich denn mal darauf konzentrieren konnte und nicht nur auf dessen Beine starren würde. Wie gut, dass Jeremy mittlerweile die Wahrheit über die Ravens wusste. Früher hatte er sich die Spieler der besten Mannschaft ihrer Liga wieder und wieder angesehen und ihr Können bewundert. Nun aber wusste er, was der Preis dafür war und ihm war übel, sobald er die schwarzen Trikos auch nur sah. Viel zu wütend war er über das, was sie Jean angetan hatten. Sein Blick schweifte zu Andrew und er beobachtete ihn dabei, wie er in einem seiner selten motivierten Momente jeden einzelnen Ball einkassierte. Er ließ nichts durch, eine Mauer im Tor der Foxes, die der Horror eines jeden Strikers war. Und immer noch sah er gelangweilt aus, als wäre diese Leistung gar nichts. Jeremy blinzelte erstaunt. Immer noch hatte er den Ausdruck auf dem engelsgleichen Gesicht vor Augen, als dieser ihn bedroht hatte. Ruhig, gelassen, gelangweilt. Alles, was seine Worte nicht gewesen waren, die Jeremy deutlich zu verstehen gegeben hatten, dass er Jean nicht wehzutun hatte. Als wenn er das jemals in Betracht gezogen hätte! Immer noch war Jeremy versucht, sich von Jean Andrews Nummer geben zu lassen um das richtig zu stellen, weil er das so nicht stehen lassen konnte. Aber er war sich nicht sicher, ob das nicht noch weitere Drohungen nach sich ziehen würde. Kritisch die Stirn runzelnd sah Jeremy auf und lugte ins Schlafzimmer, wo Jean auf dem Bett saß und in dem neuen Wälzer las, der sich seit kurzem in seinem Besitz befand. Nachdem sie bei Ajeet gewesen waren, hatte Jean gefragt, ob er sich ein Buch kaufen durfte und Jeremy war ob der Wortwahl so gewaltig zusammengezuckt, dass Jean sich tatsächlich entschuldigt hatte, die Frage so gestellt zu haben. Jeremy hatte das abgewiegelt, aber der schale Beigeschmack bei dem Gedanken an Evermore war geblieben. Denn nichts Anderes war diese Frage gewesen, als ein Überbleibsel seiner Zeit dort und dem Verbot, seinen Geist mit Dingen zu füttern, die ihn über den Tellerrand schauen ließen. So hatte Jeremy Jean ohne viel Widerspruch in den familiärsten Buchladen der Stadt verfrachtet und Jean in aller Ruhe gesagt, dass er das Recht hatte, jedes Buch der Welt zu kaufen, wenn er es wollte. Ein Nicken war sein Lohn gewesen und Jean hatte tatsächlich mit einer großen Tüte den Laden verlassen. Dass Jeremy bis jetzt vor Neugier starb, weil er immer nur einen kurzen Blick auf den Klappentext des aktuellen Buches werfen konnte, stand auf einem anderen Blatt. Den Rest der Bücher hatte Jean sorgsam verräumt. Ordentlich, wie er alles Andere auch verräumt hatte, vermutlich aus Angst davor, dass jemand sah, wie er Dinge besaß. Jeremy ließ ihn kommentarlos und war umso glücklicher, dass Eva ihn trotzdem missbilligend anstarrte, wann immer er sich mit dem Rücken zur Wand in sein Bett legte und Jeans Bereich ansah. Nun trat er in den Türrahmen und klopfte gegen das Holz, um Jean vorzuwarnen. Blinzelnd tauchte dieser aus seinen Seiten auf und steckte einen Finger in das Buch, klappte es mit fragendem Blick zu. „Sag mal, du kennst Andrew ja besser als ich“, begann er und Jean hob zweifelnd die Augenbraue. „Ich bin nicht Josten.“ „Aber du warst ja vorher bei ihnen und hast sicherlich auch das eine oder andere Mal mit Andrew zu tun gehabt, oder?“ „Er hat mich heimgesucht, ja.“ „Er kümmert sich doch auch um dich, auch wenn er...“ Jeremy stockte und Jeans Ausdruck wurde milder, als er sah, was Jeremy nicht veräußerte. Welche Angst er nicht aussprach. „Auch das, ja.“ „Ist sein Beschützerinstinkt immer so ausgeprägt?“ „Wie was?“ Jeremy schwieg, weil er nicht wusste, inwieweit er sich oder Jean in Schwierigkeiten brachte, wenn er sagte, was vorgefallen war. Aber für nichts Anderes hatte er seine Spielstudien unterbrochen, also sollte er jetzt auch den Mut haben, darüber zu sprechen, oder? Als er zu Jean sah, bemerkte er die wachsende Unruhe in dem bis gerade eben noch entspannten Jungen und schluckte. „Er hat mir gedroht, falls ich dir wehtun sollte. Was ich natürlich nicht tun werde, deswegen ist das eigentlich umsonst, aber er hat mich tatsächlich bedroht und das war gruselig, weil Andrew gruselig ist, aber in dem Moment war es viel gruseliger, weil er den Eindruck gemacht hat, als würde er mich umbringen, wenn ich dir auch nur ein Haar krümme, was ich selbstverständlich nicht tun werde!“, brabbelte er und aus Unruhe wurde Unverständnis. „Er hat dich bedroht“, fasste Jean die Quintessenz des Ganzen zusammen und Jeremy nickte. „Wegen mir?“ Wieder bejahte er es und lächelte. Schließlich grollte Jean und rollte mit den Augen. „Er ist manchmal ein Idiot. Ignorier ihn.“ „Aber das kann ich nicht!“, begehrte Jeremy auf, ganz zur Irritation seines Backliners. „Weshalb?“ „Weil ich es richtig stellen möchte! Ich würde dir niemals wehtun! Ich verstehe nicht, warum er das von mir denkt.“ Jean seufzte. „Wenn dir das so wichtig ist, dann schreib ihm eine Nachricht. Aber erwarte keine Antwort. Nicht einmal sein Team bekommt welche, wenn er keinen Bock hat.“ Jeremy lächelte verlegen und kam zum Kernpunkt seines Anliegens. „Dazu bräuchte ich seine Nummer.“ Mit einem Kopfschütteln griff Jean zu seinem Handy. Mittlerweile geübt in der Benutzung seines Telefons schickte er ihm den Kontakt. „Bitteschön.“ Grinsend salutierte Jeremy, als es an der Tür klopfte. Wobei klopfen etwas untertrieben war. Man konnte meinen, dass jemand versuchte, mit wohldosierter Gewalt die Tür einzuschlagen. Zugegeben, sie war nicht dick, aber dennoch stabil genug, dass sie unter normalen Umständen nicht brechen sollte. „Ich mach auf“, sagte er zu Jean, der ihn fragend ansah und dann nickte, sich wieder seinem Buch widmend. „Ich komme ja schon!“, brüllte Jeremy, als das Klopfen ein weiteres Mal drohte, die Tür aus den Angeln zu heben und riss in Erwartung seines Teams die Tür auf. „Kein Grund hier…“, begann er, kam aber nicht weiter, als er seinen Kopf in den Nacken legte um der Frau in die unerfreuten, abweisenden Augen zu schauen, die vor ihm stand. Ihre Haut um so vieles dunkler als es die von ihrem Coach war und damit auf ihre eigene Art und Weise wunderschön obsidianhaft. Ihre hüftlangen Haare in geflochtenen Zöpfen, die zu einem Halbzopf hochgebunden waren, so wie er seine auch immer trug. Ihr linkes Ohr zierte ein langer, dünner Silberohrring, der wie eine Koralle anmutete und mit den weiteren Ohrlöchern einen eleganten Bogen nach oben machte. Ihr Gesicht war ein Musterbeispiel an Symmetrie, wie Jeans auch durch hohe Wangenknochen wenig rund und sympathisch, sondern kantig und aristokratisch. Jeremy verfing sich in ihren dunklen Augen, die auf ihn niederstarrten, wie man auf ein lästiges Insekt niederstarrte. Theodora Muldani stand vor ihm, die Nummer 14 an ihrem zarten Goldkettchen zu deutlich sichtbar. Sein Gehirn brauchte etwas, bis es dem Gedankengang folgen konnte und den Namen der Nationalmannschaftsspielerin nochmals in Gedanken aussprach. Theodora Muldani. Eine von zwei Frauen in der Nationalmannschaft. Auf dem Spielfeld ein Tier, eine Walze, ein unüberbrückbares Hindernis für jeden Striker, der es wagte, ihr zu nahe zu kommen. Der Teufel in Person mit Schenkeln, die einen Menschen zwischen ihnen zerquetschen konnten – zumindest wenn man Kevin fragte. Ex-Raven, die ihre ehemalige Nummer stolz um den Hals trug und die nicht müde wurde zu erwähnen, dass die einzig wahre Mannschaft mit dem einzig wahren Training die Ravens waren. Vielleicht war es das, was Jeremy seine Angst vor ihr nahm und diese durch Wut ersetzte. Sie war in Evermore gewesen, als Jean auch da war, jung und Rikos Angriffen hilflos ausgeliefert. Sie war dagewesen, als der lebende Beweis für abartigen Menschenhandel dort gequält worden war. Niemand konnte ihm sagen, dass sie nichts mitbekommen oder dass Kevin ihr nichts erzählt hatte. Jeremy war selbst überrascht von der Abneigung, die mühelos die Anerkennung für ihre sportlichen Leistungen überwog, wo er sich doch bei Kevin immer noch bemühte, ihrer beider Freundschaft zu sehen und nicht zu verlieren. „Ja bitte?“, fragte er dementsprechend kühl und sie hob die Augenbraue. „Ich will Jean sehen.“ Die Art, wie sie es formulierte, stieß Jeremy mehr als sauer auf. Sie hatte kein Recht, hier einfach so herein zu platzen und ihren wie auch immer gearteten Anspruch auf Jean zu erheben, der viel war, aber nicht gerechtfertigt. Viel zu sehr erinnerte er Jeremy an das Vorgehen der Ravens vom Bankett. Alleine deswegen schon war Jeremy versucht, nein zu sagen und ihr einfach die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Doch dann wäre er nicht besser als Riko. Alleinig Jean traf die Entscheidung, wen er sehen wollte und wen nicht. „Wenn er dich sehen möchte. Ich frage ihn“, erwiderte er kühl und schloss die Tür wieder. Nach dem Debakel beim Bankett hatte Jeremy keine Lust auf erneute Gewalt seitens Evermore und so ging er auf Nummer sicher. Er kam zum Schlafzimmer zurück, wo sein Mitbewohner sich wieder in sein Buch vertieft hatte und räusperte sich. „Theodora Muldani steht vor der Tür und möchte mit dir sprechen“, sagte er und Jean sah mit gerunzelter Stirn hoch. Er brauchte einen Moment um zu begreifen, was Jeremy gerade gesagt hatte, dann weiteten sich seine Augen überrascht. „Theodora?“, fragte Jean nach und Jeremy nickte. „Wenn du sie nicht sehen möchtest, kann ich sie wieder wegschicken. Du musst sie nicht treffen, wenn du das nicht magst. Die Ravens oder ihre ehemaligen Spieler haben kein Recht darauf, dich zu terrorisieren.“ Jeremy war sich bewusst, dass er wie der schlimmste Türsteher oder Bodyguard klang, doch er konnte nicht anders. Jean hatte es nicht verdient, weiterhin belästigt zu werden. Eben jener maß ihn überrascht und schließlich atmete er langsam aus. „Es ist in Ordnung. Ich werde mit ihr sprechen.“ „Wirklich, Jean. Du musst das nicht.“ Zweifelnd sah der Backliner hoch. Er zögerte und Jeremy sah, wie sich Anspannung die Nackenpartie hochfraß. Die Hände, die das Buch hielten, umfassten es enger. „Möchtest du das nicht?“, fragte Jean zögerlich und Jeremy schüttelte energisch den Kopf, als er begriff, in welche Richtung Jeans Gedanken liefen. „Nein, so war das nicht gemeint! Es ist deine Entscheidung Jean, alleinig deine Entscheidung. Ich möchte nur nicht, dass du meinst, sie sehen zu müssen. Ich kann den Sicherheitsdienst rufen, wenn sie dir unangenehm ist.“ Jean seufzte. „Nein, das wird nicht notwendig sein. Ich spreche mit ihr. Freiwillig.“ Jeremy wusste, dass jede Nachfrage seinerseits Jeans Unsicherheit erhöht hätte, also verschwieg er seine Bedenken und ging zurück zur Tür, öffnete sie. Schweigend trat er beiseite und ließ sie hinein. Wieder ignorierte sie ihn, während sie sich kurz in dem kleinen Flur umsah, einen Blick in die Wohnung warf und sich dann die Schuhe auszog. Das war es aber auch schon, was sie sich an Normalität gab. Dort, wo Jean das Sinnbild eines Panthers war, wenn es darum ging, mit einem Raubtier verglichen zu werden, war sie der Löwe. Der König der Tiere. Alles hier gehörte ihr, mit jedem Schritt, den sie in das Apartment tat. Dass Theodora Jeremy ignorierte, war da natürlich. Ihr Interesse galt ausschließlich Jean, der nun im Durchgang zwischen Wohnzimmer und Schlafzimmer erschien, die Arme eng vor seinem Körper verschränkt. ~~**~~ Jean hatte gewusst, dass Theodora ihn sprechen wollte. Andrew hatte ihm das schon vor Monaten mitgeteilt und es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie ihn tatsächlich heimsuchte. Jean wäre es zwar lieber gewesen, wenn sie sich damit noch Zeit gelassen hätte, insbesondere nachdem er kein Interesse mehr daran hatte, mit Day zu sprechen, doch er kannte den eisernen Willen der Frau, die nun vor ihm stand und ihn durchdringend musterte. Er hielt dem Blick stand, mit seinem eigenen, eisernen Willen, was sie betraf. „Was willst du hier?“, fragte er entsprechend kühl. „Reden.“ „Worüber?“ „Evermore.“ Brutal ehrlich, wie immer. Das feite Jean aber nicht vor dem gewaltvollen Zusammenzucken, das ihn bei der Nennung seiner ehemaligen Mannschaft überkam. Sie hatte nie Hand an ihn gelegt, aber das bedeutete nicht, dass sie auf seiner Seite gestanden hatte, ganz im Gegenteil. Theodora kannte nur eine Seite. Ihre eigene. „Warum?“ Sie hob ihre Augenbrauen. Es war in sich eine absolut arrogante Geste, die Jean an die guten, alten Zeiten denken ließ. „Es gibt Dinge, die noch nicht gesagt wurden und Dinge, die richtig gestellt werden sollten.“ Jean runzelte die Stirn. „Warum sollten die auf einmal wichtig sein?“ Die Härte, die seit Jahren ihr Gesicht dominierte, wich für den Bruchteil einer Sekunde etwas, das Jean als Menschlichkeit klassifizierte, weil es Emotionen besaß, die sonst nicht da waren. „Kevin hat mir erzählt-“, begann sie und Jean unterbrach sie rüde und wütend. „Was Day dir erzählt hat, interessiert mich nicht, Theodora. Wenn es nur darum geht, dann kannst du gehen.“ Er grollte und sah im Augenwinkel, wie Knox sich ihrer Besucherin bereits zuwandte, sein Gesicht in der üblichen Kapitänsentschlossenheit ohne ein Funken an Lächeln, dafür aber mit viel mehr Sturheit in den sonnigen Zügen. Ob er sich bewusst war, dass er Andrew in diesem Moment gar nicht so unähnlich war? Sicherlich nicht und Jean war sich sicher, dass Knox diesen Vergleich auch nicht zu schätzen wissen würde. „Jean, bitte.“ Ihr Ton passte nicht zu ihren Worten. Ganz und gar nicht. Sie waren fordernd, kühl, geradezu befehlsgewohnt. Dem gegenüber stand jedoch die Tatsache, dass Theodora Muldani nicht bat. Niemals, zu keiner Zeit. Vielleicht war es eben dieser Umstand, der Jean gnädiger stimmte. Bereiter, sich auf ein Gespräch mit ihr einzulassen. Er seufzte und löste seine Arme, steckte die Hände in die Hosentaschen seiner knielangen Leinenhose. Da er nicht angenommen hatte, dass sie heute Besuch bekommen würden, hatte er sich bis zum Training heute Abend den Luxus eines luftigen T-Shirts gegönnt und bereute das jetzt, als er ihrer Blickrichtung folgte. Seine Narben auf den Armen. Natürlich. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht und er schnaubte verächtlich. „Was, hätte ich mich doch so anstellen dürfen, wie ich es getan habe?“, fragte er mit einem ganz und gar nicht freundlichen Grinsen, das mehr mit einem Zähnezeigen gemein hatte und sie grollte wenig erfreut. Langsam holte er seine vernarbten Arme nach vorne und drehte sie, damit sie das ganze Ausmaß betrachten konnte. „Ich hätte das damals nicht sagen sollen“, erinnerte sie sich wie Jean auch noch zu gut daran, was ihr damals 18-jähriges Ich zu Jeans 14-jährigem gesagt hatte, als er es gewagt hatte, sich über die Schmerzen, die der Herr und Riko ihm zufügten, bei ihr zu beschweren. Jean hatten sich die Worte nur zu gut in seine Gedanken gebrannt. „Sag, was du zu sagen hast und dann geh wieder.“ Theodora überlegte einen Moment und steckte nun ihrerseits ihre Hände in die Taschen ihrer schwarzen Jeanshose. „Ich hatte mir gedacht, dass wir vielleicht einen Kaffee trinken gehen. Wir beide. Alleine“, bekräftigte sie mit einem Blick auf Knox, der wachsam im Durchgang zur Küche stand, jederzeit bereit, ihn vor den Ravens zu schützen. Das warme Gefühl, das sich bei dem Gedanken daran in seinem Magen ausbreitete, kannte Jean nicht und er runzelte irritiert die Stirn. „Kaffeetrinken?“, echote er daher und Theodora nickte knapp. „Wo?“ „Wo du möchtest und dich sicher fühlst.“ Der Nachsatz ging auf Days Konto, da war sich Jean sicher. Wütend knirschte er mit den Zähnen und sah zur Seite, hin zu seinem Kapitän. „Willst du das?“, fragte Knox sanft und Jean war sich nicht sicher. Wollte er? Vor allen Dingen mit ihr alleine? Er hatte keine Angst davor, dass sie ihn gegen seinen Willen zurückschleppen oder sich anderweitig rächen würde, das nicht. Aber die Themen, die sie ansprechen würde, bereiteten ihm jetzt schon Magenschmerzen. Mehr als das. Er spürte, wie Angst sich seinen Rücken hinauffraß. „Es ist in Ordnung.“ Und wenn sie über die Dinge sprechen wollte, die Knox noch nicht wusste, wäre es besser, wenn er nicht dabei war. „Ich habe mein Handy auf laut und bei mir. Ruf mich an, wenn du es dir anders überlegst und ich kommen soll, okay?“ Jean nickte schweigend und ging zurück ins Schlafzimmer. Er nahm sich lange Kleidung aus dem Schrank und lauschte währenddessen der Stille, die aus dem anderen Zimmer drang. Es war seltsam, dass ausgerechnet Knox, der sonst keinen Moment ausließ um zu reden, Theodora anschwieg, ja in seinen Maßstäben regelrecht ablehnend zu ihr war. Ob sie das überhaupt bemerkte, war fraglich. Oder ob sie sich daran störte. Als er die Tür wieder öffnete, hatte sich Knox in die Küche zurückgezogen und inspizierte den Kühlschrank. Er richtete sich auf, als er Jean hörte und lächelte ihm aufmunternd zu. Jean nickte und ging in ihren Flur, wo er sich seine Schuhe anzog und darauf wartete, dass sie ihm nachfolgte. Schweigend verließen sie die Wohnung und das Gebäude. So schnell Jean dem Vorschlag, dass sie die Wohnung verließen um zu einem Café zu gehen, zugestimmt hatte, so schnell wurde ihm nun bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wie er dahinkommen sollte. Immer noch hatte er erhebliche Orientierungsschwierigkeiten und war auf die Hilfe seines Teams angewiesen, die ihn von einem Ort zum anderen brachten oder denen er sich anschließen konnte. „Ich kenne die Richtung nicht“, gab er schließlich zu und warf ihr einen neutralen Blick zu. Schweigend nickte Muldani und nahm ihr Handy. Sie rief eine Kartenapp auf und suchte im Umkreis nach Geschäften und Bars, bis das Programm ihr eine Auswahl zeigte. „Heißt es so?“, fragte sie und Jean erkannte den Namen. Grill Bill, genau das war er. Sein Team lachte jedes Mal über den Wortwitz, den er nicht verstand. Knox hatte ihm auch nur soviel verraten, dass es eine Anspielung auf einen Film sei, den Jean natürlich nicht gesehen hatte. „Ja.“ Sie aktivierte die Zielführung ihres Handys und ließ das Programm sie dorthin führen. „Es ist praktisch zum Zurechtfinden“, sagte sie, während er stumm neben ihr herging. „Nennt sich Google Maps. Du hast es auch auf deinem Smartphone. Mit der Fußgängeroption leitet es dich überall hin, wo du hinmöchtest, ohne dass du dich verläufst.“ Überrascht musterte Jean sie. Nach all den Jahren hatte sie immer noch Probleme, sich zurecht zu finden? Nach all dem, was sie erreicht hatte? „Ich bin nicht in der Lage dazu, überhaupt irgendwohin alleine zu gehen“, erwiderte er nicht ohne Bitterkeit und sie nickte. „Ich habe auch lange Zeit dafür gebraucht.“ Jean nahm das schweigend zur Kenntnis und schloss zur ihr auf, als sie sie in Richtung des kleinen Caférestaurants am anderen Ende des Campus führte. Zwölf Minuten sollten sie angeblich laufen, Jean bezweifelte das aber, wenn er sich die Meterangabe ansah. Sie würden schneller sein. Er mochte die Blicke nicht, die sie auf sich zogen, und so gab er sein Bestes, sie zu ignorieren. Ebenso wie er die Frau an seiner Seite versuchte zu ignorieren, die immer noch so wie früher roch. Herb, kühl, androgyn. Er hatte sie für diese Kälte gehasst und tat es heute noch. Stell dich nicht so an. Wir werden alle bestraft. Du bist ein Weichei. Lern richtig spielen, dann wird er dich weniger bestrafen. Ungebeten kamen ihre Worte ihm in den Sinn und Jean bleib abrupt stehen. Was tat er hier eigentlich? Warum gab er ihr die Gelegenheit, sich dafür zu rechtfertigen? Diese Frau hatte wenig Gutes getan. Sie hatte ihn nicht angefasst. Niemals hatte sie Hand an ihn gelegt. Dabei blieb es allerdings schon. „Warum bist du hier?“, fragte Jean mit weniger Wut in der Stimme, als er es gerne gehabt hätte, dafür aber mit umso mehr Verzweiflung. „Du hast mir gesagt, ich soll mich nicht so anstellen. Du hast mir gesagt, dass es meine Schuld ist, weil ich zu schlecht bin. Du…“ Seine Stimme versagte und er sah abrupt weg. Jetzt, da sie da waren, wollte er die Emotionen auf ihrem Gesicht nicht sehen. Sie berührte ihn an der Schulter und er entzog sich ihr unwirsch. Es tat gut, das zu können. Theodora verharrte neben ihm, eine dunkle, bedrohliche Präsenz. „Ich hätte das niemals zu dir sagen sollen. Das hattest du nicht verdient und ich war dumm, dir so etwas vorzuwerfen.“ Jean konnte sich nicht daran erinnern, ihre Stimme jemals so emotionsgeladen gehört zu haben. So rau. Er sah hoch und das war ein Fehler, ein großer Fehler. Ihre Emotionen öffneten Dämme, die bislang gut gehalten hatten. Für Momente starrten sie sich schweigend an. „Er hat mich jahrelang gefoltert und ihr alle habt zugesehen“, murmelte er gegen den Kloß in seinem Hals an. Sie wusste nichts darauf zu sagen, aber in ihren Augen sah er, dass sie wusste, wovon er sprach. Natürlich, Day hatte es ihr erzählt. Alles hatte er ihr erzählt. „Und er hat andere Spieler in mein Bett geschickt.“ Jean lachte verächtlich um nicht zu weinen. „Obwohl es von den fünf Mal eigentlich nur zweimal das Bett war, in dem sie sich mir aufgezwungen haben. Aber es hat gereicht, damit ich auch heute noch Angst davor habe, mit dem Rücken zum Raum zu schlafen. Oder eher als mein Mitbewohner einzuschlafen.“ Seine Worte verhallten wie ein Donnerhall und je länger das Schweigen zwischen ihnen anhielt, desto mehr senkte sich die Schwelle, hinter der Jean seine Tränen sorgsam verschlossen hielt. Seine Augen brannten, doch er weigerte sich, ihr die Genugtuung zu geben, ihn weinen zu sehen. Bewusst atmete sie ein. „Ich hasse Riko dafür, was er dir angetan hat. Ich hasse ihn abgrundtief“, sagte Theodora schließlich, ihre tiefe Stimme rau. „Ich war blind und dumm, ich habe meine Augen vor deinem Leid verschlossen, Jean Moreau.“ Jean verstand ihre Worte und er wusste, dass sie ihn noch viel wütender machen sollten, als sie es taten. Er wusste, dass er sie hassen sollte und doch fand er unter all der Gewalt, die auf ihn projiziert worden war, nicht die Kraft dazu. „Und jetzt?“, fragte er schlicht. „Bin ich hier um mit dir darüber zu sprechen, wie falsch ich gelegen habe. Ich möchte dir Wiedergutmachung anbieten.“ Er verschränkte die Arme vor seiner Brust und sah zu ihr hoch. Theodora war tatsächlich größer als er und auch größer als Kevin. Größer als Ajeet oder sein Bruder vermutlich nicht, aber genau konnte Jean das nicht sagen. Dass er überhaupt darüber nachdachte, kam einer Flucht vor seinen Erinnerungen und der jetzigen Situation gleich. „Was verlangst du von mir?“, fragte Jean misstrauisch und sie schüttelte den Kopf. „Nichts, Jean. Außer vielleicht, dass du mich zu Ende anhörst.“ Er begriff. Langsam und träge, aber er begriff. Wütend schnaubte er. „Day hat dich geschickt, oder?“ Beinahe schon nachsichtig hob sie die Augenbrauen. „Ich lasse mich von niemandem schicken. Ja, Kevin und ich haben über dich gesprochen. Er hat mir mittlerweile alles erzählt. Auch das, was in der Wüste geschehen ist und was er beinahe nicht verhindert hätte.“ Wut huschte über ihr Gesicht und Jean blinzelte. Er machte sich bewusst, dass diese Wut nicht auf ihn gerichtet war, sondern auf Day. Wieso sollte es sie kümmern, ob er sich umbrachte oder nicht? „Er liebt dich, Jean. Immer noch. Jetzt wieder. Nach allem, was Riko ihm eingepflanzt hat, hat er begonnen, sich aus diesem Teufelskreis zu lösen und den Menschen in dir zu sehen, den er schon zu Anfang gesehen hat. Er würde sich nichts mehr wünschen, als…“ „Mich interessiert nicht, was er sich wünscht. Richte ihm das aus, wenn er dich schon gebeten hat, mich zu belästigen“, fuhr Jean dazwischen und grollte. Abrupt drehte er sich weg und sah in die Richtung, in der anscheinend das Café lag. Nicht, dass er wirklich eine Ahnung hatte, wie er dahinkommen sollte. „Ich wünsche mir für dich, Jean, dass du zu dem großartigen Exyspieler wirst, der du schon immer sein solltest. Ich wünsche dir, dass du die Leidenschaft, die unserem Sport innewohnt, nun ohne Gewalt und Demütigung erleben kannst.“ „Wird schwierig, mit der Yakuza im Rücken.“ „Du bist für sie lebendig wertvoller als tot.“ Jean schnaubte verächtlich. „Soviel zum Thema Freiheit.“ Ihr durchdringender Blick sagte ihm sehr deutlich, wie sehr sie seinem berechtigten Einwand zustimmte. Dennoch würde Jean niemals vergessen, wie sehr Theodora Evermore liebte und vergötterte. Der Herr hatte sie groß gemacht, er hatte sie gefördert und so lange gefordert, bis sie über sich hinausgewachsen war. Sie wurde nicht müde, das in jedem einzelnen Interview zu betonen, das sie führte. „Lass uns weitergehen, sonst kommen wir nie an“, sagte er um durch die Bewegung seine Gedanken verscheuchen zu können und gemeinsam überbrückten sie die letzten Minuten bis zum Café, unter der sanften Führung der sonoren Stimme aus ihrem Handy. Sie betraten ebenso stumm das Café wie sie auf ihren Kaffee warteten, beide in ihren Gedanken versunken. Erst, als sie die Becher großen, schwarzen Goldes in den Händen hielten, suchte Theodora Blickkontakt zu ihm und lotste ihn nach draußen, an die frische Luft zu einem der leeren Tische unter den Bäumen. Jean ließ sich nieder und fixierte sich auf den Kaffee in seinen Händen. Das, was er in Evermore nur dann hatte trinken können, wenn Kevin ihm eine Tasse eingeschmuggelt hatte, war ihm ausgerechnet durch Andrew eingeflößt worden. Schluck für Schluck hatte er ihn mit schwarzem Kaffee gefüttert und so den Grundstein gelegt, dass Jean schlussendlich eigenständig dazu griff und dass er sich selbstverständlich welchen kaufte, ohne seinen Kapitän um Erlaubnis zu fragen. „Kommst du mit den Trojans zurecht?“, fragte sie und er sah ob des Themenumschwungs hoch. Entspannt hatte sie sich zurückgelehnt, die Beine übereinandergeschlagen und trank ihren Kaffee mit unablässigem Blick auf ihn. Was interessiert dich das?, wollte er erwidern, doch ihre Worte auf dem Weg hierhin hielten ihn davon ab. Theodora war kein Mensch, der unnütze Dinge tat. Sie hatte sich von New York aus nach hierhin begeben um mit ihm zu sprechen. Die Antwort auf die Frage interessierte sie. „Sie sind zuvorkommend und bemüht, nett zu sein. Ihr Tagesablauf und ihre Freizeitgestaltung unterscheidet sich grundlegend von der aus Evermore. Sie verbringen jede freie Minute draußen, spielen Gesellschaftsspiele, kümmern sich auf eine freundschaftliche Art umeinander und Knox ist…“ Jean stockte. „…er ist anders als Riko. „Er führt, aber gänzlich ohne Gewalt, sondern mit Humor und Engagement. Ich habe am Anfang nicht geglaubt, dass er es ernst meint, doch mittlerweile weiß ich, dass es keine Scharade ist. Er ist nett zu mir. Ohne etwas zu verlangen.“ Er verstummte und Theodora schmunzelte kurz amüsiert. „Ich meinte spielerisch“, erwiderte sie dann und Jean blinzelte. Er stockte in seiner Bewegung, als er sich bewusst wurde, was er priorisiert hatte. Vor Monaten war das noch undenkbar gewesen. Vor Monaten hätte es für ihn nur Überleben und Exy gegeben. Wie sehr sich nun seine Prioritäten verschoben hatten, erkannte er nur zu gut an seiner eigenen Antwort. Und er hatte sich sogar dazu hinreißen lassen, etwas über seinen Kapitän zu erzählen. In Evermore war das undenkbar gewesen. „Ja, auch das. Auch wenn sie nicht diszipliniert genug trainieren.“ „Ist das so?“ „Sie trainieren nicht annähernd soviel wie die Ravens.“ „Dennoch schaffen es mehr von ihnen in die Profiliga als Ravens.“ Jean zuckte mit den Schultern. „Bisher haben sie gewonnen.“ Ihr Lächeln hatte etwas raubtierartiges. Sie verdeckte es, als sie einen Schluck Kaffee nahm. „Du bist eine sehr gute Ergänzung für dieses Team. Mit dir können sie die Meisterschaft gewinnen.“ Jean schnaubte. „Sie können die Meisterschaft gewinnen, wenn sie sich entsprechend anstrengen.“ „Ich habe gesehen, dass sie Raventaktiken mit Trojantaktiken mischen.“ Bedeutungsschwanger hob sie die Augenbraue und er verzog unwirsch die Lippen. „Das macht sie besser.“ „Das macht sie und dich zu einer Einheit. Zu einem Wir.“ Jean wusste darauf nichts zu erwidern. Die Trojans waren da und er war ihnen dankbar, dass sie ihm keine Gewalt zufügten. Aber dass sie mehr als das waren, das konnte er sich nicht vorstellen. Oder? Er machte all diese Freizeitaktivitäten mit ihnen und ließ sich in Gespräche verwickeln. Er nahm das, was sie sagten, auf einer mehr als oberflächlichen Ebene wahr und erinnerte sich auch daran. Er überlegte tatsächlich, ob er noch einmal mit Logan sprechen sollte. Anstelle zu antworten trank er mehrere Schlucke Kaffee und beobachtete die Umgebung und somit auch den Jungen, der nun auf die zukam. Anspannung fraß sich seinen Rücken hinauf, als er versuchte, die Situation einzuschätzen, auch wenn alles darauf hindeutete, dass es schlicht jemand war, der entweder Theodora oder ihn kannte. Sich schüchtern räuspernd erreichte er unter Jeans sezierender Musterung ihren Tisch und blieb in angstvoller Entfernung stehen. „Entschuldigung?“ Nervös knetete der braunhaarige Junge die Finger, insbesondere, als sich Theodora nun zu ihm umdrehte und ihn von oben bis unten musterte. „Ja bitte?“, fragte sie und wie als Begründung hielt der Junge ihnen sein Handy hin. „Mein Name ist Rick. Dürfte ich…äääh…ein Foto von euch Beiden machen? Ich meine, ich bin voll der Fan von euch. Ihr seid großartig und ich sehe mir jedes eurer Spiele an. Schon seit ihr Ravens wart.“ Die Stimme des Jungen triefte nur so vor Bewunderung und Jean runzelte irritiert die Stirn. Immer noch war diese offene Zurschaustellung von Bewunderung irritierend für ihn. Insbesondere, wenn es um Fotos ging. Warum waren Fotos immer so wichtig? Theodora wusste damit weitaus besser umzugehen als er. „Dankesehr“, erwiderte sie derart neutral, dass er wusste, wie wenig sie von den Worten des Studenten hielt. „Was für ein Foto möchtest du denn?“ Dass ihre unfreundlichen, knappen Worte ein Strahlen auf das Gesicht des Jungen zauberten, verwunderte Jean. „Gerne eins von euch beiden, so wie ihr hier sitzt. Es sieht cool und lässig aus, wie ihr hier Kaffee trinkt.“ Cool und lässig? Jean sah auf den bunt bedruckten Becher hinunter. Er trank doch nur Kaffee, ebenso wie Theodora auch. „Ist das okay für dich, Jean?“, fragte sie und er nickte stumm. Warum sollte es das nicht sein? Es war nur ein Foto. Solange, wie der Junge brauchte, mussten es mindestens ein Dutzend sein und Jean atmete erleichtert auf, als er sich schlussendlich wieder aufrichtete und sich mit einem Strahlen geradezu verbeugte. „Vielen herzlichen Dank!“ Er grinste und lachte, als Theodora nickte. Schneller als Jean die Situation begreifen konnte, war der Junge wieder verschwunden. „Du wirst noch mehr Fans bekommen, sobald du in die Pro-Liga wechselst und dich die Nationalmannschaft einberuft. Du solltest dich daran gewöhnen, anstelle wie zu einer Salzsäule erstarrt auf deinem Platz zu sitzen.“ Er blinzelte. Nationalmannschaft? Niemals. Nicht, wenn er nicht dazu gezwungen wurde. „Die Nationalmannschaft trainiert in Evermore“, erwiderte er verächtlich und konnte doch ein Schaudern nicht verhindern. „Ich will nicht mehr dorthin zurück.“ Dass Theodora die Angst in seiner Stimme wahrnahm, stand außer Frage. „Er ist tot, Jean. Tetsuji ist nicht mehr Trainer. Sie können dir nichts mehr. Und es besteht immer die Möglichkeit, dir ein Apartment außerhalb des Schlosses zu nehmen. Lass dir von deiner Angst nicht die Möglichkeit auf eine exorbitante Karriere nehmen.“ „Du hast keine Ahnung von meiner Angst“, knurrte er und zu seiner Überraschung nickte sie. „Da hast du Recht. Allerdings halte ich nichts davon, dass du dein Talent verschwendest.“ Jean schnaubte, sagte jedoch nichts dazu. „Wenn die Zeit kommt und der Verband dich anspricht, blocke ihn nicht alleine aus dem Grund ab. Versprich mir das, Jean.“ Jean glaubte, nicht richtig zu hören. „Warum sollte ich dir irgendetwas versprechen, Theodora?“ „Weil es bedeutet, dass das, wofür du gelitten hast, dir den Erfolg bringt, den du verdient hast.“ Nur sie konnte eine derart krude Exyargumentation finden. Sie und Day, deren Leben nur aus Exy bestanden und sonst nichts Anderem. Wie Schuppen fiel es Jean von den Augen, dass Theodora es tatsächlich ernst meinte. Aber auch, dass er ihrem Gedankengang niemals würde folgen können. „Ich habe wegen nichts gelitten und ich möchte nicht, dass meine Vergangenheit meine Zukunft bestimmt“, sagte er und war überrascht von dem Sinn der Worte, dessen Tragweite sich jetzt erst vollkommen vor ihm ausbreitete. Es war tatsächlich so, dass er keine Zukunft wollte, die auf seiner Vergangenheit aufbaute. Er wollte etwas, das ihn von den schlechten Erinnerungen aus Evermore trennte. Etwas Neues. Etwas, das er sich freiwillig erarbeitete. Wenn er schon gezwungen war, bis zu seinem Ruhestand Exy zu spielen. Missbilligend runzelte sie die Stirn. „Wirf dein Talent nicht weg, Jean.“ Er kam nicht umhin, mit seinen Augen zu rollen. „Das ist nicht deine Entscheidung.“ Entschieden erhob Jean sich. Er hatte genug von Evermore für sein ganzes Leben lang. Er wollte nicht mehr darüber reden, egal in welcher Form. „Jean.“ Er starrte auf sie hinunter. „Hör auf, Theodora, ich möchte nicht darüber sprechen. Und ich werde die Entscheidung für mich alleine treffen.“ Noch vor Monaten hätte er solche Sätze nie gesagt. Er hätte ihre Worte auf sich einprasseln lassen, in dem Wissen, dass seine Meinung nicht von Relevanz war. Die Foxes hatten ihm zum ersten Mal gezeigt, wie es anders gehen konnte und die Trojans formten eben das aus, wo sie nur konnten. Er lernte immer noch, seinen Willen auszusprechen. Er lernte gleichzeitig damit, dass Menschen ihm zuhörten und dass sie seinem Willen folgten. Sogar Theodora Muldani, auch wenn sie nur widerwillig ihre Lippen verschloss. Es war ein Sieg und kein geringer dazu. Für Jean war es ein Schritt weiter in das, was der Rest der Menschheit Leben nannte. ~~**~~ „Cap?“ Jeremy brummte fragend, während er auf die Eingangstür starrte, Alvarez und Laila ignorierend, die es sich am Küchentresen gemütlich gemacht hatten. Er selbst stand an der Anrichte und machte beiden gerade eigentlich seine Kakao-Eiscreme-Sahne-Mischung, wenn da nicht ein Geräusch auf dem Flur gewesen wäre, das seine Aufmerksamkeit in Richtung Tür gelenkt hätte. Wie schon so oft, seitdem Jean mit der ehemaligen Ravenspielerin weg war und nicht wiederkam, sich aber auch nicht per Handy meldete. „Wenn du weiter zu Tür starrst, sperre ich dich in dein Schlafzimmer“, drohte Alvarez und sein Kopf schoss herum. „Was?“, fragte er verwirrt und Alvarez nickte zu dem Eingang hinter ihm. „Du streunst um Tür herum wie der letzte Wachhund. Jean ist ein großer Junge und in der Lage, auf sich aufzupassen.“ Die letzten Worte betonte sie in einer Tonlage, die Jeremy schlucken ließ. Sie war gestresst durch sein Verhalten, sie hielt es für Angst, dass Jean sich erneut etwas antun würde. Bis zum jetzigen Zeitpunkt hatte Jeremy keine Sekunde darüber nachgedacht. Nun aber fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und er schluckte. „Ich mache mir nur Sorgen, weil er mit Theodora Muldani unterwegs ist. Sie ist eine Ex-Raven. Wer weiß, was sie im Schilde führt“, wiegelte er ab und kam nicht umhin, sich dieses Mal mit Gewalt davon abzuhalten, zur Tür zu schauen, als er die Eingangstür ihres Gebäudes hörte. „War es für ihn okay, mit ihr zu gehen?“ „Ja schon, aber…“ „Dann wird er auch sicher zurückkehren. Jean ist zwar lebensunerfahren, aber nicht dumm. Und selbst Ersteres gibt sich so langsam, auch wenn er sich immer noch im Supermarkt verirrt.“ Laila schmunzelte und Jeremy tat es ihr gleich. Ja, das tat Jean tatsächlich. Am Anfang war Jean nur mitgelaufen und hatte Dinge gekauft, die sich in unmittelbarer Nähe seiner Einkaufsbegleitung befanden, weswegen Jeremy dazu übergegangen war, sich sehr lange und sehr ausgiebig in der Obst- und Gemüseabteilung aufzuhalten, damit Jean in Ruhe einkaufen konnte. Mittlerweile entfernte sich der Backliner in einem weiteren Umkreis, was aber nicht bedeutete, das er wusste, wo er welche Sachen im Supermarkt finden konnte. Es wollte sich ihm einfach nicht einprägen. Die kritisch gerunzelte Stirn und die sturmgeweihten, unzufriedenen Augen ließen Jeremy in all ihrer Alltäglichkeit immer wieder schmunzeln. Jean hatte keine Angst mehr, wie am Anfang. Er war ein Jäger auf der Suche nach seiner Beute und war hoch frustriert, dass er sie nicht fand. Das war…herzerwärmend, auch wenn Jeremy den Teufel tun und das zugeben würde, insbesondere nicht gegenüber Jean. Lieber kam er nach einem akzeptablen, zeitlichen Abstand zu ihm und bot seine Hilfe an, die dieser schlussendlich murrend annahm, wenn er etwas gar nicht fand. „Ja, du hast schon Recht“, sagte er im gleichen Moment, in dem die Tür aufging und es tatsächlich Jean war, der nun im Durchgang stand. „Hey Jean!“, grüßte Laila sanft und winkte, während Alvarez wissend grinste und knapp salutierte. Er selbst starrte Jean schweigend an und wartete, bis dieser hineinkam, die Schuhe auszog und langsam zu ihnen in die Küche trat. Fragend ruhten seine grauen Augen auf Jeremy, der ihn von oben bis unten musterte und verstohlene Blicke auf die Körperseiten warf. Irritiert folgte Jean den Blicken und fing seine Aufmerksamkeit ein, nachdem Jeremy um ihn herumgehen wollte. „Untersuchst du mich nach…Verletzungen?“, fragte er mit einem Hauch an Unglauben in der Stimme und Jeremy zuckte ertappt zusammen. Er sah hoch, direkt in die kritischen, grauen Augen, die ihn auf ihre ganz bestimmte Art und Weise anstarrten und ihn nicht aus ihrem Fokus ließen. Verlegen zuckte er mit den Schultern, während Alvarez in seinem Rücken feixte. „Unser Kapitän hat sich Sorgen gemacht, dass die große, böse Wölfin das arme, französische Rotkäppchen mit Haut und Haaren verschlingt.“ „Sie weiß sich zu benehmen“, erwiderte Jean und Jeremy war sich nicht sicher, ob das ein trockener, bitterböser Scherz war. Er beschloss, dass Lachen eine gute Möglichkeit war, um die Spannung abzubauen, die sich in seinem Inneren bei diesem Ausdruck in den grauen Augen gebildet hatte. Dass die nun überraschten Blicke aller drei Anwesenden auf ihm lagen, als wäre er verrückt geworden, machte diesen Versuch schon ein Stück weit zunichte und Jeremy spürte verräterische Röte auf seinen Wangen. „Eisschokolade irgendjemand?“, rettete er sich an den Herd, mit dem Rücken zu den anderen Dreien. ~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 31: Familienbande ------------------------- Jean wusste, dass die klamme Feuchtigkeit seiner Hände Unsinn war. Er wusste, dass es dumm war, nervös zu sein und sich nun schon zum dritten Mal zu überlegen, ob es Sinn machte, sich im Bad einzusperren. Aber er konnte nicht anders und so lief er von der Küche aus ins Wohnzimmer, von dort aus ins Schlafzimmer und fand doch keine Ruhe, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Das würde auch den ganzen Abend so bleiben, wenn nicht sogar Schlimmeres passierte, wie seine Angst ihm nun einflüsterte. Seine dumme, nutzlose Angst, die immer noch um die Vormachtstellung in ihm rang, obwohl Knox ihm schon so oft bewiesen hatte, dass er sie nicht haben musste. Ein Filmabend des gesamten Teams im Gemeinschaftsbereich des Gebäudes war da auch kein Grund, insbesondere, weil er nicht gezwungen war, daran teilzunehmen. Mehr als einmal hatte sein Kapitän ihm versichert, dass niemand ihn dazu zwang, zuzuschauen. Mehr als einmal hatte er ihm sogar angeboten, dass er die Tür abschließen könnte, sobald Knox ihr Apartment verlassen hatte. Alleine das sollte Jean schon beruhigen, wenn da nur nicht die panische Stimme in seinem Inneren wäre, die ihn daran erinnerte, was Riko und die Ravens getan hatten, als sie einen Film angesehen hatten. Das „Was-wäre-wenn“-Spiel, das seine Gedanken spielten, war Jean zuwider und doch war er ihm hilflos ausgeliefert. „Jean?“ Brachial zuckte er zusammen und sah ruckartig hoch. Im Türrahmen zum Wohnzimmer stand Knox und beobachtete ihn als hätte er eine tickende Zeitbombe vor sich. Vielleicht war Jean das ja auch, wer wusste das schon. „Alles in Ordnung“, sagte er automatisch und wurde bis auf die Grundmauern seiner Antwort seziert. Knox glaubte ihm kein Wort, war aber wenigstens so diplomatisch, es ihm gegenüber nicht anzusprechen. Jean seufzte innerlich. „Wie geht es dir mit deinen Muskeln? Hast du immer noch Schmerzen?“, überraschte sein Kapitän ihn dann doch mit einer Frage, die er so nicht erwartet hätte und Jean sah an sich herunter, als könne ihm sein bekleideter Körper eine Antwort darauf geben. Theodora war tatsächlich für ein paar Tage in Los Angeles gewesen und hatte die Gelegenheit genutzt, mit ihm zu trainieren. Es war herausfordernd und wenig angenehm gewesen, aber es hatte Jean spielerisch vorangebracht, auch wenn er sich sicher war, dass einige der Checks nicht durch Rhemanns Kontrolle kommen würden. Zu gefährlich, zu foulanfällig, zu…untrojanhaft. Das Endergebnis ihres einwöchigen, frühmorgendlichen Crashkurses waren einige blaue Flecken und umso schmerzendere Muskeln gewesen. Dass dieses Gefühl nicht einmal annähernd an die Schmerzen in Evermore herangekommen war, erstaunte Jean allerdings immer noch. Für Knox hatte es anscheinend aber ausgereicht, ihm sorgenvolle Fragen zu stellen und ihm sogar vorzuschlagen, zu dem Teamphysiotherapeuten zu gehen, den Jean noch mied wie der Teufel das Weihwasser. Sein Bedürfnis, von einem fremden Mann angefasst zu werden, lag bei Null. Auch wenn er sich bewusst war, dass er, sobald er in der Profiliga spielte, keine Wahl diesbezüglich mehr haben würde, so wollte er doch jetzt noch den Luxus des Neinsagens genießen. „Nein, ich habe keine Schmerzen mehr“, erwiderte Jean wahrheitsgemäß, wenn auch leicht verspätet und der blonde Junge lächelte zufrieden. Wie einfach es doch immer wieder war, Knox glücklich zu machen, erstaunte Jean jedes Mal wieder. Wie wichtig Knox auch sein Wohlbefinden war, ebenso. „Das freut mich. Ich würde gleich runtergehen, kann ich noch etwas für dich tun?“ „Nein. Es ist in Ordnung“, wiederholte Jean und nach einem letzten, prüfenden Blick drehte Knox sich um und raffte all das ungesunde Knabberzeug, was er gekauft hatte, auf seinen Armen zusammen. Mit betont erhobener Augenbraue auf den Berg an Süßigkeiten ging Jean an seinem Kapitän vorbei und öffnete ihm die Tür. „Danke, Jean!“ Eben jener brummte zweifelnd und hielt inne, als Knox sich noch einmal umdrehte. „Also wenn du abschließen willst…“ Er rollte mit den Augen. „Ich weiß, dass ihr mir nichts tun werdet. Es wird schon gehen, Knox. Mach dir keine Sorgen“, erwiderte er im gleichen Maße ernst wie streng und nickte zum Treppenhaus. Vorsichtig lächelte sein Kapitän. „Dann bis später. Und wenn was ist…“ „…schreibe ich dir eine Nachricht“, vollendete Jean den schon oft gesagten Satz und schloss die Tür, bevor Knox noch Wurzeln schlagen konnte und zu spät zu seinem Filmabend kam. Er hörte, wie sein Kapitän nach unten ging und mit lautem Gegröle in Empfang genommen wurde. Seufzend bettete Jean die Stirn an die Tür. Ruhig ein und ausatmend kämpfte er darum, seine Panik niederzuringen, die mit der aufkommenden Einsamkeit mit einem Mal an Wucht gewann, obwohl sie überhaupt keinen Grund dazu hatte. Alles war gut, niemand würde hochkommen und ihm wehtun, alles war in Ordnung. Selbst die Tür konnte von außen nur dann geöffnet werden, wenn jemand einen Schlüssel besaß und Knox würde den Schlüssel nicht weggeben. Er wusste, dass sein Team im Haus und er damit nicht alleine war. Also sollte eigentlich alles gut sein. Abrupt löste sich Jean von der Tür und ging ins Schlafzimmer, wo sein Handy lag. Er wählte Renees Nummer und es dauerte nicht lange, bis sie abnahm und ihn beinahe augenblicklich in einen Videochat zog. „Hey Großer!“, lächelte sie und Jean erwiderte die Geste, wenn auch etwas angespannt. „Hallo Regenbogenmädchen.“ Sorgenvoll musterte er ihr Gesicht, das durch ein großes Hämatom um ihr rechtes Auge entstellt wurde. Jean wusste, woher es kam, schließlich hatte er das Spiel gegen die Breckenridge Jackals im Stream mitverfolgt. Wobei man das, was die gegnerische Mannschaft der Foxes getan hatte, nicht als spielen bezeichnen konnte. Ohne Technik und Finesse hatten sie sich durch das Spiel geprügelt, immer am Rand der Legalität. Dass es nur zwei rote Karten für die Jackals und eine für die Foxes gegeben hatte, wunderte Jean immer noch. Verdient waren sie aber alle gewesen. „Wie geht es deinem Auge?“ „Alles bestens, Abby hat draufgeschaut und der Augenarzt meinte auch, dass ich keine bleibenden Schäden davontragen werde.“ Erleichtert seufzte Jean und labte sich an ihrer liebevollen Musterung. „Wie geht es dir denn? Ich habe gehört, dass du Privattraining von Thea bekommen hast.“ Renees Ton teilte ihm mit, wie wenig sie von Kevins Freundin hielt, auch wenn sie versuchte, höflich und unvoreingenommen zu bleiben. Wie Knox auch schien alles, was auch nur ravenfreundlich war, auf Ablehnung zu stoßen. Überhaupt waren die Beiden sich ähnlicher, als es Jean am Anfang hatte wahrhaben wollen. „Es war herausfordernd, aber gut. Sie hat mir einige neue Kombinationen und Techniken gezeigt, die mein Spiel verbessern werden. Und sie hat Vorschläge gemacht, welche Raventechniken ich noch in abgeänderter Form mit den Trojans üben soll.“ „Das klingt ja beinahe nett.“ Jean schnaubte. „Vielleicht habe ich die eine oder andere Kritik weggelassen, mit der sie meine „eingerostete, in Watte gepackte Art zu spielen“ bezeichnet hat.“ „Die Frau ist die Pest.“ „Sie ist mit Day zusammen, was erwartest du?“ Renee lachte und verzog kurz darauf das Gesicht vor Schmerzen. Sacht befühlte sie ihre Wange und sorgenvoll runzelte er die Stirn. „Jean Moreau, du hast keinen Anstand!“, beschwerte sie sich und er hob die Augenbraue. „Das wusstest du, als du dich mir vorgestellt hast.“ Renee fasste sich an ihr Herz. „Und mir das nun auch noch so direkt ins Gesicht zu sagen. Du Gemeiner!“ Er schmunzelte und lehnte sich gegen die Wand, um einiges entspannter als vorher. „Auch das wusstest du vorher.“ Renee wackelte mit den Augenbrauen. „Na klar, Mister tall, dark und sexy.“ Jean hatte etwas Anderes antworten wollen, hielt nun aber inne. Er ließ sich das letzte Wort durch den Kopf gehen und runzelte bei der Bedeutung die Stirn. Nachdenklich zog er seine Unterlippe zwischen die Zähne und kaute darauf herum. „Findest du das wirklich?“, fragte er schließlich, als er seine Gedanken in Worte fassen konnte und fragend legte Renee den Kopf schief. Sie ging mit ihm ebenfalls zu ihrem Bett und ließ sich darauf nieder. „Was meinst du?“ Peinlich berührt sah Jean zur Seite und musterte Eva, die streng in Richtung des Chaos auf Knox‘ Bett schaute. „Dass ich…hübsch bin“, sagte er schließlich leise und die Worte kamen ihm komisch vor, so als hätte er kein Recht, sie auszusprechen. Bis vor kurzem hätte er es auch nicht gewagt, dies zu tun und bis gerade eben war es auch nicht wirklich wichtig gewesen. Aber ihre Worte hatten ihn neugierig gemacht und er wusste nicht, wen er sonst fragen sollte. „Und ob, Jean. Du bist einer der schönsten Männer, die ich jemals getroffen habe.“ Überrascht sah er hoch und wurde von der Sanftheit ihrer Mimik eingefangen. Da war keine Ironie, da war ruhiger Ernst in ihren Augen. „Aber ich habe Narben.“ „Die machen dich doch nicht weniger hübsch.“ „Es sind so viele, dass sie mich entstellen.“ „Jean.“ „Ja?“ „Deine grauen Augen harmonieren wunderbar mit deinem Teint, der dank der Sonne Südkaliforniens mit jedem Tag weniger bleich ist. Deine Wangenknochen und deine Kinnpartie bilden schöne, gleichmäßige Linien, die dir etwas Gefährliches und Raubtierhaftes geben, wenn du nicht gerade beschließt zu lächeln. Dein Gesicht, dein Hals, Oberkörper und Beine haben genau die richtigen Proportionen zueinander. Die Relation zwischen deinen breiten Schultern und der schmaleren Hüfte in Verbindung mit deiner Größe macht dich zu einem sehr attraktiven Mann. Ganz zu schweigen von deinen Muskeln und nicht zuletzt diesen unverschämt weichen und toll fallenden Haaren, die eine wunderschöne Farbe haben. Aber“, sie hob warnend den Zeigefinger, als er intervenieren wollte. „…das ist noch nicht alles.“ „Nicht?“ Jean hatte jetzt schon Probleme, ihren Worten zu folgen und zu begreifen, was sie zu ihm sagte. Vielleicht hätte er auch gar nicht fragen sollen, aber seine Lippen waren schneller gewesen als seine vorsichtigen Gedanken, die sich nicht mit den Konsequenzen seines Handelns auseinandergesetzt hatten. „Nein. Denn wenn du willst, kannst du deiner Stimme einen unglaublich melodischen Klang geben, wobei du dir anscheinend nicht bewusst bist, was dein französischer Akzent für eine Wirkung auf deine armen Mitmenschen hat. Wenn du nicht gerade beschließt, mit beißender und harter Ironie zu antworten. Aber auch das ist nicht das Schönste an dir, Jean.“ Dieses Mal war er klüger und schwieg, doch Renee war dickköpfiger. Das sollte Jean nach allem, was sie für ihn getan hatte, nun wirklich nicht mehr wundern. „Das Schönste an dir ist deine Seele und dein Charakter, der selbst durch Riko nicht gebrochen werden konnte. Er hat dir wehgetan und versucht, dich zu einem Menschen zu machen, der Anderen wehtut, er hat versucht, dich zu brechen, aber du bist hier und du bist stark und du bist immer noch in der Lage, dein Herz für andere zu öffnen. Du lebst und du hast Freude daran. Das ist das Schönste an dir, Jean und das, wie auch alles andere, kann keine einzige der Narben entstellen. So.“ Renees Worte trafen Jean direkt sein Innerstes und er wagte es kaum zu atmen, aus Angst, dass die in ihm schwelenden Emotionen ausbrechen und ihn unter sich begraben würden. Er wagte es auch nicht, einen einzigen Ton zu sagen, aus Angst, was seine Lippen verlassen würde. Er wagte es nicht wegzusehen, aus Angst, dass Renee nur ein Trugbild war, das ihm seine Fantasie vorgaukelte, weil sie zu gut war um wahr zu sein. Währenddessen wurden seine Wangen immer wärmer und wärmer und er hatte das untrügliche Gefühl, dass er genauso rot wurde wie Knox manchmal. „Sag doch nicht solche Worte“, murmelte er schließlich verlegen und ihr warmes Lachen erklang über ihre Leitung. „Soll ich weitermachen?“ „Renee!“ Nun sah er doch weg, auf seine Decke, weil er sich geradezu schämte. Noch nie hatte jemand ihm derartiges gesagt. Noch nie war ihm so ehrlich und direkt gesagt worden, was er für sich selbst nicht sah, wenn er in den Spiegel sah. Hässlich, wertlos, unfähig, lächerlich, zu nichts nütze, ein Ding, eine Sache, Besitz, das hatte er lange Zeit mit sich assoziiert, nicht jedoch wertschätzende und positive Attribute. Und immer noch fiel es ihm schwer, auch nur Grundzüge davon anzunehmen. Sie schwieg und ließ ihm dadurch Zeit wieder seine Fassung zu erlangen, auch wenn das gar nicht mal so einfach war. Schlussendlich sah Jean wieder hoch und ertrug das Wissen um diesen Umstand in ihren Augen. „Ich weiß, dass du mir jetzt noch nicht glaubst, Jean, aber irgendwann wirst du sehen, was ich sehe.“ Irgendwie klang das wie eine Drohung und er schluckte. Es war besser zu nicken, das hatte er schon gelernt, als er die Monate mit den Foxes verbracht hatte. Wenn Renee sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann würde sie den Weg dorthin eisern und ohne zu zögern gehen. „Ich danke dir“, murmelte Jean und sie nickte. „Immer gerne.“ Wieder schwieg er und warf einen Blick zur Seite. Wie so oft fiel er auf den Briefumschlag mit der Adresse seines Vaters. Wie so oft kehrten seine Gedanken zu der Frage zurück, was er damit machen sollte und er beschloss, sie Renee zu stellen. „Die Anwältin der Moriyamas hat mir auch die Adresse meines Vaters gegeben. Er lebt anderthalb Stunden von hier… und ich weiß nicht, was ich machen soll“, fasste er das zusammen, was ihm ein schlechtes Gefühl in der Magengegend verursachte. Hilfesuchend sah Jean zu Renee, die nachdenklich die Stirn runzelte. „Was sagt dein Bauchgefühl?“, fragte sie schließlich vorsichtig und Jean zuckte mit den Schultern. Seine Familie hatte ihn sicherlich vergessen, nachdem sie ihn weggegeben hatten. Ein neues Leben ohne den Sohn, der gut genug dafür gewesen war, verkauft zu werden. Sie hatten ihn nicht gewollt, niemals und sie liebten ihn nicht. Wieso sollte er also zu ihnen gehen? Oder zu seinem Vater, der ihn vor Jahren schon hätte besuchen können. „Ich denke, sie wollen mich nicht sehen.“ Renee brummte neutral. „Und was fühlst du?“ „Ich habe Angst.“ Vielleicht war das die Essenz seiner Gefühle. Angst vor einem Wiedersehen, vor Hass, Wut, Verachtung, Ablehnung. „Davor, dass sie dich erneut zurückweisen?“ Jean nickte und sie seufzte. „Wie würdest du dich damit fühlen?“ „Es würde mir wehtun und mich wütend machen.“ „Dann solltest du nicht dorthin fahren.“ Renee stockte. „Noch nicht. Vielleicht, wenn es dir etwas besser damit gehen würde.“ Würde es ihm denn damit jemals besser gehen? Jean ahnte, dass dem nicht so sein würde. Dafür war die Wunde zu tief, der Verrat, den seine Eltern an ihm begangen hatten, so enorm. „Soll ich die Adresse wegwerfen?“, fragte er. Vielleicht war das ein Schlussstrich, den er ziehen musste, klar und final. Doch zu seiner Überraschung schüttelte Renee den Kopf. „Behalte sie. Schließe sie weg. Entscheide das in Ruhe nach ein paar Monaten oder gar Jahren, bevor du es schließlich bereust.“ Jean nickte. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass es der richtige Weg sein würde und er lächelte knapp. Das Lächeln erlosch jedoch, als das Handybild verwackelte und lautes Gebrabbel durch den Lautsprecher schallte. Jean verzog die Lippen, als er sein eigenes Gerät unwillkürlich weiter weghielt und schlussendlich einen guten Blick auf Neil und Andrew werfen konnte, die Renee ihr Handy gestohlen hatten. Jean rollte mit den Augen. „Ja bitte?“, fragte er die beiden Idioten, die ihn anstarrten, als würden sie etwas wollen, von dem er aber keine Ahnung hatte, was es sein könnte. „Seid ihr fertig mit eurem Gesäusel?“, fragte Andrew so sonor, dass man es beinahe für Langeweile halten konnte. Mittlerweile wusste Jean es besser. „Gib mir mein Smartphone zurück“, beschwerte Renee sich im Hintergrund, doch Neil dachte nicht daran. Er beugte sich beschützend über den Bildschirm, sodass Jean nur noch ihn sehen konnte. Vorwurfsvoll starrte er Jean an. „Immer rufst du nur sie an. Warum telefonierst du nie mit uns?“, beschwerte er sich bei Jean. „Dafür gibt es viele Gründe“, erwiderte Jean kühl. Andrew schnaubte. „Nenne einen.“ Tatsächlich gab es keinen. Wirklich nicht. Außer dem vielleicht, dass er die Beiden nicht belästigen wollte und das Gefühl hatte zu stören. „Dein Rumgeturtel mit Josten“, schob er schließlich vor. „Lügner.“ Nun war es an Jean, Andrew eine Antwort zu versagen und ihm alleine mit seinem Schweigen zu verstehen zu geben, was er von dieser allzu wahren Einschätzung hielt. „Du hast Knox bedroht“, sagte er vielleicht genau deswegen auch mit einem abrupten Themenumschwung, was Andrew einen überraschten Seitenblick von Neil einbrachte. „Andrew“, erklang Renees Stimme aus dem Hintergrund und hatte genau die richtige Portion Irritation um Jean zu amüsieren. Besagter Junge schnaubte und das Handy wechselte erneut den Besitzer. „Hiiiii“, quietschte Nicky Hemmick laut und begeistert in das Mikrofon und Jean beendete reflexartig den Anruf, bevor er darüber nachdenken konnte, was er gerade tat. Hemmick löste diesen Fluchtreflex in ihm aus, seitdem er einen Abend mit Jean im Zimmer der Krankenschwester verbracht hatte. Wie auch damals war es Jean ein Rätsel, dass jemand wie Andrew und Aaron mit diesem Jungen verwandt sein konnten. Gleichwohl war es ihm aber auch ein Rätsel, dass jemand wie Hemmick die Verantwortung für die beiden Zwillinge übernommen und sie bei sich aufgenommen hatte. Riko hatte sich darüber immer lustig gemacht und auch Jean hatte mit Verachtung auf das familiäre Gefüge herabgesehen. Verachtung geboren aus Neid, das wusste er jetzt, denn tief in seinem Inneren hatte er sich auch in Evermore immer gewünscht, dass es jemanden für ihn gab, der Familie für ihn war. Das musste aber nur nicht zwangsläufig Nicky Hemmick sein. Sein Handy klingelte erneut und mit einem tiefen Seufzen nahm Jean den Videoanruf an. Er stählte sich für Hemmick, wurde aber durch Andrews durchdringenden Blick begrüßt. „Ja bitte?“, fragte er ungnädig, als er das Missfallen dahinter erkannte. Ob das Missfallen daher ruhte, dass er aufgelegt hatte oder dass Hemmick sich im Hintergrund lautstark über den „Grausamen, aber leider schönen Franzosen!“ beschwerte, konnte er in diesem Moment nicht sagen. „Du weißt es besser“, erwiderte Andrew schlicht und Jean schnaubte. „Und du weißt es besser, als mir deinen Erziehungsberechtigten auf den Hals zu hetzen.“ Es war laut genug, dass es ein Aufheulen aus dem Hintergrund provozierte und Jean ließ Andrew seine Schadenfreude sehen. „Wo ist Knox?“ Jean grollte. „Du lässt die Finger von ihm.“ „Sonst was?“ Das war eine gute Frage. Jean lag es fern, Andrew zu bedrohen und er bezweifelte auch, dass er ein ernstzunehmender Gegner für den blonden Torhüter sein würde. Dennoch konnte und wollte er nicht zulassen, dass dieser Knox bedrohte. „Er hat dir nichts getan“, sagte er entsprechend verstimmt und Andrew hob die Augenbraue. „Und?“ „Warum drohst du ihm dann?“ „Um dein Seelenheil zu schützen, Findelkind.“ Jean blinzelte. Irritiert legte er den Kopf schief und wollte fragen, was das heißen sollte, als Andrew das Handy auch schon an Renee zurückgab, anscheinend fertig mit ihrem Gespräch. Jean schnaufte missbilligend und sie lachte. „Andrew macht sich nur Sorgen um dich. Im Grunde seines Herzens weiß er auch, dass Knox ein guter Mensch ist, der sich nichts zu Schulden kommen lassen und dich gut behandeln wird.“ Die Vorstellung, dass Andrew sich Sorgen um ihn machte, war so verrückt, dass Jean sie im ersten Moment nicht glauben wollte. Im zweiten jedoch begriff er, dass eben das gar nicht mal so unwahrscheinlich war. Auch nach ihrem abgebrochenen Handel hielt Andrew noch Kontakt zu ihm. Nicht so viel wie Neil, aber genug, dass Jean den Eindruck gewann, dass er es auch wollte. Vorher war das auch der Fall gewesen, wenn Jean an die schmerzhafte und angstdurchsetzte Vergangenheit in Abbys Haus zurückdachte, wo er hin und hergerissen zwischen Angst und schmerzlicher Hoffnung gewesen war. Es war Andrew gewesen, der ihn zum Essen und Trinken animiert hatte. Immer und immer wieder. Ebenfalls war es Andrew gewesen, der ihm alltägliche Dinge nähergebracht hatte, die Jean nicht kannte. Er brummte und erhob sich mit Renee. Er hatte Durst und vergessen, sich seine Limonade mit ins Schlafzimmer zu nehmen. Vorsichtig stellte Jean sein Handy auf die Anrichte und suchte im Kühlschrank nach der Karaffe, die Knox nach Rezept seiner Mutter gemacht hatte. Ohne Zucker, wie er versicherte, doch Jean bezweifelte das, ließ ihm aber seine kleine Täuschung. „Das sieht lecker aus. Erfrischend.“ Jean stöhnte auf. „Das ist auch notwendig. Es ist so heiß hier.“ „Du bist heiß“, hörte er im Hintergrund und beschloss, Hemmick konsequent zu ignorieren. Es wäre besser so. Für sein Seelenheil. Renee grinste und Jean setzte zu einer wenig diplomatischen Antwort an, als es plötzlich laut durch das Haus grölte. Von unten, seinem Team, die einen Film sahen. Jean fror in seiner momentanen Bewegung ein und verharrte. Ungute Erinnerungen erzeugten abrupt eine solche Angst in ihm, als wäre er nie aus Evermore weggeholt worden. Seine Gedanken kamen zu einem abrupten Halt, doch dann flüsterten sie ihm zu, dass sie kommen würden, um ihn zu holen. Sie würden das mit ihm machen, was sie gerade gesehen hatten und sie würden ihn leiden lassen. „Jean.“ Er wehrte sich mit aller Macht gegen den Gedankengang, gegen die zerstörerische Wucht des Traumas, das Riko ihm mit seinen Worten und Taten zugefügt hatte, doch es nützte nichts. Er fühlte Hitze in sich aufsteigen und sein Puls raste, von jetzt auf gleich, als wäre er nie entspannt gewesen. Er versuchte, die aufkommende Panik zu schlucken, doch es gelang ihm nicht, scheiterte daran, dass er aus lauter Angst nicht in der Lage dazu war zu schlucken. „Jean.“ Erinnerungen an das Gefühl des Erstickens machten ihm seine jetzige Realität zur Qual. Er hätte es besser wissen müssen als darauf zu vertrauen, dass Riko ihn nur schlagen oder mit seinem Messer verletzen würde. Er hätte es wirklich besser wissen müssen, war aber dumm genug gewesen zu hoffen und hatte das bitter bereut. „JEAN!“ Ruckartig fuhr er zu der Stimme herum, von der er beinahe augenblicklich wusste, dass sie ihm Sicherheit bringen würde. Panisch suchte er sie, weil er nicht sie fand und für einen Moment lang hatte er Angst, dass er sich Dinge einbildete, die nicht da waren. Doch dann sah er sein Smartphone und erkannte Renee. Was sie da tat und warum er ein Smartphone so offen in die Küche stellte war Jean für den Bruchteil einer Sekunde ein Rätsel, dann wurde er sich bewusst, wo er war und dass er sich nicht mehr in der Gewalt von Evermore befand. Er musste das Handy nicht mehr verstecken. Renee war ohne sich zu verstecken bei ihm. Er war ihnen nicht alleine ausgeliefert. „Renee“, krächzte er rau und sie lächelte, als würde sie ihn einfangen wollen. „Ja, Jean, ich bin es. Alles ist in Ordnung. Niemand wird dir hier wehtun. Du bist in L.A., dein Team sind die Trojans, dein Kapitän heißt Jeremy Knox. Riko ist tot.“ Ihr Ton beruhigte ihn mehr als es ihre Worte taten. Erst verspätet sickerte dann auch die Bedeutung der Worte in sein bewusstes, logisches Denken und verankerte ihn in seiner hiesigen Realität. Los Angeles statt Evermore. Wärme statt Kälte. Knox statt Riko. Jean tat einen ersten, zittrigen Atemzug und ließ dem viele weitere folgen, einer tiefer als der andere. Nein, sie würden nicht kommen und ihn holen. Sie würden ihm nichts antun. „Weißt du, woher das Geräusch kommt?“, fragte Renee schließlich ruhig und Jean nickte. „Von den Trojans. Sie schauen einen Film.“ Ihr wissendes, sanftes Lächeln beruhigte ihn ebenso sehr wie es der Ton ihrer Worte getan hatte. „Weißt du welchen?“ „Irgendetwas über einen Zirkus mit Menschen, die anders sind als normale Menschen und den dazugehörigen Zirkusdirektor. Es wird wohl viel gesungen in dem Film“, gab er das wieder, was Knox ihm darüber erzählt hatte. „Und dann wollten sie irgendeinen Horrorfilm schauen, irgendetwas, das Logan aussuchen sollte.“ Renee nickte bedächtig. „Es wird nicht wieder passieren“, sagte sie schließlich mit einer Finalität, die sich wie Balsam auf Jeans Seele legte und ihm ein Gefühl der Sicherheit gab, das er sich selbst niemals glauben würde. Es wunderte ihn nicht, denn sie hatte jedes ihrer Versprechen an ihn eingehalten. „Nein, das wird es nicht“, probierte er die Worte mehr aus, als dass er sie im ersten Moment wirklich so meinte und stellte fest, dass er ihre Bedeutung und ihren Klang mochte. Wieder brannte Lärm unten auf und wieder zuckte Jean zusammen. Dieses Mal jedoch blieben die schlechten Erinnerungen ein Ziehen an seiner gerade mühevoll erkämpften Ruhe und er war in der Lage, sie nach ein paar bewussten Atemzügen gänzlich in die Untiefen seiner Gedanken zu verscheuchen. Vielleicht, nein, ganz sicher lag das auch an den schiefen und krummen Lauten, die sich zu Renee und ihm schlängelten. „Sie singen“, sprach sie das aus, was Jean sich bis eben geweigert hatte zu glauben. Nun blieb ihm aber nichts Anderes übrig, als sich dieser Wahrheit zu stellen und er brummte. Ihr Unterton war deutlich amüsiert und bedeutungsschwanger hob sie die Augenbraue. „Du hast dir das Disneyteam geangelt, Jean Moreau“, neckte sie ihn und er schnaufte. Sein Vater war mit ihm einmal im Disneyland gewesen, in Paris. Es war bunt gewesen und hatte ihm eine heile Welt vorgegaukelt, die sein kleines, achtjähriges Ich gierig aufgesogen hatte. Er hatte damals viele dieser Filme gesehen und er wusste, dass dort viel gesungen wurde, daher konnte er auch ihrer Anspielung folgen. Jean rollte mit den Augen, als im Hintergrund der schiefe Chor zu neuen Höhen anschwoll. ~~**~~ „Meinst du, sie hat das überlebt?“, fragte Alvarez mit gerunzelter Stirn und sah sich nach dem roten Auto um, von dem weit und breit noch keine Spur zu sehen war. Jeremy folgte ihrem Blick und steckte sich stirnrunzelnd die Hände in die Hosentaschen seiner luftigen Sportshorts. Vor einer Stunde hatten sie Jean in die Hände von Susan, kurz Sue, übergeben und ihm zum Abschied gewunken. Nun warteten sie gespannt auf seine Rückkehr, doch weder von dem roten Wagen noch von Sue oder Jean war etwas zu sehen. „Sie oder er?“, hielt er dagegen und sein Vizekapitän verschränkte nachdenklich die Arme. „Wollen wir wetten?“ Jeremy grinste und sah ihr in das erwartungsvolle Gesicht. „Hör auf, soviel mit Dan zu telefonieren. Sie färbt schon auf dich ab.“ Alvarez schnaufte. „Das sagst du nur, weil du immer verlierst, Cap.“ „Das sage ich, weil ich Glücksspiel nicht unterstütze.“ „Du bist viel zu spießig für deinen Astralkörper, Jer.“ Jeremy lachte und warf einen Blick in die Richtung des Parkplatzes, auf dem ein fremdes Fahrzeug ankam und parkte. Nicht die Fahrschule, immer noch nicht. Hibbelig trat Jeremy auf der Stelle und trat kleine Steinchen in das Gras. „Dir ist schon klar, dass wir aussehen wie zwei stolze Eltern, die darauf warten, dass ihr Sprössling von der ersten Fahrstunde zurückkehrt, oder?“, merkte Alvarez zynisch an und Jeremy konnte ihr da nur beipflichten. Es änderte jedoch nichts daran, dass er es nicht erwarten konnte, Jean zu fragen, wie seine erste Fahrt durch den Stadtverkehr von L.A. gewesen und wie er alleine zurecht gekommen war. „Er ist aber auch gut geraten, unser Sohn“, erwiderte er mit einem breiten Grinsen, das noch viel breiter wurde, als endlich das Fahrschulfahrzeug in einem gemäßigten, aber zügigen Tempo um die Ecke bog und in der Nähe des Eingangs mit Schwung stehen blieb. Jean sprach kurz mit der Fahrlehrerin und nickte, während sie bedeutungsschwanger die Augenbrauen hob. Als er ausstieg, musterten Alvarez und Jeremy ihn gespannt. Jean lächelte und strahlte eine solche Zufriedenheit aus, dass Jeremy einen Moment lang innehalten musste, um den Anblick für sich selbst festzuhalten. Am liebsten hätte er ein Foto davon gemacht um es sich immer wieder anschauen zu können, weil er so fasziniert war von der offensichtlichen Freude auf Jeans Gesicht, die er so noch nie gesehen hatte. „Die Fahrlehrerin sieht ein bisschen blass aus“, murmelte Alvarez neben ihm, als Sue ebenfalls ausstieg um auf die Fahrerseite zurück zu kehren und Jeremy hätte es in diesem Augenblick nicht egaler sein können, so gefangen war er von Jeans Glück. Dennoch warf er einen kurzen Blick auf die sonst eigentlich entspannte Mittvierzigerin mit ihren perfekt hochgesteckten, braunen Haaren. Entspannt war sie tatsächlich nicht. Mit blassem Gesicht nickte sie ihnen zu, bevor sie sich beinahe schon erleichtert auf den Fahrersitz fallen ließ. Jeremy lächelte zurück und winkte ihr. „Und?“, fragte er mit einem breiten Grinsen im Gesicht an seinen Backliner gewandt, der ihn unruhig und voller Energie musterte. „Es war gut. Und schnell. Und spannend.“ Wenn Jeremy daran dachte, wie blass Sue doch um die Nase herum gewesen war, dann war es von allem vermutlich ein wenig zuviel gewesen für die erste Fahrstunde. Zumindest für die Fahrlehrerin. „Hast du Lust auf mehr?“ Jean nickte und sein erneutes Lächeln suchte sich seinen Weg direkt in Jeremys Brust. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus und er konnte nicht anders als mit zu grinsen. Neben ihm schnaubte Alvarez. „Wenn ihr Beiden euch weiterhin so autoliebestrunken anstarrt, dann gehe ich“, murrte sie und Jean löste sich bedauerlicherweise aus seiner unbeschwerten Freude. Er räusperte sich und kehrte bewusst zu seinem normalen, ruhigen Gesichtsausdruck zurück. „In vier Tagen habe ich die nächste Stunde“, sagte er und musterte Jeremy so, als müsste er sich sein Einverständnis einholen. Jeremy ließ ihn nicht, sondern hob nur erwartungsvoll die Augenbrauen. „Das freut mich sehr für dich. Auch wenn ich befürchte, dass du deine Fahrlehrerin in das frühe Grab treibst.“ Kritisch runzelte Jean die Stirn. „Aber ich bin so gefahren wie du“, erwiderte er mit einer ironischen Selbstverständlichkeit, die Alvarez laut auflachen ließ. „Das ist kein gutes Vorbild, Moreau, wirklich nicht. Kein Wunder, dass Sue so blass um die Nase ist!“ Jeremy schnaubte empört. „Ich habe euch bisher zuverlässig von A nach…“ „Entschuldigung“, unterbrach ihn eine tiefe, männliche Stimme, die ihm latent bekannt vorkam. Sie hatte einen strengen, aber dennoch weichen, beinahe unsicheren Klang und gehörte zu dem Mann, den er gerade aus dem Augenwinkel heraus wahrgenommen hatte. Er hatte angenommen, dass dieser zu jemand anderem im Wohnheim wollte und nicht weiter auf ihn geachtet. Jeremy sah um Jean herum und lächelte. „Ja bitte?“, entgegnete er und Jean drehte sich ebenfalls um. „Ich suche….“, begann er und hielt mit einem Blick auf Jean inne, den er wie einen Geist anstarrte. Irritiert runzelte Jeremy die Stirn und folgte den geweiteten Augen in Richtung Jean, auf dessen Gesicht er einen beinahe identischen Ausdruck wiederfand. Jeans Mimik spiegelte die des Mannes bis auf den letzten Millimeter. Dann stahlen sich Entsetzen und Bestürzung auf das gerade noch begeisterte Gesicht seines Backliners und Jeremy spürte ein tiefes Bedauern ob des Stimmungsumschwungs, der mit nichts anderem als dem Mann zu tun hatte, der nun bei ihnen stand und anscheinend alleine durch seine Anwesenheit das Positive aus Jean getilgt hatte. Jean wich zurück und Jeremy streckte alarmiert einen Arm aus, um ihn zu stützen, falls notwendig. Doch Jean fing sich und seine Augen huschten kurz von Jeremy zu dem Mann und wieder zurück. „Was ist los, Jean?“, fragte Jeremy stirnrunzelnd und positionierte sich zwischen Jean und dem Mann. Wenn das jemand aus Jeans Vergangenheit war, der meinte, ihm genauso viel Angst einjagen zu müssen wie die Anwältin der Moriyamas, dann hatte er sich getäuscht. „Wer sind Sie und was wollen Sie?“, fragte er mit der Autorität des Kapitäns, die Jean zusammenzucken ließ. Jeremy nahm sich fest vor, sich später dafür zu entschuldigen, nun aber fixierte er sich auf die augenscheinliche Bedrohung vor sich. Verspätet nahm ihn der Mann überhaupt erst zur Kenntnis und schluckte. „Ich...ich bin… mein Name ist…Moreau. François Moreau.“ ~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 32: Schuld und Sühne ---------------------------- Moreau. François Moreau. Jeremy runzelte die Stirn, als sein Hirn versuchte, die Puzzlestücke seiner Erinnerungen zusammen zu fügen. Er hatte den Namen schon einmal gehört, nein, gelesen. Auf einem Blatt Papier. Eine Adresse, als Geschenk für Jean, in einem Umschlag, den sein Zimmernachbar immer noch aufbewahrte und den er in unbeobachteten Momenten in die Hand nahm und mit steil gerunzelter Stirn betrachtete. Jean hatte von sich aus das Thema nicht mehr aufgebracht und Jeremy hatte ihm den Raum und die Zeit gegeben, sich klar darüber zu werden, was er wollte. Zumal es Jeans Entscheidung war, ob er die Familie wiedersehen wollte, die ihn verkauft hatte. Er würde dann da sein, wenn Jean seine Hilfe brauchte. Doch nun…nun war ihm diese Entscheidung abgenommen worden und der Mann, dessen Name auf dem Zettel Jean schon soviel Emotionen bereitete hatte, stand in Fleisch und Blut vor ihm, unsicher und auf seinen Sohn fixiert, der ihn anstarrte, als wäre er der Teufel höchstpersönlich. Jean war so bleich, dass Jeremy Angst hatte, dass er gleich ohnmächtig werden würde. Er brachte kein Wort über seine Lippen, auch wenn in seinen Augen blanke Panik stand. Er zitterte am ganzen Körper und schluckte mühevoll. Sein gesamter Körper war so angespannt und fluchtbereit. „Nein“, krächzte Jean und versuchte seinen Kopf zu schütteln. Dabei kam nicht mehr als eine abgehackte Bewegung heraus, die eher einem Zucken glich. Jeremy trat einen vorsichtigen Schritt auf den Backliner zu und streckte seine Hand aus. Doch das kam nicht als Geste der Beruhigung an, ganz und gar nicht. Jean zuckte zurück, als hätte er sich verbrannt. Er musterte Jeremy, als wäre er ein Monster und das schmerzte. Es brannte höllisch in Jeremy. „Jean, bitte, ich bin hier. Ich…“ Deswegen kannte Jeremy die Stimme. Sie klang so französisch melodisch wie Jeans, nur älter, ruhiger, strenger. Genauso verzweifelt. Die Ähnlichkeit war nicht zu verleugnen, weder in der Mimik noch in der Körperhaltung noch im Aussehen, wenn Jeremy sich die Zeit nahm, den Mann, der nun ebenfalls einen Schritt auf Jean zutrat, in Augenschein zu nehmen. „Nein. Geh weg!“ Jean nutzte die Sekunde von Jeremys Unaufmerksamkeit um zu fliehen. Weg von ihnen, hinein ins Gebäude, ohne einen Blick zurück zu werfen. Seine Worte, so eindeutig sie waren, waren geboren aus Verzweiflung und Angst, das hatte Jeremy sehr deutlich gesehen. Sein Vater wollte ihm folgen, doch Jeremy trat ihm geistesgegenwärtig in den Weg. An seiner Seite, Alvarez, eine ruhige Präsenz. „Jean, bitte!“, rief Mr. Moreau ihm hinterher und Jeremy streckte beschwichtigend eine Hand aus, auch wenn er sich nicht wirklich ruhig fühlte. Dies war der Mann, der seinen eigenen Sohn einer Verbrecherfamilie ausgeliefert hatte, damit diese ihn ein knappes Jahrzehnt foltern konnten. Dies war der Vater, der in der Lage war, sein Kind wegzugeben. Nein, er fühlte sich nicht ruhig. „Mr. Moreau, bitte treten Sie einen Schritt zurück“, sagte er, als dieser ihre Verteidigungslinie durchbrechen wollte und abrupt geriet er in den Fokus des älteren Mannes, der ihn mit einer solch rohen Verzweiflung musterte, dass es Jeremy kalt den Rücken hinunterlief. „Ich muss mit meinem Sohn sprechen. Bitte. Ich muss ihm erklären…“ „Ihr Sohn möchte Sie nicht sehen“, erwiderte Alvarez ruhig. „Bitte hören Sie auf das, was Jeremy Ihnen gesagt hat und treten Sie zurück.“ Der Mann dachte nicht daran und für einen Moment lang hegte Jeremy die Befürchtung, dass er versuchen würde, mit Gewalt an ihnen vorbeizukommen, so sehr, wie sich sein Gesicht verzog. Dann jedoch fiel er wie ein leerer Blasebalg in sich zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. „Bitte, ich möchte ihm wirklich erklären, warum…“ Hoffnungsvoll sah er hoch, anscheinend im fahlen Glauben, dass sie wussten, was er meinte. Zumindest auf Jeremy traf das zu und er schnaubte. „Ihre Erklärung möchte er nicht. Ihm reicht es, dass sie ihn vor neun Jahren alleine gelassen haben“, erwiderte er mit mehr Abneigung, als er es eigentlich gewollt hatte und Mr. Moreau zuckte zusammen. Aus dem Augenwinkel heraus sah Jeremy, wie Alvarez ihn überrascht musterte. Wenn Jean es ihm erlaubte, würde er ihr es später erklären, jetzt jedoch fixierte er all seine Entschlossenheit auf den Mann vor sich. „Ich wollte nie…“ Wieder verstummte dieser und ließ schließlich hilflos die Schultern hängen. Gepeinigt sah er auf den Boden. Das entsprach nicht dem Bild, das Jeremy von Jeans Vater gehabt hatte, wenn er ehrlich war. Hier stand ein Mann, der ernsthaft litt. Wäre Jeremy ein gehässigerer Mensch gewesen, hätte er sich daran vielleicht gelabt, doch so empfand er Mitleid, auch wenn er wusste, dass es vermutlich falsch war. „Das ist etwas, was Sie mit Ihrem Sohn besprechen sollten“, seufzte Jeremy und warf einen Blick hinter sich zum Gebäude. Der Eingang war bereits verwaist und es juckte ihm, Jean zu suchen um ihn nicht alleine zu lassen mit seinem Schmerz. „Aber ich glaube nicht, dass er Sie hier sehen möchte. Zumindest nicht jetzt.“ Mit großen, grauen Augen wurde er gemustert und Jeremy sah für eine Sekunde einen älteren Jean vor sich. Der Eindruck verschwand, aber der Wunsch, Jean auch dann noch einen Freund nennen zu dürfen, blieb und brannte sich in Jeremys Innerstes ein. „Würdet ihr ihm sagen, dass ich mit ihm sprechen möchte…über alles? Würdet ihr ihm meine Adresse geben? Ich wohne nicht weit von hier. Wenn er… wenn er sich bereit fühlt, dann ist er jederzeit herzlich willkommen bei mir. Bitte, ich schreibe sie euch auf und ihr gebt sie ihm, damit er weiß, wo er mich findet, wenn er mich sehen möchte. Okay?“ Jeremy bezweifelte das Jean ihn sehen wollte, aber er nickte. Es war Alvarez, die Mr. Moreau mit ernster, stocksteifer Miene einen Zettel und Stift gab. Dass das eigentlich nicht nötig war, verschwieg Jeremy und sah, wie Mr. Moreau mit zitternder Hand seine Adresse notierte. Schlussendlich reichte er Alvarez beides zurück und sie nickte. „Geht es ihm…gut?“, fragte Jeans Vater schließlich zögerlich und Alvarez schnaubte. Trotzdem sie wenig bis gar nichts über Jeans Familie wusste, war sie in der Lage, die Zwischentöne aufzugreifen, die in Jeans Verhalten und in Jeremys Umgang mit diesem Mann herrschten. „Nachdem er zu uns gewechselt ist, so langsam“, erwiderte sie kühl. „Aber fragen Sie mal sein altes Team.“ Der implizite Vorwurf stand klar zwischen ihren Worten und der Mann vor ihnen erbleichte. Er schluckte schwer, schwieg aber dazu, seine Augen wie gebannt auf den Zettel gerichtet, der sich in Jeremys Händen befand. „Ich werde ihm den Zettel geben und er wird entscheiden, ob und wann er sich bei Ihnen meldet, Mr. Moreau“, sagte er ruhig, aber bestimmt. „Ich werde ihn jedoch nicht zu einer Reaktion überreden, die Entscheidung liegt ganz alleine bei Jean.“ Schweigend wurden seine Worte akzeptiert und ebenso wortlos nickte der Mann. Einen Moment lang hatte Jeremy den Eindruck, dass er einen gebrochenen Vater vor sich hatte, der durch den Verlust seines Kindes einen Teil seines Lebens verloren hatte. Ein Teil in ihm begehrte gegen den Eindruck auf, denn schließlich waren es Jeans eigene Eltern gewesen, die ihren Sohn sadistischen Monstern ausgeliefert hatten. Ein anderer hatte Mitleid und versuchte eine Lösung für dieses Problem zu finden. Alleine schon um Jean glücklich zu machen. ~~**~~ So fühlte es sich also an, wenn die Welt aus den Fugen geriet. Jean hatte es von damals anders in Erinnerung, als er begriffen hatte, dass seine Eltern ihn niemals wieder aus der Hölle abholen würden. Damals hatte es sich so angefühlt, als würde die Welt für ihn enden und das tat es zum gewissen Teil jetzt auch. Vor neun Jahren wie auch heute durchlebte er so mannigfaltige Emotionen, dass sie ihn beinahe erschlugen mit ihrer Wucht. Bestürzung, Entsetzen und Fassungslosigkeit waren da und konkurrierten mit Unglauben und Angst. Er konnte nicht atmen von dem ätzenden Gefühl des absolut intimen Verrates, der an ihm begangen worden war. Selten hatte Jean eine solche Unruhe in sich gespürt wie jetzt hier auf dem Dach, das er in immer gleichen Kreisen ablief. Wäre er anders erzogen worden, hätte er sich ein Beispiel an Neil genommen und wäre gerannt. Weiter und weiter weg, Abstand zwischen sich und dem Problem dort unten auf dem Parkplatz bringend. Er wäre geflohen vor seinem Team und dem Mann, der nichts von ihm hatte wissen wollen. Doch er konnte nicht, also drehte er auf den Betonplatten und dem Kies des Daches seine Runden und erstickte an seiner Unfähigkeit, all die Gefühle aus sich heraus zu lassen, die in ihm von jetzt auf gleich aufgewallt waren und die sich langsam zu Hass und Zorn destillierten. Was bildete sich dieser Mann dort unten ein? Nach neun Jahren hierhin zu kommen und vor ihm zu stehen? Dachte er, er hätte ein Anrecht darauf, mit ihm zu reden? Oder ihn gar um Verzeihung zu bitten? Jean lachte bitter auf. Ja natürlich. Entschuldige Jean, dass wir dich verkauft haben. Entschuldige Jean, dass wir dich in die Sklaverei gegeben haben, um unsere Schulden zu tilgen. Entschuldige Jean, dass du wegen uns gefoltert wurdest. Entschuldige, dass du neun Jahre Hölle hinter dir hast, während wir unser gutes Leben weitergelebt haben voller Sonne und Wärme und Luxus. Wenn er so wäre wie Andrew, dann würde er seine Eltern ebenso umbringen und es wie einen Unfall aussehen lassen, zischte Jean innerlich und bohrte seine Nägel so brutal in seine Handinnenflächen, dass er Blut hervorbrachte. Es war die erste Verletzung, die er sich seit Evermore selbst zufügte und sie fühlte sich gut an. Er brauchte das Ventil für seine Wut. Was er definitiv nicht brauchte, war die Tür, die sich in seinem Rücken öffnete. Wer auch immer da stand, würde ganz sicher Opfer seiner Wut werden, das wusste Jean. Ein kleiner Teil von ihm wollte das nicht, ein weit größerer jedoch gierte danach, zu verletzen, wie er verletzt worden war. Die Person, die da stehen würde, wäre nur ein Stellvertreter für das Gesicht seines Vaters, der die Dreistigkeit besessen hatte, schuldbewusst und traurig auszusehen. Aber sie wäre ein guter Stellvertreter. Oder es war sein Vater selbst. Oh… das wäre das Beste, was ihm passieren könnte. Wahrlich das Beste. Er würde ihn anschreien und ihn schlagen. Er würde ihm all die Dinge an den Kopf werfen, die er neun Jahre lange in sich verschlossen hatte. Er würde ihn mit Worten und Taten verletzen und ihm zeigen, was er seinem Sohn angetan hatte. Jean fuhr herum und sah Alvarez. Ruhig stand sie am Eingang zum Dach und musterte ihn. Er hasste sie für diese Ruhe und er hasste sie für die Störung. Verschwinde, zischte es in ihm, dunkel und gewaltbereit. Lass mich in Ruhe. Lass mich alleine. Ich will dich nicht sehen. Alles, was Jean tat, war, sich von ihr wegzudrehen. So sehr Alvarez auch in seine Privatsphäre drang, wenn er sie nicht davon abhielt, so sehr respektierte sie nun seinen offensichtlichen Wunsch. Momente lang herrschte Stille zwischen ihnen und dann hörte Jean, wie sie das Dach verließ und die Tür hinter sich schloss. Er war wieder alleine und das war auch gut so, konnte er doch so seinem Hass und Selbsthass freie Bahn lassen. Wo er sich Linderung erhofft hatte, wurde es schlimmer. Mit jeder Minute, die er auf dem Dache auf und ablief. Er fand keine Ruhe und gab es schließlich auf, zumindest mit mühevoll erzwungener Ruhe zu seinem Kapitän zurück zu kehren. Wütend verließ Jean das Dach und polterte die Metalltreppe hinunter. Vor ihrer Apartmenttür unternahm er den Versuch eines Durchatmens, scheiterte aber kläglich an der Enge seiner Brust. Seine Hand, mit der er den Schlüssel in das Schloss steckte, zitterte so stark, dass er drei Anläufe brauchte um die Tür zu öffnen. Dass Knox quasi hinter der Tür auf ihn lauerte, brachte ihm keine Entspannung, so gar nicht. Wütend ballte Jean seine Hände zu Fäusten. Er konnte nicht darüber sprechen, denn er wusste nicht, was seinen Mund verlassen und wen er verletzten würde. „Nicht“, presste er hervor, bevor Knox seinen Mund aufmachen konnte und starrte auf den Boden, während er sich seine Schuhe auszog. Er hob seinen Blick auch nicht, als er darauf wartete, dass sein Kapitän schweigend zur Seite trat um ihn durchzulassen. Nicht bevor er ihm jedoch einen Zettel hinhielt, den Jean ruppig an sich nahm. Er sah, was es war und zerriss er ihn, entsorgte das nutzlose Stück Papier mit einem Zischen in seinen Mülleimer. Als der Weg frei war ging Jean ins Bad und schloss die Tür hinter sich. Laut rastete der Riegel ein, als er sich einschloss und zu Boden sank, den Kopf in seinen Händen vergraben, die Lippen zu einem stummen Schrei geöffnet, der seine Stimmbänder nicht erreichte. ~~**~~ Jean wusste, dass er auf eine Katastrophe zusteuerte, doch er war unfähig, sich dagegen zu wehren. Er war unfähig um Hilfe zu bitten, weil er wusste, dass er nach allem, was ihm nahe kommen würde, schlagen würde. Mit Worten, Fäusten, was auch immer ihm zur Verfügung stand. Mit jedem Tag, den er sich in sich selbst zurückzog, wurde er dünnhäutiger und instabiler. Dass er sich beim Training zurücknehmen musste, war eine Qual. Am Liebsten hätte er sich bis zur vollkommenen Erschöpfung verausgabt. Bis zur Bewusstlosigkeit, die die im Kreis laufenden, zerstörerischen Gedanken beendete, welche ihn im festen Griff hatten. Doch nein, sowohl Rhemann als auch Knox schonten die Mannschaft im Hinblick auf das kommende Spiel und er kam immer unbefriedigter in die viel zu warme und stickige Wohnung zurück. Knox versuchte, ihn in Gespräche zu verwickeln, die Jean eisern abblockte. Als sein Kapitän nicht mehr weiterkam, versuchte es seine Mannschaft und auch diese ignorierte Jean. Soweit es ihm möglich war, floh er vor ihnen. In seine Bücher, in seine Kraftübungen, in seine Drills. Ansonsten hielt er sie durch sein Schweigen und durch seine Abneigung auf Abstand, bis sie begriffen, dass ihre Gesellschaft unwillkommen war. Es war, als hätte das kurze Zusammentreffen mit seinem Vater Tore zu seinen nicht verarbeiteten Traumata geöffnet, die er bisher gut unter Kontrolle gehabt hatte. Seine Alpträume suchten ihn nun jede Nacht heim und hielten ihn wach. Er verweigerte Knox‘ Decke, weil er die verständnisvolle Freundlichkeit in den Augen seines Kapitäns nicht ertrug. Wenn er sich im Raum mit mehreren Menschen befand, kribbelte es ohne Unterlass in seinem Nacken, weil er immer Angst hatte, angegriffen zu werden. Laute Geräusche erschreckten ihn so sehr, dass er zusammenzuckte und sich klein machte. Räume ohne Fenster waren eine zuverlässige Angstquelle für ihn. Menschen, selbst sein Team, sah er als Gegner an, als wäre er noch in Evermore. Hilflos war Jean dieser Denkweise ausgeliefert und war beinahe froh darum, dass sie am Wochenende ein Heimspiel gegen die Dingos hatten. Dass dies ein Trugschluss war, erkannte er, als er auf dem Spielfeld stand und das Gefühl hatte, unter all den Zwängen, denen er ins einem Spiel unterlag, zu ersticken. Er musste bedenken, dass die Mannschaft, für die er spielte, nicht zu vergleichen war mit der Spielweise der Ravens. Er musste im Hinterkopf behalten, dass sein Trainer und Kapitän von ihm verlangten, fair zu spielen und dass die Mannschaft als solche eine Gemeinschaft und keine Sekte war. Er hatte soviel zu bedenken, dass seine fragile Selbstkontrolle schließlich wie ein dünnes Seil zerriss und ihm zwei gelbe Karten einbrachte, die ihn innerhalb der kurzen Zeit, die er auf dem Spielfeld verbrachte, vorzeitig auf die Bank schickten. Den Blick seines Trainers, der ihn kritisch und sorgenvoll maß, ignorierte er und setzte sich, die Augen zu Boden gerichtet. „Was war das denn, Moreau?“, grollte Rhemann unerfreut und Jean zuckte zusammen. An die Stelle des großen, breitschultrigen Mannes trat ein schmächtiger, älterer Japaner, dessen Peitschenhiebe ihm noch gut in Erinnerung waren. „Ich bitte um Verzeihung“, erwiderte Jean erstickt über das brachial schnell schlagende Herz hinweg und starrte auf das Wasser, das ihm in die Hände gedrückt worden war. Mitnichten hatte er es sich verdient, nicht so, wie er spielte und nicht bei dem Unmut, den er auf sich gezogen hatte. „Mach’s das nächste Mal besser. Und jetzt zieh deine Jacke an und trink endlich was. Du bist nassgeschwitzt, Moreau.“ Nur widerwillig folgte er dem Befehl seines Trainers und angespannt verfolgte er das Spiel der Trojans, die die Dingos nach und nach zerlegten. Ohne ihn. Weil er sich nicht unter Kontrolle hatte. Sie gewannen, natürlich. Der Vorsprung war beachtlich und gemeinsam verabschiedeten sie das gegnerische Team mit dem gewohnten Händeschütteln, das Jean eine Ganzkörpergänsehaut bescherte. Die warmen, schwitzigen Hände anzufassen, erinnerte ihn daran, was andere, warme und schwitzige Hände auf seinem Körper angerichtet hatten und er ekelte sich vor sich selbst. Er war froh, als es vorbei war und folgte seiner Mannschaft schweigend in die Kabine. Ebenso stumm zog er sich um und wartete darauf, dass sie fertig wurden, damit er mit ihnen zurückgehen und duschen konnte. Es würde noch etwas dauern, da Knox gerade in der Pressekonferenz war und seine ruppige Spielweise entschuldigen musste. Auch das machte Jean wütend, eben weil Knox nichts dafür konnte, dass er sich nicht im Griff hatte. Angespannt wartete Jean im Vorraum auf seinen Kapitän und lief schlussendlich mit der Mannschaft und einigen Zuschauern zurück in Richtung Wohnheim. Die Scherze und das Gelächter der Spieler um ihn herum widerten ihn an, mehr als das. Es war so unpassend für das, was in ihm tobte. Mit jedem Schritt, den sie taten, fiel es ihm schwerer, ihre Gesellschaft zu ertragen. Sie hatten doch alle keine Ahnung. Keiner von ihnen. Sie wussten nichts von den Abgründen dieser Welt. Was war Jean froh, als sie ihre Wohnung erreichten und Knox die Tür aufschloss. Mit wie so oft sorgenvoll gerunzelter Stirn ließ er ihn hinein und Jean streifte sich unwirsch seine Schuhe ab und feuerte die Tasche in die Ecke. Beinahe wollte es ihm gelingen, vor seinem Kapitän in das Bad zu fliehen, als dieser ihn mit einem fragenden Laut zurückhielt. „Jean?“ Innerlich fluchte er. Äußerlich blieb er mit dem Rücken zu dem blonden Jungen stehen, der Körper angespannt. „Nein“, presste Jean unterdrückt hervor und hoffte, dass es nach einer Woche Schweigen und Missachtung reichen würde. Er hätte es eigentlich besser wissen sollen. „Jean, bitte.“ Etwas Böses lauerte darauf, dass er die Kontrolle ganz aufgab, das spürte Jean. Es gierte danach, dass Knox weitermachen würde, damit es losbrechen könnte. „Nein“, wiederholte Jean deshalb ohne in die allzu vertrauensseligen, blauen Augen zu sehen, die viel zu wenig vom Leid dieser Welt gesehen hatten um überhaupt beurteilen zu können, wie tief der Graben war, in dem er sich befand. „Jean, heute warst du…“ „Knox.“ Eine verzweifelte Warnung, hervorgepresst in einem dunklen Grollen. „Bitte Jean, du sprichst seit mehreren Tagen nur noch das Nötigste mit mir. Bitte…“ Sein Kapitän berührte ihn am Oberarm und das war schlussendlich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Im Bruchteil einer Sekunde zerriss Jeans Selbstbeherrschung und ließ ihn herumfahren. Mit der gleichen Bewegung schlug er Knox‘ Hand auf seiner Trojansjacke weg und erwischte mit der vollen Kraft eines Backliners dessen Unterarm. Im ersten Moment erlangte er eine ekelerregende Befriedigung durch das Geräusch von Haut auf Haut. In der ersten Sekunde labte er sich an dem Schmerz, den er fühlte und den er seinem Gegenüber zufügte. Doch dann sah er in überrascht geweitete, blaue Augen und wurde sich bewusst, was er gerade getan hatte. Vor ihm stand sein Kapitän, Jeremy Knox, der ihm soviel Gutes getan hatte und der für nichts von seinem Leid verantwortlich war. Seit seiner Ankunft hier hatte Knox nichts getan, um seine Wut und seine Gewalt zu verdienen. Jean schluckte und starrte auf den Arm, dessen braungebrannte Haut an einigen Stellen bereits rot wurde. Panisch und ungelenk wollte er danach greifen und dieses Mal war es Knox, der mit einem unbewussten Laut vor ihm zurückzuckte und schützend den Arm hochriss, die weiten Augen ausschließlich auf seine Hand gerichtet. Als würde Jean ihn schlagen wollen. Hatte sich vorher die Welt in chaotischen, konzentrischen Kreisen ohne Jean gedreht, so kam sie nun zu einem Stillstand und schien sich komplett auf ihn zu fixieren. Nur auf ihn, ausschließlich darauf, was für ein widerwärtiger, verachtenswerter Mensch er war, der anderen wehtat und sie verletzte. Der, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, Befriedigung dabei empfand, wie sich Gewalt von Haut auf Haut anfühlte. Jean wusste nicht, was er tun sollte. Sein erster Instinkt war es zu fliehen, doch das verbot er sich. „Knox“, krächzte er, doch das war nicht genug, das sah er an dem angespannten Körper des Junge vor sich. „Ich wollte das nicht, wirklich nicht. Es tut mir leid, bitte. Ich wollte dich nicht schlagen, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.“ Das an sich war eine Lüge, denn er wusste es sehr wohl. Jean schluckte panisch. „Ich war so wütend und so unausgeglichen, ich… ich weiß nicht, warum. Bitte.“ Als Knox nicht reagierte, sondern ihn nur weiterhin schweigend und zum Teil auch ängstlich anstarrte, fragte Jean sich, ob es eine gute Idee wäre, vielleicht auf die Knie zu gehen. Damit wäre er kleiner und Knox konnte ihn auch schlagen, wenn er Rache wollte. Doch mittlerweile kannte er seinen Kapitän gut genug, dass er wusste, dass es nicht passieren würde. Knox war nicht gewalttätig, er hatte sich noch nie geschlagen. Und für diese Unschuld büßte er nun, ausgerechnet durch Jean. „Jeremy“, flehte Jean in einem verzweifelten Versuch, irgendeine Reaktion von seinem Gegenüber zu erhalten. Der Junge zuckte und blinzelte abrupt, bevor er noch einen minimalen Schritt zurücktat, jedoch seine Arme zu sich zog. Angespannt ließ er sie an seinen Seiten hängen. Jean spürte das unwillkommene Brennen in seinen Augen, als er erkannte, wie viel Überwindung ihn das im Angesicht seiner Gegenwart kosten musste. „Jeremy“, wiederholte er hilflos. „Es tut mir leid. Bitte habe keine Angst vor mir. Bitte.“ Bitte sieh nicht das Monstrum in mir, das ich in Wirklichkeit bin, gellte es in Jean, doch er presste verzweifelt seine Lippen aufeinander. Noch war er nicht bereit, diese hässliche Wahrheit auch auszusprechen. Das untypische Schweigen seines Kapitäns zerrte an seinen Nerven. Anders als zuvor rief es aber Verzweiflung hervor, keine Wut. Bodenlose Verzweiflung, dass er das einzig Helle und Strahlende in seiner Welt vernichtet hatte. Wenn er wieder nach Evermore zurückkehren müsste, so wäre das mehr als verdient. Als Knox sich räusperte und straffte, war es Jean, der zurückzuckte. „Geh duschen, Jean. Dann zieh dir etwas Bequemes an. Ich warte in der Küche auf dich. Wenn du fertig bist, werden wir an den Strand fahren, an dem wir schon einmal Burger gegessen haben.“ Die ruhig-autoritäre Stimme seines Kapitäns ließ keinen Widerspruch zu, nicht in Jeans jetzigem Zustand. Die Worte machten ihm in all ihrer Unbestimmtheit Angst und er schluckte. Er nickte jedoch stumm und wandte sich um, hin zum Badezimmer. Zum ersten Schritt in der Zukunft, die er in diesem Moment selbst geformt hatte. In seiner Angst, dass Knox ihm dort sagen würde, dass er eine Belastung für die Trojans war, konnte er nicht wirklich sagen, was er im Badezimmer getan hatte. Er wusste nur, dass er schlussendlich vor seinem Kapitän stand, der mit verschränkten Armen ernst zu ihm hochsah. Wie er hierhin gekommen war…konnte Jean nicht sagen. Wie er sich geduscht und auch Haare gewaschen hatte…ebenso nicht. Schweigend senkte er seinen Blick, die Augen starr zu Boden gerichtet. Er war wie zusammengefallen, seine Wut wie verflogen. Nur bittere Leere war übrig, die befeuert wurde von seinen brachialen Schuldgefühlen. Er hatte wieder jemanden verletzt und dieses Mal war es nicht auf Rikos Befehl gewesen, sondern weil er selbst es so gewollt hatte. Weil er sich für den Bruchteil einer Sekunde gut damit gefühlt hatte. Es hatte einen vollkommen Unschuldigen getroffen, noch dazu den Menschen, der sich von Beginn an um ihn gekümmert und gesorgt hatte. Jean würde alles tun um seine Fehler wieder gut zu machen. >Alles. „Wir gehen“, sagte sein Kapitän und Jean folgte ihm. Mit zittrigen Fingern zog er seine Schuhe an und mit dem Blick auf den Boden die Augen fest auf Knox‘ nackte Unterschenkel gerichtet. Der blonde Junge trug seine übliche Jeansshorts mit einem weißen Motto T-Shirt. Seine Füße steckten in seinen ausgetretenen Flipflops, die Jean immer noch mit großem Zweifel als richtiges Schuhwerk akzeptierte. Gemeinsam stiegen sie in sein Auto und Jean schnallte sich an. Knox tat es ihm gleich und startete den Wagen. Ohne seinem Beifahrer Aufmerksamkeit zu schenken fädelte er sich in den Straßenverkehr ein, hochkonzentriert auf den Verkehr vor ihnen gerichtet. Jean kam nicht umhin, wie gebannt auf die roten Stellen auf Knox‘ rechtem Unterarm zu starren, die auf dem besten Weg waren, ein kräftiges Hämatom zu werden. Er konnte seine Augen nicht von seinem Gewaltexzess lösen, der klar und deutlich auf der gebräunten Haut zu sehen war. Wieder kamen Jeans Gedanken dahin zurück, dass er Knox Angst gemacht hatte. Der andere Junge hatte versucht, sich vor ihm zu schützen. Sein Gesicht, seinen Körper… so wie er versucht hatte, sich vor Riko zu schützen. Er wurde wie Riko, zu einem gewaltbereiten Sadisten. Er war bigott, weil er immer noch unter dem litt, was Riko ihm angetan hatte und sich dennoch gleicher Methoden bediente. Er war eine Gefahr und Belastung für Menschen, die es nur gut mit ihm meinten und er bekam sich selbst nicht in den Griff. Keine einzige seiner Emotionen. Sie waren da und Jean fragte sich ein zweites Mal, wie sehr er sein Gefühl für Zeit verlieren konnte. Knox hielt an und drehte den Schlüssel im Schloss um. Er zog ihn heraus und verließ den Wagen, öffnete den Kofferraum. Verunsichert blieb Jean sitzen und drehte sich schließlich nach hinten. „Soll… soll ich auch aussteigen?“, fragte er rau und Knox sah ihn an. Ausdruckslos musterte er ihn. „Ja.“ Jean reagierte auf den simplen Befehl und kam um das Auto herum. Knox setzte sich auf die Ladefläche des Kofferraums und lehnte sich an die Seite des Fahrzeugs. Er verschränkte seine Arme und deutete neben sich. Langsam und mit größtmöglichem Abstand ließ sich Jean neben seinem Kapitän nieder, seine brutalen und zerstörerischen Hände zwischen seine Oberschenkel gepresst. „Du hast mir wehgetan, Jean“, eröffnete der blonde Junge das Gespräch zwischen ihnen direkt und ehrlich. Schweigend nickte Jean. Ja, das hatte er. Das sah er auf dem Arm seines Kapitäns. „Und du machst mir Angst mit deiner Wut und der Gewalt“, fuhr er fort und Jean schluckte. Er war ein Monster. Riko hatte ein Monster aus ihm gemacht, vor dem Andere Angst hatten. Knox ließ die Worte zwischen ihnen verklingen, die nur noch das Meeresrauschen in ihrem Rücken übrig ließen. Wie passend war da der rötliche Sonnenuntergang, der nicht besser die untergehende Geduld seines Kapitäns mit seinen Eskapaden darstellen konnte. Seine Zeit hier war vorbei und genau das sollte der Ausflug an den Strand darstellen, dessen war Jean sich sicher. „Es tut mir leid“, flüsterte Jean leise und dieses Mal aus vollem Herzen. Er fühlte, was er hervorpresste, er fühlte es tief in seinem Herzen wie ein schmerzendes Loch in seiner Brust. „Ich war so wütend, nicht auf dich. Aber deine Hand war da und ich hatte keine Selbstbeherrschung mehr, weil ich…“ Jean verstummte, als er merkte, dass er Unsinn redete. Kurz sah er hoch, in die Ruhe seines Kapitäns hinein. Verschwunden waren die Fröhlichkeit und das Strahlen in den blauen Augen. Ernste Ruhe und die Forderung nach mehr Informationen hatten die Unbeschwertheit ersetzt und ließen Jean schwer schlucken. Er wusste nicht, welche Worte seine Lippen verlassen würden, wenn er den Versuch unternehmen würde, seine Gefühle zu verbalisieren. Seine hässlichen, widerwärtigen Gefühle. „Weil du…?“, hakte Knox nach und Jean schloss gepeinigt seine Augen. „Ich verstehe, dass ich dadurch kein Teil der Trojans mehr sein kann“, lenkte er zum Schluss des Gespräches. Was machte es für einen Sinn, viele Worte zu verlieren, wenn sowieso schon klar war, wohin Knox das Gespräch leiten würde? „Ich trage die Konsequenzen meines Handelns. Ich… ich möchte dich nur bitten, mich nicht zu meiner alten Mannschaft zurück zu schicken, sondern zu einer anderen Mannschaft der Liga.“ Knox‘ Lippen verließ ein unzufriedener Laut, den Jean so noch nie gehört hatte. Beinahe schon grenzte er an Wut. „Das steht überhaupt nicht zur Diskussion, Jean! Ich möchte wissen, wie es dir geht. Ich möchte wissen, was dich so sehr bewegt, dass du dich schlimmer in dich zurückziehst als am Anfang. Ich möchte wissen, was dich so wütend machst, dass du nicht nur mich so behandelst, als wäre ich dein Feind. Und ich möchte dir helfen, damit es dir wieder besser geht. Wenn du diese Hilfe möchtest.“ Hätte Knox vor zwei Tagen gefragt, so wäre die Antwort ein klares Nein gewesen. Nun aber hielten Schuld und Angst ihn davon ab, seinen Kapitän weiter abzufertigen. Doch damit nicht genug. In ihm tobten Worte, die herauswollten, die darum kämpften, gehört zu werden. Jean wusste, dass, wenn er einmal anfangen würde, nicht mehr aufhören könnte all die Hässlichkeiten herauszulassen, die sein Denken bestimmten. Und dann würde er umso mehr verachtet werden. Zumal er nicht wusste, wo er anfangen sollte in dem Chaos, das in ihm tobte. Wie ein Ertrinkender stürzte sich Jean deshalb auf die Versicherung seines Kapitäns, dass sie ihn nicht einfach so verkaufen würden. Er wurde sich bewusst, dass er Knox die ganze Zeit seiner Überlegungen über anstarrte. Beschämt senkte er seinen Blick und fixierte sich auf den Sand, auf dem der Wagen stand. „Das Auftauchen deines Vaters ist der Grund, oder?“, fragte Knox so sanft, dass es in Jean regelrecht schrie und tobte. Falle, gellte seine misstrauische Seite wieder und wieder. Natürlich war es der Grund, das wussten sie beide und so war die Frage rein rhetorischer Natur, dazu gedacht, einen Anstoß zu geben. Jean nickte, seine Lippen noch eisern verschlossen, auch wenn ihm das von Minute zu Minute schwerer fiel. Schlussendlich verlor er den Kampf gegen sich selbst. „Wie kann er es wagen, hier einfach aufzutauchen?“, verließen ungebeten erste, wütende Worte seine Lippen. „Nach all den Jahren und nachdem er mich ihnen ausgeliefert hat. Einfach so, ohne sich darum zu scheren, wie ich mich dabei fühle. Er war mein Vater. Er hat mich die ganze Zeit angelogen und mich dann nach Amerika verkauft wie Vieh. Als wäre ich nie sein Sohn gewesen.“ Zu seinem persönlichen Horror spürte Jean, wie seine Stimme zitterte und seine Augen anfingen zu brennen. Er wusste, was das bedeuten würde und er hasste sich abgrundtief dafür. Schließlich hatte er doch schon in Evermore gelernt, dass Tränen nichts brachten und Trauer nur dazu diente, ihn noch mehr zu verletzen und darauf zu stoßen, wie einsam er wirklich war. Er presste die Lippen aufeinander und hoffte, dass Knox nicht weiter nachfragen und ihm Zeit lassen würde, seine Gefühle wieder zu verbergen. Natürlich hatte er die Rechnung ohne Knox gemacht. Mittlerweile sollte Jean es wirklich besser wissen. „Sein Auftauchen hat alte Wunden in dir aufgerissen, von denen du gedacht hast, dass sie geschlossen waren.“ Das war keine Frage, so ganz und gar nicht und es traf mitten Jeans Herz. Er nickte, aber mit Schwierigkeiten. Er versuchte, gegen den Kloß in seinem Hals anzuschlucken, mit wenig Erfolg. „Als ich klein war, hat er soviel mit mir gemacht. Er ist mit mir durch ganz Europa gereist, von Stadt zu Stadt. Er hat mir alle Dinge erklärt, die ich wissen wollte und ertragen, dass ich den Großteil seiner Zeit mit meinen Fragen über alles Mögliche in Anspruch genommen habe. Oder haben sie mich deswegen weggegeben, weil ich ihnen lästig geworden bin?“ Es war eine alte Frage, die sich Jean am Anfang immer und immer wieder gestellt hatte und auf die er immer noch keine Antwort erhalten hatte. Die er nur ein einziges Mal gewagt hatte, laut zu stellen. Day war damals nicht in der Lage gewesen, ihm eine Antwort darauf zu geben. „Kein einziges Mal haben sie Kontakt zu mir aufgenommen. Nicht einmal. Sie wollten mich nicht und haben mich nur ertragen, bis ich alt genug war um verkauft zu werden.“ Er kam nicht mehr gegen den Kloß in seinem Hals an und ein erster, erstickter Schluchzer bahnte sich seinen Weg. Dumm war er gewesen, anzunehmen, dass das Gefühl der Einsamkeit und des Verlassenwerdens weg war. Wirklich dumm. Es schmerzte ihn immer noch so sehr wie es ihn vor neun Jahren geschmerzt hatte. „Und jetzt… jetzt taucht er einfach so auf, als wäre nichts gewesen. Er nennt mich bei meinem Namen, so, als hätte er es die letzten Jahre auch getan. Er sieht mich an, als würde es ihn schmerzen, was er getan hat. Was bildet er sich eigentlich ein? Was?! Es macht mich so wütend, dass ich nicht atmen kann! Und ich weiß nicht wohin mit der Wut. Sie ist da, die ganze Zeit und sie geht nicht weg. Sie erstickt mich!“ Jean verstummte, weil ihm seine Stimme versagte. Er presste die Hand auf den Mund und konnte doch nicht die Tränen verhindern, die aus seinen Augen liefen, als hätte er nicht schon genug geweint. Er war hilflos gegen die Wucht, mit der ihn nun seine Emotionen überschwemmten und panisch krümmte er sich zusammen, presste seine Stirn gegen die Oberschenkel. Über die Pein seines Körpers hinweg übersah er beinahe die Hand auf seinem Rücken, die ihn wie verbrannt zusammenzucken ließ. Dieses Mal schlug er sie nicht mit Wut zurück, doch das war auch nicht nötig. Die Finger verschwanden augenblicklich von seinem Rücken. „Ist es in Ordnung für dich, wenn ich deinen Rücken berühre?“, fragte Knox und Jeans Lippen verließ ein gequälter Laut. Er wusste es nicht, aber tief in seinem Inneren sehnte er sich in diesem Moment nach dem, was ihm jahrelang vorenthalten worden war. Er hatte Angst, aber er suchte auch die Nähe eines Menschen, der ihn umarmen würde. So wie Renee. „Ja“, presste er hervor und da war sie wieder. Sacht rieb Knox mit seiner Handinnenfläche Jeans Rücken auf und ab, seicht genug, um ihn nicht zu verletzen, präsent genug, um ihm deutlich zu machen, dass er nicht alleine war. Es hörte aber nicht auf, im Gegenteil. Knox‘ Berührungen machten es nur noch schlimmer und Jean schluchzte erstickt, nicht mehr wirklich zu Worten fähig. Wer war sein Kapitän, dass er das nicht mitbekam und Jean hörte mehr, als dass er die Anwesenheit des anderen Jungen wirklich spürte, wie dieser sich zu ihm hinunterbeugte. „Darf ich dich umarmen, Jean?“, fragte Knox und bevor er wirklich darüber nachdenken konnte, nickte Jean. Vorsichtig umfassten ihn die muskulösen Arme seines Kapitäns und Jean wurde sich bewusst, dass er keine Angst hatte. Nicht vor Knox, seinen Armen, der Stärke, die er gerade bewies, noch vor seinem Geruch oder seiner Nähe. Er ließ sich in die Umarmung ziehen und sog wie ein Vampir Stärke aus der Anwesenheit des Jungen, der ihm bereitwillig seine Vergebung schenkte. Jean vergrub sich schier an der Brust des Strikers und schluckte schwer. „Es tut mir leid. Ich mache das nie wieder. Versprochen“, wisperte er. Einmal, ein zweites, ein drittes, bis es zu einer Litanei wurde. Wer war er, dass er die Vergebung verdient hatte? Wer war Knox, dass er sie ihm nicht gewährte? „Es ist okay, Jean. Es ist okay“, murmelte er. „Ich glaube dir. Wir werden das hinbekommen. Ich bin bei dir und für dich da. Wenn du reden möchtest, kannst du das jederzeit tun. Wir packen das. Ich bin da, hörst du?“ Jean hörte und tatsächlich glaubte er es in diesem Moment auch, seine Hände in Knox‘ T-Shirt gekrallt. ~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 33: Running Springs --------------------------- Jeremy seufzte lautlos und strich Jean in weiten, vorsichtigen Kreisen über den vernarbten Rücken. Die Verzweiflung, die er beinahe schon körperlich bei dem anderen Jungen spürte, schmerzte ihn, weil er nicht genug dagegen tun konnte. Das Einzige, was ihm möglich gewesen war, war, Jean hierhin zu bringen, damit sie reden konnten. Endlich, nach einer Woche und nach vielen Stunden des Schweigens und Missachtens. Die Angst, die er vor Jean verspürt hatte, als dieser seine Hand weggeschlagen hatte, war zum größten Teil verflogen und einer Besorgnis gewichen, der er sich erst später stellen würde. Das war kein Thema, das Jeremy jetzt anschneiden würde oder könnte, wenn er das Bündel an Trauer und Elend vor sich sah, das sich in ihn gekrallt hatte, als würde sein Leben davon abhängen. Jeremy war erleichtert, dass Jean sich öffnete und dessen Bereitschaft, seine Nähe zu suchen, vermittelte ihm ein warmes Gefühl. Er war froh darum, dass Jean ihm erlaubte, ihm über den Rücken zu streichen, auch wenn Jeremy mit jeder Narbe, die er unter seinen Fingerspitzen fühlte, mehr und mehr Abneigung gegen Evermore und Jeans Familie empfand, die ihn dorthin verkauft hatte. Mit jeder Narbe wuchs auch sein Respekt vor Jean, dass dieser all die Jahre überlebt hatte und nun sein Bestes gab, ein anderes Leben zu führen. „Knox?“ Jeremy blinzelte und tauchte aus seinen Gedanken wieder auf, als er sich bewusst wurde, dass Jean ihn angesprochen hatte. Er brummte und sah auf den anderen Jungen hinab. „Ja?“, fragte er sanft, hörte aber nicht auf, Jean über den Rücken zu streichen und ihn damit zu beruhigen. „Ich weiß nicht, was ich tun soll.“ Das raue, beinahe unhörbare Eingeständnis berührte Jeremys Herz. Er seufzte laut und zog Jean noch etwas enger an sich, aus dem plötzlichen Drang heraus, ihn zu schützen. Jean gab einen unbestimmten Laut von sich, löste sich aber nicht von ihm. „Mit deiner Familie?“, hakte Jeremy nach. „Ja.“ Nun war es an Jeremy, in nachdenkliches Schweigen zu versinken. Was sollte er Jean raten? So sehr er dessen Wut und Leid verstehen konnte, so wenig wusste er, was für eine Entspannung der Situation sorgen oder was Jean gut tun würde. Er selbst würde vermutlich das Gespräch suchen, eben weil er immer das Gespräch suchte. Aber Jean? Nachdem, was ihm angetan worden war? „Was sagt denn dein Bauchgefühl?“ „Das sagt Renee auch immer.“ Jeremy blinzelte irritiert. „Das ist dein Bauchgefühl?“ Jean drehte sich soweit um, dass er Jeremy ansehen konnte. Seine Augen und Wangen waren gerötet, aber zum Glück waren die Tränen, die Jeremys T-Shirt durchnässt hatten, mittlerweile getrocknet. Unwirsch verzogen sich die schmalen Lippen. „Nein, Renee fragt auch immer nach meinem Bauchgefühl.“ Jeremy lächelte unwillkürlich. „Dann kann ich gar nicht so falsch liegen damit. Und?“ Jean brummte und richtete sich auf. Steif und etwas ungelenk löste er sich von ihm und Jeremy ließ ihn wehmütig gehen. Sacht legte er seine Hand auf seine Oberschenkel und maß seinen Backliner. Zittrig strich sich Jean seine Haare zurück und rieb sich über die Wangen, starrte verwundert auf seine Hände, so als könne er gar nicht glauben, dass er geweint hatte. Schlussendlich sah er hoch und seine grauen Augen bohrten sich in Jeremys. Nachdenklich wurde er gemustert. „Ich möchte ihnen sagen, was sie mir damit angetan haben. Ich möchte es ihnen ins Gesicht schreien und ihnen sagen, dass sie mir nie wieder zu nahe kommen sollen und dass ich sie dafür hasse, was sie getan haben. Ich möchte, dass sie Reue fühlen und dass ich ihnen sagen kann, wie wenig mich das interessiert. Wie sehr sie das Recht darauf verspielt haben, meine Eltern zu sein.“ Jeremy war erstaunt, wie ruhig Jeans Stimme klang und wie ausdruckslos er seine emotionalen Worte hervorpresste. Nur seine Hände waren ein Ausdruck seiner Wut, so starr, wie sie sich zusammenballten. Nachdenklich runzelte Jeremy die Stirn. „Würdest du ihnen das lieber hier in Los Angeles sagen, bei ihnen oder ganz woanders?“, fragte er. „Nicht hier“, murmelte Jean und sah zur Seite. „Wenn, dann…dort. Bei ihnen.“ Jeremy nickte. „Ich kann dich hinfahren, wenn du möchtest. Es sind nur anderthalb Stunden.“ Wieder überlegte Jean und sah hinaus in die mittlerweile dunkle Umgebung, hinauf in die Sterne, die schwach über ihnen leuchteten. „Würdest du das wirklich tun?“ Überrascht blinzelte Jeremy. „Ja natürlich.“ „Auch nachdem ich dir das angetan habe?“ Jean deutete auf seinen Arm und nun griff Jeremy doch nach seinen Händen. Sie würden noch darüber sprechen müssen, aber er würde nicht zulassen, dass Jean sich dafür dauerhafte Vorwürfe machte. „Ich möchte mit dir noch einmal in Ruhe darüber sprechen, aber ich trage dir das nicht nach, Jean. Wirklich nicht. Ich hasse dich nicht dafür.“ „Wirklich nicht?“ Die hoffnungsvolle Angst, die Jeremy aus den Worten heraushörte, schmerzte ihn. Ernst sah er Jean an und hielt seinen Blick ebenso wie dessen Hände, die er leicht und versichernd drückte. „Wirklich nicht“, bestätigte er und Jean atmete erleichtert aus. Er starrte auf ihre Finger und Jeremy ließ sie mit einem schiefen Lächeln los, als das Starren zu lang und zu bedeutungsschwanger wurde. Langsam löste Jean seine rechte Hand von ihrer Verbindung und fuhr mit seinen Fingern hauchzart über die gerötete Haut seines Unterarms. Überrascht sah Jeremy auf und spürte, wie sich eine Gänsehaut auf seinem Arm ausbreitete und von dort aus seinen Arm hinaufwanderte, hoch unter seine Schädeldecke. Konzentriert starrte Jean auf das Hautareal, das er gerade bearbeitete. Jeremy schluckte mühevoll. „Jean?“ Die emsigen Finger hielten inne und der andere Junge sah hoch. „Ist das nicht wohltuend?“, fragte in einem eigenartig formellen Englisch und Jeremy blinzelte. Und ob es das war, wobei wohltuend nicht das richtige Wort dafür war. Elektrisierend, ja. Jeans Finger ließen seine Nervenbahnen Amok laufen und flüsterten ihm unanständige Gedanken ein. Zum Beispiel, wie sich diese zarten und vorsichtigen Finger auf seinem restlichen Körper anfühlen würden. Oder wie sich diese Finger weniger zärtlich auf seinem Körper anfühlen würden. Das war wirklich nicht das, worüber er gerade nachdenken sollte. Oder jemals, wenn er schon dabei war. „Doch schon“, murmelte Jeremy und Jean nickte mit konzentriert gerunzelter Stirn. „Laila meinte, dass sich diese Berührung zärtlich anfühlt. Und ich dachte, dass sie vielleicht den Schmerz überdeckt“, gab er seine Gedanken preis und Jeremy entwich ein Laut, der nicht ganz Lachen, nicht ganz Verzweiflung war. Bei Gott, was hatte Laila da gesagt? Hatte sie überhaupt eine Ahnung, was sie mit ihren Worten anrichtete? „Das…äh…also ja. Ja, da hat sie Recht“, rettete sich Jeremy mehr schlecht als recht und sah Jean mit großen Augen an. Kritisch runzelte dieser die Stirn. „Aber du fühlst dich nicht wohl damit.“ „Nein, so ist das nicht!“ „Du bist unsicher. Das bist du nur, wenn du nicht die ganze Wahrheit sagst oder wenn noch etwas Anderes hinter deinen Worten liegt“, glitt Jean in seine übliche Gnadenlosigkeit ab, wenn er etwas nicht verstand. Jeremy war wie jedes Mal nicht darauf vorbereitet und wand sich nur umso mehr. „Es fühlt sich sehr gut an.“ Jeans graue Augen sagten ihm, dass sie nicht verstanden und auf eine weitere Erklärung warteten. Konnte sich die Erde bitte jetzt auftun und ihn verschlucken, bevor sein Mund irgendeine Erklärung lieferte, die vielleicht passend für ein romantisches Stelldichein unter dem Sternenhimmel am Meer wäre, aber nicht für ein Gespräch zwischen zwei Freunden unter dem Sternenhimmel am Meer. Verdammt. „Also…es fühlt sich an, als würdest du kleine Stromstöße unter die Haut setzen“, erläuterte er im festen Glauben, dass es ausreichen würde. „Also schmerzt es dich?“, verstand Jean ihn falsch und Jeremy wimmerte auf. „Nein, gar nicht. Also nicht wirklich Stromstöße, sondern…äääh…“ Er verstummte, als er merkte, dass er es nicht besser machte. Irritiert legte Jean den Kopf schief und wartete. „Es fühlt sich wunderschön an. Sehr anregend“, schloss Jeremy mit einem besiegten Seufzen und endlich sah er in Jean Erkennen. Wie verbrannt zuckten die Finger zurück und Jean vergrub sie wieder zwischen seinen Oberschenkeln. Er sah zur Seite. „Das wird nicht wieder vorkommen“, sagte er ausweichend und Jeremy spürte den plötzlichen Stimmungsumschwung wie einen schmerzhaften Stich. Jean fühlte sich unwohl und Jeremy hatte keine Ahnung warum. „Warum nicht?“, fragte er ehrlich interessiert und nun war es an Jean, sich offensichtlich um eine Antwort zu drücken. Unruhig spielte der Backliner mit seinen Fingern. „Weil es anregend war.“ Jeremy runzelte die Stirn. „Ist das schlimm für dich?“, fragte er vorsichtig und Jean schüttelte den Kopf, sagte aber weiter nichts dazu. „Habe ich dich sexuell erregt?“, fragte er dann abrupt und Jeremy blinzelte. Im ersten Moment weigerte sein Verstand sich zu begreifen, was Jean gefragt hatte. Dann überrannte die Bedeutung dessen ihn mit einer Wucht, die Jeremy vollkommen unerwartet traf. „Was?“, fragte er perplex und machte Jean damit noch unruhiger. „Du hast gesagt, dass es anregend war“, spezifizierte Jean und mied seinen Blick auf ihn. Das war gut so, denn so sah er nicht, wie Jeremy schwer schluckte, als ihm ungebeten seine eigenen Gedanken noch einmal aufgetischt wurden. „Und du stehst auf Männer“, machte Jean überhaupt nicht besser und Jeremy wünschte sich, dass sich der Boden auftun und ihn verschlucken würde. Was sollte er darauf antworten? Nein, deine Berührungen regen mich nicht an, wäre eine partielle Lüge und eine Aussage, die Jean ihm vielleicht auch übel nahm. Das Gegenteil würde vielleicht dazu führen, dass sich Jean in seiner Gegenwart unwohl fühlen würde. Jeremy verdammte sich und sein loses Mundwerk. „Ich meinte anregend im Sinn von stimulierend oder gänsehauterregend, nicht im Sinn von sexuell erregend. Und ja, ich stehe auf Männer, aber ich kann zwischen platonischen und nicht platonischen Berührungen unterscheiden. Machst du dir deswegen Sorgen?“, fragte Jeremy vorsichtig und Jean schüttelte abgehackt mit dem Kopf. „Nein.“ Die Lüge war nicht sehr glaubwürdig, befand Jeremy und warf einen Blick in die geweiteten, grauen Augen. „Wirklich?“ Jean nickte zögernd. Er hob an, etwas zu sagen und überlegte es sich dann anders. Erneut setzte er an und dieses Mal war er beim Kampf gegen sich selbst erfolgreicher. „Deine Umarmung und deine Berührungen auf meinem Rücken waren schön“, presste er schließlich hervor und Jeremy hob überrascht die Augenbrauen. Dann lächelte er. „Gibt es dazu ein Aber?“, fragte Jeremy mit einem Augenzwinkern und Jean gab einen Laut von sich, der einem Grollen ähnelte. „Nein.“ Soweit, so gut. „Und war es auch okay für dich, mich zu berühren?“, hakte er nach. Jean nickte. „Und dir ist auch klar, dass du das nicht machen musst, wenn du nicht möchtest, oder?“ Der andere Junge bejahte erneut und Jeremy hob erwartungsvoll die Augenbrauen. „Ja“, klarifizierte Jean mit genau dem Unterton an Genervtheit, der Jeremy mehr Bestätigung war als alles andere. „Das ist gut“, schmunzelte er und hielt Jeans Blick und der darin enthaltenen Erleichterung stand. „Fahren wir nächstes Wochenende…dorthin?“, fragte Jean schließlich zögerlich und Jeremy nickte. Am Samstag hatten sie ganztags Training, aber Sonntag war frei. Genug Zeit also, damit er Jean zu der Adresse fahren konnte. „Gerne“, erwiderte Jeremy. „Willst du ihm vorher Bescheid sagen?“ Nachdenklich schüttelte der andere Junge den Kopf und verschränkte seine Arme. Beinahe schon entspannt lehnte er an der Innenseite seines Wagens und musterte Jeremy. „Nein. Wenn er nicht da ist, dann…ist es auch okay.“ Jean runzelte die Stirn. „Oder ist das nicht okay für dich, weil du viel fahren musst?“ Jeremy grinste breit. „Frag dich selbst. Ist es okay für dich, anderthalb Stunden pro Strecke mit mir eingesperrt zu sein? In meinem Auto, bei meinem Fahrstil?“ Er zwinkerte übertrieben, um Jean nicht zu verängstigen und der andere Junge schnaubte verächtlich. Die hoch erhobene Augenbraue war mehr als aristokratisch und verlieh Jean etwas Arrogantes, das nur geschmälert wurde durch den weichen Zug um seine schmalen Lippen. ~~**~~ Eine Woche lang hatte Jean Zeit gehabt, die Wogen zwischen sich und seinem Team zu glätten und sich auf das kommende Wochenende vorzubereiten. Dass seine Mannschaft ihn derart vorbehaltslos wieder in ihren Kreis aufnahm, war mit Sicherheit zum Großteil Knox‘ Verdienst, der hinter seinem Rücken gute Stimmung für ihn machte. Sie waren vorsichtig im Umgang mit ihm, aber sie mieden ihn nicht bewusst und Jean gab sich im Gegenzug Mühe, sie nicht zu verschrecken und ihren Unterhaltungen gegenüber offen zu sein. Offener zumindest als vorher. Fahima war die Erste gewesen, die auf ihn zugekommen war, mit einem breiten Grinsen und einer langsam und gut sichtbar erhobenen Hand, in die er nach ihrem gemeinsamen, erfolgreichen Spielzug einschlagen konnte. Es war ein Friedensangebot gewesen, das er ebenso vorsichtig angenommen hatte, sich der Jungen und Mädchen in seinem Rücken bewusst, die ihn anstarrten. Sein Instinkt warnte ihn vor der Gefahr, die von ihnen ausgehen konnte, weil er sie nicht sah und ihre Reaktion nicht schnell genug würde einschätzen können. Jean bemühte sich, diese Gedanken aktiv zu blocken und sie, wenn er den Mut dazu aufbrachte, mit Brian zu besprechen. Sein Team waren nicht seine Feinde und er war nicht der Feind seines Teams. So hangelte sich Jean von Tag zu Tag, gab sich Mühe, Knox jeden Morgen zu begrüßen und ihn nicht zu ignorieren. Alvarez und Laila wahrzunehmen, selbst, als die Backlinerin ihn dazu einlud, mit ihm die Laila-Jeremy-Möwe zu füttern. Jean willigte ein, weil er wiedergutmachen wollte, was er vielleicht zerstört hatte. Da, wo er erwartet hatte, dass sie ihn für sein Verhalten kritisieren würde, schwieg sie und gemeinsam machten sie das gierige Tier von einem Vogel glücklich, die aufgeregt kreischend zwischen ihnen beiden hin und her stackste, als sie begriff, dass sie auch von Jean etwas bekommen würde. Sie wechselten nur wenige Worte und Jean genoss ihre Zeit, bevor er sich daran machte, seinen Spätaufsteher von einem Kapitän davon zu überzeugen, dass es Zeit für das Training war. Sein Kapitän, dessen Umarmung und die Bedeutung dessen ihn immer noch beschäftigten. Vor Monaten war es undenkbar gewesen, dass er sich von einem Jungen, der darüber hinaus noch sein Kapitän war, freiwillig umarmen ließ. Nun hatte er beinahe schon gierig die Hände nach der Präsenz des blonden Jungen ausgestreckt und sich an dessen Schulter und Brust solange ausgeweint, bis dessen Shirt vollkommen durchnässt war und Jean keine Kraft für weitere Tränen gehabt hatte. Knox hatte seine Schwäche nicht ausgenutzt. Im Gegenteil. Er hatte ihm sogar seine Gewalt verziehen, die Jean sich bis heute nicht verziehen hatte. Tag für Tag zeigte Knox ihm, dass er ihm nicht böse war und dass Jean immer noch ein willkommener Teil des Sonnenscheinteams war, auch wenn er wie eine dunkle Gewitterwolke zwischen ihnen hervorstach. Schneller, als es Jean lieb war, war die Woche herum und nach einem samstäglichen Abend am Strand kam der Sonntagmorgen und ihre Fahrt zu einem Ziel, welches ihn derart unruhig machte, dass er nur durch Knox‘ erhobene Augenbraue seine Runden um dessen Wagen beendete. Jean grollte und verschränkte seine Hände vor seiner Brust. „Du kannst immer noch nein sagen“, war sein Kapitän überhaupt nicht hilfreich und Jean verzog seine Lippen. „Nein“, presste er hervor und es klang nicht im Ansatz so emotionslos, wie er es gedacht hatte. Im Gegenteil. „Dann rein mit dir. Wenn du Kreise um das Auto ziehst, werden wir sicherlich nicht schneller ans Ziel kommen.“ Jean brummte und rollte mit den Augen, ging jedoch zur Beifahrerseite und setzte sich vorsichtig auf den Beifahrersitz. Mittlerweile wusste er, wo die Feder war und nach den unzähligen Malen, die er auf diesem Sitz gesessen hatte, konnte er sein Gewicht auch so austarieren, dass sie ihn nicht stach. Knox folgte ihm und ließ sich weitaus unvorsichtiger auf seine Polster fallen. Erwartungsvoll sah er Jean an. „Soll ich losfahren?“, fragte Knox und am Liebsten hätte Jean nein geschrien. In Evermore hatte er jede Reise willkommen geheißen, die ihn aus der Universität herausgeführt hatte. Auch hier in Los Angeles hatte er jedes Auswärtsspiel dazu genutzt, wie ein Ertrinkender aus dem Fenster ihres Busses zu starren und die Umgebung zu beobachten. Nun jedoch hatte er Angst davor und hätte sich am Liebsten in ihrem kleinen Apartment verkrochen. Jean grollte ob seiner eigenen Fehlbarkeit und nickte knapp. Er schnallte sich an und starrte auf den Thermobecher, der mit einem Mal vor ihm schwebte. Ob es seiner oder Knox‘ war konnte Jean nicht wirklich sagen, schließlich waren beide aus einem Exite hier in Los Angeles, gekauft mit Trojan-Fan-Sonderrabatt durch den blonden Jungen. Knox hatte ihn in den Laden geführt und ihm gezeigt, was er alles an Schlägern, Schutzausrüstung, Trainingsausrüstung und natürlich auch Merchandise kaufen konnte. Den Becher hatte Jean auch nur mitgenommen, damit sein Kapitän endlich Ruhe gab und so besaß er einen Thermobecher in rot und gelb mit dem Wappen der Trojans. Wie seine sonstige, rot-gelbe Trojansausrüstung auch. Er nahm Knox den Becher ab und schnaubte. „Mit oder ohne Beruhigungsmittel?“, fragte er mit nervösem Zynismus, der natürlich auf Unverständnis traf, wie er nun erkannte. Er hatte Knox nichts von Minyards und seiner Vergangenheit mit Beruhigungsmitteln erzählt und schon gar nichts darüber, wie der blonde Junge ihn abgeholt hatte um mit ihm in Richtung Wüste zu fahren. Das war immer noch ein sensibles Thema zwischen ihnen beiden. „Wieso sollte ich dir etwas in deinen Kaffee mischen?“, fragte Knox irritiert und die blauen Augen musterten ihn alarmiert. Jean fluchte innerlich über sein loses Mundwerk und konnte sich gerade noch davon abhalten, mit den Augen zu rollen. „Das war Ironie. Minyard hat es mal versucht“, gab er das Preis, was Knox nicht weiter verschrecken würde. Dachte Jean. Seinen Kapitän sollte er aber langsam mal besser kennen. „Warum?“, fragte dieser besorgt und machte keine Anstalten, seinen Wagen auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Unruhig drehte Jean den Becher in seinen Händen, bevor er ihn auf dem Oberschenkel abstellte. „Er wollte mir die Fahrt in die Wüste angenehmer machen“, sagte er dann und knirschte mit den Zähnen, als er den üblichen, wunden Punkt erwischte. Sein versuchter Selbstmord belastete seinen Kapitän immer noch. Ganz besonders nachts, wenn er in seinen Träumen nach Jean rief. „Es ist wirklich nichts passiert“, schob er versichernd nach und verschränkte die Arme. Er suchte Knox‘ Blick und dieser brauchte etwas, bis er sich aus seiner eigenen Gedankenspirale lösen konnte. Nickend beließ er es dabei und startete den Wagen. In der Navigationsapp, die Theodora zum Orientieren benutzte, gab Knox ihr Ziel ein. Running Springs hieß es und war, zumindest nach Knox, ein lauschiger, kleiner Ort inmitten von Kiefern und Zedern, in dem sie auf ihren Wandertouren schon einmal Halt gemacht hatten. Das machte Jeans Nervosität nicht besser, so ganz und gar nicht und so verbrachte er den Großteil der Fahrt damit, schweigend den Becher zwischen seinen Fingern zu drehen, aus dem Fenster zu starren und sich wie ein Parasit am Anblick der Landschaft um ihn herum zu laben. Knox ließ ihn und dafür war Jean wirklich dankbar. Erst, als sie die Stadtgrenze des kleinen Ortes passierten, tauchte Jean auf seinem beinahe meditativen Starren auf. „Glaubst du…“, krächzte er und räusperte sich. „Wie wird er…“ Auch hier verstummte er wieder. „Wird er da sein?“, entschied sich Jean für das Harmloseste und Knox nickte lächelnd. „Ich denke schon“, erwiderte er und bog in eine der Hauptstraßen ab, die sich schlängelnd durch den ganzen Ort zogen. Es war hübsch hier, die Bäume ein schöner Kontrast zu der lauten und hektischen Küstenstadt, die Los Angeles nun einmal war. Wenn er nicht so fürchterlich nervös wäre, dann hätte Jean das sicherlich auch wertschätzen können. Trotz der Wärme war ihm kalt und er zitterte leicht, die Ärmel seines Leinenhemdes bis über die Hände gezogen. Seine Mutter würde ebenso da sein und vor ihr fürchtete sich Jean beinahe noch mehr als vor seinem Vater. Die emotionale Kälte, die bereits damals von ihr ausgegangen war, hatte ihm seit je her das Gefühl vermittelt, dass sie ihn nicht gewollt hatte. Aber auch sie würde er damit konfrontieren, was das Ergebnis ihres Tuns gewesen war. Er würde es ihnen entgegenschreien und ihnen all das, was ihm auf der Seele lag, vor die Füße werfen. Es juckte Jean in den Fingern, seinem Vater die heuchlerische Trauer aus dem Gesicht zu schlagen, die er vor ihrem Wohnheim gesehen hatte. Nichts davon veräußerte er Knox gegenüber, auch jetzt nicht, da sie anhielten und Jean einen Augenblick lang glaubte, dass sein Herz stehenbleiben würde. Hier war es also. Ein nettes, adrettes Haus inmitten von Kiefern, wie ein verwunschenes Schloss aus Stein und Holz, mit einem Türmchen und einer großen Garage, vor der ein Auto stand. Es war also jemand zuhause. Jean schluckte mühevoll und wenn er gekonnt hätte, wäre er hier und jetzt einfach umgedreht. So gesehen war es gut, dass Knox auch mit dabei war, so konnte er ihn durch seine schiere Präsenz an einer überstürzten Flucht hindern. „Ist das auch wirklich okay, Jean? Wir können auch wieder fahren“, schlug Knox unwissentlich in die gleiche Kerbe und er schüttelte den Kopf. „Nein…wir bleiben“, erwiderte Jean und starrte mit einem solchen Tumult an Gefühlen auf das Haus vor ihnen, dass er das Gefühl hatte, gleich ohnmächtig zu werden. Er versuchte, sich auf die Wut in seinem Inneren zu konzentrieren, doch diese glitt ihm dank seiner Aufregung immer wieder durch die Finger. Bevor er es sich noch anders überlegen konnte, öffnete Jean die Tür und verließ das Auto. Knox folgte ihm hastig, als hätte er Angst, dass Jean weglaufen oder etwas Dummes tun würde. Beides stand zur Option, also war es gut, dass sein Kapitän mitkam und sie sich Schritt für Schritt dem Haus näherten. Nadeln und Tannenzapfen knirschten unter Jeans Schuhen und mehr als einmal fluchte Knox unterdrückt über die dünnen Sohlen seiner Sandalen. Dennoch kamen sie unbeschadet zur Eingangstür und Jean hob seine zitternde Hand. Er musste wegsehen, als er die Klingel betätigte und war froh um die Wut, die nun tatsächlich den Vorrang erlangte. All die Jahre hatten seine Eltern in diesem Traum von einem Haus gewohnt, dieser lauschigen Familienidylle, während er eingesperrt gewesen war. Sie hatten sich ein nettes Leben gemacht, hübsch in einer Kleinstadt und hatten den Eindruck braver Bürger gegeben. Vermutlich wusste niemand, dass sie eigentlich verbrecherische Monster waren, die ihren Sohn weggegeben hatten. Oh ja, er war wütend. Hatten sie sich durch seinen Verkauf so sanieren können um sich dieses Haus zu leisten? Die Tür öffnete sich und Jean machte sich bereit, all das seinen Eltern hier und jetzt ins Gesicht zu schleudern. Das scheiterte jedoch schon an der Höhe, in der er die Person vermutet hatte. Dort, wo er seinen großen Vater erwartet hatte, war niemand. Der Mensch, der vor ihnen stand, war bedeutend kleiner. Jünger. Ein Ebenbild seiner selbst mit seinen grauen Augen und den braunen, wuscheligen Haaren. Jean starrte auf ihn hinunter und fragte sich, ob er aus irgendeinem Grund in einer Zeitschleife gefangen war, in der er sich selbst sah. Hilflos sah er zu Knox, auf dessem Gesicht das gleiche Erstaunen zu sehen war wie Jean in sich fühlte. Ratlos sah er wieder auf den Jungen, der ihn ernst musterte, während er mit beiden Händen die Tür festhielt. Jean schätzte ihn auf sechs oder sieben und sein schlacksiger, aber großer Körperbau ließ schon erahnen, dass er später einmal groß werden würde. Wie sein…Vater. Wie er. Sie hatten ein zweites Kind bekommen, nachdem sie ihn verkauft hatten. Einen zweiten Sohn, damit der Verlust des ersten nicht so schwer wog. Jean schluckte schwer und trat einen Schritt zurück. Nein, das konnte er nicht. Sie hatten ein weiteres Kind gezeugt um ihn zu vergessen. Eine Miniaturausgabe von ihm, anscheinend direkt nachdem sie ihn verkauft hatten. Ihr lauschiges Heim mit braven Kindern. Jean war übel und hätte er sich über die Jahre hinweg keine derartige Disziplin angeeignet, dann hätte er sich hier und jetzt übergeben. So blieb ihm nur die Flucht. Er stolperte drei Schritte rückwärts, als eine schüchterne Stimme ihn an Ort und Stelle einfrieren ließ. „Jean?“, fragte sie und mit Entsetzen sah er, wie der Junge einen Schritt aus der Haustür trat. „Jean? Mon frère?“ Schüchtern sah der Kleine zu ihm hoch, in seinen Augen Hoffnung, die Jean so ganz und gar nicht verstand. Er verschränkte die kleinen Finger ineinander und trat noch einen Schritt nach vorne. Vorsichtig lächelte der Junge. „Papa hat gesagt, dass du irgendwann zu uns kommen wirst, wenn du nicht mehr so doll beschäftigt bist. Er hat gesagt, dass du dann irgendwann hier vor unserer Tür stehen wirst“, redete der Junge so schnell wie Jean es vor Nervosität auch getan hatte. Damals. „Und er hat mir versprochen, dass ich dann ganz viel Exy mit dir spielen darf und dir jede Frage stellen darf, die mir in den Sinn kommt!“ Hilflos starrte Jean an dem Jungen vorbei auf den nun leeren Eingang. Er konnte mit den Worten überhaupt nichts anfangen, er wusste sie weder einzuordnen noch zu begreifen. Er konnte sich aber auch nicht gegen sie wehren, auch wenn er jede Möglichkeit gehabt hätte, sich umzudrehen und zu gehen. Wären da nicht das glückliche Kinderlächeln oder die Freudentränen gewesen, die in den grauen Augen seines…Bruders schimmerten. Er hatte einen Bruder und dieser wusste von ihm. Mehr noch. Er hatte ihn erwartet. So als wäre es klar gewesen, dass Jean irgendwann einmal zurückkehren würde. Hilfesuchend irrte Jeans Blick zu Knox, dessen Mimik ein Musterbeispiel an Sanftheit war, das ihm so gar nicht weiterhalf, weil es keine seiner Fragen wirklich beantwortete. „Wie heißt du denn?“, fragte er an Jeans Statt, seinen gesamten Charme in die Frage legend. Der Junge ließ ihn zum ersten Mal, seit er die Tür aufgemacht hatte, aus den Augen und wandte sich Jeans Kapitän zu. „Louis Stephan Moreau. Aber Lou reicht. Unser Papa nennt mich immer so.“ „Unser?“, krächzte Jean und Louis sah ihn misstrauisch an. Auch wenn er vermutlich noch zu jung war um Stimmungen vollumfänglich zu begreifen, so war Jean sicherlich in seinem Verhalten nicht unauffällig. Ganz und gar nicht. „Na deiner und meiner“, lächelte er zögerlich und Jean zog dieser selbstverständliche Satz den Boden unter den Füßen weg. Bevor er sich aus lauter Panik umdrehen und gehen konnte, erschien eine zweite Gestalt im Türrahmen der Eingangstür und stockte, als er Jean sah. In Jean gefror ebenso alles und wie angewurzelt stand er im Schatten der mächtigen, alten Bäume. „Du bist da“, sagte sein Vater leise, als er seine Stimme wiederfand und dieses Mal nicht den Fehler machte, auf ihn zuzukommen. Er blieb, wo er war und erlaubte es Jean so, sich über seine Gefühle bewusst zu werden. Zuallererst wollte er seinem Vater ins Gesicht schreien, warum er hier war. Er wollte ihn verachten und hassen dafür, dass er ihn verkauft und einen neuen Sohn gezeugt hatte um ihn zu ersetzen. „Papa! Er ist da! Wie du es versprochen hast!“, grinste eben jener und strahlte von Jean aus zu ihrem Vater. „Ja.“ Eine schlichte, zärtliche Bestätigung. „Möchtest du…möchtet ihr hineinkommen?“, fragte er und Jean war versucht, nein zu sagen. Er wollte nicht in dieses Haus, er wollte seine Mutter nicht sehen, ihren kalten, abschätzigen Blick, dem Hohn, mit dem sie ihm mitteilen würde, dass sie bereits ein neues Kind hatten. „Ich…“, begann er und ein begeistertes Quietschen unterbrach ihn nahtlos. „Au ja! Dann kann ich dir mein Zimmer zeigen und all die Poster, die ich von dir und den Foxes habe.“ Irritiert blinzelte Jean. „Den Foxes?“, hielt er sich an der Tatsache fest, die in dem ganzen Gespräch um Ungefährlichsten schien. „Ja, denn ich mag die Farben. Die sind so bunt und cool. Von den Ravens mag ich nur dich. Aber du bist ja keiner mehr. Jetzt bist du auch ein bisschen bunt und cool.“ Das freundliche Lachen kam von Knox. Jean hingegen fand noch nicht einmal die Kraft zu antworten, insbesondere jetzt, da es eine kleine Kinderhand wagte, sich in seine zu schieben und seine krummen, gebrochenen Finger zu drücken. Hoffnungsvoll starrte Louis zu ihm hoch. „Ja, Jean ist jetzt bunt und cool“, bestätigte Knox und kam einen Schritt näher auf ihn zu. Empathisch, wie sein Kapitän war, stellte er sich ihm zur Seite, um seine Flanke zu decken, weil es genau das war, was Jean dringend nötig hatte. Louis zog an seiner Hand und Jeans Blick ruckte zu Knox. Stumm flehte er um Rat, was er tun sollte. „Vielleicht sollten wir tatsächlich hineingehen?“, schlug der blonde Junge vor und Jean nickte kaum merklich. Hier stehen zu bleiben würde auf lange Sicht niemandem etwas bringen. Knox setzte sich in Bewegung und wie von unsichtbaren Fäden gezogen folgte Jean ihm, seine linke Hand eisern umklammert von einem Jungen, der seine Ankunft anscheinend schon länger ersehnt hatte… eine Ankunft, die Jean niemals für möglich gehalten hatte. Wie passte das damit zusammen, dass seine Eltern ihn verkauft hatten? In der kurzen Distanz, die sie zum Haus überwanden, wurde Jean unruhiger und sein Herz schlug schneller. Sein Mund war mit einem Mal trocken, obwohl er auf der Fahrt genug getrunken hatte. Sie traten über die Türschwelle und blieb Jean wie angewurzelt stehen, als er sich einer Fotowand gegenübersah, die beinahe den ganzen Eingangsbereich bedeckte. Zunächst glaubte er, Kinderfotos des Jungen zu sehen, der aufgeregt an seiner Seite hibbelte. Doch dann erkannte er sie. Ja, es waren Fotos von Louis, aber er erkannte auch mehr und mehr Fotos von sich. Es war erstaunlich, wie deutlich er sich noch an die Gelegenheiten erinnerte, bei denen sie gemacht worden waren. Manchmal glasklar, manchmal nur bruchstückhaft, aber sie waren da. Trotz allem. „Lou, wie wäre es, wenn du erst einmal Mr. Knox dein Zimmer zeigst? Was hältst du davon?“, fragte sein Vater und Jean blinzelte. Der Zug an seiner Hand bedeutete ihm, dass eine Antwort verlangt war und er schluckte. Seine Augen suchten Knox, der ihn fragend ansah. Jean nickte zögernd. Sein Vater würde ihn wohl kaum angreifen und das, was er zu sagen hatte, konnte er auch sagen, wenn der blonde Junge sich ein Stockwerk höher befand. „Ist das okay für dich?“, fragte sein Kapitän und Jean brachte ein leises „Ja.“ hervor. Ganz so überzeugt war er davon nicht, im Gegensatz zu Louis, der sich mit einem Strahlen an Knox wandte. „Also erst Mr. Knox und dann mein Bruder. Versprochen!“ Knox lächelte sein charmantes Presselächeln und streckte seine Hand aus. „Du kannst mich Jeremy nennen.“ Die menschliche Klette löste sich von Jean und vertrauensvoll wandte Louis sich an Knox, zog ihn ohne jede Scheu mit sich in Richtung Treppe, ließ Jean mit seinem Vater, den Bildern und den schmerzhaften Erinnerungen, die sie hervorriefen, alleine. Seine Kindheit hing hier an der Wand, offen sichtbar für jeden, der das Haus betrat. Sie war so selbstverständlich wie die des Jungen, der die Holzstufen heraufgepoltert war. Unfähig, etwas zu sagen, starrte er auf die vielen glücklichen Momente und auf den Menschen, der er einmal gewesen war. Als sein Vater einen Schritt auf ihn zutrat, löste Jean sich abrupt daraus und wich zurück. Mit geweiteten Augen sah er dem Mann ins Gesicht, der seine Hand nach ihm ausgestreckt hatte. Jean zischte. „Du glaubst allen Ernstes, dass du noch das Recht hast, mich anzufassen?“, fragte er voller Verachtung, voll angestautem Hass und Unverständnis, die sich nun wieder ihre Bahn brachen, jetzt, da es keine unschuldige, unbeteiligte Überraschung gab. „Nein. Das Recht habe ich nicht mehr.“ Es war, als hätten die schlichte Bestätigung seines Vaters die eisernen Bänder um Jeans Selbstbeherrschung gelöst. Dort, wo er vorher nicht in der Lage gewesen war, Worte zu finden, waren sie nun im Überfluss da und warteten nur darauf, herausgepresst, geschrien und geschlagen zu werden. „Ihr habt mich verkauft.“ Offen starrte er in das Gesicht des Mannes, dem er damals sein Leben anvertraut und es bitter bereut hatte. „Manon hat dich zur Begleichung einer Schuld den Moriyamas überantwortet.“ „Wieviel waren mein Körper und meine Seele wert?“ Gepeinigt sah sein Vater zur Seite. „Jean…“ „Wieviel?“, fragte er lauter, hasserfüllter. „Acht Millionen Dollar.“ Jean schnaubte verächtlich. „Das war also mein Leben in Sklaverei wert.“ Verzweiflung huschte über das eingefallene Gesicht des Mannes vor ihm. „Ich hätte dich niemals weggegeben, wenn ich die Wahl gehabt hätte, Jean. Niemals.“ Die Stimme seines Vaters brach und es waren allen Ernstes Tränen, die er in den grauen Augen sah. Er reagierte mit Wut und Verachtung darauf. „Ihr habt mir das Leben genommen, das ich führen wollte. Jede Freiheit, die ich jemals gehabt habe, habt ihr mir genommen. Ihr habt mich an einen Sadisten verkauft, der mich jahrelang gefoltert hat, auf jede erdenkliche Art und Weise. Ihr habt mich an Verbrecher verkauft, die mich auch jetzt noch besitzen und die mich umbringen werden, wenn ich ihnen nicht das Einkommen bringe, was sie von mir verlangen. Willst du sehen, was euer Werk ist? Was ihr mir angetan habt?“ Ohne auf die Antwort seines Vaters zu warten, zog sich Jean das Hemd über den Kopf. Vor seinem Team scheute er sich, seine Narben offen zur Schau zu stellen oder sich ihnen auf diese Weise verletzlich zu präsentieren. Hier jedoch war es ein Akt der Rache, des Zorns und der Verachtung, aber auch der Befreiung. Sein Vater bereute? Wollte er doch mal sehen, ob sein Vater all das bereuen konnte, was man auf seinem Körper lesen konnte. Mit Verachtung sah Jean das Entsetzen, welches sich in nun fallenden Tränen manifestierte, als der Mann vor ihm begriff, was die Narben zu bedeuten hatten. Mit Genugtuung erkannte er, dass er nicht damit gerechnet hatte, seinen Sohn so vorzufinden. Schweigend drehte er sich um, damit sein Vater auch die von Narben übersäte Rückseite sehen konnte. „Oh mein Gott, Jean…“ Angewidert zuckte Jean zusammen, als er eine Hand auf seinem Schulterblatt fühlte und trat einen Schritt nach vorne. Unwirsch zog er sich das Hemd an und drehte sich zurück. „Das macht man mit Besitz, der keiner sein will“, zitierte Jean Riko mit Abscheu und trat einen Schritt zurück. Er verschränkte die Arme und schauderte, als er an den verstorbenen Sadisten dachte, der jede Nacht seine Träume heimsuchte. „Manon hat mir gesagt, dass sie dich mit Respekt behandeln würden.“ Wie eine verzweifelte Rechtfertigung klang das und Jean lachte laut. „Dann hat Mutter dich wohl angelogen. Wo ist sie eigentlich? Wieder auf Geschäftsreise, damit sie Schulden machen kann um Louis auch noch zu verkaufen, jetzt, wo er bald alt genug dazu ist? Um danach einen neuen Sohn zu zeugen, um den alten zu ersetzen!“ Entsetzen schlich sich in das von Falten zerfurchte Gesicht seines Vaters. Zum ersten Mal sah er so etwas wie Wut in den Gesichtszügen, die er früher so geliebt hatte. Hilflose Wut. „Nein! Niemals wollten wir dich ersetzen, Jean! Niemals. Ich denke jeden Tag an dich, seitdem du weg bist. Ich verfluche mich jeden Tag dafür, dass ich so schwach war und nicht mit dir weggegangen bin, bevor es zu spät war. Ich verdamme mich dafür, jede Sekunde meines Lebens. Ich würde dich niemals ersetzen wollen, Jean, denn ich liebe dich, mit allem, was ich habe. Ich habe dich jede Sekunde deines Lebens geliebt.“ Jean konnte und wollte diese Worte nicht verarbeiten. Nichts von dem passte auf das, was er sich über die Jahre hinweg ausgemalt hatte und was ihm eingetrichtert worden war. Sein Vater liebte ihn, trotzdem er ihn weggeben hatte? Er verdammte sich dafür? Jean konnte es nicht begreifen und er hätte jetzt gerne Renee oder Knox gefragt, was sie darüber dachten. Bislang hatte er seine Eltern gehasst, weil sie ihn genug gehasst hatten um ihn wegzugeben. Was war nun mit diesem Hass, nun da ihm Schuldbewusstsein gegenüber stand? „So wie deine Frau auch?“ Den Bezeichnung Mutter hatte sie wahrlich nicht verdient. „Auf ihre Art hat sie das, ja.“ „Wo ist sie?“, wiederholte Jean, als er merkte, dass sein Vater die Frage umschifft hatte und auch jetzt wandte er unwohl den Blick ab. Mit gebeugten Schultern sah er zur Fotowand und deutete auf das einzige Foto, das sie Drei zeigte. Jean erinnerte sich noch gut an den seltenen Ausflug mit der ganzen Familie. Er hatte jede Minute an der Seite seiner Mutter genossen, genau wissend, dass sie ihn für die nächsten Tage ignorieren würde. „Sie ist bei Louis‘ Geburt gestorben“, sagte sein Vater schließlich und Jean zuckte zusammen. Dass er mehr in Erwartung einer eigenen Erwartung gezuckt hatte, wurde ihm bewusst, als er keine kam. Da war keine Trauer oder Wut, dass sie nicht mehr da war. Da war keine Bestürzung oder Schadenfreude. Da war gar nichts. „Nach all den Schießereien und Mordversuchen an ihr ist sie an einem Blutgerinnsel gestorben, das ihre Lunge verstopft hat.“ Und wieder fühlte Jean nichts. Sie war tot. Die Frau auf dem Foto war tot. Wenn überhaupt fühlte er eine Ruhe in sich aufsteigen, dass sie nicht mehr hier war und er ihr nicht unter die kalten, emotionslosen Augen treten musste. „Louis war kein geplantes Kind, Jean. Wir wollten nach dir kein Kind mehr, das uns genommen werden konnte. Wir haben niemals geplant, dich zu ersetzen. Niemals, Jean.“ Stumm ließ er die Worte auf sich wirken und wagte tatsächlich einen Blick in den Rest des Hauses. Lauschige Kleinstadtidylle. Nichts deutete darauf hin, von welchem Blutgeld das alles hier bezahlt worden war. „Weiß Louis, womit seine Mutter ihr Geld verdient hat?“ „Nein. Er weiß nur, dass sie viel in fremden Ländern unterwegs war.“ „Führst du ihre Geschäfte weiter?“ Sein Vater zögerte. „Nein. Ich arbeite als Lehrer hier im Ort.“ Jean schnaubte verächtlich. „Wissen die Eltern, welchem Mann sie ihre Kinder anvertrauen?“, fragte er mit beißendem Zynismus und begriff erst anhand des vorsichtigen Blicks, welche Informationen er gerade erhalten hatte. Wenn er wollte, konnte er das Leben seines Vaters hier zerstören. Die Frage war, ob er diese Art von Rache wirklich wollte und die Antwort darauf war überraschenderweise nein. Er hatte nicht vor, das Leben des Jungen zu zerstören, der Knox oben sein Zimmer zeigte und der nichts von all dem Leid ahnte, was ihn umgab. „Ich bin nach Amerika gezogen, nachdem deine Mutter beerdigt wurde, um näher bei dir zu sein. Ich habe die Moriyamas angefleht, dass sie dich zurückkehren lassen. Ich habe ihnen wieder und wieder geschrieben und sie gebeten, dass sie mir ein Lebenszeichen von dir schicken. Immer wieder haben sie es abgelehnt und dein erstes Lebenszeichen war, als ich dich mit den Ravens auf dem Spielfeld gesehen habe. Auch dann habe ich weitergebeten und erst nach der Pressekonferenz der Trojans habe ich erfahren, dass du nicht mehr in Evermore eingesperrt warst. Sie haben mir die Erlaubnis gegeben, dich zu suchen und zu sehen, also bin ich zu dir gefahren. Jean, ich bin feige und habe es sicherlich nicht mehr verdient, dass du mich Vater nennst, aber ich habe dich niemals freiwillig abgegeben und wäre ich ein mutigerer Mann, dann würde ich diesen Verbrechern die Stirn bieten. Aber das bin ich nicht. Ich wollte nicht sterben. Ich wollte nicht, dass meine Familie stirbt.“ Darauf wusste Jean nichts zu erwidern. War er nicht auch feige gewesen, als er aufgegeben hatte, sich gegen die Gewalt in Evermore zu wehren und dazu übergegangen war, das zu tun, was Riko von ihm verlangt hatte? War er nicht auch feige gewesen, als er auf Rikos Befehl hin andere verletzt hatte? Selbst als er nach Los Angeles gekommen war, war er noch feige gewesen mit all seiner Angst vor Knox und den Trojans. Konnte er seinen Vater also wirklich deswegen verdammen, dass er nicht den Mut gehabt hatte, sich zu wehren? Eine Bewegung im Augenwinkel schreckte ihn aus seinen Gedanken. Sein Vater deutete in die Küche, die sich anscheinend im Nebenraum befand. „Möchtest du mitkommen? Ich habe Limonade und vielleicht möchtest du ein Glas?“ So ungelenk die Worte waren, so sehr hielt Jean sich an der Alltäglichkeit dessen fest. Musste er auch, bei dem, was in seinen Gedanken tobte und an seiner Selbstbeherrschung riss. Wortlos folgte er dem anderen Mann und sah zu, wie dieser ihm ein Glas Limonade einschenkte. So wie früher. Als sein Vater es ihm reichte, nahm er es automatisch an und starrte nachdenklich auf die Flüssigkeit, die sich in dem bunten Glas befand. Jean wusste, dass er angestarrt wurde, aber das spielte in diesem Moment keine Rolle. Zitronenlimonade war zuhause, sie war Samstag Nachmittage unter der Markise ihres Hauses in Frankreich. Sie war Sommer und Strand. Sie war all das, was er verloren geglaubt hatte und das sich nun vor ihm befand, wortwörtlich zum Greifen nah. Und hatte er nicht auch gerade danach gegriffen, aus verloren geglaubter Gewohnheit? Zögernd probierte Jean einen Schluck und es schmeckte so wie früher. Ob es die Hölle oder doch der Himmel war, konnte er in diesem Moment nicht genau benennen. ~~**~~ Wenn er geglaubt hatte, dass er viel reden würde, so wurde Jeremy eines Besseren belohnt, als der Junge – Jeans Bruder – ihn in sein Zimmer zog und ihm jeden Exy-Fanartikel vorstellte, den er besaß. Mit Herkunft und Bedeutung. Dass das ganze Zimmer voll war mit Foxes-Fanarktikeln machte die Sache nur halb besser und Jeremy brummten schon nach der Hälfte die Ohren. Der Mini-Jean neben ihm strahlte die ganze Zeit und drehte und wendete ihn begeistert in die eine oder andere Richtung, wenn er ihm nicht schnell genug folgte. Unweigerlich fragte Jeremy sich, ob Jean auch so gewesen war, bevor Evermore in seine Klauen bekommen hatte. Verkauft durch seine eigenen Eltern. Jeremy versuchte wirklich, dem Mann neutral gegenüber zu stehen, doch er schaffte es nicht und so war die Ablenkung durch Louis wenigstens in diesem Punkt willkommen. Auch wenn ihm die Fülle an Andrew-, Al- Kevin und Danpostern schon wirklich gruselig war. Das Poster von Jean hatte seinen ganz eigenen Stellenwert direkt über dem Kopfteil des Bettes, ebenso wie der Bär mit dem Trojanstrikot und der Nummer sieben. Jeans Nummer. Das war nicht das Zimmer von jemandem, dessen Vater versuchte, die Identität seines älteren Sohnes zu verbergen, ganz im Gegenteil. Auch die Fotowand im Eingangsbereich des Hauses sprach da eine andere Sprache, wenn er sich nicht irrte und der Junge auf den älteren Fotos nicht Jean war, der meist ernst und schüchtern, manchmal aber auch glücklich und gelöst in die Kamera schaute. „Jeremy?“, holte ihn Louis Stimme ihn zuverlässig aus seinen Tagträumen und er blinzelte. „Ja, Louis?“ „Soll ich dir ein Geheimnis zeigen?“ Noch eins? Wenn er noch mehr Geheimnisse erhielt, dann wäre er bald ohne viel Mühen der größte Geheimnisträger der Welt, mutmaßte Jeremy stumm und nickte trotzdem. Es war schwierig, dem Jungen etwas abzuschlagen, insbesondere, wenn er sich in die Begeisterung hineinredete und sich nur Momente später wieder murmelnd selbst stoppte. „Es ist aber im anderen Zimmer.“ Überrascht hob Jeremy die Augenbrauen. „Hast du noch eins?“ Dieses hier war schon groß und luxuriös genug gewesen, wofür brauchte Louis dann ein zweites? „Nein.“ Verschwörerisch grinste der Junge und fasste erneut seine Hand. Entschlossen wurde Jeremy in den Flur und in ein Zimmer zwei Räume weiter gezogen, das so aussah, als würde hier noch ein Kind wohnen. Die Möbel waren nicht mehr neu und Jeremy hatte den Eindruck, dass sie schon einiges hinter sich hatten. Dafür gehörte es aber auch einem älteren Jungen, zumindest hatte Jeremy das Gefühl, wenn er sich die Bücher und bunt durcheinandergewürfelten Figuren und Tassen ansah. An den Wänden hingen ebenfalls Bilder, allesamt bunt eingerahmt und von Orten, die Jeremy noch nie gesehen hatte. Nur das Disneyland erkannte er, allerdings nur, weil er im Gegenstück in Orlando gewesen war. Das Mickey Maus-Kissen auf dem Bett passte dazu. „Das ist Jeans Zimmer aus Frankreich, hat Papa gesagt. Er hat es mit hierhin genommen, als er nach Amerika gekommen ist um es für meinen großen Bruder aufzubewahren, wenn er wieder nach Hause kommt.“ Jeremy hoffte, dass man ihm seine im Kreis rasenden Gedanken nicht ansah, die versuchten, sich einen Reim darauf zu machen, was er hier sah und was er dachte. „Dein Papa mag Jean sehr gerne, oder?“, fragte er vorsichtig und die braunen Locken wippten voller Elan. „Er sagt immer, dass er ihn ganz doll liebt und dass er sich darauf freut, wenn er vorbeikommt. Und er hat jedes Spiel im Fernsehen angeschaut. Ich auch! Auch wenn es vorher doof war, weil die Farben so doof waren. Jetzt ist es besser. Obwohl er kein Fox ist.“ Jeremy lachte, als Louis schmollend die Arme vor seiner Brust verschränkte und dabei mehr denn je aussah, wie eine Miniausgabe von Jean. „Tut mir leid, da waren wir schneller, ihn zu fragen, ob er zu uns kommen möchte!“, flunkerte er. Wenn er genau darüber nachdachte, war Jeremy sich im Nachhinein nicht sicher, ob Jean überhaupt gefragt worden war, ob er zu ihnen kommen wollte oder ob Wymack das für ihn geregelt hatte. Er nahm sich vor, Jean danach zu fragen, wenn sich die Gelegenheit bot. „Das ist okay. Ihr seid auch ein cooles Team. Ich mag nur rot nicht so gerne, orange ist viel hübscher. Und meine Lieblingsfarbe.“ Jeremy seufzte und gab sich spielerisch geschlagen. Gegen diese bestechende Logik hatte er keine Chance, absolut nicht. „Die Foxes sind aber auch eine coole Mannschaft“, stimmte er nun aus vollem Herzen zu. Als Underdogs ihrer Liga hatten sie sich hochgearbeitet und waren aus einem unkoordinierten Haufen ein professionelles, schwer zu schlagendes Team geworden. Auch wenn ihn einige Spieler unsicher machten, so mochte er das Team. „Du kennst sie doch sicherlich persönlich, oder?“, fragten hoffnungsvolle Kinderaugen und Jeremy lächelte, vorsichtiger als vorher. „Klar kenne ich sie. Warum?“ „Wenn sie in Los Angeles sind und Papa erlaubt, dass ich bei einem der Spiele dabei bin, stellst du mich ihnen dann vor? Bitte?“ Oh Himmel. Das konnte und würde er nicht machen, wenn Jean beschloss, aus guten Gründen mit seiner Familie zu brechen. „Ich sehe, was ich tun kann“, erwiderte er neutral und das reichte schon, damit der begeisterte Jungen seine Arme wie einen Schraubstock um ihn pressen konnte. „Danke danke danke! Und dann kann ich ganz viele Bilder mit allen Spielern machen und bekomme alle Autogramme. Ich liebe Autogramme, aber Bilder sind noch viel besser!“ Jeremy lachte und wuschelte Louis über den Schopf. Als dieser sich von ihm löste, sah er sich ein letztes Mal in dem Raum um, der einmal Jeans Reich gewesen war. Das Zimmer eines Jungen, der Träume und ein Leben gehabt hatte, das von einem auf den anderen Tag zerstört worden war. Wieder einmal konnte Jeremy nicht anders als die Stärke, die Jean innewohnte, zu bewundern, dass er es geschafft hatte, bis hierhin zu überleben. „Dein Bruder ist ein toller und starker Mensch“, sagte er mit einem wehmütigen Lächeln und Louis schob seine Hand in Jeremys. „Du bist auch toll“, sagte er und kicherte. Jeremy schnaufte und ließ sich mit hinunterziehen. Er hoffte inständig, dass der Junge nicht in den Konflikt zwischen seinem Vater und seinem Bruder mit hineingezogen werden würde. ~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 34: Zwei Brüder ----------------------- Jean saß mit dem Rücken zu ihnen draußen im Garten. So wie Jeremy das sehen konnte, hatte er ein Glas Limonade in der Hand und starrte blicklos in die hohen Bäume, die ihren Schatten auf das Haus warfen. Beinahe schon klein und verloren wirkte er im Angesicht dieser alten Riesen, die mit spielerischer Leichtigkeit mehr Jahre auf dem Buckel hatten als sie alle zusammen. Er wippte auf einem schlichten Schaukelstuhl leicht hin und her und Jeremy überkam das absurde Gefühl, dass Jean genau hierhin gehörte. In diesen Garten, diesen Stuhl, inmitten dieser Bäume. Und das nicht nur, weil sein Vater an Jeremys Seite stand, unruhig und unsicher, jetzt, da Louis sein Fotoalbum holte. Das mit den Bildern und Zeitungsartikeln über seinen großen Bruder und über die Foxes. Aus dem Augenwinkel heraus sah Jeremy, wie der Junge hinaus in den Garten lief, unbeschwert und unwissend zu seinem Bruder. Er ließ sich neben ihn in das Gras fallen und Jeremy war versucht, mit hinaus zu gehen, um Jean zur Seite zu stehen. Doch er blieb, denn sein Instinkt sagte ihm, dass dies einer der Wege war, die Jean alleine gehen musste. Zunächst. „Sie sind sein neuer Kapitän“, sagte Jeans Vater an seiner Seite und Jeremy wandte den Kopf in die Richtung. „So ist es“, bestätigte er und wartete, dass der Mann das Gespräch, was er offensichtlich anfangen wollte, auch fortsetzte. „Ich habe vieles über Sie gelesen und niemand berichtet etwas Schlechtes über Sie und Ihre Mannschaft.“ Damit konnte Jeremy noch viel weniger anfangen und er runzelte die Stirn. „Was wollen Sie mir damit sagen, Mr. Moreau?“, fragte er ernst nach und wandte sich soweit von Jean ab, dass er seinen Vater in seinem vollen Fokus hatte und diesen seine Wut sehen lassen konnte. Weniger nervös, denn eher mit ruhiger Resignation hielt Mr. Moreau dieser stand. „Sie sind ein guter Mensch. Sie werden ihm gut tun, auch wenn ich es nicht mehr kann.“ Überrascht hob Jeremy die Augenbrauen und verschränkte die Arme. Selbstverständlich würde er sich bemühen, Jean das Leben zu verschaffen, was dieser verdient hatte. Er würde dafür sorgen, dass dieser die Jahre der Folter vielleicht ein bisschen hinter sich lassen konnte. Jeremy machte sich keine Illusionen darum, dass Jean sie niemals vergessen würde, doch er würde sein Möglichstes tun, ihm genauso viele gute wie schlechte Erinnerungen zu verschaffen. „Ich hätte ihn nicht weggeben sollen.“ Jeremy nickte ob diesen Eingeständnisses. Damit konnte er konform gehen, sehr sogar. „Sie haben ihm sehr wehgetan und das über Jahre. Ich hätte das irgendwie verhindern müssen.“ Jedes Wort schmerzte nicht nur Mr. Moreau. Jeremy verspürte bei jeder Silbe einen Stich schmerzhafter Wut in seinem Bauch, der seine eigene Hilflosigkeit nährte. „Ich bin ein Monster, das seinen eigenen Sohn in die Hände von Sadisten gegeben hat, nur weil ich zu feige war, mit ihm wegzulaufen und wie Nathaniels Mutter auch, das Leben für das eigene Kind zu geben.“ Jeremy runzelte die Stirn. „Wer ist Nathaniel“, konzentrierte er sich auf das, was von all dem am Greifbarsten war und ihn nicht zu einer wütenden Replik verleitete. Überrascht maß Mr. Moreau ihn. „Nathaniel Wesninski.“ „Der Name sagt mir nichts“, wiederholte Jeremy mit mühevoller Ruhe und sein Gegenüber lächelte traurig. „Sie dürften Nathaniel unter dem Namen Neil Josten kennen.“ Ja, Jeremy kannte Neil Josten. Zumindest glaubte er, den Jungen zu kennen, der plötzlich noch einen ganz anderen Namen hatte. Warum hatte jemand zwei Namen? Doch nur, wenn man etwas zu verbergen hatte, oder? Kam daher der ganze Krieg zwischen ihm und Riko Moriyama, an dessen Ende der Kapitän der Ravens durch einen Selbstmord gestorben war, weil er mit der Schande nicht mehr leben konnte, verloren zu haben? Jeremy fragte nicht nach. Dies war eine Wahrheit, die Jean ihm geben würde, wenn er denn wollte. Auch wenn es Jeremy bei dem Gedanken daran, dass Neils Mutter für ihn gestorben war, kalt den Rücken herunterlief. „Neil Josten kenne ich“, bestätigte er deswegen indifferent. Sie verfielen in unangenehmes Schweigen und Jeremy sah in den Garten hinaus, sah Louis, wie er Jean anscheinend etwas erklärte, was dieser in seinem Buch vor sich sah. Wenn er es auf diese Entfernung richtig interpretierte, dann war Jean nicht mehr so angespannt wie am Anfang. Ruhig hielt er das Glas Limonade zwischen den Fingern seiner linken Hand, während seine Rechte das Buch sorgsam daran hinderte, auf den Rasen zu fallen. „Bitte sorgen Sie dafür, dass er ein schönes Leben hat“, sagte der Mann an seiner Seite so neutral, dass Jeremy ihm diese Emotionslosigkeit keine Sekunde lang glaubte. Er wandte sich erneut von Jean ab und sah dessem Vater offen und ohne seine Wut dieses Mal zurück zu halten ins Gesicht. „Einer muss es tun“, grollte Jeremy. „Und dieser Eine waren nicht Sie, wie Sie schon richtig erkannt haben. Als Jean bei uns in L.A. ankam, waren seine Verletzungen, die Riko Moriyama ihm zugefügt hatte, noch deutlich sichtbar. Er hat ihm großflächig seine Haare ausgerissen, er hat ihm mehrere Stichwunden zugefügt und er hat ihn beinahe zu Tode geprügelt. Als er in L.A. ankam, hatte Jean Angst vor mir, weil ich ein männlich und sein Kapitän bin. Er hat sich vor mir auf den Boden gekniet, weil er dachte, dass ich ihn strafen wollen würde. Er wird immer noch von diesen Verbrechern erpresst und weswegen? Weil Sie ihn weggeben haben. Und ja, Ihre Gründe mögen nicht so egoistisch sein, wie man es vermuten könnte, aber Sie haben es dennoch getan und diese Tat sollte Ihnen niemals verziehen werden, wenn es nach mir ginge. Sie haben kein Recht, mich darum zu bitten, ihm Gutes zu tun. Aber ich werde es, weil ich ihn als Menschen sehe, als lebendes Wesen, nicht als Besitz oder als ein Ding, was man verkaufen kann. Ich schätze ihn und wertschätze jedes einzelne Lächeln, zu dem er mittlerweile fähig ist. Ihre Bitte ist also unnötig.“ Mr. Moreau lauschte seinen Worten und verinnerlichte sie, das sah Jeremy. Schweigend wandte er seinen Blick ab und fixierte sich auf seine beiden Söhne. „Ich liebe ihn. Ich habe ihn immer geliebt“, murmelte er schließlich leise und Jeremy nickte schließlich in Anerkennung dessen. Der gute, weichherzige Mensch in ihm glaubte das und wusste, dass dies keine Lüge war. Für einen Augenblick ließ er Mitleid für den leidenden Mann neben ihm zu. Er versetzte sich in die Lage des Mannes, der seinen Sohn hatte weggeben müssen und der immer wieder versucht hatte, ihn wiederzubekommen. Er versuchte sich vorzustellen, wie es war, festzustellen, dass das eigene Fleisch und Blut jahrelang aufgrund der eigenen Entscheidungen gefoltert worden war und die Schuld, die damit einherging. „Ich wünschte, Jean hätte niemals seine Familie verloren“, sagte Jeremy schließlich und das war das Zugeständnis, was er gerade machen konnte an sein Mitleid und seine Wut. ~~**~~ Komisch, dass die sachten Bewegungen des Schaukelstuhls Jean eher daran erinnerten, wie er mit Andrew auf der Terrasse der Krankenschwester gesessen hatte als daran, dass seine Familie in Frankreich immer einen Schaukelstuhl gehabt hatte, den er, kaum dass er alt genug gewesen war um zu laufen, für sich in Anspruch genommen hatte. Jean glaubte nicht, dass es der alte Stuhl war, dafür sah er zu neu aus, aber es saß sich dennoch gut darin und es ließ zu, dass er seine chaotischen Gedanken ordnete, die einfach keinen Sinn ergeben wollten. Seine Gefühle, die es noch viel weniger taten. Er war hin- und hergerissen zwischen Hass, Verachtung, Trauer und der Sehnsucht danach, die Zeit zurück zu drehen. Er war durchaus in der Lage dazu, zu begreifen, was die Bilder an der Wand und die Worte seines Vaters bedeuteten. Oder das Leuchten in den Augen seines…kleinen Bruders, der ihn ansah, als wäre er die Sonne. Ausgerechnet er und das, obwohl Louis ihn nur aus den Erzählungen seines Vaters kannte. Unwohl krampften sich Jeans Finger um das Glas Limonade, das er immer noch nicht aufgetrunken hatte, als sich die Tür hinter ihm öffnete. Er wollte sich nicht umdrehen, aus Angst, dass das Monster namens Vergangenheit hinter ihm stand, so blieb er sitzen und hörte schon anhand der schnellen Schritte, dass es nicht sein Vater war. Nein. Viel schlimmer, wenn er seine Nervösität fragte. „Jean!“ Dem Jungen, der nun neben ihm auftauchte und ihn aufgeregt anstrahlte, war Jean nicht gewachsen, ganz und gar nicht und so war das Lächeln, das er ihm schenkte, gezwungen und nervös. „Du…“, begann Louis und verzog dann sein fröhliches Gesicht zu einem kritischen Stirnrunzeln, während er ihn anstarrte. „…du bist traurig.“ Jean blinzelte. War es so offensichtlich, was er fühlte oder war er so schlecht darin, seine Gefühle zu verbergen, dass ihn selbst ein siebenjähriges Kind lesen konnte? „Ich“, begann er und wusste nicht weiter. Er konnte Louis doch nicht die Wahrheit sagen. Wenn jemand unschuldig in diesem ganzen Spiel war, dann er. „Ich habe unseren Vater lange nicht mehr gesehen“, einigte er sich auf das, was am Ungefährlichsten erschien und Louis verstand das beinahe augenblicklich. „Das würde mich auch sehr traurig machen“, nickte er und Jean rang sich ein minimales Nicken ab. Louis ließ sich neben ihn ins Gras fallen und legte ihm feierlich ein Buch auf den Oberschenkel. „Duu… ich habe die Fotos von den Foxes und von dir da rein geklebt… magst du es mal gucken?“ Wie konnte Jean dem Jungen diesen Gefallen versagen, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie er mit der Situation umgehen sollte? Oder mit seinem jüngeren Bruder, der ihn so selbstverständlich wie ein Familienmitglied behandelte. Eben jener starrte erwartungsvoll zu ihm hoch und Jean stellte mit einem innerlichen Seufzen seine Limonade auf den Rasen. Sacht nahm er das Buch auf und schlug es auf. Gleich die erste Seite sprang ihn in all ihrer orangenen Pracht an und Danielle Wilds lächelte ihm breit entgegen. „Sie ist cool! Und sie lächelt so schön“, schwärmte Louis und rückte näher. Jean nickte und blätterte auf die zweite Seite, die sich unter den Bergen an Kleber gewellt hatte und dadurch gleichzeitig eine merkwürdige Festigkeit besaß. Die Zwillinge starrten ihm in all ihrer abweisenden Glorie entgegen und Jean rollte innerlich mit den Augen. „Sie sind gar nicht groß und doch so gut“, sagte Louis beinahe schon stolz und wenn er gekonnt hätte, hätte Jean diesen Satz eins zu eins an Andrew weitergegeben. Nein, er hätte dafür gesorgt, dass Louis Andrew das ins Gesicht sagte. Ein Gedanke kam ihm, der so absurd wie fern war. Was, wenn er die Beiden tatsächlich miteinander bekannt machte? Was, wenn er seinen Bruder öfter sah? Konnte und wollte er das überhaupt? Jean war sich nicht sicher. Noch viel unsicherer war er, wenn er an seinen Vater dachte. Konnte er dem Mann öfter als am heutigen Tag unter die Augen treten? Konnte er seine Gegenwart ertragen? Jean wusste es nicht, wirklich nicht. Wie es schien, war er einen Moment lang zu unaufmerksam gewesen, denn er hatte nicht mitbekommen, wie Louis aufgestanden war und sich nun auf Augenhöhe mit ihm befand. Jean blinzelte überrascht. „Los, heb mal das Buch.“ Gehorsam hob er das Heiligtum seines Bruders und dieser nutzte seinen nun freien Schoß, als er zu Jeans Horror gewandt darauf kletterte und es sich auf seinen Oberschenkeln gemütlich machte. Jean wagte es nicht, sich zu rühren und starrte den Jungen an, als wären ihm drei Köpfe gewachsen, der ein leichtes und doch unüberwindbares Gewicht auf ihm darstellte, das nicht zuließ, dass er sich erhob. „Das wollte ich schon immer machen! Mit meinem großen Bruder Bilder schauen“, strahlte Louis und ruckelte sich so zurecht, dass er sich bequem seitlich an Jeans Oberkörper anlehnen konnte. Bestimmt nahm er ihm das Buch ab und bettete es nun auf seine eigenen Oberschenkel. Die menschliche Nähe war nur im ersten Moment ein gewaltiges Problem für Jean. Dann setzte sein logisches Denken ein, das ihm verzweifelt versuchte klarzumachen, dass es ein Junge war, der auf ihm saß, kein Raven. Nicht Riko, der mit seinem Messer immer wieder zustach. Ein unschuldiger Junge. Ohne böse Absichten und ohne ihm etwas tun zu wollen. Ein Junge, der den Kontakt zu seinem großen Bruder suchte. Jean atmete tief ein und kämpfte in einem Akt störrischen Widerstandes seine Angst nieder. Louis kannte gar nichts und arrangierte ihn so wie er ihn haben wollte, einschließlich eines um den Jungen geschlungenen Armes. Aufgeregt und glücklich hibbelnd schlug er die nächste Seite auf und erzählte etwas von Josten, das Jean die Möglichkeit gab, sein wild klopfendes Herz unter Kontrolle zu zwingen und sich tatsächlich auf den Jungen zu fokussieren, dessen Worte erst nach und nach wieder Sinn machten. Jean wusste nicht, was er mit seinen Armen machen sollte, also ließ er sie dort, wo sie erwünscht waren. Er bemühte sich, sich möglichst wenig zu bewegen um nichts falsch zu machen, doch das schien Louis nicht zu stören, nun, da er den Schritt gewagt hatte, auf ihn zu klettern. Die freie Hand, die nicht damit beschäftigt war, Seite um Seite seines selbsterstellten Buches umzublättern und ihm stolz den Inhalt zu präsentieren, stahl sich zu seiner eigenen, untätigen Hand und verschränkte sich mit ihr. Eisern, unnachgiebig, nicht nachgebend. Als hätte Louis Angst, dass er aufstehen und gehen würde. „Guck, das bist du!“ Tatsächlich, da war er. Es war eines der Bilder, die zu Promotionszwecken von Riko, Day und ihm in Evermore gemacht worden waren. Die glorreichen Drei, das perfekte Team, die perfekte Reihenfolge. Jean hatte das Ergebnis nie gesehen und kam auch nun nicht in den Genuss der Gesichter der beiden anderen Jungen, da Louis diese mit riesigen, gelben, runden Smileys überklebt hatte. Fragend fuhr Jean mit dem Finger über die Sticker und Louis kicherte. „Ich mag die Beiden nicht. Die haben so falsch gelächelt. Ich mag nur dich, auch wenn du da böse guckst.“ Jean konnte nicht anders. Ein Lachen entfuhr ihm, frei und amüsiert. Ja, die Blutsverwandtschaft war unbestreitbar, zumindest in diesem Punkt. „Dann kann ich ja froh sein, dass du mein Gesicht nicht auch mit einem Smiley überklebt hast“, erwiderte er trocken und Louis kicherte. Mit großen, grauen Augen wandte er sich an ihn und Jean musste beinahe schielen, um den Blick zu erwidern. Ehe er es sich versah, stupste Louis seine Nase an. „Ich hab‘ doch nur einen großen Bruder“, grinste er und Jean spürte, wie diese Worte ein Kribbeln in ihm auslösten, das er schwer beschreiben konnte. Wieder lächelte er und deutete auf das Buch. „Hast du denn noch mehr von mir dadrin?“, fragte Jean, alleine schon, um von sich selbst und seiner Unruhe abzulenken. Ja, Louis hatte und beinahe musste er laut loslachen, als er seinen Kopf, der kunstvoll aus einem Bild ausgeschnitten war, auf einem Bild von Day im Trikot wiederfand. „Du würdest ein toller Fox sein“, nickte Louis begeistert und zu Beginn seiner Zeit im Gästezimmer der Krankenschwester hätte Jean ihm Recht gegeben. Doch nun war er sich dessen nicht mehr ganz so sicher und er stellte fest, dass er trotz allem diametral Unterschiedlichen sich damit arrangieren konnte, seine restliche Collegezeit in Los Angeles zu verbringen. Bei denjenigen, die durch ihre Freundlichkeit und ihr Gutmenschendasein für alles standen, was ihm verloren gegangen war. „Aber die Trojans sind auch ganz okay und spielen können sie auch gut“, seufzte er und es fühlte sich an, als würde die Mannschaft im Hintergrund jubeln, dass er es endlich eingestanden hatte. Auch wenn sie nicht zuhörten…keiner von ihnen. „Na das freut mich aber zu hören!“ Während Louis begeistert quietschte, knirschte Jean mit den Zähnen und wandte seinen Kopf gerade rechtzeitig zur Seite um Knox‘ breites Grinsen zu sehen, das seine Worte begleitete. „Ich dachte schon, ich bekomme nie ein Lob aus deinem Mund!“ „Ihr habt gegen die Foxes verloren! Also könnt ihr gar nicht besser sein!“, kritisierte Louis ohne Scheu und Jean hob vielsagend die Augenbraue. Jetzt, in diesem Moment, sah er einen eindeutigen Vorteil darin, eine kleinere, mutigere und frechere Version von sich selbst zu haben. Wenn er in diesem Moment gefragt werden würde, ob er bereit war, Louis ein zweites Mal zu sehen, dann würde er ja sagen. Alleine, um den Jungen ein Sprachrohr sein zu lassen für alles, was er nicht veräußern konnte. Louis ruckelte sich zurecht und kletterte von ihm herunter, mit einer plötzlichen Energie, die Jean im ersten Moment überraschte. Fragend sah er auf die ausgestreckte Hand. „Du hast noch gar nicht dein Zimmer gesehen!“, platzte es aus seinem jüngeren Bruder heraus und Jean blinzelte irritiert. Sein Zimmer? Er hatte ein Zimmer? Wie…? „Mr. Jeremy hat es schon gesehen! Du musst jetzt auch gucken! Ihr müsst zusammengucken!“ Jeans Augen verirrten sich in Knox‘ – Mr. Jeremys - Richtung, dessen Blick so sanft auf ihm lag, dass alle Alarmglocken schrillten, was dieses Zimmer anging. Das wurde auch nicht besser, als Louis sie beide nun eisern hochzog in den ersten Stock des Hauses. Jean kam es vor wie der unangebrachte Besuch in einem fremden Haus, das nicht dazu gedacht war, entdeckt zu werden. In dem Augenblick, in dem Louis einer der weißen Türen aufriss, war jedoch nichts mehr fremd. Rein gar nichts. Jean stand vor seiner Kindheit, die ihn mit einem Mal einholte, als wäre sie nie weg gewesen. Das war sein altes Kinderzimmer, so wie er es sich eingerichtet hatte. Die Dinge, die er damals geliebt hatte, die Bücher, die er gelesen hatte, selbst die Bettwäsche war die, die er sich von seinem Taschengeld selbst gekauft hatte. Er blinzelte, vollkommen unfähig, sich zu bewegen. Wieso sollte sein Vater sich die Mühe machen, all diese Dinge aufzuheben? Selbst die Möbel und den Kleinkram, der nicht mehr war als eine Ansammlung unnötiger Staubfänger? Weil ich dich vom Tag deiner Entstehung an geliebt habe und immer noch liebe, gab ihm die Stimme seines Vaters die allzu offensichtliche Antwort und Jean trat einen vorsichtigen Schritt nach vorne. Er ging zum Bücherregal und berührte jeden einzelnen Buchrücken, mit seinen Fingerspitzen. Alt und vielgelesen waren sie, immer und immer wieder durchgesuchtet. Auch wenn er es nicht wollte, erinnerte sich Jean an jede kleine Figur, die er im Regal fand, er erinnerte sich, woher sie kamen und wer sie ihm geschenkt hatte. In den meisten Fällen sein Vater. Seine Hände zitterten und er wagte es nicht, sich zu den beiden Jungen umzudrehen, die hinter ihm standen und ihm dankbarerweise Raum und Zeit ließen, seine verloren geglaubte Vergangenheit zu erkunden. Er war nicht ausgelöscht worden, seine Vergangenheit nicht weggeworfen wie unnützer Plunder. Er war hier, ein Zimmer nur für ihn. Sein Zimmer, ein Mausoleum für den Jungen, der er gewesen war. Jean schluckte schwer. Widerwillig glaubte er seinem Vater seine Worte, denn warum sonst würde er ein weiteres Zimmer einrichten, eines, das vermutlich auf ewig leer geblieben wäre. Änderte es etwas? Jean wusste es nicht. „Du hast tolle Sachen. Und wenn Papa nicht hinschaut, dann gucke ich in deine Bücher mit den bunten Bildern.“ Stolz strahlte Louis und Jean maß ihn schweigend. Was in seinem Gesicht stand, konnte er nicht sagen, aber Knox legte eine Hand auf den Arm des Jungen und lächelte sanft, aber bestimmt auf ihn herab. „Komm Louis, lassen wir deinen Bruder doch einen Moment hier in seinem Zimmer. Währenddessen kann ich dir ein paar geheime Spielzüge der Trojans zeigen, wie wäre es?“ Jean wusste, was sein Kapitän vorhatte und er war ihm äußerst dankbar dafür, dass er es tat. Jetzt, da Knox Louis aus dem Zimmer lotste und mit einem versichernden Lächeln die Tür hinter sich schloss, konnte Jean seiner inneren Unruhe und Bestürzung über dieses Zimmer freien Lauf lassen. Er taumelte zum Bett und ließ sich darauf nieder. Es war kleiner, als er es in Erinnerung hatte, für seine Größe mittlerweile viel zu klein. Doch das interessierte Jean nach einem kurzen Zögern nicht, als er sich auf das Kissen zurückfallen ließ und die Beine anzog. Vorsichtig bettete er den Kopf auf den weichen, duftenden Bezug und deckte sich mit seiner alten Decke zu. Als könnte er so alles ungeschehen machen. ~~**~~ „Du hast meine Sachen nicht weggeworfen.“ „Das ist richtig.“ „Du hast mein Zimmer so eingerichtet, wie ich es in Frankreich hatte.“ „Ja.“ „Warum?“ „Weil es das Einzige war, was mir von dir geblieben war.“ „Ein Mausoleum also.“ „Eine Erinnerung an mein Versagen als Vater und ein Raum, in dem du bei mir warst. Ein Raum, in dem ich zu Gott beten konnte, dass er dich mir wieder zurückbringt.“ „Gott gibt es nicht.“ „Vielleicht.“ Jean stand mit verschränkten Armen im schattigen Halbdunkel des gemütlich eingerichteten Wohnzimmers und sah Knox und Louis dabei zu, wie sie unter dem vorgeschobenen Grund, Exy zu spielen, durch den Garten tollten. Sein Vater besah sich das Schauspiel ebenso angespannt wie er auch. Sobald sie alleine waren, spürte Jean nichts von der Leichtigkeit, die in ihn gekrochen war in der Gegenwart des Jungen. Hier spürte er nur die Schwere der Schuld, die zwischen ihnen stand. Er sah den Tag, an dem sie ihn weggegeben hatten, vor seinen Augen, als wäre es gestern gewesen. Mit den Erinnerungen kam eine Befürchtung, die Jean bisher von sich gehalten hatte, eben weil sie ihn nicht interessiert hatte. Doch nun, da er Louis in all seiner Unbeschwertheit sah, war es Angst, die sich ihren Weg durch seine Eingeweide bahnte. „Wenn sie nach ihm verlangen…dann wirst du ihn genauso weggeben wie mich“, verbalisierte er diese und sah aus dem Augenwinkel heraus seinen Vater zusammenzucken. Ein gepeinigter Laut verließ den älteren Mann und Jean sah ihm ins Gesicht. „Sag es mir“, verlangter er eindringlicher und sein Vater schüttelte den Kopf. „Niemals wird das passieren.“ Jean schnaubte. „Und das weißt du woher? Oder vertraust du auf die Worte einer toten Eiskönigin, die dich anscheinend auch bei mir belogen hat.“ Verzweifelt schloss sein Vater die Augen und Jean sah, wie der Adamsapfel hüpfte, als er schwer schluckte. „Ich vertraue auf den Vertrag, mit dem ich Louis aus Ansprüchen der Moriyamas herausgekauft habe, sobald er geboren wurde.“ So ganz konnte Jean den Worten nicht folgen, auch wenn sie sicherlich einen Sinn ergaben. „Was soll das bedeuten?“, hakte er misstrauisch nach und sein Vater lächelte bitter. „Das Vermögen, was deine Mutter und ich angehäuft haben, habe ich den Moriyamas übergeben und damit Louis von allen Ansprüchen herausgekauft. Niemand wird ihn mir wegnehmen und niemand wird ihn in die Sklaverei zwingen.“ Kritisch nahm Jean die Worte unter die Lupe und zerlegte sie in ihre Einzelteile. Soweit er sich erinnerte, war es kein unbeachtliches Vermögen gewesen, das seine Eltern gehabt hatten. Dafür einen Menschen freizukaufen, war sicherlich möglich, zumindest aus seine begrenzten Sachverstand heraus. „Und von der Familie? Erhebt da niemand den Anspruch auf ihn?“ Sein Vater steckte die Hände in seine Hosentaschen und ließ die Schultern sinken. Beinahe schon entspannt konnte Jean die Pose nennen, wäre da nicht der harte Zug um die Mundwinkel herum. Verachtung stand klar auf dem durch die Jahre gezeichneten Gesicht. „Nein. Der Vertrag mit den Moriyamas schließt auch das aus. Deine Großcousine, die nun das Geschäft deiner Mutter fortführt, ist machtlos dem gegenüber. Dass sie das nicht freut, kannst du dir denken, auch wenn Louis kein Mädchen ist. Sie hätte ihn gerne in ihren Klauen gehabt, doch ich bin ihr zuvorgekommen. Mit der Folge, dass ich mich besser nicht mehr in Marseilles blicken lasse, wenn mir mein Leben lieb ist.“ Jean hörte Triumph in der tiefen Stimme des Mannes, ebenso wie den bitteren Humor. „Ich habe dir gesagt, dass ich das nicht noch einmal zulassen werde, wenn sich mir die Möglichkeit dazu bietet und genau das habe ich getan, Jean. Ich habe ihn vor dem Zugriff dieser Verbrecher gerettet, auf dass er unbeschwert und glücklich aufwachsen kann.“ Lange Zeit reagierte Jean nicht auf die Worte seines Vaters. Lange Zeit bewegte er sie in seinen Gedanken und versuchte ihren Wahrheitsgehalt zu ergründen. Sein Bauchgefühl, so minder es auch vorhanden war, sagte ihm, dass er den Worten Glauben schenken konnte. Dass sie ehrlich waren. Die Jahre an Folter flüsterten ihm das Gegenteil ein. Genau deswegen hielt er auch die kommenden Worte nicht zurück, die unter der Oberfläche seiner Selbstbeherrschung schlummerten. „Wenn das gelogen sein sollte und Louis in die Fänge dieser Sadisten gerät, dann werde ich die Kenntnisse, die Riko mir mit seinem Messer beigebracht hat, an dir ausprobieren, bevor ich dich umbringe“, erwiderte Jean mit eisigem Hass in der Stimme, der seinen Vater mit Leichtigkeit überraschte. Sekunden lang musterten sie sich stumm, bevor der ältere Mann nickte. „Das ist dein gutes Recht“, sagte er ernst und Jean wusste instinktiv, dass das keine Lüge war. ~~**~~ „Aber du kommst doch wieder, oder?“ Hoffnungsvoll ruhten die großen Kinderaugen auf Jean, als Louis ihn in einem eisernen Klammergriff um die Taille festhielt, während er ihn zum Abschied drückte. Wäre er grausam und herzlos, würde er in diesem Moment nein sagen. Er würde den Jungen von sich lösen und gehen, so wie es seine Eltern damals mit ihm getan hatten. Doch in Jean flammte noch nicht einmal der Funke eines solchen Rachewunsches auf, kein bisschen. Ganz einfach, weil er noch nicht einmal den Wunsch verspürte, seinen Bruder nicht wieder zu sehen. Es ruhte nicht nur ein Augenpaar auf ihm. Den Blick seines Vaters spürte Jean wie ein schweres Gewicht im Nacken. Wäre es nur er gewesen, so hätte Jean sich umdrehen und gehen können. Nun war dem nicht so und er verfluchte all die Wut, die im Laufe des Tages still und leise gegangen war und der offenen, freigiebigen Zuneigung seines kleinen Bruders Platz gemacht hatte, die sich in sein Herz gestohlen hatte. Jean nickte, weil er seiner Stimme nicht traute und sowieso nicht die richtigen Worte fand und sein Vater räusperte sich. „Louis, sei so gut und lasse deinen Bruder jetzt los. Gib Jean frei und verabschiede dich von Mr. Knox, damit die Beiden zurück nach Los Angeles fahren können. Sie müssen morgen sicherlich wieder viel lernen und trainieren.“ „Aber erst, wenn er es mir versprochen hat!“, hielt Louis stur dagegen und löste sich gerade so weit von Jean, dass er ihm seinen gekrümmten, kleinen Finger hinhalten konnte. „Los, versprich es!“ Es brauchte seine Zeit, doch dann erwiderte Jean die Geste und hakte auch seinen kleinen Finger ein. „Versprochen“, sagte er ernst und ließ seinen Vater für einen Moment erneut sehen, welches andere Versprechen noch daran hing. Ja, er hatte den Entschluss gefasst, wiederzukommen. Er würde sogar in regelmäßigen Abständen wiederkommen und nach dem Rechten sehen um Louis nicht dem gleichen Schicksal auszusetzen wie er es erlitten hatte. Eben jener, der sich nun auf seine Zehenspitzen stellte, ihn an seinem Hemd zu sich herunterzog und ihm einen feuchten Kuss auf die Wange drückte, der Jean unwillkürlich an ihrer beider Großtante erinnerte, die das früher immer mit ihm gemacht hatte. Er schauderte innerlich. Nein, früher war nicht alles besser gewesen. Louis löste sich widerwillig von ihm und umarmte Knox ebenso stürmisch. Das Bruderfäustchen, das sein Kapitän dem Jungen beigebracht hatte, kam natürlich auch zum Einsatz und ließ Jean wohl verborgen mit den Augen rollen. Er wandte sich ab, bereit, zurück zum Auto zu gehen, als er durch eine Hand auf seinem Oberarm zurückgehalten wurde. Es war sein Vater, der ihn mit einer solchen Liebe auf seinem Gesicht ansah, dass Jean in der Bewegung innehielt, sich aus dem Griff zu lösen. „Danke, dass du gekommen bist und mit mir gesprochen hast“, murmelte der Mann, den er seit neun Jahren nicht mehr gesehen hatte und für den er keinen Funken seiner damaligen Liebe und Zuneigung mehr fühlte, wie Jean sich nun bewusst wurde. Dafür stand zuviel Schuld zwischen ihnen. „Und danke auch an Sie, Mr. Knox, dass Sie ein so wunderbarer Mensch sind und dass Sie Jean so unterstützen, wie Sie es tun.“ „Klar gerne, Mr. Moreau“, nickte sein Kapitän und Jean erkannte den Tonfall aus Pressekonferenzen wieder. Derjenige, mit dem er Journalisten abfertigte, die ihm unangenehme Fragen stellten. „Du bist cool, auch wenn du rot trägst und zur falschen Mannschaft gehörst!“, adelte Louis Knox quasi im Vorbeigehen und Jean hob die Augenbraue, als sein Kapitän lachte. Mit einem letzten Nicken in Richtung Louis drehten sie sich um und gingen zum Wagen. Erschöpft ließ Jean sich auf den Beifahrersitz fallen, wobei es ihm auch egal war, ob sich die Feder in seinen Oberschenkel bohrte. Jetzt, da sie in Knox‘ Wagen saßen, wollte er nur weg von hier, weg von den Eindrücken, die beinahe zuviel für ihn waren. Zurück nach Los Angeles in ihr kleines Apartment, das seine ganz eigene Sicherheit war. Seine Gewohnheit in all den Turbulenzen, in die er sich unfreiwillig und freiwillig gestürzt hatte, nicht wissend, was sie ihm antun würden. Knox fuhr los und Jean bettete seine Stirn an die Scheibe der Beifahrerseite. Sacht befühlte er die Wange, die Opfer des feuchten Kusses geworden war. ~~**~~ „Wie geht es dir?“, fragte Jeremy, als sie den Highway erreichten, der sie zurück nach L.A. bringen würde. Jean hatte kein Wort mit ihm gesprochen und für die erste halbe Stunde hatte Jeremy ihn zunächst in Ruhe gelassen, wohl wissend, dass Jean diese Stille brauchte, um sich selbst über das klar zu werden, was heute Nachmittag geschehen war. Vermutlich hatte Jean ebenso wie er auch mit nichts von dem gerechnet, was passiert war für Jeremy war es schon schlimm. Wieviel schlimmer musste sich Jean dann fühlen, mit allem, was ihm offenbart worden war? Ein nichtssagendes Schnaufen entkam dem Jungen auf dem Beifahrersitz und schließlich seufzte Jean. „Ich bin verwirrt“, erhielt Jeremy eine erste Antwort, die er gut nachvollziehen konnte. „Gut verwirrt oder schlecht verwirrt?“, hakte er nach und Jean sah ihn überrascht an. „Da gibt es einen Unterschied?“ Jeremy schmunzelte, bevor er wieder ernst wurde. „Hast du das Gefühl, dass dir all das über den Kopf wächst? Dann ist es schlecht verwirrt.“ „Nein, das nicht…aber gut ist es auch nicht.“ Vor Monaten wäre eine solch ehrliche Einschätzung noch nicht möglich gewesen, befand Jeremy und war stolz auf die Fortschritte, die Jean gemacht hatte. Alleine, dass der andere Junge ihn ehrliche, ungefilterte Reaktionen sehen ließ, war ein gutes Zeichen dafür, dass sie auf einem noch viel besseren Weg waren. „Möchtest du mit mir darüber sprechen?“, hakte Jeremy nach und Jean überlegte. Aus dem Augenwinkel heraus sah Jeremy, wie der Ex-Raven mit den Falten seiner Leinenhose spielte. Beinahe schon erwartete er, dass die Antwort nein sein würde, doch dann atmete Jean tief durch und fiel sichtlich in sich zusammen. „Wie würdest du an meiner Stelle darüber denken?“, brach es schließlich verzweifelt aus ihm heraus. „Wie würdest du mit so einem Vater umgehen? Oder mit einem Bruder, von dem du nicht gewusst hast, dass es ihn gibt, der dich aber augenscheinlich kennt und eine Zuneigung für dich hegt, die dich vollkommen überfordert. Der auf deinen Schoß krabbelt und dir einen Kuss auf die Wange drückt. Wie?!“ Jeremy bemühte sich, in all der Unruhe, die Jean berechtigter Weise gefangen hielt, ein Ruhepol zu sein, der ihn bei der Lösungsfindung unterstützte…wie auch immer die aussehen mochte. „Ich würde mir alle Zeit der Welt nehmen um darüber nachzudenken, was ich möchte und womit ich mich wohlfühle“, erwiderte er und Jean grollte. „Er hat meine Hand gehalten. Er hat mir Dinge gesagt.“ Jeremy wusste, welche Dinge Louis gesagt hatte, hatte er sie ihm doch vorher mit einem Kichern ins Ohr geflüstert. Wie toll er seinen großen Bruder fand. Wie begeistert er von ihm war. Dass Jean sein großes Vorbild war und dass er all die Jahre gehofft hatte, dass Jean vorbeikommen würde. Jean, der mit einer ganz anderen Prämisse nach Running Springs gekommen war, konnte diese Erwartungen nicht in Gänze erfüllen und Jeremy verstand nur zu gut den Konflikt, der sich daraus ergab. „Hast du dich damit unwohl gefühlt?“ Jean schnaufte erneut und das war für eine lange Zeit die einzige Reaktion, die Jeremy erhielt. „Nein“, erwiderte der andere Junge schließlich, als Jeremy das Thema schon beinahe als gestorben geglaubt hatte. „Seine körperliche Nähe hat mir nichts ausgemacht. Er ist ein Fliegengewicht.“ „Nur deswegen?“ „Nein.“ „Du hast also einen jüngeren Bruder. Ein Mini-Me, der schon sehr nach dir kommt.“ Jeremy gestattete sich ein Grinsen bei den Worten und er spürte Jeans Fassungslosigkeit eher als dass er sie wirklich sah. „Was?“ „Ich glaube nicht.“ „Ich glaube schon.“ Jean brummte. „Er hat meine Sachen aus Frankreich mitgenommen. Er sagt, er liebt mich noch.“ „Mildert das die Schuld, die er trägt?“ Jean schüttelte den Kopf. „Nicht im Geringsten.“ „Dann nimm dir Zeit, darüber nachzudenken, was die Schuld für dich bedeutet und wie du mit ihm umgehen willst.“ Es dauerte seine Zeit, dann nickte Jean zögernd, verfiel dabei wieder in sein brütendes Schweigen. Jeremy nahm das zum Anlass, sich die Worte von Mr. Moreau noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Er solle Jean fragen, hatte er gesagt. Nach Nathaniel-Neil und seiner Mutter. Vielleicht war das ein guter Zeitpunkt um Jean auf andere Gedanken zu bringen? Er versuchte es. „Nathaniel Wesninski“, stellte er in den Raum zwischen ihnen und Jeans Kopf schoss hoch. „Wieso ist er die gleiche Person wie Neil Josten?“ Kurz wandte Jeremy seinen Kopf zur Seite und sah die Vorsicht in Jeans Augen. „Hat mein Vater dir das gesagt?“, fragte er und Jeremy nickte. „Er hat mir erzählt, dass er nicht so mutig gewesen ist wie Nathaniels Mutter. Als ich nicht wusste, von wem er spricht, sagte er, dass es Neil sei. Was meint er damit, Jean?“ Sein Beifahrer schluckte mühevoll und wieder spielten die Finger unablässig mit den Falten seiner Hose. „Das willst du nicht wissen.“ Jeremy runzelte die Stirn. „Warum nicht?“ „Weil du viel zu unschuldig dafür bist.“ Überrascht blinzelte er. „Naja, also technisch gesehen habe ich meine Unschuld schon mit sechszehn verloren“, erwiderte er mit einem breiten Grinsen und wagte einen Abstecher zu Jeans Gesichtsausdruck, der ihm mit erboster Fassungslosigkeit begegnete. Oh, da hatte er seinen Backliner außer Fassung gebracht, das sah Jeremy ganz deutlich. „Das meinte ich nicht“, entkam es den schmalen Lippen schließlich indigniert und Jeremy nickte versöhnlich. „Ich weiß, Jean.“ „Das ist etwas, was mit den Moriyamas verbunden ist. Es könnte gefährlich für dich werden“, sagte sein Beifahrer schließlich zögerlich. „Du bist in diesem ganzen, abscheulichen Morast nicht mit drin. Du hast dir deine Freiheit bewahrt und deine Unbeschwertheit. Ich möchte nicht, dass du dir das kaputt machst.“ Jeremy runzelte nachdenklich die Stirn. Wieso sollte das Wissen darum seine Freiheit beeinträchtigen? Oder die Art, wie er auf Menschen zuging? „Du willst mich schützen?“, fragte Jeremy schließlich, doch Jean antwortete nicht, dafür drückte aber seine gesamte Körpersprache aus, was seine Worte nicht schafften. Dass Jeremy mit seiner Frage ins Schwarze getroffen hatte. Ein warmes Kribbeln breitete sich in seiner Brust aus. Verlegen strich er sich eine ungehorsame Strähne aus dem Gesicht und ließ das Thema schlussendlich fallen. Auch wenn er das Gefühl in ihm nicht wirklich loswurde. Oh oh. ~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 35: Löffelbiskuits und Laserstrahlen -------------------------------------------- „Mayson.“ Wie ein Fluch überkam Jean seine Unfähigkeit, weiter zu sprechen, sobald der Name seine Lippen verlassen hatte. Jean grollte innerlich. Jetzt, da er die Aufmerksamkeit seines Teammitgliedes hatte, wusste er nicht mehr, was er wie sagen sollte. Vorher war es doch so klar gewesen, doch nun stand er vor dem Jungen, der schweigsam und unerfreut ihn zu sehen darauf wartete, dass er irgendetwas sagte. Nach und nach leerte sich das Spielfeld und ihr Team verließ die Halle um duschen zu gehen. Vor vier Tagen war Jean bei seinem Vater und seinem kleinen Bruder gewesen und war mit einer Schuld im Gesicht und in der Gestik seines Vaters konfrontiert gewesen, die seine Gedanken auch im Nachgang nicht losgelassen hatte. Ebenso wenig wie ihn die Augen voller bedingungsloser Zuneigung seines Bruders nicht mehr losließen, die so gegensätzlich zu allem standen, was passiert war. Zwangsweise hatte Jean sich damit auch mit seiner eigenen Schuld, die er über die Jahre hinweg angesammelt hatte, befasst und war natürlich auf Mayson zurückgekommen. Valentine warf ihm kurz einen prüfenden Blick zu, der nur im ersten Moment ernst war und ließ sie dann mit einem Winken und einem „Bleibt artig, Jungs“, alleine, um duschen zu gehen. Vielleicht wäre das sogar die bessere Variante gewesen. Erst duschen, dann reden. Aber Jean war sich nicht sicher, ob ihn dann nicht der Mut verlassen hätte. Dann stand er lieber verschwitzt vor einem ebenso verschwitzten und rotgesichtigen Jungen, der sich kaum noch auf den Beinen hielt, so wie es aussah. Zumindest näherte sich der Arm mit seinem Helm gefährlich nah dem Boden. Jean hatte seinen schon längst ab und auf die Bank gelegt. „Mayson“, setzte er erneut an und dieses Mal wollte es ihm besser gelingen. „Wegen deiner Verletzung…“ Na das lief ja wunderbar, befand Jean. Zumindest hatte er schon mal einen ersten Halbsatz, der zwischen ihnen verklang und zu einer neuen Schweigepause führte. „Ich habe mich nicht wohlgefühlt bei meiner Entschuldigung.“ Der Gesichtsausdruck des Jungen sagte ihm, dass der Sinn seiner Worte falsch verstanden wurde und Jean knirschte mit den Zähnen. „In Evermore war eine Entschuldigung ein Zeichen der...“, er schluckte, „Erniedrigung. Sie…war erzwungen und wurde bestraft, wenn sie nicht richtig war.“ Mayson verschränkte die Arme samt Schläger vor der Brust und hob abwartend die Augenbraue. Jean wünschte, er würde es ihm einfacher machen, doch da würde er lange drauf warten. Mayson mochte ihn nicht und Jean verstand das. Für das, was er getan hatte, würde er sich auch nicht mögen. „Das, was geschehen ist, hätte nicht geschehen dürfen und wenn ich die Wahl gehabt hätte, dann hätte ich mich nicht dafür entschieden, dich zu verletzen“, formulierte er vorsichtig die Worte, die sich richtiger in seinem Inneren anfühlten. Mayson schnaubte. „Man hat immer die Wahl.“ Jean wollte verneinen, doch dann überlegte er es sich anders. „Meine Wahl wäre in dem Moment gewesen, mich zu verweigern und von Riko dafür bestraft zu werden.“ „Und?“ „Wenn ich Glück gehabt hätte, hätte er mir nur einen oder zwei Finger gebrochen. Oder mich nur die Treppe hinuntergestoßen. Viel wahrscheinlicher ist es aber, dass er mich dafür ausgepeitscht und aufgeschnitten hätte“, erwiderte Jean so ruhig es ihm möglich war. Mayson schluckte und eine erste Unsicherheit huschte über sein Gesicht. Ob das gut war, wusste Jean nicht. „Dich zu verletzen bedeutete in dem Moment weniger Schmerzen für mich. Da habe ich den Weg gewählt.“ Mayson brauchte lange, um über seine Worte nachzudenken und seine Feindseligkeit Jean gegenüber solange hinten an zu stellen, bis er eine Entscheidung getroffen hatte. „Du sagst also, dass du es bereust, dass du dich aber nicht entschuldigen wolltest, weil du schlechte Erinnerungen daran hast?“, resümierte er dann und Jean nickte. „Warum hast du‘s dann getan?“, fragte Mayson. „Weil es erwartet wird.“ Ein angewidertes Grollen fand seinen Weg zwischen ihnen. Mayson war wieder wütend. „Scheiß auf Erwartungen, Moreau. Ich will, dass du es bereust.“ Jean hatte nichts Anderes gedacht. Die Frage war nur, wie sich das zu äußern hatte. Wollte Mayson dafür körperliche Wiedergutmachung? Ihn ebenso verletzen? Wollte er ihn auf seinen Knien sehen, mit der Stirn auf dem Boden? Ratlos verzog er seine Lippen. „Wie soll das aussehen?“, fragte Jean und Mayson starrte ihn an, als hätte er in einer anderen Sprache mit ihm gesprochen. „Wie das aussehen soll?“, echote er und Jean nickte knapp. Wie so oft war vieles anders hier und so musste er wieder erläutern, was ihm unklar war. „Wünschst du mich zu schlagen? Oder soll ich auf die Knie gehen? Oder…andere Dinge?“, fragte Jean mit selbstzerstörerischer Präzision, als würde er über ein Objekt sprechen und nicht über sich selbst. Es war die einzige Möglichkeit, wie er sich überhaupt dazu überwinden konnte, die Worte zu veräußern. Es überraschte Jean im Nachhinein nicht wirklich, dass Mayson fassungslos auf seine Fragen reagierte und stumm blinzelte, als hätte er gerade mit einem Geist gesprochen. Schlussendlich wich er angewidert einen Schritt zurück, so als hätte er Angst, dass Jean hier und jetzt damit anfangen würde. Grollend schüttelte er den Kopf. „Nein, Mann! Ich will so einen Ravenscheiß nicht!“ Das machte Jean nicht im Geringsten schlauer. Wirklich nicht. „Was möchtest du dann?“ Ungeduldig schnaubte der andere Junge. „Ehrliches Bedauern.“ Jeans behandschuhte Hand knirschte um den Griff seines Schlägers, als er sie ungewollt zur Faust ballte. „Aber wie soll ich das zeigen?“ Mayson strich sich seine verschwitzten Haare zurück, anscheinend verzweifelt über Jeans Begriffsstutzigkeit. „Ohne Scheiß, Moreau, was haben die dir getan? Dich in einer schalldichten Box gehalten und nur zu Spielen herausgelassen? Du sollst es fühlen. In dir selbst. Das will ich.“ Jean blinzelte. „Sonst nichts? Nur fühlen?“, fragte er und spürte, dass die Box, in der er gehalten worden war, wie Mayson es so schön treffend ausgedrückt hatte, es ihm nun schwierig machte, nachzuvollziehen, dass es ausreichen würde, wenn er Bedauern fühlte. „Das ist nicht „nichts“. Aber ja, nur fühlen.“ Erwartungsvoll hob Mayson seine Augenbrauen und Jean maß den Jungen nachdenklich. „Dem ist bereits der Fall“, erwiderte er dann zögerlich. „Aber…bisher war es notwendig, dies auch zu zeigen.“ Stille trat zwischen sie und schließlich seufzte Mayson. Er fiel sichtbar in sich zusammen, als hätte jemand die Luft herausgelassen. „Hör zu, Moreau. Bedauern zu zeigen, ist die Königklasse des menschlichen Miteinanders. Du hast einen Fehler gemacht, du erkennst das, du bedauerst, der heilige Dreiklang. Du sagst, dass es in Evermore ein Zeichen der Erniedrigung war. Das ist scheiße und die Arschlöcher von Evermore haben dir etwas sehr Menschliches dadurch genommen. Also respektiere ich dein Unwohlsein und bin vollkommen okay damit, wenn du das Bedauern fühlst ohne dich vor mir zu erniedrigen.“ Jean schluckte ob der ernsten Worte und nickte schließlich. Schweigend musterten sie sich und schließlich entspannte sich Mayson sichtlich. „Trotzdem bist du ein arrogantes Ex-Raven-Arschloch und ich verstehe nicht, warum Val überhaupt Zeit mit dir verbringt“, sagte er und Jean schnaubte vorsichtig amüsiert. ~~**~~ Konzentriert starrte Jean auf sein Smartphone und runzelte kritisch die Stirn. Einen Augenblick lang war er schier überwältigt von der vor ihm liegenden Aufgabe, die doch so einfach schien, zumindest, wenn er Renees Worten glaubte. Das tat er, jederzeit und immer, doch gerade jetzt hatte er das Gefühl, dass sie ihm Unsinn erzählt hatte. Das war nicht einfach, was er hier tat, überhaupt gar nicht. Wie konnte sie so etwas behaupten? Natürlich war das Zählen einfach, damit hatte er noch nie ein Problem gehabt, aber das, was er tat, sah nicht so aus, wie das, was laut der Anweisung herauskommen sollte. Jean schluckte für einen Moment und kämpfte die Panik in sich nieder, nicht perfekt zu sein, obwohl er perfekt sein musste. Er konnte es sich nicht leisten, hier zu versagen oder auch nur ein Mü von dem abzuweichen, was seine Aufgabe war. Er atmete tief ein und langsam wieder aus, ganz so, wie Brian es ihm gezeigt hatte, als er ein ähnlich starkes Gefühl in einer ihrer Sitzungen gehabt hatte. Der Lärm, der hinter seinem Rücken gemacht wurde, war ihm mittlerweile zwar vertraut, aber gerade in diesem Moment verhinderte er alle seine Versuche, seine Aufgabe zu seiner Zufriedenheit zu erfüllen. Abrupt drehte Jean sich um und fixierte seinen Kapitän und seinen Vizekapitän mit einem starren, unerfreuten Blick über das Geschrei, mit dem die Beiden versuchten, den jeweils anderen von den eigenen Argumenten zu überzeugen. Dabei war das Thema eigentlich egal, wenn die Beiden sich erst einmal in ein solches Gespräch hineingesteigert hatten. Doch die einzige, die seine Anwesenheit überhaupt wahrnahm, war Laila, die mit der ganzen Sache überhaupt nichts zu tun hatte. Gequält zuckte sie mit den Schultern und Jean seufzte innerlich. Er musste an Valentine denken, die Knox manchmal einfach den Mund zuhielt, wenn er ihr zuviel redete. Das erste Mal, als sie es getan hatte, war Jean regelrecht zusammengezuckt und hatte erwartet, dass sein Kapitän sich gegen die Berührung wehren würde und das hatte er auch getan. Spielerisch und wenig ernst hatte Knox dagegen angekämpft, wild mit den Armen gerudert und Valentines Handinnenfläche anscheinend schließlich mit seinem Speichel angesabbert. Angewidert hatte sie ihre Finger weggezogen und sie an Knox‘ Trikot abgeputzt. Jean hatte dem Ganzen stumm beigewohnt, ganz in der Erinnerung gefangen, als ihm das letzte Mal der Mund zugehalten worden war. Es war bei der vorletzten Vergewaltigung gewesen, als dem anderen Jungen mehr Befriedigung daraus gezogen hatte, seinen gedämpften Schmerzlauten zu lauschen. Seitdem machte ihn das Gefühl einer fremden Hand in der Nähe seines Mundes immer unsicher. Doch auch das kam hier in Los Angeles selten vor und Jean war umso dankbarer für einen Trigger weniger, der ihn zu seiner Zeit in Evermore zurückbrachte. Er hatte mit seinen Alpträumen in vielen Nächten genug zu kämpfen, die ihn schweißgebadet und panisch aufwachen ließen, Schreie auf den Lippen, die seinen Kapitän aufgeweckten. Wie ein Ritual der Sicherheit und des Übertritts in die Realität war es mittlerweile, wenn Knox ihm seine Decke gab. Er schluckte und kämpfte die Erinnerungen zurück in die Dunkelheit. Kurz räusperte er sich und holte dann tief Luft. Er hatte eine Idee, wie er das Drama hier beenden und sich Ruhe verschaffen konnte. „Jeremy“, zog er die Aufmerksamkeit der beiden Streithähne sich und fuhr dann auf Französisch fort. „Eine Diskussion gewinnt man nicht dadurch, dass man lauter ist als der Gesprächspartner, wir sind hier schließlich nicht auf einem Pavianfelsen, auch wenn euer Verhalten sicherlich darauf hindeutet. Zumal, auch wenn ich es nur ungerne zugebe, dein Vizekapitän dieses Mal Recht hat. Wenn ihr doch beschließen solltet, eure Diskussion fortzuführen, dann würde ich euch empfehlen, dies draußen oder gar auf dem Dach zu tun, also da, wo ich euch gerade nicht höre, weil ich mich konzentrieren muss. Um endlich fertig zu werden.“ Jean hob die Augenbraue und genoss die eingetretene Stille. Er seufzte lautlos und drehte sich wieder zurück zur Anrichte. Alvarez schnaubte amüsiert und Jean hörte Knox‘ empörte Protestlaute in seinem Rücken. „Jean? Was hast du gesagt? Du hast meinen Namen erwähnt! Wieso lacht Alvarez? Jean!“ Auch wenn diese Geräuschkulisse nicht optimal war, so konnte Jean damit weitaus besser leben und erweckte die Waage, mit der er die Zutaten für den Nachtisch abwog, wieder zum Leben. Das Problem, vor dem er immer noch stand, war die Eier zu trennen. Wie das ging, hatte Renee ihm nicht verraten und seine Recherchen im Internet hatten ihm abenteuerliche Möglichkeiten aufgezählt, die er mit hochgradigem Misstrauen verworfen hatte. Da schien ihm die Eierschalenmethode am Erfolgreichsten, aber eben nicht, wenn hinter ihm Lärm wie in einem Exystadion entbrannte. Konzentriert blendete Jean die Hintergrundgeräusche aus und schlug vorsichtig das erste Ei auf. Wie beschrieben floss das Eiweiß leicht aus der Schale und nun galt es, das Eigelb in der anderen Hälfte zu halten. Auch wenn Jeans Hände in Feinarbeiten nicht gut waren, so gelang es ihm doch und erleichtert übergab er das Eigelb in die davor vorgesehene Schüssel. Dass das mit den übrigen Eiern ebenso klappte, war ein kleines Wunder und Jean atmete erleichtert auf, als er die Zutaten schließlich getrennt vermengen und aufschlagen konnte, dann wieder vermengen, um sie schließlich über eine Lage von Löffelbiskuits zu gießen. Bevor er die Schüssel jedoch auskratzen konnte, stand Knox neben ihm, die blauen Augen erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Jean hob eine Augenbraue. „Knox?“ „Jean…“ „Lass es dir von Alvarez übersetzen“, kam Jean jeder weiteren Bitte zuvor, wohl wissend, dass Alvarez eben das nicht machen würde. Wie undenkbar eine solche Antwort noch vor Monaten gewesen wäre, kam ihm erst jetzt in den Sinn und Jean blinzelte. „Aaah!“ Für den ersten, aberwitzigen Moment hatte Jean erwartet, dass aus dem weit geöffneten Mund seines Kapitäns Worte kommen würden oder zumindest einer der Klagelaute, die dieser so freimütig von sich gab. Aber da geschah weiter nichts und so starrte Jean irritiert auf den Rachen des blonden Jungen und die Backenzähne, die nun deutlich sichtbar wurden. Fragend sah er in dessen Augen, die ihm auch keinen Aufschluss auf das gaben, was gerade von ihm verlangt war. „Aaah?“ „Knox, ich…“ „Er möchte, dass du ihn fütterst“, schnarrte Alvarez wenig hilfreich und Jean drehte sich soweit um, dass er sehen konnte, ob sie das, was sie gesagt hatte, auch wirklich ernst meinte. Tat sie. „Füttern“, echote Jean und sah zweifelnd zurück zu seinem Kapitän, der sich keinen Zentimeter bewegt hatte. Sich und seinen Mund. Er drehte sich wieder zurück, als er begriff, dass er von seinem Gegenüber keine Antwort erhalten würde. Zumindest keine sinnvolle. „Womit?“, fragte er zweifelnd nach und Alvarez deutete grinsend auf die Schüssel, die zwischen ihm und Knox stand. „Dein Auftrag ist es, die Schüssel auszukratzen, Moreau“, erwiderte sie mit einem Ausdruck in den Augen, der ihm sagte, dass er das bitteschön zu wissen hatte. Jean fragte sich, woher. War das eine dieser Trojantraditionen? „Und dann?“ „Lässt du unser blondes Strikerwunderkind hier den Löffel ablecken.“ Jean blinzelte. Besser, wenn er nichts dazu sagte und einfach tat, was Alvarez gerade gesagt hatte. Er musste das nicht verstehen und wusste es dann für das nächste Mal besser. Gehorsam schabte er mit dem Löffel den restlichen Inhalt zusammen. Diesen lud er vorsichtig auf den Löffel und reichte ihn an seinen Kapitän weiter, damit dieser ihn annehmen konnte. Knox fing seine Hand jedoch auf halber Strecke ab und Jean hielt still, wie immer, wenn er berührt wurde. Knox hatte ihn so weit gebracht, dass er dessen Berührungen nicht mehr fürchtete, wenn er sie kommen sah und sich darauf einstellen konnte. Dennoch war der Reflex immer noch da, zu verharren und abzuwarten, was geschehen würde. So sah er unbewegt und ohne Gegenwehr zu, wie sein Kapitän seine Hand mit dem Löffel darin zu seinem Mund führt und seine Lippen darum schloss, während er mit glücklichem Blick eben jenen ableckte. Jean schluckte und zog seine Hand langsam zurück, als sie endlich freigegeben wurde. „Das war lecker!“, grinste Knox und Jean war sich sicher, dass das die Rache für seine Weigerung, seine französische Beschwerde zu übersetzen, war. Schließlich war alles, angefangen von der Gestik bis über die Körpersprache seines Kapitäns gerade unverständlich für Jean gewesen. Er deutete auf die Nachtischschale, die er noch in den Kühlschrank stellen musste. „Hier ist der Rest?“, erwiderte er mit eben dem Quäntchen an Verständnislosigkeit, das Knox, Laila und Alvarez lachen ließ. „Aber das ist nicht die Schüssel! Die Schüssel auszukratzen schmeckt immer am Besten!“, erläuterte Knox und Jean war ganz und gar nicht überzeugt von dieser Logik. „Hast du das noch nie gemacht?“, fragte Alvarez überrascht und er schüttelte den Kopf. Als er klein war hatten sie Köche, die ihnen das Essen zubereitet hatten. Jean war es nicht erlaubt gewesen, sie bei ihrer Arbeit zu stören, also hatte er sich nur in die Küche geschlichen, wenn sie nicht da waren. In Evermore hatte absolut keine Möglichkeit dazu bestanden. Anscheinend war das etwas, was ein normaler Mensch machte, wenn er sich die geschockten Gesichter seiner Teammitglieder ansah. Jean zuckte mit den Schultern. Wenn es einzig und alleine darum ging, die Reste eines zusammengemischten Gerichtes zu probieren, dann war das sicherlich nicht schlimm. Glaubte er zumindest. Die Art und Weise, wie Alvarez und Knox sich musterten, hätte ihm schon zu denken geben sollen. Wenn er sie denn mitbekommen hätte. So wurde er durch seinen Kapitän und seine Vize überrascht. Einer nahm die Schüssel, die andere den Löffel und gab etwas von der süßen Creme zurück in das Plastikgefäß. Jean wollte protestieren, kam aber nicht so weit, als die dritte im Bunde hilfreich einen Löffel reichte. Knox kratzte die Schüssel aus, die gerade eigentlich soweit leer gewesen war und hob den Löffel vorsichtig an. Aufmunternd nickte er Jean zu und dieser seufzte stumm. Er tat es Knox nicht gleich, sondern senkte seinen Kopf so weit, dass er mit seinen Lippen den Löffel umschließen konnte. Langsam und mit bedachtem Blick auf Knox nahm er dessen Inhalt in seinen Mund und streifte die letzten Cremereste mit seinen Lippen von dem kühlen Metall. Es schmeckte süß mit einem Hauch an Mandel. Es war gut, aber was genau das Besondere nun daran war, konnte Jean sich nicht erklären. Ebenso wenig wie er sich die leicht geweiteten, blauen Augen des anderen Jungen erklären konnte. „Uff, ist nur mir so heiß?“, fragte Alvarez in diese Überlegungen hinein und Jean runzelte die Stirn. Es war doch nicht wärmer als sonst, warum sollte es plötzlich einen Temperaturanstieg gegeben haben? ~~**~~ „Cap?“ „Hmh?“ „Du starrst die Tür an, als könntest du durch das Holz hindurchsehen.“ „Das ist kein Holz, sondern irgendein medizinisch steriler Kunststoff.“ „Das ist hier nicht das Thema und das weißt du. Hör auf abzulenken.“ „Was ist dagegen einzuwenden, dass ich die Tür anstarre?“ „Vielleicht, dass sich unser französisches Wunderkind dahinter befindet.“ Die Art, wie Alvarez den letzten Satz betonte, ließ Jeremy nun doch wegsehen und grummelnd erwiderte er ihre Musterung. Er schnaufte und verschränkte die Arme, bevor er mit seiner rechten Hand auf das corpus delicti deutete. „Was ist, wenn es ihm darin nicht gut geht?“ Alvarez hob eine schwarze, frisch gezupfte Augenbraue. „Was bist du, eine Glucke? Es ist ja nicht so, als würden sie ihn darin operieren. Das ist eine Laserbehandlung, Jer. Die Frau wird ihm den Laser ins Gesicht halten und die Pigmente seiner Tätowierung damit entfernen.“ „Aber sie hat gesagt, dass es wehtun würde.“ „Jean ist ein großer Junge, der wird damit schon fertig werden.“ So ganz überzeugt war Jeremy davon nicht und seufzte tief. Jean hatte in seinem Leben genug Schmerzen erlebt, da musste er nicht nun doch weitere Schmerzen in Kauf nehmen müssen. Auch wenn er es selbst wollte und sich selbst dafür entschieden hatte. Dass Jeremy aufgeregter war als Jean, hatte dieser auch bemerkt und ihn amüsiert gemustert, bevor er im Behandlungsraum verschwunden war. Dass Alvarez mitgekommen war, um sich über ihn lustig zu machen, machte die Sache da wirklich nicht besser. „Cap?“ „Ich starre nicht!“ Das Mädchen neben ihm grollte. „Idiot. Ich wollte auf etwas Anderes hinaus.“ „Was denn?“ „Neulich beim Kochen hattest du diesen Blick.“ „Welchen Blick?“ „Diesen Blick.“ Jeremy blinzelte. Er hatte nicht gedacht, dass er so offensichtlich mit seiner Aufmerksamkeit gewesen war. „Gar nicht“, log er deswegen mehr schlecht als recht und Alvarez schnaubte laut. „Wohl. Das ist dein „Oh ich habe so eben festgestellt, dass der Junge mir gegenüber groß, breitschultrig und durchtrainiert ist, mit sexy französischem Akzent, dabei unverschämt böse und mysteriös dunkel, aber auch gleichzeitig treu und loyal ist, besser darin ist, Kugeln mit einem Queue durch die Gegend zu schubsen als ich, mich mit seinen hellen, grauen Augen so durchdringt, dass es mein Innerstes trifft und wenn er im Bett auch nur halb so entschlossen ist wie auf dem Spielfeld und seine Hände nur halb so fest zupacken wie sie ihren Schläger umfassen, dann mache ich die Beine doch gerne noch ein Stück breiter“-Blick.“ „Alvarez!“ Empört riss Jeremy die Augen auf und spürte die übliche, verräterische Wärme auf seine Wangen kriechen. Nicht nur das. Hektisch sah er sich um, ob jemand ihre schamlosen Worte belauscht hatte, doch Gott sei Dank war der Flur bis auf sie beide leer. Und mit einigem Glück waren die Türen auch so schalldicht, dass derjenige, um den es ging, nichts davon mitbekommen hatte. „Das ist doch gar nicht wahr! Das stimmt nicht!“, grollte er und verschränkte die Arme. „So bin ich nicht!“ Oh wie er ihr teuflisches Grinsen hasste! „Nein, so bist du nicht, aber du himmelst ihn an.“ „Überhaupt nicht.“ „Du hast seine Hand umfasst, um seinen Löffel abzulecken. Uhum. Und er hat deinen abgeleckt. Erkläre mir doch noch einmal den schwulen Code für Dinge ablecken, die länglich sind, während man sich gegenseitig bedeutungsschwanger anstarrt.“ „Wir sind Freunde, Al! Er findet sich an der USC noch zurecht und ist damit beschäftigt, die Dinge zu verarbeiten, die in Evermore passiert sind. Er ist gerade dabei, das richtige Leben zu entdecken und ich bin froh, dass er Stück für Stück aus sich herauskommt.“ „Ich sehe keinen Widerspruch zu meinen Worten, Jer. Zumal er durchaus attraktiv ist.“ „Das mag ja sein, aber es ist wichtiger, dass er glücklich wird.“ Zweifelnd hob Alvarez die Augenbraue. „Dir ist schon klar, dass man auch mit dir glücklich werden kann, oder?“ „Ebenso wie mir klar ist, dass das auch ohne mich geht. Und Jean ist dabei, es auch ohne mich zu werden.“ Alvarez schwieg für einen kurzen Moment, doch Jeremy wusste, dass das Thema dadurch nicht vorbei war, ganz im Gegenteil. Für gewöhnlich sammelte sie in solchen Momenten nur Futter für weitere Argumente, überdachte ihre Strategie und setzte schlussendlich zum erneuten Angriff an. „Von allen Trojans ist Jean am Meisten mit dir zusammen. Du fährst mit ihm zum Parkplatz am Meer. Ihr macht sogar Sonntagsausflüge ohne uns Bescheid zu sagen und seid über Stunden weg.“ „Auf dem Parkplatz lässt es sich gut reden! Und das am Sonntag war Jeans Privatsache und ich habe ihn hingefahren“, korrigierte Jeremy empört und Alvarez brummte. Sie glaubte ihm nur halb. „Ihr wart den ganzen Nachmittag und den frühen Abend weg.“ „Ich wüsste nicht, dass ich mich dafür bei dir rechtfertigen müsste, wann ich wo mit wem weg bin, Mama.“ „Wenn ich dich suche, dann schon, du Satansbraten!“ Jeremy boxte ihr gegen den Oberarm und in diesem Moment kam natürlich eine der Arzthelferinnen vorbei. Mit erhobener Augenbraue gab sie ihm zu verstehen, was sie von seinem Tun hielt und Jeremy sank mit einem Grollen wieder auf dem Stuhl zusammen, während Alvarez grinste. Jeremy schnaubte, wurde dann jedoch ernst. „Jetzt mal ohne Spaß, Sara. Sag das nicht in seiner Gegenwart. Ich bin froh, dass er sich mir anvertraut und dass er seine anfängliche Angst vor mir abgelegt hat. Jean braucht sicherlich keinen Kapitän, von dem er weiß, dass er ihn attraktiv findet. Zumal ich mir ja auch noch nicht einmal sicher bin, was es ist, das ich fühle. Ich genieße seine Gegenwart und ich mag seinen Humor, aber ob das überhaupt für mehr reichen würde, steht in den Sternen. Seine Angst, die er dann vielleicht vor mir haben würde, wäre das nicht wert.“ Auch Alvarez wurde nun ernster und sie seufzte. „Woher weißt du denn, ob er nicht auch Interesse an dir hätte, wenn du ihm die Gelegenheit dazu gibst?“ Tja, das war eine gute Frage, befand Jeremy und besah sich die modernen Fotografien heller und lichtdurchfluteter Landschaften, die zum Grün der Praxis passten. Ebenso wie die grünen, bequemen Plastikstühle, an denen Jeremys untere, nackte Oberschenkel jetzt schon festklebten. „Ich weiß es einfach“, erwiderte er nachdenklich und zuckte mit den Schultern. So sehr Jean auch seine Nähe suchte, so wenig hatte Jeremy wirklich das Gefühl, dass der andere Junge auch nur einen Funken sexuelles Interesse an ihm hatte. „Hast du ihn gefragt?“ Jeremy schüttelte den Kopf. „Instinkt.“ „Ach komm!“ Er wandte ihr den Kopf zu. „Ernsthaft, Al. Mein Radar sagt mir, dass von seiner Seite aus da nichts ist. Da gibt es überhaupt keine Anzeichen.“ „Hast du schonmal bemerkt, wie er sich immer wieder versichert, wo du bist, wenn er nicht bei dir sitzt?“, fragte Alvarez mit erhobener Augenbraue und Jeremy seufzte. „Das ist eine Evermoresache. Dort wurden sie gezwungen, immer zu zweit unterwegs zu sein. Außerdem hat er dort gelernt, dass er es seinem Kapitän immer recht machen muss. Ich glaube, das sind die Überbleibsel davon.“ Alvarez brummte und lehnte sich zurück. Mit unwirsch verzogenen Lippen verschränkte sie die Arme und legte schließlich den Kopf schief. „Ich habe euch im Auge, Cap. Und wehe, wenn du eine Gelegenheit verstreichen lässt…“ „…von der ich noch nicht einmal weiß, ob ich sie will“, beendete Jeremy den Satz für sie und lehnte sich mit einem Blick auf die Tür, hinter der sich Jean befand, zurück. Es roch hier noch nicht einmal sonderlich nach Desinfektionsmittel, ganz so, wie es sich für eine schönheitschirurgische Praxis in L.A. gehörte. „Die Zeit wird’s zeigen.“ Er verdrehte die Augen. „Danke vielmals für diesen Glückskeksspruch.“ Alvarez revangierte sich mit einem Schlag vor seine Stirn, der so laut klatschte, dass eine der Damen vom Empfang missbilligend zu ihnen herübersah. Seine Vize winkte und der rote Schopf zog sich wieder hinter den Tresen zurück, während Jeremy sich seine lädierte Stirn rieb und betont einen Sitz Abstand zu ihr nahm. „Arschloch“, murmelte er leise genug und Alvarez grinste breit. „Habe ich direkt hinter der Vagina“, erwiderte sie und Jeremy schauderte. Er hielt jetzt besser einfach den Mund. Wirklich. Einfach…wirklich. ~~**~~ Jean hatte es sich schlimmer vorgestellt. Das Geräusch des Lasers, der Lichtimpulse durch seine Hautoberfläche schickte, läutete den minimal stechenden Schmerz ein, der auf den Lichtblitz folgte. Jean hatte in seinem Leben weitaus Schlimmeres durchgestanden, das seine Schmerztoleranz nach oben getrieben hatte und so ertrug er den Schmerz, der durch die Ärztin angekündigt worden war, mit ruhiger Akzeptanz und Toleranz. Schweigend lehnte er an dem leicht nach hinten gekippten Polsterstuhl und ließ die Ärztin die erste Schicht seiner Tätowierung weglasern. Natürlich nur mit einer Schutzbrille für seine Augen und nach vorherigem Auftragen einer betäubenden Salbe, damit es nicht ganz so schmerzte. Wenn Jean es sich ehrlich eingestand, war die Abwesenheit seines Teams und die Anwesenheit einer Ärztin in seiner direkten Nähe die weitaus größere Herausforderung. Obwohl Dr. Lasalle alles getan hatte, damit er sich nicht unwohl fühlte, hatte Jean trotzdem die Erinnerung der ärztlichen Untersuchungen in Evermore vor Augen, die niemals angenehm gewesen waren. Er wusste, dass der Vergleich hinkte, denn er war vollständig bekleidet und der Raum war um ein Vielfaches heller und wärmer, aber dennoch. Es roch schwach nach Desinfektionsmittel und alleine das reichte. Jean schluckte und konzentrierte sich auf die Minuten, die noch vor ihm lagen. Er wollte keine überdeckende Tätowierung so wie Day sie hatte, also hatte er sich dafür entschieden, die Drei endgültig entfernen zu lassen. Wenn er Glück hatte, würde nichts übrig bleiben von Riko, was ihn äußerlich kennzeichnete. Er hätte nichts mehr im Gesicht, was darauf hindeutete, wem er gehörte. Der Gedanke war so befreiend wie er beängstigend war, hatte die Zahl ihn doch Jahre begleitet. Sie zu entfernen nahm ihm ein Stück seiner Vergangenheit und was war er ohne sie? Er selbst, sagte Jean sich immer und immer wieder. Er war er selbst, mit seinem eigenen Talent, mit seinem Können. Er hatte ein eigenes Wesen, er war ein eigener Mensch. Er brauchte die Drei nicht. Er hatte eine neue Nummer, die er gerne trug. Er war gut und wenn er seinem Trainer glaubte, dann war er in ihrer Liga der beste Backliner. Er brauchte keine Nummer, schon gar nicht die Nummer drei. Jean sah zur Seite auf die blank polierte, weiße Anrichte und wartete darauf, dass die Ärztin die kühlende Salbe und das Pflaster auftrug. Es würden mehrere Sitzungen notwendig sein, das hatte sie ihm vorher bereits mitgeteilt. Bis zu fünfzehn, je nach Art und Beschaffenheit des Tattoos und je nach Größe. Sie hatte ihm gesagt, dass er Glück hatte. Dadurch, dass lediglich schwarze, noch nicht einmal wirklich qualitativ hochwertige Tinte verwendet worden war, standen die Chancen sehr hoch, dass man nachher, wenn überhaupt, nur noch einen Schatten sehen würde. Wie einfach es doch war, die Spuren eines toten Sadisten auszuradieren. Jean lächelte und es war ein zufriedenes, siegreiches Lächeln voller Stolz und Kampfgeist. Ich gehöre dir nicht mehr, sagte er stumm zu dem Geist, der seine Träume heimsuchte und viele Nächte zur Höllenqual machte. Alles, was du erreichen wolltest, ist gescheitert. Ich lebe noch und du bist tot, schmorst in der Hölle für das, was du getan hast. Jetzt, in diesem Moment fühlte er sich trotz oder gerade wegen des Schmerzes, der von seiner Wange aus in sein übriges Gesicht strahlte, lebendiger als jemals zuvor. ~~**~~ Jeremy ächzte sichtbar unter der dreifachen Aufmerksamkeit, mit der er durch Jeans Telefon angestarrt wurde und die ihm zu verstehen gab, dass das, was er gerade gesagt hatte, nicht das war, was die Personen am anderen Ende der Leitung hatten hören wollen. Oder sehen. Wie immer, wenn Jean mit den Foxes telefonierte, landete er früher oder später im Videochat und ebenso früher oder später wurde Renees Telefon gekapert, damit sich auch andere Spieler der Palmetto State Foxes in das Gespräch mit einschalten konnten. Vorzugsweise Neil und Andrew, aber auch Nicky oder Matt. In seltenen Fällen auch Allison und Dan. Nun waren es wieder Neil und Andrew, dem die Missbilligung deutlich auf dem Gesicht stand. Jean saß unweit von ihm und vertraute ihm soweit, dass er ihm sein Telefon in die Hand gegeben hatte, als der Protest auf der anderen Seite der USA aufgekommen war. Wenn Jeremy sich nicht vollständig irrte, dann hatte er auch einen kleinen Funken an Schadenfreude gesehen, bevor er unter akutes Kreuzfeuer geraten war. Und selbst wenn, so war er bereit, das jederzeit in Kauf zu nehmen, wenn er dafür nur wieder Zeuge des Vertrauens wurde, das Jean in ihn hatte. Dennoch würde er sich von seiner ursprünglichen Antwort nicht abbringen lassen. Er wollte einen entspannten Tag mit Allan verbringen und sich mit ihm in den Laken wälzen. Was er natürlich so nicht formuliert hatte. Auch wenn Jeremy die Idee, nach ihrem Heimspiel gegen die Foxes am nächsten Tag noch mit ihnen durch L.A. zu ziehen, sehr cool fand, so hatte er sich für den Tag schon verabredet und freute sich auf das Treffen mit Allan und all den leidenschaftlichen Stunden, die sie teilen würden. „Ich bin schon verabredet“, betonte er noch einmal, was sein Grund war und stählte sich für beißende Kommentare. „Captain Sunshine traut sich nicht“, spottete Andrew und hob bedeutungsschwanger die Augenbraue. Jeremy lachte gutmütig darüber, auch wenn seine Nackenhaare immer noch standen, sobald er Andrew sah oder seine Stimme hörte. „Im Gegenteil. Ich würde sehr gerne Zeit mit euch verbringen und euch L.A. zeigen, allerdings gibt es da jemanden, dem ich schon vorher zugesagt habe“, lächelte er entschuldigend und sah zu Jean, der ihn mit einem Schulterzucken musterte. „Und ich bin mir sicher, dass ihr Jean gut behandeln werdet und er euch ein guter Fremdenführer sein wird.“ „Ich mir nicht“, murmelte sein Backliner mit einem Augenrollen und nahm sein Telefon entgegen. „Wag es nicht, uns abzusagen“, drohte Neil und Jean bedachte den rothaarigen Jungen mit einem unerfreuten Blick. „Sonst was, Josten?“ „Wir können auch Nicky vorschicken“, merkte Andrew nonchalant an und Jean grollte tatsächlich. Überrascht musterte Jeremy ihn. „Wie könnte ich ablehnen, nach dieser ach so charmanten Einladung?“ Das war hochgradige Ironie, befand Jeremy, denn Josten hatte nichts Anderes als „Du kommst an dem Sonntag nach dem Spiel gegen euch zu uns ins Hotel. Wir haben erst für abends einen Flug bekommen und du wirst uns durch L.A. führen.“ gesagt. Mit einem Grinsen zwar und Vorfreude in den Augen, aber wirklich viel Auswahl hatte Jean nicht gehabt und auch Jeremy fühlte sich entsprechend genötigt. „Gut.“ Renee eroberte ihr Telefon zurück und entfernte sich von ihrem Team. Anscheinend schloss sie eine Tür hinter sich, denn es wurde schlagartig leise. Sie seufzte und schüttelte den Kopf. „Kinder. Es würde mich sehr freuen, Großer, wenn du uns Gesellschaft leisten würdest“, bestätigte sie und Jeremy sah, wie Jean lächelte. „Es würde mich auch freuen.“ Sie nickte und reckte dann ihren Hals, um einen Blick auf Jeremy zu erhaschen. Fragend hob er die Augenbrauen. „Und dich, Captain Sunshine, werde ich auf dem Spielfeld zum Weinen bringen. Ich lasse dich vor meinem Tor verhungern!“ Jeremy schnaufte. „Du wirst gar nicht so schnell reagieren können, wie ich die Bälle in deinen Kasten versenke!“, drohte er zurück. „Davon träumst du!“, lachte sie und Jeremy stimmte mit ein. Selbst Jean ließ sich zu einem amüsierten Kopfschütteln herab. „Hebt euch eure leeren Versprechungen für’s Spielfeld auf“, mischte er sich ein und Jeremy streckte ihm unisono mit Renee die Zunge heraus. „Kinder“, murmelte Jean in seiner Muttersprache und das verstand Jeremy auch nur, weil das Wort sich den gleichen Sprachstamm mit ihrem Begriff dafür teilte. ~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 36: Team Disney ----------------------- Los Angeles Airport war ein großer Bienenstock voller Menschen, ein Drehkreuz an Destinationen, die täglich tausende Menschen dorthin brachten, wo sie hin wollten. Jean war bereits bei seiner Ankunft davon überwältigt und überfordert gewesen und das hatte sich nicht im Geringsten geändert, als sie nun mit der gesamten Mannschaft eincheckten um nach Denver zu fliegen. Die zwei Stunden waren für amerikanische Verhältnisse wenig Flugzeit, hatte zumindest Laila gesagt. Jean fehlte da der Vergleich, erinnerte er sich doch nicht wirklich an die Länge der Flüge. Meistens hatte er die Gelegenheit nutzen können um zu schlafen, da Riko ihn während eines Fluges in Ruhe lassen musste. Natürlich hatte sein Ex-Kapitän jedes Mal dafür gesorgt, dass er vor Schmerzen nicht wirklich in der Lage gewesen war zu sitzen, doch auch daran hatte Jean sich gewöhnt. Die Zeit, die er mit Schlafen verbringen konnte, war viel zu wertvoll für etwas Anderes gewesen. Nun schmerzte ihn nur seine Wange, dort, wo die Tätowierung bereits immer und immer schwächer wurde und das schon nach der zweiten Sitzung. Seine Haut war noch empfindlich und gerötet, so musste er sie mit einem Pflaster schützen…zumindest hatte ihm die Ärztin das so aufgetragen. Dass Jean das für Humbug hielt, behielt er wohlweislich für sich. „Hey.“ Jean sah auf und hob die Augenbraue, als er in Ajeets sanftes Lächeln blickte. Dieser hatte sich von seinem lärmenden und scherzenden Team abgesondert und war zu ihm gekommen. Mit einem fragenden Blick auf den freien Platz neben Jean ließ er sich nach dessen Einverständnis darauf nieder. „Hey“, entgegnete Jean und Ajeet deutete auf den Wartebereich, in dem sie saßen. „Du siehst aus, als wärest du momentan lieber woanders.“ Jean fragte sich, ob er mittlerweile so leicht zu lesen war oder ob er die Schutzwälle um seine Emotionen schon so weit heruntergefahren hatte, dass ein Team ihn ohne Probleme lesen konnte. Er hoffte, dass es eine gute Mischung aus beidem war und seufzte lautlos. „Es ist ungewohnt“, destillierte er seine mannigfaltigen Emotionen auf das, was Ajeet nicht verschrecken würde und der größere Junge nickte enthusiastisch. „Du bist noch nicht oft geflogen, oder?“ Jean zuckte mit den Schultern und sah seinem Team zu, wie sie sich gegenseitig Videos zeigten oder Bilder von sich machten, die sie hochluden. Vielleicht sollte er das auch tun. Weiter Bilder hochladen. Die, die er bisher ab und an online gestellt hatte, hatten überraschend viele Likes, von denen Jean immer noch nicht wusste, was er halten sollte. Davon und erst nicht von den Kommentaren unter seinen Posts. „Mit den Ravens schon.“ „Aber mit deinem richtigen Team noch nicht!“ Sein richtiges Team? Jean schmunzelte amüsiert. Ajeet mochte die Ravens nicht, schon gar nicht nach dem, was auf dem Bankett geschehen war. Immer wieder fand er neue Begriffe, die sich an Abwertung überboten und denen Jean nur beipflichten konnte. Auch wenn er immer noch Probleme damit hatte, Ajeets Argumentation zu folgen, dass die Trojans das einzig wahre Team für Jean waren und dass es vor ihnen nichts Anderes gegeben hatte. „Werden sie das Flugzeug auseinandernehmen? Es scheint so“, merkte er zweifelnd an und Ajeet lachte warm. Er knetete seine riesigen Hände, die, so wusste Jean, Ajeet in seiner Nähe bewusst bei sich behielt um ihn noch nicht einmal aus Versehen zu berühren. „Bisher haben sie es noch nicht geschafft. Aber wer weiß.“ Jean gab einen undefinierbaren Laut der Zustimmung von sich und sah sich im Wartebereich um. „Mir ist früher nie aufgefallen, wie viele Geschäfte es in einem Flughafen gibt“, deutete er auf die freundlich erleuchteten Stores, die die Gänge säumten. Ajeets Augen leuchteten auf und Jean schwante Übles. „Sollen wir mal gucken gehen? Wir haben noch Zeit bis zum Boarding, da können wir noch ein bisschen bummeln.“ Jean nickte. Warum denn nicht? Solange Ajeet dabei war, würden sie sich auch nicht verlaufen und es war ihm ganz recht, dem Trubel seines Teams zu entkommen. Er erhob sich und ihr Torhüter tat es ihm gleich. Gemeinsam schlenderten sie durch die Halle mit den Geschäften und Jean lauschte den Erklärungen Ajeets, welche Marken er hier sah und für wen sie gedacht waren. „So etwas wird getragen?“, fragte er schließlich mit einem zweifelnden Blick und deutete auf das, was anscheinend eine schreiend bunte und eckige Sonnenbrille war. Ajeet lachte. „Nein, das soll nur der Eyecatcher sein. Die anderen Modelle sind dort hinten im Geschäft.“ Jean folgte Ajeets Fingerzeig und musterte die Brillen mit Interesse. Bisher hatte er sich noch keine gekauft, ganz zum Erstaunen seines Teams. Anscheinend war die Sonnenbrille so etwas wie ein Must-Have hier in Südkalifornien. Er mochte die Sonne, wie sie schien, allerdings spürte er auch, dass der weiße Sandstrand in seinen Augen wehtat. Und da dieses Team mehr Zeit am Meer verbrachte, hatte Jean zähneknirschend beschlossen, sich ebenfalls verdunkelnde Gläser zuzulegen. „Könnten wir…?“, fragte er daher zögernd und Ajeet ließ sich nicht zweimal bitten. Ganz und gar nicht. Begeistert ging er vor und ebenso begeistert reichte er Jean Brille um Brille zum Anprobieren, die in Jeans Augen nun wirklich alle gleich oder zumindest ähnlich aussahen. Doch nein… Das achte Modell war es und Jean streckte dem Verkäufer seine dünne Plastikkarte entgegen, damit dieser den Betrag davon abziehen konnte. Mit zweifelnd erhobener Augenbraue sah Jean zu, wie seine Brille, die er eigentlich in seine Trojanjackentasche hatte stecken wollen, kunstvoll eingepackt wurde und der herausgeputzte Mittdreißiger sie ihm feierlich in einer Tüte überreichte. „Hier bitteschön und viel Freude damit, Mr. Moreau!“, zwinkerte der Verkäufer und Jean blinzelte überrascht, bevor er sich besann, dass er seine Collegejacke samt Aufdruck trug und man ihn deswegen vermutlich mit seinem Namen erkannte. „Danke.“ Er nickte knapp und wandte sich zum Gehen, Ajeet gut gelaunt und erleichtert auf seinen Fersen. „Die Brille sieht echt cool aus und steht dir hervorragend“, sagte er sobald sie den Laden verlassen hatten und Jean hob zweifelnd die Augenbrauen. „Es ist eine Sonnenbrille.“ „Eine Sonnenbrille ist niemals nur eine Sonnenbrille“, wackelte der große Junge mit den Augenbrauen und Jean seufzte. Sein Blick streifte zur Seite und blieb an etwas hängen, was ihm nicht so egal war wie die Form der Brille. Ganz und gar nicht. Interessiert blieb er stehen und musterte den Ausstellungswagen, der zwischen den Geschäften dekorativ auf dem Gang positioniert worden war um beworben zu werden. Er sah so ähnlich aus wie Andrews Fahrzeug, nur eben nicht ganz so groß. Er war flacher und hatte ein aggressiveres Design mit glänzendem, schwarzen Lack und den stromförmigen Linien. Fasziniert sah Jean, dass die Türen sich nach oben öffneten und magisch angezogen trat er näher an das Fahrzeug heran, berührte ehrfürchtig den von Nahem kupfern glitzernden Lack und warf einen Blick hinein. Das Leder der Innenausstattung war cremefarben und roch ähnlich wie Andrews Auto. „Hi.“ Verspätet sah Jean hoch. „Hallo“, grüßte er die Frau, die ihn aufmerksam musterte. Ihr Namensschild deutete darauf hin, dass sie zu diesem Auto gehörte und Jean merkte sich den Namen der Automarke. McLaren. Hatte Andrew auch so eins? Er würde ihn fragen müssen, wenn er endlich seinen Führerschein hatte und sich ein Auto kaufen konnte. „Sie interessieren sich für das Auto“, sagte sie und es war weniger eine Frage denn eher eine Feststellung und Jean nickte. Ajeet an seiner Seite hingegen lachte nervös. „Mit was kann ich Ihnen denn weiterhelfen?“, fragte sie und Jean war durchaus hilflos im Angesicht dieser Frage. Er fand den Wagen schön und je mehr er ihn ansah, desto mehr kribbelte es in seinem Inneren und juckte es ihm in den Fingern, sich hinter das Steuer zu setzen, doch er wusste, dass viele gute Gründe dagegensprachen. Dass er keinen Führerschein hatte. Zum Beispiel. Dass er noch nicht einmal wusste, wie man mit einem solchen Auto fuhr. Ebenso nicht, wie man ein solches Auto kaufte oder wie teuer es war. Etwas ratlos sah er zu Ajeet, der mittlerweile sichtlich aufgeregt war. „Also…äääh…wir fliegen gleich nach Denver und wollten eigentlich nur Geschäfte schauen und dieses Auto hier ist toll und sieht super aus und Sie haben sicherlich auch ein tolles Produkt hier, aber das ist sicherlich ein wenig sehr teuer. Oder?“ Am Ende hin war seine Stimme beinahe gekippt und Jean runzelte fragend die Stirn. „Wie teuer ist dieser Wagen denn?“ „Das kommt drauf an, wie Sie ihn ausstatten möchten, Sir. Aber grundsätzlich liegt der Basispreis bei 240.000 Dollar.“ Jean wandte sich an Ajeet, dessen Augen weit und rund waren und dessen unruhige Fahrigkeit sich instinktiv so langsam auf Jean übertrug. „Kosten Autos so viel?“, fragte er und Ajeet erbleichte. „Jean, es ist wirklich nicht die Zeit für Scherze gerade!“, jaulte er und Jean blinzelte. Das war kein Scherz gewesen, schließlich wusste er nichts darüber, wieviel ein Auto wert war und ob dieser Preis ein guter Preis war oder nicht. Stirnrunzelnd musterte er den Wagen. Sicherlich war Knox‘ Wagen günstiger als dieser hier. Jean nahm sich vor, ihn zu fragen, wenn sie gleich wieder zu ihrem Team stießen. Er wandte sich an die Beraterin, die sie beide mit einem Hauch von Belustigung maß, den Jean nicht wirklich verstand. „Dürfte ich ein Foto von diesem Wagen machen?“, fragte er und sie nickte. „Aber natürlich gerne.“ Jean trat zurück um den besten Winkel zu erhalten und hielt den Wagen für Knox fest. „Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen meine Karte mit und Sie können mich bei Bedarf kontaktieren.“ Jean nahm wortlos die Karte entgegen, die ihm gereicht wurde. „Vielen Dank.“ „Sehr gerne. Und ich wünsche Ihnen für Ihr Spiel viel Erfolg, Mr. Moreau. Zeigen Sie es den Breckenridge Jackals!“ Überrascht hob er die Augenbrauen. „Sie sind kein ernstzunehmender Gegner für die Trojans“, erwiderte er. „Ihre Taktik und Beinarbeit lässt zu wünschen übrig, was sie mit Brutalität auszugleichen versuchen.“ Die Frau lachte nun laut. „Sie urteilen so, wie Sie spielen, wie mir scheint.“ Tat er das? Dabei hatte er doch nur eine wahrheitsgemäße Auskunft über das spielerische Können der anderen Mannschaft gegeben. Jean runzelte die Stirn und nahm sich vor, Knox auch danach zu fragen. Zu Ajeets anscheinend bodenloser Erleichterung verabschiedete er sich und gemeinsam kehrten sie zu ihrem Team zurück, das viel zu neugierig wissen wollte, was sich in der Tüte befand. Jean ließ sie mit hoch erhobener Augenbraue immer noch neugierig sterben und wandte sich an seinen Kapitän, dessen ungeteilte Aufmerksamkeit er hatte. „Wieviel hast du für dein Auto gezahlt?“, fragte er und Knox hob überrascht die Augenbrauen. „Das war ein Geschenk von meinen Eltern für meinen Highschoolabschluss. Ich weiß es nicht.“ Jean verzog nachdenklich die Lippen und holte sein Handy hervor, rief das Bild des Sportwagens auf, das er gemacht hatte. Er zeigte es Knox. „Der steht dort hinten und ich finde ihn schön. So einen Ähnlichen fährt Andrew. Die Beraterin sagte, er würde mindestens 240.000 Dollar kosten. Ist das viel für ein Auto?“ Die plötzlich eintretende Stille ließ Jean aufsehen. Wenn er gewusst hätte, dass er sein lärmendes, 27-köpfiges Team mit einer einzigen Frage zum Schweigen bringen konnte, dann hätte er das schon viel früher versucht. Dass damit einherging, dass ihre komplette Aufmerksamkeit auf ihm ruhte, war ihm hingegen nicht so recht und er gewann den Eindruck, als wäre es eine dieser Fragen, die offenbarten, wie wenig er noch von der Welt wusste, in der er sich bewegte. Vielleicht war das der Grund, warum die Augen seines Kapitäns so groß und rund waren und zwischen dem Bild und Jeans Gesicht hin- und herhuschten. „Hui.“ Das war keine Antwort, befand Jean und runzelte die Stirn. Kritisch musterte er Knox, doch es war Ellie, die erst einen Blick über seine Schulter warf und dann schnaubte. „Was bist du, Moreau, Millionär oder wie? Das ist scheiße teuer für einen Haufen Blech! Auch wenn es ein schicker, schneller Haufen Blech ist! Die meisten von uns kaufen sich Karren im Wert von 10.000 Dollar. Höchstens!“ Nun war es Jean, der überrascht war. Oh. ~~**~~ Jeremy freute sich über jede Art von spielerischer Herausforderung, die sich ihm bot. Er liebte es, gegen andere Mannschaften anzutreten und einen fairen Wettkampf im Sinne von Sportlichkeit und Fairness auszutragen und dabei alles zu geben. Er freute sich über jeden Sieg, konnte aber auch Niederlagen neidlos anerkennen, wenn die andere Mannschaft besser war. So wie in der letzten Saison es die Foxes gewesen waren. Ihre spielerische Leistung war grandios gewesen und das hatte Jeremy mit einem zufriedenen Grinsen und sehr viel Bewunderung und Liebe im Herzen anerkannt. Es gab nicht viele Mannschaften ihrer Liga, bei denen er kein gutes Gefühl hatte, ihnen gegenüber zu stehen. Eigentlich waren es nur zwei, seit Neuestem. Die Ravens, allen voran, für das, was sie Jean angetan hatten und wie sie sich außerhalb des Spielfeldes verhielten und die Breckenridge Jackals. Das College der Jackals befand sich zwei Stunden westlich von Denver auf einem Plateau inmitten von karg bewachsenen Bergen. Hier war nichts als Landschaft und viel Zeit um zu studieren, Sport zu machen und seine diskriminierenden Vorurteile gegen alles, was anders war zu kultivieren. Das war seit Jahren schon ein Problem und die NCAA sah immer noch keinen Anlass zur Reaktion. Warum das so war, darüber konnte Jeremy nur mutmaßen und es machte ihn jedes Mal wieder wütend. Er wusste, dass sein Team und er auch heute wieder beschimpft und beleidigt werden würden und dass es ohne Konsequenzen für Breckenridge bleiben würde. Ganz zu schweigen von der Art des Spiels, die sie betrieben. Checks am Rand der Legalität oder darüber hinaus, wenn die Schiedsrichter wegsahen. Aus den letzten Spielen waren sie zwar knapp siegreich, aber immer verletzt hervorgegangen und das wurmte Jeremy. So sollte Sport nicht sein. Er seufzte und steckte seine Hände in die Taschen seiner Trikothose. Wie immer, wenn er seine Kapitänsansprache begann, vor der er auch jetzt noch nervös war. Warum dem so war, konnte Jeremy nicht wirklich erklären. Er fühlte sich aufgehoben und willkommen in seinem Team, der ein großer Haufen verrückter Freunde war. Trotzdem war es für ihn jedes Mal wieder neu und aufregend. „Okay Leute, hört mal her“, begann er nach einem versichernden Nicken ihres Coaches und die Gespräche in der Umkleide erstarben nach und nach. Jeremy ließ seinen Blick über die verteilten Trojans schweifen, die es sich in der Gastumkleide gemütlich gemacht hatten. Der Anblick von rot-gelb beruhigte ihn. „Wir stehen für Sportsgeist und Fairness. Wir stehen für Liebe für diesen Sport und für Leidenschaft für jedes Spiel, das wir bestreiten. Wir behandeln jeden Gegner fair und lassen uns nicht auf ein brutales und menschenverachtendes Niveau herunter. Ich bin stolz darauf, dass wir das auch tun werden, wenn unser Gegner uns anders behandelt. Wenn er uns beleidigt, uns foult, uns mit seiner Spielweise in die Defensive drängt oder sogar verlieren lässt. Letzteres wird nicht passieren, denn ich bin mir sicher, dass wir zusammenstehen und es den Jackals zeigen werden. Ihre Spielweise ist nicht die unsere und wir werden mit ihnen den Boden dieses Stadions wischen, fair, sportlich und im Geist einer Liga, die sich gegen Diskriminierung ausspricht! Also werden wir da jetzt rausgehen und wir werden keine Angst vor ihnen haben. Keine ihrer Beleidigungen kann uns etwas, denn wir kennen unseren Wert. Ihre Fouls werden wir mit Leidenschaften und Können kontern, solange, bis sie kapitulieren müssen und an ihrer eigenen Brutalität ersticken!“ Sein Team johlte und pfiff, als er seine leidenschaftliche Ansprache beendete und wild in die Runde der Trojans grinste. Sie würden zusammen diesen steinigen und schwierigen Weg gehen, dessen war Jeremy sich sicher. Und sie würden es packen. Wieder einmal. Seine Augen verfingen sich an Jeans nachdenklich und kritisch gerunzelter Stirn. Dass ihr Backliner auch jetzt noch, nach so vielen Wochen, in denen er bei ihnen war, immer noch Probleme damit hatte, dass das Miteinander und der Spaß am Sport im Vordergrund standen, schmerzte Jeremy, doch er war guter Dinge. Mittlerweile suchte Jean nicht mehr den größtmöglichen Abstand zu seinem Team, sondern konnte sogar damit leben, wie gerade auch, inmitten der Trojans zu sitzen. Ja… die Fortschritte waren da. Unübersehbar. Jeremy hielt den Blick der grauen Augen und grinste. ~~**~~ In all der Zeit, die Jean nun schon bei den Trojans war, hatte er dieses Team aus Gute-Laune-Menschen nie gestresst oder am Boden gesehen. Jeder von ihnen hatte mal schlechte Tage und Jean hatte nur langsam begriffen, dass die schlechte Laune eines Teammitgliedes nicht automatisch bedeutete, dass er in Gefahr war. Auch jetzt noch gab es Momente, in denen er vor einem lauten Wort oder einer abrupten Bewegung zurückzuckte und einen ersten Schritt in Richtung Ausgang tat um zur Not fliehen zu können. Allem voran ängstigte ihn das Geräusch von Schlägern, die auf dem Hallenboden auftrafen. Doch dass sein Team derart zerstört war, war ihm in all den Monaten hier noch nie untergekommen und das machte Jean wütend. Seine Ravenseite sagte ihm, dass es unprofessionell war, wie sie sich verhielten und dass sie schwach waren, doch es gab mittlerweile eine weitaus größere Seite, die Jean vorsichtig als Verständnis bezeichnete und die langsam aber sicher wütend wurde. Dass die Breckenridge Jackals aus ihrer Abneigung gegen die Trojans keinen Hehl machten, hatte Knox ihm auch schon vorher gesagt. Dass es in den letzten Jahren immer wieder zu Problemen gekommen war, ebenfalls. Jean hatte versucht, sich an die Spiele der Ravens gegen die Jackals zu erinnern und das Wenige, das er tatsächlich noch vor Augen hatte, war getränkt von Gewalt und unsinnigen Beleidigungen gewesen. Sie hatten sich nichts geschenkt, rein gar nichts. So wenig er die Brutalität der Ravens schätzte und so froh er um die Sanftheit der Trojans war, genau dieser eiskalte Wille zu gewinnen war nun das, was seiner Mannschaft fehlte. Jean presste die Zähne aufeinander, als nun auch Ellie nach einem Check zu Boden ging und sich das Knie hielt. Dass diese körperliche Gewalt für die Trojans bei weitem aber nicht das Schlimmste war, sah Jean an dem Spielstand. Sie lagen drei Punkte zurück und das sonstige, reibungslose Zusammenspiel seiner Mannschaft war in diesem Moment nichtexistent. Sie machten Flüchtigkeitsfehler, ihr Spiel war unsauber, die Passarbeit eine Katastrophe. Und das alles wegen rassistischer, sexistischer und klassistischer Worte, die immer dann gerufen wurden, wenn die Schiedsrichter nicht hinsahen. Oder dann, wenn sie wegsahen, was Jean ebenso wütend machte. Welches Recht hatten die Spieler der gegnerischen Mannschaft dazu, Menschen zu beleidigen und zu entwürdigen, die die Fairness in diesem Sport hochhielten? Sie auch genau dafür verspotteten und jedes Detail, das sie aus der Presse hatten erfahren können, in eine Beleidigung pervertierten. Jean wurde aus seiner Wut gerissen, als er Hawking den Ball abjagte und ihn Fahima zupasste, die das Primärziel der gegnerischen Verteidigung zu sein schien. Jean wurde gegen die Bande gecheckt und für einen Moment sah er bunte Sterne, als der gegnerische Backliner mit dem Ellbogen in seinen Magen nachsetzte. Derjenige, der Fahima bereits als kopftuchtragende Immigrantenschlampe bezeichnet hatte, grinste ihm nun ins Gesicht und löste sich verächtlich von ihm. „Ach, der Ex-Raven-Müll“, sagte er gerade laut genug, um von den Schiedsrichtern überhört zu werden. „Na wie fühlt man sich in diesem Versagerteam voller Gutmenschen, die unser schönes Amerika zu einem ach so bunten Mischmasch aus Ausländern und Arschfickern machen? Deinem Kapitän schon einen geblasen?“ Jean war wütend, stellte er überrascht fest. Er war so wütend, dass er Hawkins ins Gesicht schlagen wollte. Oder seinen Kopf wahlweise so lange gegen die Bande, bis er blutete, wie er auch Ellie, Logan und Tom zum Bluten gebracht hatte durch sein brutales Spiel. Er und seine Mitspielerin Leverett. Was Jean aber vielmehr überraschte, war, dass er nicht wegen der Beleidigung wütend war, die sich gegen ihn gerichtet hatte. Er wollte Hawkins zum Schweigen bringen, weil er sein Team beleidigte und damit Menschen, die Jean nur Gutes getan hatten. Weil er sie bis auf das Blut beleidigte, sie verletzte und es nicht verdient hatte, dafür ungeschoren davon zu kommen. Ihr Coach hatte mit einem Blick auf ihn vor dem Spiel deutlich zu verstehen gegeben, dass er Gewalt als Antwort auf Gewalt nicht schätzte, so ballte Jean zwar seine Hände zu Fäusten, schlug aber nicht zu. „Verpiss dich oder ich schlage dir die Fresse ein“, erwiderte Jean dennoch ebenso leise und fletschte hinter dem Schutzgitter seines Helms die Zähne. Es wäre nicht so gewesen, als hätten sie das in früheren Spielen gegeneinander nicht schon getan. „Komm doch her und zeig’s mir, zahnloses Tigerchen“, grinste Hawkins. „Hat schon seinen Grund, warum die Ravens dich rausgeschmissen haben.“ „Ja, genau den gleichen, aus dem sich Riko selbst umgebracht hat“, schnarrte Jean mit eben jener Betonung am Ende, die nahelegte, dass es kein Selbstmord war. Hohn dominierte sein kurzes, unangebrachtes Lachen und der schrillende Ton der Halbzeitpause übertönte Hawkins Antwort. Kommentarlos rempelte Jean ihn mit seiner Schulter an und ging zu seinem Team, folgte den humpelnden und blutenden Spielern in die Kabine, wo er erst das Ausmaß der ganzen Brutalität erkannte. Keiner der bisherigen Feldspieler war ungeschoren davongekommen und das blaue Auge, das Lailas Gesicht verunzierte, war noch das geringste Problem und dem Umstand geschuldet, dass sie im Tor gestanden hatte, als sie durch einen der Jackalstriker gecharged worden war. Jean sah sich um. So still und niedergeschlagen hatte er die Trojans in der Halbzeitpause noch nie erlebt. Es war, als hätte jemand den optimistischen Kampfgeist aus dieser Mannschaft herausgeprügelt und nichts als Leere hinterlassen. Die positive Lebenseinstellung schien in diesem Moment wie weggeblasen und Jean kam sich vor, als hätte er eine andere Mannschaft vor sich. Eine, deren Kampfgeist durch Gewalt und schlimme Worte zerstört worden war. Hilfesuchend irrte sein Blick zu Knox, doch dieser hatte den Kopf gesenkt und saß auf der Bank, als hätte man einer Marionette die Fäden durchgeschnitten. Unschlüssig verharrte Jean, gefangen zwischen dem Wunsch, Knox seine Niedergeschlagenheit zu nehmen, und seiner Unsicherheit, wie sein Kapitän darauf reagieren würde. Hilfesuchend wandte er sich an Alvarez, doch ihr ging es nicht besser. Mit geschlossenen Augen hielt sie sich ein Tuch samt Kühlpack vor die Nase, um das Nasenbluten zu stoppen. Selbst Ajeet starrte blicklos auf das Linoleum des Bodens. Unsicher krampften sich Jeans Finger um die Schnalle seines Helmes, den er nun vorsichtig auf einem noch freien Platz auf der Bank am Rand seines Teams ablegte und seinen Schläger danebenstellte. Er wusste nicht, wie er mit ihnen umgehen sollte, also hielt er Abstand und suchte mit seinen Augen Coach Rhemann, der anscheinend noch von anderweitigen Pflichten abgehalten wurde zu ihnen zu stoßen. Unruhig knetete Jean seine Finger und zuckte beinahe körperlich zusammen, als Fahima sich räusperte. Die wütende Entschlossenheit in ihrem Gesicht ließ Jean vorsichtig werden und er bereitete sich darauf vor, dass gleich Gewalt explodieren würde. Nichts dergleichen geschah, auch wenn Jean vor Schreck beinahe aufgesprungen wäre, als sie ihre Stimme erhob und in die Stille hinein tief und melodiös, wenn auch ein wenig schief sang. „I am not a stranger to the dark Hide away, they say 'Cause we don't want your broken parts I've learned to be ashamed of all my scars Run away, they say No one'll love you as you are.“ Jean blinzelte irritiert, als er sich von dem ersten Schreck erholt hatte und besah sich sein Team, das davon nicht im Geringsten irritiert zu sein schien. Im Gegenteil. Viele der Augenpaare, die auf den Boden gerichtet waren, hoben sich, Knox‘ ebenso. Rhemann betrat die Kabine und irritiert maß Jean ihren Trainer, der sich lediglich gegen die Wand dort lehnte und die Arme verschränkte, die Stirn sturmgeweiht gerunzelt. War ihm das recht? Wenn nicht, warum sagte er nicht? Fahima erhob sich langsam, auch sie hatte einiges abbekommen. „But I won't let them break me down to dust I know that there's a place for us For we are glorious.“ Jean beschloss, dass er seine volle Aufmerksamkeit auf Fahima richten sollte, auch wenn ihr Verhalten ihm Rätsel aufgab. Warum sang sie? Sie hatten eine Viertelstunde Halbzeitpause und lagen drei Punkte im Rückstand. Das war nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, ganz im Gegenteil. Das war eine Katastrophe, wenn sich das Team von solchen Ablenkungen um den Sieg bringen ließ. Der Herr hätte sie alle hart bestraft, wenn die Ravens so etwas gewagt hätten. Sowohl das Versagen als auch das Singen. Sie waren doch hier nicht am Strand oder bei einem Filmabend. Fahima lächelte ihm zu und Jean runzelte die Stirn. „When the sharpest words wanna cut me down I'm gonna send a flood, gonna drown 'em out I am brave, I am bruised I am who I'm meant to be, this is me Look out 'cause here I come And I'm marching on to the beat I drum I'm not scared to be seen I make no apologies, this is me.“ Das Team war nun um Längen aufmerksamer als zuvor und Jean blinzelte. Da er den Teufel tun und seinen Mund aufmachen würde, konzentrierte er sich auf die Worte, die ihm vielleicht Aufschluss darüber geben würden, was hier geschah und warum es geschah. Er verstand, dass es mit dem Spiel und den Brutalitäten der Jackals zusammenhängen musste, dass es vielleicht sogar eine Art von Motivation war, mit der Fahima das Team aufzumuntern versuchte. Wenn Jean ehrlich war, so verursachte ihm alleine der Text eine Gänsehaut, die er schon lange nicht mehr so intensiv gefühlt hatte, trafen die Worte doch sein Innerstes, mehr, als er zuzugeben bereit war, jetzt, als er sich ihres Sinns bewusst wurde. Als sich Logan unweit von ihm ebenfalls die Stimme erhob, fuhr Jean überrascht und zum guten Teil auch geschockt herum. „Another round of bullets hits my skin Well, fire away 'cause today, I won't let the shame sink in We are bursting through the barricades and Reaching for the sun we are warriors Yeah, that's what we've become.“ Dass Fahima wieder mit eingefallen war und zum Schluss nach und nach einige der Trojans mitsangen, verstörte Jean mehr als dass er es zuzugeben bereit war. Das letzte Mal, als sie gemeinsam gesungen hatten, hatten sie einen Film geschaut und eine Sekunde später fiel es Jean wie Schuppen von den Augen, warum ihm dieses Lied so bekannt vorkam. Sie hatten genau das hier gesungen, gedämpft durch die Türen ihres Wohnhauses. Was zum Teufel? Seine Augen huschten wieder zu Fahima, deren Gesicht ein Ausdruck purer Wut und Entschlossenheit war. Da gab es keinen Zweifel, keine Niedergeschlagenheit, nur Kampfeswille. „I won't let them break me down to dust I know that there's a place for us For we are glorious.“ Nach und nach stimmten nun wirklich alle mit ein. Egal, wohin Jean sah, erkannte er, dass sich das Team von seiner Niedergeschlagenheit löste und sich langsam einfingen ließ von diesen Worten und Fahimas und Logans Gesang. Das war…unglaublich und unmöglich. Das war…Jean blinzelte verständnislos. Das war Trojanstyle, wurde ihm mit einem Mal bewusst. So und nicht anders händelten die Spielerinnen und Spieler seiner Mannschaft eine Krise, die sie alle in den Abgrund zu stürzen drohte. Der Trainer drohte nicht, er mischte sich noch nicht einmal ein, sondern ließ seinen Schützlingen die Wahl, wie sie mit der Situation umgingen. Auch Knox mischte sich nicht ein, machte seine Vormachtstellung als Kapitän nicht geltend, sondern agierte als Teil dieser Einheit. Kein Wunder, bei seinen Gesangskünsten, sagte Jean sich selbst, als sein Blick länger als er es wirklich geplant hatte, auf seinem schief singenden, blonden Mitbewohner ruhte. Als sie im Takt des Liedes zu klatschen begannen, zuckte Jean zunächst ängstlich zusammen. Erst nach ein paar Sekunden konnte er sich davon überzeugen, dass es nicht das Geräusch von Gewalt, sondern von Ermutigung war. Dass sein Team im Takt zur Musik klatschte, als wäre es in einer Musikvorstellung. „When the sharpest words wanna cut me down I'm gonna send a flood, gonna drown 'em out I am brave, I am bruised I am who I'm meant to be, this is me.“ Jean lauschte näher auf die Worte. Mutig und verletzt zu sein? Wie oft hatte Knox ihm in den vergangenen Monaten gesagt, dass er Evermore überlebt hatte, trotz allem, was passiert war. Trotz der Verletzungen, die er davon getragen hatte. Dass er stark war und dass es sein Schicksal war, so stark zu sein, wie er jetzt war. So oft, dass Jean sich ganz persönlich gerade in diesen Worten wiederfand und mit Erstaunen bemerkte, wie sie ihm Kraft gaben. Das bin ich, sang Fahima und Jean schluckte. „Look out 'cause here I come And I'm marching on to the beat I drum I'm not scared to be seen I make no apologies, this is me. And I know that I deserve your love There's nothing I'm not worthy of.“ Das Klatschen seines Teams hatte jedwede Bedrohung, die Jean ihm am Anfang unterstellt hatte, verloren. Wohl auch, weil dieses verrückte Disneyteam gerade aufgesprungen war und sie alle im Takt, den das Lied augenscheinlich hatte, tanzten oder sich hin und herwiegten. Jean sah, was er auch auf der Collegeparty gesehen hatte, als einer der Jungen anscheinend gut getanzt hatte. Sie warfen ihre Arme hoch und jubelten, eine Kakophonie an Lärm und Entschlossenheit. Stimmte es denn? Gab es nichts, dem man nicht würdig war? War man immer würdig? Jean fiel es nach all den Jahren schwer zu glauben, aber die Hoffnung in ihm flüsterte ihm zu, dass diese Menschen hier das so sehen würden. Sie alle liebten und schenkten ihre Zuneigung und Wertschätzung freigiebig und vorbehaltslos, waren dabei offen und so zielstrebig in ihrer gütigen und freundlichen Entschlossenheit, dass es Jean manchmal schon schmerzte. Blinzelnd tauchte er aus seinen Gedanken auf, als es plötzlich ruhiger wurde. Seine Augen verirrten sich zu Fahima, die in der Mitte des Raumes stand, das Gesicht vor Schmerz verzogen. Sie fasste sich an die Brust und holte erneut Luft. „When the sharpest words wanna cut me down I'm gonna send a flood, gonna drown 'em out This is brave, this is bruised This is who I'm meant to be, this is me.“ Dass sich die Zeilen auf die Jackals bezogen, war Jean sofort klar. Dass es den Trojans Mut machte und sie nun endgültig aus ihrem Tief riss, begriff er, als sie einen Moment Pause machten und wildes Gejohle aufbrandete, das in einer neuen lauten und wilden Strophe mündete. Mit Staunen sah Jean zu, wie sein Team geschlossen zu den Schlägern griff und die Enden im Takt auf den Boden schlug, der Rhythmus durchdringend und laut wie Kriegstrommeln. „Look out 'cause here I come And I'm marching on to the beat I drum I'm not scared to be seen I make no apologies, this is me When the sharpest words wanna cut me down I'm gonna send a flood, gonna drown 'em out I'm gonna send a flood Gonna drown 'em out.“ Jean konnte seine Gänsehaut nicht mehr verneinen. Er spürte das ungläubige Lächeln auf seinen Lippen mehr als dass er die Emotion fühlte, weil es in seinem Bauch so sehr kribbelte wie schon lange nicht mehr. Er war bei einem Team gelandet, das zur Aufmunterung sang. Dass die Umkleidekabine der gegnerischen Mannschaft in eine Bühne verwandelte und dass sich nicht von rassistischen, sexistischen oder klassistischen Kommentaren kleinkriegen ließ. „This is me!“ Die letzte Zeile schrien sie gemeinsam hinaus. Sie johlten und jubelten, klatschten oder schlugen mit den Schlägern auf den Boden, dieses verrückte Team. Jean sah, wie sehr dieser kurze Exkurs gegen die ursprüngliche Niedergeschlagenheit geholfen hatte und selbst die erlittenen Verletzungen schienen in diesem Moment eine geringe Rolle zu spielen. Jean ließ es auf sich wirken, denn alles Andere war ihm in diesem Moment zu unbegreiflich. „So. Genug Musical für heute“, grollte Rhemann und beinahe schon erleichtert atmete Jean aus. Er war wie immer vorsichtig in der Gegenwart des älteren Mannes, aber momentan war er froh um dessen Rückbesinnung auf das Spiel. Also dem eigentlichen Grund, warum sie hier waren. „Sie haben mit uns den Boden gewischt und euch mit ihren widerwärtigen Kommentaren entmutigt. Das ist nichts Neues, nicht für die alten Hasen unter euch. Das macht es nicht besser, aber weder die Schiedsrichter noch die NCAA haben die Eier in der Hose, sich um diese Arschlöcher zu kümmern!“ Jean schluckte. Noch nie hatte er Rhemann so fluchen hören wie jetzt. Ob das gut war, wusste er nicht wirklich. „Dafür sind wir hier. Wir sind die Trojans. Wir sind der Inbegriff von sportlicher Fairness, der sich durch gezischte Herabsetzungen und Beleidigungen nicht unterkriegen lässt. Wir zeigen ihnen, dass drei Punkte Rückstand für uns nur eines sind: eine Herausforderung, die wir annehmen werden! Keiner von euch wird sich durch die gehässigen und verletzenden Worte einschüchtern lassen, denn ihr alle seid wer! Ihr seid so, wie ihr seid, toll! Ich liebe euch für das, was ihr seid und ich möchte euch keinen Deut anders! Ist das klar?“ Allgemeines, zustimmendes Murmeln brach aus. Rhemann schnaubte. „Ich hab’s noch nicht mit den Ohren. Ihr seid zu leise, Trojans. Ist. Das. Klar?“ Dieses Mal schwoll der Lärm schier bis ins Unermessliche an und Jean fühlte beinahe, wie die losgelösten Emotionen die Luft zerrissen. Wieder einmal war Jean regelrecht geschockt über das ins Gegenteil verkehrte Negativ, das sein jetziges Team zu seinem alten bildete. Er spürte keinen Funken Bosheit, nur Begeisterung und Leidenschaft. Reichlich sprachlos besah er sich das Ganze und erhob sich, als es Zeit wurde, auf das Spielfeld zurück zu kehren. „Moreau?“ Jean sah auf und schluckte, als Rhemann sich an ihn wandte und ihn stirnrunzelnd musterte. „Coach?“, fragte er vorsichtig und der größere Mann nickte zur Seite. Jean nahm seinen Helm auf und folgte ihm, unsicher, was ihr Trainer ihm zu sagen hatte. „Also.“ Mit seinem typischen Grollen atmete Rhemann ein. „Moreau, bevor ich zugestimmt habe, dich bei uns aufzunehmen, habe ich mir deine Spiele mit den Ravens angesehen. Ich wollte wissen, ob du ihre brutale Spielweise so verinnerlicht hast, dass du für die Trojans keine gute Partie bist.“ Er ließ seine Worte wirken und Jean schluckte. Was bedeutete das? Hatte er etwas falsch gemacht? Nicht im Sinne der Trojans gehandelt? „Ich war nicht überzeugt, bis Wymack mir versichert hat, dass deine gnadenlose und brutale Spielweise nicht von dir initiiert, sondern von Moriyama erwünscht war.“ Was blieb Jean anderes übrig, als zu nicken? In gewisser Weise stimmte das, wenn auch nicht gänzlich. Es hatte viele Momente gegeben, da hatte er einfach Hass für ihre Gegner gefühlt und aus Eigeninitiative gehandelt. „Zieht man dieses Verhalten von deinem sonstigen Spielstil ab, so bleibt ein junger Mann, dessen Technik nahezu perfekt ist und der immer noch gnadenlos, aber sportlich fair, seinen Teil dazu beiträgt, dass die Mannschaft perfekt funktioniert.“ Perfekt würde Jean weder die Trojans noch seine eigene Technik nicht nennen, aber das würde er Rhemann in diesem Moment nicht ins Gesicht sagen. „Seit dem Zusammenstoß zwischen dir und Mayson hältst du dich zurück und das ist auch richtig so. Ich schätze es nicht, wenn sich meine Spieler gegenseitig verletzen. Oder wenn sie absichtlich Spieler anderer Mannschaften ins Krankenhaus prügeln.“ Jean nickte stumm. Er würde das nicht mehr machen. „Ich möchte dich jedoch um eine Sache bitten. Die Trojans sind ein gutes Team, sie haben das Herz am rechten Fleck. Dadurch haben die Jackals ein leichtes Spiel. Ich möchte, dass du deiner Mannschaft zeigst, dass sie keine Angst vor diesen Worten haben müssen. Ich möchte, dass du gnadenlos bist ohne sadistisch zu sein. Zeig ihnen, wie sie mit den Beleidigungen der Jackals umgehen müssen.“ Reichlich überfahren starrte Jean seinen Coach an und versuchte sich einen Reim auf die Worte zu machen. Natürlich würde er das tun, worum er gebeten wurde, das stand außer Frage. Aber wie er das machen sollte, war ihm schleierhaft. Er ignorierte die Worte, die sie an ihn richteten. Schlicht und ergreifend. Es war nichts, was er so nicht schon in verbaler oder körperlicher Form erlebt hatte. „Sehr wohl, Coach“, presste er hervor, als er merkte, dass Rhemann auf seine Antwort wartete und der größere Mann nickte. Ein breites Lächeln erschien auf den Lippen seines Trainers und mit einem Nicken scheuchte er Jean nach vorne, seiner Mannschaft hinterher. Jean holte sie joggend ein, als sie auf das Feld liefen. „Alles okay, Jean?“, fragte Jeremy, als er sich zu ihm umdrehte und ihn sorgenvoll musterte. „Alles gut…“, erwiderte er und fügte nach kurzem Zögern „…Captain Disney.“ hinzu. Überrascht blieb Knox stehen und Jean sah für eine Sekunde zu lang zu seinem Kapitän. Das Lächeln, was seine Lippen streifte, blieb jedoch nur kurz sichtbar, als Jean seinen Helm überstreifte und auf seine Position lief, Knox spielerisch empörtes „Jean Moreau!“ im Rücken. Gnadenlos also. ~~**~~ Jeremy staunte jedes Mal wieder, wie gut es half, dass sie sich gegenseitig mit Singen Mut machten. Wie es zu dieser Tradition gekommen war, konnte er im Nachhinein gar nicht mal sagen, aber seit er Kapitän und Fahima Teil der Mannschaft war, sangen sie bei Gegnern, die nicht unbedingt fair spielten und die Teammoral gefährdeten. Es half und so war der Song, den sie alle liebten, ihr Signature Song geworden. Dass sie den dazugehörigen Film regelmäßig ansahen, half dabei selbstverständlich. Und so ließ sich Jeremy von der positiven Stimmung des Songs treiben und sog den Teamgeist der Trojans wie einen Schwamm in sich auf. Nachrangig wurden die Schmerzen, um die er sich später kümmern würde. Nachrangig ebenso die Beleidigungen und Herabsetzungen, die er in den ersten 45 Minuten kassiert hatte. Er würde sich später mit ihnen beschäftigten und mit Brian darüber reden, was ihn davon getroffen hatte und warum es ihn belastete. Nun konzentrierte er sich vollends auf die vor ihm liegenden Gegner und ihre Spielweise. Nicht ihre Worte, sondern ihre Schritt-, Wurf- und Passtechnik. Er versuchte, Fouls vorher zu sehen und sie zu umlaufen. Ebenso staunte er über Jeans neu erwachte Gesprächigkeit, mit der dieser jeden einzelnen Fehltritt der Jackals präzise und vernichtend kommentierte. Dort, wo er konnte, bekamen die gegnerischen Spieler eine gratis Belehrung, die Jeremy roten Ohren verpasst hätte, wenn er Ziel dieser Kritik gewesen wäre. Mit Sicherheit. Überheblich, sicher und bitterböse analysierte ihr Backliner just in diesem Moment das Fehlverhalten der ihn angreifenden Offensive Dealerin und machte danach so weiter, als wäre nichts und als wäre er nicht Hauptziel für die Fouls, die nach und nach die Spieler der Jackals mit roten Karten vom Feld schickten. Jeremy konnte sich nicht erinnern, so viele roten Karten gesehen zu haben, insbesondere, als sie nun den letzten der drei Punkte Rückstand aufholten. Jeremy tat alles weh und er fühlte sich wie beim Spiel gegen die Foxes damals, aber dieses Mal war er dank Jeans gnadenlosem Ausdauertraining besser vorbereitet. Er signalisierte seinem Coach, dass er noch konnte und machte zusammen mit Ellie und Alvarez noch das Tor, was sie schließlich in Führung brachte. Mayson und Fahima waren für das nächste Tor verantwortlich, das kurz darauf folgte und das Ende des Spiels durch einen durchdringenden, lauten Sirenton verkündete. Noch nie war ihm dieser Ton wie eine Erlösung vorgekommen. Noch nie hatte er sich so gefreut, dass das Ende eines Spiels verkündet wurde. Langsam kam er zum Halt und blieb neben einem der Jackals stehen. Myers, ein brutaler Spieler voller Hass auf alles, was besser war als er. Jeremy grinste und winkte dem vor Wut schäumenden Jungen. „Brutalität zahlt sich nicht aus“, zwinkerte er und lief zu seinem Team zurück. Er sah in müde und erschöpfte, aber auch glückliche Gesichter und Jeremy fühlte genau das in diesem Moment hundertfach. „Wir haben es geschafft“, murmelte er gegen den Lärm des Stadions an und Jean kam an seine Seite, unverschämt wenig außer Atem. Er humpelte unmerklich und Jeremy machte sich eine geistige Notiz, seinen Backliner, der vermutlich nichts dazu sagen würde, mit Doc Chandler zusammen zu bringen, sobald sie geduscht hatten. Also er. Jean würde sich vermutlich wie immer, wenn sie Auswärtsspiele hatten, kurz waschen und in der Sicherheit ihrer eigenen Dusche richtig abwaschen. „Wir haben gewonnen!“, grinste er und Jean hob die Augenbraue. „Unsere Leistung ist verbesserungswürdig“, merkte eben jener kritisch an und Jeremy schnaubte. „Also wenn ich mir durch den Kopf gehen lasse, was du in der zweiten Hälfte zu den gegnerischen Spielern gesagt hast, dann glaube ich langsam, dass die Kritik, die du an den Trojans übst, eigentlich ein Lob ist.“ Jean nahm sich seinen Helm ab, sodass Jeremy die zweifelhafte Ironie auf seinem Gesicht sehen konnte. Für einen Moment standen ihm die durch ein rotes Band zurückgehaltenen und verschwitzten Haare so wild vom Kopf ab, dass Jeremy sich beherrschen musste, sie ihm nicht zurück zu streichen. Jean behob das Problem vorsichtig selbst und Jeremy lächelte. „Coach Rhemann hat gesagt, ich soll gnadenlos sein in dem, was ich tue“, erklärte der Backliner sich und überrascht weiteten sich Jeremys Augen. Auch er nahm seinen Helm ab und strich sich durch seine ähnlich klatschnassen Haare. „Das hast du ziemlich gut hinbekommen.“ Jean zuckte mit den Schultern und sah auf den Platz zurück. „Ich habe getan, was er gesagt hat. Es war nur die Wahrheit.“ „War es denn okay für dich?“, fragte Jeremy stirnrunzelnd. Er hegte die Befürchtung, dass Jean sich dazu gedrängt gefühlt hatte, weil es von ihrem Coach kam. Doch anscheinend war dem nicht der Fall. Das beinahe unmerkliche Lächeln auf Jeans Lippen zeugte von viel zu viel boshaftem Spaß an der Erfüllung der Aufgabe, als dass es Jeremy nun nicht schlucken ließ. „Sie haben euch beleidigt und widerliche Dinge gesagt. Natürlich war es okay“, erwiderte Jean und ließ ihn auf dem Spielfeld stehen. Einfach so. Vielleicht war Jeremy für ein paar Sekunden auch unfähig, sich zu bewegen. Wer wusste das schon. ~~**~~ Jean räumte nun schon zum zweiten Mal seine Duschsachen, die er zu jedem Spiel mitbrachte, von links nach rechts und wieder zurück. Sein Team befand sich in der Umkleide und die Duschen waren soweit leer, dass nur er noch in dem diesigen Raum war. Während des Spiel hatte ihn das Lied, das sie gesungen hatten, nicht losgelassen und auch jetzt lief es wie eine Dauerschleife in seinen Gedanken. Jean verfluchte sein Team doppelt dafür. Er wurde ihren Gesang nicht mehr los, ebenso wenig wie den Grundgedanken des Liedes. Das bin ich. Mit Narben, Verletzungen, allem, was anders war und ihn ausmachte. Das war er und es war nicht schlimm, dass er es war. Ganz im Gegenteil. Unperfektheiten waren Stärke, wenn er den Worten des Liedes glaubte. Jean wagte einen Blick in den Spiegel, auf die Tätowierung, die bereits schwächer wurde. Konnte er es wagen und hier duschen gehen? In Anwesenheit seines Teams? Konnte er sich ihnen zeigen so wie er war, mit all den Narben, die er hatte? Er wusste, dass die Antwort darauf ein Ja war. Das, was vorher undenkbar gewesen schien, war nun eine greifbare Möglichkeit und Jean wollte mutig sein. Er wollte sie ergreifen und zeigen, dass er trotz aller Fehlerhaftigkeit standhaft war und sich nicht unterkriegen ließ. Sein Herzschlag beschleunigte sich, als er einen Schritt zurücktrat und sich sein Trikot über den Kopf zog. Soweit, so gut. Die Hose war weitaus schwieriger, ganz zu schweigen von seiner Boxershorts. Hastig griff Jean sich sein Handtuch und ging in eine der halboffenen Duschkabinen, die einen Sichtschutz vor dem Rest der Kabine boten. Er zögerte nicht, sondern machte das Wasser an, bevor er es sich anders überlegen konnte. Er duschte und wusch sich die Haare so schnell es ihm möglich war, immer mit einem wachsamen Blick auf den Raum und sein Team. Erst, als er fertig war, begriff er, was er gerade getan hatte und starrte auf die Fliesen, als könnten diese ihm sagen, was in ihn gefahren war, diese immense Portion an Mut aufzubringen. Jean atmete tief ein und raffte seine Sachen zusammen. Mit wild klopfendem Herzen trat er in die Umkleidekabine und ging zu seinem Platz, den Blick eisern zu Boden gerichtet. Nur weil er momentan die Stärke hatte, sich ihnen so zu zeigen und ihnen minimales Vertrauen entgegen zu bringen, dass sie ihn nicht angriffen, hieß nicht, dass er den Schock und das Mitleid in ihren Gesichtern sehen wollte. Die Stille, die mit jedem seiner Schritte dröhnender wurde, ließ Jeans Nackenhaare stehen. Sie sahen gerade das, was er sah. Einen entstellten, vernarbten Körper, gezeichnet von Ungehorsam und Unfähigkeit seinerseits. Die intimen Narben waren durch das Handtuch verdeckt, aber das hieß nicht, dass der Rest nicht ebenso schockierend unmenschlich war. Jean schluckte, als er seine eigene Entscheidung in Zweifel zog und hoffte, dass sie einfach darüber hinweggehen würden. „Verdammt, Moreau!“, zerstörte jedoch ausgerechnet Alvarez seine Hoffnung auf Vergessen und Jean schluckte schwer. Mit aller Kraft schulte er seine Mimik auf Ausdruckslosigkeit und drehte sich um, wandte sich ihr zu. „Ohne Scheiß, du französisches Wunderkind, was sind das für Bauchmuskeln! Alter! Wie bekommt man so etwas? Verrate mir dein Geheimnis! Los!“ Worte, die erst keinen Sinn machten, schlängelten sich an seine Ohren und drehten dort ein paar Runden. Überrascht starrte er sie an, unfähig, etwas zu sagen. Dann sah er reichlich perplex auf die Muskeln seines Abdomens und wieder hoch zu ihr. Das waren doch normale Muskeln. Wieso sagte sie so etwas? „Ich habe nicht so viel ungesunden Kram zu mir genommen und trainiere regelmäßig“, antwortete er wahrheitsgemäß und anscheinend war das in den Augen seines Teams ein derart guter Witz, dass sie ihm nervöses Gelächter schenkten. Jeans Augen huschten zu den Anderen und er sah, dass sie sich um Normalität im Angesicht seiner Narben bemühten und dass sie diese in seinem Witz – der wirklich keiner war – auf Alvarez‘ Kosten fanden. Alvarez, die sich immer noch nicht anmerken ließ, dass sie etwas Anderes sah außer seinen Bauchmuskeln. „Sei nicht so garstig, du Heterocrush meiner schlaflosen Nächte! Das war ein Kompliment“, grollte sie, doch er konnte keine Unzufriedenheit entdecken. „Wir könnten am Strand joggen gehen?“, schlug Jean vor und griff nach seinen Anziehsachen. Wenn er normal auf Alvarez reagierte, würden ihn alle nicht so anstarren, oder? Dann wäre die Stimmung gelöster. „Tu’s nicht! Das ist eine Falle!“, fiel ihm sein eigener Kapitän in den Rücken und Jean musste durchaus zugeben, dass er es verdient hatte. Erst jetzt kam Knox langsam auf das Konditionslevel, das Jean als annehmbar deklarierte. Zu Lasten der Gesamtheit seiner inneren Organe, beschwerte sich der blonde Junge jedes Mal wieder darüber. „Blödsinn. Nur weil du keine Kondition hast, Cap, heißt das nicht, dass ich nicht etwas für meine Bauchmuskeln tun kann! Ich meine, guck dir das Sixpack aus Stahl da hinten doch mal an.“ Anklagend hatte sie ihren Finger erhoben und beinahe schon schadenfroh zuckte Knox mit den Schultern. „Dann lauf mit ihm, du unvernünftiges Weib!“ „Werde ich! Dann sieht er mal etwas Anderes als deinen lahmarschigen Hintern!“ „Wie soll er ihn denn sehen, wenn ich langsamer bin als er, eh?“ „Ha! Also gibst du zu, dass du weniger Kondition hast!“ „Als du sicherlich nicht.“ Während sie weiter lauthals stritten, zog Jean sich kommentarlos an und es war Fahima, die beim Verlassen der Kabine wortlos seine Hand berührte. Sie drückte sie nur kurz, aber lang genug, um Jean zu versichern, dass sie da war. Ebenso wie es Ajeets warmes Lächeln es ihm versicherte. Valentines vorsichtiger Schultercheck beim Einsteigen in den Bus. Maysons knappes Nicken. Ellies Nachricht, aus welchem Film das Lied war. ~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 37: Trojans vs. Foxes ----------------------------- Jean drehte seinen Kopf in das Kopfkissen, unwillig, den Tag schon willkommen zu heißen. Murrend zog er sich die Bettdecke über seinen Kopf und schmiegte sich in die weichen Daunen, als könnte er so das unweigerliche Aufwachen verhindern. Er seufzte leise ob des Wohlgefühls, das ihn im festen Griff hatte und ihn in der Welt der nicht ganz Wachen aber auch nicht ganz Schlafenden hielt, eben jener Zwischenwelt also, in der er so wunderbar schweben konnte. Wenn er an einen Himmel glauben würde, dann wäre es dieser Zustand aus vollkommener Entspannung und friedvollem Glück, in dem er sich gerade befand. Hier gab es keine Sorgen, noch nicht. Hier gab es nicht die Eindrücke einer Welt, die ihn immer wieder überforderte. Hier gab es nur ihn. Alleine das Gefühl der absoluten Zufriedenheit holte ihn aus der Zwischenwelt und ließ ihn wach werden. Jean blinzelte und zog sich die Decke gerade soweit von seinem Gesicht, dass er erkennen konnte, wie früh es noch war. Der helle Sonnenschein auf dem Linoleumboden ihres Apartments sagte ihm, dass es definitiv nicht mehr früh am Morgen sein konnte. Jean wandte sich zum Bett des anderen Jungen, das leer war und jetzt, wo er genauer hinhörte, hörte er Knox in der Küche rumoren. Mit plötzlicher Klarheit wurde Jean bewusst, dass er verschlafen hatte. Verschlafen. Er hatte nicht mitbekommen, dass Knox aufgestanden war, und dass, obwohl er immer vor seinem Kapitän aufwachte. Seine innere Uhr war darauf programmiert, dass er niemals in Gegenwart eines Anderen weiterschlief. Niemals, dafür war die potenzielle Gefahr zu groß… Jean würgte den Gedanken ab, sobald er gekommen war. Er hatte die Nacht anscheinend ohne Alpträume durchgeschlafen, lange genug um nicht vor dem Sonnenaufgang wach zu sein. Es war eine der seltenen Nächte, nach denen er sich an nichts erinnerte und das wollte er durch die Erinnerung an Vergangenes nicht zerstören. Jean kämpfte sich in die Sitzende hoch, die angenehme Schlafschwere noch in den Knochen, und angelte nach seinem Handy um auf die Uhr zu schauen. Drei Stunden länger als sonst hatte er in seiner traumlosen Welt verbracht und Jean staunte. Er rieb sich über das Gesicht und als er aufsah, schob sich der blonde Schopf seines Kapitäns durch die angelehnte Tür. Knox grinste und Jean erwiderte diese morgendliche Fröhlichkeit mit einer minimal erhobenen Augenbraue. Jean war kein Morgenmensch, nie gewesen. Insbesondere nicht direkt nach dem Aufwachen, egal, wann es war, wie er nun feststellte. Schweigend musterte er den blonden Jungen, der eine seiner dutzenden Shorts und ein ausgeblichenes Trojan T-Shirt trug. Wie immer war sein Kapitän gut gelaunt und gerade jetzt kratzte das an Jeans eigener Morgenmuffeligkeit. Das Winken machte es nicht besser, ganz und gar nicht. „Guten Morgen, Dornröschen. Kaffee?“ Jetzt, wo er es sagte, roch Jean den verführerischen Duft des schwarzen Goldes, der es bis in das Schlafzimmer geschafft hatte. Das Angebot des anderen Jungen irritierte ihn jedoch, schließlich war er doch nun wach genug um eben das selbst festzustellen. Die Information bestätigend nickte Jean und schneller, als er begreifen konnte, was Knox tat, war dieser wieder verschwunden. „Warte!“, erscholl es anscheinend aus der Küche und Jean hielt in seiner Bewegung, sich aus dem Bett zu schälen, inne. Er verharrte, die weiche Bettdecke fest im Griff seiner morgens immer etwas steifen Finger. Er lauschte dem Klappern in der Küche und schneller, als er es vermutet hatte, kam Knox in das Schlafzimmer zurück, in seinen Händen eine Tasse, mit der er sich Jean nun langsam näherte. Jean musterte ihn schweigend und erst, als Knox ihm mit dem größtmöglichen Abstand die Tasse reichte, erkannte Jean, dass sich dort Kaffee befand. Mit Verspätung nahm er seinem Kapitän eben jene ab und sah Knox fragend in das ruhige Gesicht. Mit Bedacht zog sich Knox zurück zur Tür und gab Jean so Raum, sich in Gegenwart des anderen Jungen entspannen zu können. Das war nicht einfach, ganz und gar nicht, wie er nun feststellte und die Tasse Kaffee als willkommene Ablenkung dafür nahm, Knox nicht in die Augen sehen zu müssen, aus Angst, dass dieser erkannte, was hinter seinem Schweigen lauerte. Jean räusperte sich. „Danke für den Kaffee. Gibt es einen Grund dafür?“ „Ja klar! Es muss doch zelebriert werden, dass du endlich mal länger schläfst als ich.“ Knox grinste, das hörte Jean auch ohne hinzusehen. Wieso musste das gefeiert werden? Es war eine reine Überlebensnotwendigkeit, nur eine geringe, gemeinsame Schlafzeit mit seinem Gegenüber zu haben. Dass er seinen Überlebensantrieb selbst ausschaltete, war kein Grund für Anerkennung. Ganz und gar nicht. Aber Jean hatte gelernt zu fragen, wenn er etwas nicht verstand, also nahm er allen Mut, den er hatte, auf und sah hoch, hinein in die gleiche Unsicherheit, die er in sich fühlte. „Warum?“, fragte Jean schlicht und stieß im ersten Moment auf Unverständnis. Bevor er es erläutern konnte, begriff Knox jedoch. Sein Kapitän seufzte und kam langsam zurück. Mit einem dumpfen Geräusch ließ er sich auf sein Bett fallen und zog die Beine zu sich in den Schneidersitz. Er wurde ernst. „Weil du dir eine ganze, unbehelligte Nacht verdient hast. Nein, eigentlich hast du nur gute Nächte verdient, Jean und deswegen ist es toll, dass du durchgeschlafen hast und das sogar länger als ich. Ich hatte schon Angst, dass ich verschlafen habe, weil ich nichts gehört habe, aber nein! Du hast nur selig geschlafen, mit einer Hand auf Eva.“ Knox‘ Worte waren ein guter Moment, um einen ersten Schluck Kaffee zu nehmen, beschloss Jean und die Hitze auf seinen Wangen kam sicherlich nicht nur durch die Wärme des Getränks. „Zufall“, murmelte er in seiner Muttersprache und Knox lachte, obwohl er es sicherlich nicht verstanden hatte. „Irgendwann einmal musst du mir die schönsten Wörter auf Französisch beibringen“, grinste Knox und Jean schnaubte. „Wörter oder Beleidigungen?“, hielt er dagegen, rein um sich auf andere Gedanken zu bringen als auf den, dass er ein Kuscheltier angefasst hatte, während er schlief. „Heiße ich Alvarez?“, fragte Knox empört und Jean zuckte mit den Schultern. Seine steifen Finger an der Tasse wärmend, nahm er einen weiteren Schluck. „Weiß ich, welche Abgründe sich hinter Captain Sunshine noch verbergen?“ Jetzt war die Frage spielerisch, doch Jean erinnerte sich gut an den Anfang seines Hierseins. Was er Knox nicht alles unterstellt hatte. Nun wusste er, dass Knox das, wovor er sich gefürchtet hatte, niemals tun würde und das alleine war ein befreiender Gedanke, der einen solchen Scherz leicht machte. „Ich habe keine.“ Jean suchte Knox‘ Blick, ohne wirklich den Kopf zu heben. Er hob die rechte Augenbraue gerade hoch genug, um seinem Kapitän anzudeuten, was er von dessen allzu offensichtlicher Lüge hielt. Wie immer wand sich Knox unter dieser Musterung, plötzlich nervös und unsicher, auch wenn Jean nicht nachvollziehen konnte, woher das kam. „Wirklich nicht!“ Jean starrte weiter und hob die Tasse an seine Lippen. Ohne wegzusehen, trank er, zugegebenermaßen etwas unbeholfen, aber es wirkte. „Echt nicht!“ Knox wurde mit jeder Sekunde nervöser und Jean konnte nicht sagen, warum es ihm soviel Spaß machte, seinen Kapitän aus der Fassung zu bringen. Oder woher er überhaupt den Ansporn nahm, sich dem anderen Jungen derart spielerisch zu nähern. Entspannt lehnte er sich seitlich an das Kopfteil seines Bettes und hob die zweite Augenbraue. Knox gab sein Bestes, unschuldig auszusehen, doch schlussendlich gab er mit einem Laut purer Verzweiflung nach. „Na gut, vielleicht ein oder zwei!“, entwich es Jeans Kapitän leidend und er schnaubte amüsiert. Er fragte nicht, welche, denn er wusste, dass Knox keine Abgründe haben würde. Zumindest nicht die Art von Abgründen, die Jean Angst machten. „Hast du denn welche?“ Fast schien es Jean wie eine trotzige Verteidigung, so wie Knox nun die Arme verschränkte und die Unterlippe schmollend vorschob. Sonst war es immer Alvarez oder manchmal auch Valentine, die diese Reaktion hervorriefen, doch anscheinend war auch er in der Lage dazu. „Ein oder zwei“, echote Jean und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als Knox in befreites Lachen ausbrach. „Irgendwann verraten wir sie uns gegenseitig!“ Ja, vielleicht irgendwann, auch wenn Jean nicht glaubte, dass Knox danach immer noch zum Lachen war. Bevor seine Gedanken zu den Abgründen streifen konnten, die seine Gedanken für ihn ausspuckten, widmete sich Jean lieber einem Thema, das um Längen ungefährlicher, wenngleich auch nicht weniger emotionsgeladen war. „Das Geschenk für die Krankenschwester“, begann er und wusste doch nicht, wie er weitermachen sollte. Er war Knox dankbar, dass er sich dazu bereiterklärt hatte, mit ihm einkaufen zu gehen und dass er sogar vorher Vorschläge im Internet gemacht hatte, die sie sich gemeinsam angesehen hatten. Jean war ratlos und hilflos gewesen, nur mit Renees Aussage bewaffnet, was Abby gerne mochte und womit er ihr eine Freude machen konnte. Keramikfrösche. Jean seufzte innerlich. Jetzt, wo er darüber nachdachte, war das ganze Haus tatsächlich voller Frösche gewesen. Blumen und Frösche. Und aus dem Teich im hinteren Garten hatte es abends desöfteren gequakt. „Trink in Ruhe auf…wir fahren am Besten nach dem Frühstück, dann können wir uns ganz in Ruhe umsehen und den passenden Frosch für die Prinzessin finden.“ Jean kannte das Märchen sehr gut. Die Prinzessin, wie sie den Frosch küsste, der zum Prinzen wurde, in den sie sich dann verliebte. Unwirsch runzelte er die Stirn. „Aber sie hat ihn doch schon gefunden.“ In gespieltem Entsetzen riss Knox die Augen auf. „Ihren Frosch?!“ Jean grollte. „Einen Mann.“ „Hast du grad David Wymack einen Frosch genannt?“ „Knox…“ „Du hast!“ „Knox…“ „Der arme Mann! Da ist er mit seinem Team schon so geplagt und dann sagst du auch noch solche Sachen!“ „Knox…“ „Das muss ich Kevin erzählen!“ Es rutschte Knox einfach heraus, das sah Jean. Das bemerkte auch sein Kapitän, kurz nachdem seine Worte die vorlauten Lippen verlassen hatten. Abrupte, peinliche Stille trat zwischen sie und Knox schlug sich verspätet, die Hand vor den Mund, so als könne er dadurch wieder gut machen, was gerade gesagt worden war. Wenn es denn etwas zum Wiedergutmachen gäbe. Jean seufzte. „Schon gut“, winkte er ab. „Es ist in Ordnung, wenn du über ihn sprichst.“ Nur langsam senkte Knox seine Hand und die Fröhlichkeit war aus seinen Augen verschwunden. „Ich möchte dich nicht verletzen, Jean. Es tut mir leid.“ „Sein Name verletzt mich nicht. Ebenso wenig wie der Gedanke daran, dass du dich gut mit Kevin verstehst. Er mochte dich schon, seit ihr euch das erste Mal begegnet seid. War ein Fan von dir und deiner reinen Spielweise, die nicht mit Brutalität, sondern mit Können glänzte.“ Immer noch vorsichtig und als würde er auf rohen Eiern laufen, ließ sich Knox seine Worte durch den Kopf gehen, das sah Jean. „Ich mochte ihn von Anfang an. Sein Können ist exorbitant gut und er war…nett.“ „Ein Fanboy, wohl eher.“ „Wirklich?“ Jean nickte und trank den letzten Schluck Kaffee aus der Tasse. Nachdenklich stellte er sie auf den kleinen Nachttisch neben seinem Bett. „Er hat damals von nichts Anderem gesprochen als davon, was für ein guter Striker du bist. Er hat deine Fähigkeiten in den Himmel gelobt. Dass Riko das nicht tolerieren würde, hat er in seinem Exywahn erst zu spät erkannt.“ Die leichte und humorvolle Stimmung, die bisher geherrscht hatte, schwand sekündlich und Jean verfluchte sich innerlich dafür. Er wollte nicht daran denken, was passiert war. Er wollte sich seinen Erinnerungen nicht stellen und doch lenkte er Knox und sich selbst zielsicher daraufhin. „Hat er Kevin deswegen die Hand gebrochen?“, fragte eben jener vorsichtig und überrascht sah Jean auf. Natürlich wusste Knox nichts davon und in diesem Moment brannte es Jean auf der Zunge, ihm die bittere Wahrheit direkt ins Gesicht zu sagen. Die entwürdigende, dreckige, bittere Wahrheit, die nichts mit der Hand von Kevin Day zu tun hatte. Er öffnete den Mund, doch nichts entkam seinen Lippen. Jean schnaubte innerlich. Vielleicht war es auch besser so. Was sollte Knox mit dem Wissen um das Handeln des toten Arschlochs auch anfangen? „Die Hand hat er ihm gebrochen, als Day besser wurde als er.“ Selbst diese einfache Aussage tat Knox weh und machte ihn traurig. Vielleicht war es also eine gute Entscheidung, dass er nichts sagte, befand Jean und zuckte mit den Schultern. „Wie dem auch sei. Es ist Vergangenheit. Day kann wieder spielen und ist selbst mit seiner vermeintlich schwächeren Hand ein ernstzunehmender Gegner, der eine Gefahr für unser Tor ist. Riko ist tot und das ist auch gut so.“ Es war Genugtuung, die diese Worte begleitete und Jean genoss sie mehr, als er zuzugeben bereit war. Er schwieg, weil er nicht mehr dazu zu sagen hatten und in diese Stille hinein klingelte sein Handy. Jean sah überrascht zum Telefon, bevor er rein aus Reflex zu Knox sah, der seine nonverbale Frage ruhig, aber ausdruckslos ignorierte. Er tat das mit Absicht und Jean war bewusst warum, schließlich lag die Entscheidung, ob er einen Anruf entgegennahm nicht bei seinem Kapitän. Jean wusste das, aber jahrelange Konditionierung ließ sich nicht innerhalb von ein paar Monaten wieder rückgängig machen. Er seufzte und starrte auf die ihm unbekannte Nummer, bevor er den Anruf annahm und sich mit seinem üblichen „Ja?“ meldete. Die Sekunde Stille, die am anderen Ende der Leitung herrschte, irritierte ihn, sie erschreckte ihn aber nicht so sehr, wie es die Stimme tat, die sich vorsichtig an sein Ohr schlängelte. „Jean, bist du das? Ich bin es… François.“ Jeans Gedanken kamen zu einem abrupten Halt, als er begriff, dass es sein Vater am anderen Ende der Leitung war. François, wie er sich selbst nannte, weil Jean klar gemacht hatte, was er von ihm hielt. Weniger klar waren seine Gefühle, als er den Namen hörte. Er hatte nicht erwartet, dass er nach so kurzer Zeit wieder Kontakt zu seinem Vater haben würde. Ebenso wenig hatte er erwartet, dass der Mann, den er Vater genannt hatte, sich mit seinem Vornamen meldete. Es schien falsch, aber gleichzeitig auch richtig und Jean wusste nicht, welchem von beiden er mehr Stimme geben sollte. „Was willst du?“, fragte er schließlich und der Mann am anderen Ende der Leitung schluckte hörbar. „Louis möchte gerne nächste Woche zu eurem Spiel gegen die Foxes kommen und ich wollte fragen, ob das für dich in Ordnung ist.“ Jean erinnerte sich nur zu gut an die Leidenschaft und die Freude, mit der Louis von den Palmetto State Foxes gesprochen hatte und er brachte es nicht über das Herz, nein zu sagen, auch wenn es bedeutete, dass sein Vater ebenso mit anwesend sein würde. Auch das hinterließ ein Gefühl in ihm, das Jean schwerlich beziffern konnte. „Es ist okay“, erwiderte er mit Verspätung. „Ich nehme an, er möchte von den Foxes auch Autogramme?“ „Das nur, wenn es keine Umstände macht und für dich in Ordnung ist, Jean. Ich denke, er wird sich schon sehr freuen, wenn er dich spielen sieht.“ Jean dachte darüber nach und seufzte schließlich innerlich. „Ich werde sie fragen. Versprechen kann ich nichts.“ Auch wenn er noch nicht wirklich wusste, wie er es dieser Mannschaft an Junkies erklären sollte, dass der Junge, der ihm so ähnlich sah, sein Bruder war. Vielleicht sollte er mit Renee sprechen, sie würde am Ehesten sagen können, wie sicher Louis in Anwesenheit ihres Teams war und wie sie ihn behandeln würden. „Ich danke dir, Jean.“ Schweigend nahm er zur Kenntnis, was sein Vater sagte und ebenso schweigend spielte er mit dem Saum seines Hemdes, nicht wissend, was er darauf antworten sollte. „Es ist okay“, einigte er sich mit sich selbst erneut auf etwas absolut Nichtssagendes und sah, wie Knox ihn mit ruhiger Zustimmung beobachtete. „Wie geht es dir?“, fragte der Mann am anderen der Leitung zögerlich und Jean blinzelte. Er glaubte nicht, dass er schon bereit war, mit seinem Vater über sich zu sprechen. Ob das jemals der Fall sein würde, wusste er ebenso wenig. „Ich möchte darüber mit dir nicht reden. Jetzt nicht“, verbalisierte Jean seine Gedanken. „Natürlich. Entschuldige.“ Nein, Jean wollte gar nichts entschuldigen. Er wusste nicht, was er wollte. „Ich lege jetzt auf.“ Das Schweigen am anderen Ende der Leitung war bedeutungsschwanger, aber schließlich gab sein Vater einen zustimmenden Laut von sich. „In Ordnung. Bis nächste Woche.“ „Ja.“ Jean beendete den Anruf und starrte auf das dunkel werdende Display seines Handys. „Louis kommt zum Spiel“, erläuterte er unnötigerweise und sah hoch. „Ist das okay für dich?“ „Ich glaube schon.“ „Und er will die Foxes sehen?“ Jean nickte seufzend und Knox wackelte mit den Augenbrauen. „Das Regenbogenmädchen wird ihn lieben.“ „Ich befürchte.“ „Vielleicht sollten wir die Foxes gewinnen lassen?“, fragte sein Kapitän allen Ernstes und Jean gestattete es sich, den in ihm tobenden Unglauben auch auf sein Gesicht wandern zu lassen. „Nicht dein Ernst, Knox.“ „Ja, doch. Ich meine, der Kleine ist Foxes-Fan. Außerdem sind sie nur so wenige, da könnten wir wieder…“ „Nein.“ „Aber Jean, wir… „Nein.“ „Aber…“ „Nein.“ Knox schmollte und Jean starrte seinem Kapitän eindringlich in die blauen, großen Augen. Er hatte das ungute Gefühl, dass seine Mannschaft tatsächlich verlieren würde, weil sein kleiner Bruder Foxes-Fan war. So abstrus dieser Gedankengang auch im ersten Moment schien, so sehr passte er in das Verhalten dieses Teams, wenn er sich deren Historie mit den Foxes ansah. Und das machte Jean eine Heidenangst. ~~**~~ „Lieblingscaptain!“ Jeremy wusste nicht, ob er lachen oder beleidigt sein sollte, als sein eigener Vizekapitän Dan Wilds mit Begeisterung in die Arme sprang und sie mit ihrer Leidenschaft beinahe umwarf. Die Foxes waren gerade etwas früher als geplant angekommen und so konnten sie sich noch in aller Ruhe begrüßen, bevor es in die Aufwärmphase ging. Jeremy ließ den beiden Frauen ihre Begeisterungsrunde und wandte sich an Kevin, der ihn mit einer Zurückhaltung musterte, die er seit seinen Zeiten als Raven nicht mehr gehabt hatte. Jeremy ahnte, woher diese kam, doch er dachte nicht daran, das noch ausstehende Gespräch wie eine Mauer zwischen ihnen wirken zu lassen. „Kevin Day, Lieblingsstriker“, grinste er und zog den größeren Jungen in seine Arme. „Hi, Jer“, murmelte dieser nach einem Moment des Zögerns, bevor er beinahe schon fragend seine Arme um Jeremy legte. Jeremy gönnte ihm keine Sekunde seiner Schüchternheit und zog ihn in eine schier zerquetschende Umarmung. „Ich freue mich so, dich zu sehen und nach dem Spiel mit dir zu quatschen!“ Vor drei Tagen hatte Jeremy Kevin angerufen und dem anderen Jungen ein Date aufgezwungen, zumindest, wenn man Jean danach fragte, wie besagtes Telefonat abgelaufen war. Jeremy selbst würde das Telefonat eine liebevolle Erinnerung daran nennen, dass er einen Freund sehen, mit ihm Party machen und mit ihm sprechen wollte. „Ebenfalls“, lächelte Kevin und Jeremy ließ es sich nicht nehmen, ihm unter den aufmerksamen Augen von Minyard – ganz sicher war es Andrew - durch die Haare zu wuscheln, auch wenn er sich dafür strecken musste. Verdammte, große Jungs. Apropos… Jeremy warf einen Blick zur Seite und sah, dass Jean sich bereits zu Renee begeben hatte und nun Empfänger eines liebevollen Wangenkusses wurde, der Jeremy unweigerlich an Louis‘ Schmatzer von vor ein paar Wochen erinnerte, nur dass er eben nicht halb so feucht war. Louis, der heute hier sein und die Foxes treffen würde. Auch wenn sein Backliner das verneinte, so war Jean schon seit Renee es mit Dan und ihrem Team besprochen hatte, nervös. „Neil, Andrew“, grüßte er, als er sich von Kevin löste und der blonde Junge wandte sich mit einem abschätzigen Blick ab. Seitdem Jeremy wusste, dass er Kevin seinen Schutz geschworen hatte, ahnte er, wie wenig sich Andrew mit ihnen allen auseinandersetzen würde, wenn Kevin nicht wäre. Oder Neil. Oder Jean, der anscheinend ebenfalls zum Minyardschen Schutzkreis gehörte und der ihm anscheinend feierlich und unter Androhung eines sicheren Todes überreicht worden war. Jeremy hatte Laila über ihren Besuch mit Andrew in der Eisdiele ausgequetscht, doch sie hatte auch nur das berichten können was tatsächlich passiert war. Der schweigsame Junge hatte sich zu einem Eis einladen lassen, die Portion verdoppelt und sich dann meist schweigend in den Schatten unter den großen Bäumen fallen lassen. Wie es möglich war, dass er Jean schützen wollte, gleichzeitig aber bereit war, ihn umzubringen, das war Jeremy bis heute ein Rätsel und eine zuverlässige Quelle für Alpträume, in denen er nach Jean rief und in denen ihn Andrews ausdrucksloses Gesicht bis zum Wachwerden verfolgte. „Captain Sunshine!“, holte Renee ihn aus seinen Gedanken „Regenbogenmädchen!“, grinste Jeremy wild und sie umarmten sich. „Wie ich sehe, ist Mr. Gewitterwolke gut gefüttert“, murmelte sie in sein Ohr, da Jean sich in relativer Hörweite befand. Jeremy lachte in der gleichen Lautstärke. „Ich gebe mir große Mühe, alles in ihn hinein zu stopfen, das seine Mangelernährung von Evermore wieder wettmacht“, schmunzelte er und Renee zwinkerte, als Jean misstrauisch von seiner Frotzelei mit Neil zu ihnen herübersah. Jeremy winkte und Renee knuffte ihm spielerisch gegen die Schulter. „Weiter so, Cap. Und ich freue mich darauf, dich von meinem Tor abzuhalten.“ „Als wenn du das könntest!“ „Wart’s ab, wir haben trainiert um euch wieder den Hintern zu versohlen.“ „Denkst du, wir nicht?“ Sie grinsten beide und Jeremy begrüßte den Rest des Teams, dessen Spielerinnen und Spieler ihm so sehr ans Herz gewachsen waren, bevor sie sich daran machten, sich aufzuwärmen und die letzten Spielzüge nochmals durchzugehen, während der Lärm um sie herum langsam immer und immer weiter anschwoll. Die USC-Trojan-Fans liebten die PSU Foxes beinahe so sehr, wie sie ihre eigene Mannschaft liebten und so wechselten sich jetzt schon Sprechchöre mit Motivationsrufen für beide Teams ab. Das machte Jeremy stolz auf Los Angeles und ihr College, mehr als er in Worte fassen konnte. Jeremy nahm sich die Zeit, um mit dem Publikum zu shakern und mit ihnen zu feiern, ihnen zuzuwinken und Fotos von ihnen zu machen, wie sie ihr Team anfeuerten. Deswegen sah er auch ohne Probleme Louis und seinen Vater, wie sie inmitten der Fans standen. Louis, aufgeregt und hibbelig an der Seite des Mannes, dessen Emotionen ihm klar und deutlich im Gesicht geschrieben standen. Jetzt, in diesem Moment erkannte Jeremy, dass es das erste Mal sein musste, dass Mr. Moreau seinen älteren Sohn live auf dem Spielfeld sah. Bislang hatte er ihm, so wie Jean es ihm erzählt hatte, immer nur über das Fernsehen zusehen können. Bei allem, was er Jean mit seiner Feigheit angetan hatte, litt auch er. Was deutlich zu sehen war, auch wenn er versuchte, für den jüngeren der beiden Brüder stark zu sein. Jeremy winkte und ekstatisch winkte Louis zurück und schwenkte seinen Foxes-Fanschal, während Mr. Moreau ihm ernst zunickte. Der Kleine trug ein Trikot der Trojans und Jeremy musste nicht die Rückseite des T-Shirts sehen um zu wissen, dass es Jeans Nummer war, die darauf zu finden war. ~~**~~ Jean sah auf den Frosch auf seinen Händen und wurde mit jedem Schritt, den er in Richtung Foxes tat, unsicherer. Natürlich hatte er seinen Coach und seinen Kapitän um Erlaubnis gefragt und natürlich hatten sie ja gesagt. Keiner von ihnen hatte sich aber bemüßigt gefühlt, ihn zu begleiten und so hatte er sich die Keramikkreatur gegriffen und ging über das Spielfeld sich des Blickes seines Vaters wie ein schweres Gewicht in seinem Nacken bewusst. Er war tatsächlich hier, zusammen mit Louis und es Jean konnte das Gefühl, das in ihm schwelte, wenn er darüber nachdachte, nicht wirklich beschreiben. Es war keine Freude, ganz sicherlich nicht. Aber er war aufgeregt. Jean seufzte und ließ seine Gedanken zu Abby zurückkehren, die ihn ebenso nervös machte. Es war nicht so, als würde er ihr kein Geschenk machen wollen, ganz im Gegenteil. Er hatte dieser Frau viel zu verdanken. Sie hatte ihn gesund gepflegt und sich um seine Wunden gekümmert, in ihren Augen eine ruhige Professionalität, die Jean zunächst mit der pragmatischen Sorglosigkeit der Evermoreärzte verwechselt hatte. Doch da war mehr gewesen, wie er langsam erkannt hatte. Sie hatte ihn nicht sich selbst überlassen, sondern sich um ihn gekümmert, selbst als er sie angefahren und angeschrien hatte, selbst, als er vor ihr zurückgewichen war oder nach seinen Alpträumen um sich geschlagen hatte. Sie hatte ihn in ihr Haus aufgenommen, obwohl sie sich der Gefahr aus Evermore bewusst gewesen war. Sie hatte ihn mit ihrer Sturheit dabehalten und den Grundstein dafür gelegt, dass er überhaupt überlebensfähig war. Jean schluckte. Vielleicht war der Frosch zu wenig für das, was sie getan hatte. Unter den aufmerksamen Blicken der Foxes trat er an sie heran und wartete, bis sie ihre Utensilien sortiert hatte, mit denen sie ihr Team versorgen würde. Er erinnerte sich noch gut an ihre fachkundigen Hände, die seine Wunden versorgt hatten. Und an ihre Lippen, die sich in einer Tour für die Schmerzen, die sie ihm damit teilweise zugefügt hatte, entschuldigten, als wäre sie an den Verletzungen schuld und nicht Riko. Jean hatte es zunächst nicht verstanden und dann war es ihm wie Hohn vorgekommen, bevor er schlussendlich akzeptiert hatte, dass es ihre Art war, mit schlimmen Dingen umzugehen. Abby drehte sich um und erstarrte, als sie ihn neben sich stehen sah. Überrascht weiteten sich ihre Augen und das erfreute Lächeln wärmte ihn von innen heraus. Sie musterte ihn von oben bis unten und wenn er sich nicht täuschte, dann erkannte er Stolz in ihren Augen. „Jean! Schön dich zu sehen! Gut siehst du aus! Wie geht es dir?“, gab sie ihren Gedanken eine Stimme und er nickte. „Hallo Abby“, erwiderte er zögerlich. Er war nur ein paar Monate bei ihr gewesen, doch ihre Worte hatten den Anschein, als wären sie vertraut miteinander, so als wäre er tatsächlich einer der Ihren. „Es ist okay.“ Sobald die ungelenken Worte Jeans Lippen verlassen hatten, wurde er sich bewusst, dass dem tatsächlich so war. Es war okay, noch lange nicht in Ordnung, aber okay. Er lernte, was es hieß zu leben. Er befand sich noch am Anfang dieses Lernprozesses, aber die tiefgreifende Verzweiflung und erstickende Angst, die er zu Beginn gefühlt hatte, waren nur noch selten da. Jean streckte ihr den Frosch entgegen. „Das ist ein Geschenk, als Dankeschön für alles, was du für mich getan hast. Und dafür, dass du mein Leben gerettet hast.“ Er hätte nicht erwartet, dass die Übergabe eines Geschenkes seinerseits von einer peinlichen Pause begleitet werden würde, in der sie beide auf das Tier starrten. Doch glücklicherweise hielt sich diese in Grenzen und Abby nahm die Figur behutsam in ihre eigenen Hände. Sie strahlte über das ganze Gesicht und Jean wagte, daran zu glauben, dass er die richtige Wahl getroffen hatte. Knox und er. „Oh Jean, er ist wunderschön! Ich liebe ihn!“, sagte sie begeistert und drehte das Tier ehrfürchtig so, dass sie es von allen Seiten betrachten konnte. „Das freut mich sehr“, erwiderte er und sie seufzte glücklich. „Darf ich dich umarmen?“ Wie die anderen Foxes auch fragte sie und er wusste, warum sie das tat. Er wusste, dass sie ihren Sack Flöhe in und auswendig kannte, mit allen Traumata, die die Foxes in sich trugen. Mit allen Grenzen, die damit einhergingen. Jean nickte und kaum, dass er es getan hatte, schlang sie vorsichtig ihre Arme um ihn und drückte ihn an sich, so als wäre er zerbrechlich. Jean tat, wie er es gelernt hatte und erwiderte die Umarmung. Leicht legte er seine Arme um sie. „Ich sollte das zwar nicht sagen, aber zeig’s den Foxes“, murmelte sie und er schnaubte amüsiert. „Ich werde ihnen den Hintern versohlen“, erwiderte er in der gleichen Lautstärke. „Und sie dir zum Trösten zurückschicken.“ Abby lachte laut und löste sich von ihm. „Das ist mein Junge. Ich bin stolz auf dich!“, grinste sie und barg den Frosch an ihrem Bauch. „Bis dahin werde ich mich mit meinem neuen Mitbewohner beschäftigen.“ Jean nickte und warf einen letzten Blick auf die Mannschaft, gegen die er gleich antreten würde. Sein Blick fing sich an Day, der ihn schweigend musterte und er wandte sich ab. „Danke für alles, Abby.“ „Du bist jederzeit in meinem Haus willkommen, Jean. Merk dir das, wenn du in der Gegend bist!“ Gehorsam nickte Jean. „Versprochen.“ „Gut, und jetzt zurück zu deinem Sonnenscheinteam. Sonst glauben die Foxes noch, dass du mich bestechen möchtest.“ Jean folgte ihrem Fingerzeig und hielt inne, als er begriff, dass es das erste Mal war, dass er den Foxes seit seiner Zeit in Evermore wieder gegenüberstand. Dieses Mal nicht um sie zu zerstören auf Rikos Befehl hin, sondern um gegen sie zu spielen und zu gewinnen, ohne Hintergedanken. Er musste niemanden foulen, er musste keine dunklen Details ausgraben um die Spieler aus der Fassung zu bringen… nichts. Sein Trainer verlangte einfach, dass er sein Bestes gab. „Was ist los, Moreau? Angst?“, riss Neil ihn aus seinen Gedanken und Jean schnaubte verächtlich. „Wovor?“, rief er zurück und Neil klopfte grinsend mit dem Schläger auf den Boden. Jean lächelte und er legte alles, was er an Herausforderung zu bieten hatte, in diese Geste. Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich erwarte dich. Komm, wenn du dich traust, Josten.“ Dass Neil zu ihm kommen würde, dessen war er sich sicher. Dass es ein harter Kampf werden würde – ebenfalls. ~~**~~ Dass der Kampf hart werden würde, hatte Jeremy erwartet, aber dass er noch nicht einmal Zeit haben würde, nach Luft zu schnappen und zu atmen, war dann doch etwas über dem Ziel, das er sich für das heutige Spiel gesetzt hatte. Sie schenkten sich nichts, rein gar nichts. Kein Millimeter des Spielfeldes blieb unumkämpft und keine Ecke des Stadions wurde nicht als Möglichkeit genutzt, dem Gegner auszuweichen, den Ball abprallen zu lassen oder sein Gegenüber gegen eine der Plexiglaswände zu checken. Alles getragen von dem Lärm ihrer Zuschauer, die mit jeder fortschreitenden Minute ekstatischer wurden und sowohl den Trojans als auch den Foxes ihre Punkte gönnten. Aus dem Augenwinkel heraus sah Jeremy, wie ihre jeweiligen Cheerleadersquads ganze Arbeit leisteten, die er aber nicht eine Sekunde lang würdigen konnte. Eine Sekunde Unaufmerksamkeit bedeutete Ballverlust. Unaufmerksamkeit bedeutete Deckung von alle Seiten und einen Kampf um den Ballbesitz, wie Jeremy ihn selten erlebt hatte. Sie hatten alle Hände voll zu tun und das Spiel war auf dem Spielfeld und insbesondere auf ihrer Mannschaftsbank eine Zerreißprobe für die Nerven, wie er sie so noch nie erlebt hatte. Die Trojans waren perfekt aufeinander eingespielt und zeigten das auch – ebenso wie die Foxes. Andrew und Renee lieferten fantastische Leistungen im Tor ab und Jeremy schrie jedes Mal auf, als es ihm gelang, den Ball in das gottverdammte Viereck zu befördern. Nicht, dass es oft gewesen wäre. Die Verteidigungslinien ihrer beider Teams standen und bildeten schier unüberwindliche Mauern. Jean, Mayson und Ellie machten das Tor dicht und ließen weder Josten noch Kevin durch. Letzteren überhaupt nicht und so konnte Jeremy nur fassungslos zuschauen, wie Jean und Kevin automatisch in Raventaktik verfielen, wenn sie aufeinandertrafen. Dass sie sich nichts schenkten, hatte Jeremy erwartet, dass sie aber ruchlos, erbarmungslos und an der Grenze zu legalen und illegalen Checks gegeneinander Krieg führten, ließ ihn doch schwer schlucken. Mit Josten tat Jean das Gleiche und auch der schnelle Striker der Foxes kannte wenig Mitleid mit seinem französischen Gegner. So jagten sie sich Punkt um Punkt ab, schafften es immer wieder auf einen Gleichstand und Jeremy glaubte, dass sein Herz stehen bleiben würde, als sie sich der letzten Minute des Spiels näherten und alles gaben. Er selbst spürte nichts mehr in seinem Körper, der ein einziger Schmerzball war. Er war nur noch, diente dazu, seinen Schläger zu halten und irgendwie zu versuchen, noch ein Tor zu machen, eins mit dem Spielfeld und der Mannschaft. Die Menge auf den Zuschauerbänken tobte und feuerte sie an, der Lärm beinahe unerträglich laut. Das Meer aus Rot und Gold war sein Zuhause und dem wollte er gerecht werden. Für sie, für seine Mannschaft, für sich selbst wollte er alles geben und das tat er auch. So wie die Foxes auch, die in den letzten Sekunden den Durchbruch schafften und ihr Tor rot aufleuchten ließen. Nur Sekunden später ertönte die Sirene und noch nie war sie Jeremy so final vorgekommen. So…unpassend. Das Spiel konnte noch nicht vorbei sein, sie mussten doch noch dagegenhalten, sie würden… Plötzlich und abrupt überkam ihn das Wissen, dass die Foxes gewonnen hatten. Ein einziger Punkt, kurz vor Schluss. Kevin war es, der Alvarez‘ Linie halb durchbrochen und von einer schier unmöglichen Weite aus auf ihr Tor gezielt hatte. Jeremy sah, wie Ajeet am Boden lag, fluchend, er sah Ellie und Mayson, die wie Steinstatuen daneben standen und wie er auch erst einmal begreifen mussten, dass sie verloren hatten. Auf der Bank raufte sich Rhemann seine kurzen, schwarzen Locken und warf den Kopf nach hinten. Neben Jeremy stand Jean, der stumm auf den Punktestand starrte, eine Augenbraue erhoben. Sie hatten verloren und das Stadium war für einen Augenblick mucksmäuschenstill. Dann jedoch klatschten ihre Zuschauer, langsam, rhythmisch, dann immer und immer schneller. Die Foxes-Fans jubelten dazu und Jeremy ließ sich unter der dröhnenden Geräuschkulisse dort, wo er stand, zu Boden fallen. Es war vorbei. Neunzig Minuten kameradschaftliche Hölle waren vorbei und sie hatten ein exzellentes Spiel verloren. Jeremy konnte das noch nicht einmal bedauern. Natürlich wünschte er den Trojans, dass sie gewannen. Er wollte gewinnen. Aber so verdient hatte gewonnen hatte selten eine Mannschaft und das gönnte er den Foxes. Von ganzem Herzen. Er gönnte ihnen ihre ursprüngliche, losgelöste Freude, mit der sie nun selbst ihren Sieg begriffen. Also dann, wenn es irgendwann wieder einmal genug Sauerstoff in seinen Blutkreislauf pumpen würde, damit er normal atmen konnte. ~~**~~ „Habt ihr extra verloren, damit meine Lieblingsmannschaft gewinnt?“ Jean sah blinzelnd auf Louis hinunter, der komplett in Orange, Weiß, Rot und Gold mit seinem Trikot und seiner Nummer vor ihm stand ihn stolz angrinste, sein Buch wie einen kostbaren Schatz vor seiner Brust geborgen. Er fand sich in der Frage seines kleinen Bruders durchaus wieder, das konnte er nicht verneinen, schließlich hatte er Knox vor ein paar Tagen Selbiges unterstellt. Allerdings konnte er diese Frage nach dem heutigen Spiel getrost mit einem Nein beantworten. Sein Team war nicht nur gut gewesen, sie hatten herausragend gespielt. Ebenso wie die Foxes und das Match war fair gewesen. Jean hätte selbst nicht sagen, wer es schlussendlich für sich entscheiden würde und so rümpfte er zwar die Nase über den Sieg der Foxes, allerdings tat er das nur aus dem Grund, da sein eigener Ehrgeiz ihn hatte gewinnen sehen wollen. Sie. Die Trojans. Seine Mannschaft. Jean seufzte innerlich und schüttelte den Kopf. „Nein, haben wir nicht“, betonte er und warf einen bedeutungsschwangeren Seitenblick zu seinem Kapitän, dessen Nicken er in seinem Augenwinkel durchaus gesehen hatte und der erst vor ein paar Minuten zusammen mit Josten aus der Pressekonferenz gekommen war – mit hochrotem Kopf. „Knox lügt.“ Louis riss die Augen auf, war aber von seiner Freude nicht abzubringen. „Man soll nicht lügen!“, lehrmeisterte er und eben jener protestierte lautstark. „Ey! Verbünden gilt nicht!“ Jean kam um eine Antwort drumherum, als nun die Foxes ihre Umkleidekabine verließen und ins Foyer kamen, ganz zu Louis‘ ehrfürchtigem Staunen. Die Autogramme der Trojans hatte er sich schon eingeheimst und Jean freute sich jetzt schon darauf, ihnen ihre offen in den Gesichtern stehenden Fragen zu beantworten. Ja, der Kleine war sein Bruder. Nein, er mochte die Trojans nicht so gerne wie die Foxes. Nein, sie beide zusammen waren ganz und gar nicht süß, wie es Ajeet quietschend entflohen war, als Louis mit weit geöffnetem Mund an ihm hochgesehen hatte. Die kleine Kinderhand, welche sich nun in seine schob, war Jean vertrauter, als er es wirklich wahrhaben wollte und er schluckte. Louis zog sacht daran. „Kommst du mit?“, fragte er und was blieb Jean anderes übrig, als diesem hoffnungsvollen Wunsch zu entsprechen? So ließ er sich mitziehen, auch wenn seine Beine nach dem Spiel nicht mehr so ganz wollten wie er. Das war ein gutes Zeichen, denn Jean fühlte sich so gefordert wie schon lange nicht mehr. Knox folgte ihnen wesentlich langsamer und in gebührendem Abstand. Danielle Wilds war die Erste, die auf sie beide aufmerksam wurde und ihr breites Grinsen ließ Louis sich im ersten Moment hinter Jeans Oberschenkeln verstecken. Wenn er es richtig in Erinnerung hatte, dann war Louis heillos in sie verschossen. Umso begeisterter war er nun, als sie ihm die Hand entgegenstreckte. „Hi! Du musst Louis sein, oder? Freut mich, dich kennen zu lernen!“ Die anfängliche Schüchternheit war wie verflogen, als Louis einschlug und sie begeistert anstarrte. „Du bist cool!“, presste er schließlich hervor. „Nein, supercool!“ „Sie ist ja auch ein Superkapitän“, mischte Renee sich ein und Jean konnte sich ein minimales Lächeln nicht verkneifen. „Und du hast tolle Haare.“ „Findest du?“ Louis nickte begeistert und Jean konnte dem nur beipflichten. Die bunten Haare waren auch schon zu Beginn das gewesen, was ihm an Renee am Ehesten aufgefallen war. „Du siehst aus wie ein Regenbogenengel!“ Jean hatte Renee noch nie erröten sehen. Bis jetzt. „Du wirst garantiert mal ein ganz toller Charmeur“, lachte Allison und Louis zog an Jeans Hand. „Was ist das?“, fragte er mit großen Augen und Jean wusste tatsächlich ebenfalls nicht so recht, was damit gemeint war. Hilfesuchend irrte sein Blick zu Renee. „Jemand, der sehr freundlich, lieb und nett zu anderen Menschen ist“, half sie ihm aus und das amüsierte Räuspern in seinem Rücken seitens Knox sagte ihm, dass vielleicht noch etwas anderes dahintersteckte. „Ich bin immer lieb und nett und freundlich! So wie ihr! Ich habe sogar ein Buch über euch, weil ihr so toll seid“, präsentierte Louis seinen Schatz mit einem stolzen Grinsen und Jean überließ ihn den jungen Frauen, froh, für einen Moment aus dem Fokus dieser unheiligen Begegnung zu sein. Dafür war er im vollen Fokus von Day, dessen brennender Blick sich bis in sein Innerstes bohrte. Oh, Jean wusste sehr deutlich, was in den Gedanken des Exyprinzen stand. Er konnte es nur zu gut auf dessen Gesicht ablesen. Die Erleichterung, dass Jean ein weiteren Anker hatte um glücklich zu werden. Die Erleichterung, dass Jean seine Familie wiederhatte. Als wenn es so einfach wäre. Jean erwiderte das Starren und spürte wie immer, wenn er an Day dachte, Wut in sich. Wie so oft fragte er sich, ob er Days Angebot, sein umfassendes Schuldeingeständnis zu veröffentlichen, nicht hätte annehmen sollen. Ob ihn das eher befriedigt hätte als das, was er jetzt hatte, nämlich nichts außer Days Bedauern, das an den Rändern seiner Selbstbeherrschung kratzte. So wie jetzt. „Ihr seid gar nicht groß und doch so gut und stark“, riss ihn Louis‘ Stimme aus seinen dunklen Gedanken und abrupt suchte Jean den Jungen, der sich in seiner geistigen Abwesenheit zu Andrew und Aaron vorgearbeitet hatte, die nun beide auf ihn hinunterstarrten. Noch, mochte Jean meinen. Er gab seinem Bruder noch drei Jahre, dann wäre das Größenverhältnis vermutlich umgekehrt. Er blinzelte und wurde sich erst jetzt bewusst, was Louis gesagt hatte. Ein Lächeln drohte seine Lippen nach oben zu ziehen. „Nicht anfassen, nur gucken“, sagte er, als Louis‘ Hand sich hob, um Andrews Unterarme, vielmehr die schwarzen Armbänder dort, zu berühren. Louis zuckte zurück und Andrew legte den Kopf schief. „Was möchtest du wissen?“, fragte der blonde Junge ruhiger, als Jean ihn je erlebt hatte und Louis lächelte verlegen. „Ist dir nicht warm? Es ist superwarm hier und du trägst sie immer.“ „Ich trage sie gerne.“ „Nimmst du sie denn auch mal ab?“ „Öfter.“ „Ist da ein Geheimnis drunter?“ Zu Jeans Überraschung nickte Andrew. „Das Geheimnis, wie ich so stark geworden bin“, erwiderte er und ungebeten überkamen Jean Erinnerungen an den Arzt, der eben diese Zeichen der Stärke entweiht hatte. Jean hatte sie von Nahem sehen müssen, weil Riko sie sich mit ihm anschauen wollte. Sein raubtierhaftes Lächeln hatte Jean damals versprochen, genauso mit ihm zu verfahren. Ihm erst die Arme aufzuschlitzen und dann die Wunden nochmal Stück für Stück aufzureißen. Abrupt löste sich Jean aus seinen dunklen Erinnerungen und Louis wandte sich währenddessen an Neil. „Und du bist der orangene Blitz! Ich habe einen Superhelden, der so ist wie du, und er beschützt mich jede Nacht! Mich und den Bärenjean.“ Neil hob die Augenbraue, vielsagend und viel zu amüsiert. „Der Bärenjean?“ Louis nickte. „Ich habe einen Teddybären und der hat Jeans Trikot an. Also ist es der Bärenjean und ich kuschele ihn jede Nacht, damit er nicht alleine ist.“ Bislang hatte Jean das Gefühl, peinlich berührt zu sein, noch nicht oft kennengelernt. Das holte er gerade mit einem Schlag komplett nach und er spürte, wie die Blicke dieser Hyänen eines verdammten Junkieteams auf ihm ruhten und sich ihre Gedanken machten. Und ihre Notizen. Vielleicht sollte er heute noch aus ihrem Chat austreten und sie alle blockieren, damit er sich nicht ihre dummen Sprüche anhören müsste. Und sich nicht mit ihnen heute Abend treffen. Und sie nicht morgen durch die Stadt führen. Jean seufzte. „Und ich, also meine Superheldenform, passt auf euch beide auf?“ „Ja!“ „Das ist ziemlich cool!“ „Ja, deswegen ist dem Bärenjean und mir auch noch nichts passiert. Wo Jean schon so weit weg von euch spielt, musst du wenigstens zuhause auf uns aufpassen!“ Stolz strahlte Louis und trat von einem Fuß auf den anderen. Verschämt sah er in die Runde und dann wieder zu Jean. „Würdet ihr alle unterschreiben und könnte ich ein Foto bekommen?“ Wer waren die Foxes und auch Jean und Knox, dass sie sich diesen charmanten Wünschen nicht beugten? ~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 38: Sex and the City ---------------------------- Jeremy hatte ein Problem. Das Problem war annähernd zwei Meter groß, hatte dunkelbraune Haare, graue Augen, trug diese verdammte hinternbetonende Hose und dieses noch viel verdammenswertere Shirt und seine gottverdammte Sonnenbrille. Als würde das nicht reichen, starrte eben jenes auf zwei Beinen wandelnde Problem in die untergehende Sonne und ließ Jeremys Augen immer wieder zu ihm zurückkehren, als wäre da irgendwo ein unsichtbarer Magnet. Sonnenbrillenfetischist, hatte Laila ihm spöttisch zugeraunt, als sie ihn dabei erwischt hatte, wie er zum wiederholten Male zu Jean sah und Jeremy hatte es tatsächlich geschafft, für ein paar Minuten mal nicht hinzuschauen. Auf lange Sicht gesehen aber ohne Erfolg. Er hatte tatsächlich einen Sonnenbrillenfetisch und Jean hatte keine Ahnung, wie gut ihm diese Brille stand. Überhaupt gar nicht. Im Gegensatz zu Jeremy, der sich wiederholt für seinen Fetisch verfluchte, auf große, gut gebaute Männer zu stehen, deren Sonnenbrillen ihnen etwas gefährlich Arrogantes verlieh. Was für ein kitschiger, klischeehafter Schmu, hörte er Alvarez in seinen Gedanken sagen und rollte über sich selbst die Augen. Aber wenigstens teilten die Foxes seinen Fetisch, wenn er sich daran zurückerinnerte, wie überschwänglich johlend sie Jeans Aussehen aufgenommen hatten. Seufzend nahm Jeremy einen Schluck Bier und war beinahe schon froh, als Jean seine Brille abnahm, um besser mit Neil über das vergangene Spiel diskutieren zu können. Exyjunkies, alle beide. Andererseits war Jeremy auch froh um die Ablenkung, die die Beiden sich verschafften. Jean kam zwar immer mit, wenn sie an den Strand gingen, aber er fühlte sich immer noch wohler mit dem Rücken zum Wasser. Für Neil war der Strand wohl ebenso wenig eine gute Erfahrung, wenn er Jeans Worten Glauben schenkte. Jeremy hatte das akzeptiert, aber nicht weiter nachgefragt, so war er froh darum, dass die Beiden so sehr in ihren Diskussionen versunken waren, dass sie sich entspannen konnten. Zumindest hoffte Jeremy das bei den Beleidigungen, die unweigerlich ausgetauscht wurden. Kevin war da ein anderes Thema. Fernab von Jean saß er neben den Zwillingen und Nicky und trank sein eigenes Bier, den Blick starr auf das Meer gerichtet. Jeremy zögerte, bevor er sich erhob und die Schultern straffte. Er wollte Kevin Gesellschaft leisten, selbst wenn er dafür die Anwesenheit und eventuell kommende Drohungen des blonden Jungen in Kauf nehmen musste. Er atmete tief durch und kam mit einem versichernden Lächeln zu den Vieren. „Darf ich?“, fragte er tapfer und fixierte sich auf Kevin, der mit einem Lächeln nickte und neben sich auf den Sand klopfte. „Setz dich, Cap.“ Jeremy lachte und ließ sich fallen. „Auf euren Sieg!“, prostete er und zumindest Kevin ging darauf ein. Andrew – wenn Jeremy sich nicht täuschte – rollte nur mit den Augen, während sein Zwilling und Nicky in ein Gespräch über etwas vertieft waren, was sich auf einem der Smartphones befand und ihn rigoros ignorierten. „Ihr wart großartig“, lobte Kevin und Jeremy schmiegte sich grinsend an seine Schulter. „Sagt derjenige, dessen Spiel wie immer ausgezeichnet und fehlerlos war“, gab er zurück und Andrew – ganz sicher war er es – machte angewiderte Würgegeräusche. „Nehmt euch ein Zimmer“, schnarrte er und Kevin grollte. „Hör weg, wenn’s dir nicht passt.“ Jeremy legte ihm eine Hand auf den Unterarm. „Kevin…es ist doch okay“, beschwichtigte er und erntete dafür gleich zwei wenig erfreute Blicke. „Ich stehe nicht auf Fanboygesülze“, schnarrte Andrew und erhob sich. Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er weg und Jeremy schluckte. „Habe ich ihn jetzt vertrieben? Ist alles in Ordnung mit ihm? Habe ich etwas gesagt, das ihn verletzt hat?“, fragte Jeremy besorgt, doch Kevin winkte ab. „Er ist müde und grantig.“ Jeremy wollte den Mund öffnen um etwas zu sagen, doch Kevin ließ seinen Kopf auf seine Schulter fallen und grimmte unbestimmt. Jeremy seufzte und ließ ihn, bettete im Gegenzug auf seinen Kopf auf den des anderen Jungen. „Geht’s dir gut?“, fragte er schließlich und Kevin zuckte mit den Schultern. Etwas umständlich nahm er einen Schluck Bier und malte mit seiner freien Hand Kreise in den Sand. „Es ist okay.“ „Nur okay?“ Kevin nickte. „Weißt du…“ Er stockte und schluckte dann. „Er fehlt mir. Sein Humor fehlt mir, seine Anwesenheit. Seine Ironie. Ich würde ihn gerne lachen sehen wollen. Aber das wird er nicht mehr und ich weiß nicht, was ich mit dem Schmerz und der Schuld in mir machen soll. Ich hasse mich dafür, was ich ihm angetan habe.“ Jeremy legte schweigend einen Arm um Kevin und zog den anderen Jungen an sich. Er konnte beide Seiten verstehen. Er verstand, warum Jean Kevin so sehr hasste, er verstand aber auch Kevins Verzweiflung. Ob es eine Lösung dafür gab? Jeremy hoffte auf Gespräche, aber er glaubt schon jetzt nicht, dass Jean jemals dazu bereit sein würde. „Wenn wir gegeneinander spielen, ist es so wie früher. Wir harmonieren so gut zusammen und auch gegeneinander. Ich vermisse es so sehr!“ Harmonieren würde Jeremy das nicht nennen, was zwischen den Beiden während ihrees Spiels vorgefallen war, doch er brachte es nicht übers Herz, Kevin in diesem Punkt zu widersprechen. „Gib ihm Zeit, Kev. Gib euch Zeit. Es gibt Dinge, die lange brauchen um zu heilen…das geht nicht innerhalb von Monaten.“ „Manche Dinge heilen nie, Jer. Wirklich nicht.“ „Wenn er etwas wirklich will, dann ist er stur. Du solltest mal seinen gruseligen Blick sehen, wenn er weiß, dass man ihm etwas vorenthält und er dann wartet, dass man ihm die Wahrheit sagt. Schweigend und stur, ich sag es dir… wenn er es will, dann wird es heilen.“ Kevin schwieg und gemeinsam starrten sie in den Sonnenuntergang. „Es wird sich alles finden, Kev“, murmelte Jeremy. „Er wird mit jedem Tag mehr zu einem südkalifornischen Sonnenschein und irgendwann haben wir alle Dunkelheit in ihm vertrieben.“ Er formulierte es bewusst naiv, denn manche Dinge, manche Erinnerungen würden sich niemals auslöschen lassen. Jeremy wusste das nur zu gut, schließlich tauschte er immer noch regelmäßig seine Bettdecke mit Jean. Schließlich passte er auf, wenn er ein Messer aus dem Messerblock zog, dass der andere Junge nicht in der Nähe war. Schließlich gab es auch jetzt noch Tage, an denen Jean es nicht schaffte, sich seine Haare zu waschen oder nicht vor ihm zurück zu weichen, wenn er in Gedanken war oder ihn erst zu spät bemerkte. Die anfängliche Angst war beinahe ganz verschwunden, allerdings würden diese Dinge immer da sein. Egal, wie sehr sie sich anstrengten, es Jean leichter und erträglich zu machen. „Deine Freundin ist im Übrigen gruselig“, wechselte er das Thema und Kevin schnaubte. „Wieso?“ „Sie war hier und wollte Jean sprechen. Dass sie mich nicht einfach aus dem Weg geschoben hat, war auch alles.“ Kevin lachte. „Theodora kann sehr bestimmend sein, wenn sie etwas will, das ist richtig.“ „Ich fürchte mich vor der Vorstellung, dass du, sie und Jean mir auf dem Spielfeld gegenüber stehen und ich durch eure Verteidigung durchmuss um vielleicht mal das Tor zu erspähen.“ Kevin hob zweifelnd eine Augenbraue. „Das wirst du mühelos schaffen.“ Jeremy lachte. Würde er nicht. Es wäre ein Stück harte Arbeit, aus dem er nicht herauskäme ohne Federn zu lassen. Der andere Junge straffte sich und sah ihn an. Jeremy blinzelte und wich automatisch zurück, damit sich seine Augen nicht verdrehten. „Allerdings habe ich heute durchaus noch Verbesserungspotenzial in deinem Spiel gesehen, Jer. Also du hast…“ Mit einem sanften Serienkiller-Schhh hielt Jeremy seinem Gegenüber den Mund zu. „Hier wird nicht analysiert, Kevin Day. Wir alle haben Feierabend und genießen die Nacht am Strand.“ Die grünen Augen maßen ihn empört, doch auch Jeremy hatte seine ganz eigene Sturheit, die er vorweisen konnte. ~~**~~ Unzufrieden starrte Jean auf seinen Kapitän und Day, wie sie am Strand saßen… wie eines dieser Pärchen, die er so oft sah, wenn sein Team hierhin ging. „Ficken die Beiden miteinander?“, fragte er und der Junge neben ihm hielt in seiner momentanen Bewegung inne, mit der er seine Flasche Bier zum Mund führte. Der kaum bemühte Seitenblick zeigte ihm, wie sehr er Andrew doch kalt erwischt hatte mit seiner Frage. „Solch dreckigen Worte aus deinem Mund“, spottete eben jener schließlich und Jean runzelte die Stirn. „Dreckig?“, echote er fragend und hatte nun die volle Aufmerksamkeit des blonden Torhüters. „Willst du sagen, dass ficken zu deinem normalen Wortschatz gehört?“ Jean konnte immer noch nichts mit Andrews Worten anfangen. „Aber so heißt es doch, wenn zwei Menschen miteinander…“, er machte eine allumfassende Handbewegung. „…ficken.“ Andrew musterte ihn über die Dunkelheit hinweg durchdringend, sein Gesicht von den mitgebrachten Laternen und dem Lagerfeuer in warmes Rot getaucht. Dann schien er zu begreifen und hob die Augenbraue. „Dafür gibt es auch andere Begriffe, die weniger vulgär sind“, erwiderte er bedeutungsschwanger und Jean senkte den Blick auf seinen eigenen Becher mit Wasser hinunter. Natürlich kannte er die nicht. Er hatte sie nie nachgeschlagen, weil es auch nicht wichtig war und er sie bisher nicht gebraucht hatte, das Thema immer wieder beiseite schiebend. „Die kenne ich nicht“, gab er das Offensichtliche zu und Andrew wandte sich wieder zurück zum dunklen Meer, das ihnen nur durch das omnipräsente Rauschen zu verstehen gab, wo sie sich befanden. Er ließ seine Bierflasche kreisen, die sicherlich nicht die Erste am heutigen Abend war. Jean kam nicht umhin, sich zu fragen, warum jemand wie Andrew, der soviel Wert auf Kontrolle legte, sich einem Stoff hingeben konnte, der für Kontrollverlust sorgte. „Das Bett miteinander teilen“, sagte eben jener in seine Gedanken hinein und Jean brummte in Anerkennung dessen. „Kopulieren“, fuhr Andrew fort und Jean lauschte dem unbekannten Wort. Das klang seltsam und steif. „Miteinander schlafen.“ Jean runzelte die Stirn. „Aber Knox und ich schlafen miteinander“, erwiderte er zweifelnd ob der Wortwahl des Foxes und Andrew wandte ihm langsam, aber interessiert den Kopf zu. „Ihr schlaft miteinander“, wiederholte er und Jean konnte sich den latent drohenden Unterton nicht erklären, der seine Nackenhaare stehen ließ. „Ja, in einem Raum. Wie es die anderen Trojans mit ihren Zimmernachbarn auch tun. So nennt man das doch?“, hakte Jean verständnislos nach und erst nach ein paar Augenblicken löste sich Andrew aus seiner intensiven, kritischen Musterung. Kurz zogen sich die Lippen zu einem Lächeln nach oben. „Der Begriff ist doppelt belegt“, sagte er dann schlicht und Jean verzog die Lippen. „Wie soll ich dann wissen, wann was gemeint ist?“ „Kontext.“ Jean verfiel in brütendes Schweigen, die Gedanken auf die Vergangenheit gerichtet. Neil und Andrew kamen ihm in den Sinn und die Verbundenheit, die ganz klar zwischen den Beiden erkennbar war. Die sexuelle Anziehung. Jean hatte gelernt, diese Blicke zu erkennen und zu fürchten, bedeuten sie doch nichts Gutes für ihn. Jedes Mal, wenn sich Menschen auf diese Art ansahen, war er erleichtert, nicht Teil des Ganzen zu sein. „Schläfst du mit Josten?“, fragte er schneller, als er seine Gedanken davon abhalten konnte und Andrew schnaubte. „Neugier ist des Franzosen Tod“, wich der blonde Junge aus. „Kannst du das noch, nachdem, was passiert ist?“, fragte Jean dennoch, seine Wortwahl jedoch vorsichtig und beschönigend. Er hatte Andrew dessen Vergangenheit schon direkter ins Gesicht geschleudert, aber die Stimmung wie auch die Anwesenheit ihrer beider Teams hielt ihn davon ab, auch wenn sie nicht in Hörweite waren. Andrew blieb stumm und Jean gewann mit jeder verstreichenden Sekunde den Eindruck, als würde er einfach durch Warten keine Antwort mehr erhalten. Dann nahm der blonde Junge ein Schluck aus seinem Bier, leerte es schließlich ganz und grub die leere Flasche in den Sand. „Ja, ich kann, mit Grenzen. Beiderseitig“, erhielt Jean seine knappe Antwort, die ihn erst einmal darüber nachdenken ließ, was es bedeuten mochte. „Bist du wegen ihnen schwul geworden?“, fragte er schließlich aus Ermangelung einer besseren Formulierung und nun hatte er Andrews ungeteilte Aufmerksamkeit. Dass das nicht gut war, sah Jean an dem Hass, der hinter dem vermeintlich warmen Braun seiner Augen schimmerte. Er sah es ebenso an den Händen, die sich krümmten, als wollten sie Jean würgen. „Wie bitte?“ Eine schlichte Frage, deren Antwort jedoch alles andere als schlicht war. Jean schluckte. Durch das Messer, das Andrew ihm damals an den Hals gehalten hatte, hatte er sich nicht so bedroht gefühlt wie durch diese zwei Worte. „Ich meine…haben sie dich dazu gebracht, das zu mögen, was sie mit dir gemacht haben? Also nur das zu mögen und nichts Anderes…also Frauen?“ „Ich habe nichts von dem gemocht, was sie getan haben“, sagte Andrew so leise, dass Jean es beinahe überhört hätte. Dass seine Frage falsch gewesen war, erkannte er, aber er wusste nicht warum. „Warst du also vorher schon so?“, versuchte er sich zu erklären. „So?“ Jean deutete schweigend auf Neil und Andrew folgte seinem Blick. Beinahe schon war er erleichtert, dass die brennenden Augen des Anderen nicht mehr auf ihm ruhten. „Schwul, meinst du?“, hakte Andrew schließlich gepresst nach und Jean nickte abgehackt. „Warum willst du das wissen?“ Aus Interesse. Das war die einfache Antwort. Weil er sich niemals darüber Gedanken gemacht hatte, wie es mit ihm aussah. Weil er sich nie sichere Gedanken hatte machen können und nun vor der Frage stand, ob es für einen normalen Menschen auch dazu gehörte, sich bewusst zu sein, was er war und warum er es war. „Ich weiß nicht, was ich bin“, gestand Jean schließlich ein und malte mit seinem Zeigefinger schattenhafte Kreise in den Sand. „Ich weiß nicht, wie man dazu wird.“ Andrews Augen kehrten zu ihm zurück und Jean wünschte, dass sie es nicht getan hätten. Mitleidslos und beinahe schon apathisch wurde er seziert und Jean hätte gut und gerne die Zeit zurückgedreht, wenn er gekonnt hätte. Das Thema war kein Gutes und was ihn geritten hatte, es anzuschneiden, konnte er im Nachhinein nicht sagen. „Es ist einfach da. Schon in der Kindheit. Du entscheidest dich nicht willentlich dafür oder dagegen, sondern bist einfach so, wie du bist. Niemand kann es in dich hineinficken oder dir anerziehen. Niemand.“ Jean ließ sich die ruhigen Worte durch den Kopf gehen und dachte auf ihnen herum, zog Vergleiche zu anderen Vorlieben, die er schon seit seiner Kindheit hatte. Viele von ihnen waren verschwunden, während er im Nest gefangen war. Ein paar waren bis heute geblieben. „Und woher wusstest du dann, dass du Männer und keine Frauen bevorzugst?“, fragte Jean schließlich. „Jugendstrafvollzug.“ Jean blinzelte fragend. „Dort gab es einen Jungen. Er war heiß, er machte mich an, ich blies ihm einen und fand es geil.“ Jean starrte Andrew an und war froh um die Dunkelheit, die seine beginnende Röte auf den Wangen überdeckte. Das waren mehr Informationen, als er wirklich hatte haben wollen. Peinlich berührt wandte er den Blick ab und grub seine Zehen in den nun kühlen Sand. „Männer oder Frauen?“, kam die unausweichliche Frage und Jean zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“ „Willst du es ausprobieren?“ Wiederum zuckte er mit den Schultern. „Ich denke nicht, dass ich das kann.“ „Wieso nicht?“ „Wegen ihnen und den Erinnerungen.“ „Du kannst lernen um sie herum zu arbeiten.“ „Ist das das, was du mit Josten machst?“ Andrew schwieg und für einen Augenblick lang sahen sie beide zu dem Jungen mit der viel zu großen Klappe, der mit Alvarez zusammen Exydrills im Sand machte und zusammen mit ihr lachte. Jean rollten sich bei der Nachlässigkeit der Bewegungsabläufe die Zehennägel hoch, doch er kam nicht umhin, amüsiert den Kopf zu schütteln. „Was ist mit Knox?“, fragte Andrew schließlich und Jean sah fragend auf ihn hinunter. „Er ist schwul“, erwiderte er und erhielt ein Augenrollen für seinen anscheinend nicht produktiven Kommentar. „Echt? Überraschung Überraschung. Weiß ja auch nicht schon jeder. Findest du ihn attraktiv?“ Jean zuckte zusammen. Die Vorstellung, seinen Kapitän auf irgendeine Art und Weise zu begehren, machte ihm Angst. Irrationale Angst, dass dieser diese Schwäche dazu nutzte, um ihm andere aufzuzwingen. Jean wusste, dass es nicht dazu kommen würde und dennoch konnte er das Gefühl nicht abschütteln. „Warum fragst du das?“, lenkte er sich von seinen Gefühlen ab und Andrew schnaubte. „Weil du eifersüchtig bist.“ Jean glaubte, sich verhört zu haben. „Nein?“ Andrew lächelte freudlos. „Klar.“ Jean grunzte unzufrieden. „Auf Knox?“ „Eher auf den anderen Idioten.“ „Mir scheint, dass Jostens Dummheit auf dich abgefärbt hat.“ Bevor Andrew antworten konnte, kam Laila zu ihnen und ließ sich mit einem Lächeln neben ihnen nieder. Jean brachte es nicht übers Herz, sie wegzuscheuchen und überraschenderweise war Andrew ebenso wenig geneigt, ihr seine schlechteste Seite zu zeigen. Das mochte daran liegen, dass sie ihm, kaum, dass sie saß, ein Eis hinter ihrem Rücken hervorzauberte und es Andrew reichte. Jean sah dem Bestechungsversuch überrascht zu. Woher auch immer sie das hatte. Aber es wirkte. „Junkie“, murmelte Jean zynisch und Andrew zeigte ihm seinen Mittelfinger. ~~**~~ „Was bist du für ein sexy Biest, Moreau?!“ Zweifelnd sah Jean an Renee vorbei in das altertümliche Motelzimmer, das sich das Regenbogenmädchen mit Reynolds und Wilds teilte. Der Defensive Dealer stand hinter Renee und stemmte nun eine Hand in die Hüfte, als sie ihn von oben bis unten maß und anerkennend pfiff. „Wer hätte gedacht, dass aus dem garstigen Raben mal ein California Surferboy mit Aristokratencharme wird?“ Zu sagen, dass Jean mit ihren Worten nichts anfangen konnte, wäre untertrieben gewesen. Er war sich noch nicht einmal sicher, ob sie überhaupt seine Sprache gesprochen hatte. Entsprechend kritisch musterte er erst sie und dann Renee, die amüsiert lachte und ihn hineinwinkte. „Komm rein und stör dich nicht an ihr.“ Er tat wie ihm geheißen und stand schließlich unschlüssig in dem plüschigen Dreibettraum, in dem es anscheinend eine Klamotten- und Parfumexplosion gegeben hatte und beinahe so aussah wie am ersten Tag in seinem gemeinsamen Apartment mit Knox. Eben jener hatte ihn vor ein paar Minuten hier abgesetzt und gewartet, bis Jean das Zimmer gefunden hatte, bevor er mit einem Winken wieder losgefahren war. Gerade jetzt hatte er das Gefühl, dass er ihn alleine in die Höhle des Löwen hatte gehen lassen. Er schluckte schwer und steckte die Hände in seine Taschen. Allison stemmte ihre in die Hüften und musterte sie beide mit ihrer latenten Arroganz. „Was heißt hier „stör dich nicht an ihr“? Ich kann so einen attraktiven und gut gekleideten Mann doch nicht einfach unkomplimentiert lassen!“, grimmte sie, ihn mit ihrem Zeigefinger vermessend, und Jean rollte mit den Augen. „Allerdings könntest du etwas mit deinen Haaren machen, Moreau. Dieser Mopp auf deinem Kopf ist alles andere als ordentlich und so, wie du ihn dir gestern Abend immer wieder aus den Augen gestrichen hast, nervt er dich auch langsam, oder?“ Damit hatte sie durchaus Recht. Jeans Haare wurden zu lang und fielen ihm ständig ins Gesicht, wenn er so wie heute seine Beanie nicht trug. Er fand jedoch nicht den Mut, zu einem Friseur zu gehen und so wuchsen und wuchsen sie. „Was interessiert es dich, Reynolds?“, schnaubte er verächtlich und sie hob die rechte Hand, um sich ihre perfekt manikürten Nägel zu betrachten. „Da ich dich ja nun nicht mehr einkleiden muss wie unsere rothaarige Rotzgöre im Zimmer nebenan, würde ich dir ja anbieten, dass ich dir die Haare schneide. Wenn du lieb bist, was dir sicherlich nicht leichtfallen wird.“ Die Vorstellung, sie an seine Haare zu lassen, war…nicht so schlimm, wie Jean es zunächst angenommen hatte. Es überraschte ihn selbst und einen Moment lang dachte er wirklich darüber nach, bevor Unsicherheit die Oberhand gewann, die ihm einflüsterte, dass er diesbezüglich niemandem vertrauen konnte. Was nicht stimmte, er vertraute Knox. Erst in der letzten Woche hatte Jean sich dabei ertappt, wie er die Augen geschlossen hatte, als sein Kapitän mit seinen Fingern über seine Kopfhaut gefahren war. „Renee kann dir auch Händchen halten, während ich versuche, aus deinem wunderschönen Busch auf dem Kopf eine noch viel schönere Frisur zu machen. Ich verspreche dir auch hoch und heilig, dass nichts ziepen wird!“ Jean ließ das unkommentiert. Allison wusste, ebenso wie der Rest des Teams auch, wie er ausgesehen hatte, als Renee ihn aus Evermore geholt hatte. Was Riko ihm angetan hatte. Keiner der Foxes hatte ihn für seine Angst jemals verdammt, im Gegenteil. Sie respektierten sie und das half Jean mehr als alles andere. Auch jetzt noch. Gerade jetzt in diesem Moment. „Woher weiß ich, dass du mir keine Glatze schneidest?“, fragte er und Allison deutete auf die Wand, hinter der sich anscheinend die Jungs befanden. „Hast du dir Neil in letzter Zeit eigentlich genauer angesehen?“ Jean zuckte mit den Schultern. Ja, hatte er, gestern Abend. Etwas war anders gewesen, aber er hatte es nicht genau beziffern können. „Was willst du mir sagen?“ „Ich habe ihm die Haare geschnitten. Sieht das etwa schlecht aus? Willst du mich beleidigen, Franzose?“ „Wenn du dich beleidigen lässt“, gab er nonchalant zurück und sie zeigte ihm den Mittelfinger. „So dankst du mir also für mein generöses Angebot.“ Jean warf einen Blick auf ihre Finger, die, wie er aus eigener Erfahrung wusste, so sanft sein konnten wie sie hart zupacken konnten. Allison spielte mit dem Eindruck, den sie hinterließ und führte Unbedarfte mit der Rolle des naiven Püppchens in die Irre und ins Verderben. Er selbst war dem erlegen und war sehr schnell eines Besseren belehrt worden, als sie einen Abend lang auf ihn aufgepasst hatte und er sich fragte, ob er nun mehr Angst vor Renee oder vor ihr haben sollte. Nie wieder würde er sie unterschätzen. Nie. Wieder. „Wirst du aufhören, wenn es zuviel wird?“, fragte er aus einem Mut heraus, den er sich nicht gänzlich erklären konnte. Vielsagend hob sie die Augenbraue. „Muss ich dir das wirklich noch sagen, du französischer Surferboy?“ Sie seufzte. „Natürlich höre ich auf. Du bestimmst, wo es langgeht und wenn du sagst, dass ich aufhören soll, dann mache ich das.“ Jeans Augen verirrten sich zu Renee, die dem Ganzen schweigend, aber mit einem sanften Ausdruck auf ihrem Gesicht beiwohnte und nun aufmunternd nickte. „Ich surfe nicht“, erwiderte er, während er sich auf den Stuhl niederließ, den Allison ihm hinstellte und ihm ein Handtuch gab, was er sich um die Schultern legen sollte. Es roch nach ihr und war noch leicht feucht. „Schnickschnack, es geht ums Aussehen! Außerdem kann ich Renee nicht mit einem Wischmopp auf Sightseeingtour schicken.“ Sie summte und unweigerlich musste Jean an Knox und dessen musikalische Untermalung denken. Allison war zugegebenermaßen melodiöser als sein Kapitän, andererseits hatte sie eine Schere in der Hand, was Jean ungleich nervöser machte. Eine Schere war dazu gedacht, zu verletzen. Riko hatte… Blind fing Jean Allisons Hand ab, eher instinktiv als alles andere. Er hörte, wie Riko ihm ins Ohr flüsterte, dass er niemals von ihm loskommen würde. Selbst bei so etwas Alltäglichem wie einem Haarschnitt nicht. Er sah in seinen Erinnerungen Rikos Messer, wie es im fahlen Licht des Evermoreuntergrundes vor seinem Blut glänzte. Er spürte, wie sein toter Ex-Kapitän ihm die Haare ausriss. Büschelweise. Eine Bewegung an seiner Seite ließ Jean zurückzucken und er sah sich Auge in Auge mit Allison, die vor ihm in die Hocke gegangen war. Sanft lächelnd sah sie ihm in die Augen. „Hey Schöner. Dir wird hier nichts passieren, okay? Du bist unter Menschen, die dich in keinem Fall verletzen wollen. Renee würde mich auch umbringen, wenn ich dir wehtun würde. Daher…wird nicht mal ziepen und danach hast du eine fesche Surferboyfrisur, mit der du hier ein Herz nach dem anderen brichst. Also mehr als jetzt schon.“ Jean lauschte den Worten und begriff erst verspätet, was sie bedeuteten. Er schnaufte leise. „Ich surfe immer noch nicht“, erwiderte er noch etwas zittrig und Allison grinste. „Musst du auch nicht. Reicht, wenn du am Strand spazieren gehst.“ „Keine Zeit.“ „Blöde Ausrede.“ „Der Strand ist zum Laufen da.“ „Meinetwegen auch das. Dann können deine kurzen Haare an der frischen Luft wehen.“ Jean schwieg und nickte mit einem Blick auf die Schere. Sein Herz schlug schneller als normal, doch seine Angst war noch erträglich. Seit er hier in Los Angeles war überschritt und sprengte er seine eigenen Grenzen und lernte, dass es auch Menschen gab, die ihn nicht verletzen wollten. Daran und an seiner kommenden Wirtschaftsrechtsprüfung hielt er sich fest, während Allison nach seinem Einverständnis schnitt und schnitt und schnitt. Vielleicht würde er doch keine Haare mehr auf dem Kopf haben, mutmaßte Jean und war durchaus erleichtert, als sie nach einer schier endlosen Zeit und einigen kritischen Blicken seitens Renee fertig war und ihm ein paar wenige Haare von den Schultern pustete. Es kitzelte und Jean schauderte unwillkürlich. Er kräuselte die Nase und Allison lachte. Sie richtete sich auf und nickte mit einem letzten, prüfenden Blick anerkennend. „Jetzt siehst du aus wie ein Herzensbrecher, Jean Moreau“, sagte sie und deutete auf den Spiegel neben ihn. Jean warf einen Blick hinein und blinzelte ungläubig. Seine Haare waren kürzer als vorher, aber nicht zu kurz, irgendwie immer noch lang. Sie sahen aber nicht mehr so wild aus und fielen anders als vorher. Sie fühlten sich leichter an und Jean berührte die Spitzen vorsichtig mit seinen Fingern. „Und?“, fragte Allison. Jean begegnete ihren Augen durch die Reflektion des Spiegels und nickte schweigend, weil er seiner Stimme nicht traute. Es war…etwas Neues, das aus etwas Schrecklichem hervorgegangen war. Etwas Neues, das das Alte überdeckte, als wäre es nie dagewesen. „Es ist annehmbar“, sagte Jean ehrlich und aus der erwartungsvollen Freude wurde Empörung. „Du undankbares Stück französischer Weichkäse. Raus aus diesem Zimmer“, knurrte Allison in spielerischer Empörung und deutete auf die klapprige Tür, durch die er hineingekommen war. Ein minimales Lächeln umspielte seine Lippen, als er sich umdrehte und Renees Lachen begegnete, die sanft ihre rechte Hand zu ihm ausgestreckte hatte. „Komm, zeig mir L.A., du hübscher Mann“, sagte sie und Jean ließ sich von ihr an die frische Luft ziehen. ~~**~~ „Findest du das hübsch?“ „Nein. Du?“ „Nicht so. Ich weiß auch gar nicht, was es darstellen soll.“ Jean brummte zustimmend. Er hatte auch keine Ahnung, was die leuchtenden und blinkenden Gedärme aus dem Mund der übergroßen, schreienden Skulptur sein sollten, die sich um sie herum auf den blanken Beton der verlassenen Lagerhalle ergossen. Es roch nach altem Stein und frischer Farbe und Jean rümpfte nicht zum ersten Mal die Nase. Er hatte Renee mithilfe seines Handys und der Navigationsapp zum Kunstdistrict geführt und hatte ihr die Ecken gezeigt, die Knox mit ihm vor Monaten besucht hatte. Dass sie nun in einer ihm gänzlich unbekannten Halle standen, war Renees Neugier zu verdanken, mit der sie sie beide in eine der Nebengassen gezogen hatte. Wie hätte Jean sich auch wehren können, wenn sie die Finger ihrer rechten Hand fest mit denen seiner linken verschränkt hatte und ihn nicht losließ. Es machte Jean glücklich, sehr sogar. Er fühlte sich wohl an ihrer Seite. Ebenso wohl fühlte er sich mit ihrer Berührung, die ihm Andrews Worte wieder in den Sinn kommen ließen. Fand er Renee hübsch? Ja, definitiv. Begehrte er sie so, wie sich Andrew und Neil begehrten? Nein. Obwohl er ihr alles schenken würde, was sie von ihm verlangte, verspürte er sonst gar nichts. Was nicht bedeutete, dass er von ihrem Anblick jemals genug bekommen würde. Von dem engelsgleichen, aber tödlichen entschlossenen Blick, ihre sanften Augen, die ihm alles vergaben. Jean sah auf sie hinunter und durch sein Starren aus ihrer Beobachtung gerissen erwiderte sie schließlich seinen Blick. „Danke, dass du mein Schutzengel bist, Renee“, sagte Jean ehrlich und lächelte. „Ohne dich…“, begann er, vollendete aber den Satz nicht. Musste er auch nicht, denn an dem Schmerz in ihrem Gesicht erkannte er, dass sie sehr wohl verstanden hatte, was er sagen wollte. Ohne sie wäre er jetzt tot. Er schluckte. „Ich habe dir soviel zu verdanken, was ich dir niemals zurückgeben kann. Und ich war so oft nicht gut zu dir. Ich habe dich traurig gemacht und dich angelogen. Das tut mir leid, Renee, wirklich. Ich verspreche dir, dass ich das nie wieder tun werde.“ Die Sanftheit, mit der sie ihn musterte, war beinahe unerträglich, weil sie ihn aufbrach, ihn und seine Schutzhülle. Jean schauderte unwillkürlich. „Jean, Großer, du sturer Bock. Niemals könntest du mich so wütend machen, dass ich mich von dir abwende“, murmelte sie und strich ihm mit ihrer freien Hand zärtlich über die Wange. Instinktiv lehnte sich Jean in diese Berührung und schloss für eine Sekunde die Augen. „Du hast alles Glück der Welt verdient, Jean, auch wenn du das erst einmal erkennen musstest und sicherlich immer noch dabei bist, es zu lernen. Ich verstehe, dass du Angst hattest, als du hierhergekommen bist. Ich verstehe auch, welchen Handel du aus welchen Gründen mit Andrew abgeschlossen hast. Ebenso wie ich verstehe, dass du von eurem Handel zurückgetreten bist. Ich habe schon gehört, wie dich Knox, Alvarez und Dermott überzeugt haben.“ Renee lächelte schmerzlich und Jean umfasste ihre Hände enger. „Ich hätte vorher mit dir sprechen sollen“, sagte er und senkte den Blick auf den unregelmäßigen, brüchigen Beton. Ihr Nicken hörte er eher als dass er es sah. „Die Möglichkeit hat dir immer offen gestanden“, bestätigte sie. „Ich bin froh, dass er es nicht getan hat“, platzte Jean schließlich heraus und sah hoch. „Ich bin froh, noch hier zu sein, auch wenn es schwer ist.“ Renee lächelte und Jean die Dunkelheit dahinter lauern. „Sind sie gut zu dir?“ Jean nickte. „Sie haben gesungen. In der Kabine, gegen die Jackals. Und sie unternehmen viel. Auch mit mir. Zuviel manchmal.“ „Gut. Wären sie es nicht, würde ich sie umbringen.“ Jean ahnte, dass das keine Übertreibung war, denn Renee hatte Andrew den Messerkampf beigebracht, nicht umgekehrt. „Niemand von ihnen ist böse. Sie sind nur laut und viel zu sorglos, was ihr Training anbetrifft.“ Renee prustete. „Dir ist schon bewusst, dass ihr bisher jedes Spiel gewonnen habt.“ „Gegen euch haben wir gestern verloren.“ „Wir sind ja auch Spitzenklasse.“ „Diskutabel.“ „Im Leben nicht.“ „Also, die Beinarbeit von Minyards Bruder…“, begann Jean, verstummte jedoch, als Renee ihm einen Finger auf die Nase legte und sacht tadelnd mit der Zunge schnalzte. „Kein Exytalk, du Junkie.“ Jean grollte, führte seine nur allzu berechtigte Kritik aber nicht weiter fort. „Los, komm, lass uns weiter, ich möchte noch einen Kaffee mit dir trinken“, lachte sie und zog ihn mit sich, wieder hinaus in den belebteren Art District. „Erzähl mir von Knox, wie ist er?“, fragte Renee, während sie ein kleines Café ansteuerten. Jean zuckte mit den Schultern. „Er lacht viel, redet noch viel mehr, auch im Schlaf. Er ist ständig gut gelaunt und bekocht mich. Und er hat einen Löffel mit Nachtischcreme abgeleckt“, empörte er sich und schnaubte, als Renee lachte. „Ist er gut zu dir?“ „Außer, wenn er azuviel redet. Ansonsten schon.“ „Anspruchsvoll bist du also auch noch, Monsieur Jean.“ „Ich liebe lediglich meine Ohren.“ Wieder lachte sie und rempelte ihn spielerisch an. „Dein kleiner Bruder hat die gleichen Ohren wie du“, sagte sie schließlich. „Und die gleiche Nase. Den gleichen, kritischen Blick, wenn er sich bei etwas nicht sicher ist. Sowieso ist er ein Goldstück.“ Jean nickte zögerlich und sah auf eine Blume, die aus dem brüchigen Asphalt wuchs. „Das ist er. Ich…mag ihn“, gab er schließlich zu. „Willst du ihn öfter sehen?“ Das Café war mittlerweile in Sichtweite. „Ich weiß noch nicht“, murmelte er dann und seufzte. „Er ist so unbedarft. Er freut sich jedes Mal, wenn er mich sieht.“ „Das geht dir doch genauso.“ „Ja.“ Renee nahm ihre miteinander verwobenen Hände hoch und küsste seine krummen Finger. „Du machst, was du für richtig hältst, Jean. Wenn du Hilfe oder Rat brauchst, dann bin ich da. Jederzeit.“ Jean sah auf ihre Lippen und von dort aus in die warmen, liebevollen Augen. „Ich weiß. Ich danke dir, Renee.“ Sie wollte etwas erwidern, als ihr Handy klingelte und sie beide aus ihrer Zweisamkeit riss. Jean zuckte derart zusammen, dass er sich beinahe von ihr löste. Nicht, dass Renee das zugelassen hätte. Einhändig fischte sie das Smartphone aus ihrer Tasche und runzelte die Stirn. Sie nahm das Gespräch an und hielt das Telefon an ihr Ohr. „Andrew?“ Jean verstand nicht genau, was der blonde Junge sagte, doch es ließ Renee die Stirn runzeln. „Aber unsere Abfahrtszeit ist doch erst in vier Stunden.“ Wieder entgegnete Andrew etwas, das Jean nicht hörte und Renee seufzte. „Okay. Dann sammelt uns ein. Wir bringen Jean zur USC zurück und fahren dann.“ Sie klang nicht erfreut darüber und Jean legte fragend den Kopf schief, als Renee auflegte. „Wir haben einen Flug eher bekommen und müssen nun in anderthalb Stunden am Flughafen sein.“ „Oh.“ Jean wusste nicht, was es war, das sich in ihm regte bei ihren Worten und er scheute sich auch davor, es genauer zu beleuchten. Trauer? Vielleicht. Sehnsucht, dass sie ihr Treffen bald wiederholen könnten? Sicherlich. „Lass uns einen Kaffee to go nehmen, sie sind in zwanzig Minuten hier. Solange haben wir noch Ruhe vor ihnen.“ Jean nickte und folgte ihr in das gemütliche kleine Café, das sie mit warmen, vollen Gerüchen und Versprechungen auf Süßkram willkommen hieß. ~~**~~ Jean befühlte sacht seine kribbelnde Wange, die Opfer eines hauchzarten Abschiedskusses geworden war, und sah dem Bus hinterher, der die Foxes zum Flughafen brachte. Renees Versprechen und Jostens Drohung, ihm bald wieder auf die Nerven zu gehen, geisterten immer noch durch seine Gedanken und er seufzte innerlich bei der Erkenntnis, dass es ihm in keinem der beiden Fälle etwas ausmachte. Er wandte sich zum Gebäude der Trojans und fühlte wirkliche Ruhe in sich. Der Tag mit Renee hatte ihm gut getan und ihm Freude bereitet, und das, obwohl er weder etwas für sein Studium noch für ihren Sport getan hatte. Das Treffen mit Renee war rein egoistischer Natur und er hatte kein schlechtes Gewissen deswegen. Ganz und gar nicht. In letzter Zeit war das häufiger vorgekommen und erstreckte sich mittlerweile nicht mehr nur auf das Lesen eines Buches. Er holte sich Kaffee aus der Kaffeebar, auch wenn kein anderer Trojan einen wollte. Er entwickelte eine Präferenz bei den Gesellschaftsspielen, die sie spielten. Er wurde langsam zu einer Person, auch wenn Knox für diesen Gedanken mit ihm schimpfen würde. Für Knox war er schon immer jemand Eigenständiges gewesen, eine eigene Person, ohne Rücksicht auf Besitzverhältnisse. Jean hatte das bei seiner Ankunft nicht wahrhaben wollen und erst jetzt begriff er, was es überhaupt bedeutete. Es…gefiel ihm. Seufzend betrat Jean das Gebäude. Wenn er es seinem Kapitän erzählte, würde dieser ihn anstrahlen, da war er sich sicher. Er würde sich für ihn freuen und mit einer neuen Idee um die Ecke kommen. Er kam zu ihrem Apartment und sah eine Socke an der Tür. Knox hatte sie anscheinend aus welchen Gründen auch immer da hängen lassen und irgendetwas in Jeans Erinnerungen klingelte bei dem Gedanken daran, welche Bedeutung die Socke hatte. Er konnte sich aber beim besten Willen nicht mehr daran erinnern und so schloss er die Tür auf, ließ sie schließlich leise wieder hinter sich ins Schloss fallen, im Fall, dass Knox schlafen würde. Jean zog sich seine Schuhe aus, als er den ersten Laut hörte, der durch das sonst stille Apartment drang. Ein langgezogener Schmerzlaut, ein Stöhnen und er fuhr unwillkürlich hoch. Ging es dem blonden Jungen nicht gut? Waren es Nachwirkungen des gestrigen Spiels? Er deponierte seinen Schlüssel auf der Kommode des Eingangsflures und hörte ein weiteres Stöhnen, begleitet von einem Hin- und Herwälzen. Es musste definitiv etwas passiert sein. Jean ging zu ihrer Schlafzimmertür und zog sie soweit auf, dass er einen Blick auf seinen Kapitän werfen konnte, doch der Name des anderen Jungen erstarb auf seinen Lippen. Knox kniete auf dem Bett, vollkommen nackt, über ihm der Campusreporter, den Jean schon einmal gesehen hatte. Er hielt die Handgelenke seines Kapitäns in einer Hand auf das Bett gepresst, während die andere die Haare des blonden Jungen gepackt hatte. Allan – so hieß er - stieß währenddessen in ihn, brutal und hart, in einem Rhythmus, der Knox eben jenes Stöhnen entlockte, was Jean vorher gehört hatte. Einen Augenblick lang fror für Jean die Zeit ein. Dort lag nicht mehr Knox, sondern er, unter den Spielern von Evermore, die in sein Bett gelassen wurden. Mit brachialer Gewalt wurde er in seine Erinnerungen katapultiert, die ihm die Schmerzen und Demütigung aufzeigten, die ihm wieder und wieder aufgezwungen worden waren. Er war genauso hilflos wie Knox gewesen, der Gewalt von anderen Männern ausgeliefert. Doch das war vorbei. Sie waren nicht mehr da, sie hatte keine Macht über ihn. Er hatte nun ein Team, das nicht wegsah, Menschen, die ihm helfen würden. Wut schäumte in ihm hoch. Wut auf den Jungen, der es wagte, sich an seinem Kapitän zu vergreifen, ihn zu verletzen, ihn zu demütigen. Wut nicht nur auf den Reporter, sondern auch auf seine eigenen Vergewaltiger, die keine Gnade gekannt hatten, sondern nur darauf aus gewesen waren, ihn zu missbrauchen. Jean grollte und löste sich aus seiner Starre. Er riss die Tür auf und das widerliche Arschloch sah gerade rechtzeitig zu ihm hoch, um in Jeans hasserfülltes Gesicht sehen zu können, als dieser ihn mit Gewalt von Knox herunterzog und ihn unter lautem Aufschreien mit sich hinaus ins Wohnzimmer zog. Weg von seinem Opfer. Weg von dem Jungen, der Jean soviel Gutes getan hatte. „Du widerliches Stück Scheiße!“, knurrte Jean und hielt ihn an dessem Hals an die Wand gepresst, die Augen des Reporters weit ausgerissen und panisch. „W….was…?“, presste dieser hervor. „…soll….das…was…warum…lass los…“ „Halt den Mund!“, zischte Jean. „Halt deinen widerlichen Mund.“ Und wie er Lust hatte, dem anderen Jungen alles aus dem Gesicht zu prügeln. All seine Fassungslosigkeit, all seine Angst, all sein Entsetzen. Solange, bis er nichts mehr war als ein blutiger, wimmernder Brei. ~~~~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 39: Das zornige Herz ---------------------------- Jeremy liebte, was Allan in ihm auslöste. Er liebte, dass der andere Junge zupackte, dass er ihn hielt und festhielt. Er liebte es, wenn Allan gröber wurde und er mit jeder Nervenzelle den Schwanz des Anderen in sich spürte, die beinahe schon schmerzende, aber befriedigende Reibung, das Gefühl der Enge das mit seiner Lust Hand in Hand ging. Bei Allan ließ Jeremy sich fallen, er ließ sich gehen und vertraute sich ihm vollständig an. So auch heute. Er hatte es vermisst, von Allan eingenommen zu werden. Er hatte es vermisst, von dem warmen Körper niedergedrückt zu werden, sein Rücken fest an Allans Vorderseite gepresst. Oder dass seine Knie sich in die Matratze bohrten, die Beine weit gespreizt um Allen besser aufnehmen zu können. Am Meisten hatte er die scharfen Wellen der Lust vermisst, die ihn an den Rand seines Orgasmus trieben, aber ihn nicht kommen ließen, seinen Höhepunkt weiter und weiter hinauszögernd, bis Allan Gnade mit ihm zeigte und ihn endlich…endlich berührte. Jeremy liebte, was Allan ihm antat und war entsprechend irritiert, als der andere Junge abrupt aus ihm herausglitt. Er stöhnte erneut, dieses Mal jedoch vor Schmerz ob der unsanften Bewegung. Aber erst das Geschrei, das irritierend und markerschütternd durch das Apartment hallte, überflutete Jeremy von jetzt auf gleich mit der schrecklichen Gewissheit, dass etwas überhaupt nicht stimmte. Noch während er zusammensackte, warf er sich herum und sah, wie Allan von ihm weggezogen und ins Wohnzimmer gezerrt wurde. Wo er erst einen Einbrecher oder jemanden im Auftrag der Ravens erwartet hatte, erkannte Jeremy nach ein paar Schrecksunden, dass es Jean war, der Allan hasserfüllt mit sich zog. Das machte es nicht besser, überhaupt nicht. Warum war Jean schon hier? Warum tat er das? Was sollte das? Überhastet langte Jeremy nach seiner zu Boden gefallenen Decke und schlang sie um sich. Er versuchte, aus dem Bett zu kommen, scheiterte doch zunächst an seiner Erektion, die sich empfindlich gegen die Decke presste, seinen weichen Knien und an dem Schmerz, der sich überraschend stark bis in seinen Rücken zog. Jeremy war sturer und kämpfte sich verbissen hoch. Erst einmal musste er reagieren. Erst einmal durfte er nicht zulassen, dass Jean Allan umbrachte, denn genau das schien gerade zu passieren und Jeremy hatte keine Ahnung warum. Er strauchelte mehr als dass er ging in Richtung Wohnzimmer. „J….Jean…“, krächzte er und hustete, bevor er seine Stimme wiederfand. Beinahe zeitgleich erreichte er den Backliner und fasste ihn am Oberarm um ihn von Allan abzulenken, der verzweifelt würgte, die Augen weit aufgerissen und panisch. „Jean!“ Jeremy zog an dem Oberarm und anscheinend löste das den anderen Jungen aus seiner Starre. Hasserfüllt leuchteten die grauen Augen und Jeremy schluckte mühevoll, als es erneut Angst war, die dominierte. „Jean, lass ihn los! Was ist in dich gefahren?“, fragte Jeremy mit der Ruhe, die er aufbringen konnte und der andere Junge zischte. „Er hat dich verletzt. Er hat sich dir aufgezwungen. Das lasse ich nicht zu!“ Jeremy blinzelte. Was…? Was?! Allan hatte nichts dergleichen getan. Wie kam Jean darauf? „Das ist nicht wahr! Warum glaubst du das? Lass ihn los! Bitte!“ Jean knurrte und machte keine Anstalten, Jeremys Bitte zu folgen. Im Gegenteil. Er fasste noch enger zu und Allan wimmerte. Ein schrecklicher Laut und etwas, das Jeremy wütend werden ließ. „Du brauchst ihn nicht in Schutz zu nehmen“, drangen zornige Worte an seine Ohren und letzten Endes war es wohl das, was das Fass zum Überlaufen brachte. „Lass ihn los.“ Jeremy hatte es immer vermieden, Jean gegenüber seine Kapitänsstimme zu nutzen. Er hatte niemals diese Kluft zwischen ihnen gewollt, hatte niemals gewollt, mit Riko verglichen zu werden. Er war nicht so. Doch jetzt, in diesem Augenblick, war seine Stimme nicht viel mehr als ein einziger Befehl, kühl und bar jeder Emotion. Seine Stimme war eine Warnung und die Reaktion erfolgte beinahe augenblicklich. Jean zuckte mit dem ganzen Körper zusammen und starrte ihn mit großen Augen an. „Aber…er hat…“, setzte der größere Junge an, doch Jeremy brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Lass ihn los und tritt von ihm zurück“, wiederholte er und straffte die Schultern. Ja, er war nackt unter der Decke, ja, er hatte immer noch einen Ständer, der sich durch die Nähe an Jeans Oberschenkel drückte, ja, sein Zimmernachbar hatte ihn soeben beim Sex überrascht, aber soviel Würde hatte Jeremy noch, dass er Jean von Allan lösen würde. „Aber…“ Verzweiflung stahl sich unter den Hass. Verzweiflung und Unverständnis. „Nein.“ Selten hatte Jeremy soviel Dominanz in seine Stimme gelegt wie in diesem Moment. „Es reicht jetzt, Jean. Lass Allan los und tritt zurück.“ Das Unverständnis wurde größer und größer, doch Jean tat tatsächlich, was von ihm erwartet wurde. Wie tot fielen die Arme von Allan ab, der in sich zusammensackte, direkt in Jeremys Hände, die ihn so gut es ging stützten. Schützend zog er den anderen Jungen an sich und spürte, wie dessen zitternder Körper sich unter dem Husten krümmte. Wie erstarrt stand Jean dort, während Jeremy Allan von ihm wegzog und ins Badezimmer brachte, die Tür hinter ihnen beiden abschließend. ~~**~~ Jean schlotterte am ganzen Körper. Vor Wut. Wieso…wieso verbündete sich Knox mit seinem Vergewaltiger gegen ihn? Wieso wollte er nicht, dass er ihm half? Er war doch da und würde sich des Problems annehmen. Er würde ihm solange drohen, bis er Knox nie wieder anrührte. Doch…das war nicht erwünscht und Jean verstand nicht warum. Er hatte sich doch auch nicht um seine Vergewaltiger gesorgt. Im Gegenteil. Er wäre froh gewesen, wenn sie jemand verprügelt hätte. Warum also…? Er hatte seinen Kapitän noch nie so wütend gesehen, so ernst und abgrundtief unzufrieden. Knox hatte noch nie so mit ihm gesprochen und Jean wagte es nicht, sich von der Stelle, an die er getreten war, zu rühren. Er wagte es nicht, den Geräuschen aus dem Bad zuzuhören, die gedämpft zu ihm drangen. Er wagte es nicht, sich umzudrehen, als sich nach einer schier endlosen Zeit die Tür öffnete und er hörte, dass die beiden Jungen zu ihm kamen und an ihm vorbeitraten. Anscheinend verließ der Reporter das Apartment, nachdem sich Knox um ihn gekümmert hatte. Und sich nun ihm zuwandte. Jean sah es mehr aus dem Augenwinkel heraus. Die Wut, die ihm entgegenschlug, spürte er da deutlicher. Jahrelange Indoktrination ließ seinen Instinkt ausschlagen und wie auch bei Riko konnte er sich nicht von der Stelle rühren, erstarrt unter der Macht seines Kapitäns. „Setz dich“, sagte Knox schlicht und Jean gehorchte. Da die Couch am Nächsten stand, ließ er sich vorsichtig nieder, die Hände auf seinen Knien und den Blick gesenkt. Der blonde Junge nahm sich seinen Schreibtischstuhl aus dem Schlafzimmer und rollte ihn unweit von ihm in den Raum. Unweit, aber außerhalb seiner Reichweite, stellte Jean fest. Vorsichtig setzte sich Knox, dieses Mal in Hose und weitem Oberteil. „Gib mir einen Grund für dein Verhalten.“ Jean wünschte sich, dass Knox‘ Stimme weniger kalt sein würde, weniger unerfreut. Es fachte seine Wut erneut an, die Wut darauf, dass Knox sich auf die Seite des anderen Jungen stellte. Des Täters. ~~**~~ Jeremy spürte, dass etwas nicht stimmte. Er schmeckte die Dissonanz, die zwischen ihnen in der Luft lag und doch war er in diesem Moment beinahe unfähig, darauf zu reagieren. Er war sauer, richtig wütend auf Jean, der dieses Mal nicht nur ihn angegangen war, sondern Allan. Er hatte Allan gewürgt und ihn verletzt. Es mochte ja sein, dass diese Methoden bei den Ravens angewandt wurden, aber Jeremy würde den Teufel tun, sie bei den Trojans zu akzeptieren. Ebenso würde er den Teufel tun und Homophobie akzeptieren. Er hatte seine Frage mit Mühe neutral herausgepresst und wartete nun auf eine Antwort des auf der Couch sitzenden Jungen. Diese blieb aus, denn Jean schwieg eisern und starrte auf seine Hände, die sich unablässig zusammenballten und entkrampften. „Er hat dir wehgetan“, grollte Jean schließlich mit Unverständnis in der Stimme und nun war es an Jeremy, seine Hände zu Fäusten zu ballen. „Nein, hat er nicht.“ „Doch!“ Jeremy blinzelte ob des vehementen Widerspruchs. „Hat er?“, fragte er mit erzwungener Ruhe nach und Jean sah auf. „Er hat deine Arme auf das Bett gepresst“, erwiderte der Backliner und deutete hinter Jeremy auf das Schlafzimmer, als würde er sich immer noch dort befinden. Mit Mühe widerstand Jeremy dem Drang, sich umzudrehen und verbrachte die nächsten Sekunden damit, die aufkommende Röte auf seinen Wangen zu bekämpfen. Ja, das war eine seiner Vorlieben. Nein, die teilte er nicht mit der ganzen Welt. Sie nun so direkt ins Gesicht gesagt zu bekommen, war…peinlich. „Das mag ich so“, erwiderte er abwehrend, rechtfertigend gar. Jean schnaubte abwertend und Jeremy starrte ihm ungläubig in die Augen. Er wusste nicht, ob er sich so in dem Jungen getäuscht hatte, der vor ihm saß. War die Raven-Homophobie wirklich so tief in ihm eingesunken? „Außerdem war er grob und brutal“, fuhr Jean fort und Jeremy hob die Augenbraue. Allan war keines von beidem gewesen, absolut nicht. Er war fürsorglich und vorsichtig gewesen, wie immer. Dass er dann leidenschaftlicher geworden war, lag in der Natur ihres Stelldicheins und Jeremy hatte es genossen. „War er nicht und ich wollte das so“, grimmte er entsprechend unwirsch. „Du hast vor Schmerzen gestöhnt“, gab Jean ebenso unwirsch zurück und Jeremy starrte den anderen Jungen schweigend, aber vor allen Dingen fassungslos an. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Schloss ihn wieder, als er seine Stimme nicht fand. Öffnete ihn erneut, weil er Luft brauchte, die sein in Flammen stehendes Gesicht kühlen sollte – vergeblich, wie Jeremy feststellte. Ihm war heiß und am Liebsten hätte er sich gewünscht, hier und jetzt in den Boden zu versinken vor Scham. Aufs Bett gepresste Arme…geschenkt! Das war nicht halb so peinlich wie eine knallharte Interpretation seines Stöhnens. Wirklich nicht. So hörte er sich an? Als hätte er Schmerzen? Als würde er gegen seinen Willen zum Sex gezwungen? Oh Gott war das peinlich. Oh Gott war das eine Katastrophe. Jeremy barg sein Gesicht in seinen Händen. In diesem Augenblick war die Wut verschwunden und hatte etwas Platz gemacht, das Jeremy unschwer als absolute Peinlichkeit klassifizierte. Erst, als er auch wirklich die Stärke dazu fand, sah er wieder hoch. „Das waren keine Schmerzen, das war Lust. Lust, Jean. Ich war vollständig damit einverstanden, was Allan mit mir gemacht hat. Ich wollte es so. Er hat mir zu keiner Zeit wehgetan und er hat mich zu keiner Zeit zu etwas gedrängt, das ich nicht wollte. Wir hatten Spaß miteinander, bis du ihn aus mir herausgezogen hast. Nicht er hat mir wehgetan. Du hast es. Und du hast Allan gewürgt, außer dir vor Wut. Du hast ihm Angst gemacht damit. Er hatte Angst um sein Leben.“ Es war nicht Jeremys Art, andere mit Vorwürfen zu überschütten oder derart direkt Kritik zu üben, doch er musste die Wahrheit so bitter formulieren, wie sie war. Jean musste begreifen, dass das, was er aus seinem Zorn heraus tat, kein Kavaliersdelikt war. Die Maßstäbe, die in Evermore galten, waren nicht normal. Sie waren abartig und menschenverachtend und mitnichten waren sie in L.A. anwendbar. Jean erwiderte nichts, sondern starrte ihn an und Jeremy erkannte dadurch sehr gut den Augenblick, in dem der Ex-Raven begriff, was er getan hatte. Schwierig war das nicht. Von jetzt auf gleich wich sämtliche Farbe aus dem mittlerweile gebräunten Gesicht und Jean schluckte mehrfach gegen den Kloß in seinem Hals an. Kurz danach senkte er den Blick abrupt auf seine Hände und erstarrte mit jeder einzelnen Faser seines Körpers. Wie auch schon die Male zuvor wirkte es, als hätte jemand die Luft aus ihm herausgelassen und ihm seines Widerstandes beraubt. Er wirkte hilflos, wo er vorher zum Fürchten gewaltbereit gewesen war. Doch dieses Mal ließ sich Jeremy nicht durch sein viel zu weiches Herz leiten. Jetzt, in diesem Moment war er Kapitän und Problemlöser durch und durch. Mit hochrotem Kopf, aber immerhin klar genug in selbigem, um weiterdenken zu können. Seine Gedanken kamen jedoch nicht weit. „Ich habe gedacht, er würde dich vergewaltigen.“ Mit welcher Wucht dieser einfache, tonlose Satz die Stille durchschlug, wurde Jeremy erst verspätet bewusst. Welche Wellen er auch in ihm selbst schlug, begriff er erst nach und nach. Die Übelkeit in ihm war dabei nur einer der Auswüchse und nun war es Jeremy, der verzweifelt schluckte. „Wie kommst du auf den Gedanken, Jean?“, fragte er kopfschüttelnd und Jean blieb ihm eine Antwort schuldig. Er wich Jeremys sezierendem Mustern aus und zuckte mit den Schultern. Jeremy glaubte ihm keine Sekunde lang, dass er nicht wusste, warum und da war es wieder, das Gefühl, dass etwas hier gar nicht stimmte. Eine Vermutung keimte in ihm hoch, die Jeremy die Stirn runzeln ließ. Jean hatte derart daneben mit seiner Einschätzung gelegen, dass es vermutlich auf Unerfahrenheit zurück zu führen war. In einem toxischen und gewalttätigen Umfeld wie Evermore sicherlich keine unwahrscheinliche Möglichkeit. Jeremy atmete tief ein und fand so Ruhe, die er wirklich dringend brauchte. „Jean, hattest du schon einmal Sex?“, fragte er ruhig, anscheinend aber nicht ruhig genug. Jean zuckte zusammen, als hätte Jeremy ihn geschlagen und seine Augen weiteten sich, als wäre es eine schlimme Frage. Wortlos starrte der andere Junge ihn an und Jeremy wartete geduldig auf eine Antwort. „Ja“, presste Jean schließlich hervor und er nickte. Gut, vielleicht hatte es in Evermore doch eine Möglichkeit gegeben. So wie Jean reagierte, vermutete Jeremy, dass Riko davon erfahren und ihn bestraft hatte. „Hattest du schon einmal gleichgeschlechtlichen Sex?“, fragte Jeremy weiter, sich auf das momentan Wesentliche konzentrierend. Wieder zögerte Jean, bevor er antwortete und zur Seite sah. Er wich Jeremy aus, nickte jedoch schließlich. Überrascht runzelte Jeremy die Stirn. Er erinnerte sich noch gut an Jeans Worte nach den hasserfüllten Beleidigungen des neuen Ravenkapitäns. Er sei nicht so. Also hatte er es mit einem anderen Jungen ausprobiert und für nicht gut befunden? „War es eine freiwillige Erfahrung?“, fragte Jeremy, um ganz sicher zu gehen. Mitnichten rechnete er mit einem Nein. Eher rechnete er damit, dass Jean verächtlich schnauben und ihn für verrückt erklären würde. Es reichte ihm eine Sekunde, die er in Jeans Gesicht sehen konnte, um sich dieser Möglichkeit gar nicht mehr so sicher zu sein. Viel zu geschockt war der andere Junge. Viel zu sprachlos war er für ein einfaches Nein und eine ungute Ahnung bahnte sich in Jeremy an. Jean schwieg, ganz die Salzsäule, als die er vor ihm saß. Er bewegte keinen Muskel, sondern starrte Jeremy in die Augen, durchdringend und – wie der blonde Junge nun erkannte – zunehmend hilflos und verzweifelt. Jeremy hielt dem Blick stand, mit – so wie er hoffte – ruhiger Entschlossenheit. Dass dies teilweise durch seine noch immer warme Gesichtshaut zunichte gemacht wurde, stand da auf einem anderen Blatt. „Jean?“, fragte er leise und das holte den anderen Jungen aus seiner Starre. „Nein“, presste er so schnell hervor, dass Jeremy im ersten Moment glaubte, sich verhört zu haben. Doch das hatte er nicht und so stand dieses simple Wort zwischen ihnen im Raum und zerstörte Jeremys gerade noch so gepriesene, aber brüchige Ruhe in Nullkommanichts. Nein. Noch hoffte etwas in Jeremy, dass Jean nein zur grundsätzlichen Beantwortung seiner Frage gesagt hatte. Dass er ihm einfach die Auskunft verweigern wollte. Dieses Etwas wurde von Sekunde zu Sekunde kleiner und Jeremy begriff den Horror, der sich ihm entfaltete. Keine Sekunde lang hatte er bis jetzt angenommen, dass jemand, der vor körperlicher Folter nicht Halt machte, auch zu diesem Mittel griff. Und doch war es nicht an den Haaren herbeigezogen, ganz und gar nicht. Jean schwieg weiterhin und Jeremy nahm all seinen Mut zusammen, den er im Angesicht eines solchen Greuls aufzubringen hatte. „Hat Riko dir das angetan?“, fragte er ruhig, aber es sickerte bereits Wut in seine Stimme. Jean schüttelte stumm den Kopf, doch das machte es nicht im Ansatz besser, befand Jeremy. Wenn es Riko nicht gewesen war, dann lief der Täter noch frei draußen herum, womöglich…oh Gott. Womöglich war es der neue Ravenskapitän. Bei allem, was er gesagt hatte… Jean atmete ein und ballte dann die Hände zu starren Fäusten. „Er hat es nur in Auftrag gegeben und die Spieler zu mir gelassen.“ Jeremy wiederholte dessen Worte in seinen Gedanken immer und immer wieder. Er hatte nicht das Gefühl, dass er in den ersten Momenten wirklich begriff, was Jean sagte, weil es so ungeheuerlich und so brutal war. Dann überwältigte ihn das Wissen um das Schreckliche und Jeremy begriff. Jean war mehrfach vergewaltigt worden, von den Spielern seines eigenen Teams. Auf Befehl seines verstorbenen Kapitäns. Sprachlos starrte Jeremy in Jeans Gesicht. Unfähig auch nur einen Ton zu sagen zogen seine Gedanken Verbindungen zu dem, was heute passiert war. „Warum?“, krächzte er schließlich. Es war ein Warum zu der Brutalität, der Jean unterworfen worden war. Ein Warum zu den dunklen Abgründen in Evermore. Ein Warum an niemand Bestimmten. Jean aber war es, der darauf antwortete. „Er wollte sehen, ob das traumatisierender ist normale Gewalt. Er hatte Spaß daran, dass ich ihn angefleht habe, es nicht zu tun. Er wollte Day bestrafen, als er zuviel von dir geschwärmt hat.“ Nicht im Geringsten war Jeremy auf diese Worte vorbereitet. Absolut gar nicht. Er hoffte erneut, sich verhört zu haben, er hoffte, irgendwie adäquat reagieren zu können, doch nichts davon war ihm vergönnt. „Was?!“, presste er fassungslos hervor und Jean schnaubte. „Day hat zu sehr vom großen, tollen, schwulen Captain Sunshine geschwärmt, dem besten Striker aus Los Angeles. Dem begabten Jungen mit den blonden Haaren, der so toll und so schnell auf dem Feld ist. Er hat geschwärmt und geschwärmt und selbst bei Rikos eindeutigen Warnzeichen nicht aufgehört damit, so sehr in seinem Exy-Wahn gefangen, dass er zu dumm war dazu. Und dann…“ Jean schnaubte so verächtlich, wie er Jeremy die Worte vor die Füße gespuckt hatte. „…und dann hat er Day an mir zeigen lassen, wie ein Junge einen anderen Jungen so richtig fickt. Oh für eine Nacht war ich Captain Sunshine und habe mich ficken lassen für Days Schwärmerei für den tollen, überragenden Jeremy Knox, Starting Striker der USC Trojans. Ich hatte noch nicht einmal meinen Namen in den Stunden… Jeremy, Jeremy, Jeremy… wie oft habe ich doch diesen Namen in der Nacht gehört! Ja, ich weiß, was Sex ist, Knox, ich weiß es. Ich hatte ihn schon fünf Mal in meinem Leben, einmal davon dir zu Ehren.“ Jean war aufgestanden und überragte ihn, doch Jeremy war kaum in der Lage, das wahrzunehmen. Der Schock, dass Jean Opfer intimster Gewalt geworden war, war zu einem Schock geworden, dass er mit dafür verantwortlich war und dass Jean in seinem Namen vergewaltigt worden war. Dass er mit seinem Namen vergewaltigt worden war. Sie haben ihm Schlimmes angetan, hatte Kevin in damals im Telefonat am Strand gesagt und Jeremy hatte noch nicht einmal einen Bruchteil dessen geahnt. „Ich hatte keine Ahnung…es tut mir leid“, wisperte er und stellte fest, dass seine Stimme brach, weil er weinte. „Es tut mir so leid.“ Jeremy erhob sich ebenso, doch Jean wich vor ihm zurück. Abschätzig musterte er ihn, doch Jeremy ließ sich nicht davon abbringen. Beruhigend streckte er die Hand nach Jean aus, die dieser wie eine giftige Schlange musterte. „Wenn ich gewusst hätte, dass…“ „Dann was?“, fiel Jean ihm ins Wort und in diesem Moment zwang sich Jeremy der Eindruck eines in die Enge getriebenen, verletzten Tieres auf. „Hättest du mich abgelehnt, damit ich durch deine Anwesenheit nicht getriggert werde? Hättest du mich bemitleidet für meine Erfahrungen beim Sex? Was?“ Jeremy holte tief Luft und bemühte sich im Angesicht des Zorns Ruhe zu bewahren. „Du hast keine Erfahrungen mit Sex“, sagte er dann mutiger, als er sich wirklich fühlte und Jean machte den Eindruck, als würde er gleich hier und jetzt über ihn herfallen und ihn zerfleischen. Jeremy räusperte sich, schluckte den großen Frosch in seinem Hals hinunter. „Eine Vergewaltigung ist kein Sex. Sex ist etwas Freiwilliges, Schönes, Gegenseitiges. Eine Vergewaltigung ist sexualisierte Gewalt, die dazu gedacht ist, das Gegenüber zu demütigen.“ Jean hielt inne. Er fror in der Bewegung ein und starrte ihm durchdringend in die Augen. „Gut…“, erwiderte er schleppend und höhnisch. „Dann bin ich anscheinend, was Sex angeht, noch ach so jungfräulich.“ Jeremy schloss die Augen. Er öffnete sie, als er ein Geräusch hörte und stellte fest, dass Jean zurückgewichen war. Seicht schüttelte er den Kopf. „Sex kann etwas Schönes sein.“ „So wie bei dir und dem Reporter?“ „Ja.“ „Es war ekelhaft zu sehen, wie du dich hast ficken lassen!“, spie Jean ihm wutentbrannt und zornig entgegen und Jeremy schluckte. Die Worte taten weh, absolut, sie trafen mühelos sein Innerstes. Er verstand, warum Jean das sagte, er verstand das Trauma, das dahinterstand. Er verstand auch die Wut in Bezug auf seine Person. Er hatte ihn sicherlich getriggert durch sein Verhalten und Jeremy sah zu Boden. Ja, er begriff es. Es war kein schöner Moment, sondern ein schreckliches Begreifen. „Entschuldigung. Wenn ich gewusst hätte, dass du eher kommst, dann wäre Allan nicht zu mir gekommen. Entschuldigung, wenn wir dich mit unserem Tun getriggert haben sollten“ Für seine Sexualität würde sich Jeremy aber niemals entschuldigen. Niemals. Jean zischte und ging kommentarlos an ihm vorbei zur Tür. Jeremy hörte mehr als dass er sah, wie der andere Junge sich seine Schuhe anzog und das Apartment verließ. Vielleicht war das auch gut so, denn so sah er Jeremys unwürdigen Heulkrampf nicht. ~~**~~ Jean kam nicht weit in seiner Flucht vor sich, der Wahrheit, seiner Vergangenheit, seiner Gewalt und nicht zuletzt seinem Kapitän, dessen Bestürzung, Trauer und Entschuldigung in seinen Ohren brannten. Er konnte mit der Achterbahn seiner Gefühle nicht umgehen. Erst war da Wut gewesen, dann Schock, dann Verzweiflung und wieder Wut, dieses Mal jedoch hilfloser, als er begriffen hatte, dass er wieder einmal jemanden angegriffen hatte, der es nicht verdient hatte. Aus dieser wurde erneut tief verwurzelte Verzweiflung, als sich das Thema unaufhaltsam dem näherte, was Jean am Liebsten ganz tief in sich eingeschlossen hätte. Doch nein, die Wunde war aufgebrochen und er hatte alles dafür getan, Knox zu verletzen mit seiner Wahrheit, seinen Worten und seinen Anschuldigungen. Als wäre der blonde Junge nicht schon geschockt genug gewesen, von den Vergewaltigungen zu erfahren, hatte er ihm natürlich noch auf die Nase binden müssen, dass er selbst der Grund für die Dritte gewesen war. Und als wäre das nicht genug, hatte er zuletzt auch noch seinen Ekel ausgedrückt vor dem, was Knox und der Reporter getan hatten. Wofür Knox sich entschuldigt hatte, obwohl er der Letzte war, der sich entschuldigen musste. Jean saß auf den Treppenstufen zum Dach und wusste, dass es vermutlich keinen schlechteren Menschen als ihn gab. Keinen brutaleren und gemeineren Menschen. Knox hatte ihn nicht verdient. Knox hatte jemanden in seiner Nähe verdient, der nicht mit physischer und psychischer Gewalt auf ihn und sein Umfeld losging. Er gehörte nicht an die Seite seines Kapitäns, er durfte nicht in seiner Nähe sein. Er würde sich bei Knox entschuldigen und dann um einen anderen Raum bitten. Vielleicht bestand ja auch die Möglichkeit, dass er alleine in ein Apartment kam, um niemanden zu gefährden. Jean fürchtete sich vor dieser Möglichkeit, doch er sah keine andere Lösung. Es wäre zu Knox‘ Besten. Über einen Mannschaftswechsel konnte und wollte Jean nicht nachdenken. Wenn er sich zurückzog und soweit alleine blieb, dass niemand ihm zu nahe kam, dann würde es hier auch gehen, oder? Hier, wo sie ihn akzeptierten, mit all seinen Narben. Aber würden sie das auch tun, wenn sie erfuhren, was er ihrem Kapitän angetan hatte? Jean glaubte es nicht und dennoch dachte er, dass er mit ihrer Missachtung besser leben können würde als mit der Gewalt einer anderen Mannschaft. Er stützte seinen Kopf in die Hände und schloss die Augen. Er war so ein Monster. So ein verdammtes, ekelhaftes Monster. ~~**~~ Letzten Endes benötigte Jean drei Versuche, um seinen Schlüssel in das Schloss ihres Apartments zu stecken und die Tür aufzuschließen. Seine Hände zitterten so sehr, dass er sie kaum unter seine Kontrolle zwingen konnte. Das wurde mit Betreten der Wohnung auch nicht besser. Von Knox war in der Küche und im Wohnzimmer keine Spur zu finden, selbst der Schreibtischstuhl stand wieder an seinem angestammten Platz. Jean hielt abrupt inne, als er den Berg auf Knox‘ Bett sah. Sein Kapitän hatte sich trotz der Wärme in die Decken eingerollt. Nichts, noch nicht einmal Haarsträhnen schauten hinaus und Jean wünschte sich fast, dass er wie zuvor auch schon per Chat kommunizieren konnte. Doch das Handy des Jungen lag über ihm auf der Anrichte. „Knox?“, krächzte Jean und räusperte sich. Er wartete, doch nichts tat sich. Er versuchte es nochmal, lauter dieses Mal, doch auch dieses Mal tat sich nichts. Etwas verloren stand er vor dem Bett und überlegte, was er tun sollte. Was er tun durfte. Was seinen Kapitän nicht noch mehr verletzen würde. Jean entschied für die Proaktiveste aller Möglichkeiten und griff nach dem oberen Ende der Decke. Er zog sie soweit hinunter, dass er das Gesicht seines Kapitäns sehen konnte. Erschrocken drehte dieser sich zu ihm um und Jean sah nun auch den Grund, warum Knox nicht reagiert hatte. Er trug seine Ohrenstöpsel und aus ihnen drang leise Musik zu Jean. Er hatte geweint, was Jean nur zu deutlich an den geröteten und geschwollenen Augen sah. Mit großen, blauen Augen starrte er Jean an, rührte sich aber nicht und es war genau das, was ihm das Herz brach, schnell und unsauber. Sein schlechtes Gewissen überrollte Jean wie eine Flutwelle. Er hatte das angerichtet. Er hatte Knox das angetan. Da war es verdammt nochmal seine Aufgabe, das wieder gut zu machen. Bedacht darauf, Knox nicht anzufassen, pflückte er dessen Ohrstöpsel aus den Ohren und legte sie auf das Bett, bevor er aus dessen Näher heraustrat und zu seinem eigenen Bett zurückkehrte. Langsam ließ Jean sich darauf nieder und verschränkte die Hände auf seinen Oberschenkeln. „Es tut mir leid“, begann er und traf auf uncharakteristische Stille. Knox sagte keinen Ton und bewegte sich nicht, auch wenn Jean spürte, wie die blauen Augen auf ihm lagen. „Es tut mir leid, dass ich dich und den Reporter verletzt habe. Es tut mir leid, dass ich dich angefahren und dir schlimme Dinge gesagt habe, die dich verletzen. Ich hätte das nicht sagen sollen mit dir und der…“ Jean machte eine hilflose Handbewegung, nicht weiter erläuternd, was er meinte. „Ich meine, dass Riko… das hätte ich nicht sagen, weil es unwichtig ist. Alles daran war unwichtig, weil es hier keine Rolle mehr spielt. Und…und es war nicht ekelhaft zu sehen, wie du und er…was ihr miteinander gemacht habt. Ich war nur in dem Moment geschockt und die Erinnerungen kamen in mir hoch…ich… es tut mir leid.“ Jean verstummte und wieder begrüßte ihn Stille, die mit ihrer Schwere seine Nerven ausfranste. „Ich bin nicht wie Riko. Ich bin kein Monster, das Menschen nur aufgrund von…anderen Vorlieben hasst. Ich weiß ja noch nicht einmal, welche Vorlieben ich selbst habe.“ Er schnaubte verächtlich. „Deswegen war es auch nicht ekelhaft, wirklich nicht. Du…nichts an dir ist das. Ekelhaft meine ich. Du bist…ein Mensch.“ Jean räusperte sich, als er merkte, dass der Satz so keinen Sinn ergab. „Du bist kein Monster, sondern ein Mensch. Du hast mich immer menschlich behandelt und mir gezeigt, dass es auch so etwas wie ein Leben gibt. Du…ich habe keine Angst vor dir und das, obwohl du mein Kapitän und ein Junge bist und auf Männer stehst.“ Jean verstummte und begriff, dass auch das falsch klingen musste. Er holte tief Luft. „Du bist einfach du und damit die Antithese zu Riko, obwohl ihr beide männliche Kapitäne seid. Ich bin gerne in deiner Nähe.“ Womit er zu dem Thema kam, das ihm ebenso schwer im Magen lag. „Aber ich bin mir bewusst, dass du sicherlich nicht mehr gerne in meiner Nähe bist. Ich bin eine Bürde, seitdem ich hier bin. Ich mache dich immer wieder traurig und ich verletze dich, obwohl ich es dir anders versprochen habe. Ich sollte mich von dir fernhalten. Ich sollte hier nicht wohnen. Ich sollte nicht Teil dieses Teams sein, zumindest nicht direkt.“ Er verstummte, nun, da er alles gesagt hatte. Immer noch kam nichts von Knox und Jean fand schließlich die Kraft, hochzusehen. Sein Kapitän starrte ihn an und weinte stumm. Völlig regungslos saß er auf seinem Bett und sah Jean in die Augen, Verzweiflung wie ein Leuchtfeuer auf seinem Gesicht und in seiner eingesunkenen Gestalt. Jean wartete darauf, dass Knox etwas sagte, irgendetwas auf seine Worte entgegnete, doch nichts kam. Keine Silbe. Noch nicht einmal die Lippen bewegten sich. Da waren nur Tränen und Jean fühlte sich mit jeder Sekunde, die verstrich, schlechter und schlechter. Es ging Knox nicht gut, das sah er, und er war Schuld daran. Ausschließlich er mit seinen wütenden, unbedachten Worten. Jean schluckte. „Ich werde immer wieder so wütend, so unbeschreiblich wütend. Es ist wie ein Rausch, in dem ich alles verletzen muss, was sich in meiner Nähe befindet, ohne Rücksicht darauf, was mir diese Person getan hat. Ich habe soviel Hass in mir, dass ich ihn nicht steuern kann und manchmal glaube ich, dass es besser wäre, wenn du mich wie Riko dazu zwingst, ihn zu unterdrücken.“ Rau und gepeinigt entkamen ihm die Worte, die er jetzt erst, wo er sie äußerte, auch begriff. Er verstand, wie ernst er sie meinte. Eine Reaktion entlockte es Knox jedoch nicht. Wie festgefroren schienen die blauen Augen und in Jean wuchs der Drang, Knox zu schütteln, anzufassen, irgendetwas zu tun, nur damit dieser ihm eine Reaktion zeigte. Doch er traute sich nicht. „Ich…soll ich Alvarez oder Dermott holen?“, fragte Jean schließlich unruhig und als er wieder keine Antwort erhielt, erhob er sich. Knox ging es nicht gut, ganz und gar nicht und er konnte gerade keine Entscheidung treffen. Also musste Jean diese für ihn treffen. Jean drehte sich weg und war bereits bei ihrer Tür, als ihn ein gekrächztes „Nein.“ zurückhielt. Es hätte gut und gerne auch ein Peitschenschlag sein können, doch der Vergleich war unfair. Niemals hatte Knox Hand an ihn gelegt. Niemals hatte er ihn derart bestraft. Knox‘ Stimme war eher wie der Anker, der ihn in die Realität zurückholte und so drehte Jean sich abrupt um. „Nein zu was?“, fragte er, in der Hoffnung, dass Knox weiter mit ihm sprach und ins Leben zurückkehrte. Er hatte Glück damit, so schien es zumindest, auch wenn dieses Glück zweifelhaft war. Knox sah ihn nicht an und Jean war dankbar darum, insbesondere, als dieser sich räusperte. „Nein zu allem.“ Ja, Jean war wirklich froh, dass sein Kapitän gerade Eva taxierte und nicht ihn. ~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 40: Der Reporter, der keinen Namen hat ---------------------------------------------- Jean wartete, dass Knox seine Worte noch näher erläuterte, doch nach diesem einen, ersten Satz kam erst einmal nichts mehr. Der blonde Junge fixierte Eva, als würde sie gerade mit ihm sprechen und tat nichts außer atmen. Bewusst ein- und auszuatmen, wie Jean nach ein paar Sekunden bewusst wurde. Er kannte diese Technik, Day hatte sie ihm beigebracht in Evermore, als er zum ersten Mal das Gefühl gehabt hatte zu ersticken. Knox klang nicht danach, aber Jean beobachtete ihn trotzdem genauestens. Ihm kam ein Gedanke, der zwar absurd, aber nicht wirklich unmöglich war. Knox hatte ihm Eva in die Wüste mitgebracht. Vielleicht sollte er seinem Kapitän also jetzt das Kuscheltier geben, damit dieser sich an irgendetwas festhalten konnte? „Möchtest du sie halten?“, fragte er deswegen und deutete auf das Plüschtier, erhielt jedoch ein Kopfschütteln als Antwort. „Ich möchte, dass du hierbleibst. Ich möchte mit dir alleine sprechen, ohne Alvarez oder Laila.“ Wer war Jean, dass er Jeremys Wünschen nicht folgte? Zögerlich verharrte er am Türrahmen und ging dann zu seinem Schreibtisch. Er ließ sich auf den Stuhl dort nieder und sah Knox in die abwesenden Augen. Die Tränen versiegten langsam und Jean war dankbar darum. Er wusste nicht, was er mit seinem weinenden Gegenüber machen sollte. Ihn in die Arme nehmen so wie es Knox getan hatte, schloss sich aus. Nicht nach der Gewalt, die er über seinen Kapitän und dessen Freund gebracht hatte. Jean wartete und die Stille schien Knox schließlich aus seiner eigenen Blase zu holen. Langsam sah er auf und robbte sich auf seinem Bett zurück, lehnte sich an die Wand zurück. Fahrig wischte er sich die Tränen aus den Augen und strich sich die Haare zurück, die ihm wild vom Kopf abstanden. Knox holte tief Luft und seufzte dann. „Du musst dir kein anderes Apartment suchen, Jean. Dies hier ist dein Zuhause und ich werde dich nicht bitten zu gehen. Ich werde dich auch nicht unterdrücken, dich oder eine Wut. Ich werde dich zu nichts zwingen, was du nicht willst. Niemals.“ Knox‘ Stimme war noch zittrig, wurde aber immer entschlossener. Jean hingegen blieb stumm. „Das, was du erlebt hast, ist fürchterlich und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, dass dir das in meinem Namen angetan worden ist und dass du meinen Namen deswegen nicht aussprechen möchtest.“ Jean blinzelte überrascht. Wie kam Knox denn darauf? „Das ist nicht der Grund“, sagte er stirnrunzelnd. „Ich habe kein Problem, dich bei deinem Vornamen zu nennen.“ „Du tust es aber nicht.“ „Weil…“, begann Jean und hielt inne. Ja, warum eigentlich? Am Anfang, weil er Distanz zwischen sich und seinem Kapitän gewollt hatte. Riko hatte ihn gezwungen, ihn bei seinem Vornamen zu nennen. Das hatte er mit Knox von Anfang an unterbinden wollen. Er hatte Knox nicht gekannt und sich deswegen für den Nachnamen entschieden. Mittlerweile hatte er den anderen Jungen schon mehrfach bei seinem Vornamen genannt und es war nur ungewohnt gewesen, aber nicht schlimm. „Du musst es nicht, wenn du nicht willst“, versicherte Knox es ihm und Jean nickte. Er wusste das. Mittlerweile. „Du hast einen schönen Namen“, platzte er deswegen auch hervor, in der Hoffnung, dass Knox verstand, worauf er hinauswollte. „Er ist mir nicht zuwider, auch nicht, nachdem…danach eben. Mir gefallen beide deiner Namen.“ Jean war beinahe schon froh, das kurze Lächeln auf den Lippen seines Kapitäns zu sehen, denn es löste die angespannte Stimmung zwischen ihnen beiden zumindest zum Teil. „Jean, hast du mit Brian schon einmal über das gesprochen, was dir passiert ist?“, fragte Knox schließlich ruhig und er schüttelte den Kopf. „Nein, wir reden nur über dies und das“, antworte Jean ehrlich und sah die aufkommende Sorge im Gesicht des anderen Jungen. „Ich habe ihn darum gebeten, weil ich nicht über das sprechen wollte, was passiert ist. Ich habe ihm nur das mit der Wüste erzählt.“ Knox schluckte deutlich hörbar und senkte seinen Blick auf die Bettdecke. Da war es wieder, das Thema, was den blonden Jungen sprachlos machte. Natürlich hatte Jean das auch noch aufbringen müssen, der er Knox noch nicht genug traumatisiert hatte mit seiner Gewalt und seinen Erinnerungen. „Du gehst nur zu ihm, weil ich dich drum gebeten habe, oder?“, fragte er und Jean fand nicht die Kraft, Knox anzulügen. Also nickte er schweigend und sah mit Schrecken, dass es erneut Tränen waren, die in den blauen Augen standen und zu fallen drohten. Jean schluckte. „Mittlerweile ist es okay. Wir reden ja. Ich erkenne auch, was daran sinnvoll sein könnte. Es war eine gute Idee, Knox“, versuchte er hilflos zu versichern, in der Hoffnung, zumindest einen Bruchteil dessen besser zu machen, was zwischen ihnen im Raum waberte. „Und ich werde mit ihm darüber sprechen…freiwillig, versprochen.“ Knox nahm das zögerlich zur Kenntnis und Jean stellte fest, dass das mangelnde Vertrauen in seine Worte ihn unsicherer und missgestimmter machte, als er es zunächst für möglich gehalten hatte. „Sollen wir zusammen zur Polizei gehen?“, fragte Knox schließlich und nun war es an Jean, entsetzt zu sein. Er schüttelte den Kopf. „Keine Polizei“, presste er hervor. „Das werden die Moriyamas niemals erlauben. Sie wollen nichts, was ihrem Ruf schadet.“ „Aber diese Arschlöcher haben dir wehgetan.“ Jean ballte seine Hände zu Fäusten und sah aus dem Fenster. „Und dafür wurde ich entschädigt.“ „Wie? Indem sie dich haben gehen lassen?“ Jean schnaubte abwertend. „Erinnerst du dich an die fünf Millionen? Sie haben mir für jedes Mal eine Million ausgezahlt. Und ich habe eine Reduzierung meines prozentualen Anteils bekommen, den ich an die Moriyamas abzutreten habe. Es sind keine achtzig Prozent mehr, sondern nur noch gnädige sechzig. Das ist ihre Art der Wiedergutmachung. Wenn ich aber zur Polizei gehe, bringen sie mich um.“ Seinen Worten folgte Stille. Knox musste die Informationen erst einmal verarbeiten und Jean ließ ihm alle Zeit der Welt dazu. „Möchtest du etwas zu trinken?“, fragte er schließlich und sein Kapitän nickte stumm. Jean erhob sich und ging in die Küche, hauptsächlich, um dem anderen Jungen die Möglichkeit zu lassen, sich zu sortieren und eine Antwort auf das zu finden, was er gerade gehört hatte. Eine Antwort, die hoffentlich keine Polizei beinhaltete. Er ließ sich Zeit und als er mit einem Glas Limonade wieder zurückkam, empfingen ihn blaue, durchdringende Augen, die um Längen mehr Leben in sich hatten als noch vor ein paar Minuten. „Spielen sie noch für die Ravens? Waren es die, die dich auf dem Bankett abgefangen haben?“, fragte Knox betont ruhig und Jean schüttelte den Kopf. „Sie haben alle bereits ihren Abschluss. Niemand ist mehr da. Der jetzigen Kapitän der Ravens wollte immer, aber Riko hat ihn nicht gelassen.“ Es war erstaunlich, wie leicht es ihm fiel, losgelöst von seinen eigenen Emotionen darüber zu sprechen. Jean blinzelte. Gerade so, als würde er über eine zweite Person sprechen, die neben ihm stand. Als wäre das nicht ihm passiert. Es war besser als die Verzweiflung und die Demütigung, die er im Traum empfand oder das Echo des Schmerzes, das sich nach dem Aufwachen durch seinen ganzen Körper zog. Jean gab seinem Kapitän das Glas und Knox nahm es mit zitternden Händen an. Vorsichtig stellte er es auf seine Oberschenkel. „Wie kann ich dir helfen?“, fragte er schließlich und nun war es an Jean, in nachdenkliches Schweigen zu verfallen. Seine Alpträume und seine grundlegende Angst würden ihn ewig begleiten und er glaubte nicht, dass er sie jemals verlieren würde. Er war in der Lage, das Leben, so wie es war, zu probieren und dafür war er dankbar. Er erlebte Dinge, von denen er gedacht hatte, dass sie ihm ewig vorenthalten blieben. Ihm ging es besser als in Evermore, auch und gerade dank seines Kapitäns. Was sollte Knox also noch mehr tun? Es gab doch nichts mehr zu tun…außer, dass er mit Brian darüber sprach, was passiert war. Über die Wut, die er in sich spürte und mit der er andere Menschen verletzte. „Ich möchte nicht mehr wütend werden. Ich möchte niemanden verletzen…der es nicht verdient hat.“ Knox hob die Augenbraue und Jean hielt dem kritischen Blick stand. „Hast du schonmal überlegt, ob Boxen vielleicht etwas für dich wäre?“, fragte er schließlich und Jean schüttelte den Kopf. Das, was er an Gewalt gelernt hatte, hatte ihm Evermore beigebracht. Dass es so etwas auch als Sportart gab, hatte er erst viel später erfahren und hatte darüber gelacht. „Ich könnte dich mit Shirley bekannt machen, sie leitet unseren Boxclub hier an der USC.“ Jean runzelte die Stirn. „Denkst du, es wäre eine gute Idee, dass ich lerne, wie ich zuschlage?“, fragte er und verschränkte die Arme. Der Gedanke daran, dass er das Wissen erlangte, wie er gut zuschlagen konnte um jemanden zu verletzen, war verstörend. Doch Knox schüttelte den Kopf. „Vielleicht kann dir das Training helfen, deine Wut zu kanalisieren. Und Shirley ist eine gute Lehrerin.“ Jean sah auf seine Hände, seine missgestalteten, brutalen Hände, die vor nicht einmal ein paar Stunden einen unbeteiligten, unschuldigen Jungen gewürgt hatten, weil er selbst von einer fatalen Fehlannahme ausgegangen war. Was war, wenn diese gewalttätigen Hände auch noch wussten, was sie taten? „Ich möchte mich bei dem Reporter entschuldigen“, sagte er in Gedanken und Knox brummte zustimmend. „Ich möchte ihm sagen, dass es mir leid tut und ihm Wiedergutmachung anbieten.“ „Sein Name ist Allan“, ergänzte Knox sanft und Jean nickte. Das wusste er, aber jedes Mal, wenn der Name in seinen Gedanken auftauchte, sah er den Jungen vor seinem inneren Auge, wie er mit Knox schlief und wie seine Augen angsterfüllt und panisch auf ihm ruhten. Ihm war es unwohl, den Reporter bei seinem Namen zu nennen. „Es kann sein, dass er dich anzeigen wird. Ich möchte, dass dir das bewusst ist. Einen Menschen zu würgen, ist Körperverletzung und es kann sein, dass er sich für diesen Weg entscheidet.“ Jean schluckte schwer. Eine Anzeige wegen Körperverletzung würde Kontakt mit der Polizei bedeuten. Kontakt mit der Polizei wäre schlecht und es würde die Moriyamas auf seine Spur bringen. Wenn er zuviel Ärger machen würde, dann würden sie ihn mit Sicherheit entsorgen. Er nickte trotzdem, denn das Letzte, was er wollte, war, seine Verbrechen ebenso zu vertuschen wie es in Evermore geschehen war. „Ich verstehe“, murmelte er und sah zur Seite. Auch das lief anders hier in Los Angeles. Straftaten konnten nicht ungesühnt bleiben. Durften nicht, eben weil hier jeder Mensch zählte. „Sprich mit ihm, Jean. Erkläre, was du in dem Moment gedacht hast. Allan wird dir zuhören, bevor er eine Entscheidung trifft, da bin ich mir sicher.“ Jean war sich dessen nicht so sicher. Hätte er es anstelle des Reporters getan? Sicherlich nicht. Schließlich gab er Day auch keine Möglichkeit, sich ihm gegenüber zu rechtfertigen. „Okay“, erwiderte er dennoch, wenngleich auch nur, um Knox zu beruhigen. Eine Bewegung auf dem Bett ließ ihn hochschrecken, allerdings nicht so sehr, wie es die Hand des anderen Jungen auf seiner tat. Er zuckte zusammen und Knox hob seine Finger beinahe augenblicklich wieder, ganz zu Jeans erneutem Schrecken. Bevor Knox sie zurückziehen konnte, beugte Jean sich nach vorne, ergriff sie und hielt sie fest. „Das ist okay. Bitte nicht“, sagte er hastig und warf einen Blick in die blauen Augen, die ihn aufmerksam musterten. Knox‘ Lippen waren kritisch verzogen, doch er entzog Jean seine Finger nicht. „Meine Berührung ist dir unangenehm.“ Es war mehr eine Frage als eine Aussage und Jean schüttelte vehement den Kopf. „Nein, das stimmt nicht. Ich habe mich nur erschrocken. Bitte…zieh keine Verbindung zu dem, was ich dir gesagt habe.“ Beinahe schon flehte Jean, denn das Letzte, was er wollte, war, dass Knox nun seine Gegenwart mied, weil er…angefasst worden war. „Ich bin auch nicht krank. Sie haben immer Kondome benutzt“, fügte er an, sollte das das Problem sein, doch anscheinend lag er damit schon wieder falsch, wenn er sich das Entsetzen in den Augen des anderen Jungen betrachtete. „Oh, Jean…“ Schneller, als er reagieren konnte, war Knox aufgestanden, seine Hand immer noch im festen Griff. Er wurde ebenfalls hochgezogen und sein Kapitän schloss ihn so eng in seine Arme, dass Jean allen Ernstes die Luft wegblieb. Knox‘ Hände rubbelten wieder und wieder über seinen Rücken, während Knox ihn fest an sich drückte. „Sag so etwas nicht. Du bist so oder so nicht krank und selbst wenn, würde mich das nicht abschrecken, Jean. Wirklich nicht!“, drang es gedämpft zu ihm und Jean stöhnte. „Zuviel…“, presste er hervor. „Knox…das ist zuviel!“ Abrupt wurde er losgelassen und Jean atmete ächzend durch. Er starrte auf Knox hinunter, der mit großen Augen seinen Blick erwiderte, die Hände auf erneuten Kontakt lauernd an seiner Seite. „Ich verstehe, was du mir sagen willst“, erläuterte Jean vorsichtig und seufzte. „Und ich bin dir dankbar dafür. Wirklich dankbar. Auch dass du… dass du keine Angst vor mir hast. Trotz allem, was ich getan habe. Und dass du mich normal behandelst, auch wenn ich dich…so gesehen habe.“ Knox legte den Kopf schief. „So?“ Jean räusperte sich und deutete auf das Bett hinter Knox. Der betont nicht hinsah, aber dessen Wangen sich innerhalb von Sekunden rot färbten. Mit Erstaunen erkannte Jean, wie sehr er diese spezielle, menschliche Regung mochte, wenn sie nichts mit Wut zu tun hatte. Er mochte die Emotionen, die dahinterstanden. „Du hast deine Haare anders“, murmelte Knox schließlich und Jean hob die Augenbraue. „Das ist eine Ablenkung, Knox. Noch dazu eine leicht vorhersehbare.“ „Aber es stimmt doch.“ Ja, das tat es. Eher unbewusst fuhr sich Jean durch die kürzeren Strähnen und sah, wie sein Kapitän ihn dabei sehr genau beobachtete. „Es sieht gut aus“, sagte er schließlich und Jean senkte seine Hände wieder. Seine Kopfhaut kribbelte, mehr als sonst. „Danke. Allison hat sie geschnitten.“ „Sie kann das gut.“ „Das sagt sie auch über sich.“ Knox lächelte und Jean ließ sich anstecken von dem positiven Gefühl nach soviel Schlimmen. ~~**~~ „…und dazu einen Iced Moccha mit Browniestückchen mit extra viel Sahne und Karamellsirup, bitte.“ Jeremy grinste breit und das Mädchen hinter dem Tresen – Natasha – erwiderte eben jenes Grinsen mit einem Augenzwinkern. Sie gehörte zu den Erstsemestern seines Studienganges und war ein Sonnenschein. Ihre Eltern hatten eine Großfarm im West Virginia, welche sie später übernehmen würde. Um darauf vorbereitet zu sein, studierte sie an der USC und soweit es Jeremy bisher mitbekommen hatte, war sie ziemlich gut darin. Sie hatte, insbesondere was die wirtschaftlichen Komponenten ihres Studiums anging, einen sehr scharfen Verstand. Jean stand neben ihm und sah mit stummer Verachtung auf die Monströsitäten, die er gerade bestellt hatte. Für den Backliner…schwarzen Kaffee. Für sich einen Chai Latte mit extra Sahne und für Allan dessen Lieblingsgetränk mit Browniestückchen. Es diente als Unterstützung für Jeans Versuch, sich bei Allan zu entschuldigen, dem der andere Junge nur zugestimmt hatte, als Jeremy ihm versprochen hatte, mit dabei zu sein und ihn nicht mit Jean alleine zu lassen. Jeremy hatte dem nach Rücksprache mit Jean zugestimmt und so waren sie hier, drei Tage, nachdem es passiert war. Drei Tage, nachdem Jeremy jede Nacht mit Alpträumen aufwachte und Jeans wissenden Augen begegnete. Drei Tage, in denen er jede Regung an Jean beobachtete, um sich sicher zu sein, dass es nichts gab, was den anderen Jungen nicht doch triggerte. Drei Tage, in denen er mit sich haderte, ob es die richtige Entscheidung war, es Coach Rhemann nicht zu sagen und darauf zu vertrauen, dass Jean mit Brian sprechen und zu Shirley gehen würde. Drei Tage und er hatte wenig von dem verarbeitet, was Jean ihm gesagt hatte. Immer und immer wieder kreisten Jeremys Gedanken um die Gewalt, die Evermore ausmachte und das Vertuschen durch die Universität und den Verein zugunsten der Moriyamas. Er begriff, welchen Mut Renee innegehabt hatte, als sie Jean dort herausgeholt hatte. Was er allerdings nicht begriff, war, wieso Kevin nichts getan hatte. Spätestens, nachdem Jean in seiner Anwesenheit vergewaltigt worden war, hätte er doch reagieren müssen. Wie hatte er zusehen können? Jede Minute, die Jeremy darüber nachdachte, machte ihn wütender, also schob er diese Gedanken ganz weit von sich. Zunächst. Jean war in den drei Tagen schweigsamer geworden. Er war wieder dazu übergegangen, Jeremy zu folgen, immer einen Schritt hinter ihm und genauestens zu beobachten, was sein Kapitän tat. Das als solches war nervenaufreibend, aber Jeremy ahnte, was dahintersteckte. Er hoffte, dass Jean dieses Verhalten der Unsicherheit und der Unterordnung früher oder später wieder aufgeben würde und dass sie bis dahin durchhalten würden. Heute Nachmittag hatte Jean erst einmal einen Termin mit Brian und je nachdem, was dieser zu Shirley sagte, würde er sie nächste Woche treffen. Vielleicht würde ihm sogar eine Perspektive außerhalb der Trojans gut tun. „Holst du noch drei Zucker?“ Jean schauderte und Jeremy begrüßte diese Reaktion, so wie er jede Reaktion begrüßte, die fernab von seiner Unterordnung lag. „Ist das nicht schon süß genug?“ Eigentlich war Jeremy froh über den bissigen Kommentar seines Backliners, lockerte er ihr Hiersein doch etwas auf. Andererseits war er selbst zu nervös, um frei darüber zu lachen, also schnaufte er indigniert. „Sie, Sir, haben keine Ahnung“, erwiderte er anklagend und hob seine Augenbraue, während er Jean herausfordernd in die Augen starrte. Dass Jean nichts von seiner These hielt, sah er. Augenrollend gab dieser jedoch auf und holte die erforderliche Menge an Zucker, barg sie in seiner rechten Hand. Mit seiner Linken griff er Jeremys Getränk, während Jeremy Jeans Kaffee und Allans Iced Mocha nach draußen trug, wo sie mit dem anderen Jungen verabredet waren. Sie würden sich etwas abseits in den Schatten setzen, außerhalb der Hörweite anderer Leute, aber sie wären in der Öffentlichkeit. Das war Allans Bedingung für ihr Treffen gewesen. Jeremy sah sich um hob die Hände mit den Bechern, als er Allan in der Ferne erkannte. Der andere Junge nickte ernst und kam dann langsam auf sie zu, seine Augen aufmerksam auf Jean gerichtet. Jeremy folgte dem Blick und lächelte versichernd in die Unruhe des größeren Jungen. Als Allan zu ihnen trat, schloss Jeremy ihn in die Arme und hauchte ihm einen Kuss auf die Nase. Es war zwischen ihnen immer eine Geste der Beruhigung gewesen, die Allan eingeführt hatte, eigentlich ursprünglich, um Jeremy von dem angespannten Druck seines Eindringens abzulenken. Schamlos kopierte eben jener die Geste jetzt und zog Allan mit sich zu Boden. Weitaus langsamer und zögerlicher folgte Jean und ließ sich mit gegebenem Abstand ihnen gegenüber nieder. ~~**~~ Sie sahen aus wie ein schönes Paar, so wie sie ihm hier gegenübersaßen. Knox hatte seine Hände beruhigend auf den Unterarm des Reporters gelegt und ihm sein abartig süßes Getränk in die Hände gedrückt. Während Jean seinen Kaffeebecher zwischen seinen Händen drehte, nippte Knox an seinem eigenen Süßkram. Er hatte den Eindruck, dass er störte und vermutlich hatte er genau das verdient. Schließlich hatte er massiv gestört. Er hatte die Beiden ihrer Zweisamkeit beraubt und musste nun dafür geradestehen. Jean senkte den Blick auf den Deckel und knibbelte mit seinen Fingern an dem nicht ganz sauber abgeschnittenen Plastikrand. Mut schöpfend sah er schließlich hoch, direkt in die Ablehnung des Reporters. „Ich hätte nicht so reagieren sollen, wie ich es getan habe“, begann Jean. Ungebeten überkamen ihn Erinnerungen an die Sekunden, die ihm Dinge eingeflüstert hatten, die nur in seiner Vergangenheit da waren und nicht in Knox‘. Nicht in dem hellen, strahlenden Leben seines Kapitäns. Wie sich die beiden Körper aneinanderschmiegten und sie eine Intimität teilten, die Jean fremd war. Was genau ihn an dieser Erinnerung unzufrieden machte, konnte Jean nicht sagen. „Was dachtest du dir dabei?“, fragte der Reporter wütend. Zurecht, hielt sich Jean vor Augen. Allan hatte jedes Recht, wütend zu sein. „Ich habe gedacht, du würdest ihn zum Sex zwingen“, erwiderte er entsprechend ehrlich und sah, wie sich die Wut in dem sonst so freundlichen Gesicht nur noch steigerte. Da war kein Entsetzen wie bei Knox. „Ich? Jer dazu zwingen? Sag mal, was geht in deinem kranken Hirn für ein Film ab? Was soll das? Ist es, weil wir zwei Männer sind? Bist du homophob? Ist es das?“ Jean runzelte die Stirn. „Nein.“ Homophob, so hatte er gelernt, war die Umgebung in Evermore gewesen. Homosexuelle hassend. Nur wer gefickt wurde, war schwul, das hatte Riko ihm immer und immer wieder gesagt. Jean wusste nicht, ob das stimmte, denn er wusste nicht, ob er Männer oder Frauen attraktiv fand. Er wusste nur, dass es ihm nicht gefallen hatte, gefickt zu werden. Ob das aber hieß, dass er heterosexuell war…konnte er nicht sagen. „Nein was?“ „Allan“, mischte Knox sich beschwichtigend ein, doch sowohl der Reporter als auch Jean ignorierten ihn. „Nein, ich bin nicht homophob. Ich habe gedacht, dass du dich ihm aufzwingst und deswegen habe ich dich von ihm weggezogen.“ „Und warum hast du das gedacht? War das irgendeine kranke Fantasie?“ Der Vorwurf machte Jean sprachlos und er wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Knox gegenüber war es schon schwierig gewesen zuzugeben, was ihm passiert war. Die zornigen Vorwürfe des Reporters machten es ihm noch schwerer, überhaupt weiter über das Thema zu sprechen. „Allan, hör auf!“, ging Knox dazwischen, bevor er etwas sagen konnte. Jean nahm währenddessen einen Schluck Kaffee, um sich Zeit zu verschaffen und seine ausgedörrte Kehle zu befeuchten. „Du hast seine Hände festgehalten, ihn auf das Bett niedergedrückt und ich habe sein Stöhnen fehlinterpretiert“, zählte er schließlich dezidiert auf, was ihn dazu veranlasst hatte. Er sah, wie peinlich es seinem Kapitän war, der sowohl ihn als auch Allan stumm anflehte, diesen Punkt nicht zu genau zu beleuchten. Der Reporter hatte ein Einsehen. „Das passiert, wenn man Sex hat“, grimmte er und Jean nickte. Nicht nur beim Sex, das hatte er am eigenen Leib erfahren. Allan zog seinen Kragen hinunter und Jean konnte die blauen Flecken sehen, sie sich um den Hals wanden. Sie stammten von seinen Händen. Von seiner Gewalt. „Das hast du getan, als du ausgerastet bist. Das tut immer noch weh. Ebenso wie mein Schwanz. Außerdem hast du Jeremy zum Bluten gebracht, als du uns so abrupt voneinander gezogen hast.“ „Allan, bitte!“, begehrte Knox auf und der braunhaarige Junge schnaufte. „Willst du ihm das etwa verschweigen? Dass du geblutet hast und dir Sorgen gemacht hast, ob du zum Arzt musst mit dem Mikroriss?“ Jean blinzelte und starrte seinen Kapitän an, der sorgsam den Blick auf ihn vermied in diesem Moment. Er ließ das dem blonden Jungen nicht durchgehen, so gar nicht. „Knox?“, fragte er eindringlich und holte so die Aufmerksamkeit des Anderen zu sich. „Es war nur ein wenig und es hat auch noch am gleichen Tag aufgehört.“ Jean öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Allan kam ihm zuvor. Wütend grollte er. „Hör auf, das klein zu reden, Jer. Du hast einen gewaltbereiten Mitbewohner, der dir und mir Schmerzen verursacht hat. Willentlich. Und du nimmst ihn nun auch schon in Schutz! Ernsthaft?“ War er das? Gewaltbereit? Bei aller Wut, die Jean in sich spürte, er wollte doch niemals Knox bewusst verletzen. Es hatte ihm immer leid getan, wenn er die Kontrolle verloren hatte. Immer hilfloser senkte Jean den Blick und fragte seinen Kaffee um Rat. Natürlich konnte er nicht davon ausgehen, dass ihm verziehen würde. Er verstand die Wut des Reporters nur zu gut, hatte er sie Day und Riko gegenüber doch genauso gefühlt. „Ich bin kein Monster“, wiederholte er Knox‘ Worte, bevor er sich davon abhalten konnte und sah hoch. „Ich hätte das nicht tun dürfen. Ich habe eine gravierende Fehleinschätzung getroffen und ich möchte dafür Wiedergutmachung leisten.“ Jean begegnete der Wut des Anderen mit Entschlossenheit. Allan schnaubte abwertend. „Wiedergutmachung? Dann lass Jer in Ruhe. Ich habe Angst davor, ihn alleine mit dir in einem Raum zu wissen, nicht wissend, wann dein nächster Ausbruch kommt und was du ihm dann antun wirst.“ Unwillkürlich krampfte sich Jeans Hand um seinen Kaffeebecher. Er war kein unberechenbares Monster. Nein, wirklich nicht. „Es wird keiner mehr kommen.“ „Ach, ist das so?“ „Ich wollte Knox niemals verletzen.“ „Das sagt jeder Schläger, immer.“ „Aber ich bin kein Schläger.“ „Auch das sagen sie.“ „Allan, bitte“, mischte sich Knox erneut ein und dieses Mal war es Jean, der grollte. Er sah auf und hielt den Blick des Reporters. „Ich bin mit elf nach Amerika gekommen. Mit zwölf hat mein mittlerweile verstorbener Kapitän angefangen, mich zu schlagen und in eine Holzkiste zu sperren, wenn ich mich zu sehr gegen die Schläge gewehrt habe. Er hat mich hungern und dursten lassen, wenn er Lust dazu hatte. Er hat mich solange trainieren lassen, bis ich auf dem Spielfeld das Bewusstsein verloren habe. Ich trage die Narben von Handschellen, Bunsenbrennern, Feuerzeugen, Brotmessern, elektrischen Viehtreibern, Stöcken und Peitschen auf meinem Körper. Ich wurde Treppen hinuntergestoßen, gewaterboarded und fünfmal vergewaltigt, das letzte Mal zu meinem zwanzigsten Geburtstag, der so zum ersten Mal in Evermore gefeiert wurde. Riko hat mir das Wort Dreckshure auf die Innenseite meines Oberschenkels eingeritzt, weil ich in seinen Augen daran Schuld war, was mir passiert. Ja, Allan, ich habe ein Problem mit meiner Wut. Über die Jahre habe ich viel davon gesammelt, auch wenn du sicherlich nur einen Bruchteil davon begreifen kannst in deiner heilen Los Angeles Welt voller freizügiger Menschen ohne Probleme, die niemals in die Verlegenheit kommen werden, um ihr Leben zu fürchten oder sich zu fragen, ob in der Nacht wieder jemand in das eigene Bett steigt und dich blutig fickt.“ Jean war erstaunt, wie ruhig er die Worte, die seinen Leidensweg ausmachten, aussprechen konnte und wie fest seine Stimme klang. Sein Herz raste, doch nichts davon merkte man ihm äußerlich an. „Wäre Knox nicht, hätte ich mich jetzt schon längst umgebracht. Also sag mir nicht, dass er mir egal wäre oder dass du Angst um ihn haben müsstest. Niemals würde ich ihm absichtlich etwas tun. Mein Ex-Kapitän hat versucht, mich zu einem gewalttätigen Monster zu machen, da gebe ich dir Recht. Doch ich will das nicht. Ich will auch meine Wut nicht und da sie zu einem Problem geworden ist, werde ich etwas gegen sie tun.“ Jean verstummte und nahm einen weiteren Schluck Kaffee, während er Allan in das immer bleicher werdende Gesicht starrte, mit dem er erst ihn, dann Knox musterte. Auch Knox war gerade kein Sinnbild des Lebens, das sommersprossige Gesicht leicht gräulich und eingefallen. „Ich…“, setzte der Reporter schließlich an und es war Hilflosigkeit, die ihn keine Worte finden ließen. Jean sah Mitleid in den braunen Augen, die vorher noch so wütend auf ihn gewesen waren und schüttelte den Kopf. „Ich will dein Mitleid nicht. Ich will nur, dass du weißt, dass ich kein hirnloser Schläger bin, der Knox oder dich gefährdet. Das ist alles. Das, was ich getan habe, wird nicht wieder vorkommen, das verspreche ich.“ Jean verstummte und ließ seine Worte wirken. Er selbst fühlte sich leer und seltsam in Watte gepackt nach seinen Worten. Er hatte nichts mehr zu sagen, auch nichts mehr zu diskutieren. Seine Fingerkuppen knibbelten weiter an dem Deckel und Jean konnte sehen, wie sich die rechte Hand seines Kapitäns in sein Blickfeld schob, bevor sie sich langsam auf seine eigene legte. Immer noch war Knox‘ Haut sonnengebräunter als seine. Jean hielt inne und ließ das Gefühl der rauen Hornhaut auf sich wirken, bevor er hochsah. „Wir schaffen das“, sagte sein Kapitän mit eben jener Autorität und Zuversicht, mit der ihm sein gesamtes Team auf dem Spielfeld folgte. Dass es ebenso bei Jean wirkte, war unumstritten. Dass auch der Reporter sich davon einfangen ließ, überraschte ihn aber doch. Seufzend nickte Allan schließlich. „Ich mag dich nicht, Moreau, aber Jer hat eine gute Menschenkenntnis und anscheinend liegt ihm etwas an dir. Ich nehme dein Bedauern und deine Entschuldigung an, aber wenn das noch einmal vorkommen sollte, dann kommst du damit nicht so einfach davon.“ Das war verständlich und nachvollziehbar. Zudem beruhte es auf Gegenseitigkeit. Jean mochte den Reporter auch nicht, überhaupt nicht. Er wusste nicht genau, was es war, aber es störte ihn, Knox und ihn zusammen zu sehen. Etwas passte da nicht, auch wenn Jean keinen blassen Schimmer hatte, was es war. ~~**~~ Da mochte Jean Brian noch lieber. „Hallo Jean“, grüßte der ewig freundliche Mann ihn lächelnd und hieß ihn, sich hinzusetzen. Es war angenehm kühl hier in diesem Raum und wie immer ein wenig chaotisch. Jean ertappte sich dabei, dass er bereits Dinge wiedererkannte, die Brian deponiert und anscheinend nicht bewegt hatte. Er ertappte sich ebenso dabei, wie ihn manche Dinge störten, die sein inneres Auge mit ihrer Unebenheit belästigten und das irritierte Jean mehr als dass er es zuzugeben bereit war. Was interessierte es ihn schließlich, ob das Bild an der Wand schief hing? Es sollte ihn nicht interessieren. Dennoch zuckte es ihm nun in den Fingern und er ging kurzerhand dorthin und hängte es gerade. Nach ein paar Wochen seiner Anwesenheit hier. Es fühlte sich gut an und das ließ Jean noch mehr grollen. Betont langsam ausatmend drehte er sich wieder zurück und erwiderte Brians überraschten Ausdruck. „Oh, vielen Dank dir. Das ist sehr lieb von dir, Jean.“ Jean schürzte die Lippen und verschränkte die Arme. „Ich habe vor drei Tagen gedacht, dass der Reporter…Allan… sich meinem Kapitän aufzwingen würde und habe die Beiden beim Sex gestört. Ich dachte das deswegen, weil es so aussah, wie das, was die Spieler aus Evermore mir angetan haben“, platzte er hervor, bevor er es sich anders überlegen konnte und knirschte mit den Zähnen. „Ich soll mit dir darüber reden.“ Das Lächeln des Therapeuten erlosch und wurde zu etwas, das Jean im besten Fall als professionelles Verständnis interpretieren würde. Es machte ihn nicht unsicher, aber es zerrte an seiner Ruhe, also machte sich Jean daran, auch die anderen Dinge zu richten, die er als schief erachtete. Es fiel ihm einfacher zu sprechen, während er mit dem Rücken zu Brian stand. Das nutzte Jean jetzt, als er noch einmal das erzählte, was ihm passiert war. ~~**~~ Jeremy verteilte die Zutaten der Lasagne in die Auflaufschüssel und schob sie schließlich in den Ofen, stellte die Küchenuhr auf eine dreiviertel Stunde. Es gab Soulfood, zumindest für den Jungen, der sich im Schlafzimmer befand und seitdem er von Brian zurückgekehrt war, keinen Ton von sich gegeben hatte. Jeremy verharrte unschlüssig in der Küche ihres Apartments. Jean war schweigsam und in sich gekehrt gewesen, nicht wirklich ansprechbar. Was auch immer die Beiden in der überlangen Sitzung besprochen hatten, es tat Jean nicht gut, das hatte Jeremy schon gesehen, als Jean den Raum verlassen hatte. Jeremys an guten Tagen sowieso schon fragwürdige Selbstbeherrschung riss und er ging zur angelehnten Schlafzimmertür. Er klopfte leise gegen das dünne Sperrholz. „Darf ich reinkommen?“, fragte er und wartete einen Moment des Schweigens ab, bevor er sich seine Frage selbst beantwortete. Jean lag auf dem Bett und starrte auf den vergilbten Holzboden des Zimmers, die Kapuze des dunkelblauen Hoodies tief über seinen Kopf gezogen. Renee hatte ihm ihn geschenkt und Jeremy wusste mittlerweile, dass Jean ihn nur anzog, wenn ihm kalt war oder wenn er sich unwohl fühlte. Es war immer noch sommerlich heiß. Jeremy war sich nicht sicher, ob Jean ihn überhaupt wahrnahm. Er hatte die Beine angezogen und seine Hände halb in die Ärmel des Pullovers vergraben, eine Schutzhaltung, die Jeremy nur zu bekannt vorkam. Er fasste all seinen Mut zusammen um ihr Schlafzimmer zu betreten. „Kann ich etwas für dich tun, Jean?“, fragte er ruhig und erhielt im ersten Moment keine Antwort. Erst nach einer Weile schluckte Jean sichtbar und löste eine seiner Hände, um sich die Kapuze tiefer ins Gesicht zu ziehen. „Wieso hast du mir nicht erzählt, dass du geblutet hast?“, fragte Jean rau, ohne ihn anzusehen und Jeremy schluckte schwer. Schließlich seufzte er. „Es war in dem Moment unerheblich und es hat auch schnell aufgehört.“ „Das ist kein Grund.“ Jeremy seufzte. „Ich weiß, Jean, aber es war in dem Moment nicht meine Priorität. Außerdem haben wir bereits darüber gesprochen und du hast dich entschuldigt. Es ist okay für mich.“ Jean verstummte und schloss kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, huschte ein dunkler Schatten des Schmerzes über das halb verborgene Gesicht. „Kannst…kannst du mir erzählen, wie das wirklich ist? Also eine Beziehung zu einem Mann?“ Jeremys Augen weiteten sich überrascht. Was konnte er auf so eine Frage sagen? Was wollte Jean hören? Seine Stimme klang nicht fröhlich und angesichts dessen, was Jean erlebt hatte… „Ich weiß nicht…was willst du denn hören?“, fragte Jeremy unsicher und Jean schauderte. „Seit Brian all diese Fragen gestellt hat, sehe ich nur sie vor meinem inneren Auge. Immer wieder sie… ich möchte wissen, wie es ist, wenn es… anders ist“, presste er rau hervor. Jeremy brauchte einen Moment um zu begreifen, was Jean gerade gesagt hatte und warum er es gesagt hatte, doch dann schluckte er schwer. Und wer war er, dass er dem Wunsch des anderen Jungen nicht folgte? Etwas gezwungen lächelte Jeremy. „Darf ich mich setzen?“, deutete er auf den Boden vor seinem eigenen Bett. Er würde sicherlich sein vergangenes Liebesleben nicht im Stehen vor Jean ausbreiten, während dieser auf seinem eigenen Bett lag, sich klar erkennbar nicht wohlfühlend. Er wollte auf gleicher Höhe mit seinem Backliner sein. „Natürlich“, krächzte Jean und Jeremy nickte. Bedächtig ließ er sich auf den Boden nieder und schlug seine Beine im Schneidersitz unter. Locker legte er seine Hände auf die Knie und lächelte. „Soll ich ganz von vorne beginnen?“, fragte er und Jean nickte kaum merklich. Bisher war zwar keine seiner Geschichten gut ausgegangen, schließlich war er gerade ja Single, aber er hatte sich nie im Hass oder in Wut getrennt. Außerdem gab es haufenweise schöne Momente, mit denen er Jean überschütten konnte. Er atmete tief durch. „Ich habe mit 13 Jahren gemerkt, dass ich Mädchen zwar nicht doof finde, aber dass sie mich nicht interessieren. Es gab da jemanden in meiner Klasse, der ziemlich cool war, natürlich der beliebteste Sportler unserer Schule. Footballer, groß, breite Schultern, ernstes Gesicht. Der Traum meiner schlaflosen Pubertätsnächte, an den ich niemals herangekommen bin. Schon gar nicht als Exy-Spieler, das damals noch etwas in den Kinderschuhen steckte und nicht so cool war wie heute.“ Jeremy schnaubte amüsiert. „Wie dem auch sei, ich habe gemerkt, dass ich auf Jungs stehe und habe mich dann mit fünfzehn im Ferienlager in Tim verliebt, kurz für Timothy. Er hatte das Bett über mir und wir waren für den einen Sommer unzertrennlich. Wir haben alles miteinander gemacht und haben jeden Abend Sterne zusammen geschaut und gequatscht. Mit ihm hatte ich auch meinen ersten, richtigen Kuss, der quasi zementiert hat, dass ich auf Jungs stehe. Es war so prickelnd und so wunderschön damals, so etwas Besonderes.“ Jeremys Lächeln klang ab. „Ich habe ihn nach dem Sommercamp nie wieder gesehen. Er hat auf keine meiner Nachrichten und auf keinen Anruf reagiert. Ich weiß bis heute nicht, was aus ihm geworden ist.“ Es stimmte ihn immer noch traurig, darüber nachzudenken. „Ich hatte ordentlich Liebeskummer, das kann ich dir sagen. Ich dachte, ich würde Tim für immer haben und als er so plötzlich weg war, war alles trist und traurig. Aber dann kam Xander. Xander war Footballer, riesengroß, ein wahres Tier und furchteinflößend. Niemand, der nicht zu unserem Footballteam gehörte, hat sich getraut, ihn anzusprechen, auch ich nicht. Zumindest solange nicht, bis ich ihm auf einer unserer Highschoolgrillfeste meine Cola komplett über das Shirt gekippt habe. Ich habe gedacht, dass er mich gleich in der Toilette ertränkt für meine dumme Trotteligkeit, doch irgendwie…“ Jeremy schnaubte und lächelte in Erinnerung an den Moment, in dem er begriffen hatte, dass er nicht sterben würde. „Ein paar Wochen später war er mein erster Freund und wieder ein paar Wochen später hatte er mich entjungfert. Er war ein lieber Mensch, auch wenn er nicht wusste, wie er die Gefühle in sich nach außen transportieren sollte. Sein Vater und seine älteren Brüder waren daran Schuld, haben sie ihn doch immer für seine sexuellen Vorlieben gehänselt und ihn dazu genötigt, „männliche“ Dinge tun zu müssen. Wir haben uns nach der Highschool aus den Augen verloren, als er nach New York gegangen ist um dort bei der UN zu arbeiten. Ich glaube, momentan lebt er in Namibia und reist von dort aus durch Afrika, um die LGBTQI-Szene zu unterstützen. Ein bisschen liebe ich ihn immer noch. Er war toll, ein großartiger Tänzer und ein wahnsinnig guter Sportler. Und ein Romantiker noch dazu.“ Jeremy seufzte. „Wie hat er dich entjungfert?“, fragte Jean, bevor er fortfahren konnte und Jeremy blinzelte. „Wie?“, echote er und räusperte sich dann verlegen, rieb sich über seinen Nacken. „Also…eeh… naja. Wir hatten beide keine Ahnung von Sex, also haben wir viele Dinge zusammen gelesen und haben sie dann ausprobiert.“ Jeremy ließ es dabei bewenden, in der Hoffnung, dass Jean nicht weiter nachhakte, doch da hatte er die Rechnung ohne den sprichwörtlichen Wirt gemacht. Müde zwar, aber hochgradig aufmerksam ruhten die grauen Augen auf ihm und warteten auf eine Antwort. „Wir sind nicht sofort beim Analsex gelandet, sondern haben uns gegenseitig befriedigt und einen geblasen. Wir haben uns aneinander gerieben und mal vorsichtig ausprobiert, wie es denn wäre, es auch anal zu tun.“ Jeremy lächelte und verschränkte nervös seine Finger ineinander. Er wusste nicht, ob das, was er sagte, Jean wirklich von den Erinnerungen ablenkte oder ob er ihn nicht noch tiefer in das dunkle Moloch namens Evermore stürzte. Bisher sah es nicht so aus, aber Jeremy war lieber vorsichtiger. „Nach Monaten haben wir es dann ausprobiert und es hat uns gefallen. Also uns beiden…sowohl als auch.“ Überraschung kolorierte Jeans Züge. „Du hast auch…?“, fragte er mit genau dem Ton an fassungsloser Überraschung, der Jeremy dann doch die Röte aufs Gesicht trieb. „Na klar“, murmelte er. „Sicherlich. Ich wollte es ja ausprobieren. Also sowohl den aktiven als auch den passiven Part. Oder oben und unten. Oder wie man es auch immer nennen möchte.“ Jean runzelte die Stirn. „Aktiv und passiv?“ „Gebend und empfangend, oder etwas vulgärer ausgedrückt: derjenige, der fickt und derjenige, der gefickt wird.“ Damit schien Jean etwas anfangen zu können und er nickte. „Hier am College habe ich dann Mohammed kennengelernt, kurz Mo. Er ist bisexuell und wir haben es ein Jahr miteinander ausgehalten, bis er sich Hals über Kopf in eine Kommilitonin verliebt hat.“ Jeremy seufzte. „Er hat mit mir Schluss gemacht und seitdem bin ich lose mit Allan verbandelt.“ „Was bedeutet das?“ „Dass wir uns treffen, wenn wir Zeit haben und miteinander Spaß haben ohne eine feste Bindung einzugehen. Ich mag ihn und ich finde ihn toll, er wäre aber nicht mein Beziehungsmensch. Dafür ist er viel zu egofixiert und in seiner Berufung verhaftet. Es ist okay so, wie es ist.“ Jean starrte ihn an, als würde er noch etwas erwarten, doch Jeremy konnte sich beim besten Willen nicht erklären, was genau und warum. Das war ein Kurzabriss seines Liebeslebens gewesen und mehr gab es da auch nicht zu erzählen. Dachte er. Jean schien da anderer Meinung zu sein. „War es schmerzhaft, das erste Mal?“ Jeremy konnte sich nur mit Mühe von einem Zusammenzucken abhalten. Dass es ihn heiß und kalt durchlief, konnte er allerdings nicht verhindern. Die Frage war derart sensibel, dass er Angst hatte, auch nur den Mund aufzumachen. Was, wenn er Jean triggerte? Was, wenn er damit etwas anstieß, das er nicht bewältigen konnte? Jeremy nahm all seinen Mut zusammen und lächelte dann versichernd. „Nein, das war es nicht. Es war ungewohnt. Wir haben uns Zeit gelassen und viel ausprobiert, viel erfühlt. Wir haben auch viel gelacht, weil es alles so neu war und wir in guten Teilen unbeholfen waren. Und auch ein bisschen geflucht. Am Ende war es nicht der beste Sex meines Lebens, aber es war ein guter Anfang, der Lust auf mehr gemacht hat.“ Vorsichtig musterte Jeremy Jean, dessen Augen ohne Regung auf ihm lagen. Das Gesicht war bar jeder Emotion und die Lippen fest verschlossen. Ob seine Worte überhaupt Gehör gefunden hatten, wusste Jeremy in diesem Moment nicht. Es dauerte, bis Jean eine Regung zeigte. Schließlich waren es seine Finger, die zuckten und sich tiefer in den Pullover gruben. „Jean, es tut mir leid, was dir passiert ist“, murmelte Jeremy leise und sein Gegenüber schnaubte beinahe unhörbar. „Ich brauche kein Mitleid für Dinge, die vor Jahren passiert sind.“ Jeremy ergriff die Vorlage mehr als dankbar. „Dann sag mir, was du mehr brauchst als Mitleid, Jean, und du bekommst es.“ Jean atmete langsam aus und löste sich langsam aus seiner zusammengerollten Position. Er drehte sich auf den Rücken und streckt seine Beine aus. Seine Finger krochen aus den Ärmeln des Hoodies. „Normalität. Und Informationen, wie es eigentlich ist“, sagte er knapp. Ja, damit konnte Jeremy dienen. Er konnte Jean halbe Romane zu seinem Leben erzählen, wenn der andere Junge es wollte. Nachdenklich runzelte er die Stirn. „Das bekomme ich hin, auch wenn ich befürchte, dass ich manchmal zu sehr ausschweife. Ich beantworte es dir gerne und wenn du mal eine andere – vielleicht kürzere - Meinung dazu haben möchtest, dann kannst du sicherlich auch Andrew und Neil fragen, oder?“ Jean schnaubte und es klang wie ein verzweifeltes Lachen. Lakonisch ruhten die grauen Augen auf Jeremy, mit mehr Bewusstsein in ihnen, als er in den vergangenen Stunden gezeigt hatte. „Ich bin für mein Leben schon traumatisiert genug…danke“, erwiderte er spöttisch und Jeremy fand nicht die Beherrschung in sich, das Schmunzeln aufzuhalten, welches Jeans offenem Lächeln begegnete. Ganz und gar nicht. „Also ich finde die Beiden süß zusammen“, sagte er eigentlich nur aus dem Grund, um Jean noch eine Reaktion zu entlocken. Die bekam er und Jeremy musste nun offen lachen, als der andere Junge sich unter einem tiefen Grollen von ihm wegdrehte und sich sein Kissen über den Kopf stülpte. Er verstand keins der französischen Worte, die unter dem Kissen hervordrangen, doch das war auch nicht so wichtig. Absolut nicht. ~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 41: Wer zuletzt lacht ----------------------------- „Mae, beweg deinen faulen Arsch, das ist ja nicht mitanzusehen! Beinarbeit, verdammt nochmal! Achte auf deine Beinarbeit! Jesus Christus, faulenzen kannst du in deinen Vorlesungen, hier wird gearbeitet! Und grins nicht so blöd, Frederic, deine Bewegungen sind ungenau und unpräzise und deine Deckung ist eine Katastrophe!“ Jean beobachtete die Frau, deren tiefe Stimme durch den Box-Bereich hallte, mit großen Augen. Sie war selbst auf die Entfernung groß, vermutlich nicht viel kleiner als er. Ihre schwarzen, gelockten Haare waren in einem strengen Zopf zurückgebunden und wippten auf und ab, während sie sich bewegte. Ihr ganzer Körper war drahtig und muskulös. Wenn Jean ehrlich war, hatte er sich Boxer anders vorgestellt, als bullige, stiernackige Menschen, die grobschlächtig und brutal aussahen. Keiner der Anwesenden war das, soweit er es überblicken konnte. Weder diejenigen in dem höhergelegten Boxring noch diejenigen, die an den Sandsäcken trainierten und deren dumpfe Schläge durch die große Halle echoten. Es roch anders als in ihrem eigenen Stadion, bitterer, mehr nach Schweiß. Dafür war es dunkler als in den lichtdurchfluteten Trojansstadion. „Guck mal, Moreau, das bist du in weiblich“, grinste Valentine, die mitgekommen war. Natürlich, seine Mannschaft war schließlich ein Haufen neugieriger Menschen, ein Hivemind, der sich durch Freundlichkeit zusammenrottete und nicht durch erzwungenes Beisammensein wie die Ravens. Machte einer etwas Interessantes, dann kamen andere mit, wenn man nicht schnell genug nein sagte. Das hatte Jean heute Morgen schmerzlich gelernt, als er den Fehler begangen hatte, Knox im Beisein von Ajeet und Valentine auf Shirley anzusprechen. Und da hier jeder jeden kannte, hatten es die Beiden sich nicht nehmen lassen, mitzukommen. Jean beäugte Valentine und schnaubte verächtlich. „Blödsinn.“ Natürlich ließ sich davon nicht von ihrem unverhohlenen Amüsement abbringen und grinste. „Oh doch. Ihr Beide seid ruchlos in der Art, wie ihr Kritik äußert. Unaufhaltsam wie eine Dampfwalze.“ „Ich bin keine Dampfwalze. Meine Kritik ist berechtigt.“ „Hmh, klar. Sportspoltergeist.“ Jean streckte ihr den Mittelfinger entgegen und zuckte unter dem lauten „EY!“ zusammen, das eindeutig in seine Richtung schallte. Er sah ruckartig nach vorne und Shirley kam zu ihnen, eine unaufhaltsame Naturgewalt voller Ernst und – wie Jean nun sah, als sie näher kam – filigraner Blumentätowierungen, die sich von ihren Fingern über ihre Arme und ihren Hals bis hinunter zu den unbedeckten Unterschenkeln zogen. Jean war sich bewusst, dass er starrte, aber die feinen Linien der Blumen verschwanden beinahe auf ihrer dunklen Haut und waren deshalb umso geheimnisvoller und schöner. „Augen nach oben, Junge. Ich dulde hier keine Respektlosigkeit und keine Beleidigungen, klar soweit?“ Jean löste sich abrupt aus seiner Starre und sah ihr vorsichtig in die Augen. Er nickte und sie musterte ihn kritisch, wandte sich dann mit einem strengen Blick an Knox. „Was treibt die Exywunderkinder in meinen Boxring, Kleiner?“, fragte sie und zog den blonden Jungen in eine Umarmung, die anscheinend jedwede Luft auf dessen Lungen presste. Nicht, dass Knox großartig etwas dagegen zu haben schien. Ebensowenig wie Valentine, die sie rechts und links auf die Wangen küsste. Jean blinzelte und wich automatisch zurück, als sie auf ihn zutrat. Er hatte keine Angst vor ihr, aber sein Bedürfnis, umarmt oder sogar geküsst zu werden, war gleich null. Aufmerksam analysierte sie seine Reaktion und subtil trat sie einen Schritt zurück, gab ihm Platz und Raum und damit Sicherheit. Respekt, hallte es in seinen Gedanken wieder und Jean nickte unmerklich. Shirley kommentierte das nicht weiter, sondern umarmte Ajeet, der sie glücklich anstrahlte. „Ich würde mir gerne das Training anschauen…“, sagte Jean. „…und eventuell mittrainieren.“ Überrascht hob Shirley die Augenbrauen. „Du? Der neue heiße Exyshit an der USC bei mir? Wieso denn das? Ich dachte, ihr Ravens kennt nur einen Sport und der heißt nicht boxen?“ Jean blieb seine Erwiderung im Hals stecken und das nicht nur aus einem Grund. Er war kein Raven mehr und doch wurde er durch ihre Worte zurückgerissen in die Zeit kurz nach Evermore. Er hatte das Gefühl, ihr widersprechen zu müssen, doch er wusste nicht wie. Er wollte das, was passiert war, nicht vor Ajeet und Valentine ausbreiten, eigentlich auch nicht vor Shirley selbst. Die Hand seines Kapitäns auf seinem Oberarm ließ ihn zu Knox sehen. Dieser lächelte und schüttelte unmerklich den Kopf. „Auch wir haben unsere hellen Momente“, erwiderte Knox nichtssagend und hob herausfordernd seine Augenbrauen. Shirley und er maßen sich in einer Art stummen Duell, bevor sie schnaubte und die Hände in die Taschen ihrer Shorts steckte. „Na gut. Und das da ist dein persönlicher Fanclub?“, nickte sie auf Valentine, Ajeet und Knox. Jean seufzte. „Nein. Dreiunddreißig Prozent der hier Anwesenden waren nur neugierig.“ „Wissensdurstig, was unsere Mitsportler so machen“, verbesserte Valentine ihn und Shirley schnaubte amüsiert. „Ist klar. Also, bekomme ich euch alle oder nur den Raben? Wenn Letzteres, raus mit euch, das ist kein Amphitheater, meine Schützlinge sind keine Gladiatoren und ihr keine römische Plebs.“ Jean räusperte sich, um sein Lächeln zu überdecken und drehte sich mit schweigender Herausforderung zu seinem Fanclub. „Wann dürfen wir ihn denn wieder abholen?“, fragte Ajeet und Shirley wiegte nachdenklich ihren Kopf hin und her. „Je nachdem, wann wir fertig sind. Hast du kein Handy, Rabe?“ „Doch.“ „Ruf mich doch einfach an, wenn ihr fertig seid und ich hole dich dann wieder ab, wie wäre es?“, schlug Knox vor. „Wir, Cap. Wir“, korrigierte Valentine und Ajeet pflichtete ihr bei. Jean akzeptierte das schweigend und ahnte, dass sich dem ein abendlicher Dinerbesuch anschließen würde. „Super, dann ist das ja geregelt. Ab mit euch!“ Knox musterte ihn schweigend und Jean nickte auf die nonverbale Frage seines Kapitäns. Er würde alleine zurecht kommen. Ohne sein Team. Auch wenn die Anwesenheit von völlig Fremden immer noch eine Herausforderung für ihn war, so wäre er nicht alleine und das beruhigte ihn so weit, dass er sich auf seine Aufgabe hier konzentrieren konnte. „Bis später“, winkte Ajeet und verließ mit den anderen Beiden die Halle, ließ Jean mit der Frau alleine, die viel zu durchdringend musterte. „Komm, gehen wir in mein Büro“, sagte die Mittdreißigerin knapp und führte ihn in einen kleinen, völlig überfüllten Raum voller Trophäen, Akten und Papierstapeln. „Wenn du sitzen willst, nimm den Stapel vom Stuhl und leg ihn auf den Boden.“ Jean tat wie ihm geheißen und ließ sich auf den wackligen, knarzenden Holzstuhl nieder, der viel war, aber nicht bequem. Shirley nahm währenddessen auf ihrem eigenen Hocker Platz und verschränkte die Arme. „Also, warum ist jemand, der sein Leben Exy verschrieben und sowieso keine Freizeit hat, hier bei mir?“, fragte sie ruhiger, aber nicht weniger kritisch. Jean schwieg einen Moment lang. Wieso musste es für alles eine Begründung geben? Wieso waren die Menschen so an ihm interessiert? Jean kannte die Antwort auf alle Fragen: weil es normal war. Das hieß aber nicht, dass er sich damit wohlfühlte. „Ich bin kein Rabe mehr“, erwiderte er anstelle dessen, als würde es alles beantworten und vielleicht tat es das auch. „Ich will auch nicht als solcher bezeichnet werden.“ Überrascht hob Shirley ihre Augenbrauen, neigte dann jedoch in einer Geste der Zustimmung den Kopf. „Alles klar. Wie willst du dann genannt werden? Moreau? Jean? Nummer sieben?“ „Jean ist okay.“ „Soll mir recht sein, Jean. Also. Warum bist du hier?“ „Ich möchte meine Wut kontrolliert herauslassen.“ So gesehen war das die Quintessenz dessen, was ihn hierhin trieb. „Ich bin kein Therapiezentrum“, hielt Shirley dagegen und schürzte kritisch die Lippen. „Wenn du ein Problem mit dir hast und glaubst, es in meiner Halle lösen zu können, bist du hier falsch.“ Jean schluckte und sah auf seine Hände. „Ich bin bereits bei Brian“, erwiderte er. „Aber… mit ihm spreche ich nur. Und trotz meines Sports ist da manchmal soviel Wut. Ich möchte Dinge tun, die andere verletzen, einfach, um diese Wut loszuwerden und das will ich nicht. Ich suche also weniger eine Problemlösung als eher ein Ventil, das kein Mensch ist und bin bereit, dafür hart zu trainieren.“ Shirley lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter ihrem Kopf. „Dir ist klar, dass Boxen nicht nur das Schlagen gegen einen Sandsack ist, oder?“, fragte sie und Jean nickte. „Ich habe es nachgeschlagen.“ „Es ist Kondition, Ausdauer, Raffinesse und Präzision. Also alles, was du bereits hast.“ Jean nickte bestätigend. „Trotzdem ist es anders und auf seine Art und Weise erschöpfend.“ „Dessen bin ich mir bewusst.“ „Gefoult wird hier nicht.“ „Okay.“ „Ich lasse nicht zu, dass du die anderen Mitglieder k.o. schlägst.“ Jean knetete angespannt seine Finger, während er nach einer guten Möglichkeit suchte, einen Aspekt dieses Sportes höflich von vornherein auszuschließen. „Ich möchte mich mit niemandem schlagen. Nur mit einem der Boxsäcke.“ Das schien Shirley zu überraschen und nachdenklich musterte sie ihn. Lange Zeit sagte keiner von ihnen beiden etwas und schlussendlich löste sie ihre Hände aus der entspannten Haltung. Entschlossen schlug sie sich auf die Oberschenkel und erhob sich. „Gut. Versuchen wir es miteinander. Ich will dich zweimal die Woche sehen, bis du alleine laufen kannst und weißt, wie man fachgerecht einen Sandsack verprügelt. Deine erste Stunde beginnt jetzt, da du, wie ich sehe, vorbereitet bist.“ Das war Jean. Er trug eine weite Trainingshose und ein locker sitzendes Shirt, dazu Sportschuhe. Er hatte in der Tat vorbereitet sein und es nicht weiter aufschieben wollen. Knox zuliebe. Jean erhob sich ebenso und folgte Shirley in die Halle hinein. Sie stellte ihn knapp vor und er nickte den Männern und Frauen zu, die hier trainierten. Er vergaß ihre Namen, sobald er sie gehört hatte, denn sie waren unwichtig. Er wollte mit ihnen nichts zu tun haben. Das Einzige, was zählte, war das Training. Um Knox nicht mehr zu verletzen. Das Ausdauertraining forderte Jean ebenso wie es die Drills in ihrem Stadion taten. Es brachte ihn zum Schwitzen und beschleunigte seinen Herzschlag auf ein Maß, das beinahe heilsam für ihn war, beruhigend und zentrierend. Die Bewegungsabläufe waren neu und ungewohnt für ihn, beinahe schon beängstigend, wenn er sich vorstellte, dass er mit seinen Fäusten jemanden so schlagen würde. Auch wenn es gerade noch die Luft war. „Präzisere und kürzere Schläge, Jean. Ansonsten schon ganz ansehnlich“, sagte Shirley nach seiner zweiten Runde und Jean hielt inne. Seine Hände waren bandagiert und das, was sie gerade taten, nannte sich Schattenboxen. Die Vorstufe zum Sandsack. Er wusste nicht, was daran befriedigend oder gar befreiend sein sollte. Aufmerksam beobachtete die Trainerin ihn, immer darauf bedacht, ein Mindestmaß an Abstand zu wahren und ihn nicht anzufassen. Jean war dankbar dafür. Sie half ihm nur, als es darum ging, seine Hände in dicke Handschuhe zu schnüren. „Damit du dich nicht verletzt“, merkte sie an und Jean zuckte mit den Schultern. „Meine Hände sind es gewohnt.“ Ernst maß Shirley ihn und ihre dunklen Augen erinnerten Jean an Theodora, wenn sie ihren „No bullshit“-Blick innehatte. „Trägst du bei deinem Sport auch Schutzkleidung?“, fragte sie mit erhobener Augenbraue und Jean nickte. Früher nur, wenn Riko es gewollt hatte. Mittlerweile immer dann, wenn es zu Kontakt kommen konnte. Befehl seines Coaches. „Gut, das ist hier nicht anders“, wiegelte sie brüsk ab und Jean akzeptierte es schweigend. Sie hatte Recht mit dem, was sie sagte, auch wenn es für ihn ungewohnt war. Doch viel viel ungewohnter war es, auf einen Sack gefüllt mit Sand einzuschlagen, mit Präzision und Schnelligkeit. Wieder und wieder unter der Anleitung von Shirleys tiefer, befehlsgeladener Stimme, die ihn mit unsichtbaren Händen korrigierte, solange, bis er zu ihrer Zufriedenheit zuschlug. Wieder und wieder und wieder, ein immerwährender, gleichbleibender Rhythmus an anvisieren, bewegen, treffen. Wie ein Mantra, eine Meditation folgte Jean eben jenem, gepaart mit ihrer Stimme und den Geräuschen, die er selbst machte und die, die ihn umgaben. Jean verstand, warum Knox es ihm vorgeschlagen hatte. Er verstand, was der Reiz und der Sinn hierin war. Jetzt, in diesem Augenblick, hatte er eine kleine Insel des Friedens und der persönlichen Ruhe gefunden. ~~**~~ Jean grub seine Zehen in den warmen, weichen Sand und lehnte sich zurück in den Schatten der Strandmuschel. Rechts von ihm lag der Kleidungshaufen seines Teams, links davon stand der überladene Essenstisch. Voller. Ungesunder. Sachen. Jean wandte den Blick von dieser unabwendbaren Katastrophe ab, hin zu einer neuen, unabwendbaren Katastrophe. „Muss man für diesen Sport wirklich nackt sein?“, fragte er Fahima, die auf dem Bauch neben ihm lag und ihre Beine baumeln ließ. „Siehst du doch“, grinste sie und deutete auf das geknubbelte Chaos am Beachvolleyballfeld, auf dem ihr Team gerade versuchte, den Ball auf der jeweils gegnerischen Seite zu Boden zu bringen. Wenn man Jean fragte, so assoziierte er das, was sie taten, mehr als vieles andere mit Los Angeles. Alleine der Spaß, den sie offensichtlich dabei hatten, ihre Körper mehr in den Sand zu werfen als den Ball wirklich zu treffen, versinnbildlichte auf eine krude Art und Weise so dermaßen die Sonne Kaliforniens, dass es Jean beinahe schmerzte, zuzusehen. Die Helligkeit des Strandes schmerzte ihn dank seiner Sonnenbrille aber nicht mehr. „Wieso werfen sie sich so oft in den Sand?“ Fahima schnaubte. „Weil sie einmal zu oft Top Gun gesehen haben.“ „Top Gun?“ „Ein Film über Piloten.“ „Warum spielen Piloten Beachvolleyball?“ „Die Szene war für ein Goodie für die schwulen und weiblichen Zuschauer. Lauter unbekleidete Männer, die ihre Astralkörper in der Sonne brutzeln und sich sportlich betätigen.“ Jean ließ es zu, dass sie seinen kritischen Unglauben sah, bevor er sich zu dem Schauspiel zurückdrehte und sein Kinn auf seine Hand stützte. Es war Anfang Oktober und die Temperaturen kühlten sich leicht ab. Vor vier Tagen hatte Jean das erste Mal gefroren. Er hatte den Fehler gemacht, einen kurzen Kommentar darüber zu verlieren und heute Morgen hatte ihr Coach ihm zwei weitere Pullover in Trojanfarben mit seiner Nummer und seinem Namen darauf übergeben. Alvarez‘ Wirken, denn nur sie hatte mitbekommen, dass er abends nach etwas Warmen Ausschau gehalten hatte. Gerade eben hatte es aber noch annehmbare 26 Grad und war damit angenehm warm. Warm genug, dass sein halbes Team sich auszog und ihm so einen Blick auf weibliche und männliche Körper erlaubte, die er vergleichen konnte. Jean war erstaunt, wie sehr ihm die ruhigen Informationen, die Knox ihm über das richtige Sexleben gegeben hatte, geholfen hatten, seine Angst alleine vor dem Gedanken an Sexualität zu verlieren. Seitdem tastete er sich immer wieder an das Thema heran und versuchte herauszufinden, ob er überhaupt noch dazu in der Lage war, so etwas in der Art zu fühlen. Seine nun regelmäßigen Gespräche mit Brian und Trainingssessions mit Shirley halfen ebenso, ihm Ruhe zu geben und seine Emotionen zu kanalisieren, auch wenn es durchaus Tage gegeben hatte und gab, die nicht gut waren. Ganz und gar nicht. An diesen Tagen schaffte es Jean nur in seine Vorlesungen und zu ihrem Training, mehr jedoch nicht. Brian hatte ihm für solche Tage eine Art Codewort vorgeschlagen. Ein Safeword. Brian hatte Jean erst erklären müssen, was das war und wofür es eigentlich gebraucht wurde. Auch wenn Knox und er keine BDSM-Beziehung führten, so war der Gebrauch eines Safewords keine schlechte Idee. Schnee. Das war ihres. Immer, wenn Jean nicht in der Lage war, seine Gedanken und Gefühle zu äußern, reichte diese eine Wort, damit Knox wusste, dass er ihm Abstand und Raum geben sollte. Es klappte besser als Jean gedacht hatte und es verschaffte ihm Sicherheit. Zumal er es weniger nutzte, als er anfänglich gedacht hatte. Gerade eben war dieses Wort jedoch nicht notwendig und so verglich Jean seine Emotionen beim Betrachten der männlichen Trojans mit denen der weiblichen Trojans. Viel weiter brachte ihn das nicht. Ja, da war viel nackte Haut, viele Muskeln, viele schöne Körper. Aber welche er nun schöner fand… Frustriert wandte sich Jean ab und wollte Fahima gerade nach einer neuen Runde Bandido fragen, als sein Handy klingelte. Stirnrunzelnd zog er es hervor und starrte auf den Bildschirm. Es war Day, dessen Name und Nummer in großen Lettern auf dem sonst dunklen Hintergrund leuchteten. Jean blinzelte und überlegte, ob er den Anruf einfach abweisen oder weiterklingeln lassen sollte. Er wollte nicht mit Day sprechen. Alleine der Name machte ihn wütend. Oder der Gedanke daran, dass jemand – Renee vermutlich – die Nummer des anderen Jungen auf diesem Telefon eingespeichert hatte ohne ihn vorzuwarnen. Oder um gerade das zu tun…ihn vorzuwarnen, wenn Day versuchen würde, ihn anzurufen. „Willst du da nicht drangehen?“, fragte Fahima mit einem verständnisvollen Lächeln und Jean grollte. „Lieber würde ich das Telefon im Sand vergraben.“ Sie lachte und rückte sich ihren pastellgelben Turban zurecht, der an einer Seite etwas in Unordnung geraten war. „Soll ich drangehen?“, fragte sie wenig hilfreich und Jean war im ersten, wahnwitzigen Moment versucht, ja zu sagen. Doch mit jeder Sekunde, die sein Telefon weiterklingelte, war er weniger überzeugt davon. „Entschuldige mich“, sagte er und erhob sich, entfernte sich aus ihrer Hörweite. Weg von seinem Team, weg von ihrer angenehmen Gegenwart, hin zu einem Telefonat mit Day, das er nicht wollte. „Was willst du?“, blaffte er entsprechend unfreundlich in das Telefon, nachdem er den Anruf angenommen hatte. Außer einem Laut der Überraschung kam erst einmal nichts zurück und Jean war versucht, nach ein paar Sekunden wieder aufzulegen. „Jean.“ Dass Day überhaupt noch den Mumm besaß, seinen Namen in den Mund zu nehmen, wunderte Jean. Dass er überhaupt noch so flehentlich klingen konnte, ebenfalls. Er schwieg. „Hast du die Nachrichten gesehen?“ Day rief ihn an um ihn das zu fragen? „Bist du betrunken? Wenn ja, dann lass mich in Ruhe, Day. Ich bin fertig mit dir.“ Mehr als einmal hatte Jean das jetzt gesagt und immer noch schien Day nicht zu begreifen, was das bedeutete. „Es gab einen tödlichen Autounfall.“ Die Art, wie der andere Junge das Wort betonte, ließ in Jean alle Alarmglocken schrillen. Ein Autounfall? War den Foxes etwas passiert? Minyard etwa? Josten? Jean schluckte. „Wer?“, krächzte er und die darauffolgende Stille zerrte und zerrte an seinen Nerven. Es war jemand, der ihm etwas bedeutete, das spürte er instinktiv. Oh nein. Oh nein. „Jean…“ „Wer, Kevin? Wer?“, unterbrach Jean den anderen Jungen barsch. Er wollte keine geschönte Wahrheit. Er wollte nicht länger auf die Folter gespannt werden. Jean umklammerte sein Telefon in einem eisernen Griff, der bis zu seinen Knöcheln wehtat. „Wood, Turner, Price, Griffiths und Martinsen.“ Mit nichts auf der Welt hätte Day Jean so schnell den Boden unter den Füßen wegziehen können. Fünf Namen aus seiner Vergangenheit. Fünf Male, die die Hölle für ihn gewesen waren. Fünf ehemalige Raven, die ihn auf die intimste Art und Weise gedemütigt und gefoltert hatten. Brutale, ekelhafte Männer, die Spaß daran gehabt hatten, sich einem unwilligen Jungen aufzuzwingen. Das Rauschen in Jeans Ohren steigerte sich von Minute zu Minute und Jean hatte das Gefühl, dass er gleich das Bewusstsein verlieren würde. „Wie?“, flüsterte er betäubt. Der Autounfall war tödlich gewesen, hatte Day gesagt. Tödlich wie in…alle tot. „Die Pressemitteilung aus Evermore sagt, dass sie zusammen auf dem Weg in den Urlaub gewesen waren und der Wagen auf einer Brücke in Edgecomb in Maine ins Schlingern gekommen ist. Er hat sich mehrfach überschlagen und ist dann in den See unterhalb der Brücke gestürzt. Die Polizei und Feuerwehr konnten nur noch die Leichen der Männer bergen.“ Mechanisch waren die Worte, die Day herauspresste. Wie auswendig gelernt. „Sie hassten sich“, wisperte Jean. Wenn er eins wusste, dann das. Sie hatten sich immer gehasst, hatten versucht, sich gegenseitig zu übertreffen. In jedweder Hinsicht. „Ich weiß.“ „Sie würden niemals zusammen in den Urlaub fahren.“ „Ich weiß.“ „Hat Andrew…“ „Nein. Er wusste nichts davon.“ Jean schwieg fassungslos und bestürzt. Er erinnerte sich an das Gespräch mit der leitenden Firmenanwältin und an ihre Forderung, dass er die Gerüchte bestätigte. Die Moriyamas hatten ihn nicht nur ausbezahlt, sie hatten auch öffentlichkeitswirksam fünf Morde begangen. Wegen dem, was ihm geschehen war. Als Warnung. Nun verlor er doch das Gleichgewicht und setzte sich ungeschickt in den Sand, so, als hätte man ihm die Fäden durchgeschnitten, die ihn bisher aufrecht gehalten hatten. „Jean? Bist du noch dran? Jean?“ Er hörte Kevins Stimme und seltsamer Weise war es eben jene, die ihn trotz seiner tosenden Erinnerungen an die Vergangenheit im Hier und Jetzt ankerte. Tot. Sie waren tot. Alle. Sie waren umgebracht worden. Sie konnten niemandem mehr Schmerz zufügen. Ihm nicht, anderen nicht, niemandem. Er würde sie nie mehr treffen oder mit ihnen spielen müssen. Jean schluckte und spürte das unaufhaltsame Lachen, das sich in ihm hochkrallte. Es war unpassend und doch seltsam befreiend. Es war erleichternd und gleichzeitig hatte er das Gefühl, dass er verrückt wurde. Sie waren tot. Jean krümmte sich vor Lachen, sein Telefon und damit Day vergessen im Sand. Er musste sich den Bauch halten, so weh taten die Laute, die sich tief aus seinem Inneren ihren Weg emporrissen. „Jean? Hey. Alles in Ordnung?“ Schon wieder sein Name, dieses Mal jedoch war es sein Kapitän. Jean fühlte sich wohler mit der Stimme, auch wenn auch Knox das Lachen nicht beenden konnte, das wieder und wieder aus ihm herausbrach und Tränen mit sich brachte. Blind deutete er auf sein Handy und schüttelte den Kopf. „Du… du wolltest doch die Namen der fünf Männer. Lass sie dir von Day geben, er ist grad am Telefon.“ Zu mehr kam Jean nicht, denn er brauchte die Luft, die er noch hatte, zum Atmen. ~~**~~ Jean zum ersten Mal so laut und befreit lachen zu hören, war schön und schrecklich zugleich für Jeremy. Sie hatten gerade ihr Spiel beendet, als er sich zu Jean umgedreht hatte um zu sehen, ob es dem anderen Jungen gut ging. Dieser saß nicht unter der Muschel, sondern im Sand etwas weiter entfernt und lachte, wie Jeremy auf den zweiten Blick erkannte. Fragend war sein Blick zu Fahima geschweift, die ernst den Kopf geschüttelt hatte. Jeremy hatte das zum Anlass genommen um zu Jean zu gehen. Nur zur Sicherheit. Je näher er gekommen war, umso schrecklicher war das Lachen geworden, das unkontrolliert und beinahe schon manisch seine Lippen verlassen hatte, während Jeans Handy im Sand lag. Jean äußerte Worte, die Jeremy einen Schauer über den Rücken jagten und beinahe schon reflexartig griff er zu dem Handy. Sorgenvoll ruhten seine Augen auf Jean, während er das Telefon an sein Ohr presste. „Kev?“, fragte er und der Junge am anderen Ende der Leitung stöhnte erleichtert auf. „Oh Gott, Jer, du bist da. Bitte, ich glaube, Jean geht es nicht gut. Bitte… kümmere dich um ihn.“ „Was ist passiert?“ Kevin zögerte. „Ich weiß nicht, ob ich dir das sagen kann…“ Jeremy hatte weder die Zeit noch die momentane Geduld, um wirklich um den heißen Brei herum zu reden. „Weißt du von dem, was ihm passiert ist? Weil du zu sehr von mir geschwärmt hast?“, fragte er kurz angebunden und noch viel weniger diplomatisch. Wieder begrüßte ihn Schweigen. „Ja, das weiß ich“, flüsterte Kevin schließlich und Jeremy hätte es beinahe überhört. Es macht ihn nichtsdestotrotz wütend. „Ich auch. Also.“ „Sie sind tot. Alle fünf. Gestorben in einem Autounfall.“ Jeremy verstummte. Seine in ihm aufkommenden Worte verstummten und seine komplette Körpersprache fror ein. Er wusste, dass er sich nicht darüber freuen sollte. Er wusste, dass der Tod eines Menschen etwas Schlimmes war. Doch wie auch schon bei Riko war er keine Sekunde lang traurig. Er bereute keine Sekunde lang, dass diese Monster nicht mehr unter ihnen weilten. Im Gegenteil. Es war Freude, die er in sich fühlte und ein Teil von ihm rebellierte dagegen. „Danke dir für die Information“, sagte er so sanft, wie es ihm möglich war. Sanft und verspätet. „Hör zu, Kev, ich würde dich gerne später noch einmal anrufen. Ich glaube aber, dass ich mich jetzt eher um Jean kümmern sollte.“ „Natürlich Jer. Wir hören uns.“ „Klar. Bis später! Und Kev?“ „Ja?“ „Riko war das Monster. Nicht du.“ Kevin schluckte hörbar und Jeremy legte auf, ohne auf eine Antwort zu warten. Mit dem Handy in der Hand kniete er sich zu Jean und legte ihm vorsichtig seine Hand auf die Finger. „Safeword?“, fragte er ruhig und Jean schüttelte kichernd den Kopf. Jeremy nahm das zum Anlass, etwas näher zu rücken um so in Reichweite des anderen Jungen zu sein. Angesichts seiner eigenen Halbnacktheit umarmte er Jean jedoch nicht, sondern begnügte sich damit, sich in sein Blickfeld zu begeben. Das war nicht so einfach, denn Jean dachte gar nicht daran, aufzusehen. Beharrlich starrte er auf den Sand und wenn Jeremy einen Blick auf sein Gesicht werfen wollte, dann musste er ihn wohl oder übel wohl von unten erlangen. Mit einem Laut der Vorwarnung ließ er sich rücklings in den Sand fallen und robbte sich umständlich und langsam in Jeans Blickfeld. Wie eine sehr behäbige Sandschlange. Die Belohnung folgte, als er der grauen Augen seines Backliners ansichtig wurde, die ihm die Aufmerksamkeit schenkten, die Jeremy erhofft hatte. Beinahe zur gleichen Zeit hörte Jean auf zu kichern und verstummte schließlich. Er starrte Jeremy an und Jeremy starrte zurück, in Jeans Kopfübergesicht. „Ich werde sie nie wieder treffen.“ Jeremy nickte und rieb sich somit feinen, weißen Pudersand in die Haare und die Ohren. „Sie werden nie wieder jemandem wehtun.“ Wieder bejahte Jeremy nonverbal. Jean verstummte und wieder maßen sie sich schweigend. Dann kam Jeremys Welt zu einem abrupten Halt, als Jean ihm mit seinem Zeigefinger und einem Lächeln auf die Nase stupste. ~~**~~ „Oh mein Gott ist das niedlich, Zucker pur, oh mein Gott! Ich sterbe!“ „Zu wünschen wäre es“, erwiderte Andrew und Nicky bedachte ihn mit einem verletzten, traurigen Blick, der ihm sicherlich andeuten sollte, wie sehr seinen Cousin seine Worte getroffen hatten. Auch wenn er sich nicht wirklich für schuldig hielt, wollte Andrew mal nicht so sein. „Ich könnte unterstützen“, bot er generös an und seine Ohren dröhnten von dem lauten Aufheulen des anderen Jungen. „Und sowas nennt sich Familie!“, beschwerte Nicky sich elendig und rückte sich auf der Couch zurecht, näher an Renee an, die ebenso wie er auch gerade auf ihr Handy starrte und amüsiert lächelte. Da sein Handy ebenfalls gepingt hatte, vermutete Andrew, dass es irgendetwas in ihrem Gruppenchat gewesen sein musste, was diese ausufernde Reaktion hervorgerufen hatte. Er pausierte das Spiel und legte den Controller zur Seite. Sein Handy lag neben dem Junkie, der wiederum neben ihm auf dem Sitzsack lag und sich auf seinem eigenen Telefon vergangene Spiele ansah. Er hatte seine Beine locker über Andrews gelegt und sah nun auf, als dieser zwischen sie beide nach seinem Telefon griff. Fragend nahm Neil einen der Ohrstöpsel aus seinen Ohren. „Ja? Ich habe nichts gehört, sorry.“ Andrew rollte mit den Augen. „Das ist auch besser so.“ Neil schnaufte. „Was ist denn?“ „Nicky steht kurz vor seinem Ableben.“ „Warum dieses Mal?“ „Ist das Warum wichtig oder nur das Wann?“ Neil lachte unter Nickys Protest und Andrew rief ihren Gruppenchat auf und damit das Foto, das anscheinend Dan in die Gruppe gestellt hatte. Die sonnige Fotogenität des Gesamtbildes ließ ihn angewidert würgen. L.A. in all seiner Pracht, natürlich mit Sonne und Strand und Meer und halbnackten Menschen. In einem musste er Nicky Recht geben, dieses Bild war ekelhafter Zucker pur und das hätte er zumindest von fünfzig Prozent der zu sehenden Personen nicht erwartet. „Zeig her.“ Wortlos drehte Andrew sein Handy zu Neil, der viel zu begeistert davon grinste und ihn mit einem viel zu vielsagenden Blick anstarrte. Andrew grollte. „Wisch dir das Grinsen aus dem Gesicht.“ „Aber daraus kann man Memes machen.“ Er starrte den zu seiner Realität gewordenen Wunschtraum an, dessen Schwanz er regelmäßig zwischen seinen Lippen hatte und der jüngst gelernt hatte, was Memes waren. Seitdem wurde aus allen Bildern irgendein Meme und Andrew überlegte, ob die Abwesenheit besagten Schwanzes zwischen seinen Lippen nicht zur Regelmäßigkeit werden sollte. Andrew suchte sich den Würgesmiley und postete ihn unter das Bild. Renee lachte und hob den Blick, in ihren Augen viel zu viel Wissen um die Gesamtsituation. „Er sieht glücklich aus auf dem Bild.“ „Das ist kein Grund, das in die Welt zu blasen.“ „Alvarez hat es Dan geschickt… sie hat die Beiden wohl gestern am Strand dabei beobachtet.“ „Du meinst, dass Blondie wie ein Hund auf dem Rücken liegt und der französische Idiot immer noch nicht gelernt hat, Abstand zu seinem jeweiligen Kapitän zu halten?“ Soweit er wusste, hatte Kevin Jean davon in Kenntnis gesetzt, dass die fünf Arschlöcher tot waren. Fünf weniger, um die er sich kümmern musste, auch wenn Andrew es den Moriyamas immer noch übel nahm, dass sie sich um seine Probleme – Proust und Riko - gekümmert hatten. Das Foto musste danach entstanden sein, denn das, was er in feinen Nuancen im Gesicht des ehemaligen Raben erkannte, war Dunkelheit. „Die Beiden fühlen sich wohl in der Gegenwart des jeweils anderen. Jeremy tut Jean gut.“ Andrew schnaubte und taggte Jean mit einem augenbrauenhebenden Smiley unter dem Bild. Schließlich war der unvernünftige Trottel Teil ihres Gruppenchats und er las auch mit. Ob und wie regelmäßig konnte Andrew allerdings nicht sagen. „Und deswegen hast du ihn damals nach L.A. gehen lassen und mit ihm den Deal abgeschlossen. Du hast damit gerechnet, dass genau das hier passieren würde „Hiermit? Nein. Außerdem ist er dumm genug, nicht vorsichtig zu sein.“ „Vorsichtig womit?“ „Mit seinem Vertrauen.“ „Glaubst du das?“ „Mit Glauben hat das nichts zu tun.“ „Hast du dir die gleiche Frage auch bei Neil gestellt?“ Andrew starrte ihr dunkel in die Augen und auf die viel zu lieb lächelnden Lippen. „Da ist nichts“, sagte er ausdruckslos und in seinem Augenwinkel sah er Neil winken. „Hallo, mein Name ist nichts!“, sagte der Verräter an seiner Seite. Definitiv kein Schwanz in seinem Mund mehr. Langsam wandte sich Andrew dem anderen Jungen zu und starrte ihm regungslos in die leuchtenden, blauen, viel zu von ihm angetanen Augen. „273 Prozent, Josten.“ ~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 42: Der Kürbiskrieg --------------------------- Langsam und bedächtig rollte Jean wieder auf den Parkplatz der Fahrschule und brachte den Wagen vorschriftsgemäß in der Parklücke zum Stehen. Er drehte den Schlüssel im Zündschloss und zog ihn mit Bedacht aus dem Schloss, die Hände auf seine Oberschenkel legend. Mit mühevoller Ruhe sah er aus dem Fenster. Stundenlang hatte er in dem Büro der Zulassungsstelle gesessen, um einen Termin zu machen. Er hatte Formulare ausgefüllt, die ihn an den Rand der Verzweiflung gebracht hatten, da er die Hälfte der Wörter nicht verstanden hatte und er nur durch Laila davon abgehalten worden war, das Stück Papier zu zerreißen und einfach wieder zu gehen und verbotener Weise schwarz zu fahren. Er hatte jeden Fitzel seiner Identität beweisen müssen, einschließlich Geburtsurkunde und Pass, der ihn als Amerikaner auswies. Die Moriyamas hatten ihn damals der Einfachheit halber einbürgern lassen und ihm so auch offiziell noch seine kulturelle Identität genommen. Nicht, dass Jean sie sich je hatte nehmen lassen. Riko hatte ihn noch so oft schlagen können dafür, dass er Französisch sprach, er hatte es wieder getan. Er war Franzose, egal, was diese gefälschte Plastikkarte sagte, die er zum ersten Mal in seinem Leben selbst besaß und die nicht durch seinen Coach einbehalten wurde. Jetzt aber hatte sie ihn einen Schritt weiter gebracht, nämlich zu den Fingerabdrücken und Fotos, die er für seinen Führerschein brauchte. Ebenso wie das Geld, das er für die Gebühren ausgeben musste. Es schien ihm wenig zu sein, doch nach der Reaktion seines Teams auf den Preis des Sportwagens traute Jean sich nicht, die Frage nach der Verhältnismäßigkeit zu stellen. Der Sehtest war da noch das Einfachste gewesen, auch wenn die unfreundliche Frau an der Teststation ihm dringend ans Herz gelegt hatte, sich in den kommenden Jahren um eine Brille oder Kontaktlinsen zu kümmern. Jean hatte das zur Kenntnis genommen, aber nicht geglaubt. Schließlich sah er ausgezeichnet. Der schriftliche Test war da schon schwieriger gewesen. Sechsunddreißig Fragen voller komischer Antworten, von denen er die Hälfte für überflüssig gehalten hatte. Entsprechend knapp hatte er dann auch bestanden, ganz zum Spott von Alvarez, die, wie es sich nachher herausgestellt hatte, zwei Anläufe dafür gebraucht hatte. Zu sagen, dass Jean daraufhin mit Gegenspott gegeizt hätte, wäre untertrieben gewesen, auch wenn er sich über seine eigene, mangelnde Perfektion ärgerte. Jetzt, heute, an diesem Morgen hatte er die Fahrprüfung machen müssen. In Knox‘ altem Auto, das die erforderliche Sicherheitsinspektion nur bestanden hatte, weil sein Kapitän dem wohl offensichtlich schwulen Prüfer schöne Augen gemacht hatte. Zumindest interpretierte Jean Knox‘ Versuche, den anderen Mann durch sein Grinsen und seinen schief gelegten Kopf auf seine Seite zu ziehen, so. Schließlich hatte er das schon öfter am College und auf der Party, auf der er mal gewesen war, gesehen. Es hatte wohl geholfen, dass er der Kapitän der Trojans war und so waren sie mit Knox‘ altem Auto ohne Knox selbst durch Los Angeles geschlichen. Jean hätte gar nicht schneller fahren können, auch wenn er es gewollt hätte und so war sein – laut Alvarez – größtes Problem, seine an einen Geschwindigkeitsrausch grenzende Schnelligkeit, vom Tisch. Haargenau war Jean den Instruktionen gefolgt, die sie durch den Verkehr von Los Angeles brachten um wieder hierhin zurück zu kehren, zu ihrem Ausgangspunkt. Der Prüfer machte sich zwar Notizen, sprach aber kein einziges Wort mit ihm, ganz im Gegensatz zu seiner Fahrlehrerin. Jean war froh, dass sie endlich schwieg und nun mit ihm gemeinsam auf das Ergebnis seiner Prüfungsfahrt wartete, das der Prüfer hinter ihnen anscheinend gerade auf sein Klemmbrett kritzelte. „Mr. Moreau, im Gegensatz zu Ihrem schriftlichen Test haben Sie hier keine Punktlandung gemacht. Sie haben bewiesen, dass Sie selbst eine Klapperkiste wie diese hier sicher, verantwortungsbewusst und in angemessener Geschwindigkeit durch den Straßenverkehr lenken können. Ich möchte Ihnen daher zu Ihrer Fahrerlaubnis des Staates Kalifornien gratulieren und Ihnen weiterhin eine gute, besonnene Fahrt wünschen“, fiel das Urteil auf ihn herab und Jean brauchte einen Moment, um die getragenen Worte auch wirklich zu begreifen. Als er es tat, drehte er sich zu dem Mann um und nahm feierlich seine Fahrerlaubnis entgegen, die ihn nun befähigen würde, sich ein schnelles Auto zu suchen. Er nickte stumm und ignorierte das kurze, gequälte Zusammenzucken Sues. Dabei war er schon ruhiger und sicherer geworden. „Vielen Dank“, murmelte er und barg das wertvolle Dokument in seinen Händen. „Kein Ding. Und sagen Sie Ihrem Kapitän, dass er sich ein neues Auto kaufen soll. Diese Rostlaube ist eine Gefährdung des Straßenverkehrs.“ Pflichtbewusst nickte Jean. Der Prüfer hatte ja Recht damit, auch wenn er wusste, dass Knox das nicht hören wollte. Das hier war sein Auto und er liebte es heiß und innig, wenn Jean Ellie Glauben schenkte. Oder wenn er den Lobeshymnen des blonden Jungen auf das Auto zuhörte. „Machen Sie’s gut und weiterhin viel Erfolg für Ihre Saison!“ „Selbstverständlich“, entgegnete Jean und blieb wie besprochen noch einen Moment sitzen, nachdem der Prüfer die Rückbank verlassen hatte. „Jean, das ist jetzt nicht Ihre Erlaubnis, durch die Straßen zu heizen“, sagte die Mittvierzigerin streng und Jean musterte sie mit erhobener Augenbraue. Er konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen, während er hinter ihr bereits sein Team – sein gesamtes Team – auf sie zukommen sah. „Ich passe auf, dass ich Sie nicht von der Straße dränge“, sagte er mit dunklem Humor und sie grollte. „Ich wünsche Ihnen alles Gute und dass Sie nicht zuviel Kontakt zur örtlichen Polizei haben werden, wenn sie Geschwindigkeitsüberschreitungen begehen“, sagte sie mahnend und Jean nickte pflichtbewusst. Als wenn die Polizei hier nichts Besseres zu tun haben würde, als solche Verstöße zu ahnden. Aber damit hatte die duttbewehrte Frau nichts mehr zu tun. „Vielen Dank für Ihre Unterstützung“, sagte er höflich nichtssagend, so wie er es von Knox‘ Pressekonferenzen gelernt hatte und verabschiedete sich mit einem Handschlag von ihr. Er sah ihr nach und seufzte, als sich in der entgegengesetzten Richtung der erste Schopf um das Gebäude herumlugte. Es war Ellie, die die Trojans anscheinend vorgeschickt hatten, um zu sehen, ob seine Prüfung gut verlaufen war oder nicht. Wortlos musterte er sie. Sollte sie doch versuchen, aus seiner Mimik herauszulesen, ob er die Prüfung bestanden hatte oder nicht… er hatte nicht gewollt, dass sein komplettes Team anwesend war. Nicht gewollt war dabei viel gesagt. Er hatte sich eben nur nicht gewehrt, als es angedeutet worden war, weil er einfach nicht daran geglaubt hatte, dass alle 27 Spieler anwesend sein würden um ihm zu gratulieren. Warum auch, schließlich war er nur der Neuzugang und mit der Hälfte sprach er außerhalb des Trainings und ihrer Spiele sowie ihrer gemeinsamen Freizeitaktivitäten kein Wort. In Evermore hatte es niemand gewagt, ihm näher zu kommen oder ein Wort mit ihm zu wechseln, weil jeder gewusst hatte, dass er einzig und alleine Riko gehörte. Das war hier natürlich anders, aber Jean konnte sich immer noch nicht aus den alten Ravenmustern lösen. So wurde er nun auch merklich unsicherer, als die Späherin seines Teams eben jenem anscheinend grünes Licht gab und nach und nach die Spielerinnen und Spieler um die Ecke kamen, ihre Gesichter ein bunter Mischmasch aus freudiger Erwartung und Gespanntheit. Jean war im Fokus seines gesamten Teams und das zog unerwartet stark an seinen Nerven. Vier Monate war er nun schon hier und diese vier Monate waren so vollgepackt mit Dingen gewesen, die so neu für ihn gewesen waren, dass der Zeitraum ihm wie eine Ewigkeit vorkam. Nichts war so, wie er es angenommen hatte. Sein Kapitän war nicht gewalttätig, sein Team waren keine Monster. Er war noch am Leben und lernte, eben jenes auch auszuprobieren trotz aller Widrigkeiten, die ihm sein Körper und sein Geist bei den Erinnerungen an die Gewalt Evermores bereiteten. Die Ravens waren ein aufeinander angewiesener Schwarm, der sich hasste und verachtete. Die Trojans waren ein Schwarm, der nicht aufeinander angewiesen war, sondern ohne jedwede Zwänge zueinander strömte und ein Wir-Gefühl innehatte, das Jean beinahe schon unheimlich war. Und er war jetzt mittendrin, obwohl er nichts wirklich machte um das zu fördern. Ganz im Gegenteil Er kritisierte sie im Training und war darüber hinaus meistens schweigsam. Er entzog sich ihren Berührungen und blieb außerhalb des menschlichen Knubbels, der sich von Zeit zu Zeit spontan bildete. Das schien die Trojans – ebenso wie die Foxes im Übrigen auch – nicht zu interessieren. Und während die Einen sich in ihrem Chat über Bilder von ihm und Knox hermachten und ihn mit dummen Kommentaren überschütteten, taten die Anderen exakt genau das Gleiche. Jean verschränkte die Arme vor der Brust und musterte sein Team dunkel. Er grollte innerlich beim Gedanken an den Gruppenchatexzess, der seit zwei Wochen andauerte. Das Ganze hatte mittlerweile sogar einen Namen: Nasenstupsaffaire. Stumm sah er ihrer Ankunft entgegen. Knox, Alvarez, Laila, Ajeet, Ellie, Fahima, Valentine, Logan, Justin, Abini, Berry, Cilian, Eleonora, Yara, Sofia, Giorgia, Niam, Raheem, Kim, Ricardo, Josue, Mary-Lou, Stephen, Tim, Elena, Maria und Ben. Auch wenn Jean es niemals zugeben würde, dass er all ihren Gesichtern Namen zuordnen konnte. Laila war die Erste, die zu ihm trat, dicht gefolgt von Ellie und Knox. Jean war kein Gedankenleser, aber das musste er in diesem Moment auch nicht sein. Die fragenden Gesichter sagten ihm sehr deutlich, was sie wissen wollten. Aber wer wäre Jean, es ihnen einfach zu machen? Wortlos zuckte er mit den Schultern und warf einen kurzen Blick über seine Schulter in Richtung Auto, ganz zum Leidwesen seines Kapitäns, in dessen Augen für einen Moment Sorge aufleuchtete. Um seinen Wagen, nicht um ihn. Na danke auch, grollte Jean innerlich. „Ist etwas passiert?“, fragte der blonde Junge vorsichtig und Jean hielt mit Mühe seine Beherrschung aufrecht. Die Freude darüber, dass er endlich in der Lage war, selbst fahren zu dürfen, machte ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung und sein ausdrucksloser Blick wich schneller als Jean es wirklich wollte, etwas, das einem Lächeln sehr nahe kam. Er hütete sich, es zu einem wirklichen Lächeln oder gar Grinsen werden zu lassen, denn auch das war zentraler Bestandteil der Nasenstupsaffaire gewesen. Sein Lächeln. Als würde es nichts Wichtigeres auf der Welt geben. Kommentarlos zog er die kleine Plastikkarte hervor und hielt sie unter dem plötzlich ausbrechenden Jubel seines Teams wie einen Schutzschild vor sich. Wie man sich so sehr über etwas so Banales freuen konnte, entzog sich Jeans Verständnis, aber er ließ den Lärm seines Teams über sich hinwegwaschen wie er ihn auch nach jedem Spiel ignorierte. Mittlerweile hatte er auch seine Angst vor dem aufbrandenden Sturm an Emotionsbekundungen verloren und gelernt, es auszuhalten. „Herzlichen Glückwunsch!“ „Yeah, Moreau der Rennfahrer!“ „Glückwunsch, Jean!“ „Wieso hast du die Chance nicht genutzt und die Möhre des Kapitäns in den Graben gesetzt?“ „Ey!“ „Wann gehen wir Autos gucken?“ „Das müssen wir feiern!“ Das Knallen des Sektkorkens erschreckte Jean doch schon und mit großen Augen sah er zu, wie Gläser ausgepackt wurden und eigens für ihn der alkoholfreie Sekt geköpft wurde, wie Fahima sich aus der Menge seines Teams schälte und etwas wie eine Monstranz vor sich her trug, das Jean verspätet als Kuchen identifizierte. Nicht, dass es einfach gewesen wäre, denn dieser sah ganz und gar nicht aus wie ein Kuchen, so bunt, wie er war. Stumm starrte Jean erst sie, dann das Tablett an und schluckte. Er wusste, was Mottotorten waren, denn anscheinend bekam jedes Geburtstagskind hier eine. Seine Jetzige, auch wenn er noch nicht Geburtstag hatte, war ein zylinderförmiges Ding in grau, auf dem sich eine Straße befand, die zu beiden Seiten abfiel. Sie war gespickt mit Verkehrszeichen und Geschwindigkeitsbeschränkungen. Auf der Straße befand sich ein Auto, das dem Sportwagen vom Flughafen zum Verwechseln ähnlich sah, dabei aber sehr niedlich war. Er war rundherum eingepackt in…Wattebäuschen, wie Jean feststellte. Aus dem Auto heraus winkte er selbst, wie er nun anhand der Trojansjacke in rot-gelb und seiner Nummer auf der Brusttasche feststellte. „Hier!“ Valentine hielt ihm ein Band entgegen, das, wie Jean jetzt sah zu einem dieser großen, dicken Luftballons führte, die mit Helium gefüllt waren, damit sie schwebten. Sein Vater hatte ihm früher solche gekauft, mit Tieren darauf oder Märchenfiguren. Nun waren große, runde Buchstaben zu sehen, die ihm zur bestandenen Führerscheinprüfung gratulierten. Etwas überfahren nahm er das Band an und wickelte es um seine Hand, um den Ballon daran nicht zu verlieren. Jean war sprachlos. Immer wieder wechselte sein Blick von dem Kuchen zum Ballon und wieder zurück. Warum machten die Trojans so etwas? Warum für ihn? Warum für einen Führerschein? Das war doch nichts Besonderes. Dass seine Meinung nicht die Mehrheitsmeinung war, war nur zu offensichtlich und Jean seufzte. Vorsichtig nahm er auch den Kuchen entgegen und sah in die Runde. „Der ist ungesund“, sagte er und erntete dabei schallendes Gelächter, auch wenn es eigentlich gar nicht so amüsant gewesen war, was er gesagt hatte. Es stimmte ja. Die Unmengen an Zucker, die der Kuchen sicherlich hatte, waren bar jedweder Vernunft. „Klar, deswegen helfen wir dir auch alle bei der Vernichtung dessen!“, grinste Valentine und Jean stellte fest, dass er damit sehr gut leben konnte. „Selbstverständlich brauchen wir dafür eine Dachparty!“, grölte Alvarez und Jean versuchte gar nicht erst, sein unvernünftiges Dauerfeierteam von diesem Vorschlag abzuhalten. Seine Augen irrten zu seinem Kapitän, der verdächtig still gewesen war und in dessen blauen Augen er nun einen solchen Stolz sah, dass es ihn beinahe schmerzte. Unauffällig rückte der andere Junge an ihn heran und lächelte. „Herzlichen Glückwunsch!“, murmelte er und Jean nickte. „Heißt das, du lässt mich dein Auto jetzt öfter fahren?“, fragte er und wenig überraschend schüttelte Knox den Kopf. „Niemals!“ „Ich habe ihn jetzt auch nicht gegen eine Mauer gesetzt.“ „Bei deiner Prüfung musstest du ja auch gesittet fahren.“ Dunkel starrte Jean Knox an, der sich an einem charmanten Lächeln versuchte. „Also weißt du, mit dem Kuchen und dem Luftballon bist du nicht halb so streng wie sonst“, grinste er und Jean hob – bedrohlich, wie er meinte – die rechte Augenbraue. Dass er dieses strahlende Lächeln damit nicht schmälerte, war Jean gar nicht so unrecht. ~~**~~ Jeremy kräuselte die Nase, während er die Einkaufsliste studierte und seine Kugelschreiber ansetzte. „Kunstblut?“, fragte er und Val grunzte. „Haben wir!“ „Spinnenweben?“ „Vier Packungen.“ „Meinst du, das reicht?“ Die anschließende Stille ließ ihn aufsehen und Val hatte spöttisch ihre Augenbraue gehoben. „Erinnerst du dich noch an unser erstes Jahr? Da hast du es für eine gute Idee gehalten, zehn Packungen zu kaufen und es hat dazu geführt, dass wir uns alle in das Zeug eingewickelt haben und trotzdem noch genug für die nächsten anderthalb Jahre hatten. Vier reichen für unser ganzes Haus.“ Jeremy grollte. Und ob er sich daran erinnerte. Wer konnte denn auch ahnen, dass eine so kleine Packung soviel Inhalt haben würde? „Batterien für unsere leuchtenden Pilze?“, lenkte er vom Thema ab und Val sah in den vollkommen überladenen Einkaufswagen. „Check!“ „Genug Süßkram für zwei Weltkriege?“ „Das und für eine Alieninvasion.“ Jeremy strich auch die Position von ihrer Liste. „Tackernadeln für die Stoffe?“ „Drei Packungen und lass das nicht die Collegeverwaltung hören.“ Jeremy sah auf und zog sich pantomimisch den Mund zu. Dafür erhielt er einen Daumen hoch und grinste. „Schwarzen Stoff haben wir noch genug?“ „Definitiv. Drei Ballen und im Fahrradkeller liegt noch irgendwo ein vierter.“ „Nachtleuchtende Farbe?“ „Einkaufswagen.“ Jeremy strich somit die letzte Position von ihrer Liste und gab einen triumphierenden Laut von sich. Aufatmend strich er sich seine unordentlichen Haare zurück und klemmte sie sich nachlässig hinter die Ohren. Den Rest für ihre Halloweenvorbereitungen hatten sie noch aus den vergangenen Jahren. Die ausgesonderten Horrorfilmrequisiten und –kulissen aus produzierten Horrorstreifen lagerten bei ihnen im Keller und wurden von ihnen je nach Bedarf neu zusammengestellt. Für ihr Halloweenhorrorhaus. Jeremy freute sich wie jedes Jahr riesig darauf. Er freute sich, ihr Wohnhaus mit seinem Team zu dekorieren und für die sie besuchenden Kids zu einem Halloweenhorrorhaus zu machen. Am Meisten freute er sich allerdings darauf, schlussendlich als Monster durch die dunklen Gänge des Hauses zu schleichen und die begeisterten Kinder und Jugendlichen zu erschrecken. Und sie solange mit Süßigkeiten zu füttern, bis sie sich nicht mehr bewegen konnten. Wenn die Kids weg waren, würden sie das Haus zu einer einzigen Party umfunktionieren und mit den vorbeikommenden Gästen den Rest der Nacht durchfeiern. Das war schon vor seiner Ankunft in L.A. eine gute, alte USC-Tradition gewesen und Jeremy tat alles, um diese fortzuführen. Doch nicht nur er. Die Trojans liebten die Nacht der Monster und Gespenster, an dem laut alter Märchen der Vorhang zwischen den Welten so dünn war, dass die eine in die andere überschwappte. Jeremy liebte den Gedanken an diese fantasylastige Durchlässigkeit und an Geister und Dämonen. Er liebte diese Nacht und er mochte es, die romantisierte Vorstellung an Wesen aus anderen Welten zu zelebrieren. „Können wir, Cap, oder willst du noch weiter in der Gegend herumstarren und Laila weiter im Auto warten lassen?“, fragte Val und Jeremy schnaubte. „Ich schwelge in der Vorfreude zu übermorgen“, konterte er und griff sich den übervollen Einkaufswagen, schob ihn in Richtung Kasse. L.A. hatte schon aufgerüstet und überall starrten ihm Kürbisse, Skelette und Spinnen entgegen. Grelles Orange dominierte die Farben, ganz zum Leidwesen Jeans, der seit Beginn der Dekorationen mit Missmut und Verachtung auf die Farben und die Figuren starrte. Jeremy hatte das erst für eine grundsätzliche Abneigung dem Tag gegenüber gehalten, bis er begriffen hatte, dass Jean ohne wirkliches Erkennen auf die Dekorationen sah. So hatte er erst verspätet begriffen, dass Jean das Konzept von Halloween gar nicht kannte. In Evermore hatte es so etwas nicht gegeben. Vielleicht hatte Jeremy den Fehler gemacht, Jean daraufhin nach ihrem Training und den ganzen Abend über davon vorzuschwärmen. Vielleicht hatte er den Fehler gemacht, auch noch als sie schon im Bett lagen von seinen Erfahrungen seit seiner Kindheit mit Halloween zu sprechen. Vielleicht hatte Jean sich schließlich das Kissen über den Kopf gestülpt und mit Sicherheit boshafte Sachen auf Französisch gesagt. Vielleicht war Jeremy hingerissen gewesen von dem Grollen und vielleicht hatte er den Worten begeistert gelauscht. ~~**~~ Überall, wo Jean hinsah, war diese lächerliche und grelle Dekoration. Überall. Es gab keinen Flecken auf dem Gelände der USC, der nicht von irgendeinem angeblich gruseligem Tier oder einem Geist oder Monster bevölkert war. Kürbisse standen an jeder Ecke und vor ihrem Gebäude türmten sie sich gleich in zwei Pyramiden. Die Nacht der lebenden Toten, wenn er Knox glaubte, der mit seiner wortreichen Erklärung Nicky Hemmicks damaligen Wortschwall beinahe den Rang abgelaufen hatte. Jean konnte einfach nichts damit anfangen, dass diese Nacht in Amerika anscheinend hoch und heilig war. Er konnte nichts mit dieser kitschigen Dekoration anfangen und auch nicht, dass seine Mannschaft ihr Gebäude in ein großes Horrorlabyrinth verwandelte um Kinder und Jugendliche zu bespaßen. Er mochte es nicht und der große Fortschritt, den er machte, war, dies auch zu äußern. Hier in Los Angeles war es ihm erlaubt, sein Missfallen zu äußern. Dass seine – in seinen Augen – berechtigten Einwände gegen die Verschwendung von Geld und Trainingszeit seitens seines Teams und seines Coaches mit nachsichtigen Lächeln abgewiesen wurden, stand da auf einem anderen Blatt. Aber sie straften ihn nicht dafür. Dass sie ihn trotz allem bei allen Sachen einbanden, die damit zusammenhingen, weil sie es als Team gemeinsam machten, stand auf einem anderen Blatt. Also saß er gerade an Lailas und Alvarez‘ Küchentisch und höhlte Kürbisse aus. Die zweite Runde…die erste war schon zu Beginn der Woche erfolgt. „Diese grässliche Pampe ist ekelhaft“, beschwerte er sich angewidert, während er das Fruchtfleisch in eine Schale hievte. Seine Hände waren klebrig und über und über bedeckt mit dem orangenen Zeug voller Kerne. „Immer noch, Moreau, das hat sich auch nicht geändert. Und jetzt beweg deine Astralfinger und mach weiter. Wir brauchen noch drei Kürbisse mehr!“ Jean grollte. „Das ganze Haus ist schon voll davon! Wozu braucht es noch mehr?“ „Weil Halloween!“ Weil Halloween war mittlerweile die Begründung seines ganzen Teams für alles, was er an diesem Brauch anzweifelte. Jean hatte schon aufgegeben zu zählen, wie oft er sie in dieser Woche gehört hatte und langsam aber sicher machten sie ihn damit mürbe. So mürbe, dass er Alvarez mit dem Stück Kürbis bewarf, das sich in seiner Hand befand, zielsicher mitten ins Gesicht. Jean hätte sagen können, dass es ein Reflex gewesen wäre. Er hätte sagen können, dass er in ihrem Stadion auch gerne mal Bälle nach Alvarez warf und sie nach ihm. Er hätte sich entschuldigen können, doch dazu befriedigte ihn das erstaunt-fassungslose Gesicht des Vizekapitäns viel zu sehr, an deren rechter Wange das große, orangefleischige Stück Kürbis herunterrutschte. Er musste grinsen, scharf und raubtierhaft und schon ein bisschen schadenfroh, als sich noch Empörung in die Fassungslosigkeit stahl. „Du impertinenter, französischer Kürbiskopf!“, fluchte sie schließlich und Jean lachte. Zumindest solange, bis auch er ein Stück Fruchtfleisch im Gesicht hatte. Mitten auf der Stirn. Angewidert grollte Jean „Spanische Mistkröte!“, zischte er und schauderte, weil es sich dort noch viel ekelhafter als in den Händen anfühlte und löste es angewidert von seiner Haut, bevor es sich auf den Weg in seinen Schoß machen konnte. Auch das warf er in Alvarez‘ Gesicht und es schien, als wäre mit diesem zweiten Angriff der Damm, der sie beide zurückgehalten hatte, gebrochen. Sie wehrte sich, er ebenso und so bewarfen sie sich mit jedweder Munition, die sie hier hatten. Wie es die Natur ihres Sportes so wollte, war die Trefferquote bei nahezu hundert Prozent, bis auf die Stücke, die auf der Küchenanrichte und an den Küchenschränken landeten, denn ein weiteres Standbein ihres Sportes waren ausgezeichnete Reflexe. Auch zum Ducken. Jean wurde sich bewusst, dass er so etwas noch nie gemacht hatte und dass es aller Wahrscheinlichkeit nach auch hochgradig anrüchig war, mit Essen um sich zu werfen. Warum er überhaupt auf den Gedanken gekommen war, war ihm schleierhaft, doch er genoss den Spaß, den er dabei hatte, sich völlig irrational und…kindisch zu verhalten. Es bereitete ihm Freude mit Alvarez durch die Küche zu toben, weil ihnen der Kampf im Sitzen nicht mehr ausreichte. Mittlerweile hatten sie ihren Kampf verlagert und Jean hielt ein großes Stück Kürbis in der Hand. Alvarez stand ihm im Türrahmen zum Flur wie bei einem Showdown gegenüber und grinste diabolisch, während sie ihre Hände abwehrend erhoben hatte. „Denkst du wirklich, dass ich das nicht fange?“, grimmte sie und Jean hob die Augenbraue, selbst ein wenig außer Atem. „Du unterschätzt meine Wurffähigkeiten.“ „Die sind mittelmäßig, Moreau!“ Er zeigte ihr, wie mittelmäßig sie wirklich waren und platzierte seinen Wurf zielsicher auf ihren Kopf. Sie duckte sich und Jean hörte, wie sich gleichzeitig die Eingangstür zu ihrem Apartment öffnete. Jean hörte einen erst überraschten, dann angewiderten Laut, der in einem Grunzen mündete. „Uaaah! Igitt, was ist das denn?“ Jean erstarrte ebenso wie Alvarez. Wie gebannt starrten sie auf den Türrahmen, aus dem nun Laila in den Raum trat, langsam und ungläubig. Direkt nach ihr kam Knox, an dessen Stirn die Reste des orangenen Fruchtfleisches hingen. In seiner rechten Hand hielt er den Klumpen, den Jean gerade geworfen hatte und in seiner Linken befand sich eine Tüte mit den Einkäufen. „Was ist hier denn passiert?“, fragte Laila mit der selbstverständlichen, entsetzten Entrüstung einer Apartmentbewohnerin, die miterleben musste, wie eben jenes vollkommen zerstört vor ihr lag, obwohl sie es in perfekter Ordnung verlassen hatte. Jeans Augen bohrten sich in Alvarez‘, die breit grinste. „Jean hat angefangen!“, sagte sie dann, die olle Verräterin. Natürlich war er damit im Fokus ihrer aller Aufmerksamkeit, natürlich starrten Knox und Laila ihn an, als hätte er den Verstand verloren. Langsam ließ Jean seine Wurfhand sinken und warf einen kurzen Blick auf den Tisch, der wie der Rest der Küche auch tatsächlich einem Schlachtfeld glich. Sein Blick verirrte sich zu Knox, der anscheinend immer noch nicht fassen konnte, was er hier sah und mit den Resten des Kürbisses auf seiner Stirn, den großen, blauen Augen und dem weit geöffneten Mund beinahe schon hilflos versuchte, sich einen Reim zu machen. „Du...hast…“ fahrig deutete seine Hand auf Jeans Haare, dann auf sein Oberteil. „…da…ähm…“ „…Kürbis in den Haaren?“, vollendete Jean hilfreich den Satz und spürte der Welle der Freude nach, die immer noch gefährlich nah unter der Oberfläche seiner Haut brodelte, darauf drohend, auszubrechen. „Du auch, auf der Stirn“, ergänzte er hilfreich und seine Stimme brach beinahe unter der Last des Lachens, das sie zu färben drohte. Stumm folgte Knox seinem Fingerzeig und fuhr sich nochmals über die betroffene Haut. Hilfesuchend irrte die Aufmerksamkeit seines Kapitäns dann zu Laila, die anscheinend immer noch damit beschäftigt war, das Chaos innerlich zu katalogisieren und keinen von ihnen umzubringen. „Jer“, sagte sie dann und es war keine Frage, ganz und gar nicht. Verspätet tauchte Knox aus seiner Trance auf. „Ja?“ „Jer, ich weiß nicht, wie es bei dir aussieht, aber solange das Schlachtfeld hier existiert, bin ich Single und möchte mein plötzlich eingetretenes Singledasein genießen. Gehen wir einen Kaffee trinken und dekorieren dann?“, fragte sie mit hoch erhobener Augenbraue und viel zu ernst, um wirklich einen Spaß zu machen, betont Alvarez‘ lautstarke Proteste ignorierend, von Jeans Anwesenheit ganz zu schweigen. Irritiert runzelte Knox die Stirn. „Aber ich bin doch so oder so Single“, merkte er an und Laila schnaubte. „Das ist nicht der Punkt. Also?“ Der blonde Junge schluckte und nickte. Beinahe schon entschuldigend musterte er Jean und lächelte, immer noch offensichtlich verwirrt und voller Fragen. Das breite Grinsen, welches er Alvarez schenkte, war da schon um Längen schadenfroher. „Bis später, Singlevize!“, winkte er, als er mit Laila zusammen den Raum verließ und Jean konnte und wollte das Lachen nicht mehr unterdrücken, das an die Oberfläche perlte. „Hör auf zu lachen, du garstiges Stück französischer Pseudosingle und hilf aufräumen, damit ich heute Abend nicht alleine schlafen muss!“, grollte Alvarez und Jean rollte mit den Augen. Nichtsdestotrotz tat er wie ihm geheißen, während das Lächeln auch mit fortschreitender Anzahl an Kürbisstückchen, die brav ihren Weg in eine Schüssel auf dem Tisch fanden, nicht weggehen wollte. ~~**~~ Ächzend zerrte Jeremy die Reste der schwarzen Stoffbahnen aus der hinterletzten Ecke des Fahrradkellers und warf sie auf den großen Haufen Dekorationen, die Laila und er bereits aus den restlichen Räumen geholt und aufgestapelt hatten. Laila hatte sich währenddessen ihren Monstermasken und -kostümen gewidmet und überprüfte, ob sie noch in Ordnung waren. Staub stieb in die Höhe und ließ Jeremy nießen. Laila sah auf und musterte ihn mit erhobener Augenbraue. Jeremy grinste, nieste noch einmal und zuckte entschuldigend mit den Schultern, während er in seiner Hosentasche nach einem Taschentuch wühlte. Geduldig wartete Laila, bis er fertig war mit schnäuzen und musterte ihn dann schweigend in einer Art, die Jeremy nervös machte. Ihr lag etwas auf der Zunge, das sah er ganz deutlich und er hatte gelernt, sich vor dieser Art von Blick zu fürchten, denn die darauffolgenden Fragen trafen immer in sein Innerstes und brachten ihn dazu, über sich selbst und seine Handlungen nachzudenken. „Jer?“ Dieses Mal war es tatsächlich eine Frage und er brummte. „Laila?“, zögerte er das Kommende nur heraus und sie lächelte. „Jer, bist du verschossen?“, fragte sie direkt und er schluckte. Ja, das war wieder eine dieser Fragen, die er nicht wirklich beantworten konnte, weil er sich vor gewissen Gedanken und Schlussfolgerungen drückte. „In Allan?“ Drücken konnte er sich sehr gut, zumindest solange, bis Laila ihn mit ihrer Mimik und ihrem subtilen Missfallen über seine Taktik so sehr in die Ecke drängte, dass er dort ohne zumindest eine ehrliche Antwort nicht mehr herauskam. Anscheinend war die durch die überraschende Kürbisschlacht zwischen Alvarez und Jean sowieso schon ausgereizte Geduld nun aufgebracht und sie schnaufte vielsagend. „Du weißt, wen ich meine“, erwiderte sie und Jeremy gestattete sich noch ein paar Sekunden des Windens, bevor seine Prokrastination in sich zusammenfiel und er gleich mit. „Er entspricht theoretisch meinem Männertyp.“ „Das ist keine Antwort, Jer.“ Unsicher steckte er seine Hände in die Taschen seiner Jeansshorts und zuckte mit den Schultern. „Jean ist ein attraktiver Mann. Selbst mit Kürbis im Gesicht und in den Haaren“, gab er zu. „Aber er ist nicht interessiert.“ Laila runzelte die Stirn. „Hast du ihn schon gefragt?“ Jeremy schüttelte den Kopf. „Nein, habe ich nicht und das werde ich auch nicht. Mir ist anderweitig klar geworden, dass er nicht interessiert ist, also werde ich das gar nicht aufbringen. Ich möchte ihn nach all dem, was ihm in Evermore zugestoßen ist, nicht auch noch mit unsittlichen Anträgen oder unerwünschter Aufmerksamkeit verschrecken.“ Seine Worte lösten nahtlos Erinnerungen an Jeans verächtliche Worte aus, mit denen er Jeremy gesagt hatte, was ihm dort zugestoßen war und die Jeremy seitdem regelmäßig Alpträume bereiteten. Fünf Vergewaltigungen, eine davon in seinem Namen. Jean wusste nicht, ob er auf Männer oder Frauen stand und würde überhaupt das erst einmal erkunden müssen, wenn er dazu bereit war. Selbst wenn Jean auf Männer stand, dann würde er mit Sicherheit nicht auf ihn stehen. Weil er wegen ihm die Hölle erlebt hatte. Weil Jeremy sein Kapitän war. Weil vermutlich noch tausend andere Gründe dem im Weg standen. „Denkst du, dass du so unauffällig mit deinem Starren bist, Cap?“, fragte Laila mit seiner solch sanften Zärtlichkeit, dass Jeremy anhand dessen schon erahnen konnte, wie schwerwiegend ihr Einwand sein musste. Er schluckte schwer. „So schlimm?“ „Offensichtlich. Aber nicht schlimm.“ „Für Jean auch?“ Sie schüttelte den Kopf und erleichtert seufzte Jeremy. „Das ist gut. Wie gesagt, ich möchte nicht, dass er sich bedrängt fühlt.“ „Dir ist aber schon klar, dass Mr. Tall, Dark and Handsome dir schon mehr Aufmerksamkeit schenkt als uns allen anderen?“ Nein, das war Jeremy bisher nicht klar gewesen und er glaubte auch nicht, dass es den Grund hatte, den Laila vermutete. „Vermutlich liegt das daran, dass ich sein Kapitän bin. Riko hat ihm wehgetan, vielleicht ist es ein Reflex oder Instinkt, dass er mich da mehr beobachtet als euch. Für ihn bin ich vermutlich die größere Bedrohung.“ Ungläubig hob Laila ihre Augenbrauen. „Du? Eine Bedrohung? Du bist der Sonnenschein in Person.“ Jeremy lachte. „Danke für die Blumen. Ich kann aber verstehen, wenn er da vorsichtiger ist mit seiner Einschätzung als du“, zwinkerte er und lehnte sich an die kühle Kellerwand. Nach Ablenkung suchend strichen seine Finger über eine der bemalten Schaumstoffwände. Sie mussten auch mal wieder ausgebessert werden, das sollten sie nach Halloween in Angriff nehmen. „Was, wenn es aber nicht so ist? Was, wenn er sich auch zu dir hingezogen fühlt?“ Jeremy schmunzelte. „Dann werden wir weitersehen.“ Nicht, dass das jemals eintreten würde, da hatte er überhaupt keine Hoffnungen. „Soll ich mal mit ihm sprechen?“ Es war ein Angebot aus reiner Freundschaft heraus, das wusste Jeremy, aber in diesem Moment konnte und wollte er es nicht annehmen. Jean würde sich zurückziehen und was das in ihm auslösen würde, konnte Jeremy ebenso wenig abschätzen. Er stieß sich von der Wand ab. „Nein, lass das bitte. Ich glaube, das würde Jean eher verschrecken als ihm gut tun.“ Laila brummte zustimmend und bohrte noch ein paar Sekunden ihre sanften Augen in seine Seite, bevor sie sich wieder ihrer Aufgabe widmete und auch Jeremy zurück zu seinen Stoffbahnen ging. Schweigend wog er ihre Worte ab und was sie implizierten. Bisher hatte er gedacht, dass es vollkommen unauffällig war in seiner minimalen Schwärmerei für Jean Moreau, der langsam zu Leben erblühte. Wenn dem nicht der Fall sein sollte, dann sollte er schleunigst zusehen, dass er sich in den Griff bekam, schon alleine um Jeans Willen. Jean sollte in keinem Fall das Gefühl haben, dass er ihn bedrängen würde oder dass er unwillkommene Anziehung auf sich zog. Niemals sollte er das Gefühl bekommen, also würde Jeremy sich zurückhalten müssen. Nicht mit seiner Freundlichkeit, denn Jean hatte nichts Anderes verdient, aber mit seinem Streben nach Nähe, dessen Jeremy sich umso deutlicher bewusst wurde, je mehr er darüber nachdachte, wie er sich Jean gegenüber verhielt. Jean sollte in Ruhe und aus freien Stücken seine eigene Sexualität und seine Vorlieben erkunden, in einem sicheren und geschützten Umfeld. ~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 43: Halloween --------------------- Seit einer Stunde war Laila nicht mehr Single, was primär daran lag, dass Jean und Alvarez mit Hochdruck und unter gegenseitigen Beleidigungen an der Reinigung der Küche gearbeitet hatten und den gesamten Raum wieder in einen annehmbaren Zustand gebracht hatten. Penibel hatten sie jeden einzelnen Flecken Kürbis von den Oberflächen getilgt und Ordnung geschaffen, um diese dann Lailas kritischem Auge zu präsentieren, mit dem sie jeden Zentimeter der Küche durchforstet hatte. Auch wenn Alvarez ganz zu ihrem Missfallen heute trotzdem in ihrem eigenen Bett schlafen würde, so war es ihr wieder erlaubt, sich Laila zu nähern. Jean zog sie wie der Rest des Teams damit auf, das anscheinend schon vor ihrem Eintreffen bereits wussten, was passiert war. So sehr, wie sie über Alvarez spotteten, so nachdenklicher beäugten sie ihn, was dazu führte, dass Jean in diesem Moment Ajeet angrollte, der ihn wiederholt verstohlen musterte. „Was?“, fragte er unerfreut und ertappt zuckte der Torhüter zusammen. „Nichts“, beeilte Ajeet sich zu sagen und Jean glaubte ihm keinen einzigen Buchstaben. Dieses Mal ließ er ihn nicht entkommen und richtete sich von seiner momentanen Arbeit, schwarze Stoffbahnen zu entrollen, die sie im ganzen Haus verteilen würden, auf. Danach würde er die Ehre haben – als Neuzugang – mit seinem viel zu begeisterten Kapitän, Fahima, Ellie und Logan Spinnenweben aufzuhängen. Auch wenn Jean mit Halloween nichts anfangen konnte, so hatte er durch die Begeisterung seines Teams doch heraushören können, dass er zwar nicht zur Mitarbeit gezwungen war, dass sie ihn aber gerne dabei hatten. Weil es so ein Mannschaftsding war. Wenn er ehrlich war, hätte Jean sich auch komisch damit gefühlt, sich aus den Vorbereitungen herauszuhalten, obwohl alle anderen Spieler seines Teams bis zum Hals in Arbeit steckten. „Nichts“, echote er entsprechend kritisch und starrte ausnahmsweise auf Ajeet hinunter. Der Junge war um einiges größer als er, wenn sie standen. Nun aber konnte er seinen Größenvorteil gleich dazu nutzen, streng auf den Torhüter hinunter zu starren. Knox war an guten Tagen für eine halbe Minute resistent dagegen, an schlechten nur ein paar Sekunden. Ajeet unterbot ihren Kapitän dabei immer. „Ihr habt eine Essensschlacht gemacht! Eine Essensschlacht! Ich meine…was?!“, schoss es aus Ajeet heraus und Jean wartete geduldig, ob da noch etwas kam. „Mit Kürbissen! Und Laila hat Alvarez defriended…also gefriendzoned…also noch nicht einmal das! Und du…du…!“ So wirklich befriedigend war die Erklärung nicht, aber Jean beließ es dabei. Anscheinend war das, was er getan hatte, etwas Besonderes für ihn. Er würde Knox fragen müssen, warum sein Team so dachte. Wobei… Jean runzelte die Stirn. „Warum ist das bei mir etwas Besonderes und bei Alvarez nicht?“, fragte er nachdenklich und Ajeets Augen weiteten sich. Er war mit der jetzigen Frage genauso überfordert wie mit der zuvor und Jean seufzte. „Du bist halt du, Jean. Groß, böse, Ex-Raven, immer kontrolliert und immer im Vollbesitz deiner geistigen Fähigkeiten. Du machst so etwas halt einfach nicht.“ Irritiert runzelte Jean die Stirn. So wirkte er auf Ajeet? Immer kontrolliert und im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten? Letzteres war zu hoffen und irgendwie fühlte sich Jean alleine dadurch leicht beleidigt, dass das noch extra erwähnt wurde. Ersteres jedoch…selbstkritisch schürzte er die Lippen. Noch vor Monaten war es um sein Überleben gegangen. Die Frage, wie er auf andere wirkte, war unerheblich, es sei denn, sie hatte Riko betroffen. Natürlich waren die Trojans anders und Jean grollte innerlich. Äußerlich gab er einen Laut der unbestimmten Zustimmung von sich. „Es bot sich an“, gab er als Erklärung für sein Verhalten und Ajeet lächelte viel zu vielsagend und versöhnend, als dass Jean das Thema weiterverfolgen wollte. Zu seiner eigenen, geistigen Gesundheit, beschloss er. „Wie soll das hier eigentlich befestigt werden?“, fragte er anstelle dessen und deutete auf den schwarzen Stoff. Ajeet zeigte auf die schwarze Kiste voller Bastelutensilien und Jean warf einen Blick hinein. „Zuerst verdunkelst du die Flurfenster mit Alufolie, sodass kein Licht mehr hineinkommt und dann hängst du den schwarzen Stoff an die Wände. Aber hol dir dabei Hilfe von Ellie. Ich komm‘ auch gleich, wenn ich mit den Grabsteinen fertig bin.“ Jean starrte und dieses Mal war es nicht, um Ajeet zum Weitersprechen zu bewegen. Erst jetzt wurde ihm wirklich bewusst, was sein Team plante. Abrupt und ruckartig überkam ihn die Angst im Angesicht der Dunkelheit, die irrationale Furcht, dass die Trojans in der Abwesenheit von Licht zu den Ravens werden würden, die wie Hyänen durch die dunklen Gänge sprinteten und sich gegenseitig zerfleischten. Er erinnerte sich mit grausamer Klarheit an das, was sein Team eigentlich schon seit Tagen andeutete und was er bisher mitnichten begriffen hatte. Sie würden Dunkelheit über das Licht bringen. Jean schluckte. Das hier war nur ein Spiel, es war kein Ernst. Er war nicht mehr in Evermore und übermorgen würde dieser Spuk wieder vorbei sein. Er würde das schon durchstehen. Es waren doch nur alltägliche Gegenstände. Alufolie und schwarzer Stoff, kein Gestein. Es war warm, was ebenso diametral der Kälte entgegenstand, die ihm jahrelang in die Knochen gekrochen war und die er auch jetzt noch in Träumen spürte. Schweigend griff Jean zur Alufolie und ging zum äußersten Fenster. Das erste, große Stück, was er abrollte, war ein wenig zu groß, doch es passte mit etwas Stopfen auf das Fenster. Das zweite Stück schloss die Sonne komplett aus und Jean verharrte mit den Fingern auf dem noch kühlen Stück dünngepresstem Metall. Noch war der Gang hell genug, dass er seine irrationale Angst in Schach halten konnte. Er trat zum nächsten Fenster und wiederholte sein Tun, dann wieder zum Nächsten, bis der Gang in ein schummriges Dämmerlicht getaucht war, das nur erhellt wurde durch die Deckenfluter und das immer noch helle Treppenhaus. Es war nicht wie in Evermore. Keine schwarzen Steinwände, keine roten Lampen, keine Flure ewiger Nacht. Das war seiner Angst vollkommen egal. Sie ließ seine Rationalität nicht zu Wort kommen. Mitnichten, auch wenn Jean minutenlang stumm für sie kämpfte und mit sich rang. Dass es am Ende so etwas Simples wie das Aufhängen eines Stück schwarzen Stoffes war, das ihn den Kampf verlieren ließ, war bitter. Als die erste, schwarze Stoffbahn aufgehängt wurde und sein Denken mit Evermore überflutete, lösten sich die letzten Ketten um seine Kontrolle, die ihn im Hier und Jetzt hielten. Er war dort und die Ravens waren ihm zu nahe. Es waren zu viele in einem Gang, als dass es ungefährlich sein würde. Sie waren zu laut und lautes Geschrei bedeutete nie etwas Gutes. Jean wich zurück, er versuchte, ohne, dass sie ihn bemerkten, aus ihrer Reichweite zu kommen. Er musste nur aus dem Gang heraus und nicht Riko in die Arme laufen. Sie durften seine Angst nicht sehen. Kaum hatte Jean die Treppe erreicht, strauchelte er sie hinunter, weil er wusste, dass er weiter unten in Sicherheit war. Er wusste auch genau, wo sie ihn nicht finden würden. Die plötzliche Hand um sein Handgelenk sagte ihm, dass sie ihn trotzdem gefunden hatten und er war versucht, sich loszureißen und weiterzulaufen. Jahrelange Indoktrinierung stand dem entgegen und er fror ein, fuhr herum und verharrte dann ängstlich ob des Schlages, der sicherlich kommen würde. „Jean.“ Das war sein Name und doch war es nicht Riko, der vor ihm stand. Ein Kapitän, aber nicht der, den er erwartet hatte. Wilde, blonde Haare, blaue Augen, Sommersprossen. Knox. Das war Jeremy Knox, doch was machte dieser in Evermore? Er war nie dort gewesen und hatte nie die Dunkelheit ertragen müssen. Wieso war er jetzt hier? Riko würde ihn auch quälen, da war Jean sich sicher. Er wusste es. „Jean.“ Wieder sein Name, als wäre er eine Selbstverständlichkeit und Jean schluckte schwer, unfähig, etwas zu sagen. „Möchtest du an die frische Luft?“, fragte der Kapitän der Trojans und die Frage machte so wenig Sinn wie sie Sehnsucht in Jean erweckte. An die frische Luft durfte er ohne Rikos Zustimmung nicht, aber er würde so gerne. Vielleicht nickte er deswegen auch. Genau wusste es Jean nicht, doch plötzlich wurde er mitgezogen, noch eine Treppe hinunter und dann öffneten sich Türen vor ihm. Ein paar Schritte, dann brannte ihm Sonne ins Gesicht, die ihn verwirrte und auch verstörte. Sonne. In Evermore? „Du bist in Los Angeles, Jean. An der USC. Du bist ein Trojan, kein Raven mehr. Seit Monaten schon nicht mehr. Riko ist tot und du bist der Starting Backliner der Trojans. Ich bin dein Kapitän und mein Name ist Jeremy Knox. Wenn du mit mir schimpfst, sprichst du Französisch mit mir. Das klingt ungefähr so.“ Jean folgte den Worten, die er zwar verstand, die aber zunächst keinen Sinn ergaben. Das war jedoch nicht so verwirrend, wie die Worte, die er weder verstand und die noch viel weniger Sinn ergaben. Was tat der blonde Junge da? Jean strengte sich an, folgte der Bewegung der Lippen wie auch den Lauten, die seiner Sprache ähnlich waren und doch vollkommen unverständlich. Er blinzelte, einmal, zweimal, dreimal, bis diese Laute ihm etwas verdeutlichten, was er bisher nicht erkannt hatte. Die schlichte Wahrheit. Sie waren nicht in Evermore, er war kein Raven mehr und vor ihm stand sein Kapitän, der versuchte, Französisch zu sprechen und seine Sprache so verunstaltete, dass es Jean gruselte. Das Gruseln zog ihn mehr aus dem Flashback, als es die Erkenntnis jemals gekonnt hätte und reflexartig hielt er dem Jungen den Mund zu, auch wenn ihm nicht wohl bei dieser Geste war. Er würde es hassen, doch Knox schien kein Problem damit zu haben. Nicht bei Alvarez, nicht bei Laila oder Valentine, den Trojanmädchen. Knox, sein Kapitän, dessen Lippen warm und unbewegt waren unter seinen vorsichtigen Fingern. Jean hatte keine Kraft für Worte und sein schnell schlagendes, panisches Herz ließ ihn nicht, aber er krallte sich mit aller Macht an das Wissen, was er gerade erlangt hatte, aus Angst, dass er noch einmal die Erinnerung an das Hier und Jetzt verlieren würde. Brian hatte gesagt, dass so etwas möglich wäre. Flashbacks hatte er diese Phasen genannt, in denen Jean nicht mehr wissen würde, wo und in welcher Zeit er sich befand, gefangen in der Vergangenheit. Er würde dann Dinge sehen, die real nicht mehr da waren und der Vergangenheit angehörten. Rein logisch hatte Jean gewusst, dass es kommen könnte, das nahm ihm jetzt aber weder das Zittern, noch die Angst noch die Verzweiflung. „Jean?“ Gedämpft drang sein Name von den Lippen seines Kapitäns und Jean löste seine zittrigen Finger von eben diesen. Er starrte auf sein Handgelenk, das sich immer noch im eisernen Griff des anderen Jungen befand und ihm ein Anker war. Mit dem furchtbaren Pseudofranzösisch, das diese unverschämten Lippen verlassen hatte. „Ich bin hier“, krächzte Jean und meinte soviel mehr damit, als seine Worte es auszudrücken vermochten. Er war geistig anwesend. Im Hier und Jetzt. Er wusste, wer er war und wo er war, auch wenn es noch nicht so gut war in ihm. Noch etwas unsicher und wund von seinen Erinnerungen an Evermore. „Was ist passiert?“, fragte Knox sanft ohne ihn loszulassen und Jean war dankbar darum. „Der Flur wurde dunkel, als ich die Aluminiumfolie vor die Fenster geklebt habe. Ich dachte…ich wäre in Evermore“, krächzte Jean in der Hoffnung, dass seine ungelenken Worte auch verstanden wurden. Knox nickte, aber Jean sah, dass sein Kapitän eben nicht verstand. Jean räusperte sich. Sein Hals war trocken, aber nicht so ausgedörrt wie oftmals in Evermore. „Dort sind die Schlaf- und Aufenthaltsräume der Spieler unter dem Stadion im Keller, tief unter der Erde. Die Wände sind schwarz mit roten Lampen und es gibt keine Fenster, kein Tageslicht, keine Sonne. Ich…habe die Sonne in saisonfreien Zeiten monatelang nicht gesehen“, schloss er und sah zur Seite, weil es wieder Entsetzen war, das die blauen Augen dominierte und das kratzte momentan viel zu sehr an seiner Selbstbeherrschung, als dass er es bis in sein Innerstes vordringen lassen konnte. „Wie abartig ist das denn?“, fragte Jeremy schließlich leise und Jean hörte Wut in den Worten. „Wie widerlich ist dieser Kult, der dich ohne Tageslicht einsperrt, ohne die Möglichkeit, die Sonne zu sehen?“ Jeans Antwort darauf war obsolet, denn die zornigen Fragen waren rein rhetorisch. Sie beide wussten, dass Evermore noch zu viel Abartigerem und Widerlicherem fähig war. So schwieg Jean und beobachtete Knox aus dem Augenwinkel heraus, der seine Unterlippe zwischen seinen Zähnen malträtierte. „Dass wir unser Gebäude verdunkeln, erinnert dich daran“, sagte er schließlich und sah hoch, in seinen Augen vollständiges Verständnis und die, wie Jean nun erschrocken erkannte, sofortige Bereitschaft, dieses Problem zu beheben. Zu Lasten des morgigen Abends. „Das ist nicht schlimm, wirklich nicht. Es war nur der erste Moment“, beeilte Jean sich zu sagen, bevor Knox auf dumme Ideen kam. „Es wird sicherlich gleich wieder gehen“, fuhr er fort, um seinen Standpunkt zu bekräftigen. Die aufkommende Entschlossenheit im Gesicht seines Kapitäns verhieß nichts Gutes, wahrlich nicht. „Nein, Jean, wir werden nichts tun, was schlimm für dich ist. Wenn du dich in deinem eigenen Haus nicht wohlfühlst, dann…“ „Ich kann nicht ewig davor weglaufen“, grollte Jean und zog Knox an seinem Handgelenk zu sich. Er war wütend, nicht auf seinen Kapitän, sondern auf den reinen Gedanken, dass all die Vorbereitungen und Freuden seines Teams wegen ihm umsonst sein würden. Das wollte er nicht. Er wollte diese Sonderbehandlung nicht und anderen den Spaß nehmen. „Es geht doch nicht ums Weglaufen. Es geht darum, dass du ein Trojan bist und dich mit etwas nicht wohlfühlst. Kein Trojan soll sich mit etwas unwohl fühlen oder Angst vor etwas haben, dass das Team zusammen macht. Das ist unsere Prämisse“, hielt Knox dagegen und Jean schüttelte den Kopf. „Ajeet, Fahima, Laila und Alvarez macht das Dekorieren Spaß. Warum sollten sie weniger Anrecht darauf haben?“, stellte er die zugegebenermaßen unfaire Frage und überrascht weiteten sich Knox‘ Augen. Jean nutzte die überraschte Stille seines Kapitäns, um fortzufahren. „Ich bin einer von 28, Knox. Ich bekomme das schon hin. Ich möchte nicht, dass wegen mir andere keinen Spaß haben werden.“ „Aber nicht auf Kosten deiner Angst!“, platzte es aus dem anderen Jungen heraus und Jean seufzte. Er brauchte etwas, um die Worte zu finden, die roh und zum Teil auch verletzend in seinem Inneren schlummerten. „Wenn ich immer vor dieser Angst weglaufe, dann kann sie nie besser werden. Dann wird sie auch für immer in mir sein, so wie sie jetzt ist“, erwiderte Jean schließlich mit mühevoller Ruhe und sah so etwas wie Erkennen in Knox‘ Augen. Verständnis. Endlich Zustimmung. „Trotzdem sollst du dich nicht unwohl fühlen in deinem eigenen Zuhause!“, negierte er es schließlich wieder und Jean grollte. „Das verhinderst du schon.“ Eigentlich hatte er das nicht so direkt und ehrlich sagen wollen, befand Jean. Eigentlich hatte er es anders formulieren wollen. Irgendwie…weniger auf den Punkt und auch weniger als eine Mischung aus Kompliment und Vorwurf, mit dem Knox nicht viel anfangen konnte außer Jean mit weiten Augen anzustarren. Jean räusperte sich. „Was ich meine ist, dass du dafür verantwortlich bist, dass ich mich wohlfühle in diesem Apartment und besser als vorher“, machte Jean es auch mit seiner Erklärung keinen Deut besser, wie er jetzt erkannte und seufzte. „Ich möchte, dass es dir gut geht“, murmelte Knox und sah auf seine Finger, die er nun langsam von Jeans Handgelenk löste. Sacht strich er mit seinen Fingern über die leicht geröteten Stellen kurz über den Narben, die die Handschellen hinterlassen hatten. „Entschuldigung“, murmelte Knox, doch Jean war viel zu beschäftigt, der Gänsehaut nachzulauschen, die sich auf seinem Arm ausbreitete. Das fühlte sich anders an als bei Laila, ganz anders und Jean befand, dass es nicht schlimmer war, eher im Gegenteil. Es kribbelte und ließ Jean sich wünschen, dass Knox auch das andere Handgelenk anfasste. Über sich überrascht zog er den Arm zu sich und außerhalb der Reichweite seines Kapitäns, der schier zusammenzuckte. Bevor jedoch eine weitere Entschuldigung über die Lippen des blonden Jungen huschen konnte, schüttelte Jean unwirsch den Kopf. „Nein“, hob er den ermahnenden Zeigefinger, den er so oft bei Alvarez gesehen hatte und überrascht hielt Knox inne, den Mund beinahe schon komisch offenstehend. „Es ist okay, Knox, wirklich. Was aber nicht okay ist, ist dein Versuch, französisch klingende Worte aneinander zu reihen. Das war grauenvoll. Fürchterlich. Schamlos. Vollkommen falsch“, urteilte er, wie er über den Spielstil seiner Mannschaft urteilte, und aus dem offenen Mund wurde ein breites Lächeln. „Siehst du, das kommt davon, wenn du mir deine Sprache nicht beibringst und ich nur aus dem Gedächtnis heraus Laute formen muss.“ Jean grollte ob so einer infamen Dreistigkeit. „Gut, dann hast du ab übermorgen Nachhilfe in richtigem Französisch“, beschloss er und sah, dass das nicht ganz zu eben jener Geknicktheit führte, die er erhofft hatte. Ganz im Gegenteil. „Es ist hoffnungslos mit dir“, sagte er auf Französisch und schüttelte den Kopf. „Was heißt das?“ „Das wirst du selbst herausfinden. Schließlich wirst du diesen Satz noch sehr oft hören“, wechselte Jean auf das verständlichere Äquivalent und schnaubte. „Und jetzt gehen wir wieder hinein. Dein Team gafft anstelle zu arbeiten.“ Mit einem knappen Nicken seines Kinns deutete er nach oben und Knox folgte seiner Blickrichtung. Er lachte und winkte. Wenn Jean sich nicht irrte, war es Ellie, die zurückwinkte. „Unser Team“, berichtigte ihn sein Kapitän und Jean rollte mit den Augen. „Die Trojans.“ „Na los, sag’s.“ „Trojans.“ „Das Andere.“ „Team.“ „Wessen?“ Jean gab sich geschlagen, damit dieser unwürdige Austausch englischer Wörter ein Ende hatte. „Unseres.“ ~~**~~ Jeremy lauschte der gruseligen, leisen Musik, die durch den dunklen Gang hallte, in dem er momentan stand. Die Wände waren mit Steinhöhlenwänden aus Schaumstoff verkleidet, der echtem Stein zum Verwechseln ähnlich sah. Zumindest unter dem Licht der mit orangener und dunkelgrüner Folie abgeklebten Lampen. Zwischen den Steinen pulsierte rotes Licht im Takt eines Herzschlages, der sich über die Musik legte. Spinnenweben schmückten den Gang, gespickt mit Spinnen und Knochen. Jeremy folgte dem Fingerzeig der Skelette und trat in den obersten Treppenflur, wo der erste Friedhof zu finden war mit seinen beleuchteten Gräbern und den Zombies, die sich versuchten, aus ihnen herauszudrücken. Die Trojans hatten sie damals einem Filmstudio gegen ein geringes Entgelt abgekauft und hatten so das Glück, dass sie täuschend echt aussahen und eine gute, motorische Mechanik hatten. Ebenso wie die sich bewegenden Skelette im Flur darunter, die eingebettet waren in einem Gang voller Schleim, Spinnenweben und Knochen auf dem Boden, die so wunderbar knirschten, wenn man auf sie trat. Nicht zu vergessen die Flüssigkeitsbeutel unter dem schwarzen Stoff auf dem Boden. Der Gang wurde von verschiedenfarbigen Strahlen angeleuchtet und ließ durch das Schattenspiel und die Musik eine gruselige Stimmung aufkommen, die Jeremy wohlig schaudern ließ. Beide Gänge waren mit sachtem Nebel aus drei Nebelmaschinen versehen und hier und da erfüllte das Aufheulen eines Werwolfs und das Zischen eines Vampirs das Gebäude. Die Menschenschreie hatte Jeremy aus den Sounddateien gelöscht, weil er nicht wollte, dass Jean sich dadurch an Evermore erinnert fühlte. Langsam lief er die Treppe hinunter in das Erdgeschoss und grinste im Angesicht der kleinen und großen leuchtenden Pilze, blutigen, schwebenden Kerzen und Hexen, die mitten im Flur standen. In den mit schwarzen Stoff verkleideten Regalen standen leuchtende Einmachgläser mit Organen und am Ende des Flures befand sich ein blutiges Schafott mit einem manisch lachenden Zombie. Das Gemeinschaftsklo, das sie morgen Abend zur freien Verfügung stellten, war übersäht mit blutigen und schleimigen Handabdrücken. Sie hatten den Raum vor Jean geheim gehalten, nicht jedoch alles andere, das dieser sich vorsichtig angesehen hatte. Jeremy lugte nach unten, wo sich das Team bereits versammelt hatte. Sie saßen alle im Kreis, sich gemütlich auf mitgebrachte Kissen gekuschelt. Jean war auch schon da, nachdem Alvarez und Laila ihn unter dem Vorwand, dass er einen Blick auf das Essen werfen musste, aus dem Apartment gelockt hatten, hinein in ihre Vorhalle voller Kürbisse. Bis Jean begriffen hatte, dass es das übliche Vorabend-Halloween-Teambuilding-Horrorgeschichtenerzählen war, war es zu spät gewesen. Alvarez hatte ihrem Mitbackliner eine einzige Chance gegeben, nein zu sagen und Jean hatte lange gebraucht, um zähneknirschend zuzustimmen. Mit naserümpfender Verachtung hatte er sich in ihrer Pseudohorrorkulisse umgesehen und sich dann auf den für ihn vorgesehenen Platz gesetzt, die Augen auf das Skelett neben ihm gerichtet, dessen leuchtende Augen und weit geöffneter Kiefer Hilfe zu schreien schienen. Val verteilte währenddessen Zombiehirnblutung, ein ekelhaft anmutendes Gemisch aus Grenadinensirup, Pfirsichschnaps und Irish Cream. Selbst Jean nahm sich ein Glas und drehte es in seinen Fingern, während Jeremy ebenfalls in den Kreis trat und sich mit einem strahlenden Lächeln neben Jean niederließ. „Hey, Halloweenmuffel, wie geht’s dir?“, fragte er grinsend und dunkel musterte Jean ihn. Er hatte den Nachmittag in ihrem Apartment verbracht, weitab von der möglichen Dunkelheit ihres Gebäudes. Es hatte ihm Ruhe verschafft, die auch jetzt noch anhielt, denn Jeremy sah keine Anzeichen von Angst in Jeans Gesicht oder Haltung. Nur die übliche Anspannung, die von Monat zu Monat weniger wurde. Und natürlich Genervtheit. Viel davon. Dass er sich erlaubte, seinem Team diese Emotion zu zeigen, war ein Fortschritt, der es Jeremy warm ums Herz werden ließ. „Was machen sie jetzt?“, deutete Jean auf den Kreis der Trojans. Sie alle trugen bequeme Klamotten oder Pyjamas. „Zunächst einmal stoßen wir auf den besten Tag des Jahres an“, erwiderte Jeremy. „Dann werden wir uns gegenseitig in der Dunkelheit mit Kerzenschein zwei-Satz-Horrorgeschichten vortragen.“ Jean atmete aus – nicht ganz ein Seufzen. „Warum...“, begann er, verstummte dann jedoch, als Val sich räusperte. Nach und nach wurden auch die anderen Trojans ruhig und sie lächelte. „Cap, Vizecap, Trojans…ich heiße euch willkommen zur alljährlichen Tradition von Halloween, dem Tag, an dem die Schleier zwischen den Welten dünner werden und die Geister, die uns umgeben, einen Blick zurück in unsere Welt werfen und übertreten. Es ist die Zeit der Monster, Unholde, die Zeit des Gruselns und des Horrors. Heute Abend bis übermorgen Früh wird aus den strahlenden Trojans eine Horde an Gruselgestalten. An Vampiren, Werwölfen, Monstern, Zombies… die in der Dunkelheit arme Unschuldige erschrecken und sie mit Essen füttern.“ Sie hob das Glas und begeistert tat es Jeremy ihr gleich. Jean folgte da weitaus langsamer und zögerlicher. „Da ist Alkohol drin…nur als Vorwarnung“, murmelte Jeremy und Jean nickte unmerklich. „Heben wir die Gläser auf uns und auf die gute, alte Tradition, den Kids einen schönen, gruseligen Abend zu schenken, über den sie noch Monate später sprechen können!“ Jeremy jubelte, wie der Rest seines Teams auch und sie hoben die Gläser. „Auf die Kids!“, rief Jeremy. „Auf die Kids!“, echote sein Team und gemeinsam tranken sie. Verstohlen warf Jeremy einen Blick auf Jean, der zunächst am Glas roch, bevor er dann einen minimalen Schluck nahm und das Gesicht vor Ekel verzog. Vorsichtig setzte er es ab, sich nicht Jeremys brennendem Blick bewusst. Jean fühlte sich sicher genug um in Anwesenheit seines Teams Alkohol zu trinken. Er bereute es zwar, das sah Jeremy, doch nicht wegen des Teams, sondern wegen des Geschmacks. „Du kannst es auch mir geben, wenn es dir nicht schmeckt“, schmunzelte Jeremy und Jean warf ihm einen Seitenblick zu. Wortlos reichte er ihm das Glas, den abfälligen Blick auf die grün-rote Mischung gerichtet. Jeremy starrte auf dieses fleischgewordene Bildnis eines Leinwandbösewichtes mit gutem Kern und toller Frisur. Verlegen lächelte er und schnaufte. Er rieb sich über seinen Nacken und wandte seinen Blick wieder zurück in die Kreismitte, wo Ajeet nach großen LED-Rednerkerze. Der Sicherheit halber hatten sie alle Echtkerzen durch flackerende LED-Echtwachskerzen ausgetauscht. Ajeet räusperte sich und Stille kehrte ein. „Ich komme nach einem langen Arbeitstag müde nach Hause und will nur noch schlafen. Im dunklen Zimmer habe ich den Lichtschalter endlich gefunden, aber eine andere Hand ist bereits drauf.“ Ein Raunen ging durch die Anwesenden und Ajeet ließ es sacken, bevor er feierlich die Kerze weitergab. Logan nahm die Kerze an und ließ sie von unten sein Gesicht bescheinen, was ihm, wie allen anderen auch etwas Gruseliges verlieh. Er holte tief Luft. „Das Letzte was ich sah, war, dass mein Wecker auf 12:07 Uhr sprang, als sie ihre langen verrotteten Nägel durch meine Brust fuhr und mich aufschlitze. Ich saß kerzengerade da, erleichtert das es nur ein Traum war, aber als ich sah, dass mein Wecker auf 12:06 stand, hörte ich wie meine Schranktüre knarrte.“ Jeremy machte ein ängstliches Geräusch und schauderte. Das war…uff. Oh je. Er zog die Schultern hoch und spürte Jeans nachdenkliche Augen auf sich. Logan gab die Kerze weiter an Fahima und Jeremy sah nun aus seinem Augenwinkel heraus, wie aufmerksam Jean wurde. Aufmerksamer als er es bei Logan gewesen war. Er nahm noch einen Schluck von ihrem Zombiehirndrink und ließ den bitterfruchtigsahnigen Geschmack auf seiner Zunge das Gefühl der latenten Eifersucht wegwaschen. Er gönnte Jean jedes Glück und wenn er es bei Fahima fand, dann würde er sich sicherlich darüber freuen. Fahima war ein guter Mensch und nachdem, was Jean durchgemacht hatte, wollte er sicherlich keine Männer in seiner Nähe. Schon gar keine, die auf ihn standen. „Endlich bin ich mit meinen Hausaufgaben fertig, denke ich. Voller Schrecken stelle ich beim Umdrehen fest, dass das Blatt zweiseitig bedruckt ist.“ Jean schnaubte kurz, doch für Jeremy dehnte sich dieser Laut auf eine Ewigkeit. Fahima schaffte es, Jean zu amüsieren. Das als solches sollte ihn nicht wundern, weil die Beiden viel miteinander machten. Dass er exakt darüber amüsiert war, war ebenfalls vollkommen normal. Auch das sollte Jeremy nicht weiter verwundern, denn das gesamte Team lachte und gruselte sich vor dieser Horrorgeschichte. Er selbst fand es ja auch witzig. Aber da war etwas zwischen Fahima und Jean, das vermeinte Jeremy ganz deutlich zu spüren. Sie gab die Kerze weiter an Ellie, die bedeutungsschwanger die Augenbrauen hob. Sie beugte sich nach vorne und wartete, bis wieder Stille eingekehrt war. „Ich fing gerade an, ihn zuzudecken, als er zu mir sagte: „Papa, schau ob Monster unter meinem Bett sind!”. Um ihn zu amüsieren, blickte ich unter das Bett und sehe ihn, einen anderen ihn, darunter, mich anstarrend, zitternd und flüsternd: „Papa, da ist jemand in meinem Bett!”“, sagte sie bedeutungsschwanger und Jeremy schauderte. Das war gruselig. Kinder waren gruselig, insbesondere in Horrorgeschichten. Er rieb sich über die Arme und versuchte, seine Gänsehaut loszuwerden, während er seinen Kopf einzog. Dass Jeans Augen erneut auf ihm ruhten, beunruhigte Jeremy mehr als dass er wirklich Ruhe dadurch fand. Wie gut, dass noch ein paar Trojans zwischen ihm und der Kerze waren und er sich soweit beruhigen konnte, dass er in der Lage dazu war, seine zwei Sätze zu sagen. Ruhig nahm er die Kerze an und wartete. Er sah in die Runde, gewichtig und mit ernstem Blick. „Da ich mit Hunden und Katzen aufgewachsen bin, hatte ich mich an die Geräusche, dass jemand an meiner Tür kratzt während ich schlafe, gewöhnt. Jetzt, da ich allein lebe, ist es viel beunruhigender!“, sagte er mit grabesschwerer Stimme und sein Team raunte. Jeremy nickte und sah fragend nach links zu Jean. Er wollte ihm nicht die Kerze anbieten und ihn dann unter Zwang setzen, eine Geschichte erzählen zu müssen, insbesondere, wenn der andere Junge nichts mit Halloween zu tun hatte und selbst viel zu viel Horror erlebt hatte. Doch Jean griff nach der Kerze und überrascht ließ Jeremy sie gehen. Er wurde sich bewusst, dass er starrte und dass ihm das Herz bis zum Hals schlug. Er fragte sich, was Jean sagen würde. Er zitterte vor dem ersten Wort, das die Lippen des anderen Jungen verlassen würde. Als dieser seinen Blick auf die Kerze senkte und gedankenverloren hineinstarrte, gruselte es Jeremy mehr als bei den kurzen Sätzen zuvor. „Ich entschloss mich dazu, einige Charaktere in dem Buch, das ich gerade schreibe, sterben zu lassen. Es macht meine Autobiographie sicher ein bisschen würziger.“ Kaum hatte das letzte Wort Jeans Lippen verlassen, sah er ohne den Kopf zu heben hoch und musterte die Trojans schweigend. Das war… so wahr wie es gruselig war. Das war nicht einfach nur eine Geschichte, sondern Wunschdenken, nachvollziehbares Wunschdenken, dessen Tragweite Jeremy vollkommen bewusst war. Unbewegt und stumm wohnte er diesem dunklen Wunsch bei und wurde sich bewusst, dass es das erste Mal war, dass Jean mit soviel subtilem Hass und soviel Zorn über die Täter sprach, die ihm all das angetan hatten. Es war heilsam und fürchterlich zugleich. Jeremy blinzelte, als Alvarez die Kerze hochhielt. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass Jean sie weitergegeben hatte. Übertrieben räusperte sie sich und gab ihm so die Möglichkeit, wieder zu sich selbst zu finden. Jeremy nutzte es und straffte seine Schultern, kurz nachdem er Jean versichernd über den Oberarm gestrichen hatte. „Endlich hatte ich eine warme und gemütliche Position unter der Decke gefunden. Dann musste ich pinkeln.“ Das ganze Team lachte und schauderte voller Verständnis über Alvarez‘ zwei-Satz-Horrorgeschichte und Jeremy lachte am Lautesten…und am Nervösesten. Er war froh um das Ventil für seine Vielzahl an widerstreitenden Emotionen. ~~**~~ „Ist es auch wirklich okay?“ Jean überlegte, nicht auf die Frage zu antworten. Seine jahrelange Indoktrinierung hielt ihn davon ab und zog an seinem Widerstand, zerrte an seinem Vorsatz, seinem Kapitän keine Antwort zu geben. Wobei das falsch war. Sein Kapitän hatte schon eine Antwort erhalten. Viermal um genau zu sein. Vier gleiche, um noch genauer zu sein. Viermal hatte Jean ihm erklärt, dass es okay war, wenn Knox ihn am heutigen Abend alleine ließ. Viermal hatte er seine immer gleiche Frage beantwortet. Er sah von seinen Lernunterlagen hoch und hielt den besorgten Blick des Vampirs, der vor ihm stand. Nicht, dass Jean gewusst hätte, was ein Vampir ist, bis Knox es ihm erklärt hatte. Blutsaugende, spitzzahnige nachtaktive, lichtscheue Monster, die sich an Menschen labten und schwarze Umhänge mit Stehkapuzen trugen. Zumindest sah Knox so aus. Die mit schwarzem Gel zurückgestrichenen Haare sahen zwar komisch aus, aber wer war Jean, andere Frisuren zu kritisieren? Wenn er einen Blick in die Flure werfen würde, dann würde er auch Drachen, Zombies, Werwölfe, kleine Mädchen mit Messern, Orks und generelle Monster sehen. Seit heute Morgen hatte sein komplettes Team ihm Nachhilfe in Monsterkunde gegeben und ihren gemeinsamen Chat und Instagram mit Bildern zugespammt. Das setzte sich nun fort, als sie alle Fotos von sich selbst schickten. Ganz zu schweigen von den Buffetbildern, die ebenfalls bereits ihren Weg auf Instagram gefunden hatten. Jean würde es zwar nicht zugeben, zumindest nicht laut, aber er mochte das Essen von allem am Liebsten. Die Champignons in Totenkopfform waren zwar kitschig, aber schön anzusehen in ihren Einmachgläsern. Lailas Idee mit den Eiswürfeln in Handform in der roten Bowle war eine gute Idee, ebenso wie die Tomatensuppe, in der Mandelsplitter schwammen, die aussahen wie Fingernägel. Jean würde sie zwar genauso wenig essen wie die mit weißer Schokolade überzogenen Erdbeeren, die aussagen wie Geister, oder die schwarz glasierten Grannyäpfel, bei deren Herstellung er alleine schon Zahnschmerzen bekommen hatte vor lauter Zucker. Und ja, natürlich hatte er mitgeholfen, unter Anleitung seines verrückten Teams und hatte Alvarez bei ihrem Browniefriedhofspudding und den Mumiencupcakes geholfen ebenso wie er Ajeet dabei beobachtet hatte, wie dieser Mumienhotdogs, –fleischbällchen und -kürbiskäsekuchen gewickelt und gebacken hatte. Seine steifen Finger waren zwar nicht so filigran wie Fahimas, dennoch hatte er es irgendwie geschafft, zusammen mit ihr Spinnen auf Erdnussbuttercookies zu formen. Knox hatte währenddessen mit Logan Donuts mit essbaren Augen beklebt und Grinch Pancakes gebacken. Die giftgrün-schwarzen Hexencupcakes waren Ellies Aufgabe gewesen, ebenso wie die milchigen Geistermilchshakes mit anscheinend gruseligen Gesichtern. Dazu gab es rot eingefärbten Kürbiskuchen in Gedärmform und das, was Jean am Meisten irritierte, Äpfel mit Erdnussbutter und Marshmellows in Kinderzahnform. Das war…wirklich gruselig. Die Bilder hatten bereits tausende Likes und Jean konnte nur den Kopf darüber schütteln. Natürlich hatten die Foxes eben jene schon ausgemacht und nun ging es auch noch in dem Chat um nichts Anderes. Wenn Jean noch öfter mit den Augen rollte, dann würde er irgendwann nicht mehr damit aufhören können. Ein verlegenes Räuspern holte ihn aus seinen Gedanken und Jean merkte, dass er seinen Vampirkapitän die ganze Zeit über angestarrt hatte. Er blinzelte und ließ seinen Stift sinken. Er atmete betont langsam aus und nickte dann. Der blonde Junge machte sich nur Sorgen. Um ihn. Das sollte Jean würdigen. „Es ist okay, Knox. Ich komme klar. Ich habe genug zu lernen.“ Vielleicht würde er auch versuchen, diesen Film zu schauen, den sein Team so oft gesehen hatte. Doch da war er sich noch nicht so sicher. Jean wusste, dass es dumm war, wenn er es vor Knox verheimlichte, der ihm nichts getan hatte, aber er wollte keine Aufmerksamkeit auf sich und einen Film lenken. „Wenn etwas sein sollte…“ „…dann hast du dein Handy dabei und ich kann dich jederzeit anrufen“, vollendete Jean den Satz des anderen Jungen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Es hatte Zeiten gegeben, da war alleine der Gedanke, dass sein Kapitän stand während er saß, unerträglich gewesen, weil er Angst gehabt hätte, dass ihm etwas passieren würde. Diese Zeiten waren noch nicht einmal ein Jahr her. Manchmal war es wie ein Traum. Und manchmal wachte Jean schweißgebadet auf, voller Angst, dass er nicht in Los Angeles wach wurde, sondern in West Virginia, in der brachialen Angst, dass alles nur ein Traum gewesen war. „Es kann zu Schreien kommen“, erläuterte Knox – und auch das hörte er nicht zum ersten Mal. Fahima hatte ihm davon erzählt, dass es laut werden würde. Die Kinder und Jugendlichen würden quietschen und schreien, doch das wäre keine Angst. Sie hatte ihm dabei über den Arm gestrichen, in ihren Augen Wissen um das, was er auf seinem Körper trug. Jean hatte schweigend genickt. Er wusste nicht, ob es ihn beeinflussen würde. Er wusste aber, dass er hier in Sicherheit sein würde. „Wenn es dir damit nicht gut geht, dann melde dich bitte.“ Auch das bejahte Jean schweigend. Was sollte er denn auch anderes tun? „Und im Kühlschrank…“ „Knox?“ „Ja?“ „Geh. Ich kenne mich hier aus.“ Knox seufzte und drehte sich schließlich um. Mit wehendem Umhang und einem letzten Winken verließ er tatsächlich die Wohnung und Jean lehnte sich mit einem Aufstöhnen zurück. An Lernen war nicht mehr zu denken, ganz und gar nicht, dafür waren seine Gedanken zu unstet, zu fluide zwischen Vergangenheit und Zukunft. Jean stand auf und ging zum Kühlschrank, wo eine gesunde Portion des Fingerfoods auf ihn wartete. Er nahm sich einen der Hotdogs und starrte aus dem Fenster hinein in die untergehende Sonne, die immer wieder faszinierend war. Jeden einzelnen Tag ließ er sich von den kräftigen Farben einfangen. Jean wusste nicht, wie lange er dort stand und sein Gesicht von der untergehenden Sonne wärmen ließ, als die ersten Schreie durch das Haus tönten, begleitetet von Quietschen und Rumpeln. Er zuckte zusammen, bei jedem einzelnen Laut. Er analysierte jeden einzelnen Ton und versuchte zu begreifen, dass es kein Leid war, das ihm hier entgegenschlug, sondern freiwillig gewählter Grusel. Weitab von dem, was in Evermore passiert war. Jean sah sich keinen Film an, er kehrte auch nicht zurück zu seinem Schreibtisch. Er verbrachte Stunden hier an dem kleinen Fenster, den Blick nach draußen gerichtet. Er erlebte, wie die Sonne unterging und die Welt in ein blaues Zwielicht tauchte, das schlussendlich zu der laternendurchbrochenen Dunkelheit wurde. Der Himmel war voller Sterne, aber er sah sie nicht. Lichtverschmutzung nannte man das. Draußen, in der völligen Dunkelheit, würden sie besser zu sehen sein. Jean bettete die Schläfe an das kühle Glas und ließ seine Gedanken schweifen und in sich rumoren. Er akzeptierte seine Gefühle, die Ruhe ebenso wie die Angst, die schlechten, negativen Emotionen ebenso wie die positiven, die in der vergangenen Zeit vermehrt hinzukamen. Wo würde es noch hingehen? Wie würde es weitergehen, wenn die Trojans nicht mehr waren? Wenn er nicht mehr Teil von ihnen sein würde, auf sich alleine gestellt als Profi-Exy-Spieler? Der Gedanke erschreckte Jean mehr als dass es die Schreie von außerhalb seiner Tür taten. Er konnte nicht alleine sein und bei allem unnötigen Chichi um Feiertage, die mit Sicherheit keine waren, bei allen Teambuildingmaßnahmen und chaotischen Trainingseinheiten, so waren sie doch nie gewalttätig zu ihm und Jean… …er würde sie vermissen. Der Gedanke war erschreckend wie er beängstigend war und Jean pflückte ihn auseinander, auch dann noch, als die Schreie verstummten und schließlich zu einer wummernden, dumpfen Musik wurden, die das ganze Haus durchdrang. Jean kam erst zu sich, als es an der Tür hämmerte und er derart abrupt aufsprang, dass er sich sein Knie an der Anrichte stieß, auf der er bis jetzt gesessen hatte. Vielleicht war das auch der Grund, warum sein Hintern mit seinem rechten Knie um die Wette schmerzte und Jean grollte. Sein Herz schlug wie wild und er warf einen Blick auf die Uhr. Drei Uhr nachts war es schon. Vermutlich waren es irgendwelche betrunkenen Partygäste, die nach einer Möglichkeit suchten, sich zu erleichtern. Aber nicht hier. Er schnaubte und wandte sich zum Durchgang ihres Schlafzimmers, als es nochmal an der Tür donnerte. „Moreau, mach auf! Ich habe hier eine Lieferung für dich!“, rief Alvarez von der anderen Seite des Holzes und er hob die Augenbraue. Lieferung? Für einen kurzen Moment war Jean wirklich versucht, sie einfach davor stehen zu lassen, doch dann erbarmte er sich und schloss die Tür auf. Was er beinahe in dem Moment bereute, als er seines Kapitäns ansichtig wurde, der wie ein nasser Sack halb an, halb auf seiner Vize hing, augenscheinlich hochgradig betrunken. Jean hob die Augenbraue und spürte, wie Unsicherheit in ihm aufkeimte. Er hatte Knox noch nie betrunken erlebt und er wusste nicht, wie sich der derangierte Dracula verhalten würde, der bei seinem Anblick selig grinste und Alvarez den Finger in die Seite trieb. „Bin da“, griente er undeutlich und Jean sah fragend zu Alvarez, die auch nicht mehr ganz nüchtern schien der Farbe ihrer Wangen nach. „Zuviel Tequila und zuviel Bowle mit Schuss“, zuckte sie mit den Schultern und schob Knox in Jeans Reichweite. Der blonde Junge taumelte überrascht und beschwerte sich undeutlich über die grobe Behandlung. „Und jetzt?“, fragte Jean kühl. Alvarez grinste. „Nun ist er dein Problem, Zimmernachbar. Sieh zu, dass er brav duscht und sich dann noch viel braver ins Bett legt.“ Jean blinzelte verständnislos und zum Teil auch ratlos. Er wusste nicht, ob er der Richtige war, um sich um seinen Kapitän zu kümmern, der ihn schweigend, aber glücklich anstrahlte und wie eine dieser Aufblasfiguren im Wind wankte. „Jeee~eeean.“ Ja, in diesem Moment hätte Jean wirklich gern die Tür zugemacht und Knox seinem Schicksal überlassen, wenn der andere Junge nicht halb im Rahmen gestanden und sich unsicher in das Apartment gezogen hätte. „Alvarez“, knurrte er wenig erfreut über die plötzliche Verantwortung und sie zwinkerte ihm übertrieben zu. „Dein Mitbewohner, dein Problem. Keine Sorge, er ist nur hilflos, sonst nichts! Eigentlich ganz süß, wenn man es von einem Standpunkt außerhalb betrachtet.“ Sprachs und war verschwunden, ganz im Gegensatz zu Knox, der sich an der anderen Seite der Wand versuchte, an ihm vorbei zu schleichen. Kichernd und polternd. Nur Jeans wirklich ausgezeichneten Reflexen war es zu verdanken, dass der Umhang nicht alles abräumte, was in ihrem Flur stand und mit dunklem Blick hielt Jean das Stück schwarzen Stoffes hoch. Sein Kapitän bemerkte das und sah mit großen, glasigen Augen zu ihm hoch. „Du trägst mir die Schleppe“, strahlte er. „Meine Hochzeitsvampirschleppe.“ „Die du jetzt abnehmen wirst, damit du nicht alles zerstörst“, sagte Jean augenrollend und gehorsam aber ungeschickt fummelte Knox an der Schließe des Mantels. Er brauchte so lange, dass Jean ihm beinahe dabei half um nicht die ganze Nacht hier zu stehen. „Meine Schuhe!“, verkündete Knox daraufhin stolz und Jean schwante Übles. Er verfluchte Alvarez, die ihn mit einer Situation zurückließ, die ihn mit Sicherheit überfordern würde. Der einzige Mensch, den er bisher betrunken erlebt hatte, war Day gewesen und diesen hatte er ganz anders anpacken können als Knox gerade jetzt. Der sich nun hinunterbeugte, schwankte, zur Seite kippte und sich auf den Boden fallen ließ um sich dort mit seitlich ausgestreckten Beinen die Schuhe auszuziehen. Jean schloss betont laut die Tür. Als Knox fertig war, kroch der andere Junge kichernd und mit sich selbst redend in Richtung Schlafzimmer, so unsicher, dass Jean Sorge hatte, dass er auf der Hälfte der Strecke einfach liegen bleiben würde. „Duschen“, gab sein Kapitän aber eine vage Vorstellung davon, was er zu tun gedachte und Jean hob erneut die Augenbrauen. „Ohne Kleidung“, sagte er aus einem Impuls heraus und Knox hielt auf seinem Weg inne. Nachdenklich sah er hoch, nur um dann an sich hinunter zu schauen. „Ohne Kleidung“, echote er dann unsicher und grinste. „Ohne Kleidung!“, wiederholte er stolz, als wäre es der Einfall des Jahrhunderts gewesen. Jean beobachtete das mit Grauen und ging an Knox vorbei zu dessem Bett. Die Überzeugung, mit der sein Kapitän gesagt hatte, dass er ohne Kleidung unter die Dusche gehen würde, sprach davon, dass er auch ohne wieder herauskommen würde. Und das…nein. Alleine schon um Knox‘ Willen nein. Er wurde sich bewusst, wie verletzlich der blonde Junge gerade war, wie hilflos auch. So wie er torkelte und sich nicht unter Kontrolle hatte, wäre Knox ein leichtes Opfer für jeden, der etwas Böses im Schilde führte. Das würde Jean verhindern und vielleicht hatte Alvarez genau damit gerechnet. Knox aus der potenziellen Schusslinie von Collegevergewaltigern zu nehmen, wenn sie nicht auf ihn aufpassen konnte. Vermutlich war dieser Gedanke für ein College wie die USC weit hergeholt. Dennoch. Seufzend griff Jean sich Knox‘ Schlafanzug und legte ihn auf die Anrichte im Bad, während der andere Junge versuchte, sich an der Dusche hochzuziehen und erst im dritten Anlauf damit Erfolg hatte. Kritisch beäugte Jean das Ganze. „Kommst du klar?“ Knox lächelte glücksselig und gluckste. Er strich sich über seine aus der Form gebrachten, aber immer noch gegelten Haare. „Klar wie Kloßbrühe!“ „Wohl eher klar wie ein schlammiger See im Nebel“, erwiderte Jean ironisch und deutete in ihr Schlafzimmer. „Ich warte draußen. Wenn etwas sein sollte, dann rufst du.“ Schon als er die Worte ausgesprochen hatte, wusste Jean, dass er sie bereuen würde. Er wusste es. Irgendetwas würde passieren und wenn er Pech hatte, dann würde Knox sich den Schädel an der Dusche aufschlagen. Oder Schlimmeres. Das Beste wäre, wenn er dabei bliebe, doch das wollte Jean nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Knox wollen würde, wenn er ihn nackt sah. Und jetzt, wo er nicht Herr seiner Sinne war, schonmal gar nicht. Niemals würde Jean so etwas tun. Lieber stand er dann Wache vor der Tür und wartete auf die Katastrophe. Er tat genau das und hörte den Selbstgesprächen zu, die hinter der geschlossenen Tür geführt wurden. Wobei es technisch gesehen keine Selbstgespräche waren, denn der duschende Junge sprach mit seinem Duschgel. Und das Duschgel auch mit ihm – zumindest wenn Jean Knox‘ verstellter Stimme Glauben schenkte. Thema der Diskussion war anscheinend die Menge des Duschgels und wie es schien, war das Duschgel der Sieger. Zumindest verstummte Knox und Jean hörte, wie sich der andere Junge ohne Zwischenfall wusch und auch – glücklicherweise – ohne Zwischenfall aus der Dusche begab um sich abzutrocknen und die Diskussion mit der Zahnpasta weiter zu führen. Jean beschloss, dass der Mord an Alvarez seiner Karriere zwar schaden, aber seinem Seelenfrieden unheimlich helfen würde. Er war doch kein Kindergärtner. „Zähne putzen!“, rief er durch die geschlossene Tür und es rumpelte. Kurz darauf wurde sie aufgerissen und Knox stand vor ihm, das Kinn voller Zahnpasta mit der Zahnbürste im Mundwinkel hängend. Stolz deutete er auf das Chaos und Jean sah zweifelnd auf ihn hinunter. Knox trug seine Boxershorts und damit konnte Jean vorerst leben. „Du weißt noch, wie man das macht?“, fragte er zweifelnd und sein Kapitän nickte enthusiastisch. So engagiert, dass er dabei schwankte. Es wäre nur ein Mord. Knox fing sich, bevor Jean ihn stützen konnte und putzte sich die Zähne. Und das Kinn. Und die Wangen. Zum Schluss war alles irgendwie sauber und Jean atmete erleichtert auf. Zumindest solange, bis Knox nach ihm rief wie ein Vogelkind seine Mutter rufen würde. Laut und schier panisch. Jean wandte sich erneut zur Tür und sah, wie sein koordinierter und überhaupt nicht bewegungslegasthenischer Kapitän mit seinem Shirt kämpfte und nun ein ganz eigenes Monster war, das sich in den Fängen seines T-Shirts befand. „Jeeaa~aan, Hilfe!“, wimmerte der blonde Junge und versuchte, seinen Kopf durch eines der Armlöcher zu stecken. Er könnte Andrew anrufen und fragen, wie man mit einem Mord davon kam. Nur um sicher zu gehen. Allerdings warf das auch die Problematik der dann weniger erfolgreichen Saison auf. Mit knirschenden Zähnen trat Jean an Knox heran und befreite den sich windenden Jungen vorsichtig von dem T-Shirt. „Arme hoch“, sagte er streng und begeistert riss Knox eben jene nach oben. „Yeah!“, quietschte er dabei vergnügt und Jean drehte das Shirt erst einmal auf rechts, bevor er es seinem Kapitän über den Kopf stülpte und resolut zurecht zog. „Du kannst deine Arme jetzt herunternehmen“, setzte er hinterher, als klar wurde, dass Knox nicht beabsichtigte, das von alleine zu tun. Jean seufzte und deutete hinter sich. „Ins Bett“, versuchte er sich an einem weiteren Befehl, der sich komisch in seinem Mund anfühlte und trat zurück, als Knox sich seinen Weg in das Schlafzimmer bahnte. Kichernd, während er in Richtung Bett taumelte. In Richtung seines Bettes, erkannte Jean mit Schrecken und noch bevor er etwas sagen konnte, ließ Knox sich darauf fallen. „Knox“, grollte Jean. „Das ist mein Bett.“ „Hmmmh. Das rieche ich“, entgegnete sein angeduselter Mitbewohner und rieb seine Nase wohlig in seinem Kissen. Perplex beobachtete Jean ihn dabei und war nach dem ersten Schock wirklich versucht, es ihm wegzuziehen. Nicht, dass das großartigen Erfolg haben würde, so wie Knox es gerade mit seinen Armen umschlang und wie einen Schatz an sich barg. Die völlige Selbstverständlichkeit, mit der der blonde Junge sich in sein Bett gelegt hatte und auch anscheinend überhaupt nicht plante, wieder von dort aufzustehen, irritierte Jean. Knox wusste, dass das sein Bett war. Das hatte er ihm gerade mit Worten deutlich gemacht und das machte er ihm nun gleich nochmal deutlicher, als er umständlich und ungelenk die Decke über sich zog. Jean verschränkte die Arme und besah sich das Schauspiel, gefangen zwischen Missfallen, Belustigung und einer Wärme, die sich in seiner Brust ausbreitete, von der er nicht wirklich wusste, was sie war. Knox lag auf seinem Bett und blockierte es, wodurch er vergessen konnte, diese Nacht zu schlafen. Er würde den Teufel tun und sich anstelle in Knox‘ Bett zu legen. Also hieß es Couch für ihn. Und für den Bettbesetzer eine Extrarunde am Strand am morgigen Tag. „Jean?“ „Hmh?“ „Was heißt Eifersucht in deiner schönen Sprache?“ Jean hob die Augenbraue. „Jalousie“, erwiderte er und Knox nickte gewichtig in sein Kissen hinein, die Augen unstet und nur kurz zu ihm huschend. „Warum fragst du das?“ Knox überlegte und seufzte dann tief. „Je suis jalousie“, sagte er dann und Jean schauderte. „Zum Einen ist das grammatikalisch so falsch, dass es gruseliger ist als jeder Horrorabend es sein könnte. Zum Anderen glaube ich kaum, dass du die Eifersucht bist“, erwiderte er mit erhobener Augenbraue und ging in die Küche um Knox ein Glas Wasser zu holen und sein Handy von seinem Nachttisch zu retten, bevor es ertränkt werden würde. „Doch“, sagte Knox passend zu seiner Rückkehr. Er schürzte die Lippen. „Du meinst „Je suis jaloux“, also dass du eifersüchtig bist.“ Knox gab einen undefinierbaren Laut der Zustimmung von sich. „Fahima.“ „Fahima?“, echote Jean, nicht sicher, auf was der andere Junge hinauswollte. „Ja, auf Fahima.“ „Warum auf Fahima?“ „Weil. Fahima.“ Mehr bekam er aus seinem Kapitän nicht heraus und sah hilflos zu, wie dieser sich umdrehte und sich seine Decke über den Kopf stülpte, immer wieder etwas murmelnd, das „Je suis jaloux.“ zum Verwechseln ähnlich klang. Jean barg sein Gesicht in der linken Hand und rieb sich über die Augen. Er war wirklich müde. Sehr sehr müde. Seufzend sah er hoch und hob sein Handy. Er musste das für die Nachwelt festhalten und für sein Seelenheil, dass Knox sein Bett besetzte. Er musste das für Alvarez festhalten, um sie mit ihrer immerwährenden Schuld ihm gegenüber zu erpressen. „Gute Nacht, Bettwanze“, murmelte er, nachdem er das Foto geschossen hatte und nahm sich Knox‘ Bettdecke. Die Couch wartete auf ihn, nachdem er erfolgreich versucht hatte, im Chaos des Badezimmers seine Zähne zu putzen. Warum Knox ausgerechnet eifersüchtig auf Fahima war, erschloss sich Jean nicht, egal, wie lange er auch darüber nachdachte. ~~**~~ Jeremy wachte von dem Gefühl auf, dass jemand ihm mit dem Presslufthammer den Schädel spalten wollte und stöhnte schmerzerfüllt auf, als er den Fehler beging, seine Augen zu öffnen. Zu grell, zu spät, zu sonnig, zu… Oh Gott. Jeremy stülpte sich die Decke über den Kopf und zog die Beine an, grub seinen Kopf zurück in das weiche Kissen, das seine unmissverständliche Sabberfeuchtigkeit enthielt. Vermutlich fühlte sich seine Kehle auch deswegen so an, als wäre sie ausgetrocknet. Und erstmal dieser Geschmack in seinem Mund. Igitt. Er hatte zuviel getrunken, nachdem sie die Kids entlassen hatten. Viel zu viel und was passiert war, nachdem er sich von Alvarez die Treppe hatte hochziehen lassen, konnte er auch nicht sagen. Ein Filmriss, wie wunderbar. Er konnte nur hoffen, dass er Jean nicht aufgeweckt hatte mit seinem betrunkenen Herumpoltern, doch viel Hoffnungen hatte er nicht darauf. Jean schlief viel zu leicht dafür. Ein bedeutungsschwangeres Räuspern holte ihn aus seiner Blase der Unschuld und vorsichtig zog Jeremy die Decke von seinem Kopf. Er starrte auf die Wand und drehte sich eingedenk seines riesigen Schmerzschädels langsam zu eben jenem Laut herum. Jean saß auf dem Rand seines Bettes, in der Hand eine Tasse dampfender Flüssigkeit. Kaffee, vermutete Jeremy und runzelte dann die Stirn, als er feststellte, dass Jean sich ebenfalls Trojanfahnen über sein Bett gehängt hatte und das, obwohl er eigentlich keine Dekoration hatte. Grundsätzlich sah Jeans Seite seiner verdächtig ähnlich…viel zu ähnlich, wie Jeremy begriff. Mit einem hochgradig unguten Gefühl sah er sich um und sah das, was er gestern noch auf Jeans Seite gesehen hatte. Einschließlich Jeans Bettwäsche. Einschließlich Jeans – nunmehr durch ihn vollgesabbertes – Kissen. Er…war auf der falschen Seite des Raumes. Also auf der anderen. Auf Jeans. Und Jean war auf seiner und musterte ihn in eben jener Art, die Jeremy deutlich machte, dass er schleunigst begreifen sollte, was hier vor sich ging. „Guten Morgen?“, fragte er krächzend und räusperte sich. Jean erwiderte nichts und nur die hoch erhobene Augenbraue deutete an, dass er überhaupt mit einer Reaktion bedacht wurde. „Das ist...ähm…dein Bett.“ Ein kluger Anfang…nicht, befand Jeremy nach näherem Hinsehen und wimmerte innerlich, als ihm die Tragweite der Situation bewusst wurde, die sich so eben vor ihm entfaltete. Was hatte er getan? „So ist es“, bestätigte Jean schlicht. „Wie ich hörte, riecht man das auch.“ Die Art, wie Jean den letzten Satz betonte, sagte Jeremy, dass in seinem Filmriss irgendetwas passiert sein musste, das hierzu geführt hatte. Auch zu dem Satz. „Ich habe mich nicht zu dir gelegt, oder?“, fragte er mit wachsender Angst und Jean schnaubte. „Alvarez hat dich hergebracht. Du hast geduscht, Zähne geputzt, bist an mir vorbeigegangen und hast dich in mein Bett gelegt“, korrigierte dieser und Jeremy schluckte. „Das tut mir leid.“ „Muss es nicht.“ „Wirklich nicht?“ „Nein. Dafür gehen wir heute am Strand laufen.“ „Was?!“ Jean hatte diesen speziellen Blick, diesen Ausdruck in seinen Augen, wenn er etwas absolut ernst meinte und dabei stur war wie eine Eisenbahnschiene. Genau den sah Jeremy jetzt und wimmerte. Abrupt vergrub er sich erneut unter der Decke, die so sehr nach Jean roch. „Und während wir laufen, erklärst du mir, warum du eifersüchtig auf Fahima bist“, drang es gedämpft, aber wie ein Donnerschlag zu ihm und Jeremy jaulte gepeinigt auf. Oh Gott. Oh nein. Oh nein nein nein. ~~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 44: Erkenntnisse ------------------------ Sechs Kilometer wurde Jeremy weichgekocht, bis der große, schweigsame, grauäugige Diktator an seiner Seite beschloss, dass es fürs Erste genug der Qualen sein würde. Wortlos stand Jean an seiner Seite, den Blick gnadenlos prüfend und zu einem Quantum auch verurteilend auf Jeremy gerichtet. Er selbst keuchte, als wäre er einen Marathon gelaufen, wobei Keuchen nicht das richtige Wort war. Er pfiff aus dem letzten Loch, kurz davor, das Zeitliche zu segnen, falls Jean keine Gnade mit ihm kannte und ihn weiterlaufen ließ. Was bisher nicht der Fall war und anscheinend büßte er jede Sekunde seines Schlafes in fremden Betten mit einem Meter am Strand. Er hatte sich nicht getraut, sich dem zu verweigern, nicht, nachdem er sich so selbstverständlich in Jeans Bett gelegt und sein Kissen vollgesabbert hatte. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Jean bereits in seinem Bett gelegen hätte. Jeremy versuchte für die nächsten Minuten Luft in seine Lungen zu pressen und trank gierig seine Flasche Wasser leer, die er mitgebracht hatte. Seine Kopfschmerzen pochten noch ordentlich hinter seinen Schläfen, aber wenigstens konnte er seit dem Mittag wieder gerade gehen. Vorher wäre auch nicht daran zu denken gewesen, sich sportlich zu betätigen. Jean hatte das mit seiner durchdringenden Aufmerksamkeit beobachtet, wie er Jeremy schon den ganzen Tag beobachtete, immer auf der Suche nach etwas, das Jeremy verborgen blieb. So auch jetzt. Nur, dass der nachdenkliche Zug um die schmalen Lippen herum nun eine Erklärung bekam. „Fahima“, warf Jean schließlich das gefürchtete Stichwort in die Runde und Jeremy schluckte. Da war er wieder, der Name, den er sich selbst eingebrockt hatte. Das kommende Gespräch, an dem er selbst Schuld trug. Was fiel ihm auch im betrunkenen Kopf nichts Besseres ein als Jean nach dem Wort Eifersucht zu fragen und dann auch noch in Verbindung mit Fahimas Namen. „Ja?“, krächzte Jeremy hervor, den Blick auf das aufgewühlte Meer gerichtet. Er traute sich nicht, Jean in die Augen zu sehen, weil er befürchtete, dass der andere Junge die Wahrheit in seinem eigenen, verräterisch offenen Gesicht sehen würde. „Warum bist du eifersüchtig?“ Uff. Für einen Moment überlegte Jeremy, offen und ehrlich zu antworten. Ich bin eifersüchtig auf die Art, wie du sie und nicht mich ansiehst. Wie du sie und nicht mich anlächelst. Ich bin eifersüchtig auf die Art, wie du dabei bist, dich in sie zu verlieben. Jean hatte in den letzten Monaten damit begonnen, ihm zu vertrauen. Ihm diese Wahrheit jetzt um die Ohren zu hauen, würde alles zerstören, was zwischen ihnen gewachsen war. Die Schäden für Jean waren nicht absehbar und so blieb ihm nichts Anderes übrig als zu lügen. Um Jeans Willen und um seinen eigenen. Jeremy drehte sich um und lächelte entschlossen. So gerne er auch die Wahrheit gesagt hätte, so wenig durfte er es und das gab ihm die Kraft, überzeugend zu sein. Hoffte er zumindest. „Ich bin manchmal eifersüchtig auf die leichte Art, wie Fahima ihren Glauben und die damit verbundenen Nachteile für sie meistert. Sie hat viel mit Intoleranz und Diskriminierung zu kämpfen und sie lässt sich davon nicht unterkriegen. Und ich…manchmal wirft mich ein einziger Spruch aus der Bahn. Ihr Mut und ihre Ruhe machen mich da geradezu eifersüchtig.“ Soweit war das alles richtig, bis auf die Tatsache, dass er deswegen eifersüchtig auf sie war. Im Gegenteil, er bewunderte sie für ihre Anmut, mit der sie allen rassistischen Arschlöchern begegnete, die meinten, sie wegen ihrem Kopftuch anzupöbeln, sie in Geschäften zu ignorieren oder am Flughafen regelmäßig zur Kontrolle herausziehen zu müssen. Trotzdem kam Jeremy sich schlecht vor, Jean gerade jetzt in die Augen zu sehen und zu wissen, dass er nicht hundert Prozent ehrlich zu ihm gewesen war. In Jeans Mimik sah er das Wissen um diese Lüge. Streng wurde Jeremy gemustert und die schmalen Lippen öffneten sich, sicherlich, um nachzubohren. Jeremy lächelte und spielte mit der leeren Wasserflasche. „Das ist alles. Nichts Großartiges, wie du siehst. Der Rest war das Resultat von viel zu viel Alkohol.“ Er sollte aufhören zu reden. Wirklich. Je mehr er sagte, desto mehr Grund gab er Jean, an ihm zu zweifeln. Das sah er an der Stirn des größeren Jungen, die sich kritisch runzelte. Also verstummte er und wartete auf das Urteil des Backliners. „Das ist alles“, echote Jean langsam. Es war Zustimmung, allerdings nur zu seinen Worten, nicht zum Inhalt dieser. Kurz huschte verwirrte Unsicherheit über Jeans Gesicht, dann wandte er sich ebenfalls zum Meer. „Dir scheint es heute nicht gut zu gehen. Ich denke, wir sollten wieder zurücklaufen“, lenkte er vom Thema ab und Jeremy hob spielerisch seine Augenbrauen. „Wer bist du und was hast du mit Jean gemacht?“, grinste er und rempelte den Backliner vorsichtig mit seiner Schulter an. Beinahe schon nachsichtig atmete Jean tief durch. „Ich habe nur keinen Bedarf, dich zurück zu tragen.“ Gespielt enttäuscht griff sich Jeremy an die Brust. „Das würdest du nicht für mich tun?“ „Nein.“ Jeremy war nicht gut darin zu lügen. Lügen zu erkennen hingegen war eine seiner Stärken. ~~**~~ „Hmm.“ „In dem Alter konnte ich das noch nicht.“ „Und dieser realitätsgetreue Maßstab.“ „Fick dich.“ „Brauche ich nicht, Cap, Laila und ich hatten Sex, bevor wir zu euch gekommen sind.“ Jean rümpfte die Nase und grollte in Richtung Alvarez, die zusammen mit Knox und Laila über den hohen Küchentisch gebeugt stand und die Zeichnung, die dort lag, studierte. „Wäre es möglich, dass wir in Verbindung mit dieser Zeichnung nicht über solche Dinge sprechen?“, fragte er unerfreut und Alvarez musterte ihn amüsiert. „Solche Dinge?“ „Eurer Bettbeschäftigung.“ „Sex ist das Wort, was du suchst“, berichtigte sie ihn und Jean rollte mit den Augen. „Wenn du das, was ihr macht, so benennen willst, dann ja“, konterte er, ganz zu Alvarez‘ Empörung und zu Knox‘ Amüsement. Sein Kapitän lachte, während er mit seinen Fingern erneut zärtlich über das Bild vor sich strich. „Ich finde es schön“, sagte er und Jean war sich dessen nicht so sicher. Es ähnelte den Kinderzeichnungen, die er in François‘ Haus gesehen hatte. Seine eigenen und die seines Bruders, wenngleich Louis schon jetzt besser war als er es jemals sein würde. Jean zweifelte auch nicht wegen des Zeichenstils, sondern wegen der Bedeutung dessen. Louis hatte es sicherlich nur gut gemeint, jedoch verunsicherte Jean das, was das Bild zeigte: Louis, wie er rechts seinen Vater an den Händen hielt, links Jean und neben ihm Knox. Ihre Proportionen waren etwas aus der Fassung geraten, wobei Jean das als Untertreibung des Jahres bezeichnen würde. Knox war erheblich kleiner als er, wenngleich auch knapp größer als Louis. Jean und sein Vater waren beide riesig und trugen ernste Gesichter, während Louis und Knox um die Wette grinsten. Er hatte es heute Morgen bekommen und schlich seitdem um die Zeichnung herum, im Widerstreit mit der berührten Zärtlichkeit, die in ihm tobte, und der irritierten Vorsicht, die immer noch Mühe hatte zu begreifen, was die offensichtliche Zuneigung seines jüngeren Bruders für ihn bedeutete und ob er sie überhaupt richtig erwidern konnte ohne Louis zu verletzen. Ein erster Schritt war sicherlich, Louis anzurufen und sich für das Bild zu bedanken. Sicherlich war sein kleiner Bruder schon aus der Schule zurück, außerdem war es nicht so, als hätte Jean nicht die Telefonnummer ihres Vaters, über die er Louis erreichen könnte. Eigentlich stand dem nichts entgegen. Uneigentlich…war es das erste Mal, dass er von sich aus seinen Vater anrief und vieles in ihm sträubte sich dagegen. Es kam ihm wie eine Niederlage vor, auch wenn Jean wusste, dass das Gefühl fehlgeleitet war. Da war das Gefühl der Unsicherheit viel präsenter. Mit seinem Vater zu sprechen machte ihn unsicher und warf Emotionen in ihm auf, denen er sich noch nicht final gestellt hatte. Wenn er es denn jemals konnte. „Ihr hättet auch Händchen halten können“, durchbrach Alvarez seine Überlegungen. „Ey!“, beschwerte sich Knox empört und irritiert sah Jean hoch. Was meinte sie? Louis hatte seine Hand doch umschlungen, das sah man auf dem Bild. Erneut ließ er den Blick dorthin schweifen und blinzelte, als er erkannte, dass es gar nicht um seinen Bruder und ihn ging, sondern um Knox und ihn. Wohl damit auf dem Bild alle Händchen hielten. Jean schnaubte und wandte sich an seinen Kapitän, dessen Augen vernichtend böse auf Alvarez lagen. Auch der Grund dafür war ihm ein Rätsel. „Das ist nicht die richtige Gelegenheit, sich an den Händen zu berühren“, sagte er eingedenk der Male, in denen Knox seine Hände umfasst hatte. Es waren sehr emotionale Momente gewesen, in denen es um Unterstützung gegangen war. Um Versicherungen. Das hier war das Bild eines Zusammentreffens. Sicherlich auch emotional, aber auf eine andere Art und Weise. „Sondern?“, fragte Alvarez mit einem Ausdruck auf dem Gesicht, der Jean seltsam vorkam. „Alvarez!“, zischte Knox und Jean legte den Kopf schief. Ihm entging etwas, aber er hatte keine Ahnung was. „In emotionalen Momenten“, erläuterte er daher stirnrunzelnd. „Wie du sicherlich weißt, schließlich befindest du dich in einer Beziehung.“ „Immer mal wieder“, warf Laila ein und trank augenzwinkernd ihren Kaffee. „Gab es zwischen euch noch keine emotionalen Momente?“, fragte Alvarez ungeachtet dessen. „Sicherlich“, erwiderte Jean und Knox‘ Aufmerksamkeit ruckte zu ihm. „Aber auf dem Bild ist kein solcher zu sehen.“ Wenn er gewusst hätte, dass er durch diese schlichte Antwort in den vollständigen Fokus des braunhaarigen Mädchens geraten würde, dann hätte er sie sich zweimal überlegt. Der hungrige Ausdruck in Alvarez‘ Augen irritierte Jean, ebenso wie ihr nachdenkliches Streichen über den seitlich geflochtenen Zopf. Sie maß ihn wie ein Raubtier seine Beute maß und Jean schulte sein Gesicht auf sorgsame Neutralität. „Al, lass ihn in Ruhe“, mischte Knox sich ein, doch wie so oft kannte seine Vize keine Grenze, wenn sie etwas wissen wollte. „Also habt ihr schon Händchen gehalten“, hakte sie nach und Jean zuckte mit den Schultern. Das gesamte Team fasste sich an und berührte sich ständig. Sie umarmten sich auch und küssten sich sogar auf die Wange und auf den Mund. Bis auf Alvarez und Laila sowie Valentine und Logan war – soweit Jean wusste – niemand liiert. Wieso also war das, was Knox und er getan hatten, so besonders? Vielleicht war es das auch gar nicht und sie wollte nur eine Versicherung. Langsam nickte Jean. „Ja, wir haben uns bereits an den Händen berührt“, sagte er neutral und Knox starrte ihn mit geweiteten Augen und leicht geröteten Wangen an. Das war jedoch nicht so seltsam wie der begeisterte Laut, der Alvarez‘ Lippen verließ. Nur Laila verhielt sich weiterhin normal und lächelte ihn an, Verständnis auf ihrem Gesicht. Jean war unwillkürlich dankbar darum, wenn sich schon sein Kapitän und dessen Vize so verhielten. „Das freut mich für euch beide“, sagte sie sanft. „Es war okay“, erwiderte Jean und das war es auch. Es war okay. Die Angst, die er am Anfang davor gehabt hatte – die Sorge, dass Knox ihm seine Finger brechen würde – war verschwunden. Er fühlte sich nicht mehr unsicher damit. Doch anscheinend war auch das das Falsche, denn Alvarez brach in haltloses Gelächter aus. Sie lachte so heftig, dass sie sich über den Tresen krümmte und Jean zog vorsorglich die Zeichnung seines kleinen Bruders zu sich, bevor irgendetwas mit dem Bild passierte. Er legte sie auf die Wohnzimmeranrichte und besah sich das seltsame Trio. „Wieso lacht sie?“, fragte er Knox, als Alvarez sich gar nicht mehr beruhigte und dieser seufzte tief. „Weil sie doof ist“, erwiderte er grollend und das war keine solche Lüge wie die am Strand, auch wenn Jean wusste, dass es nicht die Wahrheit war. Das machte es nicht besser und Jean fragte sich, welchen Grund es haben mochte, dass sein Kapitän ihn nun zum zweiten Mal belog und die Wahrheit vor ihm geheim hielt. Und warum ihn das nicht derart in Angst und Schrecken versetzte, wie es in Evermore passiert wäre, sondern ihn mit einer subtilen Unzufriedenheit beschenkte, die er nicht wollte. Schließlich hatte er Knox am Anfang doch auch angelogen. Aus Angst heraus. Hieß das, dass Knox Angst hatte, ihm die Wahrheit zu sagen? Aber wenn ja, warum? ~~**~~ „Jean.“ Seine gekrümmten und falsch geheilten Finger strichen über sein Buch der ersten Male. Er hielt sein Telefon an sein Ohr gepresst und schluckte ob der Emotionen, die dem einfachen Wort – seinem Namen – lagen, den sein Vater mit soviel Zuneigung und Vorsicht aussprach. „Ja.“ Etwas Besseres fiel ihm nicht ein, obwohl er derjenige gewesen war, der angerufen hatte. Was auch schon im Buch stand. Wie so vieles, was ihm in letzter Zeit passiert war. Das Buch war beinahe schon voll. Ein Viertel hatte er noch, um neue Dinge einzutragen und sie zu erläutern. Niemals hatte Jean gedacht, dass er soweit kommen würde und dennoch. Hier war er. Er räusperte sich. „Ich würde gerne Louis sprechen.“ Eine Sekunde herrschte Schweigen in der Leitung. „Natürlich“, sagte François dann ruhig. „Warte bitte einen Moment.“ Jean folgte dem schweigend und lauschte mit klopfendem Herzen, als sein Vater Louis rief. Nicht Louis, Lou. Es dauerte nicht lange, da polterte es die Treppe hinunter. „Jean!“ Er lächelte ob der Begeisterung, die er hörte. „Hallo.“ „Hast du mein Bild bekommen?“, fragte Louis aufgeregt und Jean konnte sich bildlich vorstellen, die der Junge hibbelte, während er auf eine Antwort wartete. „Ja, das habe ich“, sagte er und lehnte sich an das Kopfteil seines Bettes. „Es ist ein tolles Bild und ich freue mich sehr darüber.“ Louis kicherte und ließ sich anscheinend mit ihm auf die Couch fallen. „Machst du das Video an?“, fragte er und Jean tat ihm den Gefallen. Überrascht hob er die Augenbraue, als er das Gesicht seines Bruders sah. „Du hast Farbe im Gesicht.“ Louis kicherte und rieb sich über die rechte, nicht mit Farbkleksen übersäte Wange. „Ich male ja auch gerade“, erklärte er stolz und Jeans vernarbte Wangen schmerzten beinahe schon von dem Dauerlächeln auf seinen Lippen. „Wie geht es dir?“, fragte er und sein kleiner Bruder fing an zu erzählen. Ausführlich ließ er Jean teilhaben an den letzten Tagen und Wochen, überschwemmte ihn mit Namen und Informationen, die Jean sich alle gar nicht so schnell merken konnte. Doch es machte Jean nichts aus, den Schulgeschichten seines Bruders zuzuhören, den unbeschwerten Erzählungen aus dessem Leben. „Kommst du zu Thanksgiving?“, schloss Louis seine Erzählungen und Jean blinzelte überrascht. Thanksgiving? Darüber hatte er sich keinerlei Gedanken gemacht. Bisher war er immer noch in eben jenem Stadium des Unbegreifens, dass er fünf Tage frei hatte. Keine Vorlesungen, kein Training, einfach frei. Ferien. Dieses Konzept war absolut unbegreiflich, immer noch. Knox hatte ihm mittlerweile mehrfach angeboten, dass er mit zu seinen Eltern kam, auf die Farm nicht ganz eine Tagesreise von hier entfernt mit dem Auto. Jedes Mal, wenn sein Kapitän es vorgeschlagen hatte, war Jean von einer seltsamen Mischung aus Freude und Angst erfüllt gewesen. Ja, er würde gerne mit Knox dorthin reisen und diese Weite mit eigenen Augen sehen wollen. Oder die Tiere, die der andere Junge ihm auf Fotos gezeigt hatte. Doch er hatte Angst, weil er nicht wusste, ob das Angebot wirklich auch ehrlich gemeint war. Jetzt war er sich unsicherer denn je. Vielleicht machte Knox es nur aus Mitleid oder aus Pflichtbewusstsein. Was es auch war, es trug nichts zu der Antwort auf Louis‘ Frage bei. Würde er Thanksgiving bei ihrem Vater verbringen wollen? Womöglich gleich noch ein paar Tage? Nein, das konnte er nicht. Das würde er nicht durchstehen. Also schüttelte Jean den Kopf und räusperte sich. „Nein, das kann ich leider nicht“, sagte er wahrheitsgemäß und die durch die Enttäuschung nach unten gezogenen Mundwinkel seines Bruders schmerzten ihn unerwartet stark. Jean seufzte. „Vielleicht…an einem anderen Tag oder Nachmittag, für ein paar Stunden, das würde gehen“, bot er an, auch wenn er noch nicht sicher war, wie er das anstellte. Vielleicht sollte er sich nun endlich ein Auto kaufen, anstelle im Internet nur nach Modellen zu suchen. Anscheinend war sein Angebot für Louis okay, denn nach einem kurzen Moment des Schweigens nickte der Junge begeistert. „Bringst du dann auch deinen blonden Freund mit? Also den Kapitän der Trojans, nicht den Torhüter der Foxes. Mr. Jeremy meine ich“, erläuterte er und Jean schmunzelte. Der Gedanke, dass er Minyard fragen würde, ob dieser mit ihm seine Familie besuchte, war absurd. Amüsant, aber absurd. Auf den zweiten Blick aber gar nicht mal mehr so amüsant. Das letzte Mal, als Andrew seine eigene Familie besucht hatte, war er direkt in Rikos Falle gelaufen. Es war eine Katastrophe für ihn gewesen und hatte Wochen der Qual für ihn bedeutet, die auch jetzt noch nachwirken würden. „Wenn er möchte, bringe ich ihn gerne mit“, bejahte Jean schließlich und das Handy wackelte unter der Wucht der Begeisterung des Jungen. „Ich habe dich so lieb, großer Bruder!“, grinste er dann und etwas Warmes erfasste Jean. Zärtlichkeit durchflutete ihn, erfasste ihn in einer Welle des puren Glücks, die ihn beinahe atemlos machte. Er wusste nicht, wann er das letzte Mal so glücklich gewesen war wie in diesem Moment. Jean lächelte, auch wenn er kein Wort herausbrachte. Er lächelte so sehr, dass ihm seine Wangen wehtaten und Louis beobachtete ihn mit leuchtenden Augen dabei. Schließlich nickte der Junge gewichtig. „Du brauchst nichts sagen, Jean. Papa meinte, dass du manche Dinge nicht aussprichst, aber fühlst. Er hat gesagt, dass sie dir das in Evermore nicht gezeigt haben, also das Gefühle zeigen. Das finde ich schade, aber ich weiß, dass du auch fröhlich bist, auch wenn du nicht fröhlich guckst.“ Es sollte Jean nicht wundern, dass sein Vater mit seinem Bruder über ihn sprach. Dass er in dieser Weise über ihn sprach, irritierte Jean doch schon und überrascht weiteten sich seine Augen. „Ich…“, begann er, wusste aber nicht recht, was er dazu sagen sollte. Er wusste nicht, was er bei den Worten seines Vaters fühlen sollte, die treffend zusammenfassten, was ihm geschehen war. „Ist okay, großer Bruder“, grinste Louis. „Ich weiß, was du sagen willst, ich kann Augenlesen!“ Augenlesen? Jean blinzelte. Was sollte denn in seinen Augen stehen, was nicht auch auf seinem Gesicht stand? „Und wenn ich sie zumache?“, fragte er aus einer spontanen Laune heraus und Louis quietschte empört. „Das darfst du nicht! Dann kann ich dich nicht mehr augenlesen!“ Jean war zwar manchmal in der englischen Sprache nicht so firm, aber er war sich sicher, dass er diesen Begriff noch nie gehört hatte und dass es ihn auch gar nicht gab. Um seine Lippen zuckte es verdächtig. „Dann wäre ich inkognito“, erwiderte Jean und hob herausfordernd die Augenbrauen. Kritisch musterte Louis ihn. „Was heißt dieses Wort?“ „Inkognito?“ „Ja. In-kog-ni-to“, wiederholte Louis langsam und Jean nickte anerkennend. „Unerkannt heißt das. Also eigentlich „unter falschem Namen““. Louis nickte eifrig und das Bild wackelte erneut, als er sich anscheinend irgendetwas heranzog. „Das ist ein tolles Wort! Buchstabiere es!“ Jean tat, wie ihm befohlen und sah Louis dabei zu, wie dieser angestrengt jeden einzelnen Buchstaben auf das Blatt Papier schrieb, was er dann schließlich in die Kamera hielt. „Genauso“, lobte Jean zur Freude seines Bruders. „Das klebe ich auch in mein Buch! In-kog-ni-to. Jeans Wort.“ Jean labte sich an dem offensichtlichen und puren Glück seines Bruders, an der Freude, die dieser an so einfachen Dingen hatte. Sie erinnerte ihn an sich selbst und an seine eigenen Gefühle, als er noch jung war. In solchen Momenten sah Jean die Verwandtschaft zwischen ihnen beiden deutlicher als je zuvor und er spürte den Drang in sich, alles dafür zu tun, dass es Louis gut ging. Besser, als es ihm jemals gehen würde. Und da war Liebe. Bedingungslose, vorsichtige Liebe, die alleine schon in ihrer subtilen Form Jean Angst machte, die er aber nicht mehr verneinen konnte. ~~**~~ „Ummpf!“ Erneut landete Jeremy rücklings auf dem Linoleum des Stadionbodens. Sein Schläger entglitt seinen Händen, was auch daran lag, dass er seinen Drillpartner mit sich zu Boden gezogen hatte, als dieser ihn wiederholt mit der von ihm vorgeschlagenen Raven-Abwehrtaktik daran hinderte, durchzubrechen. Seit Jean den Spielzug vorgestellt hatte, probierten die Trojans ihn aus…mehr oder minder erfolgreich unter Rhemanns strenger Aufsicht. Selbst Jeremy hatte es kein einziges Mal geschafft, Jean zu umlaufen oder den Ball zu behalten. Anstelle dessen wurde er einfach beiseite geschoben, des Balls beraubt, seines Schlägers beraubt, zu Boden gerungen…kurz und gut kompetent und entschlossen abgefertigt. Wieder und wieder und wieder, immer mit dem Blick auf graue Augen, die jede seiner Bewegungen vorher zu sehen schienen. Daher war es auch eher ein unbedachter Reflex gewesen, dass Jeremy aus Eifer Jean einfach mit sich zu Boden gezogen hatte, die Arme um die Körpermitte des anderen Jungen. Er hatte dafür gesorgt, dass dieser auf ihm landete, was ihm nun alle Luft aus den Lungen presste, während er seine Hände abrupt zu sich zog um Jean nicht zu erschrecken und keine schlechten Erinnerungen zu wecken. Dieser war natürlich auch schwerer als er, insbesondere, nachdem die Trojans mit vereinten Kräften dafür gesorgt hatten, dass Jean über die letzten Monate hinweg Gramm um Gramm zugenommen hatte. Er war nicht mehr so dünn wie vorher, sondern hatte noch mehr Muskelmasse zugelegt, die nun vollkommen auf Jeremy lastete. Nicht, dass er sich beschwerte. Nicht, dass er sich vorher über Jeans rüde Behandlung beschwert hätte. Eben jener rollte von ihm herunter und sah ihm verwundert in die Augen. „Das ist ein Foul und wird dir eine rote Karte verschaffen, Knox“, sagte er neutral, aber nicht ängstlich und Jeremy schnaubte. „Aber wenigstens liegen wir beide jetzt mal am Boden!“ Kritisch wurde Jeremy beäugt und er lächelte gewinnend, während er sich seine verschwitzten Haarsträhnen zurückstrich. „Was denn? Ich bin schließlich die letzte halbe Stunde nicht an dir vorbeigekommen!“ „Und dann ist das dein Mittel der Wahl, wenn dir nichts einfällt, meine Verteidigung zu durchbrechen?“ „Ich kann dich auch bei meinen Eltern so kugelrund füttern, dass du alleine dadurch schon träge wirst!“, machte Jeremy einen Gegenvorschlag und dieser stieß auf Unsicherheit. Das sah Jeremy und es passte zu Jeans Zögern der letzten Tage, wann immer er das Thema andeutete. ~~**~~ Jean fiel es mit jedem Mal leichter, sich in den Gemeinschaftsduschen zu duschen. Wenn er alleine war, dann schaffte er es, auch wenn die Angst in ihm immer darauf lauschte, ob sich nicht vielleicht doch jemand zu ihm stahl und sich ihm in einer der Kabinen aufzwang. Der rationale Teil in ihm wusste, dass das nicht passieren würde, auch wenn er just in diesem Augenblick brachial zusammenzuckte, als es aus der angrenzenden Umkleide polterte und sein Kapitän fluchte wie der letzte Hafenarbeiter aus Marseilles. Mit klopfendem Herzen schlang Jean das Handtuch um sich und lugte vorsichtig um die Ecke in den anderen Raum hinein. Knox und er hatten noch etwas trainiert und waren mit Rhemanns Segen länger geblieben. Dementsprechend waren sie alleine hier und Jean hatte nun den vollen Einblick auf Knox‘ auf und ab hüpfendes, vor allem aber nacktes Hinterteil. Jean starrte und ein eiskalter Schock durchfuhr ihn. Beinahe schon panisch verschwand er wieder hinter der Wand zwischen Umkleide und Dusche und lehnte sich an die kühlen Fliesen, während Knox fluchte und fluchte und gar nicht mehr aufhörte. Die Frage nach dem Warum ließ Jean nach ein paar Sekunden ein zweites Mal spinxen und das machte es wieder nicht besser, ganz im Gegenteil. Dieses Mal hüpfte der nackte Hintern zwar nicht auf und ab, aber er wurde ihm trotzdem entgegengestreckt und Jean schluckte. Trotz des Schocks in ihm versuchte er herauszufinden, was das Problem war, was sich als schwieriger herausstellte als gedacht. Jean glaubte, dass es der Zeh war, aber je tiefer er starrte, desto mehr sah er… Vielleicht, nein, ganz sicher, sollte er auch gar nicht starren. Knox würde das sicherlich nicht wollen, dass er beobachtet würde. Schon gar nicht, wenn er sich verarztete, immer noch leise vor sich hinmurmelnd. Auch wenn er sich sagte, dass es besser wäre, nicht hinzuschauen, tat Jean es trotzdem, plötzlich und abrupt in der Frage gefangen, die ihm vor ein paar Wochen gestellt worden war. Wen fand er attraktiv? Männer oder Frauen? Jean war sich nicht sicher und beinahe empfand er Scham darüber, auf welchem Weg er es gerade herausfinden wollte. Seinen Kapitän so anzustarren, gehörte sich nicht. Ganz und gar nicht. Es war respektlos ihm gegenüber. Und es beantwortete seine Frage nicht. Knox‘ Körper war schmaler als sein eigener, aber auch muskulös. Insbesondere seine Schultern und Waden zeigten, was ihr Sport aus ihren Körpern machte, ganz zu schweigen von den Oberarmen. Wenn er es sich ehrlich eingestand, so sah man das ebenfalls an den Muskeln des Hinterns. Ungebeten überkamen Jean Erinnerungen an den Moment zwischen Knox und dem Reporter, ihrem Sex, den er gestört hatte. Da hatte Knox sich in einer ähnlichen Position befunden. Wie es sich wohl für den Reporter angefühlt haben musste, sich ihm zu befinden, Mit nichts zwischen ihnen außer ihrer Haut? Als Jean sich seines Gedankens bewusst wurde, durchfuhr ihn ein Schrecken, der eiskalter nicht hätte sein können. Er warf sich beinahe zurück hinter die schützende Wand und lehnte sich an die kühlen Fliesen, presste seine Hand vor die Lippen, als könnte er so verhindern, dass er die fürchterlichen Gedanken dachte, die er dachte. Wieso kam er überhaupt auf so etwas? In einer solchen Situation? Und wieso rief der Gedanke keine Ablehnung in ihm hervor? Jean schluckte panisch und sah nach seinem Duschgel. Er sollte die Dusche abstellen und hinausgehen…vorher auf sich aufmerksam machen, damit Knox sich bedecken konnte. Und dann sollte er gehen. Jean trat einen Schritt in den noch warmen Wasserstrahl und schaltete ihn aus. Er befürchtete, dass das nicht ausreichte um Knox auf sich aufmerksam zu machen und warf einen Blick auf das Duschgel. Türkis mit einem frischen Duft, den Jean von allen Düften am Liebsten mochte. Er seufzte stumm und schubste es von der Anrichte, ließ es laut über die Fliesen schlittern. „Verdammt!“, schickte er ebenfalls laut genug für Knox hinterher und das leise Fluchen verstummte. „Alles in Ordnung, Jean?“, rief sein Kapitän, kam jedoch nicht in die Dusche. So wie er es nie tat, wenn Jean hier duschte. Und das, obwohl Jean ihm beim Training derart hart angefasst hatte. Jean starrte auf seine Hände. Er hatte es genossen, Knox daran zu hindern, durchzukommen, Diese Übung war nicht so wie ein Evermore gewesen, nicht mit Angst durchsetzt, dass er versagte. Er hatte auf Knox gewartet und ihn gelockt, dass dieser seiner Herausforderung annehmen würde. Und wie sein Kapitän ihr gefolgt war. Gnadenlos, auf seine ganz eigene Art und Weise und Jean hatte es genossen. Jedes einzelne Mal. „Monsieur Exy!“ Schaudernd zuckte Jean zusammen, als Knox ihn erneut rief und aus seinen Gedanken riss. Knox‘ Akzent war fürchterlich, so fürchterlich, dass er ihn final aus der Dusche trieb. Grollend begegnete er seinem nun bedeckten Kapitän und maß ihn mit hoch erhobener Augenbraue, wohlweislich nicht weiter nach unten schauend als bis zum Hals. „Alles gut?“, wiederholte der blonde Junge und Jean nickte. „Nur das Duschgel“…und dein Hintern, ergänzten seine überhaupt gar nicht hilfreichen Gedanken und Jean sah innerlich beschämt zur Seite. Er ging an Knox vorbei zu seiner Tasche und setzte sich auf die Bank. „Jean?“ Der blonde Junge und seine verdammte Empathie. „Es geht mir gut, Knox“, wiederholte er und sah kurz hoch. Jean sah das Zögern auf dem sommersprossigen Gesicht und fing sich in den blonden Augen, die ihn zunächst schweigend musterten. „Darum geht es nicht. Ich frage mich…schon seit einiger Zeit, möchtest du überhaupt mitkommen in ein paar Tagen?“ Knox drehte den Knoten seines Handtuches in den Händen. „Du bist so zögerlich.“ Jean mochte die Stille, die zwischen ihnen eintrat, nicht wirklich, doch er fand nicht die richtigen Worte auf diese Frage. Zumindest zunächst nicht. Nachdenklich sah er auf seine Hände und kämpfte um eine Antwort, die soviel mehr sein würde als eine reine Beantwortung auf die Frage nach dem Ob. Unwohl schluckte er den Kloß in seinem Hals hinunter und neben ihm gab Knox einen undefinierbaren Laut von sich, der Jean aufsehen ließ. „Entschuldige, ich habe nicht mitgedacht. Möchtest du dich vielleicht erst anziehen? Ich möchte nicht, dass du dich unwohl fühlst.“ Knox‘ Worte rührten ihn mehr, als dass er es zuzugeben bereit war und Jean schüttelte den Kopf. „Es ist okay“, erwiderte er. Er hatte mit Brian darüber gesprochen, dass er kein Gefühl für seinen Körper hatte und Brian hatte ihm geraten, sich das Fleisch, was ihn umgab, öfter und genauer zu betrachten. Natürlich nicht in diesen Worten, aber der Sinn war der Gleiche gewesen vor drei Wochen. Seitdem versuchte Jean seine Angst zu überwinden, seinen Oberkörper zu zeigen. Er versuchte, seine Scheu davor zu überwinden, sich selbst und seine Narben zu berühren. Er war nicht immer erfolgreich und richtig wohl damit fühlte er sich immer noch nicht, allerdings hatte er am wenigsten Angst bei Knox selbst. Sein Kapitän nickte und drehte sich ihm auf der Bank zu. Unwillkürlich huschte Jeans Blick über die Muskeln seines Gegenübers und über die nackte Haut, bevor er wieder auf seine Hände sah. Es brauchte etwas, bis er schlussendlich den Mut fand, Knox‘ Augen zu begegnen. „Ich habe das Gefühl, dass du nicht ehrlich zu mir bist“, sagte er dann und atmete langsam aus. Da war es, was ihn schon länger beschäftigte. Anspannung machte sich auf Knox‘ Gesicht breit und die Finger konnten gar nicht aufhören, das Handtuch zu kneten. „Nicht ehrlich?“, echote der blonde Junge und Jean nickte zögernd, sich seiner Sache plötzlich nicht mehr so sicher. Was, wenn Knox nicht gelogen hatte und nun enttäuscht von ihm war? Dann würde sein Kapitän ihm das sagen. Das hatte er bisher immer getan. Oder? „Als wir joggen waren“, begann Jean und versuchte, seine chaotischen Gedanken zu ordnen, die ihm das Formulieren schwer machten. „Da habe ich dich auf Fahima angesprochen und die Antwort, die du mir gegeben hast, sie schien mir nicht ganz korrekt zu sein. Das gleiche Gefühl hatte ich, als es um das Hände berühren ging.“ „Oh.“ Jean schluckte. Dieses Oh konnte vieles bedeuten und er war nicht firm genug darin, normale, menschliche Reaktionen zu lesen um die Nuancen herauszufinden, die dahinter lagen. „Oh?“, wiederholte er deswegen fragend und Knox seufzte. Sichtlich fiel dieser in sich zusammen und die sonst so ausgeprägten Bauchmuskeln bildeten kleine Röllchen, die Jean fasziniert anstarrte, bevor er sich bewusst wurde, was er da tat. Er sah wieder hoch, in Knox‘ abgewandtes Gesicht, das von einem gequälten zu einem noch viel gequälterem Ausdruck wechselte. Die Sekunden, die still zwischen ihnen verstrichen, kamen Jean vor wie eine Ewigkeit. Dann straffte der andere Junge seine Schultern und sah ihm offen und direkt in die Augen. „Du hast Recht, ich war nicht ganz ehrlich zu dir. Das, was ich über Fahima sagte, war richtig. Ich bewundere sie für das, was sie ist und wie sie mit dem Hass umgeht, der ihr stellenweise entgegenschlägt, aber das war nicht der Grund, warum ich eifersüchtig bin.“ Jean hob die Augenbraue. „Sondern?“ „Du lächelst mehr in ihrer Gegenwart. Das ist es.“ Es dauerte etwas, bis Jean den Worten folgen konnte und sich bewusst wurde, was Knox gerade gesagt hatte. „Darauf bist du eifersüchtig? Dass ich sie anlächle?“, hakte er noch einmal nach und Knox nickte. Dieses Mal meinte sein Kapitän es ernst, das sah Jean, auch wenn der Grund wirklich abstrus war. Die Tatsache, dass er überhaupt oft genug lächelte, dass es jemandem auffallen konnte, war erschreckend und einen Moment lang fiel Jean in sein altes Ich zurück, das Angst davor hatte, Emotionen zu zeigen, weil Gefühle eine Angriffsfläche boten. Dem war hier nicht so, hielt er sich vor Augen. Nicht zum ersten Mal und sicherlich auch nicht zum letzten. „Das ist mir nicht aufgefallen“, erwiderte er entsprechend nachdenklich. „Das tut mir leid. Ich kann es jedoch ändern, wenn es dich stört.“ Das Angebot war ernst gemeint und er hatte auch kein Problem damit, entweder Fahima gegenüber weniger oder Knox gegenüber mehr zu lächeln. Wohl eher ersteres, denn er wollte seinen Kapitän nicht hinten anstellen. Konnte es auch gar nicht. Durfte es auch nicht. Die Eifersucht seines Kapitäns war ein Thema, das Jean unruhig machte. Riko hatte aus Eifersucht schlimme Dinge getan und ganz konnte Jean sich nicht davon lösen, auch wenn er Knox mittlerweile bei vielen Dingen vertraute. Doch dieses negative Gefühl, das ihm soviel Schmerz eingebracht hatte dämpfte sein Vertrauen und Jean schluckte. „Ich werde sie nicht mehr anlächeln“, schob er nach, nur um sicher zu gehen, dass er auch das Richtige tat. Ein Blick in das Gesicht seines jetzigen Kapitäns sagte ihm, dass er damit nicht mehr hätte danebenliegen können. Die blauen Augen waren weit vor Entsetzen und die Hände zuckten, als würden sie ihn greifen wollen. „Nein, bitte, das meinte ich nicht damit, Jean! Oh mein Gott, das meinte ich wirklich nicht, bitte mach das nicht!“, trafen ihn flehende Worte und Jean schluckte. „In Ordnung…“, beeilte er sich mit seiner Zustimmung, doch auch das schien nicht gut zu sein. „Nichts ist in Ordnung“, grimmte Knox und Jean hob fragend die Augenbraue. Unsicher nestelte er an seinem eigenen Handtuch. „Du musst dich doch wegen meinem dummen Gefühl nicht einschränken. Bitte, Jean, bitte mach das nicht. Du musst nichts von mir befürchten, ich werde dir keinen Strick daraus drehen. In keiner Form. Mach das nicht, du hast jedes Recht, das zu tun. Bitte, du…“ Jean hielt Knox mit dem Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand den Mund zu. Es hatte sich in der Vergangenheit bewährt, also tat er es auch jetzt, um den schieren Strom der Worte aufzuhalten, die immer und immer panischer wurden. Sein Kapitän verstummte augenblicklich, doch nun war es an Jean, nach seinen eigenen Formulierungen zu haschen, die so verräterisch in seiner Kehle steckten und nicht herauswollten. „Ich verstehe“, sagte er schlicht und lächelte, ganz zu Knox‘ Erstaunen, dessen Augen sich an ihm festgesaugt zu haben schienen. Jean behielt seine Finger noch etwas länger auf den Lippen, nur um sicher zu gehen, dass Knox auch wirklich nicht mehr nachsetzte und löste sie dann vorsichtig. Als sein Kapitän dazu ansetzte, etwas zu sagen, befürchtete Jean das Schlimmste. Doch weit gefehlt. „Und deswegen warst du dir unsicher, ob du mitkommen sollst?“, fragte er und Jean nickte schließlich. „Ich war mir nicht sicher, ob du es überhaupt willst oder ob du mich einfach fragst, weil es mir schwer fällt, alleine zu sein.“ Was immer noch ein Problem war, denn auch wenn er alleine in ihrem Apartment bleiben konnte, so war Jean nicht dazu in der Lage, das Gebäude geschweige denn den Campus ohne Begleitung zu verlassen. „Jean, ich verspreche dir, ich meine es so, wie ich es sage. Ich würde mich sehr freuen, wenn du mit zu meiner Familie kommen und die Tage dort verbringen würdest! Das habe ich ernst gemeint, als ich es dir das erste Mal angeboten habe und das meine ich auch jetzt noch ernst. Wirklich!“ „Ich glaube dir“, entgegnete Jean, bevor Knox wieder in heilloses Gebrabbel ausbrechen konnte. „Und ich würde gerne mitkommen.“ Tatsächlich war das nicht gelogen. Seine Unsicherheit hatte sich einzig und alleine auf Knox augenscheinliche Unwahrheit bezogen. „Aber nur, wenn du mir sagst, warum Alvarez nun gelacht hat, als es um die Berührung der Hände ging“, schob er hinterher und ertappt zuckte Knox zusammen. Unsicher fuhr er sich über die nassen Haare im Nacken und schnaubte schließlich verlegen. „Die Berührung an den Händen ist freundschaftlich sehr intim. Und dein „es ist okay“ war so selbstverständlich, dass es eigentlich schon wieder witzig war. In Alvarez‘ Augen richtig witzig.“ Nachdenklich schürzte Jean seine Lippen und kaute auf der Innenseite seiner Wange. Er hatte sich das als Kompensation angewöhnt, wann immer ihm etwas menschlich unklar war. „Wieso war das witzig?“, fragte er kritisch nach und Knox zuckte mit den Schultern. Er lehnte sich auf der Bank zurück und entzerrte damit die kleinen Röllchen, die in der Zwischenzeit Falten gebildet hatten. „Weil Humor.“ „Das ist keine valide Begründung.“ „Selber!“ „Das ist keine…“ „….valide Diskussionsweise, jaa, ich weiß, Monsieur Exy.“ Jean schnaubte ob der hanebüchenen Begründung, rollte mit den Augen und freute sich auf die kommenden Tage bei Knox, auch wenn er jetzt schon nervös war, was ihn dort erwarten würde. ~~~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 45: Coming home ----------------------- Es war nicht das erste Mal, dass Jeremy Jean nervös sah. Vor allen Dingen zu Beginn seines Hierseins war er sehr oft nervös gewesen, seine Unruhe geprägt von Angst und Vorsicht. Das hatte sich auch jetzt noch nicht gegeben, insbesondere immer dann, wenn etwas für Jean neu war oder wenn er einen Alptraum gehabt hatte. Danach war es besonders schlimm und nach manchen dieser Alpträume war Jean nur noch ein zitterndes Bündel Mensch, der sich mit dem Rücken an die Wand presste und versuchte, die in ihm kämpfenden Emotionen unter Kontrolle zu bringen. In manchen Nächten ohne Erfolg. Die letzte Nacht war keiner dieser Nächte gewesen. Jean war wie immer nach ihm eingeschlafen und vor ihm aufgestanden und das wollte an diesem Morgen schon etwas heißen. Jeremy war extra früh aufgestanden, weil sie zu seinen Eltern und Geschwistern in Susanville fahren würden. Oh was freute er sich darauf, sie endlich wieder zu sehen, auch wenn er hundemüde war. Ganz im Gegensatz zu seinem Zimmernachbarn, der hellwach und nervös durch ihr Apartment lief und Dinge von einem Ort zum anderen räumte, nur um sie dann wieder zurück zu räumen. Seit Jeremy in der Lage dazu war, seine Augen offen zu halten, beobachtete er Jean dabei, wie dieser nervös durch die Wohnung irrte. Nervös und tolpatschig, wie Jeremy auch erkannt hatte und das war das Novum. Jean hatte sich schon den großen Zeh gestoßen, seine noch halb volle Kaffeetasse umgeworfen, sich den anderen großen Zeh gestoßen, seine Tasche mit der offenen Seite vom Bett fallen lassen, anscheinend den halben Kühlschrankinhalt abgeräumt, die Milch teilweise verschüttet, ihren Kaktus auf der Wohnzimmerfensterbank fast heruntergworfen… Die Serie setzte sich so fort und Jeremy hielt sein glückliches Grinsen über den Umstand, dass Jean flüsternd auf Französisch mit sich selbst schimpfte, wohl versteckt, in dem Wissen, dass Jean es vermutlich überhaupt nicht witzig finden würde, seinen Kapitän so glücklich zu sehen. Dabei war Jeremy einfach nur vollkommen verzaubert von dem leisen, melodiös gezischten Gemotze seines Backliners. Langsam, sodass Jean genug Zeit hatte, seine Ankunft mitzubekommen und aus dem Augenwinkel heraus zu sehen, trat er in den Durchgang zur Küche und verschränkte locker die Arme. „Du musst nicht nervös sein, es sind nur meine Eltern und meine Geschwister“, sagte er mit einem breiten Lächeln in der Stimme und Jean drehte sich halb zu ihm herum, das Gesicht zu einer unwilligen Grimasse verzogen. Der andere Junge grollte und Jeremy wackelte herausfordernd mit den Augenbrauen. „Ich bin nicht nervös“, behauptete Jean tatsächlich und Jeremy glaubte ihm kein einziges Wort. Vielleicht auch deswegen, weil er gerade Milch neben seine Tasse schüttete. Erneut. Jeremy grinste, winkte und flüchtete sich unter gar nicht mal so leisen, französischen Flüchen ins Bad. ~~**~~ Jean schluckte wiederholt nervös, als er einen Blick auf die Umgebung warf, die langsam an ihnen vorbeizog. Er hatte das Gefühl, dass es die gleiche Strecke war, die er mit Andrew gefahren war, auch wenn das höchstwahrscheinlich nicht der Fall war. Noch nie war er hier in Amerika in die Ferien gefahren und hatte an mehreren, freien Tagen hintereinander nichts getan. Noch nie. Das führte dazu, dass Jean sehr oft das irrationale Gefühl hatte, dafür bestraft zu werden. Er hatte das Gefühl, dass die Moriyamas kommen und ihn von dort wegbringen würden. Doch anscheinend waren Ferien okay. Anscheinend war das normal für ein Team, das diese Saison nur ein Spiel verloren hatte…bis jetzt. Jean hatte sich damit arrangiert, das bedeutete aber nicht, dass er sich nicht immer noch darüber wunderte angesichts des immer noch wenig fordernden Trainings. Innerlich seufzend ließ er das Thema fallen, hatte er sich doch vorgenommen, wenigstens diese paar Tage nicht über Exy nachzudenken, sondern sich auf das zu konzentrieren, was vor ihm lag. Dass genau das ihm alles abverlangen würde, befürchtete Jean, denn wenn seine Familie genauso war wie Knox selber, dann würde er vermutlich ertrinken in Knoxscher Freundlichkeit. Aber vielleicht mochten sie ihn auch gar nicht, weil er zu zurückhaltend war. Weil er nicht freundlich genug war und zu wenig lächelte. Vielleicht sollte er eben jenes auf dem Weg zu ihnen noch etwas praktizieren, damit er sie nicht vor den Kopf stieß. Falls sie einen Zwischenstopp einlegten, hieß das. Oder er lächelte einfach Knox an, wobei dieser dann sicherlich Verdacht schöpfte, was Jeans Zweifel anbetraf. Verstohlen warf er einen Blick auf seinen Kapitän, der in einem Sinnbild der glücklichen Fröhlichkeit neben ihm am Steuer saß. Schon seit dem Morgengrauen waren sie unterwegs und Knox zeigte ihm eine Landschaft, die Jean absolut faszinierte. Nach dem feuerroten Ball der aufgehenden Sonne hatten sich dicke und dunkle Wolken über den Himmel geschoben, die nun an den weit entfernten Bergen hängen zu bleiben schienen. Überhaupt war hier nur Weite mit wenig Vegetation, ganz im Gegensatz zu Evermore. Dort waren nur Bäume gewesen, ganze Hügel voll, so weit das Auge reichte. Er hatte mit Brian und Shirley über den Ausflug gesprochen und beide hatten ihm viel Spaß gewünscht. Auch wenn Shirley erst ihren Witz hatte erklären müssen, dass er es bloß nicht wagen sollte, eine ihrer Trainingsstunden auszulassen. Jean hatte ihn nicht verstanden und sich darauf eingestellt, Knox zu sagen, dass er nicht mitkommen können würde, weil er ein Termin mit Shirley hatte. Anscheinend hatte in seinem Gesicht irgendetwas gestanden, das Zweifel in ihr hervorgerufen hatte, und so war Jean erklärt worden, was er nicht erkannt hatte. Der Sinn und Zweck dieses Witzes erschloss sich ihm heute noch nicht. Brian war da anders gewesen. Er hatte gefragt, wie Jean sich damit fühlte und ob er das wirklich wollte. Letzteres hatte er mit einem einfachen Ja beantworten können, Ersteres… Das Problem war, Jean wusste nicht, wie er sich damit fühlte. Er wusste nur, dass er wenig Negatives fühlte. Er hatte Angst, ja, aber es war keine Angst davor, dass sie ihm wehtun würden. Die Dinge, vor denen er Angst hatte, hatte er mit Brian besprochen und war beruhigter als vorher aus der Sitzung gegangen. Natürlich war Jeans Nervösität am gestrigen Abend zurückgekehrt und seit heute Morgen schien es, als wäre er vom tolpatschigen Pech verfolgt. Vielleicht also war es gut, dass Knox fuhr und nicht er. Wer wusste schon, was er Knox‘ Wagen antun würde in seinem Zustand. „Da sind wir!“, riss eben jener ihn aus seinen Gedanken und Jean zuckte so gewaltig zusammen, dass er die volle Aufmerksamkeit seines Kapitäns hatte. „Entschuldigung“, verließ es Jeans Lippen, bevor er sich disziplinieren konnte und der blonde Junge runzelte die Stirn. „Wofür?“ Ja, das war eine gute Frage. Jean brummte nichtssagend und machte eine noch viel sinnlosere Handbewegung. „Wo sind wir hier?“, fragte er anstelle dessen und Knox grinste breit. „DAS hier ist DER Frühstücksdiner auf dem Weg nach Hause! Das ist Tradition und ein Muss!“ Deswegen hatte Knox ihm augenzwinkernd geraten, nichts zu frühstücken. Jean hatte gedacht, dass der Grund in den schlechten Straßen oder Knox‘ abenteuerlicher Fahrweise liegen würde. Stirnrunzelnd folgte er dem aufgeregten Fingerzeig zu dem etwas in die Jahre gekommenen Diner, dessen aufdringliches, schwarz-weißes Schachbrettmuster Jean schmerzhaft ins Auge stach, ganz zu schweigen von den glitzernden Säulen, die den Eingang begrenzten. Jetzt, in diesem Moment schätzte er sich glücklich, dass nicht die Sonne schien, denn sonst hätte sie das metallene Dach mit Sicherheit geblendet. „Okay“, sagte Jean, wie er es sich zu seinem anfänglichen Schrecken angewöhnt hatte. Alle um ihn herum sagten das, wenn sie einer Sache zustimmten. Er sagte es, um nicht nichts zu sagen und folgte Knox hinaus aus dem Auto und hinein in einen Raum, der ihn sich im ersten Moment wünschen ließ, blind zu sein. Der Boden war schwarz-weiß gekachelt und im Kontrast dazu standen überall rot-weiße Lederbänke und Lederstühle. Eine der Wände war mit einem langen Spiegel versehen, in dem er Knox‘ aufgeregte Freude und sich selbst sehen konnte, die übrigen waren gesäumt mit bunten Bildern aus Metall. Jean hatte schon lange nicht mehr so viele Farben gesehen und noch nie eine solch verwirrende Mischung aus Kaffee, Essen und Leder gerochen. Musik, die er so noch nie gehört hatte, lief im Hintergrund, und schweigend folgte Jean seinem aufgedrehten Kapitän in Richtung der Bänke, die am Fenster standen und ließ sich vorsichtig darauf nieder. Die Aussicht war ebenso weitläufig wie aus dem Auto, allerdings fand Jean die Aussicht auf Knox viel amüsanter. Momentan rieb der andere Junge erwartungsvoll seine Hände ineinander und rupfte zwei Karten aus dem Kartenhalter, hielt Jean eine davon hin. Weitaus ruhiger nahm Jean sie an und warf einen Blick auf das Geschriebene. Es brauchte seine Zeit, bis Jean sich eingestand, dass er sowohl vollkommen überfordert als auch völlig hilflos war. Die schreiend bunte Karte war überfüllt mit Begriffen, die er nicht kannte und Gerichten, die ihm nichts sagten. Selbst unter der Rubrik „Eier“ konnte er sich nicht wirklich orientieren, weil er nicht wusste, welche Eierspeise was war. „Knox?“, fragte er schließlich zögernd und sein Gegenüber sah von seiner eigenen Karte hoch. „Jean?“, echote er und knapp nickte Jean auf die Karte. „Ich weiß nicht, was das alles bedeutet.“ Leichter als vorher ging ihm dieses Eingeständnis der Schwäche von den Lippen und mit jedem Tag lernte er mehr, dass das nicht schlimm war. „Soll ich mit dir alles durchgehen, oder magst du mir sagen, was du willst oder soll ich einfach für uns beide bestellen?“ Es war nicht so, dass Jean keine Entscheidungen traf, ganz im Gegenteil. Sein ganzes Team forderte diese von ihm immer und immer wieder ein, im Kleinen wie im Großen. Das, was am Anfang ungewohnt für ihn gewesen war, war nun keine Seltenheit und beinahe normal für ihn. Trotzdem fühlte sich Jean gerade abenteuerlustig genug, um Knox die Entscheidung zu überlassen. „Überrasch mich“, erwiderte er und überrascht weiteten sich die blauen Augen, bevor über Knox‘ Gesicht so etwas wie Vorfreude huschte. Jeans Abenteuerlust erlaubte es sich anzumerken, dass Knox ihm ganz zu Beginn seines Hierseins einen Teller voller Eis beschert hatte und jäh kam alles in Jean zu einem erschrockenen Halt. Stumm verfluchte er sich für seine Vergesslichkeit. „Ich kann aber auch selbst aussuchen. Ich…“ „Nein nein, schon okay… Eier möchtest du, oder?“ Da war sie, die Entschlossenheit, gegen die Jean so schlecht ankam und er nickte. „Ja. Und Kaffee.“ Als wenn Knox das nicht schon wüsste. „Perfekt!“ Nein, perfekt war hier gar nichts, sagte der Teil in Jean, der drei Seiten prall gefüllter Essenskarte gesehen hatte und seine Entscheidung schon jetzt bereute, weil er Schlimmes befürchtete. Doch bevor Jean protestieren konnte, trat auch schon eine Kellnerin an den Tisch und er widmete ihr seine volle Aufmerksamkeit. „Hallo Jungs! Wie geht’s euch?“, fragte sie und Jean überließ Knox das Antworten, auch wenn er sich bewusst war, dass er üben sollte. Für die Familie seines Kapitäns. Und weil er nach Monaten in Los Angeles immer noch nicht recht wusste, was er auf diese Frage antworten sollte. Ehrlich würde er sie wohl kaum beantworten können. „Ein wunderbarer Tag ist es und wir sind auf dem Weg nach Hause!“, strahlte der blonde Junge und Jean versuchte sich an einem Lächeln, als die brünette Mittvierzigerin mit rotem Pferdschwanz und mintgrüner Uniform ihn ansah. Er imitierte die Mimik, die er bei Knox und damals auch bei Day gesehen hatte und für einen Moment blinzelte die Frau irritiert. Sie starrte auf seine Lippen und von dort aus wieder in seine Augen. Er machte sie nervös und Jean ließ das Lächeln erlöschen. Jemanden mit seinem Lächeln nervös zu machen, war doch nicht gut, oder? Ann – das sagte zumindest ihr Namensschild – räusperte sich und zückte ihren Block. „Was darf’s denn sein, ihr beiden Hübschen?“, fragte sie und Jean bestellte einen Kaffee und einen Orangensaft, Knox wiederum den Rest. Und bestellte…und bestellte…und bestellte… und hörte gar nicht mehr auf damit. Zumindest kam es Jean so vor, als Knox scheinbar mehr als zwei Gerichte bestellte, deren Namen Jean allesamt nichts sagten. Dass es wohl viel sein musste, erkannte er an den immer höher kletternden Augenbrauen der Kellnerin, die zum Schluss irritiert auf ihren Block sah und alles noch einmal wiederholte. Knox nickte und prüfend glitt ihr Blick nochmal zu Jean. Erneut versuchte er sich an einem Lächeln und dieses Mal erwiderte sie es offen und zwinkerte mit ihrem rechten Augenlid. „Sportler, hm?“, fragte sie dann und Jean nickte. „Alles klar, ihr Hübschen. Kommt sofort, euer… Sportlerfrühstück“, grinste sie dann. „Dankesehr!“ Knox lehnte sich mit einem Lächeln zurück und Ann verschwand in der Küche. Jean sah ihr verwundert hinterher und wandte sich dann an seinen Kapitän. „Das hat sich angehört, als hättest du die ganze Karte bestellt“, versuchte er an Informationen zu gelangen, was ihn erwarten würde, doch er traf auf eine Mauer des charmanten, aber sturen Lächelns. Wie damals im Eisladen. „Nur die halbe“, bekam er die wenig aussagekräftige und dennoch beängstigende Antwort und Jean rollte mit den Augen. Knox imitierend lehnte er sich ebenfalls an das knirschende Leder, weniger entspannt als sein Kapitän, aber nichtsdestotrotz nicht so aufgeregt wie heute Morgen. Ihr einträchtiges Schweigen wurde nur durchbrochen von Ann, die mit den Getränken zurückkam und sie ihnen mit einem breiten Grinsen hinstellte. Sowohl Knox als auch er bedankten sich bei ihr und Jean griff gerade nach seiner großen Tasse schwarzen Gebräus, als sich sein Kapitän verschwörerisch nach vorne lehnte. „Du hast geflirtet“, flüsterte Knox und überrascht hob Jean die Augenbrauen. „Wie kommst du darauf?“, fragte er. Vor allen Dingen mit wem? „Du hast Ann angegrinst.“ Jean schnaubte ungläubig. „Ich wollte freundlich zu ihr sein.“ Nun war es an Knox, ihn überrascht anzustarren. „Deine Lippen hatten diesen kleinen, einseitigen Schwung nach oben, während deine Kopfhaltung seitlich leicht angeschrägt war. Das war schon sehr flirtend“, konkretisierte der andere Junge seine Beobachtungen und Jean runzelte kritisch die Stirn. So lächelte Knox aber nicht, im Gegenteil. Sein Lächeln war offen und breit, strahlend, als wäre sein Gegenüber der am gern gesehendste Mensch auf dieser Welt. „Du hast ein schönes Lächeln, Jean.“ Die schonungslose Ehrlichkeit, mit der Knox diese Worte aussprach, erschreckte Jean dann doch, wie ihn jedes Kompliment erschreckte. Er hatte nicht viele in seinem Leben bekommen und die, die ihm gesagt worden waren, waren bis auf wenige Ausnahmen in Situationen gewesen, in denen sie nur Erniedrigung und Schmerz für ihn bedeutet hatten. Renee war die Erste gewesen, die sein Lächeln kommentiert hatte und so war es beinahe schon Schicksal, dass Knox ihr auch in diesem Punkt folgte. Er war froh darum, denn er wollte jetzt, in diesem Moment, nicht den Vergleich zwischen Knox und seinen Vergewaltigern ziehen, die ihm auf degradierende Weise zu verstehen gegeben hatten, warum sie ausgerechnet an ihm soviel Spaß hatten. Jean sah auf seine Finger, die er starr ineinander gekrampft hatte. „Renee hat das auch gesagt“, äußerte er den schönen Teil seiner Gedanken und sah wieder auf, in der Hoffnung, dass Knox‘ Anblick den dunklen Part vertreiben würde so wie es der Geruch und die Wärme seiner Decke mit den Überresten seiner Alpträume immer tat. „Dann muss was dran sein, findest du nicht?“, fragte der blonde Junge sanft und Jean wusste, dass er durchschaut worden war. Anscheinend war offen auf seinem Gesicht zu lesen gewesen, was tief in seinem Inneren stand. „Frag die Kellnerin?“, versuchte er sich an einem Scherz und Knox lächelte. Jean sah hoch und seine Aufmerksamkeit irrte zu der Frau, die nun aus der Küche trat und die, wie Jean erkannte, mit einem Tablett an… allem zu ihnen kam und es unter theatralischem Ächzen am Nebentisch abstellte. „Also Jungs. Mit bestem Gruß aus der Küche eure Bohnen“, sie stellte schwungvoll eine viel zu große Schüssel an Pampe an den Fensterrand. „Eure Pancakes“, folgte der Turm aus kleinen, flachen Kuchen, die Alvarez auch immer aß, inklusive einer Kanne an Ahornsirup, wie Jean mittlerweile wusste. „French Toast mit gegrillter Banane und Toast ohne alles.“ Jean fragte sich, was daran französisch sein sollte oder ob sich Frankreich in dem Jahrzehnt, in dem er nicht mehr dagewesen war, sich so verändert hatte, dass man nun gegrillte Bananen aß. Und wie das alles, was sie hier auftrug, auch auf diesen Tisch passen sollte. Ann wandte sich ab und holte die nächste Platte. „Und hier das Corned Beef-Omelette, das Spinatomelette, die Eier á la Benedict und die klassischen Rühreier.“ Wer auch immer Benedict war, nachdem diese Eier benannt wurden, er hatte kein Sinn für gutes Essen. Was machte Sauce Hollandaise auf Muffins, die mit Eiern und Speck bedeckt waren? „Gibt’s noch Platz für die belgischen Waffeln mit Speck und Würstchen?“, stellte Ann die rein rhetorische Frage und Jean hatte sich mittlerweile zurückgelehnt und die Arme verschränkt. Wenn Knox auch nur glaubte, dass er die Hälfte davon essen würde… „Lasst es euch schmecken, Jungs!“, grinste Ann und ließ sie mit der Katastrophe einer Bestellung alleine. Jean starrte schweigend auf ihren übervollen Tisch voller, ungesunder Dinge. „Knox.“ „Jean?“ „Das ist nicht dein Ernst.“ „Aber sicher.“ „Ich kenne mehr als die Hälfte hiervon nicht.“ „Und das hält dich davon ab, es zu probieren?“ Jean grollte. Natürlich nicht. „Das ist viel zu viel.“ „Wart’s ab!“ „Wenn du so weiter machst…“ „…dann verliere meinen geringen Trainingsfortschritt, den ich seit Beginn des neuen Semesters gemacht habe, jaaa, ich weiß“, fiel ihm Knox ins Wort und zitierte damit etwas, was sich zu einer Art geflügeltem Wort entwickelt hatte. Einmal…einmal hatte Jean den Fehler gemacht, es wenig begeistert in die Runde zu werfen, als sein verfressenes Team wieder einmal zu Junk Food gegriffen hatte. Er hatte sich explizit über den Trainingsfortschritt ausgelassen und die Trojans hatten die erste Minuten damit verbracht, seine Kritik in ein Lob umzuwandeln, weil er sich ja über ihren Trainingsfortschritt ausgelassen hatte. Nicht etwa darüber, dass sie wieder ungesundes Zeug in sich hineinstopften, nein. Jean hatte seinen Fehler erkannt, doch zu spät. Alles Bestreiten funktionierte nicht. Nein, die Trojans stürzten sich auf das vermeintliche Lob, das seinen Lippen entkommen war und missachten die Kritik, die dahintersteckte. Die griffen sie erst viel später auf. Jedes Mal, wenn er dazu ansetzte, sie wegen ihres Chaos, ihrer Verfressenheit und ihrer fehlenden Trainingsmoral zu kritisieren. „Nicht grollen, essen, du Gewitterwolke“, neckte Knox ihn und Jean griff demonstrativ zu seiner Kaffeetasse, die mit Abstand das Gesündeste hier am Tisch war. ~~**~~ Trotz seines indignierten Widerstandes hatte Jean es sich nicht nehmen lassen, von allen Tellern zu probieren. Jeremy hatte das nicht kommentiert, sondern nur mit innerlichem Glück zur Kenntnis genommen. Nicht nur das, sondern auch Jeans rote Wangen von all dem Essen, was er zu sich genommen hatte und das stimmte Jeremy auch jetzt noch froh, nach Stunden der Fahrt durch Kalifornien. Er hatte Jean währenddessen einen Crashkurs über die Straßenarten gegeben, die Interstates, Federal Highways und Provincial Highways. Er hatte etwas über die Städte, die sie passierten, erzählt und durchaus Jeans Interesse an Sacramento gesehen. Ebenso aufmerksam, wie er nun die wachsende Anspannung in der gesamten Körpersprache des Jungen wahrnahm, je näher sie seinem Zuhause kamen. Jean selbst schien sich dessen nicht bewusst zu sein, auch wenn die Zeichen mehr als deutlich waren. Die zu Fäusten geballten Hände, der verkrampfte Kiefer, der starre Blick. Es ging soweit, dass Jeremy sich knapp außerhalb seiner Heimatstadt einen Parkplatz am Straßenrand suchte und den Wagen zum Stehen brachte. Langsam wandte er sich an Jean und maß den in Gedanken versunkenen Jungen sorgenvoll, der anscheinend noch nicht einmal mitbekommen hatte, dass sie standen. „Jean“, sagte Jeremy leise, aber bestimmt und ruckartig wandte Jean ihm den Kopf zu. Er blinzelte einmal, dann ein zweites Mal… und sah sich dann um, als sähe er die Gegend zum ersten Mal. „Alles okay mit dir?“, fragte Jeremy und Jean schüttelte unmerklich den Kopf. Wie so oft verspürte Jeremy in den leisen, schmerzhaften Momenten den Drang, Jean einfach zu umarmen, bis die dunklen Erinnerungen verschwanden. Doch wie so oft wartete er, verharrte er in dem Wissen, dass er Jean Zeit und Raum geben musste, zu sich selbst zu finden. „Was, wenn es zuviel ist?“, fragte der andere Junge schließlich rau und Jeremy legte den Kopf schief. „Zuviel?“ „Zuviel… von allem Guten. Zuviel von allem?“ Jeremy verstand, was Jean meinte. Zuviel von allem, was er jahrelang nicht gehabt hatte. Zuviel von dem, was ihn auch jetzt noch unsicher machte. Er hatte Sorge davor, überfahren zu werden von der Knoxschen Freundlichkeit und wenn Jeremy seiner Familie nicht schon strenge Verhaltensregeln auferlegt hätte, dann hätte er dem sicherlich zugestimmt. Keine Küsse, keine Umarmungen, kein Haarewuscheln. Abstand, ruhige, langsame Bewegungen in Jeans Gegenwart, kein von hinten Anschleichen und Anspringen. Und bloß kein lautes Schreien und Boxen. „Wenn es zuviel wird, dann hast du ein eigenes Zimmer, in das du dich zurückziehen kannst. Oder wir fahren wieder, wenn du magst.“ Entsetzt weiteten sich die grauen Augen seines Backliners. Eine Reaktion, mit der Jeremy gerechnet hatte. Natürlich würde Jean ihn nicht von seiner Familie wegtreiben wollen, auch wenn Jeremy bereit war, wieder nach L.A. zurück zu fahren. Beschwichtigend hob er die Hand. „Es ist okay, Jean. Setz dich deswegen nicht unter Druck. Ich möchte nicht, dass es dir schlecht geht.“ „Es wird gehen“, sagte Jean, noch nicht ganz überzeugt von seinen eigenen Worten, momentan noch mehr eine Frage als alles andere. Jeremy seufzte und lächelte. „Versprichst du mir etwas, Jean Moreau?“, fragte er und eben jener blinzelte. Intensiv und vorsichtig wurde er beäugt. „Was?“ „Wenn es dir nicht gut geht, du überfordert bist oder Abstand möchtest, dann sag mir das bitte.“ Lange Zeit sagte Jean rein gar nichts. Er hatte seine Augen nach draußen gerichtet und schwieg, auf seinem Gesicht ein Kampf gegen innere Dämonen, die Jeremy nur erahnen konnte. „Okay. Ich verspreche es dir“, sagte er schließlich und kurz huschte sein Blick zu Jeremy. Lang genug, damit Jeremy die Gelegenheit für ein Lächeln bekam. „Ich kann dir auch erst all das Schlimme auf unserer Farm zeigen. Der baufällige Geräteschuppen oder der große Haufen an…“ Jeans Blick brachte ihn mit Leichtigkeit zum abrupten Schweigen und Jeremy durchfuhr ein Schaudern. Wie gefährlich attraktiv dieser offen zur Schau gestellte, nonverbale Befehl zum Schweigen war. Und wenn Jeremy wetten musste, hatte Jean keine Ahnung, wie er wirkte. Und das war auch gut so, denn nichts würde den anderen Jungen mehr verschrecken, als wenn sein Kapitän ihm plötzlich zu verstehen geben würde, dass sein Blick gepaart mit diesen verdammt strengen und noch viel sinnlicheren Lippen eine unwiderstehliche Kombination ergab. Nein, kurz nachdem Jean derart unsicher gewesen war, wäre das ein No-Go. Überhaupt war es das. Ein No-Go. Jeremy seufzte stumm. ~~**~~ Sie waren da und Jean fühlte sich, als würde er gleich zu seiner Hinrichtung geführt. Nichts an diesem Haus überraschte ihn. Es sah so aus wie auf den sonnigen Bildern mit seiner hellgrauen Holzvertäfelung, den weißen Fensterrahmen und dem ebenso weißen Garagentor, der großen Veranda mit einem ebenso großen Vorgarten mit großen Stauden und Büschen. Jean erkannte selbst die Stühle und den Tisch wieder. Alles war an seinem angestammten Platz und dank der letzten neun Stunden Fahrt wusste Jean alles über das Haus, seine Bewohner, seine Tiere, seine Umgebung, seine Geschichte… Dennoch. Hinter den Fenstern dieses Hauses wartete eine Familie, die mit all der Dunkelheit, die ihn umgab, nichts zu tun hatte. Eine Familie so unschuldig und rein, wie Jean es sich für seine immer gewünscht hatte und er wusste nicht, ob er dieser Unschuld auch wirklich Stand halten konnte. Oder ihrer Freundlichkeit, von der Knox ihm soviel erzählt hatte. Langsam stieg Jean aus dem Wagen, kämpfte um jeden Zentimeter Raum und Sicherheit, den er aufgab. Er wurde erschlagen von einem erdigen Geruch, den er nicht ganz klassifizieren konnte und der ihn im ersten Moment überwältige. Jean war sich sicher, dass er so etwas noch nie gerochen hatte und er fragte sich, ob das der Geruch einer Farm war, deren Geräusche im Hintergrund zu ihm drangen. Knox kam zu ihm und lächelte versichernd. Dem konnte Jean nicht ganz folgen, denn er war bis auf das Äußerste angespannt und zuckte nun regelrecht zusammen, als nun auch noch die Haustür aufging. Er kannte die beiden Mädchen, die aus der Haustür auf die große Veranda stürzten und unisono grinsten. Mia und Charlotte, kurz Charlie. Dreizehn Jahre alt, aufgedreht, Informationsdealerinnen an ihrer Highschool. Informationen, die sie gegen Süßigkeiten und Gefallen tauschten. Wie auf ein Stichwort rannten sie los und Jean trat automatisch ein paar Schritte weg von Knox hinter das schützende Auto. Es war ein Reflex, geboren aus der irrationalen Angst, dass sie ihm etwas tun würden. Natürlich war diese unbegründet, wie er nun auch sah, als sie seinen Kapitän ohne Gnade umtackelten und zu Boden rangen. Unter lauten „Jer, Jer, Jer!“-Rufen sah Jean fassungslos auf das Menschenknäuel, das sich auf dem Boden hin- und herwälzte und war unheimlich froh um das Auto zwischen ihnen. Es war ein Schutz, den er nur langsam verließ, um sich – immer noch in ausreichender Distanz – zu den Geschwistern zu begeben. Er wusste nicht, welche von beiden auf Knox‘ Brustkorb und welche auf seinen Knien saß und ihn festhielten, während sie ihn kitzelten. Jean hob die Augenbrauen und wohnte dem befreiten Gelächter der Drei zu, als die Tür ein weiteres Mal aufging und eine Frau heraustrat, die er mit Leichtigkeit als Knox‘ Mutter identifizierte. Mit einem Lächeln lehnte sie sich an die Holzfassade der Veranda und verschränkte locker die Arme. Ihr Blick ruhte auf ihren Kindern und deren Ausgelassenheit ließ sie seufzen. Dann fanden ihre Augen Jean und hielten seine vorsichtige, angespannte Aufmerksamkeit. Eine ihrer Hände löste sich ein paar Zentimeter aus der Verschränkung und winkte lässig. Jean schluckte und sah sich verstohlen um. Es war tatsächlich er, der gemeint war. Schüchtern erwiderte er die Geste und sie nickte wohlwollend. „Jean!“ Abrupt fuhr er herum und begegnete drei blauen Augenpaaren. Eines eher gequält, die anderen beiden triumphierend. Jean legte fragend den Kopf schief. „Solltest du als Striker nicht eigentlich eine bessere Deckung haben?“, fragte Knox trocken und die beiden Mädchen gackerten vergnügt. „Grausamer Backliner! Gemeiner Backliner!“, ächzte jener und wehrte sich vergeblich unter seinen beiden Schwestern, die ihn gnadenlos in den Staub gepresst hielten. „Hallo, Jean Moreau, bester Backliner der USC!“, grüßte ihn…eine von beiden. Jean hatte keine Ahnung, welche von beiden es war. Die Hintere. „Hallo“, erwiderte er vorsichtig, immer noch mit einem wachsamen Blick in Richtung der Mädchen, so als ob sie ihn jederzeit überfallen würden, wo er nun doch so in ihrem Fokus war. „Ihr seid endlich hier! Wir haben euch schon seit Stunden erwartet!“, sagte die Andere und Jean sah irritiert zu Knox, der lachend den Kopf schüttelte. „Die beiden sind gierige Hyänen, mach dir nichts aus dem, was sie sagen!“, presste er hervor, bevor sie ihn erneut unter sich begruben und Jean dem Spektakel schweigend zusah, auf der Stelle festgefroren und reglos im Angesicht dieses Anblicks. Der Begriff Familie stand in großen Lettern über dem, was hier gerade geschah und Jean war erstaunt, wie stark er einen Vergleich zu seiner eigenen Familie zog. Louis war ähnlich voller Liebe wie Mia und Charlotte, doch die Frau, die ihre Brut mit einer solch deutlichen Zuneigung auf ihrem Gesicht betrachtete, ähnelte mitnichten seiner eigenen, kalten Mutter. Es schmerzte ihn, viel mehr als es das Treffen bei Ajeet getan hatte und Jean konnte sich zunächst nicht erklären, warum. Dann wurde ihm bewusst, dass der Faktor Zeit auch Erkennen mit sich gebracht hatte. Selbstreflexion. Auseinandersetzung mit sich selbst. Bei Ajeets Familie hatte Jean nur aufgenommen, ohne zu verarbeiten. Dank Brians Einwirken war das nun anders. So wie Brian auch nicht müde wurde, ihm zu sagen, dass Verarbeitung durchaus schmerzte. „Hallo Jean“, riss ihn eben jene Frau aus seinen Gedanken und er fuhr herum. Er hatte sie nicht kommen sehen und war nun Auge in Auge mit der Frau, die Knox…seinen Kapitän…den blonden Jungen… Jeremy verdammt nochmal…geboren hatte. Jean nickte. „Guten Tag, Mrs. Knox“, erwiderte er rau und sie schüttelte sacht tadelnd den Kopf. „Olivia, bitte, so alt bin ich trotz meiner weißen Strähnen noch nicht.“ Sie hatte tatsächlich mehrere weiße Strähnen in ihren Haaren, die in dem Blond beinahe untergingen. „Ich bitte vielmals um Entschuldigung.“ Sie winkte ab. „Da gibt es nichts zu entschuldigen. Schön, dass ihr da seid, die beiden kleinen Monster warten schon seit Stunden auf euch. Als wenn sie Google Maps nicht aufrufen könnten um nachzuschauen, dass man knapp neun Stunden von L.A. hierhin in die Einöde fährt.“ Monster… Bei dem Gedanken daran, dass diese beiden unschuldigen Mädchen den gleichen Titel trugen wie die Minyardzwillinge, musste Jean innerlich schaudern. Sie könnten nicht unterschiedlicher sein. Hoffte er zumindest. Auch wenn er eine gewisse Ruchlosigkeit bei diesen Beiden durchaus feststellen konnte. „So, und nun runter von meinem Sohn. Ich will ihn auch begrüßen“, sagte sie mit liebevoller Strenge und murrend zogen die beiden Mädchen sich zurück. Lauernd traten sie beiseite und Mrs. Knox reichte ihrem Sohn eine Hand, zog ihn resolut in die Senkrechte. „Deine Verteidigung war in der Tat schonmal besser, Sprössling Nummer drei“, sagte sie und schloss den blonden Jungen in ihre Arme. Lachend klopfte sie ihm den Staub von seinem Shirt und ebenso grinsend zog Knox seine Mutter an sich. „Schön hier zu sein, Ma. Ich schwärme Jean schon seit seiner Ankunft in L.A. die Ohren voll, wie sehr ich mich freue!“ „Dann hoffe ich mal, dass Jean von der Realität nicht allzu enttäuscht sein wird. Oder, Jean?“ „Nein, das werde ich sicherlich nicht“, erwiderte er höflich und erhielt dafür ein weiteres, warmes Lächeln. Daher hatte Knox das. Unsicher knetete Jean seine Finger. Er wusste nicht wirklich, was er weiterhin sagen sollte und war entsprechend erleichtert, als Mrs. Knox ihm die Entscheidung abnahm, indem sie in Richtung Kofferraum deutete. „Holt eure Taschen und bezieht eure Zimmer. Danach zeigen wir Jean Farm und Viecher und danach gibt’s Kuchen. Die beiden Nervensägen hier haben ihn heute Morgen noch frisch gebacken. Sagten irgendwas von einer Süßigkeitenschuld.“ Sie hob die Augenbraue. „Kuchen!“, intervenierte Knox, bevor Jean auch nur mit dem Hinweis auf das katastrophal kalorienhaltige Frühstück ablehnen konnte und vielsagend legte er den Kopf schief. „Mit Sahne!“, stimmten die beiden Schwestern unisono ein und Jean begriff, dass Unvernunft ein Charakterzug dieser Familie zu sein schien. Schweigend trat er zum Kofferraum und nahm seine Tasche, Knox neben sich, der ihn seicht mit seiner Schulter anstupste. „Hey, alles klar?“, fragte er und Jean nickte nach einem Moment schweigend. Er war angespannt, aber er fühlte sich nicht gänzlich unwohl. Er war eher aufgeregt, dass er nichts falsch machte. Und aufgeregt, was ihn erwarten würde. Er nahm an, dass das ein gutes Zeichen für die kommenden Tage war. ~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 46: Die Knoxes ---------------------- Behutsam strich Jean über die weiße Tagesdecke, die auf dem Bett lag. Sie war mit Ornamenten verziert und so rein, dass Jean anfänglich Angst gehabt hatte, auch nur in ihre Nähe zu kommen, geschweige denn, sie überhaupt anzufassen. Er hatte so oft geblutet in seinem Leben, dass er in einem kurzen Moment befürchtet hatte, diese absolute Reinheit mit seinen blutigen Fingern zu zerstören. Doch das letzte Mal, dass der geblutet hatte, war vor zwei Wochen gewesen, weil er sich an einem Blatt Papier geschnitten hatte. An einem simplen Blatt Papier. Val hatte mit diabolischem Grinsen ein Pflaster geholt und ihm ein buntes Kinderding auf den Finger geklebt, das die Trojans beim anschließenden Training mit seltsamen Blicken beäugt hatten. Erst, als er Fahima nach dem Training beiseite genommen und gefragt hatte, was an diesem Pflaster so komisch sei, hatte sie ihm die Serie auf ihrem Smartphone herausgesucht und erklärt, dass es eine Kinderserie war, die sich auf dem pinken Streifen um seinen Finger wiederfand. Und anscheinend fanden die Trojans diesen Umstand so abwegig, dass sie ihn anstarrten, als wäre es etwas Besonderes. Jean warf einen Blick auf seinen nun unbepflasterten Finger, der vollständig verheilt war und setzte sich vorsichtig auf die Decke. Es war sein eigenes Zimmer, das er sich mit niemandem teilen würde. Er würde alleine hier schlafen. Das letzte Mal, das er alleine geschlafen hatte, war im Zimmer der Krankenschwester gewesen und davor in Evermore. Doch hier war er nicht eingesperrt. Er war nicht verletzt. Er war im Urlaub. Jean sah sich um und blieb mit seinem Blick auf dem Kopfkissen hängen. Darauf befand sich – wie hatte Knox es genannt? – ein Betthupferl. Es war anscheinend etwas Süßes, das man Gästen auf das Bett legte. Jean kannte diese Tradition nicht und wagte auch nicht, das bunte Etwas anzufassen. Die Handtücher, die auf der Decke lagen, waren ebenso weiß und fühlten sich kuschelig an, heimelig gar. So heimelig, wie es das restliche Haus war mit seinen hellgrauen Wänden und knarzenden Fußbodendielen, teppichbewehrten Treppenstufen, seinem Kamin im Wohnzimmer und den in die Jahre gekommenen Sofas, die so gemütlich wie ausgesessen aussahen, war. Es roch nach Kuchen und nach Abendessen, es roch nach Familie und alles in allem schien das Haus etwas zu sein, das Jahre auf dem Buckel hatte. Aus jeder Pore roch es nach glücklichen Erinnerungen. Jeder Millimeter war bewohnt und durchdrungen von einem überwältigenden Gefühl des Zusammenseins. Es war so, wie Jean es sich für seine Familie immer gewünscht hatte und das machte das Gefühl in seiner Brust gleich doppelt schlimm, denn er war hin- und hergerissen zwischen Bewunderung, Trauer und Sehnsucht. Jean seufzte und zuckte brachial zusammen, als ein seltsamer Laut unter dem Bett hervordrang, auf dem er saß. Es klang fast, als ob jemand Blähungen hatte. Es roch vor allen Dingen so und Jean zweifelte für einen Augenblick wirklich an sich selbst. Das Essen heute Morgen war wirklich schwer gewesen, aber er hätte doch gemerkt, wenn er…oder? Er fasste sich ein Herz und stand auf. Mit klopfendem Herzen hob er die Decke hoch und sah sich Auge in Auge mit etwas, das er nicht genau beziffern konnte, das aber lebendig war und ihn nun anknurrte. Mit einem lauten, peinlichen Geräusch seines eigenen Schreckens fuhr Jean zurück und stolperte beinahe über seine eigenen Füße, als er sich hochschraubte um auf die Füße zu kommen. Wild fuhr sein Blick zum Zimmereingang, als plötzlich Knox auftauchte, vermutlich durch sein Geräusch aus dem eigenen Raum getrieben. „Jean, was ist?“, fragte sein Kapitän und trat ins Zimmer, bevor Jean ihn warnen konnte. „Uuuh…“ Er schlug sich die Hand vor Mund und Nase. „Alles in Ordnung, Jean? Soll ich…geht’s dir gut?“, fragte er gedämpft und mit reichlich Indignation erkannte Jean, dass Knox glaubte, er hätte… Empört deutete er unters Bett. „Da ist etwas!“, erwiderte Jean genauso gedämpft. „Ich war das nicht!“ Knox brauchte etwas, bis er seinen Worten Glauben schenkte und beugte sich hinunter, schlug ebenso vorsichtig die Decke zurück, wie Jean es getan hatte. Wieder knurrte es und ein überraschter Laut verließ Knox‘ Lippen. Er ließ die Decke sinken und lehnte sich auf seinen Fersen nach hinten. „Moooom!“, rief er dann so laut, dass sowohl Jean als auch das Etwas unter dem Bett sich erschreckten, was in einer erneuten Wolke aus Gestank mündete. „Knox!“, knurrte Jean und ging zum Fenster, riss es weit auf. Die blonde Frau brauchte keine Minute, bis sie bei ihnen war. „Was ist los, Jungs? Oh Gott, was ist denn hier gestorben?“, fragte sie überrascht und Knox deutete auf das Bett. „Da ist irgendein schwarzer Hund drunter“, sagte er und Jean fragte sich, ob diese Familie ihre Tiere nicht eigentlich kennen sollten. Anscheinend war es aber kein Umstand, der Mrs. Knox überraschte, als sie lachend die Hand vor dem Mund wegnahm. „Tretet mal etwas zur Seite, Jungs. Geht am Besten mal kurz auf den Flur.“ Jean gehorchte ihr ebenso wie Knox selbst und schweigend blieben sie im Flur stehen. Sie legte sich währenddessen auf den Boden und schlug langsam die Decke zurück. Für einige Augenblicke tat sie überhaupt nichts, sondern sah nur lächelnd unter das Bett. „Hey Barnie, ich bin’s“, sagte sie dann und streckte langsam ihre Hand aus. Jean sah zwar nicht, was unter der Decke passierte, doch dieses Mal blieb das Knurren aus. „Keine Angst, das sind Jer und Jean, sie wollen dir nichts Böses. Sie sind okay. Na komm. Kein Grund, sich zu verstecken“, lockte sie mit einer derart sanften Stimme, dass es Jean schwer fiel, ihren Worten keinen Glauben zu schenken und sich selbst nicht von ihnen einlullen zu lassen. „Außerdem habe ich unten einen Knochen für dich, was hältst du davon, hm? Na komm.“ Mrs. Knox zog ihre Hand zu sich und rutschte ein Stück nach hinten, weg von dem Bett. Jean hörte ein Kratzen und wenig später schob sich ein schwarzer Hundekopf unter dem Bett hervor, gefolgt von einem Körper, der massiv und groß war…und immer größer wurde, je mehr der Hund unter der Matratze hervor kam und sich mit eingezogenem Schwanz und angelegten Ohren zu Mrs. Knox über den Boden robbte. Jean blinzelte. Dieser Hund war riesig und sah mit seinem langen Fell aus wie ein Bär. Vermutlich konnte er von Glück reden, dass ihn dieses Ungetüm nicht angegriffen hatte. „Hey Barns, alles gut?“, gurrte sie und der Hund winselte. Er leckte ihr über die Hand und über das Gesicht. Mrs. Knox lachte und kraulte ihn hinter den Ohren. „Na siehst du, alles ist in Ordnung. Kein Grund, sich zu fürchten.“ Langsam richtete sie sich auf, ihre gesamte Konzentration auf den Hund gerichtet. „Kommt langsam wieder rein und setzt euch, Jungs. Jean, hast du Angst vor Hunden?“ Jean schluckte. Genaugenommen wusste er es nicht. Vielleicht hatte es sich geändert über die Jahre und in Marseille hatte er mehr mit Katzen als mit Hunden zu tun gehabt. „Ich weiß es nicht“, erwiderte er daher ehrlich und sie nickte. „Wenn du dich damit sicherer fühlst, dann bleib ruhig stehen.“ „Mom…seit wann haben wir einen weiteren Hund?“, fragte Knox und seine Mutter schnaubte. „Das ist Mrs. Andersons Hund. Sie musste ins Krankenhaus und deswegen passe ich seit vorgestern auf den kleinen Feigling mit Blähungen hier auf.“ „Geht es ihr gut?“, fragte Knox besorgt und seine Mutter nickte, während dieses riesige Tier auf ihren Schoß kroch. „Sie hat sich das Bein gebrochen. Schmerzhaft, aber nicht lebensgefährlich. Aber jemand muss sich um Barns kümmern.“ Sein Kapitän setzte sich ebenfalls auf den Boden und streckte dem Tier lächelnd seine Hand entgegen. Dieses Mal blieb das Knurren aus und das schwarze Ungetüm streckte sich so weit es ging ohne die Sicherheit von Knox‘ Mutter zu verlassen nach eben dieser Hand aus. Neugierig schnüffelte die schwarze Nase an den Fingern, bevor Barnie probeweise daran leckte. Anscheinend passte ihm, was er geschmeckt hatte, denn der buschige, schwarze Schwanz wedelte vorsichtig. Zumindest, bis die ebenso schwarzen Augen sich auf Jean richteten und der Hund zu einem kompletten Stillstand kam. „Alles ist gut, das ist Jean“, beruhigte Mrs. Knox ihn und drückte ihm einen Kuss auf den schwarzen Schopf, den Barnie mit einer übereifrigen Zunge beantwortete. Langsam begab Jean sich ebenfalls auf die Knie, in der Hoffnung, dass der Hund ebenso ruhig bleiben würde wie bei seinem Kapitän und Mrs. Knox, als er ihm vorsichtig die Hand entgegenstreckte und es dem blonden Jungen gleichtat. Barnie brauchte etwas, doch dann schnupperte er und die Nase fühlte sich kalt an. Die Zunge, die ausgiebig über seine Hand leckte, war hingegen warm und feucht und Jean schauderte ob des kitzelnden Gefühls. „Guck mal, er mag dich!“, grinste Knox und Jean fühlte ein Lächeln in sich aufsteigen. „Sein Fell ist sehr weich“, erwiderte er, als Barnie sich zu ihm robbte und seinen Kopf unter seine Hand presste, während seine Rute wild hin- und herwedelte. Er winselte und Jean zog abrupt seine Hand zurück, aus Angst, dem Tier wehgetan zu haben. Aus dem Winseln wurde ein Jaulen und Jean sah hilflos zu Mrs. Knox, da er keine Ahnung hatte, was er falsch gemacht haben könnte. Doch sie lächelte entspannt. „Er möchte, dass du ihn kraulst und findet es gar nicht gut, dass du deine Hand zurückgezogen hast. Deswegen jault er.“ Jean tat wie ihm geheißen und sah mit Horror, wie der Hund sich von Mrs. Knox löste und zu ihm kam. Barnie presste sich mit seinem massiven Körper an Jean und rollte sich hechelnd auf seinen Knien auf den Rücken. „Ist das ein gutes Zeichen?“, fragte Jean beunruhigt und sie lachte leise. „Ein sehr gutes. Jetzt will er auch noch den Bauch gekrault haben. Und er liebt dich.“ Sie schnaubte amüsiert und ihr Sohn tat es ihr gleich. Jean war weniger überzeugt und starrte auf das riesige Tier auf seinen Knien nieder, dessen schwarze Augen ihn nicht aus ihrem Blick ließen. ~~**~~ Jeremy liebte es, nach Hause zu kommen. Er liebte seine Familie, jedes einzelne Mitglied dieses Chaosclubs. Er liebte das Haus und seine Geschichte, er liebte ihre Tiere und alles, was seine Kindheit und Jugend bestimmt hatte. Er liebte, dass er immer ein Zuhause hatte, in das er zurückkehren konnte. Und so cool L.A. auch war, so sehr er sich mit seinem Sportstipendium und den Trojans auch wohlfühlte…das hier war die eigentliche Quelle seines Glücks und seiner guten Laune. Jean inmitten dieses chaotischen Familienglücks zu sehen, war…das Salz in der Suppe. Ihn mit Barnie zu sehen war absolut hinreißend und Jeremy konnte mit Fug und Recht behaupten, dass er vollkommen verzaubert war, wie sanft und vorsichtig Jean mit dem schwarzen Neufundländer umging, der nur noch Augen für Jean hatte, sobald er seine Angst vor dem Backliner verloren hatte. Auch jetzt, als sie zu ihren Ställen gingen und Jeans große, runde Augen nicht genug von der Umgebung bekommen konnten, die Jeremy ihm zuvor schon auf Bildern gezeigt hatte, seine Hand zuverlässig auf Barnies massivem, schwarzen Schädel, der hechelnd neben ihm herlief und ebenso aufgeregt auf die Kühe starrte, die hinter den großen, eisernen Gattern auf der Weide standen. Sie würden erst abends wieder in ihren Stall zurückkehren um vor Raubtieren geschützt zu sein. „Lisa!“, rief seine Ma und irritiert runzelte Jean die Stirn. Erst als besagte Dame auf sie zugetrottet kam, begriff er anscheinend, dass damit eine der Kühe gemeint war. Um genau zu sein, die Älteste in der Runde. Jeremy stupste sacht seine Schulter an. „Keine Sorge. Lisa ist unsere Leitkuh und sehr neugierig. Ma stellt dich ihr vor, damit sie weiß, dass du keine Bedrohung für die Herde bist“, lächelte er und Jean musterte ihn mit großen Augen. „Keine Bedrohung?“, krächzte er und schluckte schwer. Die Angst, die Jeremy in der Stimme des anderen Jungen hörte, ließ ihn innehalten. Eigentlich hatte er einen harmlosen Scherz machen wollen, doch der blieb ihm im Rachen stecken. „Hast du Angst vor Kühen?“, fragte Jeremy anstelle dessen sanft, in der plötzlichen Erkenntnis, dass es Jean vielleicht gar nicht so recht war, hier zu sein. Dass er sich nur nicht getraut hatte, nein zu sagen. Jean schüttelte den Kopf. „Nein, das habe ich nicht. Ich…“ Er zögerte mit einer Antwort und sah auf Barnie, der aufmerksam die Kuh betrachtete, die sich ihnen näherte. Jean seufzte und holte dann Luft, als müsse er sich Mut machen. Er sah zu Jeremy. „Ich habe sie nur noch nie in real gesehen. Immer nur auf Fotos“, gestand er ein und Jeremy starrte begriffsstutzig in die sorgsam neutralen, grauen Augen. Erst dann wurde ihm die volle Tragweite von Jeans Worten bewusst und Jeremy schluckte. Wieder wallte Wut in ihm hoch. Wut auf Evermore, auf Jeans Familie, auf alle, die Jean jemals wehgetan hatten. „Wir haben hier eine ganze Herde. Wenn du magst, dann kannst du nachholen, was du verpasst hast. Sie sind alle lieb. Sogar Lilly, wenn sie gute Laune hat.“ Jean schluckte. „Aber sie sind so groß und bullig.“ „…und lieb und neugierig.“ Zweifelnd sah Jean auf Lisa, die sie mit ihrem linken Auge musterte und ihren Geruch erschnupperte. Sie schnaufte ungeduldig, weil Jeremy sie nicht begrüßte und er lachte. Er ging zum Gatter und schwang sich in ausreichender Entfernung über die Metallstreben, um sie nicht zu verschrecken. Langsam ging er dann auf sie zu und kniete sich unweit von ihr auf die Weide. Sie kam zu ihm und Jeremy lachte, als sie ihre feuchte Nase in sein Gesicht drückte, aufgeregt und freudig, dass er wieder da war. „Na, hast du mich vermisst, Lady Lisa? Hast du auch gut auf deine Herde aufgepasst?“, grinste er, während er ihr den Arm um den Hals legte und sie hinter den Ohren kraulte. Das Muhen verstand er mit Leichtigkeit als Zustimmung und stolz sah Jeremy, dass Jean näher an das Gatter herantrat. Er blieb auf Lisas linker Seite und ließ sie ruhig näherkommen. Angespannt, aber auch voller Wunder starrte er auf Lisa und streckte ihr schließlich die Hand entgegen, die sie neugierig beschnupperte. „Lisa, das ist Jean. Jean ist seit dem Sommer an der USC und ist unser Backliner. Ein sehr guter Backliner, der Beste, den die Liga zu bieten hat. Er kommt aus Frankreich.“ Jean zuckte mit keinem Muskel, als Jeremy mit ihr sprach und das rechnete er ihm hoch an. Sehr hoch. Nicht, dass Jean von ihm nicht auch schon Verrückteres gewohnt wäre. Aber dennoch! ~~**~~ Es kribbelte in Jean. Überall. In seinen Fingerspitzen. Unter seiner Kopfhaut. In seinen Beinen. Auf seiner Haut. Einfach überall. Er war erfüllt von den neuen Eindrücken, die ohne Gnade auf ihn einstürmten und ihm Dinge zeigten, die er so noch nie gesehen hatte in seinem Leben. Tiere, so weit das Auge reichte. Die Kühe auf ihrer großen Weide. Pferde, direkt dahinter. Sie gehörten nicht nur den Knoxes, sondern auch Leuten aus der Stadt und den benachbarten Städten. Sally war auch dort… die Stute, auf die er als Belohnung für seine Informationen reiten sollte. Jean schauderte. Er wusste noch nicht ganz, wie er sich dieser Belohnung entziehen können würde. Schweine, groß und dick und gefräßig. Hunde, drei eigene, die Knox, sobald sie seiner ansichtig wurden, freudig über ihn herfielen und sich mit ihm auf dem Boden wälzten. Barnie hatte es nicht nehmen lassne, mit ihnen zu tollen und für einen Moment hatte Jean befürchtet, dass die Tiere seinen Kapitän unter sich begruben. Katzen, die über den Hof liefen und sie aus der Ferne betrachteten. Hühner, die gackernd in ihrem Stall hin- und herliefen. Gänse, die ihr Revier verteidigten, aber Knox liebten. Weil er sie aufgezogen hatte. Natürlich. Er war beinahe schon froh, dass er zurück zum Haus geführt wurde um Kuchen zu essen. Vielleicht gab ihm das die Möglichkeit, all die Eindrücke, die auf ihn eingestürmten, zumindest ein wenig zu verarbeiten. Jean hoffte darauf, wirklich, auch wenn er die Chancen dazu als recht gering ansah, insbesondere jetzt, da er sich den beiden Zwillingen gegenübersah, die sich auf die andere Seite des Tisches setzten, an dem er Platz genommen hatte. Knox und seine Mutter werkelten in der Küche und die beiden Mädchen nutzten die unbeobachtete Zeit um mit ihm zu sprechen. Oder sich ihn vorzuknöpfen. „Weißt du, wer wer ist?“, fragte die Linke der beiden, das Pferdeschwanzmädchen, wie Jean sie innerlich getauft hatte. Stumm schüttelte er den Kopf. Optisch konnte er sie auseinanderhalten, ihre Namen jedoch… „Das hier“, sagte sie und deutete nach rechts, „ist Charlotte. Charlie. Ich bin Mia.“ Jean nickte. „Jean.“ Die Beiden kicherten. „Das wissen wir. Also…“ Fragend hob er die Augenbrauen, als beide sich verschwörerisch zu ihm vorbeugten. „Der Kuchen ist für dich“, wisperte Mia. „Für deine Informationen. Wir haben extra wenig Zucker hineingetan, weil du nicht so gerne etwas Süßes isst, das aber unsere Bezahlung für die Informationen ist.“ Es zuckte verdächtig in Jeans Mundwinkel und er schrieb das seinem dünnen Nervenkostüm zu. Das ähnelte so sehr dem, was ihr großer Bruder tun würde, dass er sich ein Seufzen nicht verkneifen konnte. Diese Familie war…unmöglich. Unmöglich in all ihrer Freundlichkeit. Sie war das, was es eigentlich nicht geben konnte und durfte auf dieser Welt. Ein Zeigefinger in seinem Sichtfeld ließ ihn aus seinen Gedanken hochfahren. „Aber!“, sagte Charlotte streng. „Aber?“, fragte Jean nach als nichts mehr kam und geheimnisvoll nickte sie. „Wir brauchen mehr.“ Jean hob die Augenbraue. „Mehr was?“ „Informationen!“ „Worüber?“ „Alles!“ „Das ist nicht sehr präzise.“ „Wir wollen alles!“, mischte sich Mia ein und maß ihn kritisch. Sie verschränkte die Arme vor sich. „Wovon wollt ihr alles?“, fragte eine tiefe, männliche Stimme, bevor Jean antworten konnte und erschrocken fuhr er herum. Er war so tief im Gespräch mit den beiden Mädchen vertieft gewesen, dass er die Umgebungsgeräusche beinahe ganz ausgeblendet hatte und sah sich nun dem Vater seines Kapitäns gegenüber. Zumindest glaubte Jean, dass es der Vater war. Der Mann sah genauso aus wie Knox. Nur älter. Und weil die beiden Mädchen wie am Spieß kreischten und Jean sich ohne Mühe erneut erschreckte. „Dad! DAD!“ Beide sprangen auf und ihrem Vater in die Arme, als hätten sie ihn seit Wochen nicht gesehen und Jean war erstarrt in dem Anblick offen zur Schau gestellter, familiärer Zuneigung. Niemals, auch damals nicht, vor Evermore, war seine Familie so herzlich gewesen und für den Bruchteil einer Sekunde sehnte sich Jean nach nichts Anderem als diesem Gefühl und dieser Verbundenheit. Dann jedoch nahm er Abstand, abrupt und verstümmelnd, von dieser Vorstellung, denn sie stand ihm nicht zu. Er war ein Externer, er hatte eine eigene Familie. Eine, die ihn verkauft hatte, aber eine eigene. Und er liebte seinen kleinen Bruder. „Ihr Pubertiere, schön euch zu sehen!“, grollte der Mann und hob sie beide hoch, um sich mit ihnen um die eigene Achse zu drehen. Unwohl erhob Jean sich und trat beiseite, um ihnen Raum zu geben und sie nicht in ihrer Vertrautheit zu stören. „Dad, Jer ist hier und Jean auch! Endlich sind sie da!“, quietschte Mia begeistert und Jean schluckte. „Wo ist denn mein Sohn?“, fragte Mr. Knox und Charlie deutete in die Küche. „Er hilft Mom!“ Mr. Knox brummte. „Dann solltet ihr euch schnellstmöglich ein Beispiel an ihm nehmen“, scheuchte er die beiden Mädchen aus dem Raum heraus und wandte sich Jean zu sobald sie alleine in Wohnzimmer waren. Das breite Grinsen auf seinen Lippen schmälerte sich zu einem höflichen, zurückhaltenden Lächeln, das Jean unwillkürlich an Day erinnerte. Er schauderte. „Hallo Jean“, sagte Mr. Knox und streckte ihm die Hand entgegen. Jean schlug sie vorsichtig ein und der andere Mann drückte so kräftig zu, dass seine krummen Finger protestierten. „Schön dich kennenzulernen. Ich habe alle deine Spiele als Raven gegen Jeremy gesehen. Und alle Bodychecks.“ Jean durchlief es heiß und kalt. Jetzt wusste er, was an diesem Lächeln ihn unruhig machte. Es warnte ihn vor etwas, das er bisher außer Acht gelassen hatte in seiner Naivität. Er stand dem Vater des Jungen gegenüber, den er – für einen Raven vollkommen normal – gecheckt hatte. Dass diese Spielweise am Rand der Illegalität und durchaus brutal war, war ihm bewusst und er begann langsam zu begreifen, dass diese Brutalität nicht normal gewesen war. Dass sie unerwünscht war und andere Spieler verletzt hatte. So auch Knox. Den Sohn dieses Mannes. „Ich verstehe, dass dieser Sport nicht ohne ein gewisses Level an Gewalt oder an Verletzungen auskommt. Aber mein Junge war blau und grün“, sagte Mr. Knox und das Lächeln erlosch vollständig. Der Mann verstärkte den Griff um seine Hand nicht, hielt sie aber immer noch beständig gefangen. Angst krallte sich ihren Weg in Jean empor. Es war die Angst davor, dass der Mann sich für die Verletzungen seines Sohnes rächen würde, wo er doch schon die beiden Mädchen aus dem Raum geschickt hatte. Wie sollte er ihm erklären, dass er dazu erzogen worden war? Wie sollte er ihm erklären, dass er damals soviel Hass in sich getragen hatte, dass er es genossen hatte, das Glück zu zerstören, was er in den unbedarften Augen anderer Spieler gesehen hatte? Jean öffnete den Mund, doch nichts kam heraus. Seine Kehle war wie ausgedörrt, seine Gedanken eingefroren in Furcht um das Kommende. „Dad…“, durchbrach die Stimme seines Kapitäns warnend die Stimme in diesem Raum und Jeans Blick fuhr hilfesuchend zu dem Jungen, den er grün und blau gecheckt hatte. „Wir haben darüber gesprochen, Dad. Lass ihn, das ist Vergangenheit, Jean ist jetzt ein Teil der Trojans.“ Ruhig und besonnen sprach er Worte, die Jean schmerzten in ihrer Vergebung. Knox‘ Vater ließ seine Hand los, während der blonde Junge seinen Oberarm berührte. Jean nahm seine Hand zu sich. Sie pochte unter dem festen Druck des Mannes, der ihn ernst und prüfend musterte. „Herzlich willkommen in unserem Haus, Jean. Ich freue mich auf gemeinsame Tage und gute Gespräche“, sagte er und wenn Jean eines erkannte, dann war es eine Warnung. So sanft und lächelnd sie auch ausgesprochen sein sollte. ~~**~~ Sein Vater war unmöglich. Unmöglich. Jeremy grollte innerlich schon seit er Jean aus den Händen seines überfürsorglichen Vaters befreit und ihn unter dem Vorwand der Hilfe nach oben gelockt hatte. Aus der Hörweite seiner Geschwister und Eltern heraus. Was fiel seinem Dad ein, Jean unter Druck zu setzen? Vor allem wegen Dingen, die in der Vergangenheit lagen und Gründe hatten, die schlimmer nicht sein konnten? Hätte sein Vater das vorher angesprochen, dann hätte Jeremy ihm einen Hinweis geben können, dass warnende Worte nicht wirklich angebracht wären und Jean nur verängstigen würden. Aber nein, er hatte seine „du hast meinem Sohn wehgetan“-Rede lieber im stillen Kämmerlein vorbereitet. „Er hätte das nicht sagen dürfen“, knurrte Jeremy nun laut und Jean maß ihn vorsichtig von seinem Platz auf dem Bett aus. So vorsichtig, wie er auch seinen Vater gemessen hatte und Jeremy glaubte zu wissen, wie unsicher der andere Junge im Moment war. Verdenken konnte man es ihm auf jeden Fall nicht. „Er meint es auch nicht so. Er weiß nicht, was Evermore dir angetan hat. Deswegen sagt er solche Dinge. Er ist dir nicht böse.“ Jeremy pirschte in Jeans Zimmer auf und ab und Jean legte den Kopf schief. Durchdringend musterten ihn die grauen Augen. „Warst du es wirklich? Grün und blau?“ Schulterzuckend bejahte Jeremy. „So ist nun einmal unser Sport.“ Dass die Ravens einen Scheiß auf Sportlichkeit gaben, wussten sie beide. „Ich hätte das nicht tun sollen“, sagte Jean und senkte seinen Blick auf die ineinander verschränkten Hände. „Du tust es jetzt nicht mehr und das zählt.“ „Er will dich schützen. Und er macht sich Sorgen um dich.“ „Unberechtigt.“ Jean seufzte und dieser Laut ließ Jeremy innehalten. Er hörte auf, Kreise zu laufen und setzte sich in gebührendem Abstand zu Jean ebenfalls auf das Bett. „Hör zu, meine Familie mag dich. Sie hätten sonst nicht zugestimmt, dich hier zu haben. Niemand verurteilt dich für das, was früher geschehen ist.“ „Dein Vater schon.“ „Er wird erkennen, dass er falsch liegt.“ Jean erwiderte nichts, sondern wich seinem Blick aus, indem er auf Barnie starrte, der zu seinen Füßen lag und mit sehnsuchtsvollen Augen zu ihm hochsah. Liebe auf den zweiten Blick, so schien es Jeremy und er seufzte. „Geht mir genauso, Kumpel“, murmelte er und Jean musterte ihn irritiert. „Was?“ Jeremy erstarrte. Ja, er sprach mit Tieren. Er war damit aufgewachsen, mit Tieren zu sprechen. Es war natürlich für ihn, das zu tun. Dass es ihm in diesem Moment herausgerutscht war, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, gehörte nicht dazu. Definitiv nicht. Ebenso wenig, wie es dazu gehörte, dass er etwas herausposaunte, was er für sich behalten sollte. Um jeden Preis. Jeremy schluckte. „Ach…“ Verlegen rieb er sich über den Nacken und deutete auf Barnie. „Er schaut halt, als würde er sich Sorgen darum machen, dass es dir gut geht.“ Das war hoffentlich nahe genug an der Wahrheit…hoffte Jeremy. Jean folgte seinem Blick und gemeinsam starrten sie Barnie an, der unter ihrer Musterung winselte und probeweise mit seiner Rute wedelte. „So sieht er nicht aus“, widersprach Jean, elaborierte jedoch nicht weiter, was er damit meinte. „Doch schon“, versuchte Jeremy sich in einer Gegendarstellung, von der er selbst aber noch nicht einmal wirklich überzeugt war. Barnie brummte leise und furzte sehr ausgiebig und sehr laut. ~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 47: Coddiwomple ----------------------- Coddiwomple: To travel in a purposeful manner towards a vague destination ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Jean starrte auf das Spielbrett vor sich und wurde sich bewusst, dass die Brettspielverrücktheit seines Kapitäns anscheinend anerzogen oder erblich bedingt war. Die Familie hatte beschlossen, den ersten Abend damit zu verbringen, ein riesiges Spiel auf ihrem massiven Esszimmertisch auszubreiten. Dazu hatte jeder von ihnen Figuren, Plättchen und Karten erhalten, um diese zu sortieren. Anscheinend war das Spiel neu, denn weder die Zwillinge noch Knox kannten es und lauschten jetzt ebenso gebannt wie Jean auch den Regeln, die Mrs. Knox laut vorlas und erklärte. Mit manchen Begriffen hatte Jean seine Schwierigkeiten und er hoffte, dass sie nicht wichtig für das Spiel waren und das er mit seinen Wissenslücken niemanden behinderte, denn das zentrale Element des Spiels war eine Kooperation mit- und nicht der Kampf gegeneinander. Sie spielten gegen einen gemeinsamen Feind, eine dunkle Tentakelbedrohung, die angriff. Jeder hatte seinen eigenen Charakter und Jean sah auf die Karte mit der Nonne, die zwei Pistolen in die Luft hielt. Glaubte er Mrs. Knox, so war es ein guter Charakter, mit dem er viel tun konnte. Jean hatte das nickend akzeptiert, war aber zu angespannt um sich wirklich über das Spiel zu freuen, so wie er sich in Los Angeles mittlerweile freute, wenn sie spielten. Auch wenn er das niemals zugeben würde. Jean war insbesondere auch deswegen angespannt, weil er neben Knox und gegenüber von seinem Vater saß und letzterer wie eine schwere, furchteinflößende Präsenz auf ihm lastete, dessen Augen wissend auf ihm ruhten. Er war derjenige, der seinen Sohn verletzt hatte. Der Vater trat für sein Kind ein und schützte es. Das war…logisch. Dass er überhaupt willkommen in diesem Haus war, wunderte Jean, egal, was Knox ihm sagte. „So, bevor wir nun anfangen…muss noch jemand aufs Klo, hat noch jemand Hunger, möchte jemand etwas Anderes zu trinken oder hat vielleicht noch Wurst im Auto?“, fragte Knox‘ Mutter und Jean sah sie mit großen Augen an. „Ihr wisst, wenn wir erst einmal dran sind, dann gibt’s keine Unterbrechungen!“ Jean schluckte. Er hatte viel zum reichhaltigen Abendessen getrunken und Mrs. Knox hatte gesagt, dass sie mindestens vier, eher fünf Stunden spielen würden. Riko hatte ihn, wenn er Lust darauf hatte, auch daran gehindert, sich zu erleichtern und Jean hatte irgendwann gelernt, den Druck auszuhalten, doch hier… vielleicht würde sie es ihm dennoch erlauben, wenn er fragte. Obwohl er weder ihren Zorn noch den ihres Mannes riskieren wollte. Niemand am Tisch sagte etwas, also schwieg auch Jean und zufrieden nickte sie. „Gut, dann fangen wir an!“ Sie spielten Runde um Runde und Jean verstand, was die Schwierigkeit, aber auch die Herausforderung des Spiels war. Von überall kamen Monster und es wurden mit jeder Runde neue auf das Spielfeld geschickt, die das Spielgeschehen beeinflussten. Hatten sie den einen erledigt, tat sich ohne Probleme ein nächster auf und Jean fiel es schwer, all den Strategien und Plänen zu folgen, die diese Familie lautstark diskutierte. So auch jetzt und Jean hatte dem schwarzen Hund beruhigend seine Hand auf den Kopf gelegt, der wiederum schwer auf seinem Oberschenkel lag. Die anderen drei Hunde, Weimaraner, wie Jean beim Essen gelernt hatte, lagen unweit von ihnen auf einem Pulk und schienen sich von dem Chaos nicht beeindrucken zu lassen. Nur ab und an öffnete einer der Hunde ein oder zwei Augen, bevor er zu seinem Dösen zurückkehrte. Esma, Oscar und Anu hießen die Drei. Die Namen der Katzen, die sich im und um das Haus herum trieben, hatte er noch nicht gelernt. Der rote Fluff, wie er den Kater für sich getauft hatte, schien dabei der Faulste zu sein. Zumindest hatte er sich während Jeans Zeit hier in dem Raum kein Stück von dem Kratzbaum bewegt und sah unbewegt, wie sie spielten. Wenn man Jean fragte, so sah er genauso gelangweilt aus wie Andrew und wenn er an so etwas wie Seelenverwandtschaft glauben würde, dann wäre das definitiv Andrews verschollener, dritter Bruder. Er kraulte Barnie hinter den Ohren und gab sich größte Mühe, selbst nicht bei den lauten Diskussionen zusammen zu zucken. „Hey“, murmelte Knox an seiner Seite und Jean sah hoch. „Alles gut?“ Schweigend nickte er und lächelte dann schwach. „Es ist sehr leidenschaftlich.“ „So sind sie. Sie meinen es nicht böse.“ Knox grinste und Jeans Aufmerksamkeit verfing sich an seinen roten Wangen. Knox strahlte, seitdem er hier war. Noch mehr als in Los Angeles. Anders als dort und Jean konnte nicht verhindern, dass sein Blick immer und immer wieder zu den strahlenden Augen und der offensichtlichen Freude auf dem Gesicht seines Kapitäns zurückkehrte. Neuerdings kribbelte es in seinem Magen, wenn er das Gesicht des blonden Jungen so sah und Jean wusste nicht wirklich, was er aus diesem Gefühl machen sollte. Es war nichts Schlimmes und es missfiel ihm auch nicht. Er fühlte latenteAufregung in sich und den Drang, mehr davon zu bekommen. Warum das so war konnte er nicht sagen. „Jean, du bist!“, riss ihn Mia aus seinen Gedanken und er fuhr zusammen. War er? Er hatte den Überblick verloren und stand nun vor der Frage, in welche Richtung er am Besten gehen sollte. Die mit drei Kultisten oder die mit zwei Monstern. Beides gleich schlimm, befand Jean und setzte seine Figur in Richtung der Monster. „Whooa!“ Charlie schnalzte mit der Zunge und Mrs. Knox runzelte die Stirn, bevor sie anerkennend nickte. „Du bist mutig“, sagte sie und Jean widersprach ihr stumm. War er nicht, mit Sicherheit nicht. Er würfelte mit den ihm zur Verfügung stehenden sechs Würfeln und besiegte beide Monster im zweiten Anlauf, auch wenn er dadurch geistige Gesundheit einbüßte. So wollte es zumindest das Spiel und so spielten sie Runde um Runde, bis Jean zu seinem Horror merkte, dass das viele Wasser vom Essen sich bemerkbar machte. Er schluckte und missachtete mit eisernem Willen seinen Körper. Er konnte das durchstehen. Riko hatte ihn länger warten lassen und ihn für sein Versagen mit Stromstößen bestraft. Jean hatte daraus gelernt, wirklich. Konzentriert musterte er das Spielfeld und fixierte sich auf die vor ihm liegenden Aufgaben, seine körperlichen Bedürfnisse soweit es ging ignorierend. Sorgsam achtete er darauf, seine Augen nicht vom Spielfeld zu nehmen und seine Hände, so er sie denn nicht brauchte, zwischen seinen Oberschenkeln einzuklemmen um das nervöse Fingerkneten zu verbergen. Er versuchte wirklich, unauffällig zu sein, doch das war ihm schon in Evermore nicht vergönnt gewesen und so war es nun auch hier, da es immer Menschen gab, die ihn lesen konnten. „Jean“, sprach ihn ausgerechnet der Mann an, vor dem er Angst hatte und angespannt sah er hoch. Das durch die Jahre gezeichnete Gesicht des Mannes war ernst und seine Augen musterten Jean durchdringend. Er schluckte. „Ja, Sir?“, fragte er unruhig, als nichts Weiteres kam und die Diskussion zwischen Mia, Charlie und Knox kam zum Erliegen. Alle Aufmerksamkeit lag auf ihm. „Ist alles in Ordnung?“ „Natürlich…Sir“, schob er nach, als Mr. Knox sturmgeweiht die Stirn runzelte. „Was ist los, Junge?“, fragte er und beschämt starrte Jean auf seine Hände, als er weiterhin im Fokus ihrer Aufmerksamkeit war und es von Sekunde zu Sekunde schlimmer wurde. Er wusste nicht, wie er die Gedanken, die in seinem Kopf waren, zu Worten umformulieren sollte und so blieb er stumm, auch wenn das nicht gewollt war. „Jean?“ Dieses Mal war es Knox selbst, der ihn ansprach, was es nicht besser machte. Seine Fähigkeit zu sprechen war wie blockiert und Jean bekam keinen Zugriff darauf. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde es schlimmer und der Druck auf ihn gewaltiger. Mittlerweile erwartete jeder am Tisch eine Antwort von ihm und das erfüllte Jean mit Horror. „Schnee?“ Eine einfache Frage und sein Kopfnicken darauf benötigte beinahe alle verbliebene Kraft. „Okay.“ Knox verstand, so wie er es die letzten Male auch verstanden hatte und erhob sich. Langsam und bedächtig stellte er sich hin und legte seine Hand fragend auf Jeans Oberarm. „Kannst du aufstehen?“, fragte sein Kapitän ruhig und Jean war sich nicht sicher. War es denn erlaubt? Was, wenn er sich vom Tisch entfernte? „Ist es erlaubt?“, krächzte Jean leise seine Gedanken in die Stille und es war sein Kapitän, der in all seiner Führungsverantwortung antwortete. „Selbstverständlich, Jean. Komm.“ Die Verbindlichkeit in Knox‘ Stimme lockte ihn, wie sie es immer tat und Jean folgte dem anderen Jungen, ohne einen Blick auf die restlichen Menschen im Raum zu werfen. Er wollte ihre Missbilligung und ihre Verachtung nicht sehen. Das würde später so oder so kommen und vielleicht hatte er dann mehr Kraft, sich dem entgegen zu stellen. Es ging hinauf in sein Zimmer, wie er erkannte und Jean fragte sich, ob es okay war, nun ins Bad zu gehen. Er räusperte sich und deutete auf die Tür zum Badezimmer. „Ist… das in Ordnung?“, fragte er und irritiert runzelte der blonde Junge die Stirn. „Dass du ins Bad gehst?“ Jean nickte. „Natürlich, Jean. Jederzeit.“ Knox fragte nicht nach dem Warum. Er überlegte nicht, ob es in Ordnung sein würde. Er entschied, im Bruchteil einer Sekunde und Jean folgte dieser Entscheidung, so wie er seinem Kapitän auch auf dem Spielfeld folgte. Wortlos ging er ins Bad und zog die Tür hinter sich zu. Er ließ keine Sekunde verstreichen um sich um seine Bedürfnisse zu kümmern, da er nicht wusste, wann die Anderen hochkommen und ihn daran hindern würden. Erst, als er fertig war, erlaubte Jean sich einen Moment des Innehaltens. Dass dieser Moment länger dauerte, als er es eigentlich geplant hatte, wurde ihm bewusst, als sein Kapitän plötzlich in der nun geöffneten Tür stand, in sorgsamen Abstand zu ihm im Türrahmen. „Es war lange still und ich habe mir Sorgen gemacht, dass etwas passiert sein könnte.“ Jean verstand. Dass er sich etwas antun würde. Er sah auf seine zitternden Hände. „Was ist passiert?“ Für lange Zeit fand Jean keine Worte für sein Versagen. Dann sprach er das aus, was in seinen Gedanken tobte. „Ich war nicht in der Lage, der Anweisung zu folgen.“ Knox verstand nicht. „Welche Anweisung meinst du?“ Jean knetete seine Finger. „Deine Mutter sagte, dass niemand aufstehen darf während des Spiels…“ „Oh mein Gott.“ Das wuchtige Entsetzen in Knox‘ Stimme ließ Jean hochsehen. „Das meinte sie nicht ernst, Jean. Das ist eine Redensart, blöd daher gesagt. Das ist keine Anweisung, wirklich nicht. Du kannst jederzeit vom Tisch aufstehen und weggehen.“ Schweigend nahm Jean die Worte zur Kenntnis und versuchte, sich aus ihnen einen Reim zu machen. Er versuchte, sich darüber klar zu werden, wieso man so etwas sagte, wenn man es nicht meinte und wie er den Unterschied herausfiltern sollte. „Du kannst hier jederzeit tun, was du möchtest. Du kannst jederzeit deinen Bedürfnissen nachgehen. Du musst niemanden um Erlaubnis fragen. Niemals.“ Jean verstand die Worte und er glaubte sie dem anderen Jungen auch. Allerdings brauchte er etwas, um sie zu verarbeiten. Knox trat aus dem Türrahmen hinein in das Schlafzimmer und Jean folgte ihm. Unschlüssig stand er in dem Raum und wusste nicht, was er nun machen sollte. Wieder hinuntergehen? Das konnte er nicht. Nicht jetzt. Er hätte ihren Blicken nichts entgegen zu setzen. Hierbleiben? Das wäre wohl das Beste um seine Gedanken und dunklen Emotionen sortieren. „Möchtest du wieder nach unten?“ „Nein.“ Noch war das Wort rau und leise, doch Jean hatte seinen Wunsch geäußert und Knox respektierte ihn. „Möchtest du Gesellschaft?“ Wollte er? Jean wusste es nicht. „Ich möchte dich nicht von deiner Familie fernhalten“, sagte er schließlich, doch Knox schüttelte vehement den Kopf. „Wenn du mich brauchst, bin ich für dich da.“ „Aber ich bin keine gute Gesellschaft.“ „Das ist nicht wahr.“ Jean könnte jetzt all die Beispiele aufzählen, in denen er eine schlechte Gesellschaft gewesen war. All seine schlimmen Charaktereigenschaften. Aber diese würden genauso an Knox‘ Entschlossenheit abprallen wie seine Ursprungsthese. Soviel erkannte Jean und er seufzte. Und jetzt, wo er den anderen Jungen näher betrachtete, sah er noch etwas Anderes. Die unruhigen Hände. Die unruhige Körpersprache und die hoffnungsvollen Augen. Selbst die Fußstellung war die Gleiche. Jean hob die Augenbraue, als nun Knox derjenige war, der nichts sagte. Rikos Körpersprache zu lernen war überlebenswichtig gewesen. Er hatte das seit seiner Ankunft nahtlos auf Knox übertragen und war mittlerweile ziemlich gut darin, dessen Körpersprache zu lesen. „Ja“, sagte er deshalb schlicht und Knox blinzelte. „Ja?“ „Du darfst.“ „Was?“ Jean schnaubte. „Das weißt du ganz genau.“ Knox blinzelte und räusperte sich. „Ich glaube nicht, dass du…“ „Doch.“ Nun war Jeans Ton derjenige, dessen Entschlossenheit keinen Spielraum zuließ. Als Knox weiterhin zögerte, trat Jean auf ihn zu und umarmte ihn um den Prozess abzukürzen. Und weil es ihm gut tat. Er mochte den beruhigenden, sonnigen Geruch des anderen Jungen. ~~**~~ Jean lag in dem weichen Bett, die Decke bis zu seinem Kinn hochgezogen. Er starrte aus dem Fenster auf den hell scheinenden Mond, der immer wieder von Wolken verdeckt wurde und das Zimmer in temporäre Dunkelheit tauchte, bevor es unter seinem hellen Schein wieder aufleuchtete wie ein Negativ der Tagwelt. Es war kühl geworden und Jean hatte sein Heil unter der weichen, wohlriechenden Decke gesucht, wenn er schon nicht schlafen konnte. Er hatte es schon vorher befürchtet, erlangte nun aber mit jeder Minute, die schlaflos verstrich, die Gewissheit, dass er nicht ohne die Gegenwart eines anderen Menschen schlafen können würde. Ohne Knox‘ Gegenwart, dessen Geräusche und dessen Bewegungen fiel es Jean schwer, überhaupt zur Ruhe zu kommen und das war in seiner Abhängigkeit beängstigend. Auch wenn, so redete Jean es sich ein, es die erste Nacht war, in der er seit Monaten getrennt von seinem Kapitän schlief. Vielleicht musste er sich erst daran gewöhnen. Bis dem soweit war, würde er angespannt jedem Geräusch dieses Hauses lauschen, das ihm fremd war. Jedes Knarzen und Ächzen, aber auch jedes Geräusch der Tiere draußen. Dass sie so mannigfaltig sein würden, damit hatte Jean nicht gerechnet. Es scharrte an seiner Tür und Jean zuckte gewaltig zusammen. Panisch schoss er mit dem Oberkörper hoch. Instinktiv hatte er die Beine aus dem Bett geschwungen und starrte die Tür an, die sich nun abrupt öffnete. Jean schlug das Herz bis zum Hals und er schluckte mühsam vor plötzlich aufkommender Angst vor der Person, die nun sein Zimmer betreten würde. Doch es war keine Person. Da war niemand…bis auf den durch das Mondlicht beschienenen Schemen der Katze, die Jean auch schon am heutigen Abend gesehen hatte. Das Sinnbild von Minyard, auf so viele Arten und Weisen. Jean verharrte mit rasendem Herzschlag und sah, dass hinter dem roten Fluff auch noch Barnie in den Raum trat, zumindest ließ der große, schwarze, fellige Schatten wenig Interpretationen zu. Jean verharrte. Was sollte er tun? Wie sollte er sich in Anwesenheit der beiden Tiere verhalten, die unabhängig voneinander aber anscheinend in vollkommener Harmonie den Raum erkundeten. Barnie kam eher als der rote Fluff zu ihm und legte seinen massigen Kopf auf die Matratze neben seine Oberschenkel. Jean sah die Augen zwar nicht, aber er konnte erahnen, welcher Blick ihm gerade zuteil wurde. Leise räusperte er sich. „Was?“, fragte er, obwohl er sich sicher war, dass der Hund ihn nicht verstehen würde und probeweise wedelte Barnie mit seiner Rute. Er winselte kurz und Jean war noch viel verlorener in seinem Nichtwissen. Währenddessen sprang der Fluff lautlos auf sein Bett und tastete sich langsam, beinahe suchend vor, bis er schließlich auf der Mitte der Decke stehenblieb und mit dem Schwanz zuckte. Jean beobachtete ihn vorsichtig dabei und überlegte sich, ob er Knox vielleicht eine Nachricht schreiben sollte, dass die Tiere sich bei ihm befanden. Und wie er sich verhalten sollte. Barnie winselte leise und mit Horror sah Jean, wie der große Hund sich aufrichtete. Er machte allen Ernstes Anstalten, sich ebenfalls auf das Bett zu begeben und Jean schluckte. Die Matratze war zwar groß, aber für den Hund und ihn…? Wenigstens hatte sich sein Herzschlag mittlerweile beruhigt. Barnie tat es tatsächlich und stemmte sich auf das Bett. Zuerst waren da die Vorderpfoten, die er vorsichtig auf die Matratze setzte. Dann zog er umständlich seinen Bauch und seine Hinterpfoten nach und war damit größer als Jean, der mit wachsendem Unbehagen zu dem Hund emporstarrte, der ihn anschnaufte und sich dann vorsichtig neben ihm legte. Der Kater indes war noch nicht so weit und schnupperte an der Decke. Vielleicht sollte Jean auch überhaupt nicht schlafen. Zunächst erhob er sich und ging auf leisen Sohlen zu seiner Tür. Er lehnte sie soweit an, dass man den Eindruck gewinnen konnte, dass sie geschlossen war und er so vor anderen Blicken geschützt sein würde. Erst dann kehrte er zu seinem Bett zurück und ließ sich vorsichtig darauf nieder. Dadurch, dass es – ganz zu Jeans Unruhe - in den Raum hineinstand, konnte er sich auf die andere Seite legen und sogar ein gutes Stück seiner Decke zurückerobern, die nicht unter diesem Berg von Hund vergraben war. Jean seufzte und zog sich langsam das Kissen heran. Der Kater schien nicht bissig zu sein und seine Körpersprache deutete auch eher auf Neugier und Erkundungsdrang als auf Aggression. Mit Barnie war es das Gleiche, auch wenn dieses riesige Tier sich nun an ihn heranrobbte, kaum, dass Jean sich hingelegt hatte. Es presste sich mit seinem Rücken an Jeans Vorderseite und hob winselnd den Vorderlauf. Vielleicht war das der Grund, warum sich die Angst davor, dass sich ein schwerer Körper an ihn presste, zumindest in diesem Augenblick in Grenzen hielt. Jean befürchtete eine Panikattacke, doch diese blieb aus. Es war, als wüsste sein Unterbewusstsein genau, dass dieses Wesen kein Mensch war und dass er nicht in Gefahr war. So hatte er auch kein Problem damit, seinen Arm um Barnie herum zu schlingen und ihn wie gefordert den Bauch zu kraulen, ganz zur Freude des schnaufenden Hundes. „Aber wehe, du verpestest die Luft wieder“, mahnte Jean leise und hatte keine Sekunde später eine sanfte Felltatze auf der Wange, die dort anscheinend etwas ertastete. Bewegungslos verharrte er und wartete, bis sich der Fluff in seinem Nacken zusammengerollt hatte, eine Pfote immer noch auf seiner Wange. Privatsphäre? Fehlanzeige. Jean seufzte erneut und schloss ergeben die Augen. Was blieb ihm auch anderes übrig als einfach liegen zu bleiben und zu warten, bis die beiden Tiere aus dem Zimmer verschwunden waren und er wieder Platz hatte, sich auf dem Bett herumzuwälzen? Das Schnurren an seinem rechten Ohr teilte ihm mit, dass er es auf absehbare Zeit vergessen konnte. Ebenso wie das leise Schnarchen, das schlussendlich aus dem Hund vor ihm kam. ~~**~~ Jeremy hatte sich extra den Wecker gestellt, um seine Familie beim morgendlichen Versorgen der Tiere helfen zu können – wie er es immer tat, wenn er hier war. Auch wenn es viel zu früh war und noch viel zu dunkel, so freute er sich doch über das Gefühl der Verbundenheit, das ihn ausfüllte. Er machte sich fertig und schlich sich aus leisen Sohlen aus seinem Zimmer, in der Hoffnung, dass Jean in seinem eigenen Zimmer weiterschlief, bis sie mit der ersten Runde fertig waren. Jean hatte sich den Schlaf redlich verdient und ein wenig Ausschlafen würde ihm gut tun, insbesondere nach dem letzten Abend. Jeremy bekam immer noch eine Gänsehaut, wenn er daran dachte, was Jean zunächst angenommen hatte. Er hatte den anderen Jungen beruhigen können, aber es hatte Jeremy viel Überzeugungsarbeit gekostet, dass er nicht gezwungen war, wieder hinunter zu gehen. Dass seine Familie es ihm nicht übel nahm, wenn er das Spiel nicht beendete, weil er es nicht konnte und weil es ihm nicht gut ging. Jean hatte es ihm schließlich geglaubt und ihm versprochen, sich keine Sorgen zu machen. Was wiederum Jeremy mit kritischer Musterung hingenommen hatte. Jean hatte es ihm zweimal versprechen müssen, bevor auch er nachgegeben und Jean schweren Herzens alleine gelassen hatte. Alle knarzenden Dielen des Obergeschosses vermeidend schlich Jeremy an Jeans Zimmer vorbei und hielt überrascht inne, als er dessen Tür angelehnt sah. War er doch schon auf? Jean würde doch niemals bei offener Tür schlafen. Stirnrunzelnd kam Jeremy näher und schob sie ein Stück weiter auf. Ungläubig hielt er inne und blinzelte. Nein, Jean war noch nicht auf. Jean schlief noch. Aber nicht nur er. Barns lag bei ihm im Bett und nahm den allermeisten Raum ein. Jean hatte seinen Arm um das schwarze Monster geschlungen und schlief tief und fest. Gargamel hatte sich an Jeans Nacken gekuschelt und eine Pfote quer über das Gesicht des Jungen gelegt. Jeremy presste eine Hand vor seinen Mund, weil er Angst hatte, dass ihm ein Laut der puren Verzückung entkommen würde. Pure, reine Verzückung. Das hier war der Junge, der Jean verdient hatte zu sein. Umsorgt und geliebt, im Einklang mit sich und der Umwelt. Das war, was Jean verdient hatte. Liebe, bedingungslose Liebe und einen Haufen von Haustieren, die ihn liebten und als Kissen missbrauchten. Gut, in Gargamels Fall waren es eher die Wärme eines Menschen, seine Atmung und sein Herzschlag, aber tief in sich glaubte Jeremy auch daran, dass der Kater doch auch Liebe für sie alle empfand. Jeremy holte vorsichtig sein Handy aus der Tasche. Er würde das im Normalfall nicht machen, nicht bei jemandem, der schlief, doch er konnte nicht anders, als lautlos ein Bild von Jean zu machen. Er würde es niemandem zeigen, niemals, aber das musste für die Nachwelt festgehalten werden. Damit Jeremy es sich wieder und wieder anschauen konnte, wieviel Frieden es um Jean herum in diesem Moment gab und wie gut Jean sich in der Mitte des Ganzen machte. Lächelnd steckte Jeremy sein Handy weg und zog sacht die Tür wieder heran. Beschwingt ging er nach unten. ~~**~~ Jean wachte mit einem Ruck auf, als das Bett sich bewegte in dem er schlief. Panisch schreckte er hoch, nur weg von einer potenziellen Gefahr und versuchte, sich innerhalb von Sekunden auf eine wache Ebene zu ziehen. Jahrelange Notwendigkeit dessen half ihm und er strauchelte unter einem lauten Maunzen von der anderen Seite des Bettes an die Wand des Raumes, der ihm im ersten Moment vollkommen unbekannt vorkam. Panik überflutete ihn, bis er sich bewusst wurde, dass die hellgrauen, freundlichen Wände nicht Evermore waren. Das Bett nicht seins in Evermore war. Die rote Katze, die mit zuckendem Schwanz und kritischem Blick in der Nähe der Tür stand, diejenige der Familie Knox war. Er war in Susanville, bei den Eltern seines Kapitäns. Er war im Urlaub. Riko war tot. Er konnte ihm nicht mehr wehtun. Jean erkannte, dass die Tür gerade weit genug aufstand, um den großen schwarzen Hund durchgelassen zu haben und er wurde sich bewusst, dass es dessen Bewegung gewesen sein musste, die ihn aus seinem unmöglich geglaubten Schlaf herausgerissen hatte. Tief atmete er durch und schloss seine Augen. Nur der Hund, niemand Anderes, sagte er sich immer und immer wieder. Es dauerte, doch dann glaubte er sich selbst und sein Herzschlag beruhigte sich. Wenn er in das Haus lauschte, dann hörte Jean auch die Geräusche, die davon zeugten, dass er nicht der Erste war, der wach war. Wie auch? Er sah auf den Wecker, der neben dem Bett stand und stellte fest, dass es halb acht war, viel zu spät eigentlich. Er hatte viel zu lang geschlafen, trotz der Anwesenheit der platzraubenden Tiere. Dass er überhaupt geschlafen hatte, war ein Wunder. Die Katze setzte sich und fing an ihre Vorderpfoten zu putzen, was Jean zum Anlass nahm, sich ebenfalls ins Bad zu begeben. Wenn er schon so spät aufstand, dann sollte er sich jetzt auch beeilen. In Windeseile duschte er sich und putzte sich die Zähne, auch wenn er es bereute, den weichen Stoff des gut riechenden Handtuches nicht länger um sich gewickelt lassen zu können. Nicht, dass Renees Hoodie nicht ähnlich weich und ebenfalls gut riechend war, aber… Jean öffnete die Tür und erschrak, als der rote Fluff beinahe direkt davor saß und zu ihm hochstarrte. Er maunzte und strich an ihm vorbei ins Bad um anscheinend alles genau zu inspizieren, allen voran die Dusche. Wenn Jean mehr Zeit gehabt hätte, hätte er versucht, das Tier zu streicheln, doch so beeilte er sich, nach unten zu kommen, wo ihn die Stimmen von Knox und seinem Vater empfingen, die herzlich zusammen lachten. Jean verharrte am Treppenabsatz und runzelte die Stirn. Was wäre besser, sie nicht zu stören oder sie nicht weiter warten zu lassen? Er entschied sich für Ersteres, schließlich hatten die Beiden sich lange nicht gesehen und würden sicherlich Zeit zu zweit genießen wollen. Erst, als die Hintertür auf- und zuging, löste sich Jean aus seiner Starre. Anscheinend hatte Mr. Knox die Küche verlassen und Jean konnte gefahrlos zu seinem Kapitän stoßen. Tief einatmend fasste er sich ein Herz, ging in die Küche und sah sich Auge in Auge alleine mit Knox‘ Vater. Oh nein. Jean erstarrte im Türrahmen und schluckte nervös. Er verschränkte seine Finger ineinander und sah, dass Mr. Knox sich seiner Anwesenheit nun auch bewusst wurde. Überrascht hielt er inne und hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte. „Guten Morgen Jean“, übernahm der Mann die Führung und Jean war äußerst dankbar darum. „Guten Morgen, Mr. Knox“, erwiderte er und wartete ab, was der Mann zu sagen hatte. Ob er nochmals eine Warnung aussprechen würde. „Hast du gut geschlafen? Die Frage überraschte Jean über alle Maßen. Er hatte keinen Smalltalk erwartet und schon gar keine Frage nach seinem Befinden. „Ja, das habe ich“, erwiderte er daher neutral und erwähnte die beiden Tiere nicht, die ihn davon abgehalten hatten, sich zu bewegen. Dass er überhaupt so lange geschlafen hatte, war Jean ein Rätsel, wenn er genau darüber nachdachte. Es musste wohl die Erschöpfung und das viele Essen gewesen sein. „Das freut mich. Setz dich, Jer ist gerade Eier aus dem Stall holen. Er sagte, du isst gerne Rührei zum Frühstück.“ Stumm nickte Jean. „Ich bin jedoch auch in der Lage, alles andere zu essen“, erläuterte er dann, als ihm einfiel, dass es unhöflich sein würde, seinen Gastgebern bestimmte Dinge abzuverlangen, insbesondere nach dem gestrigen Abend. Ihm war ja schon unangenehm, dass Renee Knox das verraten hatte. Wobei ihm einfiel, dass er Renee noch die Fotos der Tiere schicken und ihr sagen müsste, dass es ihm gut ging, Mr. Knox sah ihn seltsam an und Jean senkte den Blick auf den Boden, während er an den Tisch herantrat. „Hier?“, deutete er zögerlich auf den Platz, auf dem er auch schon gestern zum Kuchen essen gesessen hatte und Mr. Knox brummte bestätigend. Er bewegte abrupt due Hand und aus seinem eingeschränkten Sichtfeld heraus nahm Jean das wahr. Schlagartig zuckte er zusammen. „Geht es dir wirklich gut?“, fragte der andere Mann und Jean bemühte sich zu nicken. Er wollte ein guter Gast sein und so sah er hoch, wie er hoffte, unauffällig in die Augen von Knox‘ Vater. Nun sah er auch, wohin der Griff gegangen war, denn er hielt Jeans Tasse in den Händen. „Kaffee?“ „Gerne“, presste Jean hervor und der Mann schenkte ihm schwarzen Kaffee ein. So wie er ihn immer trank – zweifelsohne hatte sein Kapitän seine Familie darüber in Kenntnis gesetzt. Mr. Knox reichte ihm die Tasse und stellte noch Gläser auf den Tisch, deren roten Inhalt Jean als Marmelade identifizierte. Glaubte er zumindest. „Haben wir dich gestern überfordert?“, fragte Mr. Knox und Jean schluckte. Er wollte ehrlich sein, aber wie ehrlich durfte er mit dem anderen Mann sein? „Ich…habe etwas missverstanden“, erwiderte er schließlich in der Hoffnung, dass Knox auch die Wahrheit gesagt hatte und dessen Vater nickte bedächtig. „Hast du Fragen zu diesem Missverständnis oder konnte Jeremy bereits alles aufklären?“, hakte er nach. „Er hat es aufgeklärt und es wird nicht wieder vorkommen“, versicherte Jean und in dem Moment ging die Tür auf. Mit bodenloser Erleichterung sah er, dass Knox die Küche betrat, die Wangen rot und auf seinem Gesicht ein glückliches Strahlen. Er trug einen Korb in den Händen und hielt ihn nun so, dass Jean auch den Inhalt sehen konnte. „Guten Morgen! Ich habe unseren Ladies frische Eier entrungen. Die besten Eier, die du jemals essen wirst!“, grinste er und Jean hob die Augenbraue. „Die Besten…“, echote er und sein Kapitän nickte gewichtig. „Die Allerbesten! Dad, sind Ma, Mia und Charlie schon zurück?“ Mr. Knox schüttelte den Kopf. „Nein, Olivia ist immer noch hinten auf den Feldern. Das Problem mit den Landmaschinen, was die Arbeiter heute Morgen gemeldet haben, war anscheinend doch etwas schwieriger als gedacht. Heute ist also Herrenfrühstück angesagt.“ Knox grunzte. „Gut, dann mache ich erst einmal für uns Rührei.“ Stumm und zum gewissen Teil auch fasziniert sah Jean den Beiden zu, wie sie in Harmonie in der Küche werkelten und sich dabei immer wieder spielerisch beleidigten oder aus dem Weg schoben. Selbst als sein Vater noch sein Vater gewesen war, hatte Jean niemals ein derart herzliches Verhältnis zu ihm gehabt. Sie waren immer irgendwie höflich und viel reservierter zueinander gewesen als die Beiden, die er gerade vor sich sah. Als Mr. Knox seinem Sohn durch die Haare wuschelte, fühlte Jean ein irritierendes Kribbeln auf seiner Kopfhaut, das er in einem großen Schluck Kaffee ertränkte. Da war Jean beinahe schon froh, dass das Rührei fertig war und Vater und Sohn sich ebenfalls setzten. Knox hatte tatsächlich Recht…es war das beste Ei, das er jemals gegessen hatte. „Was habt ihr Beiden eigentlich heute vor?“, fragte Mr. Knox und hilfesuchend sah Jean zu dem blonden Jungen. „Wir haben noch keine wirklichen Planungen gemacht“, erwiderte dieser und Mr. Knox brummte. „Das Wetter soll heute gut sein. Wie wäre es, wenn ihr ein Stück des Trails wandert?“, schlug er vor und Jean konnte damit überhaupt nichts anfangen. „Der Bizz Johnson National Recreation Trail ist ein 41 Kilometer langer Wanderweg, der hier in Susanville startet und der durch coole Wälder und einen Canyon führt“, erläuterte sein Kapitän und Jean spürte Interesse in sich aufsteigen. Ein bisschen sportliche Betätigung würde nicht schaden und durch die Natur zu wandern, war etwas, von dem er schon in Evermore immer geträumt hatte. Hinein in die dichte Wildnis, dort, wo ihn niemand finden würde. „Das wäre sehr schön“, gab Jean vorsichtig sein Interesse preis und erlebte erneut, wie es sich anfühlte, wenn seinen Wünschen gefolgt wurde. ~~**~~ Jean vergrub seine Nase in den Kragen seines Hoodies und zog seine Jacke enger. Es war eine wärmende Jacke, die erste, die er sich selbst gekauft hatte. Natürlich wieder mit Fahima, die es sich anscheinend zur Lebensaufgabe gemacht hatte, ihn neu und gut einzukleiden. Jean mochte ihren Stil für ihn und sein Team mochte anscheinend, wie er sich kleidete. Zumindest sparten sie nicht mit Kommentaren, wenn er etwas Neues trug und insgeheim vermutete Jean, dass es die Rache für seine Kritik auf dem Spielfeld war. So kritisch, wie er sie beim Training analysierte, maßen sie ihn und das, was er trug, und machten Verbesserungsvorschläge, die nicht wirklich welche waren, sondern Ironie. Wie er mittlerweile wusste. Die einzige Person, auf die Jean wirklich hörte, war Fahima und so trug er ihre Jacke zu Renees Hoodie. Was auch nötig war, denn es war kalt. Viel viel kälter als im Sommer und Jean wusste noch nicht, ob ihm das wirklich gefiel, erinnerte es ihn doch an die Kälte Evermores, die jahrelang in seinen Knochen gesteckt hatte. Die Aussicht aber, die sich ihm jetzt schon bot, lenkte seine Gedanken ab von alle dem, was West Virginia ausgemacht hatte. Sie waren mit Knox‘ Auto zum nächsten Wanderparkplatz gefahren und standen bereits jetzt schon im Wald, in der bunten Natur, die so wunderbar frisch roch. Kalt, herbstlich, einfach wunderbar. Es waren einige Menschen unterwegs, aber nicht so viele, wie er in Los Angeles tagtäglich sah und so kam es ihm beinahe einsam vor. Kiefern und Tannen säumten die Wege, nur unterbrochen Laubbäumen, die er Landschaft einen bunten Anstrich gaben. Hölzerne Brücken, die sich über den halbtrockenen Canyon spannten, sollten an die vergangenen Eisenbahn- und Holzfällertage erinnern, so hatte es zumindest Knox ihm erklärt. Staunend setzte sich Jean in Bewegung und ging neben seinem Kapitän direkt in den Wald hinein. Es war etwas diesig, aber dennoch wunderschön. Jean mochte, wie die Kiesel unter seinen Sneakern knirschten und wie die Bäume sich im Wind bewegten und mit ihren Nadeln und Blättern ihre ganz eigenen Geschichten erzählten. „…offiziell wurde die Fernley & Lassen Railway am 16. Oktober 1909 von der SP gegründet. Sie sollte das große Werk der Red River Lumber Company in Westwood zu erreichen, das sich im Besitz von Thomas Walker befand. Außerdem sollte sie als Abkürzung zwischen der Overland Route der SP und ihrer "Shasta Route" fungieren, die die Cascade Range durch Nordkalifornien und Oregon durchquerte. Bis zum Beginn der Vermessung 1912 waren es aber schließlich noch weitere Jahre. Es gab zwar mehrere Baustopps und der Baubeginn wurde immer wieder verschoben, aber dann wurde die Eisenbahn schließlich 1914 bis Westwood fertiggestellt, wo im selben Jahr Walker's Mühle den Betrieb aufnahm…“, las Knox aus einer Broschüre vor und Jean nahm die Informationen eher nebenher auf. Amerikas Geschichte interessierte ihn nicht, weil er tief im Grunde seines Herzens dieses Land hasste. Er machte es in einem Akt der traumatisierten Rache für all das verantwortlich, was ihm geschehen war, so unfair das auch sein mochte. Einzig und alleine die Natur liebte er bedingungslos. Entsprechend froh war Jean, als Knox die Geschichtsstunde beendete, die Day vermutlich tausendmal besser gefallen hätte und konzentrierte sich auf ihren Weg und die Umgebung, die schöner nicht sein konnte. Er liebte den Bach, der mit einem leisen, beständigen Rauschen neben ihnen herfloss. „Und hier gibt es Waschbären, Wiesel, Otter, Biber, Falken, Eidechsen, Eulen, Kojoten, Stinktiere, Schlangen, Pumas, Schwarzbären, Hirsche und Eichhörnchen“, machte Knox nahtlos bei der Fauna weiter, die es anscheinend hier gab, und Jean hob zweifelnd die Augenbraue. „Pumas, Kojoten und Bären?“ Knox lachte. „Ja, aber selten geht eine Begegnung tödlich aus, wenn man die Tiere nicht reizt und ihren Lebensraum respektiert.“ Jean hoffte nur, dass ihm das auch gelang. Knox hielt sein Tempo und gemeinsam erkundeten sie die Natur, die sich vor ihnen entfaltete und mit immer neuen, abwechslungsreichen Ansichten aufwartete. „Es ist sehr schön hier“, murmelte Jean ehrfürchtig, als sie vor einer riesigen, alten Felsformation standen, die vermutlich älter war als alle Einwohner der Stadt zusammen. Er machte ein Foto, um den Anblick für sich selbst festzuhalten und sich nachher, wenn er nicht mehr hierherkam, daran zu erfreuen. Ein Schnaufen neben ihm ließ ihn zu Knox sehen. „Ja bitte?“, fragte er in das erwartungsvolle Gesicht und der blonde Junge grinste. „Ich möchte ein Selfie mit dir!“ Ein Selfie, so hatte Jean es gelernt, war, wenn man sich in einem Anflug an Narzissmus selbst fotografierte und sich die Kamera seines Handys vor die Nase hielt. Er selbst hielt nichts davon, Bilder von sich zu machen, doch mit Knox darauf war es sicherlich etwas Gutes. Vorsichtig trat Jean näher an den anderen Jungen heran und hielt sein Handy probeweise nach oben. Es war etwas frickelig, sie beide auf das Bild zu bekommen und so richtig wollte es auch nicht klappen. „Darf ich etwas näherkommen?“, fragte Knox schließlich und Jean brummte. „Ja oder nein?“ Diese Frage erinnerte ihn so sehr an Minyard und Josten, dass Jean alleine deswegen schon näher an Knox heranrückte, es als vielleicht notwendig gewesen wäre. Sie standen nun so nahe beieinander, dass Knox‘ Haare ihn kitzelten, aber dafür gelang das Foto. „Los, zeig mal!“ Gehorsam öffnete Jean seine Galerieansicht und gemeinsam starrten sie auf das Bild, wie Knox breit und glücklich grinste, den Kopf leicht in seine Richtung geneigt, und er selbst neutral in die Kamera starrte. Konnte es eine bessere Versinnbildlichung ihrer Persönlichkeiten geben als das? Jean befand, dass nicht. Aber anscheinend gefiel es auch seinem Kapitän und so schickte Jean es ihm und Renee. „Weiter?“ Jean nickte. „Weiter.“ Sie liefen Kilometer um Kilometer, bis die ersten Regentropfen vom Himmel fielen und Jean einen kritischen Blick in Richtung Wolken warf. Sie waren laut Knox seit ein paar Minuten im Devils Corral Trailhead angekommen und befanden sich in einer Schlucht mit einem Bach und vielen Bäumen, die ihn säumten…einer absoluten Wildnis. In einiger Entfernung konnte Jean eine offene Hütte ausmachen, die sich schier perfekt in den Wald einfügte. Jean setzte sich die Kapuze seiner Jacke auf, als der Regen stärker wurde und Knox tat es ihm mit einer gekräuselten Nase gleich. „Soviel zum Thema gutes Wetter“, murrte er und Jean erinnerte sich an die Wehrsonne und den Unwillen seines Kapitäns, schlechtes Wetter zu ertragen. „Wie gut, dass du keine Bettdecke hast, um dich darunter zu verkriechen“, sagte Jean trocken und zum Dank öffnete der Himmel seine Pforten gleich noch ein Stück mehr. Knox grollte und Jean gestattete sich ein kleines Lächeln. „Wenigstens ist der Regen nachher eine gute Ausrede für heißen Kakao mit Marshmallows.“ Wann er das letzte Mal heißen Kakao getrunken hatte, wusste Jean nicht. Irgendwann in Frankreich musste das gewesen sein und erst jetzt, wo Knox das aussprach, wurde ihm bewusst, dass er einen solchen Kakao gerne einmal wieder probieren würde. Auch wenn Jean nicht verstand, was diese weißen Schaumdinger in dem Kakao zu suchen hatten. Vermutlich sollten sie das ohnehin schon süße Getränk noch süßer machen. Zumindest würde Jean das nicht annähernd wundern. Der Regen wurde stärker und Knox deutete auf den hölzernen Unterstand. „Wollen wir uns da unterstellen, bis der Regen aufgehört hat?“, fragte er über das Rauschen der Regentropfen auf den Bäumen und auf das Wasser. Jean nickte und der blonde Junge grinste. „Wer zuletzt da ist, verliert!“, rief er und sprintete los. Jean hingegen vergeudete mehrere, kostbare Sekunden, in denen er seinem Kapitän hinterherstarrte, bis er begriff, was dieser gerade eigentlich gesagt hatte. Dann grollte er und sprintete ihm nach, jedoch ohne Chance. Knox war verdammt schnell als Striker und hatte den Vorteil der Überraschung für sich genutzt. Strahlend empfing er ihn und besaß die Frechheit, Jean auch noch die Zunge herauszustrecken, als er Sekunden nach ihm ankam. „Gewonnen!“, jubelte sein Kapitän und Jean schnaubte. „‘Gewinner des Day Spirit Awards betrügt beim Sprinten‘ würde sich gut als Schlagzeile in dem Blatt des Reportes machen“, sagte er mit hocherhobener Augenbraue und Knox lachte, während der Regen auf das Holzdach trommelte und die diesige Welt in einen Schleier aus feinem Sprühnebel getauchte wurde, der die dicken Regentropfen begleitete. „Allan“, korrigierte Knox ihn wie üblich und Jean schnaubte. Jetzt, da sie im Trockenen waren, konnte er auch seine Kapuze wieder absetzen. Behutsam glättete er seine Haare, immer darauf bedacht, die Kopfhaut nicht mehr als unbedingt nötig zu berühren. „Komm, setzen wir uns, es dauert sicherlich etwas, bis er Regen aufgehört hat.“ Jean folgte seinem Kapitän auf eine der hölzernen Bänke, die an der einzigen Wand der Hütte standen und zog seinen Rucksack ab. Sowohl er als auch Knox hatten ein Carepaket mitbekommen, bestehend aus Obst, Wasser, Kaffee und Brot. Die Süßigkeiten hatte er in Knox‘ Rucksack geschmuggelt, als niemand hingesehen hatte. Jean griff zu seinem Thermobecher und nahm einen Schluck des bitteren, schwarzen Gebräus, während Knox kritisch die Umgebung inspizierte. Auch das rang Jean ein wohl verstecktes Lächeln ab. Er mochte den Regen. Er mochte den Geruch, den der Regen brachte. Die Frische des Waldes, gepaart mit der Reinheit der Regentropfen. Es roch ganz anders als in Evermore, auch anders als in Marseille oder in Los Angeles. Einzigartig wohltuend. Dass es nun auch noch donnerte, freute Jean auf eine sehr urtümliche Art und Weise. Er hatte schon lange kein Gewitter mehr miterlebt, daher freute er sich über das Donnergrollen, das auf dem Weg zu ihnen war. Ganz im Gegensatz zu Knox, der neben ihm saß und bei dem zweiten Donner so stark zusammenzuckte, dass Jean das körperlich auf der Bank spürte. Stumm musterte er den blonden Jungen, der verlegen lächelte und dessen Augen aber fahrig und nervös hin- und herhuschten. Jean erkannte Angst, wenn er sie sah. Knox‘ Körperhaltung, seine Nervosität, seine Unruhe…all das deutete daraufhin, dass ihm das Gewitter Angst machte. Zumindest konnte Jean sich keinen anderen Grund vorstellen für die Änderung seines Verhaltens. Als es blitzte und Knox den Kopf einzog, als müsste er sich vor dem Blitz schützen, erlangte Jean Gewissheit und er ließ seinen Kaffeebecher langsam sinken. Bewusst langsam drehte er sich zu seinem Kapitän und dieser versuchte sich an einem schiefen Lächeln ohne wirkliche Freude dahinter. Jean runzelte die Stirn. „Du hast Angst“, sagte er und Knox nickte schwach. „Vor Gewittern schon. Aber das wird schon. Es ist okay, wenn jemand dabei ist.“ Gezwungen lächelte er durch den nächsten Donner und Jean nahm ihm keins der Worte ab. Es war nicht okay und um Brian zu zitieren, es war okay, dass es nicht okay war. „Was würde dir helfen gegen deine Angst?“, echote Jean Brians Frage und Knox zuckte mit den Schultern. Seine Augen huschten von ihm weg auf den Boden der Hütte und Jean wartete geduldig, bis der andere Junge anscheinend die Kraft fand, um seine Frage zu beantworten. „Normalerweise meide ich Gewitter, aber dafür ist es jetzt zu spät.“ Nervös lachte er und Jean verharrte stumm. Fahrig strich Knox sich über die Haare und ein erneuter Blitz mit dicht gefolgtem Donner ließ ihn aus der Bewegung heraus zusammenfahren. „Vielleicht…ähm…dürfte ich mich vielleicht anlehnen? Meine Ma hat mich immer umarmt, wenn es früher Gewitter gab und das hat es nicht ganz so schlimm gemacht.“ Jean starrte Knox schweigend in die Augen. Der andere Junge hatte soviel für ihn getan, hatte seit Monaten sein Leben für Jean umgekrempelt und ihn – das dysfunktionale, gewaltbereite Monster – zu sich geholt. Er kümmerte sich jeden Tag darum, dass es Jean gut ging und dass die Erinnerungen aus Evermore mit ebenso vielen Erinnerungen aus Los Angeles aufgewogen wurden. Er hatte Jean gezeigt, was Leben bedeutete und das Mindeste, was Jean tun konnte, war Knox seine Angst zu nehmen…oder es zumindest zu versuchen. Eben jener interpretierte sein Schweigen als Ablehnung und wandte sich mit einem wackligen Lächeln ab. „Entschuldige, ich hätte nicht fragen…“, begann er, doch Jean dachte nicht daran, Knox ausreden zu lassen. „Komm her“, grimmte er und öffnete seine Arme wie er hoffte, in einer Geste der Einladung. Mit weiten, blauen Augen musterte der andere Junge ihn, unschlüssig, was er tun sollte und Jean hob die Augenbraue. „Ich meine es ernst“, schob er nach und langsam wurde ihm geglaubt. Behutsam kam Knox näher und lehnte sich erst vorsichtig, dann steif in seine Arme. Jean zog ihn zu sich heran, sodass Knox den größtmöglichen Körperkontakt zu ihm hatte. Es war zwar ein bisschen unangenehm mit den nassen Jacken zwischen ihnen, aber grundsätzlich hatte Jean gerade nichts gegen diesen engen Kontakt. „Danke“, murmelte Knox und Jean brummte. Als der nächste Blitz kam, versteckte Knox sein Gesicht an seiner Brust. Jean zog ihn enger an sich und presste seine Lippen auf die blonden, nassen Haare, deren Geruch augenblicklich seine Nase erfüllte und ihm von einer beruhigenden Mischung aus Winter, Heimeligkeit und Natur zeugte. Jean hoffte, dass die Geste, die er sich bei Knox‘ Mutter abgeschaut hatte, beruhigend wirkte. Schließlich hatte sie den schwarzen Hund ebenfalls mit einem Kuss auf den Kopf beruhigen können. Knox zitterte und Jean strich ihm beruhigend über den Rücken. Doch anscheinend war das nicht genug Ablenkung vor dem lauten Donner. „Knox, hör mir zu“, sagte er bewusst in seiner Muttersprache, seine Stimme ruhig und tief. Er glaubte nicht, dass es momentan wichtig war, was er erzählte oder dass er seine Worte übersetzte. Es war wichtig, dass er den anderen Jungen ablenkte, ihm einen Anker gab. Und so erzählte Jean von den ersten Malen, die er in sein Buch geschrieben hatte, das nun schon beinahe voll war. Er erzählte von seinen Gefühlen und wie er sich auch jetzt noch an sie erinnerte. Seine Lippen wurden durch Knox‘ Haare gekitzelt, während er auf das Unwetter hinausstarrte und den Jungen in seinen Armen beschützte, dessen hektische Atmung sich nur langsam beruhigte. Also erzählte Jean weiter, von Renee und von Minyard, auch von Josten und was sie ihm Gutes getan hatten, auch wenn er letzteren Beiden das niemals so ehrlich sagen würde. Er erzählte, wie er sich eine utopische Zukunft in der Einsamkeit solcher Wälder vorstellte, alleine in einer Hütte, fernab von allen Menschen. Nur, dass er sich jetzt auch noch vorstellen konnte, dass er regelmäßig Besuch bekam: von Knox, Laila, Fahima, auch von Alvarez oder Ajeet. Valentine durfte ebenfalls nicht fehlen, auch wenn sie Logan durchaus zuhause lassen durfte. All das schickte er gegen das Gewitter an und hielt Knox in seinen Armen. Ein Gefühl, das ihm nicht unangenehm war. Der warme, menschliche Körper an seiner Seite war nicht unangenehm. Es mochte daran liegen, dass es Knox war, aber Jean wurde sich zum ersten Mal bewusst, dass er auch aktiv den Kontakt zu einem anderen Menschen wollte. Riko hatte seinen Wunsch nach körperlicher Nähe nicht verstümmelt. Auch nicht nach körperlicher Nähe zu einem Jungen oder gar zu seinem Kapitän. Jean roch an den wohlriechenden Haaren und legte seine Wange auf die feuchten Strähnen. Auch wenn Knox nicht verbal mit ihm kommunizierte, so erahnte Jean doch an der vormals angespannten Hand, die sich in den Stoff seiner Jacke gekrallt hatte und nun entspannt dort ruhte wie auch an der Entspannung in dem muskulösen Körper selbst, dass es dem anderen Jungen besser ging. Es freute ihn, denn das Letzte, was er wollte, war Knox unglücklich zu sehen. ~~~~~~~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 48: Erkenntnisse, Fragen und mittendrin...der rote Fluff ---------------------------------------------------------------- Das Gewitter zog langsam vorbei und damit auch Jeremys Angst. Schon während des stetigen Wechsels aus Blitz und Donner war sie soweit abgeflacht, dass er Jeans französischen Worten lauschen und versuchen konnte, ihren Sinn zu entziffern. Das gelang ihm nicht, auch wenn Worte wie Josten oder Minyard ihm verdächtig bekannt vorkamen und sich Jeremy unweigerlich fragen ließen, um was es ging. Vermutlich um Exy, insbesondere, weil Jeremy auch Namen seines Teams ausmachen konnte. Was es auch war, das Jean ihm erzählte…Jeremy hoffte, dass er niemals damit aufhören würde. Wirklich nicht. Und das war Teil eines riesengroßen Problems. Eines überlebensgroßen Problems. Sie hatten körperlichen Kontakt…soweit, so gut. Das hatten sie schon öfter gehabt. Aber Jean hatte ihm über den Rücken gestrichen, immer und immer wieder und Jeremys Rückseite hatte auch jetzt noch eine Gänsehaut von der Berührung des anderen Jungen. Ganz zu schweigen von Jeans Geruch, der sich so wunderbar in die Gerüche des regnerischen Waldes einfügte und mit ihnen verschmolz und bei Jeremy mit dem absoluten Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit verknüpft war. Oder seinen Armen, die ihn – sich ihrer Stärke nicht ganz bewusst – etwas zu hart umschlangen. So wie Jeans emotionale Umarmungen bisher immer gewesen waren. Doch das war alles nichts…aber auch wirklich gar nichts… dazu, dass Jean ihn geküsst hatte. Geküsst. Er hatte Jeremy geküsst. Nur auf die Haare, aber es war ein Kuss gewesen. Oh Gott. Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Jeremy würde sich nie wieder die Haare waschen. Nie wieder. Und Jean hatte an ihm gerochen, das hatte Jeremy in einer Donnerpause sehr wohl gehört. Er hatte tief Luft eingesogen und an seinen Haaren geschnuppert. Jeremy war hin und weg, er war vollkommen verschossen in den Jungen neben sich. Wenn er den Kopf hob, dann würde Jean damit aufhören, aber wenn er die Nähe des Anderen weiter suchte, machte er sich verdächtig. „Danke“, murmelte er der muskulösen Brust entgegen, an der er seinen Kopf versteckt hatte. Er löste sich von Jean und sah ihm in die sorgsam neutral gehaltenen Augen. Verlegen wischte Jeremy sich über sein Gesicht und setzte sich soweit zurück, dass er Jean richtig ansehen konnte, ohne den Drang zu verspüren, diese strengen Lippen küssen zu wollen. Doch mit der Entfernung kam auch das schlechte Gewissen. Jeans Erfahrung mit körperlicher Nähe war in weiten Teilen nicht gut gewesen. Und nur wegen seiner Bitte hatte Jean ihn an sich gezogen. „Ich wollte dir meine körperliche Nähe nicht aufzwingen, das tut mir leid, Jean“, entschuldigte er sich und kritisch runzelte dieser die Stirn. „Du hast dich mir nicht aufgezwungen“, erwiderte er und Jeremy zuckte ungewollt zusammen. Nein, das hatten andere getan, mehrfach. Es schien, als wurde sich nun auch Jean seiner Wortwahl bewusst und seine Augen weiteten sich. Unwohl sah er auf seine Hände hinab. „Ich meinte…“ Jeremy legte seine Hand auf die unsauber geheilten Fingergelenke und lächelte. „Ich weiß. Ich möchte nur nicht, dass du dich in meiner Gegenwart unwohl fühlst.“ Jean hob den Blick. „Das trifft nicht zu. Ich mag deine Gegenwart“, formulierte er in seiner bestimmten Art der filterlosen Ehrlichkeit und Wärme explodierte in Jeremys Magengegend und breitete sich in Windeseile in seinem ganzen Körper aus. „Dito“ strahlte er und Jean schürzte nachdenklich die Lippen. Es hatte etwas Liebevolles und Komisches an sich und Jeremy konnte nicht anders, als die Hand, die noch unter seiner lag, an seine Lippen zu führen und einen leichten, hauchzarten Kuss darauf zu platzieren. „Danke, Jean“, murmelte er und ließ die Hand los, die für einen Moment unschlüssig zwischen ihnen schwebte. Jean starrte auf die Finger, die vereinzelt zuckten und für den ersten Moment hatte Jeremy Angst, dass er eine Grenze überschritten hatte. Doch dann huschte ein minimales Lächeln über Jeans Gesicht, beinahe unmerklich und er nickte. Dass der Backliner auf ihrer restlichen Wanderung über den regennassen Trail hin und wieder verstohlen auf seine Hand starrte und mit seinen Fingern über die Stelle des Kusses rieb, sah Jeremy und es ließ ihn auf Wolken schweben. Klitschnass, wie er war. ~~**~~ Irritiert saß Jean auf dem bequemen, weichen Sofa, in das sogar er einsinken konnte, und blinzelte. Seine linke Hand wurde gewärmt durch den Kakao, den er in seiner rechten hielt, während Mrs. Knox eine Decke um seine Schultern geschlungen hatte, bevor er auch nur in der Lage gewesen war, höflich abzulehnen. Anscheinend war es in der Familie Knox gute, alte Tradition, nach einer Wanderung durch den Regen – die Jean außerordentlich genossen hatte – zu duschen, sich etwas Bequemes anzuziehen und sich bloß schnellstmöglich auf die Couch vor dem bereits angefachten Kamin zu setzen. Jean verstand diese Tradition nicht und er wusste auch nicht, womit er sich diese Gemütlichkeit und den Kakao verdient hatte, aber er wagte auch nicht, den strengen Worten von Knox‘ Mutter zu widersprechen. So saß er nun hier und wartete darauf, dass sein Kapitän aus der Küche zurückkam, während er sein Handy genommen und Minyard über einen der Messenger das Foto des roten Fluffs geschickt hatte. Er hatte ihn tatsächlich gefragt, ob der gelangweilt dreinblickende Kater sein Drillingsbruder sei, bisher ließ eine Antwort darauf aber noch auf sich warten. Vermutlich war der blonde Torhüter mit seinem eigenen Rothaarigen beschäftigt. Knox huschte von der Küche ins Wohnzimmer und stellte vorsichtig seinen eigenen Kakao ab, hüllte sich in die zweite Decke, die auf dem hellgrauen Sofa lag und griff sich die Tasse, die Wangen gerötet und sichtlich glücklich. Noch immer spürte Jean das Gefühl der Lippen des Jungen auf seiner Haut und ein Phantomkribbeln breitete sich auf der betroffenen Stelle aus. So fühlte es sich also an. Das war noch besser, als wenn es die Finger des anderen Jungen gewesen wären und Jean verstand, warum Menschen den Drang verspürten, sich zu küssen. Es war wirklich schön. Das Auftauchen der Zwillinge im Durchgang zum Flur riss ihn aus seinen Gedanken und die Art, wie sie ihn musterten, kam Jean verdächtig raubtierhaft vor. Sie taxierten ihn und ihm wurde klar, was sie von ihm wollten. Antworten gegen Gefallen. Er erinnerte sich. Wortlos hob er die Augenbrauen und die beiden Mädchen kamen zu ihm. Wieder wusste er nicht, wer wer war und konnte sie nur anhand ihrer unterschiedlichen Frisuren auseinanderhalten. Einzopf und Zweizopf taufte Jean die beiden still und heimlich für sich, insbesondere, da die beiden Raubvögel nun auf ihn zukamen und ihm Übles schwante. Einzopf setzte sich links von ihm, Zweizopf rechts von ihm auf der Sofa und beide nahmen ihn ins Visier. Jean lehnte sich zurück und verschränkte eingedenk seines Kakaos vorsichtig die Arme. Kurz huschten seine Augen zu Knox, der dem Ganzen aufmerksam und kritisch beiwohnte, dazu bereit einzugreifen. Er war dankbar um das Wissen, dass sein Kapitän ihm helfen würde. Dankbar und erstaunt über die mittlerweile selbstverständliche Ruhe, mit der er das für sich annahm. Jean trank einen Schluck Kakao. „Ja bitte?“ „Wir haben Fragen“, war es Einzopf und Jean nickte. „Für euer Geschäft.“ „Korrekt.“ Zweizopf, dieses Mal. „Was ist eure Gegenleistung?“ „Wir haben noch Süßigkeiten. Und wir lassen dich mit Dads Traktor fahren.“ Die Süßigkeiten würde Jean an seinen Kapitän weitergeben, aber der Traktor ließ Jean aufmerksam aufhorchen. „Für wie lange?“ „Das kommt auf deine Antworten an.“ Zweizopf war für ihr Alter eine harte Verhandlungspartnerin, das musste Jean schon sagen, auch wenn sie eher einem blonden Engel glich mit ihrem runden, sonnengebräunten Gesicht und den kleinen Sommersprossen. Ihre Augen hätten niedlich sein können, wenn das Lauern sie nicht verraten hätte. Welches sie, wie Jean mittlerweile wusste, von ihrem Vater geerbt hatte. Das Lauern auf ein gutes Geschäft. „Stellt die richtigen Fragen und ihr bekommt gute Antworten. Ich möchte eine halbe Stunde auf dem Traktor.“ Dafür, dass er gerade erst seinen Führerschein hatte, sollte das wohl ausreichend sein, befand Jean und sah zu Knox, der das Grinsen hinter seiner eigenen Kakaotasse versteckte und mit deutlichem Vergnügen dem Schlagabtausch zwischen seinen Schwestern und Jean beiwohnte. „Okay…“ Einzopf nahm ihr Notizbuch und zückte türkisenen Stift, der bis gerade eben in dessen Seite geklemmt hatte. „Was machst du nach deinem Studium?“, fragte sie und Jean hob die Augenbraue. „In die professionelle Exyliga wechseln und dort spielen.“ Als wenn er jemals etwas machen könnte. Die Bitterkeit, die damit einherging, hielt sich in Grenzen, denn es hätte schlimmer kommen können. Wobei ihm die Zukunft immer noch Angst machte, denn sicherlich würde Knox woanders hingehen, ebenso wie Fahima, Laila, Alvarez, Ajeet, Valentine… dann wäre er wieder alleine. Der Gedanke schmerzte Jean mehr als es ihm angenehm war. „Und danach? Wenn du damit fertig bist?“ Das war eine gute Frage. Schließlich waren Exyspieler, wie so viele andere Sportler auch, mit Anfang oder Mitte vierzig verbraucht. Aufgrund seiner körperlichen Verfassung trat das bei ihm vermutlich früher ein und Jean schätzte sein Spielerdasein auf zehn Jahre. Was danach kam? Er zuckte mit den Schultern. „Soweit habe ich noch nicht gedacht. Irgendetwas mit Wirtschaft.“ Wenn die Moriyamas ihn leben ließen. Vielleicht holten sie ihn sogar zu sich zurück, damit er einem der Konzerne dienen konnte. Jean hoffte es nicht. Einzopf schrieb fleißig mit, während sie ihre Unterlippe zwischen den beiden Zahnreihen malträtierte. Jean beobachtete sie dabei und beneidete sie um ihre Sorglosigkeit und Freiheit. „Hast du gute Noten am College?“, fragte ihre Zwillingsschwester und Jean drehte den Kopf zu ihr. „Bessere als dein Bruder“, erwiderte er und beide Mädchen kicherten. Knox selbst schnaubte. „Zufall, Moreau.“ „Das würdest du dir wohl wünschen!“ Knox‘ Noten waren nicht schlecht, ganz im Gegenteil. Aber im Gegensatz zu ihm wusste sein Kapitän, dass er auch versagen konnte. Evermores Erziehung, nur Höchstleistungen zu erbringen, ließ ihn auch hier nicht los und so arbeitete er vor Klausuren wie ein Besessener, um bloß Bestnoten zu bekommen. „Jer, wie sind deine Noten gerade?“ „Besser als eure, ihr kleinen Hyänen!“, grimmte sein Kapitän und sie alle lachten. Selbst Jean schmunzelte. „Hast du eine Lieblingsblume?“ Jean schüttelte den Kopf. „Ich mag es, im Wald zu sein.“ Das stieß auf breite Zustimmung und er nahm einen Schluck Kakao, der ein bisschen nach Zimt schmeckte. „Hast du eine Lieblingsmannschaft beim Exy?“, fragte Einzopf und bevor Jean antworten konnte, schnaubte Knox. „Die Trojans natürlich!“, erwiderte er mit einer humorvollen Empörung, die Jean mittlerweile problemlos als solche erkannte. Knox echauffierte sich manchmal über viele dieser kleinen, unwichtigen Dinge und meinte es nicht ernst. Insgeheim fand Jean das amüsant. „Stimmt das?“ Jean musterte Zweizopf und seufzte. „An manchen Tagen schon“, stimmte er zu, auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Er hatte keine Lieblingsmannschaft. Exy war sein Leben, weil er es leben musste. Er war gut darin, weil er gut darin sein musste. Mit den Trojans gab es Momente, in denen er den Sport liebte. Aber hatte er eine Lieblingsmannschaft? Nicht wirklich. „Spielst du Computerspiele?“ „Das ist Zeitverschwendung, also nein.“ Ajeet und Logan spielten, soweit er es mitbekommen hatte. Jean fand aber keinen Reiz daran, sich noch länger vor seinen Computer zu setzen und bunte Männchen von A nach B hüpfen zu lassen. Einzopf machte sich konzentriert Notizen. „Und deine Lieblingssportart?“ „Habe ich nicht, obwohl ich Autorennen ganz spannend finde.“ „Exy ist nicht dein Lieblingssport?“ Jean schnaubte abfällig. „Nein.“ „Warum Autorennen?“ „Weil die Geschwindigkeit dort so hoch ist.“ Seitdem er seinen Führerschein hatte und auf einem der Bildschirme im College, die in der Mensa hingen, gesehen hatte, dass es Autorennen auch als Sport gab, stellte Jean sich vor, wie es wäre, in einem dieser Autos zu sitzen und ein solches Rennen mitzufahren. Er sollte Knox mal fragen, ob so etwas möglich war. „Wie ist denn dein ideales Thanksgiving?“ Jean runzelte die Stirn. „Keine Ahnung. Es ist mein Erstes“, sagte er und die beiden Mädchen keuchten unisono schockiert auf. „Wieso?“, fragten sie wie aus einem Mund und Jean blinzelte. Über Einzopf hinweg sah er zu Knox, in dessen Augen Verständnis stand. Verständnis für seine Vergangenheit. Sanft lächelte er. „Ich habe es bisher nie gefeiert. In Evermore waren Feiertage nicht wichtig.“ Beide Mädchen waren deutlich schockiert über seine Worte. „Wie fürchterlich!“, sagte Zweizopf und fragwürdige Entschlossenheit stahl sich auf ihr junges Gesicht. „Dann machen wir dieses Thanksgiving zum besten Thanksgiving, dass du jemals hattest!“, strahlte sie und ihre Schwester pflichtete ihr bei. Jean ließ das wohlweißlich unkommentiert. Es würde gut sein, weil es bei den Knoxes war. Es würde gut sein, weil es sein Erstes war. Und es würde nicht zuletzt gut sein, weil er nicht mehr in Evermore war. „Warst du schon einmal verliebt.“ Jean war froh, dass er nicht, wie geplant, die Tasse zu seinem Mund geführt hatte. Verliebt? Er? In wen denn? Er hatte vertraut, ja, aber deswegen war er nicht verliebt gewesen. Jean runzelte die Stirn, als ihm ein bisher fremder Gedanke kam. Was war denn vor Evermore gewesen? Hatte es in Frankreich jemanden gegeben? Er konnte sich nicht erinnern, zumindest nicht so schnell. „Nein, das war ich nicht“, erwiderte er deswegen und erntete damit die Missbilligung beider Mädchen. „Du bist so hübsch, du musst dich auf jeden Fall verlieben!“, sagte Zweizopf. „Mia!“, grollte Knox und Jean schnaubte. Endlich hatte er einen Namen zu dem Gesicht und konnte sich einprägen, wer wer war. Was allerdings die Verbindung zwischen seinem Aussehen und dem Verlieben war, erschloss sich ihm nicht. „Was denn, Jer?“, beschwerte Mia sich und Jean schmunzelte in die Kakaotasse hinein, nahm einen guten Schluck. „Magst du denn eher Jungs oder Mädchen?“ „Ist es denn! Was seid ihr für neugierige Aasgeier?“, empörte sich sein Kapitän und Jean musste ihm da beipflichten. Die Frage brachte ihn durchaus aus dem Konzept und er setzte vorsichtig die Tasse ab, stellte sie auf seinen Oberschenkel. „Die Frage ist sehr indiskret, Charlie, lass das!“, schimpfte Knox mit seiner Schwester und Jean musterte seinen Kapitän. Mochte er Jungs oder Mädchen lieber? Er hatte keine Ahnung. Knox‘ nackter Hintern tauchte urplötzlich vor Jeans innerem Auge auf und er spürte verdächtige Röte auf seinen Wangen. Wieso dachte er ausgerechnet jetzt daran? Wieso war seinem Unterbewusstsein diese Erinnerung so wichtig, dass es ihm jetzt dieses Bild präsentierte? „Ich weiß nicht?“, beantwortete er die Frage mit einer Gegenfrage und zuckte mit den Schultern, den Blick auf Knox partout meidend. Nein, er konnte seinem Kapitän nicht in die Augen sehen, während er sein nacktes Hinterteil vor Augen hatte! Gespannt hatte er, verbotenerweise! Außerdem war es unschicklich, in Gegenwart von Knox‘ minderjährigen Schwestern darüber nachzudenken! Sein Handy pingte und Jean ignorierte es. Charlie brummte nachdenklich. „Von wem und wann hast du denn deinen ersten Kuss bekommen?“, fragte sie kritisch und hinter ihr entwich Knox ein Laut, den Jean nicht ganz deuten konnte. Missfallen? Panik? Angst? Er sah nun doch hoch und begegnete der Entschuldigung auf dem Gesicht des blonden Jungen. „Du musst die Frage nicht beantworten, Jean. Mach dir darum keinen Kopf!“, nickte Knox bekräftigend und Jean runzelte die Stirn. Warum sollte er nicht? Schließlich war die Antwort doch einfach. „Das ist okay, Knox“, wiegelte Jean ab und zweifelnd wurde er gemessen. Er wandte sich an Charlie, die ihn mit großen, erwartungsvollen Augen anstarrte. „Das war heute, von eurem Bruder.“ Schließlich hatte Knox ihn auf die Hand geküsst, die alleine bei dem Gedanken daran immer noch kribbelte. „WAS?!“ Das zweifache Kreischen ließ seine Ohren klingeln und überrascht versuchte Jean seine Tasse zu retten, als Mia halb über ihn drüberkrabbelte um ihren Bruder in Augenschein nehmen zu können. Charlie hatte es da weitaus einfacher, da sie näher an Knox saß, der sie alle mit großen, weiten Augen anstarrte. Vor allen Dingen ihn direkt. Irritiert sah Jean sich um. Er hatte doch nichts Besonderes gesagt… wieso gab es so eine Aufregung? „Jean, ich glaube nicht…“, versuchte sein Kapitän sich schwach an einem Satz, der in tosendem Geschrei seiner Schwestern unterging. „Jer, wieso hast du nichts gesagt?“ „Wieso hast du das vor uns geheim gehalten?“ „Seit wann seid ihr zusammen?“ „Wie seid ihr zusammengekommen?“ Fragen über Fragen, die gleichzeitig auf ihn einstürmten und mit denen Jean nichts anfangen konnte. „Ich…“, begann er und sah sich in der Aufmerksamkeit der beiden Schwestern, die ihn sich wünschen ließ, den Mund gehalten zu haben. „Ähm…“ „Jean, ich glaube, du meinst nicht das Gleiche wie Charlie“, sagte sein Kapitän vorsichtig und Jean runzelte die Stirn. „Jer, du hast uns nicht erzählt, dass du einen Freund hast!“, grimmte Mia und Knox schnaubte. „Weil ich keinen habe“, entgegnete er und Jean runzelte die Stirn. Unsicher musterte er Knox. Bisher hatte er gedacht, dass sie Freunde seien. Aber diese entschiedene Ablehnung deutete auf etwas Anderes hin. „Sind wir keine Freunde?“, fragte er, bevor er sich davon abhalten konnte und verfluchte sein schnelles Mundwerk, das um Klarstellung gierte. Das Geräusch seines dazwischenpiependen Nachrichtentons ignorierte er geflissentlich. Erschrocken weiteten sich Knox‘ Augen. „Natürlich sind wir das, Jean! Wieso fragst du…?“ Irgendetwas schien seinem Kapitän wie Schuppen von den Augen zu fallen und er barg sein Gesicht in den Händen. „Oh Gott, natürlich sind wir Freunde, Jean. Was Mia und Charlie aber meinen, sind Partner.“ Jean verstand immer noch nicht. „Partner im Sinne von Liebhabern. Deswegen rasten sie gerade auch so aus!“ Mia jaulte auf. „Zurecht! Ihr habt euch geküsst!“ Anklagend schwiegen die Zwillinge und verwirrt bat Jean Knox nonverbal um Hilfe. Er verstand nun wirklich gar nichts mehr. „Bedeutet ein Kuss, dass man sich liebt?“, fragte er und wünschte zwei Sekunden später, dass er es nicht getan hatte. Diese drei blauen Augenpaare machten ihn rastlos, so entsetzt, wie sie ihn anstarrten. „Naja…“ Charlie grübelte. „Man kann sich auch küssen, ohne, dass man sich liebt…“ „Worüber du noch gar nichts wissen dürftest, Charlie!“ „Also ist es rein Sex?“ „Mia! Ich schwöre…“ „Es war nichts Sexuelles“, stellte Jean richtig, bevor jemand etwas noch Falscheres denken konnte. „Ich habe eurem Bruder einen Kuss auf die Haare gegeben, damit er keine Angst vor dem Gewitter hat. So wie eure Mutter das gestern bei Barnie getan hat. Und dann hat er mir einen Kuss auf die Hand gegeben“, sagte er und für Sekunden hatte er Ruhe. Heilsame, wohltuende Sekunden voller Stille, bevor Charlie und Mia in schallendes Gelächter ausbrachen und Knox‘ Gesicht eine Leinwand fassungsloser Betrogenheit war. „Du vergleichst mich mit einem Hund…?“, fragte sein Kapitän und Jean ahnte, dass er etwas gesagt hatte, was nicht gut war. Er schluckte und schwieg für einen Moment. „Es schien Barnie zu beruhigen und da dachte ich, vielleicht beruhigt es auch dich.“ „Das ist logisch… aber…“, erwiderte Knox zögernd mit einem Quantum an Enttäuschung und Jean konnte sich Letzteres nicht erklären. Wirklich nicht. Unsicher verstummte er und sah auf seine Tasse. Also war es falsch gewesen? Hätte er es nicht machen sollen? „Mia, Charlie, Fragestunde ist vorbei. Seid so gut und lasst uns grad mal alleine, ja?“, sagte Knox ernst und seine Schwestern protestierten empört. „Echt jetzt? Warum denn? Das war doch grad so spannend!“ „Ja, echt jetzt, Charlie. Wenn Jean möchte, geht es später weiter. Jetzt haben wir aber etwas zu klären…also sucht euch eine andere Ablenkung, okay?“ Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Beiden murrend aufstanden und sich aus dem Wohnzimmer verzogen. Jean sah ihnen verwirrt hinterher und spürte mehr, als dass er sah, dass sein Kapitän näher rückte. Schweigend verharrte er und brauchte einen Moment, bevor er Knox in die Augen sehen konnte. „Alles okay, Jean?“, fragte Knox ruhig und Jean schnaubte. „Das sollte ich dich fragen. Du siehst aus, als hätte ich dir dein Kevin Day-Puzzle gestohlen“, erwiderte er und überrascht lachte der blonde Junge. „Darüber wäre ich sehr traurig, aber ich könnte es verstehen. Nein, es ist alles in Ordnung… aber du hast mich doch nicht wirklich mit einem Hund verglichen, oder?“, fragte er vorsichtig nach und Jean blinzelte. „Ich wollte dich beruhigen und es schien zu funktionieren. War das nicht in Ordnung?“ „Es war schön und ich bin dir sehr dankbar, dass du mich von dem Gewitter abgelenkt hast. Deine Umarmung hat mir sehr geholfen, deine Worte auch und der Kuss auch.“ Knox lächelte und die Zuneigung in der Geste schmerzte tief in Jeans Brust. „Dein Kuss war auch schön“, erwiderte er verlegen und sah auf seine Hand. Knox lachte sanft. „Das freut mich sehr. Das war eine Geste der Dankbarkeit.“ Jean war froh, dass der blonde Junge ihm den Sinn des Kusses erklärte. Vieles lernte er noch und die Feinheiten des menschlichen Miteinander verwirrten ihn immer wieder. Jeans Handy pingte erneut und er ignorierte es, viel zu gefangen in einer Frage, die sich ihm ungefragt aufzwängte. Was wäre, wenn Knox und er wirklich Partner wären? Wenn sie eine Beziehung hätten, also so wie Alvarez und Laila? Könnte Jean überhaupt eine Beziehung haben? Könnte er sich überhaupt vorstellen, Sex zu haben? Er runzelte die Stirn. Der Gedanke, dass Knox gehen würde, wenn sie beide ihren Abschluss hatten, war für Jean ein Ärgernis. Er wollte nicht, dass der Junge ihn verließ, er konnte sich nicht vorstellen, ohne Knox‘ nächtliche Geräusche zu schlafen oder nicht den Tag mit ihm zu verbringen. Der Gedanke als solcher war erschreckend in seiner Erkenntnis. Aber war er nicht rein egoistisch? Er wollte nicht alleine sein, deswegen wollte er nicht, dass Knox ging. Jean dachte an Fahima. Wie war es, wenn sie gehen würde? Es machte ihm keine so intensive Angst wie bei Knox. Bedeutete das, dass er Männer bevorzugte? Bedeutete das, dass er Knox bevorzugte? Es lief ihm heißkalt den Rücken hinunter bei diesem Gedanken. Jean schürzte die Lippen und wünschte sich in diesem Moment nichts mehr, als mit Renee zu sprechen und ihren Rat einzuholen. Sie würde sicherlich wissen, was es war, das er fühlte. Als hätte sein Handy ihn gehört, pingte es erneut und Jean grollte. Er sah hoch und wurde sich bewusst, dass der blonde Junge noch eine Antwort von ihm erwartete. „Ich mochte diese Geste sehr“, sagte Jean ehrlich und nun piepte auch noch Knox‘ Handy, bevor der andere Junge ihm antworten konnte. Kurz huschte seine Aufmerksamkeit zu dem aufleuchtenden Display und irritiert runzelte sein Kapitän die Stirn. „Alvarez schreibt, du hättest das Internet kaputt gemacht“, las er die Nachricht vor und sah verwirrt hoch zu Jean, der genauso unwissend den Kopf schief legte. „Steht da auch wieso?“ „Das konnte ich nicht lesen.“ Jean langte nach seinem Telefon und hielt inne. „Darf ich?“, fragte er Knox, der ihn, wie immer, wenn er das aus Reflex tat, so lange schweigend ansah, bis Jean die Antwort für sich selbst fand. Entsprechend schnaufend entsperrte Jean das Smartphone und hob die Augenbrauen, als ihm ein paar Dutzend Nachrichten und Benachrichtigungen entgegensprangen. Die Gruppenchats der Trojans und der Foxes liefen dabei am Meisten heiß, ganz zu schweigen von seinen persönlichen Nachrichten. Minyards simples Fragezeichen ging da beinahe unter und Jean schnaubte ob der recht lahmen Reaktion des Torhüters auf das Bild, das er ihm geschickt hatte. Die Benachrichtigungen der Social Media-Kanäle waren da aufschlussreicher. „Du hast Gargamel fotografiert“, sagte Knox staunend, während er anscheinend durch seine Timeline scrollte und Jean es ihm gleichtat. „Woher weißt du das?“, fragte er und Knox hielt ihm sein Handy hin. Da war das Bild, das er von dem gelangweilten, rothaarigen Fluff gemacht hatte. Seine Nachricht an Minyard direkt darunter. „Dein lang verschollener Drillingsbruder? Eine gewisse lethargische Ähnlichkeit lässt sich zwischen dir und dem roten Fluff nicht verneinen.“ Doch das war nicht die private Nachricht, die Jean beabsichtigt hatte. Es war ein Post auf Minyards Timeline. Minyard, der seinen Account selten bis gar nicht nutzte. Sein Post selbst hatte mehr als 14.000 Likes und an die tausend Kommentare, durch die Jean nun mit wachsendem Horror scrollte. Die Meisten waren amüsiert darüber, dass so etwas auf Minyards Timeline auftauchte. Viele waren begeistert. Und dann gab es da die Spekulationen, die Verbindungen zwischen dem Post und Minyards und seiner Verbindung zogen. Diese Kommentare ließen Jean schlucken und unwohl sah er hoch zu Knox. „Ich wollte ihm das Bild als Privatnachricht schicken…“, erklärte er sich und hilfesuchend klammerte er sich an das Amüsement seines blonden Kapitäns. „Das ist wohl ein bisschen in die Hose gegangen.“ Das war die Untertreibung des Jahres, befand Jean. „Sie vermuten, dass Minyard und ich freundschaftliche Verbindungen haben!“, erwiderte er entrüstet und Knox räusperte sich. „Wie schrecklich. Wie können sie sich erdreisten?“, sagte er und Jean hörte die Ironie, die mit dem Holzhammer daher kam, nur zu deutlich. „Knox!“, grollte er und sein Kapitän lachte. „Du hast doch Recht. Gargamel sieht Andrew ähnlich.“ Jean scrollte und scrollte und es schien kein Ende zu nehmen. „Ja, aber… die Kommentare…“ Knox scrollte mit und lachte. „Ich finde sie großartig!“ „Sie vermuten eine Art von Rivalität zwischen uns. Und was bedeutet der Begriff „Dystopische Bromance“?“ Knox‘ Schultern bebten und Jean stellte nach ein paar Sekunden fest, dass er ausgelacht wurde. Geradezu ausgelacht, was der blonde Junge nun auch mit einem schallenden Lachen bestätigte. „Unser Kater wird berühmt, was soll ich sagen? Gargamel Minyard“, grinste er und Jean starrte verzweifelt auf sein Smartphone. „Ich bin schlimmer als Josten“, murmelte Jean verzweifelt und starrte mit Horror auf die größer werdende Anzahl an Kommentaren, Likes und dem dazugehörigen Hashtag. #DerRoteFluffMinyard ~Ich wollte dir das per Nachricht schicken~, sandte er dieses Mal wirklich nur an Andrew, der keine Sekunde brauchte um zu antworten. ~Glückwunsch, das ist dir ja hervorragend gelungen.~ Die Ironie dessen konnte selbst Jean herauslesen. Er postete Andrew einen Mittelfinger. ~Moderne Kommunikationstechnik ist nicht deins, oder?~ ~So ist es eben, wenn man von einem verrückten Kult gefangen gehalten wird~, schrieb Jean in einem Anflug von Selbstironie zurück und Minyard schickte ihm einen augenrollenden Smiley. ~Frag beim nächsten Mal den Kapitän der Gummibärenbande, bevor du die Finger ans Internet legst, wie wäre es?~ ~Du bist doch nur neidisch, weil jetzt mal Leben auf deinen Account kommt.~ ~Darauf kann ich gut verzichten.~ ~Der Kater wäre im Übrigen ebenfalls das, was rauskommen würde, wenn man dich und Josten kreuzt~, konnte Jean sich einen weiteren Seitenhieb auf Minyard nicht verkneifen und bekam auch prompt die passende Antwort. ~Ich hätte dich in Abbys Gästezimmer sterben lassen sollen, undankbares Stück.~ ~Hast du aber nicht. Jetzt leb mit deinen Versäumnissen und hör auf zu heulen.~ Nun war er derjenige, der einen Mittelfinger bekam und Jean lachte kurz. Knox sah verwirrt auf und Jean schnaubte. „Andrew meint, du sollst mir Nachhilfeunterricht für das Internet geben“, erläuterte er sein Amüsement und das Strahlen auf dem Gesicht des blonden Jungen verursachte ihm ein warmes Gefühl in seiner Bauchgegend. ~~**~~ Auch wenn morgen erst Thanksgiving war, so gab es heute schon soviel Essen, dass Jeremy das Gefühl hatte, kugelrund zu werden. Wenn er nicht schon viermal an sich hinuntergesehen hätte um sich zu versichern, dass sein Bauch nicht rund wäre, so hätte Jeremy das nicht geglaubt. Jean ging es da nicht besser und er hatte förmlich die Erleichterung des Backliners sehen können, als das Essen ein Ende hatte und er mithelfen durfte abzuräumen. Zusammen mit seinem Vater trug er das Geschirr ab, dabei immer Abstand haltend. Jeremy hatte schon bemerkt, dass Jean Angst vor seinem Vater zu haben schien und das war kein Wunder, so schützend, wie sein Dad sich vor ihn gestellt und Jean praktisch bedroht hatte. Jeremy konnte seinen Vater dafür immer noch zum Mond schießen. Jean war nicht mehr der Raven von früher, im Gegenteil. Er gab sich Mühe und arbeitete an seiner Wut. Die Gewalt, zu der er erzogen war, bekämpfte er mit jedem Tag. Jeremy seufzte und ließ seine Gedanken zu all den schönen Dingen schweifen, die Jean heute Nachmittag gesagt hatte. Und all die erschreckenden Dinge. Er war Jeans erster Kuss gewesen? Oh Gott. Das war… Jeremy konnte es nicht in Worte fassen, wie kribbelig ihn das machte. Jean hatte den Kuss gemocht, den er ihm auf die Hand gepresst hatte. Jean wollte mit ihm befreundet sein. Jeremy seufzte und dachte mit einem breiten Grinsen daran, wie Jean sich mit seinem Post vertan hatte und ein Sinnbild von verwirrter Hilflosigkeit gewesen war mit großen grauen Augen und geöffneten Lippen. „Dir geht es gut“, bemerkte sein Vater, während sie zusammen den Truthahn für den morgigen Tag vorbereiteten. Jean hatte sich schon vorher aus der Küche in den Kuhstall scheuchen lassen und war mit seiner Mutter, Barns und Gargamel, dorthin gegangen. „Ja, das tut es“, nickte Jeremy und seufzte. „Und du magst ihn.“ Er zuckte mit den Schultern. Was sollte er seinem Dad denn schon vormachen? Wenn irgendjemand aus der Familie einen sechsten Sinn für seine Bedürfnisse und Geheimnisse hatte, dann war sein Vater derjenige welche. Deswegen hatte sein Dad ihn auch durch sein Coming Out geleitet… oder vielmehr, es eingeleitet, als er eines Abends zu ihm gekommen war um mit ihm über Dinge zu sprechen. Dass er auf Jungs stand zum Beispiel. Dass das vollkommen normal war. Dass er für jetzt und in alle Ewigkeit die Unterstützung seiner Familie haben würde. Sein Vater hatte immer schon auf ihn aufgepasst. „Die Ravens haben Jean in der Vergangenheit nicht gut behandelt. Sie haben ihm sehr wehgetan und ich möchte, dass er eine gute Zeit bei uns in L.A. und in meiner Gegenwart hat. Alleine die Tatsache, dass er mir vertraut, ist wie ein Ritterschlag und ich möchte, dass es ihm gut geht und dass er wieder Freude am Leben hat.“ „Und du möchtest ihn“, sagte sein Vater leise genug, damit nur Jeremy es hörte, dennoch zuckte er wie unter einem der Donnerschläge am Morgen zusammen. „Schon“, gab er nach ein paar unnötigen Sekunden zu. „Möchte er auch dich?“ Jeremy zuckte mit den Schultern und lächelte schief. „Ich glaube nicht. Es sind Dinge passiert, die ihn vermutlich keine Beziehung zu einem Mann eingehen lassen.“ „Das tut mir leid für ihn. Das muss schlimm für ihn gewesen sein.“ „Du ahnst nicht, wie sehr, Dad.“ Nun war es an seinem Vater zu seufzen. Er bestrich den Vogel mit seiner selbstgemachten Marinade, ließ sich Zeit damit, bevor er den Truthahn eintütete und zusammen mit Jeremy in den großen Kühlschrank wuchtete. Schließlich widmete er sich der Füllung, einer unappetitlich aussehenden Pampe aus Maisbrot, Zwiebeln, Eiern, Sellerie, Petersilie und Gewürzen, von der Jeremy aus jahrelanger Erfahrung wusste, dass sie die Beste auf der ganzen Welt sein würde. „Er hat dich in der Vergangenheit hart und unfair auf dem Spielfeld gecheckt…“ „…weil sie ihn dazu gezwungen haben. Sie haben ihn bestraft, wenn er nicht aggressiv genug gespielt hat.“ Sein Dad seufzte. „Ich bin noch nicht soweit, ihm das zu verzeihen, zumindest nicht gänzlich, aber ich wünsche mir für dich einen Partner, den du liebst und den du schätzt. Ich wünsche mir, dass du glücklich wirst. Und wenn es mit ihm ist, dann soll es so sein. Wenn er aber deine Gefühle nicht erwidert, dann löse dich bitte schnell genug.“ Jeremy nickte und scheuchte seinen Vater von dem großen Topf mit Füllung weg, um selbst seine Hände in die Pampe graben und sie durchkneten zu können. „Ich versuch’s, Dad. Aber so einfach ist das nicht.“ „Das glaube ich dir. Ich bin jederzeit für dich da, wenn du mich brauchst, okay?“ Jeremy nickte und rempelte seinen Vater liebevoll mit seiner Schulter an. „Immer! Und sehr okay!“ Plötzlicher Lärm aus dem Wohnzimmer schreckte sie beide hoch und sie entspannten sich, als es nur die Zwillinge waren, die ihren allabendlichen Kampf um die Fernbedienung ausfochten. So wie es schien, gewann Charlie und dem dumpfen Auftreffen nach zur Folge fläzten sich beide Mädchen vor den Fernseher, der mit dem allabendlichen Programm aufwartete. Irgendeine Serie aus dem Jugendkanal schallte in die Küche und Jeremy verzog das Gesicht vor Phantomzahnschmerzen. „Pubertät“, murmelte er und rollte mit den Augen. Sein Vater lachte schallend. „Sagt der, der eben jener erst seit zwei Jahre entkommen ist.“ „Ey!“ ~~**~~ Beeindruckt sah Jean zu, wie ein einziger Ruf von Mrs. Knox genügte, damit die Kühe sich nach und nach von der Weide aus in Richtung Stall begaben. Einige gingen gemächlich in ihre Richtung, andere trabten und ein paar galoppierten übermütig nach Hause, auch wenn Jean sich nicht sicher war, ob man es bei Kühen auch galoppieren nannte. Es sah zumindest so aus, als würden sie hoppeln. Es sah hochgradig amüsant aus und er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Jede von ihnen hat ihren eigenen Charakter“, sagte Mrs. Knox und vergrub ihre Hände in den Taschen ihrer legeren Hose. „Auch wenn sie als Pulk recht eigenwillig sind und manchmal dazu neigen, viel zu neugierig zu sein. Das erschwert uns die Arbeit manchmal.“ Sie schnalzte amüsiert mit der Zunge und Barnie bellte leise. Seine Rute schlug begeistert gegen Jeans Knie, auch wenn er sich nicht wirklich näher an den Zaun herantraute. „Er liebt dich sehr“, sagte sie und Jean sah im ersten Moment verwirrt zu ihr. In ihren Augen lag etwas Unbestimmbares, das ihn unsicher machte, doch dann nickte sie zu dem großen, schwarzen Hund. „Seitdem du da bist, weicht er dir nicht von der Seite und sieht dich an, als wärest du ihm der liebste Mensch auf der ganzen Welt.“ Jean schluckte. Er wusste nicht, was er aus diesen Worten machen sollte. Dass ihm Liebe in dieser Form entgegengebracht wurde, machte ihn überaus unsicher. Liebe war für ihn etwas Flüchtiges, das ihm jederzeit genommen werden konnte. Liebe war etwas Trügerisches, das ihm mehr Schmerzen bereitete, als es jede körperliche Folter jemals getan hatte. Aber traf das auch für die Liebe eines Tieres zu? Jean glaubte nicht. Tiere waren nicht dazu fähig so verschlagen und sadistisch wie Menschen zu handeln. Sie waren ehrlich in ihren Emotionen und Reaktionen und ihre Sprache war eindeutig – wenn man sie verstand. „Er ist ein Riesenbaby“, erwiderte Jean und klopfte sacht auf den massiven Rücken. „Er spürt, dass du ihn auch magst und fühlt sich deswegen zu dir hingezogen.“ „Ich hatte ja auch keine andere Wahl, nachdem er erst einmal seine Scheu überwunden hat und mich seitdem nicht aus den Augen lässt.“ „Ist das ein Problem für dich?“ Jean schüttelte den Kopf. „Nein. Ich mag ihn. Auch wenn er sich nicht bewusst ist, wie schwer er ist.“ Mrs. Knox brummte nachdenklich und kraulte eine der Kühe, die zu ihr kam, hinter den Ohren. Die massive Nase des Tieres drückte sich liebevoll in ihr Gesicht und sie lachte. „Weiter geht’s, Anna, der Stall wartet auf dich“, meckerte sie liebevoll und drückte der Kuh einen Schmatzer auf die Nüstern. Spielerisch schob sie sie von sich und klopfte ihr aufs Hinterteil. Gemeinsam warteten sie, bis auch die letzte Kuh im Stall war und Mrs. Knox schloss dann die massiven Tore hinter ihnen. Jean sah dem Ganzen fasziniert zu und seine Gedanken schweiften zu der Frage der Zwillinge. Was würde er machen, wenn er nicht mehr Exy spielen konnte? In einer Firma arbeiten, mit Menschen, die ihm suspekt waren und die er nicht einschätzen konnte? Oder arbeitete er lieber mit Tieren, die in ihren Handlungen so ehrlich waren, dass er keine Angst haben musste, dass sie ihn betrogen. „Ihr tut euch gut“, sagte Knox‘ Mutter und Jean nickte. „Es sei denn, wenn er mir Platz im Bett raubt“, erwiderte er trocken und sah auf Barnie herab, der immer noch vollkommen aufgeregt mit der Rute wedelte. Mrs. Knox schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Nana, das ist doch kein Thema, das man mit einer Mutter bespricht, Jean.“ Ob der plötzlichen Kritik, so sanft sie auch sein mochte, sah er überrascht hoch und ballte seine Hände unsicher zu Fäusten. Sie sprachen doch über Barnie…oder? „Entschuldigung, das war nicht meine Absicht. Ich…“ Sacht legte sie eine Hand auf seine Schulter. „Alles gut, Jean. Das war nur ein Scherz.“ Sie zwinkerte und nickte zum Haus. „Wollen wir wieder zurück?“ Jean folgte ihr und gemeinsam schritten sie über die Wiese. Kurz vor der Veranda blieb sie stehen und sah ernst zu ihm hoch. „Ich bin mir sicher, dass du ihm nicht wehtun wirst“, sagte sie und Jean war sich unsicher, was sie meinte. Warum sollte er Barnie wehtun? Er war doch kein Monster, das Tiere quälte. „Natürlich nicht“, beeilte er sich mit der Antwort. „Ich mag ihn sehr.“ „Das ist gut zu wissen.“ Mrs. Knox ging ins Haus und Jean folgte ihn in die gemütliche Wärme hinein, die nur durchbrochen wurde von einem fürchterlichen Gequietsche, das Jean beinahe in den Ohren wehtat. Als er ins Wohnzimmer trat, wusste er auch warum, was die Sache nicht besser machte. Der Fernseher lief und ließ Jean dort, wo er gerade war, erstarren. Mühevoll schluckte er, als von jetzt auf gleich alle seine Instinkte danach schrien, dass er diesen Raum verlassen musste. Das Fernsehen lief und das, was dort geschah, würde auch ihm geschehen. Sie würden das mit ihm machen, was sie dort sahen und er war hier nicht mehr sicher. Neben ihm schnaufte Mrs. Knox und Jeans Aufmerksamkeit ruckte zu ihr. „Sie schauen schon wieder ihr Hexending, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob das in ihrem Alter überhaupt etwas für sie ist.“ Sie schüttelte den Kopf. „Hexen, sprechende Katzen, der Teufel…wenn du dich dazu gesellen möchtest, nur zu, aber pass auf deine Trommelfelle auf, so laut, wie sie quietschen, wenn dieser angeblich gutaussehende Junge da auftaucht.“ Augenrollend ging sie an der Couch vorbei in die Küche und begrüßte dort ihren Mann und Knox selbst. Jean blieb derweil am Aufgang zur Treppe stehen, jederzeit fluchtbereit. Wirklich zu gehen, nach oben zu fliehen, das brachte Jean nicht übers Herz, insbesondere deswegen nicht, weil Barnie sich erneut an ihn gepresst hatte und nun mit nach Aufmerksamkeit heischenden Augen zu ihm hochsah. Jean seufzte und blieb vorsichtig hier stehen, mit einem wachsamen Auge zu dem Fernseher und der absurden Serie, die dort lief, und mit einem Auge zu Barnie, der die Streicheleinheiten sichtlich genoss und zufrieden brummte. Es brauchte seine Minuten, bis Jean sich auf den Treppenabsatz setzte, ganz zur Freude des Hundes, er seinen massiven Kopf und Körper auf seinen Schoß schob. Jean lehnte seine Schläfe an die Wand des Aufgangs und beobachtete das Wohnzimmer wie auch die Serie mit wachsamen Augen. Es passierte nichts und so gelang es ihm auch, schließlich sein panisch schlagendes Herz zu beruhigen und seine Angst in den Hintergrund zu drängen. Ein schönes Erlebnis war es dadurch jedoch nicht, auch wenn Barnies und nun auch Gargamels Anwesenheit half, die ihn beide ablenkten. Jean wurde sich bewusst, dass es das erste Fernsehen war, das lief, während er im Raum war, seit…seit Riko das mit ihm gemacht hatte. Er wurde sich ebenso des blonden Schopfes bewusst, der sich quasi hinter dem Türrahmen zur Küche hin versteckte und verschwand, sobald er auch nur in die Richtung sah. Jean runzelte die Stirn und griff zu seinem Handy. ~Ich sehe dich, Knox.~, schrieb er und wartete mit hoch erhobener Augenbraue, dass der Kopf seines Kapitäns sich reuevoll nun vollständig zeigte. Knox lächelte schief und Jean starrte ihm über den Raum hinweg entgegen. Sein Kapitän tippte etwas und Jean sah auf sein Handy, als es pingte. ~Ist es okay, wenn ich zu dir komme?~ ~Ja.~, schrieb er zurück und meinte es auch so. Er ließ zu, dass seine Angst kurz aufflammte und ihn anschrie, dass er seinen Kapitän nicht zu nahe an sich heran lassen durfte, doch ebenso vehement, wie sie aufkam, unterdrückte Jean sie auch wieder. Knox war nicht Riko, nie gewesen und Jean war bereit, seine Furcht vor Vergangenem zu überwinden. Dass er auf absehbare Zeit mit seinem Team keinen Film schauen können würde, war ihm klar. Aber es würde nicht schaden, wenn er den blonden Jungen in direkter Nähe hatte und lernte, dass sein Kapitän ihm nicht wehtun würde. Knox schlich sich aus der Küche an der Couch vorbei, um bloß nicht die beiden vollkommen faszinierten Zwillinge auf sich aufmerksam zu machen. Ebenso lautlos kam er zu ihm und deutete auf die zweite, hölzerne Treppenstufe. Jean saß auf der vierten und wurde den Verdacht nicht los, dass Knox sich absichtlich kleiner machte. Innerlich seufzend nickte er und der blonde Junge ließ sich neben ihm nieder und lehnte sich an das Holz auf der gegenüberliegenden Seite. „Geht’s dir gut?“, fragte er leise und Jean nickte nach einem Moment des Überlegens. Ja, das tat es wirklich. Er war nicht entspannt, aber es war okay. Er war okay. Er hatte zumindest für den Moment seine unbändige Angst besiegt, die ihn vor jedem Fernseher hatte fliehen lassen. Er hatte einen Fortschritt gemacht und Jean empfand Stolz diesbezüglich. Beruhigenden, stärkenden Stolz. ~~~~~~ Fortsetzung folgt. Kapitel 49: Thanksgiving ------------------------ So tief Jean letzte Nacht geschlafen hatte, so unruhig war sein Schlummer in dieser gewesen. Sowohl Barnie als auch der rote Fluff hatten sich erneut in sein Zimmer geschlichen und wie in der letzten Nacht auch sein Bett okkupiert. Jean war unter dem Schnarchen des Riesenhundes eingeschlafen und mitten in der Nacht aufgewacht, weil er das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen und zu ersticken. Dass das nicht an seinen Alpträumen lag, sondern an dem Kater, der sich quer über sein Gesicht gelegt und anscheinend vorgehabt hatte, ihn umzubringen, beruhigte Jean erst nach ein paar Minuten. „Du bist tatsächlich er“, murmelte er zu dem empörten Kater, der abwartend am Fußende stand und mit dem Schwanz zuckte. Was fiel Jean auch ein, ihn von sich herunter zu scheuchen, auf dass er eben nicht erstickte. „Wieso kommst du überhaupt zu mir? Du hast doch eine ganze Familie, die du belästigen kannst.“ Der Kater maunzte und setzte sich. Jean rollte mit den Augen und ließ den Kopf zurückfallen. Wenigstens war das schwarze Monstrum an seiner Seite verschlafen friedlich. Er sah hinaus in den Sternenhimmel und ließ seine Gedanken schweifen. Vor einem Jahr hatte Riko ihm mit einem manischen Grinsen erzählt, was er eingefädelt hatte. Er hatte ihm über die Wange gestrichen und sich ausgemalt, wie es sein würde, wenn der Mann namens Drake Andrew ficken würde. Den Eisprinzen Minyard, der ihm von Anfang an Widerstand geleistet hatte. Riko hatte sich ausgemalt, wie es wäre, wenn der unnütze Widerstand des blonden Torhüters endlich gebrochen wäre. Wenn er ihn nach der Vergewaltigung auch noch in die nächste Hölle schicken würde, wo der Arzt Snuffvideos von seinen widerlichen Praktiken machen konnte. In dem Moment hatte Jean Andrew dafür gehasst, dass er in Riko erneut das Verlangen nach sexueller Gewalt geweckt hatte. Es war ungerecht gewesen, denn der Letzte, der Schuld daran trug, war Andrew selbst, dennoch hatte Jean Andrew für die Angst gehasst, die er in dem Moment gehabt hatte. Die Angst davor, dass Riko wieder Männer in sein Bett schickte. Doch nichts dergleichen passierte und Rikos Laune in den kommenden Wochen war derart gut gewesen, dass es beinahe schon ekelhaft war. Er hatte Jean wenig bis gar nicht angerührt und hatte ihn schließlich nur dazu gezwungen, die Videos von Andrew mitanzusehen. Andrews wochenlanges Leid in den Händen eines sadistischen Psychologen, der jede seiner Schutzschichten weggerissen hatte. Das war ein Jahr her und Jean konnte sich nur zu gut vorstellen, dass der heutige Tag für Andrew schlimm sein würde. Jean fühlte sich schuldig und er wusste nicht, ob er Andrew anschreiben sollte. Oder anrufen. Ihn ablenken. Wäre er überhaupt der Richtige? Josten wäre da sicherlich besser als er für geeignet, schließlich taten die Beiden sich auf ihre eigene Art und Weise gut. Josten war für Andrew durch seine ganz persönliche Hölle gegangen. Jean hatte sein Möglichstes getan, dafür zu sorgen, dass Neil zu den Foxes zurückkehrte und nicht unterschrieb, weil er nicht wollte, dass Riko am Schluss siegreich war. Er griff sein Handy und rief Renees Kontakt auf. Wer, wenn nicht sie würde ihm sagen können, ob er Andrew kontaktierten sollte? ~Wäre es okay, wenn ich Andrew schreibe?~, tippte er und schickte die Nachricht ab. Sie würde sie erst am Morgen lesen, aber das war in Ordnung. Die Nacht gehörte seinen schlechten Erinnerungen an die Vergangenheit und seiner Hoffnung auf eine bessere Zukunft. ~~**~~ Jeremy wachte abrupt auf, als sich ein schweres Gewicht auf ihn warf. Inkohärent stöhnte er und versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, was gerade geschah und vor allem, wer ihm passierte. „Aufwachen, Wechselbalg, es ist schon zehn Uhr!“, trötete es in sein Ohr und Jeremy grollte verschwommen. Er hatte eine Idee, wer das war, die Frage war nur, ob Tyler oder Jamie, der ihn so derart unsanft weckte. Jeremy riss seine schlafesschweren Augen auf und erkannte die kurz geschorenen Haare seines ältesten Bruders. „Runter von mir, du Arsch!“, grimmte er ohne wirkliche Wut dahinter und schlug schwach nach seinem Bruder, der ihm ausgiebig durch die Haare wuschelte. Und wuschelte. Und wuschelte. „Los, steh auf! Ich will was vom Tag mit meinem kleinen Brüderchen haben.“ Das Gewicht auf ihm verschwand und Jeremy kämpfte sich zumindest soweit in die Höhe, dass er einen guten Blick auf Jamie werfen konnte, der ihn begeistert angrinste. „Sollten du und Tyler nicht erst heute Mittag ankommen?“, fragte er mit einem Schmollen und Jamie wackelte mit den Augenbrauen. „Ja, aber wir wollten unseren kleinen Bruder überraschen. Und wir wollten ihn sehen.“ Natürlich. Seine beiden verräterischen Brüder waren Hardcore-Exy-Fans und liebten alles, was mit der Class I in Verbindung stand. Nachdem sie die Trojans schon kennengelernt hatten, nutzten sie Jeremy schamlos aus, um auch dem Rest der Mannschaften Hallo zu sagen, wenn es sich anbot. Bisher hatte ihre Arbeit in Portland sie davon abgehalten, dafür war so eine Gelegenheit aber umso besser. Jeremy konnte nur hoffen, dass Jean sich noch in seinem Zimmer befand und von den Beiden nichts mitbekommen hatte. „Lasst ihn in Ruhe“, warnte Jeremy und Jamie lächelte gemein. „Zu spät, Wechselbalg. Tyler hat ihn schon in seinen Fingern und löchert ihn über seine alte Mannschaft und Exy.“ Jeremy fluchte. Wenn Tyler Jean durch unbedachte Fragen triggerte, dann konnte das nur in einer Katastrophe enden. Er kämpfte sich aus dem Bett und griff sich seinen Pullover und eine Trainingshose. Ohne weiteren Kommentar stürmte er mit den schlimmsten Befürchtungen nach unten und blieb wie angewurzelt stehen, als er Tyler und Jean friedlich in der Küche sah. Sie diskutierten auf eine derart zivile Art und Weise über Exy, dass Jeremy sich im ersten Moment fragte, ob er das noch träumte oder ob das wirklich passierte. Hinter ihm polterte Jamie die Treppe hinunter und zog somit die Aufmerksamkeit der Beiden auf sich. Jean sah, wie Jeremy nun auffiel, müde und erschöpft aus, auch wenn seine Augen hellwach waren. Aufmerksam auf die Situation vor sich gerichtet. „Alles gut?“, fragte er vorsichtig und Jean nickte schweigend. „Ich hoffe, sie haben dich nicht aus dem Bett gezerrt?“ „Ich war bereits wach“, erwiderte der andere Junge und Jean seufzte erleichtert. „Darf ich vorstellen, dass sind meine beiden älteren Brüder: dumm und dümmer“, deutete er zuerst auf Tyler, dann auf Jamie und erntete einen deftigen Schlag auf den Hinterkopf dafür. „Werd‘ nicht frech, Kleiner, ansonsten hole ich sämtliche Fotoalben und blamiere dich bis auf die Knochen.“ Jeremy grollte. „Das wagst du nicht, Jamie!“ Die blonden Augenbrauen seines Bruders wackelten herausfordernd und Jeremy verschränkte die Arme. „Gibt’s schon Kaffee?“, murrte er und Jamie missbilligend mit der Zunge. „Du hast noch nicht Zähne geputzt.“ Jeremy rollte mit den Augen. „Was bist du, mein Vater? Ich entscheide…“ „Geh Zähneputzen!“, rief seine Mutter aus der Vorratskammer und Jeremy starrte ungläubig in ihre Richtung. Verzweifelt warf er seine Hände in die Luft. „Habt ihr euch alle gegen mich verschworen?“, rief er in den Raum. „Ich bin schon erwachsen, wisst ihr?“ „Ja, Sprössling, wissen wir, seitdem du aufs College gehst. Ab nach oben, Zähneputzen!“ „Mom!“ Jeremy gab einen leidenden Laut von sich und stapfte nach einem kurzen Moment des Widerstandes zurück nach oben. Wenn er sich nicht recht irrte, hatte er auf Jeans bleichem Gesicht ein minimales Lächeln gesehen. ~~**~~ Knox‘ Brüder waren…amüsant. Jean hatte vermutet, dass sie wie Mr. Knox waren, ernst und bedrohlich, aber weit gefehlt. Der, wie er gelernt hatte, Zweitälteste, war ein überraschend guter Gesprächs- und Diskussionspartner, insbesondere, was Exytaktiken und –mannschaften anbetraf. Seit seiner Ankunft hatte ihn der Mann nicht aus seinen Fängen gelassen und Jean saß mittlerweile mit seiner zweiten Tasse Kaffee ihm gegenüber und beleuchtete die Schwächen und Stärken der einzelnen Teams in ihrer Liga. Das Thema Ravens hatte er ausgelassen und anscheinend war es in Ordnung für den Mann gewesen. Sein älterer Bruder hatte einen trockenen Humor, der Jean latent an Matt Boyd erinnerte. Er war ebenso sympathisch, auch wenn Jean an seine Zusammentreffen mit Boyd nur verschwommene Erinnerungen hatte, die unterlegt waren mit der Hoffnungslosigkeit und dem Schmerz aus Evermore. An was sich Jean aber sehr gut erinnerte, war der gutmütige Spott und die sanfte Ironie, die sich über Neil ausgeschüttet hatten und es in ihrem Gruppenchat immer noch taten. „Du hast dein Tattoo nicht mehr“, deutete eben jener auf seine Wange und instinktiv befühlte Jean die nun freie Stelle. Die Drei sah man, wenn überhaupt, nur noch als Schatten und jedes Mal, wenn Jean in einen Spiegel sah, kam es ihm wie ein Sieg vor. Auch jetzt noch. „Ich habe es entfernen lassen“, sagte er und starrte auf seinen Kaffee. Wenn Knox noch länger brauchte um herunterzukommen, wäre er schon bei seiner dritten Tasse. Um bis heute Abend wach zu bleiben, wäre das sicherlich eine gute Möglichkeit, auch wenn es seinem Trainings- und Diätplan widersprach. Die ganzen letzten Tage widersprachen dem und er würde zurück in Los Angeles doppelt so hart trainieren müssen. „Keinen Bock mehr auf deine alte Mannschaft und die perfekte Aufstellung?“ Jean schüttelte den Kopf. „Sie war nie perfekt“, erwiderte er mit einer Offenheit, die ihn im Nachhinein selbst überraschte. Noch vor Monaten hätte er nicht gewagt, so über Rikos Plan zu sprechen und nun brachte ihm das eine fast überschäumende Genugtuung. Aus dem Augenwinkel heraus sah er den roten Fluff, der ihn mit zuckendem Schwanz taxierte. „Er wird gleich auf deinen Schoß springen“, merkte Tyler an und Jean hatte exakt zehn Sekunden, bevor genau das passierte, nur dass er mitnichten so gut zielte wie gedacht. Gargamel rutschte ab und krallte sich in seiner Hose und seiner Haut fest. Jean zischte schmerzerfüllt und Jamie griff dem roten Fluff hilfsbereit unter den Hintern, ihn resolut auf Jeans Schoß schiebend. Jean dankte dem Ältesten der Knox-Geschwister, der sich schließlich zu ihnen gesetzt hatte. „Er ist nicht der Hellste…“ „Das hat er mit Josten gemein“, murmelte Jean in Gedanken, während er den schnurrenden Kater streichelte, der seine Krallen nun wieder eingefahren hatte. Tyler lachte überrascht. „Sind das Insiderinformationen?“, fragte er interessiert und Jean schnaubte. „Nicht wirklich. Ich habe einige Zeit mit ihm trainiert und war nach Evermore für ein paar Wochen bei den Foxes.“ „Es scheint, als wäre er ein Ausnahmetalent.“ Jean hob die Augenbraue. „Wenn seine große Klappe ihm nicht im Weg steht, dann ist er gut, ja.“ „Ich habe gehört, ihr wart beide Backliner, als er in West Virginia trainiert hat? Kann er beides?“ Jean blieben die Worte im Hals stecken. Das Einzige, an das er sich erinnerte, waren Neils Schreie unter Rikos Gewalt. Neils hilflose Flüche und Beleidigungen ihm und dem Herrn gegenüber. Neils Schluchzer in der Stille ihrer beider Einsamkeit, die Jean nicht zu lindern wusste. „Hey, alles in Ordnung?“ Jean tauchte aus seinen dunklen Gedanken auf. Seine verfluchte, offene Mimik. „Ja“, erwiderte er knapp und leerte seine Kaffeetasse mit einem großen Schluck. „Und ja, er kann beides. Wenn er sich konzentriert.“ Tyler brummte und rieb sich nachdenklich das Kinn. „Weißt du, wen ich gerne mal zusammen in einem Team sehen würde?“ Jean schüttelte den Kopf, aber er ahnte, was kam. „Also: dich, Jer, Kevin Day, Neil Josten, Renee Walker, Dan Wilds, Al und Fahima. Ihr wärt Spitzenklasse und würdet eure Gegner in den Boden stampfen. Das wäre das perfekte Line-Up, wenn du mich fragst.“ „Da fehlen aber die Offensive Dealer“, schnaubte es hinter Jean, bevor er eine Antwort finden konnte, die höflich genug wäre, und er drehte sich zu seinem Kapitän um, der die Zeit zum Zähneputzen anscheinend auch dafür genutzt hatte, sich anzuziehen. „Guten Morgen, Wechselbalg“, sagte Tyler und sprang auf. Knox grinste und trat nach vorne, bevor er seinem Bruder aus dem Stand in die Arme sprang und ihn leidenschaftlich umarmte, während Tyler ihn herumwirbelte. Jean sah Liebe, pure, reine, brüderliche Liebe und verlor sich in dem Anblick von Familie. Umso störender war da sein Handyklingelton, der ihn aus seiner Betrachtung herauszog. Irritiert schaute er auf das Display und hob erstaunt die Augenbrauen. Andrew rief an. Andrew. Heute, an diesem Tag rief Andrew ihn an. Per Videoanruf. Jean schluckte und griff sich sein Handy. Es war immer noch unsicher, vor seinem Kapitän ans Telefon zu gehen, doch nun war es unumgänglich. „Entschuldigung“, murmelte er und ging zur Treppe, die nach oben führte. Er sprintete sie hoch und war mit vier Schritten in seinem Zimmer. Hastig schloss er die Tür hinter sich, bevor er abnahm. Die Verbindung baute sich auf und Jean starrte in die kalten, braunen Augen des Torhüters, die genauso glasig waren wie die von Day in seinen besten, betrunkensten Tagen. „Andrew“, sagte Jean zögernd und der blonde Junge grinste, die Wangen gerötet, was einen bigotten Kontrast zu den tiefen und dunklen Augenringen bildete, die unter seinen Augen lagen. „Das französische Wunderkind“, schnarrte er schleppend und nahm einen Schluck aus einer Flasche, die Jean verdächtig nach Alkohol aussah. „Das blonde Engelsgift meinte, du hättest nach mir gefragt.“ Das hatte er nicht, zumindest nicht so direkt. Die Frage erübrigte sich auch, wenn Jean sich Andrew besah. Ihm ging es nicht gut, ganz und gar nicht. Alleine die Tatsache, dass Andrew ihn betrunken anrief, völlig ohne seine übliche Kontrolle, sprach schon Bände. „Heute ist Thanksgiving“, sagte Jean so neutral, wie er konnte und Andrew schnaubte verächtlich. „Nein, wirklich? Ich dachte, heute sei der Tag der brennenden Ärsche“, lachte er beißend und Jean zuckte zusammen. Er verstand nicht viel, was Sex anging, aber diese Tatsache war ihm bekannt. Vergewaltigungen, korrigierte Jean sich innerlich. Es war kein Sex gewesen. Verunsichert schwieg er. Er wollte Andrew nicht triggern und ihn in die schreckliche Zeit von vor einem Jahr zurückstoßen, aus der der andere Junge sich so stark herausgekämpft hatte. Er selbst kämpfte mit seinen Erinnerungen an die schmerzhaften Dinge, die ihm passiert waren, die Andrew so mühelos aufgewühlt hatte. Doch um ihn ging es heute nicht, ganz und gar nicht. „Wie fühlst du dich?“, fragte Jean ungelenk. Brian fragte das auch immer, aber ihm kam es schwer über die Lippen, auch wenn er an der Antwort ehrlich interessiert war. Andrew lachte laut und ließ sich anscheinend mit seinem Handy auf den Sitzsack in seinem Zimmer zurückfallen. Seine Haare breiteten sich um ihn herum aus und gaben ihm mehr denn je den Eindruck eines Engels. Der währte nicht lang, nur ein paar Sekunden, aber immerhin. „Wo hast du die Frage denn gelernt, Findelkind? Bei deinem Sonnenscheinpsychologen aus L.A.?“ Anscheinend war es Andrews Ziel, ihn zu beleidigen und Jean war versucht, es mit seinem gestrigen Faux-pas zu verknüpfen. Dem war nicht so, das wusste er. Vielmehr suchte Andrew vermutlich nach einem Sündenbock und da Riko tot war, war er der Einzige, der greifbar war. Jeans schlechtes Gewissen ließ es zu, dass Andrew das tat. Mehr noch, er begrüßte es geradezu. Schließlich hatte er tatenlos der kommenden Katastrophe zugesehen. Er wandte den Blick ab und wartete, was noch kommen mochte, doch für lange Zeit schwieg Andrew. Er nahm nur hin und wieder einen Schluck aus seiner Flasche und schnaubte einmal. „Sieh mich an, Rabe“, schnarrte er schließlich und Jean hob die Augen. „Ich bin keiner mehr“, sagte er ernst und ohne Scheu. Andrew rollte mit den Augen, betrunkener als vorher. Unkoordinierter als vorher. „Wenn du es wärst, würde ich dich töten.“ „Unseren Handel gibt es nicht mehr.“ Andrew winkte ab, zumindest versuchte er es, bevor seine Hände im letzten Moment dazu übergingen, sich die Haare aus der Stirn zu streichen. Nicht, dass es da viel zu streichen gab. „Dafür, dass du es wusstest. Dass du die Videos gesehen hast.“ Zielsicher, wie Andrew all die wunden Punkte in Jean traf und ihm durch sein eigenes, schlechtes Gewissen Schmerzen zufügte, die er allesamt verdient hatte. „Aber nein, töten ist ja nicht angebracht. Du hast das ja nicht freiwillig gemacht. Nein, alles unfreiwillig, ein Opfer. Eigentlich hättest du da neben mir liegen können.“ Jean schluckte mühevoll und Andrew runzelte nachdenklich die Stirn. „Was wäre eigentlich, wenn du dagewesen wärst? Ich meine, bei Luther, im gleichen Zimmer? Zusammen hätten wir es vielleicht schaffen können. Hmm…und Proust. Den vielleicht nicht. Der hatte die guten Drogen und die Fesseln.“ Jean wurde übel bei der Erwähnung des Namens. Proust war ein widerwärtiger, ekelhafter Mensch, der immer noch auf freiem Fuß war und nicht bestraft wurde für das, was er getan hatte. „Wieso ist er noch auf freiem Fuß?“ Andrew lächelte, doch es hatte nichts Frohes. Die Kamera wackelte bedrohlich. „Josten, der Gute, hat gegenüber eures Herrchens vielleicht erwähnt, dass Proust auch darin verwickelt war. Und vielleicht hat dieser… Clan sich um mein Problem gekümmert. Mein. Problem. Meins.“ Andrew bleckte die Zähne und Jean erkannte, woher die Unzufriedenheit kam. Andrew hatte den Arzt selbst töten wollen, sowie er auch seine eigene Mutter getötet hatte. Jean fragte sich, warum Andrew nicht alles darum gegeben hatte, Drake zu töten, doch diese Frage würde er nicht stellen. Nicht jetzt und nicht in Zukunft. „Josten hat es nur gut gemeint.“ „Das ist das Gegenteil von gut. Ich hätte ihn in Stücke gerissen. Ihn ausgeweidet. Ihm seine eigenen Spritzen und Medikamente zu fressen gegeben.“ So sonor die Stimme des blonden Foxes auch klang, soviel Hass und Gewalt schwang in den Worten mit. Jean verstand es. „Ist er tot?“ Andrew starrte direkt in die Kamera, so als hätte Jean eine besonders dumme Frage gestellt. Vielleicht war das auch der Fall. „Genauso tot wie deine fünf Lieblinge.“ Jean brauchte einen Moment, bis er begriff, wen Andrew meinte. Es dauerte keine drei Sekunden, da überrollte ihn das Wissen mit schrecklicher Klarheit und Jean musste das Handy auf das Kissen legen, so sehr zitterte er. Andrew suchte ein Ventil…nur ein Ventil. Er war derjenige, der von allen noch greifbar war, also verletzte er ihn. Jean schluckte und sah zur Seite. Er fragte sich, wie lange das noch so gehen und wann Andrew genug haben würde. Doch zuerst nahm der andere Junge einen weiteren Schluck und schnaufte. „Es gibt Dinge, die sollte man noch nicht einmal betrunken sagen“, beschloss er dann. „Es ist gut, dass die Arschlöcher tot sind.“ Die Überzeugung, mit der es durch seine Lautsprecher schallte, ließ Jean einen kurzen Blick auf Andrew werfen, der ihn nachdenklich musterte. „Vielleicht sind sie in dem Auto verbrannt oder ertrunken. Langsam und qualvoll, voller Angst. Das wäre schön.“ Jean blinzelte irritiert. Wieso sagte Andrew jetzt so etwas? Wieso schwenkte er von seinen Vorwürfen auf Verständnis um? Verwirrt runzelte er die Stirn. „Heute ist unser Tag, französisches Findelkind. Unser. Tag. Der internationale Tag der Vergewaltigungen. Du verstehst. Du…verstehst. Und nicht nur das. Du hast Katzenbilder. Den guten Shit. Wenn du denn kognitiv in der Lage bist, sie mir persönlich zu schicken.“ Der letzte Teil des Satzes verschwamm etwas und Jean hob die Augenbrauen. Ja, er verstand. Nur zu gut. Das war es also, was Andrew suchte. Gleichgesinnte und Katzenbilder. Jemanden wie ihn, der etwas Ähnliches durchgemacht hatte, auch wenn Jean gerne darauf verzichtet hätte, hier und jetzt daran erinnert zu werden, was in Evermore geschehen war. „Ich habe auch noch andere Tiere fotografiert“, sagte er und wurde durch ein rüdes Schnauben abgewürgt. „Nur die Katze.“ „Kater.“ „Klugscheißer.“ Jean lächelte spöttisch und nahm sein Handy wieder auf. Er suchte in seiner Galerie und schickte Andrew das Zweite der vielen Bilder, die er gemacht hatte. Ein leises Ping verkündete die Übertragung des Bildes und Andrews Aufmerksamkeit wich von der Kamera hin zu dem Bild, das er gerade empfangen hatte. Kritisch musterte er den Kater. „Wie heißt er?“ Jean musste tatsächlich überlegen. „Gargamel“, wiederholte er das, was Mrs. Knox ihm gesagt hatte und Andrew lachte trocken. „Weißt du, woher der Name stammt?“, fragte er und Jean war froh, dass keine Vorwürfe mehr kamen, sondern dass sie so etwas wie eine normale Unterhaltung führen konnten. „Nein, aber ich bin mir sicher, dass du es mir gleich sagen wirst“, erwiderte er trocken und Andrew bleckte die Zähne. „So ein schlaues Kerlchen. Ich weiß schon, warum Josten und du ihr euch so gut versteht.“ „Weil wir von Pestbeulen wie dir verfolgt werden?“ „Na so etwas, da hat jemand ein Rückgrat geschenkt bekommen.“ Jean erwiderte wohlweißlich nichts. „Also. Gargamel ist der böse Zauberer aus „Die Schlümpfe“, der es sich zum Ziel gemacht hat, die kleinen blauen Nervensägen zu Gold zu verarbeiten. Ironie hierbei… er hat eine eigene Katze.“ Andrew hätte genauso gut Chinesisch mit ihm sprechen können oder irgendeine andere Sprache, die Jean nicht sprach und die er sich auch nicht herleiten konnte. „Das hast du dir doch gerade ausgedacht“, schnaubte er entsprechend ungnädig und der blonde Junge hielt inne. „Moment“, erwiderte Andrew staatstragend und rollte sich schwerfällig auf seine Seite. Geduldig verfolgte Jean, wie er nach etwas suchte und es schließlich auch fand. „Hier ein Stückchen Allgemeinbildung für unser armes Entführungsopfer.“ Jean würdigte die Provokation keiner Antwort und klickte auf den Link. Mit wachsendem Erstaunen stellte er fest, dass es tatsächlich eine ganze Serie über kleine blaue Wesen gab, die gegen den Zauberer kämpften. „Solche Dinge lassen mich wünschen, wieder zurück zu sein“, grollte er und machte das Fenster zu. Andrew lachte. „Kommt nicht in Frage.“ Jean hob seine Augenbraue. „Ist das so?“ „Ich würde dich an den Haaren da rausziehen.“ „Aus Sorge? Jetzt bin ich gerührt.“ „Aus Liebe zu meinen Trommelfellen. Das Geheule von Josten und Day wäre unerträglich. Oder von Renee und dem Gummibärenbandenkapitän.“ „Als wenn dich das jemals interessieren würde.“ Andrew schnaubte, doch schon an der Art, wie seine Augen ihren Fokus verloren, sah Jean, dass er Recht hatte. „Neil hat vor einem Jahr gefragt. Wegen Luther und der Familie. Neil fragt immer Dinge. Ich sage nie nein. Idiot.“ Jean würde dem ja zustimmen, wenn er nicht ebenfalls zu beinahe allem, was Knox ihn fragte, ja sagen würde. Erst im zweiten Gedankengang wurde ihm bewusst, welches Vertrauen ihm der andere Junge entgegenbrachte, indem er solch eine intime und verletzliche Information mit ihm teilte. Jean schluckte schwer. Niemals würde er Andrews Vertrauen hintergehen, egal, wie sehr er den blonden Dämon verteufeln würde. „Was hat er gefragt?“, hakte Jean vorsichtig nach und war sich nicht sicher, ob Andrew ihm darauf eine Antwort geben würde. Zunächst sah das auch nicht danach aus, denn Andrew nahm einen großzügigen Schluck aus der Flasche und stellte sie mit einem lauten Klirren auf den Glastisch neben sich ab. Er lächelte, doch es war voller Bitterkeit. „Ob ich mitkomme zu einem Familientreffen um Nicky zu unterstützen. Wer hätte gedacht, dass es ein solches Familientreffen werden würde. Ich nicht. Dumm von mir, im Nachhinein.“ Jean schluckte und schloss für einen Moment die Augen. Er war nicht gut in so etwas, ganz und gar nicht. „Du konntest es nicht ahnen. Du warst nicht dumm“, widersprach er entsprechend ungelenk und ballte seine freie Hand zur Faust. „Du wurdest in eine Falle gelockt und Josten konnte ebenfalls nichts dafür, wirklich nicht. Er wusste auch nichts davon.“ Andrew maß ihn mit Mordlust in seinem Blick. „Glaubst du, wenn er willentlich daran beteiligt gewesen wäre, dass…“ Er sprach nicht weiter, wie er nie weiter sprach, wenn es um das Nichts ging, das er mit Neil hatte und Jean gestattete sich ein Nicken. „Nein. Ich wollte es nur gesagt haben. Ihn trifft keine Schuld.“ „Daran nicht.“ „Woran dann?“ „Dass er ein suizidaler Idiot ist, der seine Klappe nicht halten kann.“ Jean schnaubte amüsiert. „Klingt nach einem guten Grabsteinspruch.“ Andrew verfiel in brütendes Schweigen und schüttelte dann den Kopf. „Ich rufe nicht an um mit dir über Josten zu sprechen.“ „Ach?“ „Ich will Katzenbilder.“ „Kater.“ „Katze.“ „Sag es.“ „Nein.“ „Na los.“ „Nein.“ „K.a.t.er.“, buchstabierte Jean mit einem gemeinen Lächeln und als wenn besagter Kater auch nur geahnt hätte, dass von ihm gesprochen wurde, sprang er aus dem Nichts heraus auf Jeans Bett und erschreckte ihn damit beinahe zu Tode. Vermutlich hatte er sich unter der Matratze versteckt und auf einen günstigen Moment gewartet, aber… Großes Aber. Schnurrend kletterte er auf Jeans Schoß und Andrew horchte auf. „Ist er da?“, fragte er und Jean nickte. „Zeig ihn mir.“ „Nein“, sagte Jean alleine aus dem Grund, um Andrew zu antagonisieren. Der rote Fluff sah das anders und kletterte auf seine Oberschenkel um das Handy zu inspizieren, das Jean vor sich hielt. In der kleinen Ansicht seines eigenen Videos sah Jean deswegen nur zu gut, wie sich Gargamels Nase in überlebensgroßer Komik über sein eigenes Gesicht schob, während er an dem Handy schnupperte und sein Schwanz Jean im Gesicht kitzelte. Unter Minyards amüsierten Schnauben schob er das befellte Körperteil weg und grimmte, als er rote Fluff sich zu ihm umdrehte und sich an ihm rieb, seinen Kopf immer wieder gegen sein Kinn stieß. „Ich kann mich irren, aber weder mein missratener Zwillingsbruder noch ich machen das bei dir…“, schnarrte Andrew und Jean zeigte ihm den Mittelfinger, während er versuchte, dem kuscheligen Kater Herr zu werden, was unter all dem Anschmiegen, Schnurren und Schmusen gar nicht mal so einfach war. Schlussendlich hatte Jean ihn soweit an sich gepresst, dass er still hielt und natürlich mit auf dem Video war. Andrew beobachtete sie beide mit sezierendem Blick, seine eigene Mimik undurchdringlich. „Der hilflose Kampf mit einem weitaus kleineren Tier steht dir. Solltest du öfter machen“, sagte er dann spöttisch und Jean rollte mit den Augen. „Schaff dir doch selbst eine Katze an.“ Andrew gab ein missbilligendes Geräusch von sich. „Kater, Moreau, Kater“, tadelte er und eben jener grollte laut. So sehr Andrew ihn auch damit ärgerte, so froh war er, den anderen Jungen von seinen dunklen Gedanken und Erinnerungen ablenken zu können. ~~**~~ „Er wird schon wieder herunterkommen“, sagte Ty mit einem breiten, wissende Grinsen, als Jeremy zum wiederholten Male zum Treppenabsatz ging um zu lauschen, ob mit Jean alles in Ordnung war. Jeremy verschränkte die Arme und drehte sich demonstrativ zum Wohnzimmer zurück um den Blicken seiner beiden ältesten Geschwister Stand zu halten, die ihn unisono anstarrten. „Na wer weiß das schon, vielleicht hat er sich ja wie ein Vampir in Fledermäuse verwandelt und ist weggeflogen“, zuckte Jamie mit den Schultern und nun war es an Ty und Jeremy, mit den Augen zu rollen. „Ist klar.“ Dass oben nun die Tür aufging und Jean die Treppe hinunterkam, machte Jeremy nicht im Geringsten nervös. Niemals. Schließlich hatte er auch nicht kurz einen Blick auf das Display erhaschen können und Andrews Namen gesehen. Nein. Immer wenn Jean mit den blonden Torhüter der Foxes sprach, war Jeremy nervös und angespannt, auch wenn seine Angst unbegründet war. Hoffte er zumindest. Brian hatte gemeint, dass das vollkommen natürlich war, nachdem was passiert war. Die Angst, Jean zu verlieren, hatte ihren realen Ursprung und mit dem Ereignis in der Wüste war auch sein vollkommenes Vertrauen, was er in die Unversehrtheit eines anderen Menschen gehabt hatte, verschwunden. Es war okay, Angst davor zu haben, dass Jean endgültig gehen würde, ebenso wie es Arbeit war, daran zu glauben, dass er es nicht mehr tun würde. Jeremy war bereit, sich dieser Angst zu stellen und an Jean zu glauben. Ihm vertrauen. Doch manchmal war es hart. Dass der andere Junge mit Gargamel auf dem Arm nach unten kam und innehielt, als er sah, dass nicht nur Jeremy, sondern auch Ty und Jamie ihn anstarrten, war auf seine ganz eigene Art und Weise charmant. „Er wollte nicht mehr runtergehen“, rechtfertigte Jean sich für den Kater auf seinen Armen, der auch jetzt keine Anstalten machte, sich aus den Armen zu befreien. Jeremy lächelte glücklich und zwinkerte. „Wenn sein Drillingsbruder dich schon anruft, dann darf er ja nicht mehr fehlen…das nennt man Geschwisterneid.“ Jeans graue Augen sagten ihm sehr deutlich, wie unamüsiert sein Backliner war und Jeremy winkte ihm fröhlich. „Andrew wollte ihn sehen“, erwiderte er und deutete auf den Kater in seinen Armen, der zufrieden vor sich hinschnurrte. Es war Jamie, der brummte. „Dein Freund?“, fragte er so unschuldig, dass Jeremy ihm beinahe den Hals dafür umgedrehte. Jean runzelte mit der Stirn, als er anscheinend über die Frage nachdachte. „Nicht wirklich. Wir…kennen uns.“ „Ihr habt was miteinander am Laufen?“, stimmte Tyler mit ein und Jeremy warf ihm einen warnenden Blick zu. Ganz im Gegensatz zu Jean, der mit dieser Frage nichts anfangen konnte. „Was bedeutet das?“, fragte er ehrlich verwirrt und Jamie schnaubte amüsiert. Jeremy grollte. „Es bedeutet, ob ihr zusammen seid. Als Paar“, warf Jeremy ein, bevor seine Brüder Jean irgendeinen Mist erzählen konnten. Überrascht weiteten sich die grauen Augen und Jean war im ersten Moment regelrecht sprachlos. Selbst seine Gestik war für einen Moment eingefroren und dann verließ ein fragender Laut seinen Mund. „Andrew und ich?“, echote er ungläubig und sah von Jeremy zu Jamie zu Ty. Seine älteren Brüder nickten unisono und Jean schüttelte abwesend den Kopf. „Nein. Er und ich…wir…nein. Ich…nein“, verließ es vollkommen verwirrt seinen Mund und hilfesuchend sah er Jeremy an. „Wieso sollten wir? Hat es den Anschein, als wären wir ein Paar?“ Er schüttelte den Kopf und lächelte Jean versichernd zu. „Dumm und dümmer ziehen dich nur auf, Jean. Nein, hat es nicht.“ „Doch hat es“, warf Jamie ein und Jeremy zeigte ihm den Mittelfinger. „Andrew hat bereits jemanden“, sagte Jean weitaus eloquenter und seine informationsgierigen Brüder horchten auf. „Wen?“ Jean schüttelte den Kopf. „Das ist nicht an mir zu sagen.“ Das zweifache, gepeinigte Aufstöhnen ließ Jeremy grinsen. Die kommenden Worte des ältesten Knox-Sprosses weniger. „Also unser kleiner Bruder hier ist noch Single“, merkte Jamie nonchalant an und deutete viel zu engagiert auf ihn, als dass es Jeremy wohl damit gewesen wäre. Wütend fauchte er. „Das hier ist keine Kuppelbörse, sondern Thanksgiving. Ich habe Jean nicht mit nach Hause gebracht, damit ihr mich unter die Haube bringt. Oder ihn.“ „Schade aber auch.“ „Tyler!“ Sein Glück war nur, dass Jean diese ganz speziellen Vokabeln nicht kannte. So wütend Jeremy das auf Riko auch machte, in diesem Moment war er erleichtert über diesen Umstand und gelobte, Jean in der Zukunft über alle Formen aufzuschlauen. „Jean, wolltest du mir nicht noch Nachhilfe in Französisch geben? Jetzt wäre eine gute Möglichkeit, abseits dieser beiden Blödmänner auf der Farm“, blies er die erste Ausrede, die er fand, in den Äther und wurde sich anhand der viel zu unschuldigen Gesichter seiner Brüder bewusst, was er da eigentlich gerade gesagt hatte. Er erhob sich ruckartig. „Natürlich gerne“, sagte Jean in die verräterisch ruhige Stille und sah ihm verwirrt in die Augen. „Ich hoffe, du wirst ein strenger Lehrer sein“, sagte Tyler mit einem verdächtig zuckenden Mundwinkel und Jean runzelte die Stirn. „Welchen Zweck hätte Nachsicht?“, fragte er allen Ernstes und Jeremy wollte einfach nur noch raus aus dem Wohnzimmer und die Drei trennen. Das konnte doch nicht gut enden. „Keinen. Also ist es umso besser, dass wir damit jetzt anfangen“, lockte er seinen Backliner zu sich und Jamie nickte staatstragend. Jean ließ währenddessen den protestierenden Gargamel auf den Boden nieder und strich ihm über das rote Fell. „Ja, Jean. Jeremy braucht eine strenge Hand. Was den Französischunterricht angeht.“ „Stör dich nicht an ihm. Wirklich nicht“, sagte Jeremy, als Jean etwas erwidern wollte und floh mit ihm aus dem Haus, weg von seinen Brüdern, deren Lachen auch noch zu hören war, als sie das Haus verließen. „Knox?“ Jeremy knirschte mit den Zähnen. „Hmh?“ „Waren das zweideutige Fragen?“ Gepeinigt nickte Jeremy. „Ja, sehr. Die Beiden sind unmöglich. Wirklich. Nimm dir das nicht zu Herzen, was sie gesagt haben. Da kommt nur heiße Luft heraus und die kann man noch nicht einmal als Abwärme gebrauchen.“ Zweifelnd starrte Jean auf ihn herunter. Er war immer noch verwirrt, aber Jeremy erkannte keinen Widerwillen in den grauen Augen. Während sie schweigend zu Jeremys erster Station – dem Hühnerstall weit weg von Haus – gingen, arbeitete es ungewöhnlich ausdrucksstark in Jeans Gesicht. Seine Lippen bewegten sich, als wollten sie Fragen stellen und mehr als einmal wandte Jean ihm seinen Kopf zu, nur um ihn dann wieder abzuwenden. Seine Nervosität steckte Jeremy an und als sie schlussendlich beim Hühnerstall ankamen, drehte er sich entschlossen zu Jean um ihn zu fragen, was ihm auf der Seele lag. Der andere Junge kam ihm zuvor, die Hände in den Ärmeln seines Pullovers vergraben. Jean war unsicher. War es wegen etwas, das Jeremy getan hatte? Oder seine Brüder? Oder war es das Telefonat mit Andrew gewesen? Jean räusperte sich gewaltsam, bevor er auch nur eine der Fragen stellen konnte. „Deine Geschwister… sie scheinen anzunehmen, dass wir verbunden sind, also auf eine amouröse Art. Wieso?“, fragte er und seine Augen vermieden jeden Blickkontakt zu Jeremy. Das schmerzte, denn er erkannte die Angst, die hinter dieser Frage lauerte. Wie könnte er da jemals ehrlich zu Jean sein? Jeremy schnaubte und gab sich alle Mühe, ironisch verzweifelt zu klingen. Letzteres war kein Problem, ersteres…schon mehr. „Sie gehen bei jedem Jungen, den ich mit nach Hause bringe, davon aus, dass es mein neuer Ehemann werden wird. So sind sie, seitdem ich ihnen gesagt habe, dass ich schwul bin“, rollte er mit den Augen. Das entsprach schließlich der Wahrheit, denn über mangelnden Zuspruch konnte sich Jeremy innerhalb seiner Familie wirklich nicht beklagen. Im Gegenteil. „Ein Ehemann?“, echote Jean verwundert. „Das ist möglich?“ „Seit ein paar Jahren schon.“ Ein überraschtes Geräusch verließ Jeans Kehle und nun nachdenklich starrte er in Jeremys Augen. „Gibt es denn einen Anlass, dass sie das tun? Also dass sie in mir einen potenziellen…Ehemann für dich sehen?“, fragte Jean vorsichtig und Jeremy lächelte so sanft, wie es ihm möglich war. Da war sie, die gefürchtete Frage, die er nicht komplett ehrlich beantworten konnte, ohne Jean zu verschrecken. „Sie sehen vermutlich viele Anlässe. Du bist groß, breitschultrig, siehst gut aus, hast einen entzückenden, französischen Einschlag in deiner Stimme, du spielst nicht nur Exy, sondern bist auch verdammt gut darin, bist in meinem Team, wir hängen viel ab, du likest meine Posts in den Social Media Kanälen mehr als die der Anderen, ich habe dich mit nach Hause gebracht und sicherlich noch einiges mehr, wenn man sie fragt.“ Soweit die ehrliche Antwort. Alles davon stimmte. Jean verwirrte das deutlich, das sah Jeremy. Es machte ihn gleichermaßen nervös, wie immer, wenn er Komplimente bekam. „Was hat mein Aussehen damit zu tun?“ Nun war es an Jeremy, verlegen zu lachen. Er rieb sich über den Nacken und beobachtete ein paar der Hühnerdamen dabei, wie sie das Futter aufpickten. „Alle meine bisherigen Freunde und Liebschaften haben eines gemeinsam: sie sind groß und breitschultrig“, gab er zu und schluckte, als seine Worte Einzug fanden in Jeans Begreifen. „Wünschst du das von mir? Dass ich mit dir eine Beziehung führe?“, fragte Jean schließlich ungelenk und sein besagter, französischer Akzent kam um einiges stärker heraus als noch ein paar Sekunden zuvor. Jeremy starrte dem größeren Jungen in die Augen, die ihn leicht geweitet und definitiv hochgradig unsicher maßen. Ja!, schrie alles in ihm. Ja verdammt, ja, ich wünsche mir das! Jeremy schloss die Lippen und ahnte, dass je länger er mit der Antwort zögerte, er sich umso verdächtiger machen würde. Je länger er Jean anstarren würde, desto eher würde man sehen, was er wirklich wollte. Er räusperte sich. „Jean, ich wünsche mir, dass du glücklich wirst. Ich wünsche mir, dass du ein normales Leben führen kannst mit dem Menschen oder den Menschen, die du liebst und die du für wichtig erachtest. Ich wünsche mir, dass du alles Glück der Welt findest, um all das wieder gut zu machen, was dir schlimmes passiert ist. Ich wünsche mir deine Gegenwart, weil du ein toller Mensch bist, der witzig und gnadenlos zugleich ist. Ich wünsche mir deine Gegenwart, weil du mich spielerisch forderst und mich voranbringst. Und ich wünsche mir deine Gegenwart, weil ich mich wohl in deiner Nähe fühle.“ Jean musterte ihn lange. Viel zu lange, als dass es sich angenehm für Jeremy anfühlte und er schluckte mühsam, als sich die Sekunden zu Minuten hinzogen. „Wünschst du dann meinen Körper?“, versetzte Jean ihm dann den Todesstoß und Jeremy war im ersten Moment nicht in der Lage, überhaupt darauf zu reagieren. Dann jedoch war er umso glücklicher um die Frage, denn sie erlaubte es ihm, zumindest teilweise zu lügen. Wünschte er sich Jeans Körper? Nein, nicht in dem direkten Sinn der Frage. So, wie Jean sie gestellt hatte, war sie passiv, als hätte Jean kein Mitspracherecht. Ja, Jeremy wollte Jean körperlich nahe sein, aber das musste auf Gleichberechtigung beruhen. Niemals auf einseitigem Begehren. „Nein, Jean, denn dein Körper gehört dir und nur dir allein“, erwiderte er so ehrlich es ihm möglich war. „Du triffst die Entscheidung darüber, niemand sonst.“ Sturmgeweiht runzelte sich Jeans Stirn, als er über die Worte nachdachte und sie in seinen eigenen Gedanken zu etwas Sinnvollem zusammenfügte. Eines der Hühner kam zu ihnen, anscheinend auf der Suche nach Futter oder weil sie wusste, dass Jeremy immer gut für ein Kraulen unter den Federn gut war. Es pickte sich seinen Weg zu ihnen, blieb stehen, pickte weiter und Jeremy war dankbar um die Ablenkung. „Une poule“, sagte Jean nach einer Weile und Jeremy blinzelte. Fragend sah er zu dem anderen Jungen, der nun mit dem Kinn auf das leise vor sich hin kollernde Huhn. Erst nach ein paar Sekunden begriff er, was Jean damit meinte und ein breites Lächeln schob sich auf sein Gesicht. „Une poule“, wiederholte er langsam und Jean nickte bedächtig, seine Gedanken sorgsam hinter neutralen, grauen Augen verborgen. ~~**~~ Dass das Haus Knox geschäftig wie ein Bienenstock war, hatte Jean schon seit seinem Eintreffen hier bemerkt. Es war keine hektische Geschäftigkeit, sondern etwas Energiegeladenes, chaotisch Gutes, was um ihn herumschwirrte, auch wenn Jean Mühe hatte, in all dem Trubel den Überblick zu bewahren. Da war selbst das Spiel gegen die chaotischen Foxes übersichtlicher gewesen, befand er, während er in der Küche stand und einen Schüssel Kürbis in der einen und eine Schüssel Karotten in der anderen Hand balancierte, gleichzeitig mit seiner Hüfte den Kühlschrank offenhaltend, damit Knox‘ ältester Bruder die Getränke und den Wein herausnehmen konnte. Beide Schüsseln wurden ihm von Mr. Knox abgenommen und durch die Nuss-Cranberrymischung und die dazugehörige Sauce ersetzt. Auch diese wurden ihm abgenommen, dieses Mal durch Tyler und Mia. Da seine Aufgabe am Kühlschrank scheinbar beendet war, stellte sich Jean wieder in den Bereich der Küche, der nicht von dem Bienenschwarm besucht wurde und wartete darauf, dass er weitere Anweisungen erhielt. Wenn er es sich ehrlich eingestand, hatte er Angst, etwas falsch zu machen, da dieser Tag mit einem solchen Verve zelebriert wurde, dass es Jean davor schon beinahe gruselte. Alles musste stimmen, das Essen musste ausreichend sein, die Dekorationen mussten passen. Der Tisch, den er kurz zu Gesicht bekommen hatte, war nach Knox‘ Aussage herbstlich orange gedeckt, mit Kürbissen und Ähren, die mit bunten Blumen gebunden worden waren. Die Servierten und die Kerzen hatten die Farben der Foxes und die Vielzahl an Tellern, Schalen, Besteckarten, Gläsern und Karaffen ließen Jean schon erahnen, dass er nicht nur einmal nach dem Sinn fragen musste. Es machte ihm nicht mehr so viel aus wie am Anfang, insbesondere auch deswegen, weil diese Familie auf keine seiner unwissenden Fragen mit Hohn oder Spott reagiert hatte. Alles war ihm geduldig erklärt worden. „Jean, mein Guter, kannst du mir beim Truthahn helfen?“, fragte Mrs. Knox und er nickte schweigend. Er kam zu ihr und sie drückte ihm ein paar Handschuhe in die Hand, die er mittlerweile als Ofenhandschuhe identifiziert hatte. „Lass uns Kunigunde hier gemeinsam auf den Herd hieven, sie ist doch recht schwer.“ Kunigunde, auch das hatte Jean gelernt, war der Truthahn, der knusprig braun und lecker riechend aus dem Ofen kam und den er nun zusammen mit Mrs. Knox hochstemmte. Wirklich schwer war er nicht, aber Jean freute sich, dass er helfen konnte und erleichtert schnaufte Knox‘ Mutter. „Ich hoffe, die gute Dame reicht für uns alle“, sagte sie mit hoffnungsvollem Blick auf ihn. Jean nickte schweigend und hinter ihm schnaubte sein Kapitän. „Niemals. Hast du dir angesehen, wie hungrig die beiden Pubertiere sind? Die werden den Vogel alleine essen“, sagte Knox mit geröteten Wangen und teilweise abstehenden Haaren. Er war einer derjenigen gewesen, die durch das ganze Haus gewuselt waren. Jean ließ seine Augen über ihn gleiten und unwillkürlich drifteten seine Gedanken zu ihrem Gespräch am Mittag ab. Auch jetzt noch beschleunigte sich Jeans Herzschlag, wenn er an die schwierige Frage dachte, die er gestellt hatte, nachdem es ihm gelungen war, all seinen Mut zusammen zu kratzen. Knox‘ Antwort hatte ihn beruhigt, auch wenn er im Laufe des Tages immer wieder darüber nachgedacht hatte, was sie eigentlich zu bedeuten hatte. Knox hatte so viele gute Dinge zu ihm gesagt, aber Jean gewann den Eindruck, dass er Dinge nicht klar formuliert hatte. Was genau, das konnte er allerdings nicht wirklich sagen. Vielleicht lag es auch an der absurden Vorstellung von Knox‘ Geschwistern, dass Knox und er heiraten würden. Jean schnaubte innerlich und zuckte zusammen, als ihn jemand aus seinen Gedanken rempelte. Sanft war, aber dennoch unmissverständlich Körperkontakt. Er sah hoch und der zentrale Punkt seiner Überlegungen zwinkerte gutmütig, während sich Mrs. Knox neben ihm vernehmlich räusperte. „Der Vogel“, soufflierte sie und Jean nickte hastig. „Selbstverständlich.“ Gemeinsam wuchteten sie ihn auf das Serviertablett und trugen ihn unter Applaus zur großen, extra dafür hergerichteten Tafel im Wintergarten des Hauses. Jean nahm auf dem für ihn vorgesehenen Stuhl neben seinem Kapitän Platz und verharrte, ob seine Hilfe noch weiterhin benötigt werden würde. Dem war anscheinend nicht so, denn er geschäftige Bienenschwarm kam zur Ruhe und wartete andächtig darauf, dass Mrs. Knox den Truthahn anschnitt. Jean hatte noch nie so viele leuchtende Augen auf einem Fleck gesehen wie hier und er gab es auf, sich gegen das warme Gefühl in seiner Magengegend zu wehren, das sich verdächtig nach Entspannung anfühlte. Entspannung und etwas, das er als Vertrautheit identifizieren würde, auch wenn es nicht ganz passte. „Teller bitte!“, rief Mrs. Knox und Jean reichte ihr mit den anderen gehorsam sein Geschirr, damit er seine eigene, großzügige Portion Fleisch darauf bekam. Dann begann das Durchreichen der Teller und Verteilen der Beilagen auf selbige und Jean gab sich die größte Mühe, die richtigen Portionen auf die jeweiligen Personen zu verteilen und den Wünschen aus „Mehr!“, „Viel mehr!“, „Gib mir ruhig alles!“ gerecht zu werden. Beinahe hätte er dabei übersehen, was sein eigener Kapitän mit seinem Teller anstellte und als er sich dessen bewusst wurde, durchlief ihn ein heißkalter Schrecken. „Knox!“, grollte er und das geschäftige Geplapper des restlichen Tisches kam innerhalb von Sekundenbruchteilen zum Erliegen. „Ja?“, schallte es dann unisono aus breit grinsenden Gesichtern der gesamten Familie zu ihm und Jean begriff abrupt seinen Fehler. Verdächtige Hitze stieg seine Wangen empor und er senkte seine Hand, die Kn…Jeremy davon abhalten sollte, ihm zuviel auf den Teller zu tun. „Ich…“, begann er und es war Mrs. Knox, die ihm amüsiert die Hand auf den Arm legte. „Alles gut, wir foppen dich nur, Jean.“ Er schnaufte und begnügte sich damit, seinen Kapitän in Grund und Boden zu starren, während dieser ihm seinen übervollen Teller zurückreichte. Wie sollte er das alles essen? Solche Portionen hatte er in drei Tagen in Evermore nicht zu sich genommen, geschweige denn zu essen bekommen. Zweifelnd starrte Jean das große Stück Truthahn an, das darauf wartete, von ihm gegessen zu werden. Samt Füllung, samt Beilagen und, falls jemand noch nicht satt war, würde danach auf noch der Nachtisch folgen. „Coach wird uns Extrarunden laufen lassen“, murmelte er mehr zu sich als zu seinem Kapitän und Jeremy lachte. „Nicht nur eine und glaube mir, nach Thanksgiving wirst du froh um jede Minute Sport sein, die dir die Schwere deines Magens nimmt.“ Jean erwiderte nichts. Alleine, dass er zwar mit anerzogener Sorge an ihren Trainer dachte, dass er aber keine Angst vor einer Rückkehr in dessen Stadion hatte, zeigte ihm den Fortschritt, den er schon gemacht hatte. Auch wenn er es noch immer vermied, alleine mit Rhemann in einem Raum zu sein oder ihm direkt in die Augen zu sehen, wenn er nicht musste. Nichtsdestotrotz wurde er gnadenlos gemästet und badete während des Essens in den lebhaften Gesprächen und Themen dieser sich liebenden Familie. Es war Jean nicht unangenehm, ganz im Gegenteil, denn es zeigte ihm, dass nur seine Welt schlecht war, nicht jedoch die der anderen Menschen. Diese Familie hier kannte so etwas wie Gewalt und Kriminalität, Unterdrückung und Folter nicht. Diese Familie war normal. Sie war so, wie er sich seine immer gewünscht hatte und war nun froh, dass er zumindest tageweise an ihrem Leben teilhaben durfte. Natürlich war Jean angespannt, alleine schon, weil er immer die Befürchtung hegte, dass er etwas falsch machte und damit ungeschriebene Konventionen verletzte, die er nicht gelernt hatte. Aber unter die Anspannung mischte sich eine Sicherheit, die er vorher so nicht gekannt hatte. Es war eine normale Familie und sie sahen ihn nicht als komisch an, weil er es teilweise nicht schaffte, sich so zu verhalten, wie sich normale Menschen verhielten. Doch er besserte sich. Er war kein tollwütiger Hund mehr, der auf Rikos Befehl Menschen terrorisierte. Jean lächelte ob dieser Erkenntnis und löffelte schließlich gehorsam seinen Nachtisch, der viel zu mächtig, aber nicht annähernd so süß war, wie er es vermutet hatte. Den Wein, den die erwachsenen Mitglieder der Familie tranken, hatte er zwar probiert, aber auch hier hatte ihm der Alkohol nicht geschmeckt. Es war okay gewesen, dass er ihn stehen ließ, insbesondere für seinen Kapitän, der den Rest seines Probierschluckes aufgetrunken hatte, die Wangen rot und die Augen leuchtend. Eine der aufsässigen Haarsträhnen fiel ihm immer wieder ins Gesicht und Knox strich sie sich zurück, fahrlässig genug, damit sie wieder zurückfiel. Es juckte Jean in den Fingern, das richtig zu machen, aber er beherrschte sich. Einen anderen Menschen einfach so anzufassen, war immer noch schwierig bis unmöglich für ihn. Dass das Abräumen des Tisches wie auch das gemeinsame Spülen und Abtrocknen ein stetiges Gerempel und Geschiebe war, ließ sich nicht verhindern. Jean hatte nach kurzer Zeit seinen Weg gefunden, sich aus diesem Pulk zu ziehen und trotzdem mitzuhelfen und wie durch ein Wunder respektierte das diese wunderliche Familie ohne Kommentar. Es dauerte weniger als eine halbe Stunde, bis sie fertig waren und zurück an den dekorierten Tisch kehrten, mit warmen Gewürzwein und, im Fall der Zwillinge und von Jean, warmen Apfelsaft. „So, meine Freunde, kommen wir zu unserer alljährlichen Thanksgiving-Tradition.“ Mr. Knox sah mit einem warmen Lächeln in die Runde und hob den kleinen, aus Holz geschnitzten Kürbis auf den Tisch, den er zuvor neben sich auf dem Boden platziert hatte. „Jetzt, wo alle vollgefressen sind und nicht weglaufen können, ist der perfekte Moment gekommen, um zu sagen, wofür wir in diesem Jahr dankbar sind.“ Knox hatte ihn bereits im Vorfeld darüber aufgeklärt, dass dies passieren würde. Ein uralter Brauch der Familie, bei dem Jean aber nicht mitmachen müsste, wenn er nicht wollte. Jean war sich dessen nicht sicher, auch jetzt noch nicht, als der Kürbis an Mrs. Knox ging. Olivia, wie er in seinen Gedanken wiederholte, da sie ihn sanft tadelnd beim Spülen korrigiert hatte. „Ich bin dankbar, dass es uns allen so gut geht, dass wir gesund sind und unsere Tiere wie auch unsere Mitmenschen mit Respekt behandeln. Ich bin dankbar für unsere gut geratenen Kinder, die uns weniger Stress machen als gedacht und ganz vorzügliche Menschen geworden sind, die für Nächstenliebe und unsere Werte einstehen.“ Jean konnte dem nur beipflichten. Knox war ein Mensch, den er so vorher noch nie kennengelernt hatte. Unschuldig und gut, zwei Eigenschaften, die es in einer solchen Reinheit eigentlich nicht geben sollte. Und doch war er da. Der Kürbis wanderte weiter an Jamie. „Ich bin dankbar, dass ich eine solch wunderbare Familie habe, die mich jeden Winter wieder so sehr mästet, dass ich das ganze Frühjahr damit beschäftigt bin, die Kilos loszuwerden. Außerdem bin ich dankbar für die emotionale Unterstützung und die vielen, guten Ratschläge, die mich und mein Geschäft vorangebracht und mir eine Lebensgrundlage gegeben haben, die mir Zufriedenheit schenkt, jeden Tag wieder.“ Jean hatte von Mr. Knox erfahren, dass Jamie einen Handel für Landwirtschaftsmaschinen hatte und damit nach einem holprigen Start ziemlich erfolgreich war. Mia war die Nächste und sie warf den Kürbis durch die Luft, um ihn dann geschickt wieder aufzufangen. Sie spielte Baseball in der Highschool, was zu einem ständigen Sportstreit zwischen ihr und Knox führte, den Jean mittlerweile zu seinem eigenen Seelenheil ausgeblendet hatte. „Ich bin dankbar für euch alle und dafür, dass ihr uns soviel wunderbare Gelegenheiten beschert, unser Wissen an der Schule zu teilen.“ Jean schnaubte innerlich amüsiert. Ob ihre Eltern wussten, dass sie eine knallharte Geschäftsfrau war? Neben ihm hob Knox bedeutungsschwanger die Augenbraue, als sie ihm den Kürbis zuwarf. Jean wandte sich seinem Kapitän zu und musterte ihn aufmerksam und damit auch die Strähne, die wieder nicht tat, was sie sollte. Seine Finger zuckten. „Ich bin dankbar für das vergangene Jahr, weil ich eine Familie habe, die mich unterstützt und die mich liebt. Ich bin dankbar, dass ich euch unterstützen und lieben kann. Ich bin ebenso dankbar für das Jahr und dass es mir neue Wege eröffnet hat, neue Perspektiven und neue Freunde geschenkt hat, deren Gesellschaft ich überaus schätze.“ Selbst mit seiner eingeschränkten, sozialen Erfahrung wusste Jean, dass Knox ihn meinte, als er ihn nun ansah. „Ich bin dankbar für das Leben, das ich bisher geführt habe und was noch kommen wird. Ich bin dankbar für jeden Moment.“ Knox atmete tief durch und gab ihm den Kürbis, ein solides und schweres Ding in Jeans Händen. Er sah darauf hinunter und haderte mit sich. Seine Zweifel, ob er dann nicht ein Eindringling wäre, wenn er sich beteiligen würde, hatte Knox gestern zerstreut. Sollte er also auch? Es juckte ihm in den Fingern, sich zu beteiligen und nicht nur dabei zu sitzen. „Wie gesagt, du musst nicht, Jean. Es besteht kein Zwang.“ Nein, aber er wollte. Jean sah hoch und nickte ernst. „Ich bin dankbar, dass ich hier sein darf“, begann er unsicher und räusperte sich. Das war schlimmer als jede Pressekonferenz nach ihren Spielen. „Ich bin dankbar, dass ich in den Tagen, die der Familie gehören, anwesend sein darf und mit Freundlichkeit behandelt werde. Ich bin auch dankbar dafür, am Leben zu sein und die Möglichkeit bekommen zu haben, am Leben zu bleiben. Ich bin dankbar, dass ich akzeptiert werde und ich bin dankbar für deine Anwesenheit in meinem Leben und deine Bereitschaft, mich in deinem Leben zu haben. Ich bin dankbar für jeden Moment mit dir.“ Er hatte sich während des Sprechens zu Knox gewandt, der ihn nun mit großen, geweiteten Augen anstarrte, in denen ein verdächtiger Tränenfilm schwamm. Der Rest des Tisches war auch verdächtig still und Jean fragte sich mit neuerlichem Schrecken, ob er etwas Falsches gesagt hatte oder die Tradition falsch verstanden hatte. Mit Horror sah er, wie die ersten Tränen fielen und öffnete seine Lippen, um sich zu entschuldigen, als sein Kapitän ihn unzeremoniell in die Arme schloss. Dass er nicht, wie sonst, vorher fragte, war in Ordnung. Jean wusste, dass Knox ihm keine Gewalt antun würde. „Das ist so schön, Jean. So wunderschön!“, murmelte Knox und Jean seufzte erleichtert, während er ihm vorsichtig die Arme um den Oberkörper legte und von der einen, verdammten Haarsträhne gekitzelt wurde. ~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 50: Die Komplexität von Berührungen ------------------------------------------- Jeremy hievte zusammen mit Jean die Essenstüte in seinen Wagen und schnaufte glücklich. Der andere Junge war da weniger enthusiastisch und Jeremy konnte seine Gedanken schon förmlich hören. Seine Mom hatte ihnen Essen für eine ganze Exymannschaft eingepackt und Jeremy hatte Jean wiederholt dabei beobachtet, wie dieser sich nachdenklich über seinen Bauch strich. Dass der sich aufgrund der schieren Menge an Essen ein bisschen wölbte, sich aber auch wieder entwölben würde, wusste Jeremy und deswegen sah er mit einem liebevollen Amüsement auf Jeans Sorge und konnte sich geradeso davon abhalten, Jean ebenfalls über den Bauch zu streichen, sein Ohr daran zu legen und sich darüber auszulassen, dass das Kleine schon strampelte. Wenn er todessehnsüchtig war, dann würde er das tun, ja. Oder wenn er schneller als Jean sprinten können würde. Angesichts seiner eigenen Vollgefressenheit bezweifelte Jeremy das aber hochgradig. Er drehte sich um und grinste, als er Barnies enorm-schwarzes Hinterteil dabei beobachtete, wie es sich umständlich auf die Rücksitzbank seines Autos schob. „Guck, er möchte mitkommen“, sagte er zu Jean, dessen Augen mit liebevoller Missbilligung auf dem Hund ruhten. „Er passt nicht in mein Bett“, erwiderte Jean und schnaubte. „Wenn er sich darauflegen sollte, werde ich für den Rest der Zeit auf der Couch schlafen müssen.“ Ungebeten überkamen Jeremy Erinnerungen an Jeans anfängliche Angst, in seinem Bett an der USC zu schlafen und umso wunderschöner war nun Jeans liebevoller Missmut über Barnie in eben diesem. „Dann lock ihn mal heraus“, sagte Jeremy aus dem einzigen, egoistischen Grund heraus, Jean mit Barns umgehen zu sehen und mitzuerleben, wie er große, böse dreinschauende Backliner an schwarzen Hundeaugen, einer viel zu kalten Nase, einer viel zu feuchten Zunge und darüber hinaus an einem leidenden Winseln scheiterte. Wer konnte es ihm da verdenken, dass er sein Handy zückte und ein Video machte und das spätestens in dem Moment zu wahrem Gold wurde, als auch noch Gargamel hinzukam und Jeans Vorhaben, einen widerwilligen und störrischen Neufundländer aus seinem Auto zu bekommen, erheblich erschwerte, indem er ihm begeistert um die Beine strich? ~~**~~ Bevor sie endgültig hatten fahren können, war Jean noch von beinahe jedem Mitglied der Familie Knox umarmt worden. Allesamt waren sie vorsichtig gewesen, sanft, sie hatten ihm trotz der körperlichen Nähe Raum gegeben. Knox‘ Mutter hatte ihn zusätzlich auf die Wange geküsst und ihm zugemurmelt, wie glücklich sie war, dass Knox und er ein Stück des Weges zusammen gingen. Mr. Knox hatte ihm die Hand gegeben und sie firm geschüttelt. Das Nicken war stumm gewesen und doch hatte Jean das Gefühl, dass er nicht mehr gänzlich als schlimmer Mensch betrachtet wurde. Jean hätte es nicht gedacht, doch die Ruhe und Entspannung der letzten Tage und der Anwesenheit inmitten der Familie Knox wirkte auch jetzt noch nach, wo sie wieder zurück fuhren nach Los Angeles und Knox ihm sein Handy gab, damit Jean alle Fotos und Videos sehen konnte, die er über die Tage gemacht hatte. „Ist das auch okay?“, fragte er zweifelnd und starrte auf das entsperrte Gerät in seinen Händen. Niemals würde er freiwillig sein eigenes weggeben und so war es umso gewichtiger, dass er nun das seines Kapitäns in den Händen hielt. Jeremys, verbesserte sich Jean in Gedanken. „Aber klar ist es das! Allerdings nur, wenn du mir sagst, welche ich in den Trojans Gruppenchat posten darf und welche nicht.“ Diese Aufgabe war einfach und so scrollte sich Jean durch alle Bilder, die Knox von ihrem Aufenthalt gemacht hatte. An dem Foto von Barnie, sich und Gargamel blieb er schließlich hängen und starrte nachdenklich auf das Bild voller schlafender Ruhe. „Du hast ein Foto gemacht“, sagte er schließlich, das Offensichtliche in den Raum zwischen ihnen stellend und vorsichtig nickte Knox. „Ja, denn ich wollte diesen absolut friedlichen und schönen Moment festhalten.“ Knox lächelte dabei beinahe schon verträumt und Jean legte den Kopf schief. Ein friedlicher und schöner Moment? Jean war sich da nicht so sicher. Sein Verstand zog unweigerlich Parallelen zu dem Video, das von ihm gemacht worden war, während er…während Riko… Er schluckte. Knox war nicht Riko, er würde keine Videos von ihm drehen, während er Anderen vollkommen schutzlos ausgeliefert war. Das hier war nur ein Bild und sein Kapitän hatte es nicht aus dem gleichen Grund gemacht wie Riko das Video. Es ging nicht darum, sein Leid festzuhalten, sondern… ja, was? „War das der Grund, aus dem du das Foto gemacht hast? Um diesen Moment festzuhalten?“, hakte er nach und Knox nickte mit einem kurzen Blick zu ihm. „Es sah so wunderschön aus und auch irgendwie niedlich aus“, rechtfertigte sein Kapitän sich und Jean hob die Augenbraue. „Niedlich…?“, hakte er langsam nach und Knox lachte ein peinlich berührtes Lachen. „Ja, niedlich. Der große, böse Backliner, der einen gigantischen, schwarzen Teddybären im Arm hält und der von Gargamel – dem roten Fluff – umarmt wird. Das hat schon sehr viel Niedlichkeitspotenzial.“ Jean starrte Knox schweigend in das seitliche Profil, bis dieser nervöser und nervöser wurde. Er starrte weiter, als er mehr als nur einen kurzen Seitenblick bekam und sich die Hände um das Lenkrad krampften und entkrampften. „Niedlichkeitspotenzial?“, echote er langsam und stierte seinem Kapitän weiterhin ins Profil. Es dauerte noch etwas, bis Knox wimmerte. „Jeee~eeean, hör auf, mich anzustarren“, jaulte er auf. „Ich meine, das wäre wirklich gute Publicity, Fotos mit Tieren sind immer gut und dein Instagramaccount würde explodieren, da bin ich mir sicher. Deine Fans würden ausrasten, sie würden sich Poster drucken, sie würden…“ Jean hielt seinem Kapitän mit zwei Fingern den Mund zu. „Ich bin nicht niedlich“, sagte er schlicht, aber mit Andrews Betonung, wenn er Josten mit einem mehr als hundertprozentigen Tod drohte. Knox schauderte und seine Lippen hoben sich, was Jean nur zu deutlich spürte. Was er noch viel deutlicher spürte, war aber Knox‘ Zunge auf seinen Fingern, wie sie feucht und rau über seine Haut leckte. Erschrocken zog Jean seine Finger zurück und starrte ihn nun seinerseits schockiert an. Ihn, seine Hand, wieder ihn. Das Kribbeln hatte sich bis in seine Wirbelsäule ausgebreitet. Wie war das möglich? „Knox!“, sagte er dann empört und sein Kapitän grinste breit. „Darf ich dir meine Geheimwaffe vorstellen?“ „Deine Zunge?!“ „Oh ja.“ „Vielleicht solltest du sie dann dazu einsetzen, Bälle zu spielen“, sagte Jean und Knox‘ Augen weiteten sich beinahe schon komisch, bevor er in freies, amüsiertes Gelächter ausbrach. Warum, das wusste Jean nicht und ein verwirrter Laut verließ seine Lippen. „Ich bin schwul, Jean, ich setze meine Zunge sehr oft dazu ein, mit Bällen zu spielen“, sagte er verschmitzt und wackelte mit den Augenbrauen. Mehr als die Worte war es der Ton, der Jean sagte, dass es etwas sehr Zweideutiges sein musste und überrascht blinzelte er. „Was genau meinst du damit?“, fragte er neugierig und Knox zuckte zusammen. Sein Lachen bekam eine nervöse Ecke. ~~**~~ Oh Gott. Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Dieses Gespräch lief in eine vollkommen falsche Richtung. Nein, falsch war gar kein Ausdruck dafür, was hier gerade passierte. Diese doppeldeutigen Witze konnte er mit Al machen oder mit Val, aber nicht mit Jean. Nicht mit Jean, wiederholte Jeremy in seinen Gedanken immer und immer wieder. Höchste Zeit, die Kuh vom Eis zu bekommen. „Ach, das sagt man nur so“, wiegelte er mit einer nachlässigen Bewegung seiner freien Hand ab. „Wozu?“ Jeremy stöhnte innerlich auf. Nein, das durfte nicht sein. Mit Mühe riss er sich zusammen. „Jean, willst du das wirklich wissen?“, fragte er dann sanft und sein Beifahrer runzelte die Stirn. „Sonst würde ich nicht fragen.“ Er seufzte und schwieg für einen Moment. Er wägte seine Worte ab, wieder und wieder, bevor er die Lippen öffnete und sie langsam wieder schloss. „Es geht um Sex und Intimität zwischen zwei Männern“, begann er und warf einen kurzen Seitenblick auf seinen Beifahrer. In Jeans Gesicht war keine Abneigung zu lesen, ganz im Gegenteil. Abwartend verharrte er. Als Jeremy immer noch zögerte, machte er mit seiner Hand eine auffordernde Geste. Jeremy schloss die Augen. Ob das Sinn machte, wenn man am Steuer saß, bezweifelte er ein paar Sekunden später und riss sie wieder auf. Sie umzubringen war keine Lösung für sein momentanes Problem. „Mir macht es Spaß, meinen Partner oral zu befriedigen. Mit meiner Zunge“, sagte er schließlich mit Verspätung und spürte verräterische Wärme seine Wangen emporkriechen. Es blieb still im Wagen und nach einem weiteren, mutigen Blick sah Jeremy, dass Jean interessiert und nicht abgestoßen war. „Wie macht man das?“, fragte er schließlich mit einer gnadenlosen Ehrlichkeit, die Jeremy innerlich wimmern ließ, während seine Augenbrauen in die Höhe schossen. „Eeeh…willst du eine genaue Beschreibung?“ Jean nickte. Er nickte. Um Himmels Willen, das durfte nicht sein. Jeremy umkrampfte nervös das Lenkrad und entkrampfte seine Finger wieder. Er sah aus dem Fenster und erkannte die gleiche, manchmal eintönige Landschaft Kaliforniens wie auch die letzte Stunde. Nichts, mit dem er ablenken konnte. Rein. Gar nichts. Und Jean wollte es hören. Wenn Jeremy stärker und weniger verschossen gewesen wäre, dann hätte er sich geweigert. Aber. „Okaay…also…uff…ja dann.“ Na das war ja sehr eloquent und er ahnte, dass es auch nicht besser werden würde. „Also. Äääh. Zuerst nehme ich ihn… in den Mund…“ Ihn? Wunderbar. Er konnte noch nicht einmal das Wort Schwanz aussprechen. Das konnte ja heiter werden. Jean gab einen irritierten Laut von sich. „Ihn?“ Jeremy rutschte immer weiter in seinem Sitz zusammen. War das Aufklärungsgespräch mit seinen Eltern jemals so peinlich gewesen wie das hier? Er glaubte nicht. Oder? Arghs! „Das Ding halt!“ Ding? Oho… Ding, lachte eine gehässige Stimme in ihm. Das war noch viel besser. Aber wie bei Gott sollte er Jean denn davon erzählen, wie er ihm am Liebsten einen blasen würde? Hier und jetzt, wenn es möglich sein würde? Jean legte den Kopf schief und Jeremy hörte die Bewegung mehr als dass er sie sah. „Welches Ding meinst du? Braucht man dazu noch eine andere Sache?“ Nein! Nein nein nein! Vollkommen falsche Richtung! „Na die Banane.“ Jeremy war sich sicher, dass er aus dieser Unterhaltung nicht lebend herauskommen würde. Banane? Ernsthaft? Alvarez würde ihn über Wochen auslachen. Schwanz, sag es!, feuerte ihn seine innere Stimme an, doch das war hoffnungslos. „Warum benötigt man eine Banane?“, fragte Jean latent ungnädig und Jeremy entwich ein Laut, der gut und gerne auch kommendes Ersticken hätte sein können. Er ließ ihn in ein langgezogenes Seufzen münden. „Penis! Ich nehme den Penis in den Mund und die Hoden in meine Hand. Ich massiere sie sanft und wandere dann mit meinen Lippen weiter. Ich nehme erst den einen, dann den anderen ganz in den Mund und liebkose sie mit meiner Zunge“, presste er so schnell hervor, dass Jean Mühe haben würde, seinen Worten zu folgen. Aber es war egal. Er hatte es gesagt und er hatte sich auch nicht versprochen und dein statt dem gesagt. „Das fühlt sich gut an?“, fragte Jean schließlich deutlich interessiert und mit der Unschuld eines Ungeküssten. Jeremy hätte schreien können vor Wut auf Evermore und vor Frust, dass er weitere Detailfragen beantworten müsste. Ohne sich zu offenbaren, dass er Jean am Liebsten gezeigt hätte, dass Sex etwas Schönes sein konnte. „Sehr gut. Also mir gefällt es und bisher habe ich keine Beschwerden gehört“, grinste er etwas verlegen. Jean verstummte und wog seine Worte anscheinend ab. Seine Worte und deren Wahrheitsgehalt. Ein kritischer Laut verließ seine Lippen. „Fühlt es sich genauso an wie deine Zunge auf meinen Fingern?“, fragte Jean schließlich und zuckte regelrecht zusammen, als Jeremy den Wagen erschrocken in den Gegenverkehr lenkte, der Gott sei Dank nicht vorhanden war in diesem Moment. Hastig lenkte er den Wagen wieder zurück auf ihre Spur. „Sorry, ich…“, begann er, nicht wirklich wissend, was er sagen sollte. In vielerlei Hinsicht nicht. Verwirrt verschränkte Jean seine Arme. „Ich suche nur nach einem Vergleich, nicht nach einem Autounfall“, erklärte der andere Junge sich muffig und beinahe hätte Jeremy verzweifelt gelacht. Es brauchte etwas, bis er sich wieder hinter dem Lenkrad entspannen konnte und tief einatmete. „Wenn du so willst, fühlt es sich vermutlich ähnlich an, nur viel viel intensiver und erregender.“ Ich würde es dir tausendmal zeigen, wenn ich könnte!, gellte es in ihm und er presste seine Lippen aufeinander. Jean musterte ihn für unendlich lange Sekunden schweigend und durchdringend. „Darf ich dich noch etwas fragen?“ Als wenn die vorherigen Fragen nicht genug gewesen wären! Jeremy schwante Übles und er schluckte schwer. Unsicher nickte er. „Das, was der Reporter und du gemacht haben…“ Das ließ seine Lippen nun doch zucken. Jean und seine Abneigung, Allan beim Vornamen zu nennen. Aber wer war Jeremy, dass er aufgab? „Allan, ja.“ „Er war ja in dir.“ Mehr als einmal und jedes Mal hatte Jeremy es genossen. „Ja, das war er“, bestätigte er zögernd und Jean verharrte für einen Augenblick, gab ihm so Raum, über das letzte Mal nachzudenken, bei dem sie sich nahe gewesen waren. Jeans Eingreifen, seine Gewalt…seitdem hatte Allan ihn nicht angerührt und sich auch nie von sich aus gemeldet. Jeremy versuchte sein Bestes, ihn bei der Verarbeitung der Geschehnisse zu unterstützen, doch er spürte den Riss, der sich durch ihre vorherige Vertrautheit zog, beinahe schon körperlich. „Wie fühlt sich das an, in jemanden zu sein?“, fragte Jean leise, vorsichtig gar. Wieder herrschte Stille und Jeremy wiegte seinen Kopf hin und her. Jean fragte aus Unwissenheit. Jean fragte, weil er nur schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Er fragte, weil er wissen wollte, wie es wirklich war und Jeremy oblag die Aufgabe, es ihm so zu beschreiben, dass er nicht davon abgeschreckt werden würde. So peinlich berührt und verzweifelt er vorher auch war… Jeremy erkannte es, wenn eine Aufgabe absolut wichtig war. „Es ist eine Art warmer, unheimlich starker Druck, der deinen Penis umschließt, so als würde jemand ganz fest zudrücken. Aber durch die ganzen Nervenenden fühlt sich das großartig an. Das Gefühl der Erregung zieht sich dann von unten aus in Richtung Unterleib und Rückenmark und wenn es zu einem Orgasmus kommt, fühlt sich das an wie ein Feuerwerk in den Nervenenden. Wie ein kribbelndes Ziehen, das immer und immer mehr wird, bevor es sich in einer erlösenden Welle entlädt, die deinen ganzen Körper durchzieht.“ Jean verharrte schweigend neben ihm und im ersten Moment hatte Jeremy Angst, dass er ungute Erinnerungen in ihm aufgeworfen hatte. Vielleicht hatte er den Bogen überspannt. Er hoffte nicht. „Und wie fühlte es sich für dich an? Ihn in dir zu haben?“, fragte der andere Junge und da war sie wieder, die zuverlässige Röte auf Jeremys Wangen. Was genau meinte Jean denn, fragte eine gehässige Stimme. Die Banane, ihn oder den Penis? Verlegen räusperte er sich. „Am Anfang ist da sehr viel Druck und das Eindringen brennt ein wenig, auch mit Gleitgel. Aber mit Entspannung und Vorsicht entspannt sich der Muskelring beim Dehnen und dann ist es eine Art von Druck, die mit jeder Sekunde Reibung besser wird. Wenn man zusätzlich auch noch vorsichtig die Prostata stimuliert, dann führt das zu einem weiteren Lustempfinden und kann durchaus auch alleinig für einen Orgasmus verantwortlich sein.“ „Hat jeder eine Prostata?“ „Ja, jeder Mann hat sie.“ Jean ließ das auf sich wirken und versuchte Jeremys Worte für sich zu ordnen. Lange Zeit brauchte er dafür und schauderte schließlich. „Alles gut, Jean?“, fragte Jeremy schließlich besorgt und Jean nickte langsam. „Ich habe mir gerade nur vorgestellt, wie es wäre, das Eindringen bei einer Frau zu tun. Theodora zu Beispiel.“ Jeremy riss die Augen auf und starrte seinen Beifahrer für einen gefährlich langen Zeitraum an, bevor er sich wieder auf ihre Spur besann. „Theodora wie in Muldani?“ Jean bejahte und Jeremy schauderte. „Die Frau würde mir im Bett noch mehr Angst machen als auf dem Spielfeld. Viel mehr Angst.“ „Du bist halt nicht so dumm wie Day.“ „Oder ich bin nicht so mutig wie er“, erwiderte Jeremy mit einem leicht tadelnden Unterton. Einer Frau wie Theodora zu trotzen und sich in ihre Nähe zu begeben, war mutig, da würde er keinen anderen Schluss zulassen. Nein…da war er stur. Jean schimpfte leise, lange und ausgiebig auf Französisch. Jeremy hörte mehrfach Kevins Nachnamen heraus und schmunzelte. Vielleicht war es nur Einbildung oder Wunschdenken, aber Jean klang nicht mehr so hasserfüllt wie noch zu Beginn. Irgendwann einmal…irgendwann würden die beiden vielleicht wirklich wieder zueinander finden. ~~**~~ Die Tage nach ihrer Ankunft verliefen für Jean erstaunlicherweise ohne weitere Komplikationen. Er entschuldigte sich bei ihrem Coach für seinen desolaten Trainingszustand, was dieser mit einer erhobenen Augenbraue, einem unwirschen Schnauben und einem nachlässigen Winken abtat und lakonisch auf das Spielfeld deutete. „Glaubst du wirklich, deine Kondition beunruhigt mich, Moreau?“, fragte er amüsiert und richtete seinen Blick bedeutungsschwanger auf die schnaufenden und herumalbernden Trojans. Er sprach mit Brian und erzählte ihm das, was in Susanville passiert war. Alles, was seine aufkeimende Neugierde in punkto Sexualität betraf, verschwieg er jedoch, unsicher, wie er es formulieren sollte. Da bearbeitete er lieber den Boxsack bei Shirley, schweigend und in sich gekehrt. Natürlich saßen sie am Donnerstag Abend wieder alle zusammen in ihrem Gemeinschaftsraum und erzählten sich die besten Thanksgivinggeschichten, während sie die Essensreste aßen, die ihnen mitgegeben worden waren. Jean enthielt sich, wie er sich auch schon die letzten Tage teilweise enthalten hatte. Auch wenn er in Evermore so oft hatte hungern müssen, dass er jede Mahlzeit begrüßte, die er einnehmen konnte. Bis zu dieser Woche. Seit ihrer Rückkehr hatte er sich freiwillig dafür entschieden, weniger zu essen, als ihm angeboten wurde, und er fühlte sich nicht schlecht damit, weil er begriff, dass auch das eine Entscheidung war, die ein normaler Menschen treffen konnte. Der Lärm um ihn herum schwoll an und Jean verstand nicht, warum sein Team so erpicht darauf war, dass auch er Dinge erzählte, die Knox vor ihm schon berichtet hatte und schwieg deswegen beharrlich. Es war Urlaub gewesen, schöne Tage, die ihn entspannt hatten. Aber er musste sie doch nicht noch einmal ausbreiten, oder? So schwieg er stur und widmete sich während des lautstarken Zusammentreffens seiner Mannschaft den Gedanken, die ihn nicht loslassen wollten. Sexuelle Intimität. Das, was er als fürchterlich und demütigend erlebt hatte, war also im Grunde seines Daseins etwas Schönes. Jean konnte sich darunter nichts vorstellen, auch wenn ihm die Beschreibung seines Kapitäns schon einige Anhaltspunkte gegeben hatte. Er war versucht, Knox ein weiteres Mal danach zu fragen, nahm aber wieder Abstand von dieser Idee. Schließlich hatte der blonde Junge sie beide aus lauter Schreck in den Gegenverkehr gelenkt und Jean hatte kein Bedürfnis, sein Leben ein weiteres Mal so unerwartet waghalsig zu riskieren. Der Schreck darüber steckte ihm jetzt noch in den Knochen. Also blieb ihm nur das Internet und genau da begann sein Problem. Das, was den Großteil des Tages eine Beruhigung für ihn war, nämlich, dass er immer jemanden seines Teams um sich hatte, stellte sich nun als Fluch heraus. In der Bibliothek konnte er nicht recherchieren, da er in einem Pulk von Trojans saß, von dem ihm mindestens einer immer auf den Bildschirm sehen konnte. Alleine dort sitzen zu bleiben, traute er sich nicht. An seinem Schreibtisch in ihrem Apartment zu recherchieren traute er sich auch nicht, da dieser so stand, dass Knox auch Wind davon bekommen konnte, was er tat. So blieb ihm nur der einzige Ort, an dem er ungestört war. Die Toilette. Jean hatte gehofft, dass damit das logistische Problem gelöst wäre, doch weit gefehlt. Als er ganz banal das Wort Sex in seine Suche eingegeben hatte, war nichts der Suchergebnisse dazu geeignet, ihm seine Fragen zu beantworten. Fragen, die er, wenn er ehrlich zu sich war, noch nicht einmal selbst in Worte fassen konnte. Vielleicht war das, was ihn antrieb, Neugierde auf das Thema, aber Neugierde ohne eine bestimmte Richtung. Sie wurde dadurch befeuert, dass Knox ihm gesagt hatte, dass auch er die Möglichkeit hatte, Lust beim Eindringen zu spüren und nicht nur Schmerz. Das Brennen, was Knox beschrieben hatte, war wohl der reißende Schmerz, der ihm zugefügt worden war. Jean glaubte nicht, dass er jemals Lust darauf haben würde, aber er wollte sehen, wie es wäre, wenn es richtig geschah. Er wollte sehen, dass das, was ihm passiert war, nicht die Normalität, sondern die pervertierte Ausnahme war. Das konnte man doch im Internet sehen, oder? Konnte man und so saß er morgens um halb fünf auf dem Boden ihres Badezimmers und googelte nach verschiedenen Spielarten körperlicher Intimität, der Einfachheit halber und weil er von Knox bereits etwas davon wusste, zwischen zwei Männern. Nach und nach klickte er auf verschiedene Begriffe und wusste eine halbe Stunde später, was Analsex, Oralsex, Frottage, Deepthroat und Rimming per definitionem waren. Er las, dass es so etwas wie erogene Zonen gab, was sie waren und dass man sich Schokolade und Sahne auf die Haut schmieren konnte, um es dann abzulecken. Jean schauderte. Warum sollte man das tun? Das klebte doch und war unsauber. Ebenso zweifelte er an dem Trick, dass man vor dem Oralsex ein Pfefferminzbonbon lutschen sollte, um mit den ätherischen Ölen den Partner zu stimulieren. Das hatte sich bei Knox alles irgendwie anders angehört. Kritisch runzelte Jean die Stirn und rief die Bildersuche seines Handys auf. Für die Videosuche war er noch nicht mutig genug, bei weitem nicht, und er hatte Angst, dass die bewegten Bilder ihn zurückbringen würden zu dem, was in Evermore geschehen war. Bis auf Analsex gab er alle Begriffe ein, die er gefunden hatte und musterte die Bilder, die ihm in den Suchergebnissen angezeigt wurden. Und das nächste. Und das nächste. Er sah Mann mit Mann, Frau mit Mann, Frau mit Frau, alles…und fragte sich, ob seine eigene Lust nicht vielleicht doch tot war. Beschämt starrte er auf den Bildschirm, als die Menschen auf den Bildern affektiert und überzogen Dinge taten, die in ihm nicht das von Knox erklärte Gefühl auslösten. Ganz im Gegenteil, er fand es peinlich. Jean stellte sich vor, wie es wäre, wenn er das mit einer Frau täte. Er dachte an Renee und ließ den Gedanken so schnell es ging wieder gehen. Nein, er wollte sich ihr nicht auf diese Art und Weise nähern. Auch bei Fahima oder Val war das ausgeschlossen. Selbst bei der Barista des Grill Bill. Oder Theodora. Jean schauderte. Gerade bei ihr. Vorsichtig rief er auch noch das letzte Stichwort seiner Suche auf und verharrte mit dem Finger über dem Pfeilbutton. So hatten seine Vergewaltiger ausgesehen. Laut Knox war es nicht demütigend, auch wenn es so aussah, aber konnte er das auch glauben? Jean schluckte schwer und rief das zweite Bild auf. Das Bild entpuppte sich allerdings als Video und wie betäubt starrte Jean auf das, was sich vor seinen Augen entfaltete. Eine Vereinigung zwischen Frau und Mann, die nackten Körper, wie sie sich rhythmisch bewegten. Fast wie Kaninchen, kam es Jean in den Sinn, aber weniger unbeholfen und manisch. Das Gesicht der Frau sah ohne Ton so aus, als würde sie Schmerzen haben und Jean zweifelte daran, ob das wirklich der Realität entsprach, was er hier sah. Andererseits hatte Knox ähnlich ausgesehen. Die Kamera hielt auf die Verbundenheit beider Körper und Jean sah, wie der Mann von der Vagina in den anscheinend schon geweiteten Anus wechselte. Kritisch runzelte er die Stirn. Das war das, was Knox erzählt hatte… die Vorbereitung war wichtig. Zu der auch noch einiges anderes gehörte, wie er nun gelernt hatte. Anscheinend schien die Frau das mehr zu mögen, denn ihre Lippen teilten sich zu einem Schrei, zumindest interpretierte Jean die weitgeöffneten, knallrot geschminkten Lippen so. Schnaubend beendete er das Video und legte sein Handy zur Seite. Erschöpft fuhr er sich über das Gesicht und zog die Beine an. Das war nicht das, wonach er suchte. All diese Bilder und das Video, sie waren künstlich, gestellt, nicht das, was er bei Knox und dem Reporter gesehen hatte, und in all ihrer Künstlichkeit machten sie den Akt zu etwas noch Fernerem. Andererseits war da das Gefühl von Knox’ Zunge auf der Haut seiner Finger. Ebenso das Gefühl von seinen Fingern auf Jeans Rücken. Laila hatte ihm gezeigt, wie schön sich seine eigenen Finger anfühlen konnten auf seiner Haut. Das war ihm näher und klarer vor Augen, davor hatte er weniger Abneigung als vor dem, was er gerade gesehen hatte. Jean sah auf seinen Körper hinunter, den er in den letzten Jahren gemieden hatte. Er wusste, dass er für einen Menschen überdurchschnittlich trainiert war. Er hatte den Körper eines Sportlers, jahrelang geformt und gebrandmarkt. Er hatte früher nicht berühren wollen, was nicht sein war, doch das hatte sich nun geändert. Sein Körper gehörte ihm und er hatte vorsichtig gelernt, dass es nicht nur brutale Berührungen für ihn gab. Im Gegenteil. Er hatte erfahren, was sanfte Berührungen in ihm auslösen konnten. Jean runzelte die Stirn und streckte seinen Arm aus. Vorsichtig fuhr er mit seinen Fingern über die Innenseite seines Armes und schauderte. Gänsehaut zog sich über das vernarbte Fleisch und Jean wiederholte, was er gerade getan hatte. Das Gefühl war exakt das Gleiche und Jean lehnte seinen Kopf an die gekachelten Fliesen. Er probierte es bei seinem anderen Arm und nun krabbelte das Kribbeln bis unter seine Schädeldecke. Jean lächelte. Er seufzte und sah hinunter auf seinen Schoß. Er hatte sich noch nie rein zum Vergnügen dort unten berührt, außer um sich selbst zu reinigen. Jean grub seine Zähne in seine Unterlippe und zögerte. Konnte er das einfach so tun? Nach all diesen Jahren? Nach all den unfreiwilligen Berührungen? Hatte er den Mut dazu? Er runzelte die Stirn und stellte fest, dass er keine Angst vor dem Gedanken hatte. Niemand würde ihn hier aufhalten oder es gegen ihn verwenden. Niemand würde ihn zu Dingen zwingen, die er nicht wollte. Knox schlief noch für zwei Stunden und würde somit ebenfalls nicht ins Badezimmer platzen. Sein Herz schlug schneller, als er sein T-Shirt nach oben schob und seine Hand auf den Bauch legte. Zögerlich strichen seine Finger über die Muskeln seines Bauches und die Narben und er war überrascht, wie anders sich das Kribbeln dort anfühlte. Schärfer, dachte Jean aus Ermangelung eines anderen Wortes und sog abrupt Luft ein. Insbesondere das vernarbte Areal um seinen Hosenbund herum war empfindlicher als der Rest seiner Haut. Jean brauchte eine weitere Minute, bevor er seine Hand unter den Bund schob. Vorsichtig folgte er dem Weg seiner Schambehaarung hinunter und fuhr mit seinen Fingerkuppen über die Haut dort. Er schloss die Augen und schauderte. Das Gefühl wurde beinahe unerträglich und alleine die Berührung ließ ihn seine Hüften anheben, als würde sein Körper selbst sich nach der Berührung sehnen. Doch all das war nichts im Vergleich zu dem, was ihn erwartete, als er seine Fingerkuppen über das empfindliche Fleisch seines Penis gleiten ließ. Seines Dings…der Banane, wie Knox so untypisch unsicher herausgestottert hatte. Jean wusste nun, dass es auch andere Begriffe gab. Schaft und Schwanz waren die weniger irritierenden, Gurke, Kolben, Knüppel, Rüssel oder Pimmel die weitaus verstörenderen. Er würde Knox mal fragen müssen, wie er das sah. Seine Finger ließen sich von seinen Gedanken leiten und Jean schauderte vor dem Gefühl des Neuen, was ihn ausfüllte. Er tat etwas, das so noch nie dagewesen war und es fühlte sich gut an. Sein ganzer Unterleib war in Aufruhr und das scharfe Ziehen in Richtung seiner Wirbelsäule und seines Hirns bereitete ihm mehr als Freude. Seine Hoden waren genauso empfindlich wie es sein Schaft gewesen war und Jean presste seine Lippen eisern aufeinander, um nichts von den Lauten, die sich aus seinem Inneren emporkrallen wollten, herauszulassen. Das hier war in der Tat nicht vergleichbar mit dem, was ihm angetan worden war. Ganz und gar nicht. Seine sachten Berührungen erweckten in ihm die unruhige Lust auf mehr, als wäre das, was er tat, nicht das Ende, sondern der Weg, als gäbe es noch mehr. Jean erinnerte sich an Knox‘ Worte und schloss seine Finger um das weiche Fleisch zwischen seinen Beinen. Der Druck ließ ihn erschauern und er schob intuitiv seine Schenkel auseinander um besser Zugang zu sich selbst haben. Zittrig atmete er ein, insbesondere jetzt, da er seine Hand auf und ab bewegte. Er stöhnte auf und schlug seine freie Hand vor den Mund. Das war anders als alles, was er jemals gefühlt hatte, das war gut, das war… Die Haut unter seinen Fingern versteifte sich und Jean löste sich abrupt aus seiner Starre. Überrascht zog er seine Hand aus seiner Hose und starrte auf die eindeutige Ausbeulung in seiner dünnen Schlafanzughose. Das…oh… Das hatte er bei Knox gesehen und auch bei… Jean würgte den Gedanken ab und starrte auf die Erregung, die er sich selbst verschafft hatte. Er war erregt. Erregung führte zu einem Orgasmus, wie er wusste. Jean verharrte und schluckte schwer. Konnte er das? Sich selbst so sehr erregen, dass er zum Orgasmus kam? Hier und jetzt? Er setzte sich wieder aufrecht hin und starrte auf das Zeichen seiner eigenen Fähigkeit zu fühlen. Wäre das nicht zu schnell? Er brauchte doch noch Vorbereitung, er hatte doch noch gar nicht alles gelesen dazu. Was, wenn etwas passierte, das er nicht kannte? Das Klopfen an der Tür durchzuckte wie ein Donner die Stille der Nacht und Jean fuhr so heftig zusammen, dass er sich den Hinterkopf an dem kalten Fliesenspiegel stieß. Schmerzhaftes Pochen zog sich durch seinen Schädel, während er sich panisch in die Höhe schraubte und es ein zweites Mal klopfte. „Jean?“, erklang die müde Stimme seines Kapitäns, der sich den denkbar und absolut schlechtesten Zeitpunkt ausgesucht hatte, aufzuwachen. Es war viel zu früh! Er wachte nie so früh auf! „Jean, ist alles in Ordnung?“, fragte er schläfrig und Jean schluckte. Wenn er nicht reagierte, dann würde Knox sich Sorgen machen und im schlimmsten Fall die Tür aufbrechen. „Alles in Ordnung“, erwiderte Jean gepresst. „Brauchst du etwas?“ „Ich… ich habe mir Sorgen gemacht. Du bist früh aufgestanden und nicht zurückgekehrt, da dachte ich, ich frage dich, ob…“ Unerwartet starker Schmerz durchzog Jean. Knox hatte immer noch Angst, dass er sich etwas antat. Wie konnte er ihm diese Angst da nicht nehmen oder es zumindest versuchen? Jean schob sich hinter die Tür und öffnete sie dem Jungen, der mit zerzausten Haaren, kleinen Augen und sorgenvollem Blick vor ihm stand und unsicher in das Bad linste. „Alles okay?“, wiederholte er und Jean schnaufte. Seine immer noch vorhandene Erregung drückte sich empfindlich gegen das dünne Holz der Tür und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er schauderte. „Daran hat sich die letzten paar Sekunden nichts geändert, Knox. Geh ins Bett, ich komme auch gleich.“ Der blonde Junge war sich so unsicher, dass er zögerte. „Wirklich, Jeremy, geh zurück. Ich komme gleich“, wiederholte Jean strenger und Knox sah überrascht auf. Langsam nickte er und schlurfte zurück zum Bett. Jean beobachtete ihn dabei, wie er sich zurück auf die Matratze legte und schloss die Badezimmertür. Was machte er denn nun mit seiner Erregung? Jean seufzte und holte sein Handy. Er löschte das Licht im Bad und trat ins Schlafzimmer zurück, immer sorgsam mit dem Rücken zu Knox, auch wenn das seine Nackenhaare stehen ließ. Erst, als er unter der Decke lag, gestattete Jean es sich, sich zu Knox umzudrehen, der ihn über das schwache Morgenlicht hinweg musterte. „Wenn etwas sein sollte, dann kannst du mit mir darüber sprechen, das weißt du, oder?“, sagte er schließlich leise und Jean hielt sich mit Mühe von einem Grollen ab. Er zog die Decke höher und nickte. „Das weiß ich, Knox“, versuchte er sich an einer beruhigenden Antwort, die viel zu lange brauchte, um in den Ohren seines Kapitäns Gehör zu finden. Jean fragte sich für einen Augenblick, ob die Wahrheit Knox mehr beruhigen würde. Vielleicht konnte er den anderen Jungen so von seinen Sorgen ablenken. So verlockend der Gedanke auch war, so wenig Mut konnte er dafür aufbringen. Immerhin war Knox noch sein Kapitän. Zuzugeben, dass er erregt war, das konnte er nicht über seine Lippen bringen, aus irrationaler Angst davor, dass Knox andere Spieler in sein Bett schicken würde. Jean blieb wach, während Knox schließlich vertrauensvoll seine Augen schloss und wieder hinüberglitt in die Welt der Schlafenden. Er selbst konnte nicht schlafen, dieses Mal jedoch nicht aus schlechten Erinnerungen heraus, sondern aus dem ungewohnten Gefühl der Erregung, das sich ganz und gar nicht einfach verbannen lassen wollte aus seinem Körper und es ihm unmöglich machte, die letzte Stunde zu schlafen. ~~**~~ „Knox, wenn du fertig bist, brauche ich dich in meinem Büro!“ Die raue Stimme ihres Trainers bellte über das Spielfeld und Jeremy löste sich von seiner post-Training-Taktikdiskussion mit Logan über den neuen Trojans-Raven-Spielzug, den sie versucht hatten zu perfektionieren. Gut, nicht, wenn man Jean fragte, aber Jeremy war schon der Ansicht, dass sie nahe genug daran waren. Sollten sie auch, denn in drei Wochen war Weihnachten, dann hatten sie Ferien und Mitte Januar war das Spiel gegen die Ravens in ihrem Stadion, das sie gewinnen würden. Zumindest hatte Jeremy sich das fest vorgenommen und wenn er in die grimmigen Gesichter seiner Mannschaft schaute, wann immer das Thema aufkam, so wusste er, dass die Trojans alles daran setzen würden, Jean zu schützen und die Ravens auf ihren Platz zu verdammen. Jean selbst ließ sich nichts anmerken, auch wenn seine Art zu trainieren, immer und immer härter und verbissener wurde. „Ich komm‘ gleich!“, rief Jeremy zurück und ihr Coach nickte grummelig. „Sie spielen diese Saison außerordentlich brutal, aber latent unkoordiniert. Wenn wir dem Spielzug mehr Raffinesse geben und die Beinarbeit und die Passformation umstellen, dann könnten wir uns die mangelnde Finesse der Ravens zunutze machen.“ Jeremy stimmte dem zu, doch er sah in den Striker und Defensive-Dealer-Positionen Schwierigkeiten mit der Taktik, zumal sie davon ausgehen konnten, dass die Striker der Ravens Jean ins Fadenkreuz nehmen würden. Vermutlich nicht nur die. „Lass uns morgen mal vor dem Frühtraining mit Jean darüber sprechen“, erwiderte er und Logan brummte zustimmend. „Jau, machen wir“, sagte er und nahm seinen Helm und den Schläger auf. Er ging zum Spind und Jeremy tat es ihm gleich. Gemeinsam desinfizierten sie ihre Ausrüstung und schlossen sie ein. „Bis morgen, Cap!“, verabschiedete Logan sich und Jeremy joggte über das Spielfeld zur Tribüne und von dort aus in den Vorraum, wo sich das Büro ihres Trainers befand. Er klopfte an den Türrahmen und Rhemann sah hoch. „Coach?“ „Komm rein, mach die Tür zu und setz dich, Knox.“ Jeremy ließ sich auf einen der unbequemen Holzstühle fallen und lehnte sich nach vorne. Geduldig wartete er, dass der andere Mann seine Gedanken ordnete, die ihn anscheinend plagten. Schwer atmete Rhemann aus und lehnte sich dann zurück. „Die Collegeverwaltung hat mich kontaktiert. Es wird Bauunterhaltungsarbeiten in unserem Stadion geben. Anscheinend müssen Leitungen für die Brandmeldeanlage neu verlegt werden und die Firma kommt in der Woche vor dem Spiel gegen die Ravens. Das bedeutet, dass wir zum Trainieren in das Stadion der L.A. Lions ausweichen werden und außerplanmäßig nach Evermore fahren werden um gegen die Ravens zu spielen.“ ~~~~~~~~~~ Fortsetzung folgt. Kapitel 51: Die Facetten des Schmerzes -------------------------------------- Für den Bruchteil einer Sekunde weigerte sich Jeremys Verstand, die Worte seines Coaches zu einem sinnvollen Satz zusammen zu fügen. Worte wie Evermore, Jean, Bauarbeiten ergaben für ihn erst verspätet einen Sinn und als es soweit war, überrannte ihn die Bedeutung des Ganzen mit einer Wucht, die Jeremy beinahe aus dem Stuhl hochfahren ließ. „Nein!“ Wütend presste er das Wort hervor, als könnte er damit das Unglück, was sich vor ihm auftat, aufhalten. Nein zu der Katastrophe, die kommen würde. Nein zu einer Rückkehr nach Evermore, die jeden Fortschritt, den Jean bei ihnen gemacht hatte, zunichte machen würde. Er würde den anderen Jungen nicht den Sadisten seiner alten Mannschaft ausliefern, nicht in den Kellergewölben dieses ätzenden, dunklen Bunkers, der Jean so viele Jahre Sonne geraubt hatte. Er sagte nein zu einem profanen Schicksal namens Bauarbeiten, das es mit einem Mal wieder möglich machte, dass Jean sich aus Verzweiflung das Leben nehmen würde. „Nein, Coach, das geht nicht!“, sagte er und schüttelte den Kopf. Er würde nicht Jeans Leben für so eine Lappalie riskieren. „Das geht nicht“, wiederholte er, als könnte er irgendetwas an den Bauarbeiten, dem Ausweichen oder dem Spiel ändern. Jeremy ahnte, dass dem nicht so sein würde, aber er musste es versuchen. „Das können wir Jean nicht antun. Die Ravens haben ihm wehgetan, sein Zustand, als er von dort weggeholt wurde…“ Rhemann hob seine Hand und Jeremy verstummte verzweifelt. „Ich weiß, Knox. Ich weiß, wie sein Zustand war, als er von dort zu den Foxes geholt wurde. David hat mir seine Verletzungen genauestens beschrieben. Das und die Umstände, unter denen er von dort weggeholt worden ist.“ Bedauern huschte über das zerfurchte Gesicht seines Coaches. „Das Komitee hat sehr deutlich gemacht, dass dieses Spiel bei den Ravens stattfinden wird. Sie wollen daraus ein Presseevent machen, mit dem Narrativ, dass der ehemalige Raven gegen seine alte Mannschaft antritt. Der große Showdown dieser Saison, eine Geschichte für die Titelseiten.“ Rhemann schnaubte verächtlich. „Sie wollen die gute Show, um damit Einnahmen zu generieren und da kommen wir ihnen ganz recht. Und sie scheißen auf das, was mit Moreau passiert ist. Wenn sie es überhaupt wissen.“ Ungläubig lauschte Jeremy den Worten seines Trainers. Dass das Komitee jahrelang weggesehen hatte, war ihm seit diesem Sommer mehr als bewusst und es sorgte für Missstimmung in seiner Liebe für ihren Sport. Dass sie aber soweit gehen würden, Jean für ihre ätzende PR zu vermarkten und auf das, was er erlebt hatte, keine Rücksicht zu nehmen, war… Jeremy hatte keine Worte für die Wut, die er in sich fühlte. Angespannt presste er die Fäuste auf seine Oberschenkel. Der Gedanke, als Mannschaft gar nicht anzutreten kam ihm, doch den verwarf er so schnell, wie er gekommen war. Vielen von ihnen hatten Stipendien, so auch er. Viele waren weitaus weniger gut situiert als er und brauchten sie. Sich zu verweigern, hieß unweigerlich auch, das eigene Stipendium aufs Spiel zu setzen. „Ihm geht es seit Wochen erst etwas besser“, presste er schließlich hervor. „Das bedeutet aber nicht, dass er schon so weit ist, dorthin zurück zu kehren. Oder dass er jemals dazu bereit sein wird, Coach! Ihn im Januar dorthin mit zurück zu nehmen, wird ihn zurückwerfen…um Wochen, vielleicht sogar auch länger! Wir können ihn nicht mitnehmen, er muss hierbleiben.“ Was ihn zu dem Problem brachte, dass Jean nicht alleine hierbleiben konnte. Jemand musste mit ihm hierbleiben und Jeremy hatte jetzt schon ein ungutes Gefühl, den anderen Jungen an einem solchen Tag alleine zu lassen. Wenn er es sich ehrlich eingestand, hatte Jeremy regelrecht Angst davor und er war zerrissen zwischen seiner Aufgabe und Verantwortung als Kapitän der Trojans und seinem Wunsch, Jean nicht alleine zu lassen. „Ich weiß, Knox, ich weiß“, brummte Rhemann resigniert. „Deswegen spreche ich jetzt mit dir darüber. Ich habe versucht, den Termin für die Bauarbeiten umzulegen. Ohne Erfolg. Die Verwaltung hat etwas von frühestmöglichem Zeitpunkt, der nicht überschritten werden darf, erzählt. Ich habe versucht, das Komitee davon zu überzeugen, das Spiel auf ein anderes Datum zu verlegen. Ohne Erfolg. Oder ein anderes Stadion zu bekommen. Ohne Erfolg.“ Hilflos wütend starrte Jeremy dem älteren Mann in die Augen. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Das durfte es nicht. Jean war doch auf einem so guten Weg. Er öffnete sich. Er besiegte seine Angst. Er lernte, dass es auch Menschen gab, die ihm nichts Böses wollten. Er ließ menschliche Nähe zu. Er lachte. Die kommende Katastrophe würde ihn Wochen zurückwerfen…wenn nicht Monate. „Ich kann es ihm nicht sagen“, murmelte er mehr zu sich als zu seinem Coach. „Ich kann das nicht…wie soll ich das denn tun? Er lächelt doch mittlerweile sogar.“ Hilflos sah Jeremy hoch und ebenso hilflos wie unruhig spielte Rhemann mit seinem uralten, angebissenen Kugelschreiber. „Wir müssen es ihm sagen, Knox. Da geht kein Weg dran vorbei. Er muss die Chance dazu haben, sich darauf vorzubereiten. Emotional, geistig und auch körperlich.“ Es brauchte etwas, bis Jeremy die Kraft dazu fand zu antworten. „Ich weiß“, murmelte er elendig und bohrte seinen Blick in die Unterlagen auf dem vernarbten Holztisch. Vernarbt wie es Jeans Haut war von all dem, was sie ihm dort angetan hatten. „Ich kann es ihm sagen“, schlug Rhemann vor, doch Jeremy schüttelte den Kopf. „Nein. Das wird noch schlimmer für ihn sein.“ Rhemann nickte und die Falten um seinen Mund herum wurden etwas tiefer, als er die Lippen sorgenvoll schürzte. Er lehnte sich schwer in seinem ledernen Bürostuhl zurück und warf den Kugelschreiber auf den Tisch. „Scheiße. Verfluchter Moriyama mit seinen verfluchten Trainingsmethoden.“ Sie beide wussten, dass Jean Rhemann auch jetzt noch mied, wo es nur ging. Er hatte nicht mehr soviel Angst wie vorher, aber das hieß nicht, dass er sich in der Gegenwart des älteren Mannes wohl fühlte. Er seufzte. „Ich werde es ihm sagen. Ich habe nur keine Ahnung wie und wann“, sagte Jeremy grimmig und Rhemann nickte. „Und nur damit das klar ist, Knox. Es ist seine Entscheidung, ob er mitkommen möchte oder nicht. Und wenn ich den Scheißern vom Komitee einen gefälschten Krankenhausbericht vorlegen muss, wenn er nicht mitkommen will, dann bleibt das so.“ „Das zweifelt auch keiner an, Coach.“ Rhemann schnaubte und fuhr sich durch die schwarzen Haare. „Dieser Sport sollte Spaß machen, Knox. Er sollte etwas Schönes sein. Menschen sollten nicht gefoltert werden dafür.“ Jeremy nickte aus ganzem Herzen zustimmend. All das traf zu. „Ich glaube, manchmal ist Jean mit der Wahl seines jetzigen Teams zufrieden“, erwiderte er, in dem verzweifelten Versuch, etwas Positives in dieser schlimmen Nachricht zu transportieren. Etwas Schönes zu sehen. „Du meinst, wenn er uns nicht ganz so drastisch kritisiert?“, fragte Rhemann verzweifelt und schnaubte brummend. „Ich muss dich enttäuschen, wenn er nichts sagt, hat er temporär aufgegeben oder prägt sich die scheinbaren Unzulänglichkeiten ein.“ Jeremy starrte Rhemann missmutig an. „Danke Coach. Reden wir doch nochmal über Ihre Fähigkeit zur Motivation.“ „Immer gerne, Knox. Einwände?“ Seufzend ließ Jeremy die Schultern sinken. Rhemann motivierte sie. Jeden von ihnen. Er war ein exzellenter Trainer, der sich um seine Spielerinnen und Spieler sorgte. Er war Jeremy immer ein großartiger Mentor gewesen und das würde er auch bis zum Schluss verteidigen. „Keine, Coach Sir.“ Rhemann hob bedeutungsschwanger die Augenbraue und Jeremy lächelte versichernd. Das Lächeln erlosch jedoch schneller, als er es wirklich wollte und seine Gedanken kehrten zu Jean zurück. Wann wäre der beste Zeitpunkt, es ihm zu sagen? So schnell wie möglich, nachdem er mit Brian gesprochen hatte. „Sind wir fertig?“, fragte er und Rhemann nickte knapp. „Geh zu ihm“, erwiderte er und es stand außer Frage, zu wem. „Aye aye.“ Jeremy erhob sich und ging zu den Duschen. Er war der Letzte und so beeilte er sich, sich ihr anstrengendes Training vom Körper zu waschen. Jean würde wie immer vorne warten und er wollte den anderen Jungen nicht zu lange alleine lassen, aus der bereits irrationalen Angst heraus, dass Jean etwas ahnen könnte. Als er aus der Umkleidekabine trat, die Haare noch tropfend feucht, sah er, wie Fahima und Ajeet auf einer ihrer Couchen saßen, in ihrer Mitte Jean, der stirnrunzelnd einen Blick auf Ajeets Handy warf. Kritisch musterte er, was er dort sah und Jeremy hielt in seiner Bewegung inne. Er gönnte sich den vertrauten Anblick der drei und wurde sich in diesem Moment bewusst, wie weit die beiden Jungen eigentlich miteinander gekommen waren. Ajeet hatte nicht nur seine Angst vor Jean verloren, nein, Jean hatte auch seinen Widerwillen vor ihrem riesigen Torhüter abgebaut. Mehr noch. Jean traute sich, in der Mitte zu sitzen. Insbesondere am Anfang hatte er das nicht getan, sondern sich immer fluchtbereit in der Nähe der Tür aufgehalten. „Und am achtundzwanzigsten fahren wir dann alle in die Hütte in den Bergen, mit ganz viel Schnee.“ Ajeet strahlte über das ganze Gesicht, während er Jean aufgeregt von ihrer Silvesterplanung erzählte und es Jeremy wie Schuppen von den Augen fiel, was er all die Monate vergessen hatte. Natürlich fuhren sie wie jedes Jahr in die Berge zum Entspannen um dann in die letzten Runden ihrer Saison zu starten. Natürlich wäre das ganze Team mit dabei. Er hatte das so fest eingeplant, dass er schlicht vergessen hatte, Jean davon zu erzählen. „Du kommst auch mit, oder?“, fragte Fahima sanft und Jean wandte sich zu ihr. Seine Stirn glättete sich und er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ist denn kein Training?“, hakte er nach und sie lächelte. Sacht legte sie ihm die Hand auf den Arm. „Wie denn? Es ist ja keiner da.“ „Warum das?“ Fahima runzelte nun ihrerseits ihre Stirn und Jeans Blick irrte hilfesuchend von ihr zu Ajeet. Der war ebenso verwirrt und Jeremy beschloss, ein nicht ganz so schlechter Kapitän zu sein und trat zu ihnen. „Vielleicht war ich ein dummer Schussel und bin so fest von der Trojanstradition ausgegangen, dass ich vergessen habe, Jean zu erzählen, dass wir über Silvester wegfahren“, sagte er mit einem minimalen, entschuldigenden Lächeln. Ganz zu Jeans Missfallen, dessen kritischer Blick auf Ajeets Handy ruhte. „Wir trainieren schon wieder nicht?“, fragte er mit einem solchen missbilligend-entrüsteten Gesichtsausdruck, dass nicht nur ihr Torhüter lachte. „Ja, Jean, wir trainieren an Silvester schon wieder nicht“, bestätigte Fahima nachsichtig und stieß ihn spielerisch mit ihrer Schulter an. „Und das ist okay. Wirklich. Wenn du möchtest, spielen wir ein paar Schneebälle.“ Dass Jean nicht grollte war auch alles. Dafür murmelte er ihnen seine Kritik auf Französisch entgegen und Jeremy konnte sich schon sehr denken, was es war. Nicht, dass der Sinn der Worte eine Rolle spielte, so wunderbar, wie sie klangen. „Na, bereit für die Pizza?“, forderte er dementsprechend todesmutig sein Glück heraus und Jean hob die Augenbraue. „Na, bereit für eine Extratrainingseinheit?“, gab er zurück und Jeremy streckte ihm die Zunge heraus. „Das ist das erste Mal diese Woche.“ „Sprichst du von deinen Trainingserfolgen?“ Der Schmerz über die schlechten Nachrichten, die er noch vor Jean verbarg, konkurrierte mühelos mit der belustigten Empörung, die Jeremy die Hände in die Hüften stemmen ließ. Nein, er konnte es Jean noch nicht sagen. Nicht, wenn dieser sich so wohl fühlte wie jetzt. Nicht, wenn er so entspannt war wie jetzt. „Los steh auf, du französischer Diktator, damit wir dir beim Essen alles über die Hütte in den Bergen erzählen können und ich dich fragen kann, wo du Weihnachten verbringen möchtest. Wenn Ajeet und Fahima mitkommen, heißt das“, neckte er und schob Stück für Stück den Gedanken an Evermore in die hinterletzten Ecken seines Gehirns. Er würde mit Kevin telefonieren. Es war sowieso schon zu lange her, dass sie miteinander gesprochen hatten und er schätzte die Meinung des anderen Jungen. „Aber sicher kommen wir mit!“, erwiderte Ajeet vor Freude hibbelig und lächelnd sah Jeremy hoch. Er begegnete Jeans überraschtem Gesichtsausdruck und wackelte mit seinen Augenbrauen, die Hände in die Taschen seiner bequemen Jogginghose stopfend. „Wird überhaupt trainiert?“, fragte Jean beinahe verzweifelt, ganz zum Amüsement von Fahima und Ajeet. Jeremy tat es ihnen gleich und lachte, während ihr Torhüter den Kopf schüttelte. „Nein, Jean, ab dem Dreiundzwanzigsten ist nichts mit Training. Bis zum Zweiten des neuen Jahres.“ Jean starrte den größeren Jungen schweigend an. Als er dort nicht weiter kam, versuchte er es bei Fahima, ohne Erfolg. Auch Jeremy ließ sich nicht erweichen, die kostbaren Feiertage gegen auch nur den Hauch eines Trainings auszutauschen. „Wie wollt ihr so die Saison gewinnen?“, fragte Jean schließlich frustriert und lehnte sich zurück. Er verschränkte die Arme und verzog seine Lippen in seiner ganz bestimmten Art des vollkommen Unverstehens. „Wir, Jean, wie wollen wir so die Saison gewinnen. Und die Antwort ist einfach. Mit dir. Und uns. Das wird ein Kinderspiel“, zwinkerte Jeremy und hielt mit Gewalt sein Lächeln aufrecht. Es war weit davon entfernt, ein Kinderspiel zu werden, aber wer war er, dass er in diesem Moment Jeans Ruhe und Gelassenheit verdarb? Nein, dafür brauchte er noch Zeit…und Mut. Sein Smartphone pingte und erschrocken zuckte Jeremy zusammen. Das war Allans Klingelton, den er nach ihrem Kennenlernen eingestellt hatte. Endlich hatte er eine Nachricht von dem anderen Jungen, endlich meldete sich Allan bei ihm. Entsprechend enttäuscht war Jeremy, als es sich dabei lediglich um ein kurzes „Können wir uns morgen Abend sehen?“ handelte. Fragend sah Jeremy zu Jean. „Allan hat gefragt, ob wir uns morgen sehen…ist das okay?“ Sicherlich war es unnötig, dass er Jean fragte, doch er wollte den anderen Jungen nicht einfach so ausschließen und plötzlich weg sein, ohne dass Jean davon wusste. Schweigend nickte der Backliner, aber wenn Jeremy sich nicht sehr täuschte, war er damit nicht gänzlich zufrieden. Zumindest verzog sich Jeans linker Mundwinkel minimal…wie immer, wenn er etwas kritisch sah, das aber nicht äußerte. Jeremy wartete, ob noch etwas kam, doch Jean wandte sich bereits ab, also nahm er sein Handy wieder auf. ~Jetzt schon. Der Abend ist für dich geblockt! Soll ich zu dir kommen?~, schrieb er zurück. Allans Mitbewohner war meistens bei seiner Freundin und daher war es weitaus leichter, sich bei ihm zu treffen. ~Gerne. Gegen acht?~ ~Bin dann da und freu mich!~ ~Bis morgen.~ Jeremy lächelte und steckte sein Handy zurück in seine Tasche. Als er aufsah, blieb er an Jeans durchdringendem Blick hängen, mit dem der andere Junge ihn musterte. Jeremy vermutete, dass es an Allan lag, den Jean – und das wusste er sehr sicher – nicht leiden konnte. „Ich bin nur ein paar Stunden weg und komme abends auch noch wieder“, erläuterte Jeremy in einer Art Friedensangebot und Entgegenkommen. Jean eine ganze Nacht alleine zu lassen, schloss sich immer noch aus. „In Ordnung“, sagte dieser entgegen Jeremys Vermutung neutral und erhob sich. ~~**~~ Renee hatte sich die Haare frisch gefärbt, erkannte Jean, als sie ihren Zopf löste und er die bunten Spitzen erkannte, deren Farbe etwas kräftiger war als in ihrem letzten Telefonat. Es sah gut aus und trotz der kräftigeren Töne nahm es ihr nicht ihr engelsgleiches Aussehen. Als wenn Jean Renee auch jemals als etwas Anderes sehen würde für das, was sie getan hatte. „Du siehst erholt aus“, merkte er an und sie lachte ihr strahlendes Lachen, das dem seines Kapitäns so sehr ähnelte. „Das liegt an dem vielen Schlaf, den ich letzte Nacht bekommen habe. Deine Augenringe sind aber auch zurückgegangen, Großer. Kannst du besser schlafen?“ Jean nickte. „Mittlerweile gibt es Nächte ohne Alpträume.“ Renee strahlte, als wäre es eine besondere Errungenschaft, und Jean labte sich an dieser Wärme. „Das ist großartig, Jean! Das freut mich für dich.“ Ein vorsichtiges Lächeln huschte über seine Lippen. Das ging leichter als vorher, was aber auch kein Wunder war. Ihres war ansteckend, schon immer gewesen. Schon damals…auch wenn er da noch nicht gewusst hatte, wie er es erwidern sollte. Ebenso wie ihre Worte ansteckend waren, mit denen sie ihm auf seine Nachfrage hin von den Dingen in Columbia erzählte, von ihrer Mannschaft und den vergangenen Trainings und Wochenenden, an denen sie etwas zusammen unternahmen. Sie erzählte ihm von den Sessions mit Andrew, dem Messerkampf, den er von ihr überhaupt erst gelernt hatte. Dafür berichtete Jean ihr von dem, was er in Los Angeles erlebt hatte, von seinem Thanksgiving, den Tieren, die er kennengelernt hatte, dem Kater, der Andrew so ähnlich war. Nur einen Punkt sparte er aus…bis er nichts mehr zu erzählen hatte und dieser Punkt war der weitaus Schwierigste, von dem er immer noch nicht wusste, ob er ihn wirklich ansprechen sollte, auch wenn er Fragen dazu hatte. Verlegen sah Jean zur Seite, als ihre ruhigen, aber erwartungsvollen Augen auf ihn lagen. „Was möchtest du mir sagen?“, fragte sie schließlich, als die Stille zu lang andauerte und er schluckte schwer. Mutiger, als er es von sich gedacht hatte, sah er zurück in diese sanften Augen. „Bist du alleine oder sind die Anderen auch da?“ Renee lächelte gemein. „Kevin hat sie zu einem abendlichen Training gezwungen, also wird uns niemand stören.“ Jean war sich bewusst, dass ihm damit alle Fragen ausgegangen waren, die ihn davon abhalten konnten, das eigentliche Thema anzusprechen, jetzt, wo er weder bei Renee noch bei sich einen Grund hatte, das, was ihm auf der Seele brannte, nicht anzusprechen. Dennoch brachte er die Worte nicht über seine Lippen. Sprach man über so etwas? Sein Team machte von Zeit zu Zeit Witze über das Thema Sexualität, aber das war alles so überzogen, dass selbst er schon den Unterschied zwischen einer ernsten Thematisierung und zweifelhaftem Humor erkannte. Ernsthaft sprachen sie seltener darüber und bisher in Worten, die Jean nichts gesagt hatten. Doch nun… Händelten die Foxes das genauso? Andrew hatte ihm sehr offen eine Antwort auf seine Fragen gegeben, aber das war nun einmal Andrew. Unwirsch grub Jean seine Vorderzähne in die Unterlippe. „Renee?“ „Ja?“ Jean nahm allen Mut, den er aufbringen konnte, zusammen und holte tief Luft. „Muss man vor einem Orgasmus etwas beachten?“, fragte er dann so schnell, dass er im ersten Moment die Befürchtung hegte, dass sie ihn überhaupt nicht verstanden hatte, doch ihre sanften Augen sagten ihm etwas Anderes. Sie hatte ihn verstanden, auf mehr als einer Ebene. Er hatte zwar viel gelesen, aber er wusste nicht, ob das, was im Internet stand, auch der Wahrheit entsprach. Die Videos, die er sich angeschaut hatte, waren nicht wirklich lehrreich gewesen. Renee hatte da sicherlich mehr Erfahrung. „Was genau meinst du, Jean?“, fragte sie und er schnaufte. Er hätte nicht gedacht, dass es so schwer sein würde, das Thema anzusprechen. „Wenn man sich…selbst berührt und Lust spürt…“, begann er, unsicher, wie er es weiter formulieren sollte. „…und wenn diese dann intensiver wird…“ Hilflos brach er ab, nicht wirklich die Worte für seine Frage findend, die doch so klar war in seinen Gedanken. Peinlich berührt verstummte Jean und es dauerte etwas, bis Renee verstand. „Du machst dann einfach so weiter wie vorher. Vielleicht werden deine Bewegungen etwas intensiver oder dein Griff um dich selbst etwas enger. Oder du bewegst deine Finger in dir anders, stärker, schneller.“ „Nein, das mache ich nicht!“, fuhr Jean kopfschüttelnd dazwischen, in der irrationalen Angst, dass er es den Spielern aus Evermore gleichtun musste. Renee nickte langsam. „Das musst du auch nicht, das gilt nur für den Fall, dass du Spaß daran hättest. Du kommst auch ohne zum Orgasmus. Lass dich einfach von deinen Empfindungen treiben, bis sie dich überrollen, und dann gehe mit ihnen mit. Lass dich in ihnen fallen.“ „Und da kann nichts passieren?“ „Nein, da kann nichts passieren.“ Jean schwieg beschämt und sah zur Seite. Er glaubte ihr und ihrer Ernsthaftigkeit und das machte ihm Lust, es noch einmal auszuprobieren und es bis zum Ende zu führen. Auch wenn das hier gerade wirklich peinlich war. „Ist es dein erstes Mal?“, fragte sie sanft und Jean schüttelte den Kopf. „Ich habe es vor ein paar Tagen schon getan, aber ich war unsicher, wie ich es beenden sollte und dann hat Knox geklopft.“ Er rollte mit den Augen und Renee lachte. „Ich hoffe, er hat nur geklopft.“ „Ja. Er hat sich Sorgen gemacht, weil ich so lange weg war. Anscheinend habe ich ihn aufgeweckt.“ „Oh.“ Etwas gequält nickte Jean. „Ja, oh. Aber ich verstehe das. Er…hat immer noch Angst, dass ich mir etwas antue.“ Das Schweigen, was zwischen ihnen fiel, war vielsagend. Renee legte den Kopf schief und seufzte. „Damit ist er nicht alleine, Jean. Freunde sorgen sich umeinander und niemand möchte, dass du nicht mehr da bist.“ Ihre Worte waren so neutral wie möglich ausgesprochen, doch Jean hörte hinter ihnen auch Renees Schmerz über das, was er beinahe getan hätte. Und im Gegensatz zu Knox sah sie ihn nicht jeden Tag. Sie sah nicht die Fortschritte, die er machte, sondern sie war Stunden entfernt auf der anderen Seite dieses Landes. „Ich mache das nicht mehr. Versprochen“, erwiderte Jean mit vollem, schlechten Gewissen und hoffte, dass sie ihm seine Worte glaubte. Doch der Glaube an seine Worte minderte die Angst vor einem anderen Ausgang nicht, zumindest hatte Brian ihm das gesagt, als er nachgefragt hatte. Das war ein ganz eigenes Trauma, das es zu bewältigen gab und Jean tat es immer noch leid, dass er ein eben solches in Renee und Knox hervorgerufen hatte. Und in Laila und Sara. „Ich glaube dir, Großer“, erwiderte Renee lächelnd und Jean lächelte zurück. Wieder schwiegen sie und er seufzte schließlich. „Ich habe mir Videos angesehen.“ „Was für welche?“ „Über Menschen, die Sex miteinander haben.“ „Pornos?“ Jetzt, da sie es fragte, wurde sich Jean bewusst, dass das, was er gesehen hatte, aller Wahrscheinlichkeit nach Pornos gewesen waren. Künstliche Filme über Sex, die nicht der Wahrheit entsprachen. „Ich glaube schon“, gestand er ein und sie runzelte die Stirn. „Sie haben dir nicht gefallen.“ Jean schüttelte den Kopf. „Sie waren so künstlich. Alles sah so einfach aus und so überzogen.“ Renee brummte zustimmend und auch hier war er sich sicher, dass sie mehr als er gesehen hatte. „Gibt es…schöne?“, fragte er entsprechend vorsichtig und sie grinste abrupt über beide Ohren. „Aber sicher gibt es die! Was für welche möchtest du denn? Frau und Mann, Mann und Mann oder Frau und Frau? Oder noch etwas Anderes?“ „Bisher habe ich Frau und Mann und Mann und Mann geschaut. Und ein bisschen Frau und Frau war auch dabei manchmal“, gab er mit heißen Wangen zu und räusperte sich. Würde sie es komisch finden, dass er das schaute? Dass er auch Männer mit Männern schaute, obwohl ihm Gewalt angetan worden war? Renee wäre nicht Renee, wäre das der Fall. „Dann habe ich sehr viel Schönes und Anregendes für dich. Wenn du möchtest, schicke ich dir die Videos per PM.“ Zu seinem inneren Horror nickte Jean schneller, als dass er es ablehnen konnte. Woher die plötzliche Neugier kam, konnte er nicht so genau sagen. „Sag es bitte nicht Josten oder Minyard“, bat er leise und sie zwinkerte verschwörerisch. „Das bleibt nur unter uns, Großer“, versprach sie und legte den Kopf schief. „Darf ich dich etwas fragen?“ Zögernd nickte er, bereits ahnend, was kommen würde. „Findest du Frauen und Männer attraktiv?“ Das war nicht ganz das, was er erwartet hatte, doch auch das war schwer zu beantworten. „Das weiß ich noch nicht so ganz. Ich habe nichts dagegen…sie so zu sehen. Also nackt.“ Darüber zu sprechen war schwieriger als gedacht, auch wenn Jean mit Renee schon über ganz andere Dinge gesprochen hatte. Ihm war auch nicht unwohl dabei, er war nur unsicher. „Hat Jeremy dir das vorgeschlagen? Also dass du dir auch Männer anschaust?“, hakte sie nach und Jean schüttelte den Kopf. Er ruckelte sich unruhig auf dem Bett zurecht und strich mit seinen Fingern über Eva, die ihm den Abend über Gesellschaft leistete. „Nein, das war meine eigene Idee. Er weiß nichts davon.“ Was auch immer es war, dass sie stolz machte, er fragte nicht danach. Er wollte es auch gar nicht so genau wissen. Das hier war schon schlimm genug. „Renee?“ „Ja?“ Jean zögerte. Als er ihr von Thanksgiving erzählt hatte, hatte er ein paar Dinge ausgelassen. So auch den Kuss. Beide Küsse. Und seinen Wunsch, wie er an mehr Umarmungen kam. „Ich habe Knox einen Kuss auf die Haare gegeben. Er hatte Angst vor einem Gewitter und ich habe ihn beruhigt. Und er hat mir als Dank einen Kuss auf den Handrücken gegeben. Wir haben uns auch umarmt und wenn ich manchmal in sein Gesicht sehe, ist da so ein Kribbeln. Ich möchte gerne mehr davon, aber ich weiß nicht wie und ich weiß nicht, was es ist.“ Da war es heraus, sein unbeholfener Wunsch nach etwas, das er nicht genau beziffern konnte. Beinahe schon hoffte er, in Renees Mimik etwas zu finden, das ihm helfen würde, mit dieser Fragestellung umzugehen, doch sie trug ihren sorgfältig neutralen Ausdruck. „Möchtest du ihn in deiner Nähe haben?“, fragte sie schließlich und Jean nickte. „Schon. Er ist nett und er lacht viel.“ Vielsagend hob Renee die Augenbraue. „Findest du ihn attraktiv? Gefällt er dir?“ Ungebeten kamen Jean Erinnerungen an den nackten Hintern seines Kapitäns und an dessen freien Oberkörper, wann immer er im Sommer die Gelegenheit dazu gehabt hatte, sein Shirt auszuziehen. Er räusperte sich. Der Gedanke, ob er Knox attraktiv fand, war absurd, vollkommen weit hergeholt. „Er ist mein Kapitän, Renee“, sagte er kopfschüttelnd und senkte den Blick. Wer, wenn nicht sie, verstand um die Bedeutung dieses Machtgefüges. Knox hatte das Recht und die Macht, ihm alles zu befehlen, ohne, dass Jean sich wehren konnte. Etwas Kleines in ihm schrie deswegen alleine bei dem Gedanken daran, dass er ihn attraktiv finden könnte. „Befiehlt er dir denn Dinge außerhalb des Spielfeldes?“ Jean verneinte zögernd. Knox hatte ihm befohlen, den Reporter loszulassen, ja. Berechtigt, denn was Jean ihm angetan hätte, wenn er es nicht getan hätte, war nicht auszudenken. Aber darüber hinaus tat er das nicht, sondern fragte ihn nach seiner Meinung und hielt sich auch daran. „Zwingt er dich zu etwas?“ „Ja, ungesundes Essen in einer Pizzeria zu essen“, grollte Jean wenig erfreut über die Mengen, die sie gestern wieder zu sich genommen hatten. So wurde das nichts mit gesteigerten Trainingserfolgen, ganz und gar nicht. Um Renees Mundwinkel herum zuckte es verdächtig und Jean grollte gleich nochmal. „Das ist nicht amüsant!“ Sie nickte, fern davon, ihm zuzustimmen. „Also du bist nicht unglücklich mit dem, zu dem er dich zwingt?“, hakte sie nach. „Doch!“, schnaufte Jean. „Du könntest nein sagen. Oder nicht mitgehen.“ Hätte er seine Hände freigehabt, er hätte die Arme verschränkt. „Nein.“ „Nein?“ „Es ist schön dort.“ Nun lachte Renee offen und herzlich und er ertrug ihren Spott so würdevoll, wie es ging. Aber mit brennenden Wangen. Schneller, als es ihm lieb war, beruhigte sie sich und maß ihn mit erhobener Augenbraue. „Behandelt er dich gut?“, fragte sie und Jean zuckte zusammen. „Ich bin es, der ihn oft nicht gut behandelt“, gab er zu und die amüsierten Fältchen um ihre Augen glätteten sich. „Ich bin wütend und zweimal habe ich ihm Angst gemacht… nein, dreimal. Ich habe seinen Freund aus ihm herausgezogen, weil ich die Situation falsch eingeschätzt habe und ich kann ihn nicht soviel anlächeln wie er mich anlächelt.“ „Oh.“ Ja, oh war ein gutes Wort für das, was er Knox antat…immer und immer wieder. „Jean, habt ihr darüber gesprochen?“ Er nickte. „Mehrfach. Und er will immer noch etwas mit mir zu tun haben. Wir haben eine Art Safeword, damit das nicht noch einmal passiert.“ Wieder verfiel sie in ihr aufmerksames Schweigen, unter dem Jean sich innerlich wand, weil er genau wusste, dass sie zu den richtigen Schlüssen kommen würde. Vielleicht würde sie ihn sogar dafür verurteilen, was er getan hatte. „Wenn er nicht dein Kapitän wäre, sondern ein Junge, den du so kennengelernt hast, wie würdest du ihn dann sehen?“, überraschte sie ihn erneut mit einer Frage, die er nicht hatte kommen sehen. Überrascht zuckte Jean zusammen und blinzelte. Genauso, lautete die erste, unbedachte Antwort, die er über seine Lippen kommen lassen wollte. Doch sie wollte nicht so recht und das war auch gut so, hatte er so doch die Zeit, um sich darüber klar zu werden, was Renee wirklich fragte. Was wäre, wenn Knox nicht sein Kapitän wäre? Fände er ihn dann attraktiv? Könnte er mit ihm tun, was der Reporter getan hatte? Könnte er zulassen, dass Knox ihn berührte? Jean runzelte die Stirn. „Ich weiß es nicht, Renee“, gab er schließlich zu und sie lächelte. „Die Antwort musst du dir auch nicht jetzt geben, Großer. Aber denk mal drüber nach.“ „Werde ich“, versprach er und sie schenkte ihm einen Luftkuss, den er mit einem amüsierten Schnauben erwiderte. „Wenn du Fragen hast, Jean, bin ich jederzeit für dich da. Und wenn jemand gemein sein sollte, Knox zum Beispiel, dann komme ich vorbei und kümmere mich darum.“ Angesichts der Tatsache, dass sie besser darin war, Menschen mit Messern zu bekämpfen, hatte Jean einen Moment lang sehr irrational Angst um Knox, bis er erkannte, dass es eines dieser halb symbolischen Versprechungen war. Nicht, dass Knox jemals böse zu ihm sein würde. Wenn es eines gab, dessen Jean sich sicher war, dann das. „Danke“, lächelte er offen und sie strahlte über das ganze Gesicht. „Also, ich schicke dir jetzt die Videos und du sagst mir dann nachher, welches du davon am Besten fandest, okay?“, grinste sie schelmisch und Jean spürte, wie die Röte auf seinen Wangen zurückkehrte. „Jetzt gleich?“, fragte er und sie nickte. „Aber keine Sorge, ich lege vorher auf.“ Er schnaubte und sie streckte ihm die Zunge raus. „Also…die goldene Regel für Collegeunterkünfte, Jean Moreau, ist, dass du jede Sekunde, die du alleine bist, dafür nutzen solltest, Dinge für dich oder mit dir zu tun.“ „Renee!“ Empört schnaufte Jean. „Glaub mir, Großer, das ist die weiseste Regel, die ich jemals gelernt habe.“ Sie grinste bis über beide Ohren und warf ihm eine Kusshand zu. Vollkommen perplex ließ Jean das geschehen und verabschiedete sich zögernd von ihr. Sie winkte und ihr Victoryzeichen war das Letzte, was er sah, bevor sie das Gespräch beendete. Erst nach ein paar Minuten fand Jean überhaupt den Mut, auf die Videos, die sie ihm mit einem stetigen Ping schickte, zu klicken. Es waren fünf und Jean sah sich jedes von ihnen an. Mann mit Frau, Mann mit Mann, Frau mit Frau, Frau mit Frau und Mann und Mann mit Mann und Frau. Renee hatte Recht, diese Videos waren allesamt viel schöner als das, was er gefunden hatte. Viel schöner und ansprechender. Er hatte Zeit, sich die Körper anzusehen, die sich aneinanderschmiegten und langsam Dinge taten, die Jean mittlerweile mit Namen benennen konnte. Unterm Strich einvernehmlicher, lustbringender Sex. Selbst das Video der beiden Männer, die sich gegenseitig zum Höhepunkt brachten schaute er sich an und brauchte danach einen Moment, um das zu verarbeiten, was er gesehen hatte. Es war…schön gewesen, doch nicht nur das. Er spürte ein Drängen in seinem Unterleib, ein Ziehen und Schaudern, das er zum ersten Mal in der Stille des Morgens in ihrem Bad erlebt hatte. War das Lust? Wurde er durch das Video erregt? Jean runzelte die Stirn und sah es sich noch einmal an, mutiger dieses Mal. Er analysierte, was er fühlte und kam zu dem Schluss, dass er nichts dagegen hatte zu sehen, wie es zwei Männer miteinander taten. Ganz im Gegenteil. Er sah sich zum Vergleich noch einmal das Video zwischen der Frau und dem Mann an und stellte fest, dass er die beiden Männer ansprechender fand. Der Gedanke daran war in seiner puren Jungfräulichkeit erschreckend und gleichzeitig wunderschön und Jeans Herz schlug schneller bei dem Gedanken daran, dass er sich gerade vielleicht selbst eine Antwort auf eine noch ungelöste Frage gegeben hatte. Ein drittes Mal ließ er das Video laufen und stellte sich vor, wie es wäre, wenn er einer dieser Männer wäre und wenn der andere Mann ihm dabei keine Gewalt antun würde. Wenn es freiwillig wäre. Respektvoll. Liebevoll. Jean schauderte ob des plötzlichen Beinaheschmerzes in seinem Unterleib und mit Erstaunen sah er, dass er hart wurde. Der Gedanke alleine daran, wie es sein konnte, reichte aus, damit er erregt war. Überrascht sah er auf seine Jogginghose, die eine eindeutige Beule aufwies, auf den Stoff, der sich über seinen empfindlichen Schwanz spannte. Wie als würde er eine verbotene Frucht pflücken, stahl sich seine Hand unter den Bund seiner Hose und für einen Moment lauschte Jean dem stillen Flur ihres Wohnhauses. Knox würde noch länger bei dem Reporter sein, aber heute Nacht zurückkehren. Zumindest hatte er das versprochen, auch wenn es unnötig war. Mittlerweile konnte Jean in ihrer Wohnung alleine sein. Natürlich war es für ihn angenehmer, wenn er die Geräusche seines Mitbewohners um sich hatte, aber es ging, wie heute, auch ohne. Und heute war es sogar gut. Die Frucht des Verbotenen, des Heimlichen, war eine süße, belohnende Frucht, stellte Jean jetzt fest, als er seine Hand gerade so fest um seinen Schwanz schloss, dass der Druck eine Mischung aus Enge und erregendem Widerstand war. Er atmete zittrig ein und lehnte den Kopf zurück an die raue Wand, als er sich erneut gänzlich den Empfindungen hingab, die seine Nervenzellen aussandten. Seine Haut war so empfindlich, als würde er sie zum ersten Mal berühren und er seufzte leise. Wie die Männer in dem Video auch gab er sich vollkommen der Freiwilligkeit hin, auch wenn er von der Vertrautheit mit seinem eigenen Körper noch Kilometer entfernt war. Das, was er über erogene Zonen gelesen hatte, probierte er nun aus und strich leicht über seine Brustwarzen, die unter seinen Berührungen ebenso hart wurden. Das Gefühl seiner Finger sandte wohltuende Schauer seinen Rücken entlang tief nach unten und Jean entwich ein zittriger Laut der Zustimmung. Er griff zu und bewegte seine Finger auf und ab, langsam genug, um sich selbst mit dem Herauszögern verrückt zu machen. Wenn er es flutschig haben wollen würde, würde er etwas zum Gleiten benötigen, doch Jean hatte keine Muße, nun in die Küche zu gehen und das Öl zu holen, das Knox immer zum Braten benutzte. Dieses Mal ging es schneller als beim letzten und er hob seine Hüften seinen Händen entgegen, mehr und mehr in seinen Empfindungen gefangen, die ihn eindeutig zu etwas führten, das noch nie dagewesen war. Er spürte ein Drängen in sich, das von jeder Sekunde an schwerer und lockender wurde. Es leitete ihn durch sein Tun. Er wusste theoretisch, was er tun musste und nun erfuhr er praktisch, dass er seinem Instinkt vertrauen konnte, der ihm sagte, dass er bloß nicht aufhören sollte mit dem, was er tat. Jeans Lippen öffneten sich zu seinem lautlosen Aufstöhnen, das er auch in dem Video der beiden Männer gehört hatte. Es hatte ihm gefallen, war es doch anders gewesen als das Stöhnen derjenigen, die auf ihm gelegen hatten. Das Stöhnen der Männer in dem Video war etwas Gemeinsames gewesen, etwas Erotisches und er ließ sich von der Erinnerung daran treiben. Er trieb solange, bis das Drängen in ihm nicht mehr aufzuhalten war und er nichts Anderes mehr tun konnte, als sich seiner Lust hinzugeben, die ihn überrollte ohne dass er sie aufhalten konnte. Oder wollte. Er kam, zum ersten Mal in seinem Leben. Welle um Welle überrollte ihn und überrascht wie auch hilflos war Jean dem ausgeliefert. Er versuchte gar nicht erst zu verhindern, was in ihm passierte, sondern trieb in Gefühlen, die er so zum ersten Mal sein Eigen nennen durfte. Gute Güte… das war… er fand keine Worte dafür. Überwältig lehnte er an der Wand, seine Beine leicht gespreizt, seine Hand auf seinem Schwanz, der überaus empfindlich war und zwischen seinen Fingern zuckte. Jean lächelte und aus dem Lächeln wurde ein Grinsen, als er begriff, was er gerade getan hatte und was er in seinen Adern pulsierte. Aus dem Grinsen wurde ein Lachen und öffnete die Augen. Selbst das hatten sie nicht zerstört. Er war noch heil genug, um auch Erregung fühlen zu können. Jean zog seine Hand zu sich und besah sich die milchig-weißen Spuren auf seinen Fingern. Das war vollkommen normal, wie er nun wusste. Dass sein empfindlicher Körper sich nun aber an seiner ruinierten Trainingshose störte und ihn schaudern ließ, weil die feuchten Überbleibsel seiner Lust an der Innenseite des Stoffes klebten. Das war…überhaupt gar nicht erotisch. Ganz und gar nicht. Das war… „Uärghs.“ In dem Wissen, dass Knox so schnell nicht wiederkommen würde, zog er seine Jogginghose und Boxershorts aus und warf sie in die Schmutzwäsche. Besser, er duschte, bevor er sich etwas Neues anzog. Das war ja… wieso hatte ihn keines der Videos vor so etwas gewarnt? Wieso schrieb das niemand im Internet? Indigniert griff Jean zu seinem Duschgel, die Nase über seinen eigenen Körper rümpfend, der derart überraschend Unsinniges produzierte. ~~**~~ „Hi“, strahlte Jeremy, als Allan ihm die Tür öffnete und ihn mit einem knappen Lächeln hineinbat. Auch wenn der andere Junge reserviert schien, so freute Jeremy sich, ihn zu sehen und mit ihm zu sprechen, war es doch schon viel zu lange her, dass sie Kontakt miteinander hatten. Außerdem fühlte er sich jedes Mal wieder wohl in dem Apartment des anderen Jungen, das soviel stylischer war als sein eigenes. Allan hatte einen feinen Sinn für Inneneinrichtung und so war hier nichts an seinem falschen Platz. Alles gehörte zusammen und ergänzte sich perfekt, waren es die grauen Wände, die sorgsam ausgewählten Pflanzen oder auch die vereinzelten Dekogegenstände, die er, so wusste Jeremy, auf Flohmärkten quer durch L.A. erstanden hatte. Jeremy hatte schon viele angenehme Stunden hier verbracht und entsprechend freute er sich auch auf den heutigen Abend. Er streifte sich seine Sneaker ab, die er aus dem Kleiderschrank hatte holen müssen, weil es doch recht kühl geworden war in L.A.. Wie es schien, sanken die Temperaturen diesen Winter außergewöhnlich stark und er konnte seine zwanzig Grad getrost vergessen. Elf Grad hatte es heute Abend gegeben. Elf. Tiefster Winter. Jeremy schauderte und folgte Allan in das kleine Wohnzimmer hinein. Mit einem breiten Lächeln ließ er sich auf die weiße Couch fallen und rieb sich die Hände. „Kalt…viel zu kalt“, murmelte er und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Teekanne, die auf dem Tisch stand. „Möchtest du einen?“, fragte Allan und Jeremy nickte begeistert. „Sehr gerne, es wird doch tatsächlich Winter draußen.“ Allan lächelte und goss ihm schweigend eine Tasse heißen Gebräus ein. Er selbst hatte ein Wasserglas, das er nun aufnahm, während er sich an das andere Ende der Couch setzte, mit mehr Abstand, als es eigentlich zwischen ihnen üblich war. Jeremy hielt in seiner momentanen Bewegung, einen Schluck Tee zu trinken, inne. Allan hatte sich so noch nie verhalten, so reserviert und zurückhaltend. Er runzelte die Stirn und setzte seine Teetasse auf den Schenkeln ab. „Was ist los?“, fragte er sanft und der andere Junge seufzte. Er sah zur Seite, wich ihm aus und spielte mit dem Wasserglas. Er drückte sich vor einer Antwort, die Jeremy von Sekunde zu Sekunde nervöser machte. Schließlich atmete er tief durch und sah Jeremy direkt in die Augen. Der Blick reichte, damit er Böses ahnte. „Ich kann das nicht mehr“, sagte Allan mit einer Finalität, die Jeremy im ersten Moment nicht nachvollziehen konnte und die ihn wie eine Welle überrollte. Im ersten Moment begriff er den Sinn nicht, wirklich nicht. „Was kannst du nicht mehr?“, hakte er nach, unsicher ob des seltsamen Verhaltens. Nervös schwenkte Allan sein Glas, als könnte das die Antworten geben. Er strich sich durch die Haare, die für Jeremy immer so gut gerochen hatten. „Wir. Du…ich…wir beide. Das kann ich nicht mehr“, spezifizierte er und Jeremy schluckte schwer. Was…? Fassungslos und ängstlich starrte er dem anderen Jungen in das Gesicht, unfähig, auch nur ein Wort zu sagen. Der fragende Laut, der seine Lippen verließ, reichte aber anscheinend schon. Zitternd stellte er die Tasse ab, bevor er sie fallen lassen konnte. „Wieso?“, presste er schließlich hervor und grub seine Hände in den Stoff seiner Jeans. Eine der wenigen, die er besaß. Aber es war ja kalt. Allan schwieg und es waren die schrecklichsten Sekunden in Jeremys Leben. „Jer, immer wenn ich an dich denke, sehe ich ihn vor Augen, wie er mich in euer Wohnzimmer schleift. Ich sehe sein wütendes Gesicht und ich weiß, dass er bereit ist, mich umzubringen. Jedes Mal, wenn ich an dich denke, spüre ich seine Hände, wie sie sich um meinen Hals legen und zudrücken.“ Allan schüttelte den Kopf und seine Augen wurden tränenfeucht. „Ich habe Alpträume davon und habe dieses Ereignis so stark mit dir verknüpft, dass ich noch nicht einmal daran denken kann, mit dir zu schlafen. Ich weiß, dass das total unfair dir gegenüber ist, du hast damit nichts zu tun, du kannst nichts dafür, aber ich kann das nicht mehr trennen. Ich kann dich nicht mehr treffen, Jer, es tut mir so leid. Ich kann es nicht mehr. Ich brauche Abstand. Dauerhaft. Ich brauche ihn, um darüber hinweg zu kommen.“ Wie betäubt sah Jeremy zu, wie Allan nun wirklich weinte. Unfähig zu reagieren starrte er in die Trauer des anderen Jungen, erst langsam begreifend, dass Allan ihn nicht mehr sehen wollte. Weil Jean ihn angegriffen hatte. Weil er ihm wehgetan und ihm Angst gemacht hatte. Jeremy blinzelte. „Können wir…wieso…ich meine…wir können das gemeinsam bewältigen“, presste er schließlich hervor und er streckte seine Hand aus. Allan wich davor zurück, als wäre er derjenige gewesen, der ihn gewürgt hätte und Jeremy zog sie zögernd wieder zu sich. „Nein, Jer, nein, das können wir nicht. Am Anfang habe ich noch gedacht, dass es der Schock wäre. Dass es wieder weggehen wird, doch das tut es nicht“, sagte Allan aufgebracht und schlang die Arme um sich. „Es geht nicht wieder weg und ich kann dich nicht mehr im Unklaren darüber lassen, dass ich es nicht mehr kann.“ „Wieso gibst du mir keine Chance?“, flüsterte Jeremy im Angesicht der vollkommenen Hoffnungslosigkeit und Allan schnaubte. „Weil ich es nicht kann und nicht will. Jer, wir haben körperlich und freundschaftlich sehr gut miteinander harmoniert, aber da war niemals mehr. Wir hatten uns auch immer nur darauf geeinigt und das ist es mir jetzt nicht wert. Mit geht’s mit dir nicht mehr gut.“ Jeremy schluckte und nun brannten auch seine Augen. Die Worte taten weh, sie schmerzten so sehr, als hätten sie tatsächlich eine Beziehung geführt. Sie schmerzten, weil er sich vorkam, wie ein fürchterlicher Mensch. Wie der ekelhafteste Mensch auf Erden, dem man bloß nicht zu nahe kommen sollte. „Aber ich mag dich doch…ich will dich nicht verlieren“, wisperte er verzweifelt, nicht wirklich wissend, was er sonst sagen sollte. Allan starrte ihm in die Augen und schluckte schwer. „Dafür ist es zu spät.“ Er schnaubte. „Außerdem liebst du doch längst einen Anderen. Meinst du nicht, ich hätte nicht gesehen, wie du ihn ansiehst? Ausgerechnet ihn? Und dass du ihn mit zu dir nimmst nach Hause?“ Ungläubig schüttelte Jeremy den Kopf. „Das war doch, weil er sonst nirgendwo hinkonnte und weil ich eine Verantwortung für ihn habe.“ „Bullshit!“ Jeremy zuckte ob der Lautstärke zurück, mit der Allan ihm das Wort entgegenwarf. „Das ist ganz großer Bullshit, vor allen Dingen, wenn du es noch nicht einmal selbst merkst! Mach die Augen auf, Jer, du willst nicht mich, du willst ihn!“ „Sein Name ist Jean!“, hielt Jeremy ebenso laut dagegen, plötzlich und irrational wütend darüber, wie Allan über Jean sprach. Allan schnaubte verächtlich. „Q.e.d.. Du liebst ihn, schleichst um ihn herum, in dem Wissen, dass er dich niemals zurücklieben wird mit dem, was sie ihm angetan haben. Du machst dir vergebliche Hoffnungen, die absolut sinnlos sind. Aber das ist hier gar nicht das Thema!“ Wütend hatte Allan seine Hände zu Fäusten geballt und starrte Jeremy in die Augen. „Jeremy, wir hatten nie etwas Wirkliches. Es war nur Sex. Wir hatten eine schöne Zeit miteinander und ich habe jede Minute mit dir genossen. Aber das kann ich jetzt nicht mehr, jetzt und in Zukunft auch nicht.“ Stumm vor Entsetzen starrte Jeremy Allan an. Natürlich hatte er keine Beziehung mit ihm gehabt, aber das hieß doch nicht, dass er es gut vertrug, wenn der andere Junge von heute auf morgen aus seinem Leben verschwand. Dazu mochte er ihn zu sehr. Dafür war der Grund auch viel zu unfair, weil er keine Chance hatte, etwas dagegen zu tun. Mit Allan daran zu arbeiten, dass er verarbeitete, was geschehen war. Doch laut Allan hatten sie nie etwas Wirkliches gehabt. Nie etwas Wirkliches. Mit einem Mal war es Scham, die in Jeremy hochkochte. Scham vor dem, was er getan hatte, wie er sich Allan hingegeben hatte. Scham darüber, dass sie so intim gewesen waren. Diese Scham war fürchterlich und er fand es mit einem Mal zu schlimm um Allan noch weiter in die Augen zu sehen. „Das ist dein letztes Wort?“, fragte er und aus dem Augenwinkel heraus sah er den anderen Jungen nicken. Jeremy nickte ebenso und erhob sich, ohne einen weiteren Blick auf Allan zu werfen. Er wollte nur weg von hier, weg von dem Jungen. Er wollte weg von den Erinnerungen, die er mit ihm hatte. „Jer, ich…“, hörte er in seinem Rücken und verschloss wohlweislich die Ohren vor allem, was kommen mochte. Er drehte sich nicht um, er reagierte nicht darauf, während er sich mit zittrigen Fingern seine Schuhe anzog. „Jeremy, es tut mir wirklich leid. Bitte, glaub mir das.“ Er glaubte es, aber er wollte es nicht hören, weil es ihm nichts brachte. Nichts…rein gar nichts. „Jer!“ Jeremy floh aus dem Apartment, in dem er sich so wohl gefühlt hatte. Natürlich war es kalt und natürlich musste es nun auch noch regnen. Er hasste Regen. Regen war immer ätzend. Mit zusammengebissenen Zähnen lief er durch die dicken, kalten Tropfen. ~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 52: Einlaminiertes Glück -------------------------------- Jean fuhr mit seinem Finger über den weichen, plüschigen Stoff Evas, die neben ihm auf der Matratze saß und den Blick wachsam in Richtung Ausgang gerichtet hatte. Er hatte sie so arrangiert, in der kindlichen Annahme, dass sie ihn vor allem, was durch diese Tür treten würde und ihm böse gesonnen wäre, beschützen würde. Das stimmte soweit auch, denn außer Knox würde vermutlich niemand durch diese Tür treten. Und selbst wenn, dann wäre es jemand seines Teams und auch hier würde niemand ihm Böses wollen. Jean wusste das, aber seiner Angst, geboren aus dem Trauma, das er in Evermore erlitten hatte, war das egal. Brian hatte ihm das mit ruhiger Stimme erklärt, wie irrational Angst sein konnte, auch wenn er gleichzeitig begriff, dass die traumatische Situation als solche vorbei war. Jetzt, wo alles eigentlich besser wurde, holte sein gepeinigter Geist all das nach, was er sich in den vergangenen Jahren nicht hatte erlauben können zu verarbeiten. Die Alpträume waren da alltäglich und Jean war über jede Nacht froh, in denen er nicht panisch und innerlich wie äußerlich schreiend aufwachte. Knox hatte da eine Engelsgeduld mit ihm, immer darauf bedacht, ihm seine Decke zu geben, ihm beruhigend zuzureden und, wenn es nötig sein sollte, das warme Nachttischlicht anzumachen. Während des Tages hatte er oftmals Aussetzer, kleine, harmlose Dinge, die ihn zurückwarfen in die Zeit nach Evermore. Mittlerweile führte Jean eine Liste der Sachen und Situationen, die er besser meiden sollte. Er konnte zum Beispiel nicht in den fensterlosen Raum seiner Makroökonomievorlesung gehen, auf den sie manchmal hatten ausweichen müssen, wenn die Juristen wieder Vorrang an dem großen Saal anmeldeten. Er hatte mit Brian über das schreckliche Gefühl des Begraben Seins gesprochen und dieser hatte ihm angeboten, mit seinem Dozenten Kontakt aufzunehmen. Zögernd hatte Jean Brians Angebot angenommen und war erstaunt gewesen, dass sie seitdem kein weiteres Mal in dem Raum gewesen waren, wohl aber die Juristen. So hatte Jean Regeln für sich aufgestellt…Regeln, die ihm halfen, auch gedanklich von Evermore wegzukommen. Nachdem Knox mitbekommen hatte, dass er Angst vor dem Anblick seines Kapitäns mit einem Messer in der Hand hatte, hatte er ihm bei dem nächsten Einkaufstrip in den Stammsupermarkt bunte Keramikmesser gezeigt. Die farbenfrohen Klingen hatten wenig mit Rikos Messern gemein und so hatte er ganz zur Freude des blonden Jungen ein Set gekauft. Dass sie um Längen schärfer waren als Knox‘ alte Messer, hatten sie beide schon leidvoll in Erfahrung gebracht. Sein eigenes Blut zu sehen, gehörte dabei auch zu den Dingen, die Jean nach Möglichkeit verhindern sollte. Die Tatsache, dass sie in der Kantine aßen und dass sie sich ihr Essen selbst nahmen, half Jean mehr als er es erst vermutet hatte. Er konnte sein Essen selektieren und hatte mit Doktor Chandler zusammen einen Speiseplan aufgestellt, der wenig von dem beinhaltete, was es in Evermore gegeben hatte. Gerüche waren da schwieriger zu umgehen und Jean hatte mittlerweile herausgefunden, dass es besser war, Stephen nicht zu nahe zu kommen. Der Offensive Dealer seiner Mannschaft nutzte anscheinend das gleiche Duschgel wie einer der Männer, die sich ihm aufgezwungen hatten. Mit Mühe hatte Jean das Training, in dem es ihm zum ersten Mal aufgefallen war, durchgestanden und von da an mied er den Jungen, wo es nur ging. Ebenso wie er die japanische Sprache mied, die ihm über die Jahre so verhasst geworden war. Ein paar Worte reichten aus, dass Jean in seiner Bewegung einfror und wartete, dass der Herr auftauchen und ihn bestrafen würde. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, dass sein rasendes Herz ihn mit Sicherheit umbringen würde. Es gab nicht viele Japaner in seinem direkten Umfeld und Jean war dankbar darum, auch wenn er wusste, wie unfair das denjenigen gegenüber war, die nichts mit den Moriyamas zu tun hatten. Die Angst vor seinem Team war dem Wissen gewichen, dass sie ihm nichts tun würden und dennoch achtete er darauf, wenige von ihnen in seinem Rücken zu haben, wenn er stand. Er zuckte zusammen, wenn sie zu laut wurden, doch auch daran gewöhnte er sich. Aber all das machte die seelischen Verletzungen nicht wett, die Jean die letzten zehn Jahre erlitten hatte und Brian hatte ihn schon vorgewarnt, dass ihn die Spätfolgen dessen noch lange begleiten würden. Er würde Geduld brauchen und das war es, an dem sich Jean in schlechten Momenten festhielt. Es würde auch wieder besser werden und zwischenzeitlich war es das auch. Besser. Und sogar gut. Gerade eben war es okay und er lauschte in die Dunkelheit hinein. Es regnete und die dicken, nassen Tropfen klatschten laut an das gekippte Fenster. Er war fasziniert von dem seltenen Geräusch und ließ sich von der gleichmäßigen Schönheit einlullen. Vielleicht war es auch deswegen, dass er die Eingangstür zu ihrem Apartment beinahe nicht gehört hätte und angespannt lauschte Jean auf etwaige Geräusche, die darauf hindeuteten, dass es jemand anderes als Knox war. Doch dem war nicht der Fall. Er hörte Knox Schlüssel, der auf seine ganz eigene Art und Weise in der Schale klimperte. Die Art, wie sein Kapitän sich die Schuhe abstreifte und in die Ecke des Flures warf, war ebenfalls einzigartig genug, dass Jean den anderen Jungen in der Dunkelheit identifizieren konnte. So war es nun auch nicht schlimm, dass Knox sich im Dunkeln in das Schlafzimmer schlich und sich größte Mühe gab, Jean nicht aufzuwecken. Das tat er jedes Mal, wenn er später als Jean ins Bett kam, auch wenn sie beide wussten, dass Jean nicht schlief und wenn doch, bei dem leisesten Geräusch wach wurde. Aber Knox hoffte und Jean würde ihm die Hoffnung nicht nehmen. So verfolgte er auch nun hellwach den Weg seines Kapitäns ins Badezimmer und hörte zu, wie Knox duschte. Und duschte…und duschte…und duschte. Das wiederum entsprach nicht der Norm. Knox duschte abends nicht so lange und Jean fragte sich, ob es damit zusammenhing, dass er mit dem Reporter Sex gehabt hatte. Vermutlich. Jean hatte…danach…auch immer lange geduscht, aber das war nicht vergleichbar, oder? Als die Dusche abgestellt wurde und Knox immer noch nicht aus dem Bad kam, wurde Jean immer unruhiger und war kurz davor aufzustehen, als Knox aus dem Bad kam. Leise legte er sich in das Bett und drehte sich von ihm weg, hin zu seiner eigenen Wand. Jean schloss beruhigt die Augen, bis er merkte, dass Knox‘ Atmung seltsam ging. Normalerweise brauchte der andere Junge vier Minuten, bis seine Atmung ruhiger und tiefer wurde. Dann schnorchelte er und glitt schlussendlich in einen tiefen Schlaf, der für Jean das Zeichen war, dass auch er einschlafen konnte. Doch jetzt ging die Atmung des Jungen unregelmäßig und stockend. Knox weinte stumm. Wäre Jean nicht vorher schon wach gewesen, wäre er es jetzt auf jeden Fall und für einen Moment lag er ratlos auf seinem Bett. Warum weinte Knox? War etwas passiert? Hatte der Reporter ihm wehgetan? War auf dem Weg etwas passiert? Nervös blinzelte Jean. Was sollte er machen? Das Licht anmachen und sich zu Knox begeben? Ihn in die Arme nehmen wie bei dem Gewitter? Kritisch schürzte Jean seine Lippen und nahm all seinen Mut zusammen. „Knox?“, fragte er leise und dessen unregelmäßige Atmung stockte. Vollkommen still verharrte der andere Junge und machte es Jean damit nicht unbedingt einfacher. Sonst hatte Knox auf alles eine Antwort und nun, in der Dunkelheit ihres Schlafraumes, schwieg er. Das war für Jean nicht leicht, wirklich nicht. Jean atmete tief ein und richtete sich auf. Anscheinend reichten die Geräusche, die er machte, um Knox‘ Atmung wieder in Gang zu bringen. „Alles okay, Jean“, presste er hervor, die Stimme leise und rau. Noch nie hatte Jean eine deutlichere Lüge aus dem Mund seines Kapitäns gehört und ein entsprechend unerfreuter Laut verließ seine Lippen. „Du klingst nicht so“, erwiderte er ehrlich und einen Augenblick lang herrschte erneut Stille. Dann schluchzte Knox unterdrückt und Jean beschloss, dass es ihm zu bunt wurde. Er wollte den Jungen nicht alleine lassen, wenn etwas nicht stimmte. „Doch…“ Das war doch Unsinn. Jean schlug seine Decke zurück und schaltete sein Nachtlicht an, um Knox besser sehen zu können. Vielmehr dessen Rücken, der sich im Rhythmus der Schluchzer bewegte. Es war Sorge, die Jean Bauchschmerzen bereitete. Es war etwas passiert. Ganz sicher. Schweigend erhob er sich und überwand die Distanz zwischen ihrer beider Betten mit zwei Schritten. Unschlüssig stand er vor Knox und brauchte einen Moment, um sich dafür zu stählen, sich auf die Matratze seines Kapitäns zu setzen. Das war nicht so einfach, auch wenn es irrational war, denn Knox würde nicht auf den Gedanken kommen, seine Anwesenheit auszunutzen. Und dennoch. Vorsichtig ließ er sich auf der Bettkante nieder und Knox zuckte zusammen. „Wirklich, alles gut“, bekräftigte der blonde Junge seine Lüge und Jean schnaufte. „Jeremy“, betonte er den Vornamen des anderen Jungen, in der Hoffnung, ihn zur Vernunft zu bringen. Er hörte und sah doch, dass gar nichts in Ordnung war. Es zeigte Wirkung, denn der ihm abgewandte Körper wurde nun laut von Schluchzern geschüttelt. „Wirklich…“, murmelte Kox verzweifelt und Jean atmete tief ein. Seine Hand schwebte über der Schulter des anderen Jungen, unschlüssig und zögernd. Er hatte Knox nur einmal angefasst, als dieser sich unter seiner Bettdecke vergraben hatte und da war es auch nur die Bettdecke gewesen, nicht mal richtig der andere Junge selbst. Deswegen hatte Jean nun auch so ein erhebliches Problem damit, einen anderen Jungen in dessen Bett zu berühren. Nicht einen anderen Jungen, Knox, hielt er sich vor Augen und straffte sich. Resolut fasste er seinen Kapitän an der bebenden Schulter und drehte ihn zu sich. Dass Knox dabei halb auf seinen Oberschenkeln lag und sie definitiv Hautkontakt hatten, war unumgänglich. Selbst im warmen Schein des Nachtlichtes sah sein Kapitän fürchterlich aus, die Wangen tränennass und verzweifelt, seine Lippen zitternd, die Augen gerötet. Jean dachte an die lange Dusche und runzelte die Stirn, als ein ungutes Gefühl in ihm aufkam. „Er hat dir wehgetan“, stellte er fest, weniger eine Frage als eine Aussage und Knox schluckte schwer. Das war Jean Antwort genug und Wut schäumte in ihm hoch. Was genau hatte der Reporter Jeremy angetan? „Jean, ich…“ „Bist du verletzt? Hat er sich an dir vergriffen? Hat er dich geschlagen?“, verließen Fragen seinen Mund, die ihm einen Schauer über den Rücken jagten. Alleine die Vorstellung, dass seinem Kapitän etwas geschehen sein konnte, war… sie war fürchterlich. Knox schüttelte den Kopf, doch das war nicht sonderlich beruhigend. „Sondern?“, hakte Jean nach, als nur trockene Schluchzer kamen. „Schluss…“, murmelte der blonde Junge schließlich. „Er hat…Schluss…gemacht…“ Jeans in manchen Punkten lückenhafte Englischkenntnisse konnten mit der Bedeutung des Satzes zunächst nichts anfangen, doch dann erschloss er sich die Bedeutung dessen anhand des Kontextes. Zumindest glaubte er, dass er die richtige Bedeutung hatte. „Er hat eure Beziehung beendet?“, fragte er um sicher zu gehen und löste damit weiteres Weinen aus, das ihn geradezu hilflos machte. War es falsch gewesen, das zu fragen? Hatte er es falsch formuliert? Unsicher legte Jean den Kopf schief und Knox holte abgehackt Luft. „Es war ja…gar keine…“, wisperte er dann. „Er hat gesagt, dass…dass….dass… er meinte, dass…“ Knox verstummte und ließ Jean unwissend und irritiert zurück. Er sah, dass diese Trennung für den blonden Jungen schlimm war, dass er verzweifelt war, doch was dazu geführt hatte, erschloss sich ihm nicht. „Nie etwas Wirkliches“, wisperte sein Kapitän schließlich so leise, dass Jean es beinahe überhört hätte und neue Tränen liefen über seine Wangen. „Das…hat er gesagt. Nie etwas Wirkliches…“ Abwesend starrten die blauen Augen an die Decke, weg von ihm und seiner Aufmerksamkeit. Jean verstand die Begründung aber nicht. Sie hatten doch das Bett geteilt und er hatte gesehen, wie die Beiden zusammen tanzten. So eng und intim es gewesen war, fiel es ihm schwer zu glauben, dass der Reporter es nun aus dem Grund beendet hatte, dass sie niemals etwas gehabt hatten. „Warum hat er das getan?“, hakte er nach und sah auf seine Hand, die immer noch auf der Schulter des blonden Jungen ruhte. So wie Knox ihm über den Rücken gestrichen hatte, strich er nun auch über das T-Shirt dort, in der fahlen Hoffnung, den anderen Jungen beruhigen zu können. „Weil…er…er…nicht mehr…er will nicht mehr… mit mir…nichts davon hatte eine Bedeutung für ihn“, sagte Knox stockend und seine Augen huschten über Jeans Gesicht. Da war noch etwas Anderes, begriff er, etwas, das Knox ihm nicht sagte. Oder nicht sagen konnte. Sein Kapitän war durcheinander und unwillkürlich erinnerte ihn die Situation an das Gewitter. Da war Knox ebenso durcheinander gewesen. Er hatte den Jungen mit seiner Umarmung beruhigen können und das probierte er nun auch jetzt. „Soll ich dich umarmen?“, fragte er ruhig und die blauen, verzweifelten Augen ruhten in einer verzweifelten Intensität auf ihm, die Jean schlucken ließ. „Ja gerne…aber du….“ „Ich mache es gerne für dich“, unterbrach Jean ernst alle Versuche seines Kapitäns, Zweifel anzumelden und langsam kam Bewegung in Knox. Umständlich und unter dem protestierenden Knarzen seines Bettes drehte er sich auf der schmalen Matratze und zog die Decke mit sich. Der blonde, nasse Schopf legte sich auf Jeans Oberschenkel und für einen Augenblick starrte er verwirrt auf Knox hinunter. Das Gesicht und die Lippen des Jungen streiften den dünnen Stoff seiner Schlafanzughose und Jean war im ersten Moment vollkommen hilflos und ahnungslos. Was musste er tun? Vorsichtig bettete er seinen Arm auf Knox‘ Rücken und strich sanft über die zitternden Muskeln. Die Tränen des anderen Jungen durchfeuchteten seine Hose und er spürte den warmen Atem auf seiner Haut. Jean schluckte. Seine oberste Priorität war, Knox zu helfen und ihn zu trösten. Alles in ihm, auch seine eigenen Emotionen, sehnten sich danach, den anderen Jungen zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass seine Trauer verschwand. Alles andere musste warten. Alles andere war nicht wichtig. Knox weinte lautlos. „Wieso hat er das gesagt?“, fragte er um mehr Informationen aus Knox herauszubekommen und einen unendlich langen Moment lang herrschte Stille. „Weil alles, was wir hatten, bedeutungslos war für ihn. Ich meine…ja, wir hatten keine Beziehung…es war nur ein lockeres Zusammensein…aber es hatte Bedeutung für mich. Und nun komme ich mir vor…“ Trockene Schluchzer unterbrachen Knox‘ Worte und Jean wartete geduldig, bis der andere Junge sich soweit gefangen hatte, dass er weitersprechen konnte. „…ich komme mir so entblößt vor. Jedes Mal, das wir geteilt haben, wird in meinen Gedanken fürchterlich. Es wird zu einem Abklatsch, einem seelenlosen Zusammentreffen und ich fühle mich so beschämt, dass ich mich ihm hingeben habe. So schamlos…“ Jean verstand nicht im Geringsten, was Knox damit meinte, doch er glaubte nicht, dass das wichtig war in diesem Moment. Knox musste das loswerden, was ihn bedrückte, ganz gleich, ob Jean ihm folgen konnte oder nicht. Es tat gut, das loszuwerden. Es erinnerte ihn an die Momente, in denen Day noch kein Verräter gewesen war. Die Momente, in denen er ihn in den Arm genommen und Jeans eigenem Gebrabbel gelauscht hatte, unfähig dem zu folgen. Jean hatte keine Antwort gewollt, denn die Fragen, die er stellte, waren so ungeheuerlich, dass sie unbeantwortbar waren. Rhetorisch in einer pervertierten Endstufe. So blieb er auch jetzt ohne Worte und brummte nur tief aus seinem Bauch heraus, während er beruhigende Kreise über den Rücken des anderen Jungen strich. Eine Sache verstand er jedoch. „Du bist nicht schamlos und auch nicht entblößt. Du hast ihm dein Herz geöffnet und ihn hineingelassen. Er hat es mit Füßen getreten.“ Knox erwiderte nichts, sondern schniefte nur und weinte weiterhin leise, bis auch diese Tränen versiegten und seine Atmung zu etwas abglitt, dass Jean nur zu bekannt vorkam. Knox war eingeschlafen, auf Jeans Oberschenkeln und mit einem tiefen Seufzen starrte er auf seinen Kapitän hinunter. Er brachte es nicht übers Herz, ihn aufzuwecken. Also blieb ihm nur, hier sitzen zu bleiben, auf dem Bett des blonden Jungen, mit diesem auf seinem Oberschenkel. Jean lehnte seinen Kopf an die bunte Wand und schloss die Augen. Das wäre wieder etwas, was er zum ersten Mal tat. Die Nacht im Bett seines Kapitäns verbringen. Mit ihm zusammen. Nicht, dass es Jean etwas ausmachte. Er hatte Knox soviel zu verdanken, was war da schon eine schlaflose Nacht? ~~**~~ Jeremy wachte mit dem Gefühl auf, niemals eingeschlafen zu sein. Es gab nicht viele solcher Nächte und er hasste sie umso mehr, weil sie ihm Magenschmerzen und Schwindel bescherten. So auch jetzt, als er ruckartig zu sich kam, weil sein Nacken ihn umbrachte. Müde fuhr er sich über sein Gesicht und vergrub seine Hand protestierend unter seinem Kissen. Nur dass da keines war, sondern Widerstand. Muskulöser Widerstand und für einen Augenblick glaubte Jeremy, dass der gestrige Abend nur ein böser Traum gewesen war und er mit Allan zusammen im Bett lag. Doch ein schläfriger Blick auf die Umgebung sagte ihm Anderes und zerstörte die aufkommende Hoffnung in Form von Jeans leerem Bett mit der zurückgeschlagenen Decke. Eine schlechte Vorahnung überkam ihn und langsam drehte er sich auf den Rücken. Zögernd sah Jeremy in aufmerksame, graue Augen, die ihn schweigend und hellwach musterten. Jeremy blinzelte. „J…Jean?“, krächzte er, noch nicht wirklich in der Lage, zusammenhängende Gedanken zu bilden. Viel lieber wunderte er sich darüber, dass Jean aufrecht in seinem eigenen Bett saß, hellwach und wie ein schweigsamer Wächter. „Knox“, entgegnete dieser langsam und so vorsichtig, als wäre Jeremy ein Minenfeld. „Jean“, wiederholte er deswegen wenig intelligent und eine der dunklen Augenbrauen hob sich. „So lautet mein Name.“ Jeremy war nicht danach, zu lächeln, so nahm er die Worte seines Mitbewohners bewegungslos hin. „Was ist passiert?“, fragte er, alleine schon um Zeit zu schinden, weil Jeans intensive Musterung ihn von den fürchterlichen Ereignissen des letzten Abends ablenkte. Jeremy fiel es schwer, sich überhaupt auf etwas Anderes zu konzentrieren. „Du bist eingeschlafen“, half Jean der Rekapitulation überhaupt gar nicht und Jeremy begriff, dass das Kissen, auf dem er lag, überhaupt keins war. Er lag auf Jeans Oberschenkel und abrupt fuhr er hoch, die Augen weit und panisch. „Oh Gott, Jean, es tut mir leid! Ich wollte nicht…es tut mir leid, ich…sorry…“, stotterte er und sah mit Bestürzung den riesigen, feuchten Fleck auf Jeans Schlafanzughose, exakt dort, wo aller Wahrscheinlichkeit nach sein Mund gewesen war. Instinktiv fuhr Jeremy mit seiner Hand dorthin und rubbelte die nasse Stelle, als könne er sie so trocknen und seine Sabberspuren ungeschehen machen. Dass das keine gute Idee war, kam ihn eine Sekunde später und er fror noch in der Bewegung ein. Er war nicht nur unbegehrt, er war auch zu dumm, um sich einfache Dinge zu merken…dass Jean nicht berührt werden wollte zum Beispiel. Zu dumm war er. „Sorry“, murmelte Jeremy und Tränen trat in seine Augen. Er senkte den Blick und zog seine Hand zu sich. „Für’s Anfassen und Einschlafen…und Wachhalten und dumm sein…ich…sorry“, wisperte er, während er auf seine Finger starrte und Jean schwieg länger, als es Jeremy lieb war. „Du musst dich dafür nicht entschuldigen“, erwiderte er dann neutral und Jeremy schluckte. Er fand nicht die Kraft dazu, Jean in die Augen zu sehen. Lieber verschränkte er da seine Finger ineinander und wartete darauf, dass der andere Junge etwas sagte. Die Hand, die sich auf seine Finger legte, kam überraschend. „Du bist nicht dumm, Knox“, sagte Jean eindringlich und leicht drückten die Finger zu. Tränen tropften auf ihrer beider Hände und Jeremy schniefte leise. Und ob er dumm war. Dumm genug um Gefühle zu entwickeln. Jean bewegte sich und einen Augenblick später wurde Jeremy mit unbeholfener Kraft an den Oberkörper des anderen Jungen gezogen. Blind schloss er seine Arme um Jeans Körpermitte und barg seinen Kopf an dessen Brust. Er schluchzte erstickt und Jean hielt ihn, stumm und unbeweglich, aber auch gleichzeitig verlässlich da. Er und seine Hand, die Kreise über Jeremys Rücken strichen. ~~**~~ Jeremys ganzer Tag war verflucht. Er rutschte beinahe unter der Dusche aus und stieß sich seinen großen Zeh so heftig, dass er blutete. Auf der Suche nach einem Pflaster stieß er sich den Kopf an ihrem Badezimmerschrank und presste sich für ein paar Augenblicke lautlos fluchend die Hand auf den Schädel. Er verbrannte Jeans Frühstück und konnte den anderen Jungen nicht davon abhalten, die missglückten Eier zu essen, egal, wie oft er auch anbot, dass er ihm neue machte. Als wenn Jeremy auf Jeans Gesicht nicht die vorsichtige Neutralität eines Lügners gesehen hätte, mit der der andere Junge ihm gesagt hatte, dass es nicht so schlimm sei. In seinen Vorlesungen war Jeremy unkonzentriert, fahrig und übermüdet gewesen, nicht in der Lage dazu, seinen Dozenten zu folgen. Er vergaß, dass er Jean hatte abholen wollen und sagte in letzter Minute Ajeet Bescheid, damit der einspringen konnte, weil er die Zeit vorher frei gehabt hatte und gerade in der Nähe war. Beide kamen daraufhin zu spät zu ihren eigenen Vorlesungen, was Jeremy ein noch viel schlechteres Gewissen bescherte. Den ganzen Tag über kontrollierte er sein Smartphone, in der Hoffnung, dass Allan es sich doch anders überlegt hatte oder sich bei ihm meldete. Doch da war nichts. Keine Nachricht von ihm. Rein gar nichts. Jeremy hoffte, dass das Training ihm half, wenigstens die paar Stunden nicht Allans Worte in seinen Gedanken hin und her zu schieben. Doch auch hier irrte er. Er war nicht in der Lage dazu, Coach Rhemanns Anweisungen umzusetzen, geschweige denn das Team zu motivieren, was ihm mehrfach die laute Kritik ihres Trainers einbrachte. Jeremy nahm es schweigend und nickend hin und bemühte sich, es besser zu machen, doch das wollte ihm ebenso wenig gelingen wie alles andere auch heute. Wenigstens waren die Tränen versiegt und hatten ihn wund und leer zurückgelassen. So stand er nun auch vor seinem Spind, bewegungslos und antriebslos, die Stirn gegen das kühle Metall gelehnt. Die Anderen waren bereits duschen und er hatte sich diesen Moment Einsamkeit gestohlen um wieder zu sich zu finden und nicht wieder Jeans Nähe suchen um sich von dessen Geruch beruhigen zu lassen. „Jer.“ Sein Vizekapitän. Hinter ihm. Jeremy seufzte. Er liebte Alvarez, aber sie war ein Bluthund, wenn es darum ging, dass es jemandem aus ihrem Freundeskreis nicht gut ging. Wenn sie einmal Verdacht geschöpft hatte, dann ließ sie nicht locker. Keinen Millimeter. „Was gibt es, Al?“, fragte er erschöpft, ohne sich zu ihr umzudrehen. „Ich hab unseren Sportspoltergeist gefragt, was er mit dir gemacht hat…“, platzte sie mit der Tür ins Haus und Jeremy fuhr herum. Beinahe schon panisch suchte er ihren Blick. „Er hat nichts gemacht!“, begehrte er auf und sie schnaubte. „…und er hat mir gesagt, dass er rein gar nichts getan hätte und dass ich dich direkt fragen solle“, beendete sie ihren Satz und hob die Augenbraue. „Also, Cap, was hat dir dein Sonnenscheingemüt geraubt?“ Jeremy lehnte sich an den Spind und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Er hatte die Wahl…langsam und qualvoll oder schnell und schmerzhaft. Er entschied sich für Letzteres. „Allan will mich nicht mehr sehen. Er sagt, dass das, was wir miteinander hatten, nichts ist. Dass ich mir nichts darauf einbilden soll und dass es wertlos gewesen ist.“ Da war es raus und er verstummte. Das Wechselspiel auf ihrem Gesicht war ausdrucksstark und Jeremy konnte jede einzelne Emotion ablesen: Schock, Wut, Trauer, Mitgefühl, alles stand in ihrem sonst so fröhlichen Gesicht. „Scheiße“, sagte sie schließlich schlicht und er nickte. „Es tut weh“, erwiderte er und schluckte. „Definitiv. Allan ist aber auch ein Arsch…ich kapier nicht, warum er dich einfach so fallen lässt, ihr habt doch so gut miteinander harmoniert“, sagte sie und Jeremy sah zur Seite. Er konnte und durfte ihr nicht die Wahrheit sagen, denn das bedeutete, dass das, was Jean getan hatte, an noch mehr Ohren gelangte. „Er…seine Gefühle sind einfach weg“, sagte er und Alvarez schnaubte. „Du bist Scheiße im Lügen, Jeremy Knox.“ Das war er, schon immer gewesen. „Es gibt noch einen anderen Grund, aber über den will ich nicht sprechen“, entschied er sich für die Wahrheit und sie schnaufte. „Sowas, kaum geht’s um Jean, schon wirst du zum Geheimniskrämer“, sagte sie und Jeremy zuckte zusammen, als hätte er sich verbrannt. Wild sah er auf und starrte ihr in die Augen. Woher wusste sie davon? Hatte Jean es ihr erzählt? Oder Allan? Hatte sie es so mitbekommen? „Naja…ist doch klar, dass deine Flamme etwas damit zu tun hat. Allan ist doch nicht dumm, er sieht, wie wir anderen auch, wie du Jean ansiehst. Und wer weiß, wo du mit deinen Gedanken warst, als du dich mit ihm durch die Betten gewälzt hast.“ Jeremy schluckte schwer. Wenn er sich doch durch die Betten gewälzt hatte. In der letzten Zeit hatte Allan ihn gemieden – aus gutem Grund. „Ist es so auffällig?“, fragte er nach dem anderen Jungen in seinem Leben, der ihm eben jenes unwissentlich und unabsichtlich schwer machte. Alvarez stemmte die Hände in die Hüften. „Ist der Himmel blau? Wenn man dich kennt, dann bist du ein offenes Buch.“ „Weiß Jean davon?“ Sie schnaubte. „So offensichtlich du bist, so stumpf ist er. Nein, natürlich nicht. Auch wenn er dich oft genug beobachtet, dass man meinen könnte, dass ihm wenigstens ein Bisschen was aufgefallen sein sollte.“ Jeremy schwieg. Jean hatte ihn gefragt…er hatte ihn direkt gefragt und Jeremy hatte ihm eine ausweichende, aber wahre Antwort gegeben. Vielleicht wusste Jean schon, was er fühlte und sagte nichts, weil er Angst hatte. Schließlich war Jeremy sein Kapitän und er kam aus einem missbräuchlichen Umfeld, dessen zentrale Figur sein verstorbener Kapitän war. Derjenige, der andere Jungen damit beauftragte hatte, ihm sexuelle Gewalt anzutun. Selbst wenn Jean ja zu seinen Avancen sagen würde, wie könnte Jeremy sich dann jemals sicher sein, dass Jean es nicht nur tat, um ihm zu Gefallen zu sein… oder weil er sich gezwungen fühlte? Oder weil er es nicht wagte, Widerstand zu leisten? „Er soll sich hier wohlfühlen“, erwiderte er ausweichen und Alvarez schüttelte den Kopf. „Falls es dir entgangen ist, Cap, je wohler er sich fühlt, desto mehr motzt er. Und denk an unsere letzten Trainings. Man könnte meinen, wir wären die letzte Amateurmannschaft, wenn man nach den Worten geht, die seine Lippen verlassen.“ Jeremy konnte dem nur zustimmen. Jean hatte anfänglich soviel Angst vor ihnen gehabt, dass sein Missfallen lediglich wohlversteckt in seinen Augen gestanden hatte. Mittlerweile äußerte er das laut und deutlich. „Aber jetzt geht es darum, dass es dir wieder besser geht und es ist klar, was das bedeutet, oder?“ Jeremy verzog beinahe schon schmerzerfüllt das Gesicht. „Mir wird’s wieder gut gehen, das brauchst du nicht machen.“ Alvarez lachte laut. „Dem Protokoll muss gefolgt werden.“ „Kannst du da keine Ausnahme machen?“ „Nein.“ „Bitte?“ „Nein.“ Jeremy schloss seine Augen. Er liebte sein Team. Wirklich. Aber manchmal wollte er lieber zum Einsiedler werden. ~~**~~ Ungläubig hielt Jean die laminierte Din A4-Karte in den Händen und las die Worte darauf mittlerweile schon zum dritten Mal. Unwirsch runzelte er die Stirn und legte sie mit Bedacht auf dem Tisch vor sich. Sich wohlweislich seinen Kaffee greifend, lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme, bevor er vorsichtig seine Tasse auf den Unterarm abstellte. Unter dem Vorwand einer Taktikdiskussion war er von ihrem Apartment weggelockt worden. Jean grollte innerlich. Wie leichtgläubig er doch gewesen war, das Alvarez zu glauben. Taktikdiskussion, dass er nicht lachte. Hier ging es nicht um Exy, wie er zunächst angenommen hatte, sondern um diese laminierte Karte, auf der genauestens stand, wie im Fall von Liebeskummer vorzugehen war. Und als wäre das nicht genug, wie im Fall von Knox’s Liebeskummer vorzugehen war. Alvarez meinte das ernst. Jean hätte schon misstrauisch werden müssen, als sie ihm seinen am meist geschätzten Kaffee ausgegeben hatte und das auch noch in der großen Variante. „Das ist Unsinn“, grollte er und sie lehnte sich vor. Entschlossen parkte sie ihre Unterarme auf dem Tisch und musterte ihn durchdringend. „Du hast keine Ahnung.“ „Ich habe genug Ahnung um zu wissen, dass das Quatsch ist.“ „Bullshit.“ „Alvarez.“ „Sportspoltergeist.“ Jean strafte das mit verächtlichem Schweigen und nahm einen weiteren Schluck bitteren, schwarzen Kaffees, der ihn immer an den aus Abbys Haus erinnerte. Diese Liste war ein Scherz. Als wenn das helfen würde, was darauf stand. Als wenn es eine Blaupause für Trennungsschmerz gab. „Er ist nicht dumm.“ „Beim letzten Mal hat es auch geholfen.“ „Zufall.“ „Die richtige Wahl der Mittel in einem ausgewogenen Verhältnis.“ Jean rollte mit den Augen. „Händchen halten?“, hakte er kritisch nach. „Wortwörtlich, ja.“ „Und wer soll das machen?“ „Wer auch immer gerade in seiner Nähe ist. Jer liebt es, Händchen zu halten. Du hast große Hände, die erstaunlich sanft sind…das wäre doch was.“ Jean schnaufte. Er hatte was? Als wenn das ein valider Grund wäre, befand Jean, immer noch nicht wirklich überzeugt davon. „Tanzen gehen“, zitierte er Punkt fünf von der Liste. „Wie soll das denn helfen?“ „Na indem er sich locker macht und unter Menschen kommt, die ihn nicht behandeln, wie Allan ihn behandelt hat.“ Kritisch ließ er sich ihre Worte durch den Kopf gehen. Das machte Sinn. Zumindest mehr als… „…Literweise Kakao trinken“, merkte er mit sturmgeweiht zusammengezogenen Augenbrauen an. „Das ist ungesund und schädlich.“ Alvarez winkte ab und wedelte mit ihrem Finger vor seiner Nase herum. Jean war versucht, es seinem Kapitän gleich zu tun und danach zu schlagen, aber er beherrschte sich. Noch. „Schwachsinn! Es umhüllt die Seele mit einem Film aus Zucker.“ Das hatte Jean noch nie gehört. Vollkommen aus der Luft gegriffen war es. „Sightseeingtour? Das Team muss trainieren, die Fitness der Trojans lässt zu wünschen übrig, die Trainingserfolge sind überschaubar, niemand aus der Mannschaft nutzt sein volles Potenzial und außerdem…“ Alvarez schnippte vor seiner Nase mit ihren Fingern und nun haschte Jean wirklich nach der vorwitzigen Hand. Sie war schneller als er und insgeheim war er froh warum. „Ruhe, Sportspoltergeist. Es kann nicht jeder so perfekt sein wie du.“ „Darum geht es gar nicht! Ihr müsst besser werden als sie! Sie dürfen nicht gewinnen“, fuhr Jean hoch und ihnen beiden war klar, wer sie waren. Wessen Namen er nicht aussprechen konnte. Alvarez schloss ihren Mund mit einem hörbaren Laut und wo vorher Kampfeslust gewesen war, waren nun Verständnis und Mitgefühl. Jean grollte innerlich. Mit beidem würden sie nicht gewinnen. „Sie werden nicht gewinnen“, erwiderte sie ruhig und mit einer Zuversicht, die Jean nicht wirklich teilen konnte. „Und sie werden dich auch nicht in ihre Finger bekommen.“ Er schnaubte. Natürlich würden sie ihn verletzen. Wenn etwas sicher war, dann das. Williams würde keine Gelegenheit für Fouls auslassen, die als legale Checks getarnt waren. „Sie werden unfair spielen. Und sie werden versuchen, die Trojans mit Bodychecks außer Gefecht zu setzen“, sagte er und Angst vor einem möglichen, katastrophalen Ausgang kam in ihm hoch. Was, wenn Williams Rikos Taktiken anwandte und versuchte, die Spieler ins Krankenhaus zu checken? Alvarez‘ Hand auf seiner erschreckte Jean mehr als dass es mittlerweile üblich war. Sie beide wussten, womit das zusammenhing und sein Vizekapitän lächelte haifischartig. „Das ist nicht das erste Mal, das wir gegen sie spielen und sie versuchen, uns mit halblegalen Mitteln aus dem Leben zu klatschen. Nun ist Riko aber Futter für die Würmer und du bist ein Trojan. Das ist ihr herber Verlust, was bedeutet, wir sind im Vorteil und machen sie hier bei uns fertig. Versprochen Jean, wirklich.“ Wenn es denn so einfach wäre. Jean seufzte innerlich. So ganz war er nicht davon überzeugt, doch das Spiel war noch weit genug weg, dass er es von sich schieben konnte. Und es fand hier stand, nicht in den dunklen, tiefen Kellern von Evermore. Auch das half. „Schnickschnack, wie dem auch sei!“, holte Alvarez ihn zurück und Jean war froh um die allzu offensichtliche Ablenkung. Er blinzelte und nahm einen Schluck Kaffee, während er mit seinem Zeigefinger auf den achten Punkt der Liste deutete, der direkt über „Händchen halten“ stand. „Was ist das?“, fragte er und sie folgte seinem Blick. Beinahe schon komisch weiteten sich ihre Augen. „Du weißt nicht, was Karaoke ist?“, hakte sie nach und Jean schüttelte den Kopf. Sie bohrte nicht weiter, was sie mittlerweile in vielen Punkten nicht mehr tat, sondern starrte ihm nachdenklich in die Augen. Der taxierende Ausdruck, dem die Nachdenklichkeit wich, gefiel Jean gar nicht. So im Nachhinein. Nicht, dass es dafür nun schon ein paar Sekunden zu spät war. ~~**~~ „Ich sollte dich irgendwo vergraben“, zischte Jean ungehalten zu Alvarez, sein französischer Akzent stärker als noch vor einer halben Stunde. Natürlich hatte sein Vizekapitän ihm nicht erklärt, was Karaoke bedeutete, natürlich hatte sie keinen Ton gesagt. Natürlich war es eine Überraschung für Knox gewesen, so dass auch er nichts hatte verraten können. Er oder der Rest der insgesamt vierzehn Trojans, die mit in dieser Bar waren, in der von der Bühne aus derart schief gesungen wurde, dass es Jean Zahnschmerzen bereitete. Alvarez hatte ihm verschwiegen, dass die Punkte auf der Liste nicht chronologisch waren, sondern völlig variabel. Das, was sie ihm nicht verschwiegen hatte, war, dass er als Jeans Mitbewohner selbstverständlich eine besondere Pflicht hatte, den Punkten beizuwohnen. Nicht allen, aber den Meisten. Dem hier hatte er sich nicht entziehen können und so standen sie nun, drei Tage, nachdem Alvarez ihn zu einem Kaffee eingeladen hatte, in dieser verfluchten Bar. „Kannst du tun, französischer Massenmörder, aber erst nachher und erst nachdem dieser traurige Ausdruck auf Jers Gesicht verschwunden ist“, wisperte sie zurück und grinste breit, als besagter Kapitän sich zu ihnen umdrehte. Sie winkte und Laila schüttelte resigniert mit dem Kopf. Manchmal fragte Jean sich schon, was Laila bei der vorlauten, lauten und durchaus aufdringlichen Frau hielt. „Hört auf zu tuscheln, ihr beiden“, wurde auch er gescholten und Jean schnaufte. Nicht, dass man es in dieser fürchterlich lauten und stickigen Bar hörte, von deren Decke überall kupferfarbene Rohre hingen und passende Lampen aus Drähten hielten. Die Rohre liefen auch über die Wände und Jean kam zu dem Schluss, dass es Dekoration sein musste. So viele Leitungen auf einem Haufen ergaben überhaupt keinen Sinn. „Da ist unser Tisch!“, rief Valentine und zog Logan hinter sich her, dessen leuchtende Augen Jean kein wirklich großes Rätsel waren, wenn er daran dachte, wie gerne der andere Junge gesungen hatte. Ebenso Fahima. Ajeet war nicht mit dabei, weil er arbeiten musste, dafür aber Ellie, Giorgia, Tim, Elena, Cilian, Mary-Lou und Ricardo, die ihren Kapitän mit herzlichen Umarmungen empfangen hatten. Jean und Alvarez gingen sich gegenseitig anrempelnd hinter den Anderen her und ließen sich auf die noch freien Stühle nieder. Er neben Knox und Alvarez neben Laila. Jean war froh um die Wand in seinem Rücken und darum, dass sie hier nicht ganz so nah an den nächsten Lautsprechern und der fürchterlichen Bühne waren und wenn er sich seinen Kapitän ansah, dann ging es ihm genauso. Seit drei Tagen war er gefordert, der sprechende Teil ihres Apartments zu sein, weil Knox wenig bis gar nichts sagte und immer wieder in traurige Gedanken abglitt. Jean ließ den blonden Jungen auch nur noch in die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen. Frühstück und Abendessen übernahm nach dem ersten, katastrophalen Morgen Jean. Mit Freuden tat er das. Auch wenn er Knox zu den Mahlzeiten locken musste und ihm langsam die Gesprächsthemen ausgingen. Er wusste nicht, worüber er soviel erzählen sollte, schließlich erlebten sie viele Dinge gemeinsam. Er stand kurz davor, Laila und Alvarez einzuladen, öfter vorbei zu kommen. Oder den Rest des Teams. Sie bestellten ihre Getränke und um Knox‘ Willen nahm Jean ein Glas Limonade anstelle seines üblichen Wassers. Schließlich sollte er, zumindest wenn es nach Alvarez ging, so aussehen, als würde er weggehen und Spaß haben. Um Knox‘ Willen. Wenn dazu ein Glas Limonade reichte, dann machte er es gerne. „So, auf geht’s!“, sagte Fahima neben ihm begeistert und nahm Knox‘ Hand. Sanft zog sie daran und nahm den Jungen mit sich zur Bühne. Jean sah ihnen hinterher und blieb an ihrem changierenden Seidenhijab hängen, den sie von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte. Lächelnd hatte Fahima ihm die Erlaubnis gegeben, den Stoff anzufassen, als er einmal zu oft darauf gestarrt hatte und so war Jean nicht umhin gekommen, die blau-pink schimmernde Seide durch seine Finger fließen zu lassen. Wunderschön. Und es machte den Jungen, der versuchte, sich ihr zu nähern, auf eine sehr amüsante Weise sprachlos. Zumindest hatte Pete nicht wirklich viel Sinnvolles hervorgebracht, als er sich gestern zum Mittagessen zu ihnen gesetzt und versucht hatte, mit Fahima ein Gespräch zu führen. Jean amüsierte die Erinnerung daran. Pete war in seiner Makroökonomie- und in seiner Wirtschaftsrechtvorlesung. Er war kein Schwätzer und machte eigentlich nur den Mund auf, wenn er etwas Richtiges zu sagen hatte. Er war vollkommen fasziniert von Exy und noch viel faszinierter von Fahima. Das war nicht nur ihm aufgefallen und so wartete schon das gesamte Team darauf, ihn einer Prüfung unterziehen zu können. Einer Fragestunde, wie es Laila Jean erklärt hatte, in der er auf Herz und Nieren geprüft wurde. Jean wusste, dass sie Pete nichts Böses tun würden, aber ein bisschen Mitleid hatte er schon. Ihre Getränke kamen und Jean sah sich verstohlen um. Die Bar voll vollgequetscht mit Leuten, die in kleinen oder größeren Grüppchen zusammenstanden oder wie sie an einem Tisch saßen. Er sah niemanden, der nicht lachte oder sich nicht angeregt unterhielt und verstand, warum dieser Punkt auf der Liste stand. Für Knox war diese Fröhlichkeit hoffentlich ansteckend. Er selbst hielt sich an seiner Limonade fest und begegnete Valentines Blick, die nun drei Sitze weiterrückte, weil Logan, Elena und Cilian ebenfalls nach vorne gingen. „Also, Jean“, begann sie und maß ihn eindringlich. „Erklär mir jetzt bitte nochmal deinen Spielzug von heute. Mir ist die Schrittfolge nicht klar. Also echt nicht.“ Für gewöhnlich würde Jean mit den Augen rollen und sich über die Unfähigkeit seines Teams aufregen, neue Spielzüge zu integrieren, nun aber war er dankbar für die Ablenkung, die ihn von diesen schrägen, missgestimmten Tönen wegbringen würde. ~~**~~ Erschöpft und erschlagen kroch Jeremy aus dem Bett. Er schlief nicht gut in der letzten Zeit, träumte viel, davon aber wenig Schönes. Immer und immer wieder durchlebten seine Erinnerungen Allans Worte und in Verbindung mit diesen das, was Jean getan hatte. Immer und immer wieder hatte er diese Schleife heute Nacht geträumt und war viel zu früh aufgewacht. Ein Blick auf das Bett an der anderen Wand sagte ihm, dass Jean vermutlich durch ihn geweckt worden war und Jeremy blieb einen Moment lang an Louis‘ Zeichnung, den beiden Bildern und der Postkarte hängen, die Jean mittlerweile an seine Wand geheftet hatte. Eines der Bilder war an einem ihrer Strandbesuche entstanden und zeigte die Trojans von hinten, wie sie an einem strahlend schönen Tag ins glitzernde Meer sprinteten. Entweder Fahima oder Jean hatten das Bild gemacht und Jeremy musste jedes Mal wieder lächeln, wenn er es sah. Das andere war neu hinzugekommen und es war ein Bild von Barns und Gargamel, das seine Ma ihnen beiden geschickt hatte. Die Postkarte war von Neil, Renee, Nicky, Allison und Matt – zumindest hatten diese Personen sie unterschrieben. Bei Andrew war Jeremy sich mittlerweile sicher, dass dieser rein aus Nickeligkeit nicht unterschrieben hatte. Kevin vermutlich nicht, damit Jan sie nicht wegwarf. Es war eine etwas in die Jahre gekommene Postkarte der Stadt, die Verwaltungsgebäude und einen See zeigte, nur durchbrochen von gelb-schattierten Schrift, die die Stadt identifizierte. Jeans unwirsches Grollen, als er das gute Stück amerikanische Postkartengeschichte in den Händen gehalten hatte, war keinesfalls als Zustimmung zu werten gewesen, allerdings hatte er sie schließlich ohne Murren aufgehängt. Jeremy horchte auf, als er Geräusche aus der Küche hörte. Jean schien Frühstück zu machen, wenn er das Gurgeln der Kaffeemaschine richtig interpretierte, das gedämpft zu ihm drang. Es war ein guter Anlass die Schrecken der Nacht hinter sich zu lassen und sich von Jeans Anwesenheit ablenken zu lassen. Was bisher gut funktionierte, wenn er das mit seinen letzten Trennungen verglich. Nur dass es jetzt keine Trennung war. Er schälte sich aus dem Bett und streifte sich seinen Trojanhoodie und die gestrickten Socken über, zog die Kapuze über seine Haare. Es war kalt geworden in L.A., bitterkalt mit Temperaturen um zehn Grad. Aber was beschwerte er sich, der Winter und Weihnachten standen vor der Tür. Trotz aller Niedergeschlagenheit freute Jeremy sich auf seine Familie, auf Silvester und auf das neue Jahr. Worauf er sich nicht freute, war, Jean die bittere Wahrheit über ihr Spiel gegen die Ravens eröffnen zu müssen, was neben Allans Verschwinden aus seinem Leben die zweite, große Belastung für ihn war. Aber er schaffte es nicht. Beim besten Willen hatte er keine gute Gelegenheit dafür gehabt, es Jean in Ruhe zu sagen und selbst stark genug zu sein um den anderen Jungen danach auffangen zu können. Zumal Jean mit jedem Tag, den er hier war, mehr erblühte, öfter lächelte und ihm ironischere Kommentare um die Ohren schlug. Momentan zwar nicht, aber Jeremy glaubte, dass das mit Allan zusammenhing und damit, dass Jean sich mit den gesamten Trojans wie eine Herde an Glucken um ihn kümmerte, egal, wie oft er versicherte, dass es ihm bald besser gehen würde. Leise öffnete Jeremy die angelehnte Tür. „Hey“, murmelte er und Jean sah von der Anrichte hoch, auf der er gerade Obst und Gemüse schnitt. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen und wenn Jeremy sich nicht wirklich täuschte, dann hatte er nicht so gut geschlafen. Vermutlich noch schlechter als er selbst. „Guten Morgen“, erwiderte Jean, als gäbe es das alles nicht und Jeremy kam zu ihm. „Habe ich dich wachgehalten?“ Jean nickte ehrlich und Jeremy lächelte entschuldigend. „Es tut mir leid“, sagte er und holte Schüsseln für Jeans Geschnittenes heraus. „Ich kann auf die Couch umziehen, damit du besser schlafen kannst“, sagte er, doch der größere Junge schüttelte den Kopf. „Nein, das musst du nicht.“ Jeremy schwieg zusammen mit Jean und deckte in der frühen Morgenstille ihren Frühstückstisch, während der andere Junge den Pancakesteig anrührte. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es fünf Uhr morgens war, viel zu früh für ihn normalerweise. Doch er hatte keine Muße, wieder ins Bett zu gehen und noch viel weniger Muße, wieder Alpträume zu haben. Lieber nahm er Jeans Lieblingstasse aus dem Schrank und stellte sie neben seiner auf die Anrichte, als die Kaffeemaschine die letzten Tropfen des schwarzen Gebräus ausspuckte. Jean backte die Pancakes in der Pfanne und machte sich nebenher sein Rührei mit solch schlafwandlerisch sicheren Bewegungen, dass Jeremy einfach da stand und ihm zusah. Es verschaffte ihm Ruhe und etwas Alltägliches, das ihm Kraft gab, so saugte er sich an den Bewegungen des anderen Jungen fest. Zumindest solange, bis dieser ihr Frühstück fertig hatte und alles auf den Tisch stellte. Erst dann folgte Jeremy mit dem Kaffee und setzte sich auf den Stuhl, ein Bein zu sich ziehend. Er wusste, dass er frühstücken sollte, weil ihr Tag anstrengend werden würde, aber er brachte es nicht über sich, mehr damit zu tun als darin herum zu stochern. „Habe ich sie falsch gemacht?“, fragte Jean schließlich und Jeremy sah auf. Einen Moment lang erschloss sich ihm nicht, was Jean meinte, doch dann schüttelte er wild den Kopf. „Nein, sie sind vollkommen richtig. Ich…ich brauche nur etwas, um sie zu essen. Es ist noch früh.“ Das war eine Lüge, denn er hatte schon die letzten Tage nicht richtig gegessen und Jeans erhobene Augenbraue sagte ihm genau das. Jeremy senkte den Blick. „Sorry“, murmelte er und widmete sich dem Pancake, dieses Mal mit etwas mehr Elan. Jean erlaubte ihm den schweigenden Kampf mit seinem Essen, bis er aufstand, um ihnen beiden eine zweite Tasse Kaffee einzuschenken. „Du hast im Traum gesprochen“, begann er so neutral, dass Jeremy jetzt schon ein schlechtes Gefühl bei der Sache hatte. Jean setzte sich wieder und musterte ihn aufmerksam. „Im Traum hast du den Reporter darum gebeten, nicht mir die Schuld zu geben. Du hast gesagt, dass es unfair ist, dass er sich dir wegen mir nicht mehr nähert.“ Jeremy schluckte und war viel zu überrascht über seine eigene, schlafwandlerische Geschwätzigkeit, als dass er zunächst darauf reagieren konnte. Dieses Zögern war ein Eingeständnis, das sah er, ebenso wie er das Erkennen der Wahrheit in Jeans Augen bemerkte. „Jean, ich…“, begann Jeremy, wusste aber nicht so recht, wie er den Satz wirklich beenden wollte. „Stimmt das, Jeremy?“, fragte Jean schlicht und alleine sein Vorname, der weich und streng zugleich von den Lippen des anderen Jungen kam, machte ihm ein Ausweichen unmöglich. Jeremy schluckte, sein Hals plötzlich trocken und die Kehle eng. Er räusperte sich, hustete einmal und nickte dann. „Allan hat… er kann nicht vergessen, was geschehen ist, als du uns gesehen hast. Er sieht nur noch, was geschehen ist, wenn er an mich denkt oder mich sieht. Er…möchte mich nicht mehr sehen, weil er Angst davor hat, was geschehen ist und weil er es verarbeiten muss.“ Es war ein Wunder, dass Jeremy die Worte so reibungslos aussprechen konnte und dass er nicht wieder anfing zu weinen. Vielleicht lag es daran, dass er erschöpft war oder dass er endlich begriffen hatte, dass er Allan nie wiedersehen würde. Was es auch war, seine Emotionslosigkeit wurde mit einer solch nonverbalen Wut in Jeans Gesicht pariert, dass Jeremy alleine beim ihrem Anblick zusammenzuckte. ~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 53: Krieger des Lichts ------------------------------ „Ich bin schuld?“ Drei Worte, die Jeremy einen Schauer über den Rücken jagten. Jean fragte ruhig nach, immer noch so fürchterlich emotionslos und Jeremy schloss für einen Moment die Augen. Dass das nicht klug war, wenn er Jeans Reaktionen im Auge behalten wollte, wurde ihm Sekunden später bewusst und er riss sie wieder auf. Bestimmt und energisch schüttelte er den Kopf. „Nein, das bist du nicht Jean.“ „Doch.“ Überrascht hob Jeremy die Augenbrauen. „Nein, Jean, warum…“ „Er hat eure Beziehung beendet, weil ich ihn gewürgt und ihn aus dir herausgezogen habe“, sagte Jean in einer brutalen Ehrlichkeit, die Jeremy mit den Zähnen knirschen ließ. „Weil ich ihn traumatisiert habe.“ „Nein, Jean, du…“ „Das habe ich getan“, bekräftigte Jean und Jeremy hörte fassungslose Pein in der rauen Stimme seines Backliners. „Nur weil ich unüberlegt gehandelt habe. Weil ich nicht nachgedacht habe.“ „Du hattest deine Gründe für dein Handeln, Jean. Bitte.“ „Mein Grund ist, dass ich unerfahren und dumm bin“, schnarrte sein Gegenüber und Jeremy schluckte schwer. Seine Hand kroch über den Tisch und blieb neben Jeans liegen. Vorsichtig tippte er mit seinem Zeigefinger auf Jeans Fingerknöchel. „Dein Grund ist, dass du traumatisiert worden bist. Du hast es nicht aus böser Absicht getan.“ Jean schwieg für einen Augenblick, dann schüttelte er den Kopf. „Nur dass ich dich wieder einmal damit verletze und dir etwas Böses tue. Ich habe den Reporter von dir weggetrieben, der dir viel Gutes getan hat. Mit dem du intimen Spaß hattest. Ich habe dir also schon wieder Dinge angetan, die schlimm sind“, spie er mit soviel Selbsthass aus, dass Jeremy nicht anders konnte als zu grollen. Dass das Jean erschreckte, war nur logisch und Jeremy tat seine Reaktion leid, sobald sie seinen Mund verlassen hatte. „Nein Jean, du bist nicht schuld“, erklärte er hastig sein Grollen. „Bitte mach dir deswegen keine Vorwürfe. Wirklich. Du bist nicht schuld. In keinem Fall. Ich werde dir das auch niemals vorwerfen. Niemals, Jean, niemals! Und deswegen möchte ich auch nicht, dass du dir deswegen Vorwürfe machst. Bitte.“ Jeremy flehte mit großen Augen und tippte Jean erneut auf den Fingerknöchel. Einmal, zweimal, solange, bis Jeans Augen von ihrem intensiven Starren auf seinen Finger auswichen. Jeremy tippte weiter und Jean hob die Augenbraue. „Gib nicht dir die Schuld. Bitte. Jean, bitte. Ich möchte nicht, dass du das tust. Niemand kann etwas dafür. Wirklich niemand.“ Jeans Zeigefinger legte sich auf seinen und drückte ihn sanft, aber unnachgiebig auf Jeans Knöchel und hielt ihn dort. Eine Warnung oder ein Versprechen, Jeremy wusste es nicht. „Warum verteidigst du mich?“, fragte Jean schließlich schlicht und Jeremy lächelte so sanft er konnte. „Weil du es verdient hast.“ Jean starrte ihn an, als hätte er seinen Verstand verloren und schnaufte dann, so wie er es in letzter Zeit öfter tat, kurz nachdem er diesen Laut für sich entdeckt hatte. Wenn man Jeremy fragte, was er davon hielt, so wäre seine Antwort ein begeistertes Nicken. Nicht nur, dass er diesen Laut sehr gerne mochte, nein, er war auch froh, dass Jean etwas hatte, das er für sich selbst entdeckt hatte und weiter nutzte. „Nein, habe ich nicht. Ich war brutal, sowohl zu dir als auch zu dem Reporter.“ „Hast du es mit Absicht getan?“, hielt Knox simpel dagegen und es brauchte etwas, bis Jean unmerklich den Kopf schüttelte. In den grauen Augen stand etwas, das Jeremy schwerlich beziffern konnte. „Ich habe viele Dinge nicht mit Absicht getan. Aber verletzt haben sie trotzdem“, murmelte er und Jeremy seufzte. Er nahm seine zweite Hand und legte sie über ihrer beider verbundenen. „Bereust du es?“ „Ja“, erwiderte Jean rau und Jeremy legte den Kopf schief. „Das ist alles, worauf es ankommt. Das macht dich zu einem guten Menschen.“ Jean brummte etwas auf Französisch, halb liebevoll, halb schlecht gelaunt und Jeremy beschloss, den anderen Jungen heute Abend nach ein paar Vokabeln zu fragen, wenn sie im Bett lagen. Um sie beide auf andere Gedanken zu bringen. ~~**~~ Mit jeder Minute, die sich seine Vorlesung dem Ende näherte, wurde Jean nervöser und nervöser. Er konnte noch nicht einmal sagen, was ihnen der Dozent in der letzten halben Stunde erzählt hatte, so laut war das Rauschen in seinen Ohren. Alleine bei dem Gedanken daran, was er im Begriff war zu tun, schlug sein Herz schneller, während jahrelange Indoktrinierung ihn anschrie, dass er nicht tun konnte, was er beabsichtigte zu tun. Das Ende der Vorlesung kam schneller, als es ihm lieb war und er packte mit zitternden Händen seine Sachen zusammen. Er stopfte sie in einen Rucksack und warf einen nervösen Blick in Richtung Ausgang. Was, wenn seine kleine Lüge aufflog? Würde er dann ein zweites Mal den Mut dazu aufbringen, sich bewusst zu entfernen und niemanden bei sich zu haben auf dem Weg, der nun vor ihm lag? Wie es schien, musste er sich diese Gedanken nicht machen, denn Val hatte seinen Worten vertraut, dass Knox ihn abholte. Sie vertraute ihm und er hatte das missbraucht. Hoffentlich flog diese Lüge nicht auf. Jean hatte jetzt schon ein schlechtes Gewissen deswegen und einen Moment lang konnte er sich keinen Zentimeter von der Stelle bewegen. Er war alleine, niemand war bei ihm und das war falsch. Falsch, falsch, falsch. Verboten und unter Strafe gestellt. Panik schnürte ihm die Kehle zu, doch Jean hatte eine Mission und die gedachte er auszuführen. Er gestattete sich ebenso wie bei Exy auch keine Schwäche, denn es war wichtig, was er tat. Das Handy in seiner Hand zitterte und er schaltete die Navigationsapp ein, die ihn über den Campus lotsen würde. Jean schulterte den Rucksack und verließ den Hörsaal, die Augen ausschließlich auf das Gerät gerichtet, das ihm mit ruhiger Stimme mitteilte, wo er hinzugehen hatte. Schritt um Schritt kämpfte er sich gleichermaßen durch Studenten wie auch durch seine Angst, die ihn anschrie, dass er zurückgehen und auf sein Team warten solle. Schritt um Schritt, zehn quälende und schmerzende Minuten lang, die Jean wie eine Ewigkeit vorkamen. Ihm war übel und er hatte solche Bauchschmerzen, als hätte ihn Riko mit der Faust in den Magen geschlagen. Sein schnell schlagendes Herz rauschte in seinen Ohren und ihm lief kalter Schweiß den Rücken hinunter. Seine Gedanken verweigerten ihm ihren rationalen Dienst und Jean wurde sich bewusst, dass es überhaupt keine gute Idee gewesen war. Die richtige, aber keine gute. Wahrlich nicht. Als er vor der Tür des Campusmagazins stand, zögerte er keine Sekunde, denn wenn er das tun würde, würde er nicht hineingehen und dann wäre all das umsonst gewesen. Jean drückte die Klinke hinunter, öffnete die Tür und trat hinein. Er schloss die Tür hinter sich und drehte sich um. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass soviel hätte schief gehen können. Die Tür hätte zu sein können. Der Reporter hätte nicht da sein können, es hätten viele andere Leute mit im Raum sein können… viele potenzielle Dinge hätten passieren können, die Jean in seiner Entschlossenheit nicht beachtet hatte. In seiner übereilten Dummheit, den Reporter heimzusuchen um mit ihm über Knox zu sprechen. Doch nichts davon war eingetroffen und so sah er nun in die erschrockenen Augen des Reporters. Allan, berichtigte Knox‘ Stimme in seinen Gedanken automatisch und Jean schluckte. Alles, was er sich nach seinem Gespräch mit Knox vorgenommen hatte, war einen Moment lang wie weggewischt, komplett aus seinem Gedächtnis gelöscht. Da war nur die aufkommende Angst und Panik, die er ihm Gesicht des Reporters sah und die der seinen so sehr ähnelten, dass es Jean mehr als alles andere im Hier und Jetzt ankerte. Er machte dem anderen Jungen Angst, so wie ihm Dinge Angst machten, die ihn traumatisiert hatten. Jean wusste, dass er den Reporter beruhigen sollte – irgendwie – doch er konnte sich nicht rühren, jetzt, wo er hier drinstand. „Was willst du hier?“ Die Frage war furchtsam und zittrig und Jean sah, wie eine der beiden Hände in Richtung Handy tastete. Zweifelsohne um Hilfe zu holen, weil der Reporter glaubte, dass er ihm wehtun wollte. „Reden…“, presste Jean hervor. „Ich möchte reden. Mit dir. Über ihn. Also Knox, meine ich. Über das, was passiert ist.“ Seine Augen zuckten in die am Weitesten entfernte Ecke des Raumes und mit seiner zittrigen, linken Hand deutete er dorthin. „Ich kann mich auch dorthin setzen, wenn es dich beruhigt. Du…du musst keine Hilfe holen. Ich werde dir nichts tun, ich möchte nur reden. Bitte.“ Angespannt starrte er auf das abgewetzte Parkett des Raumes, das schon so viele Studenten gesehen hatte. Er zählte die Kerben, in der Hoffnung, dass die Stille nicht bedeutete, dass der Reporter jemanden anschrieb um ihn hier heraus zu holen, bevor er nicht gesagt hatte, was er sagen wollte. „Kann ich dich davon abhalten, ohne dass du mich angreifst?“, fragte eben jener und Jean sah auf. Tatsächlich hatte er seine linke Hand um das Telefon gekrampft, aber es sah nicht so aus, als hätte er jemandem Bescheid gesagt. „Ich werde das nicht tun. Nicht mehr“, berichtigte Jean sich, als der Reporter schnaubte. „Also gut. Dann mach, was du für richtig hältst.“ Jean zögerte und warf einen Blick über die chaotischen Tische, die überall im Raum standen und die Pinnwand, auf der anscheinend die neueste Ausgabe konzipiert wurde. Er sah Laptops und Drucker, Bilder noch und nöcher. Langsam setzte er sich in Bewegung, parallel zu dem Reporter, der sich an seinen Platz unweit der Tür begab. Das war okay, Jean verstand das. Er fühlte sich so ebenfalls am Wohlsten. Dass damit wieder Schweigen einherging, war Jean mehr als unrecht, schließlich war er nicht gut darin, Gespräche zu beginnen. Vielleicht sollte er sich zuerst setzen. Jean beschloss, dass das ein guter Start war und ließ sich auf den Stuhl nieder, der noch unbequemer war als er aussah. Der Reporter maß ihn aufmerksam und durchdringend. „Du hast deine und Knox‘ Beziehung wegen mir beendet“, stellte Jean in den Raum und der andere Junge schüttelte den Kopf. „Wir hatten nie eine Beziehung.“ Jean seufzte. „Dann eben euer…Beisammensein. Ineinandersein, was auch immer. Eure Intimität.“ Schweigen antwortete ihm. „Ich wollte das nicht. Dir wehtun, meine ich. Und ich möchte nicht, dass Knox aufgrund meines Tuns unglücklich ist.“ „Zu spät.“ Zwei Worte, die in ihrer Finalität alles andere als beruhigend waren. Allan, erinnerte Jean sich bewusst an den Namen, verschränkte die Arme und rieb sich unwohl über die Oberarme. „Knox sagte, dass du ihn nicht mehr sehen möchtest, weil ich dich verletzt und gewürgt habe. Dass du nur noch mich und meine Taten siehst.“ „Das ist korrekt“, erwiderte Allan unwohl und ballte unruhig seine Hände zu Fäusten. „Ich kann nicht mehr rückgängig machen, was ich dir angetan habe, aber…Knox ist unglücklich. Er leidet. Er sagte, dass du Dinge zu ihm gesagt hättest…“ Allan zuckte so gewaltig zusammen, als hätte Jean ihn geschlagen. Nun war es weniger Angst, denn eher Schuld, die er auf dem Gesicht des Reporters sah. „Ich war gemein zu ihm“, bestätigte er und Jean runzelte die Stirn. „Warum?“ Verzweifelt ballte Allan die Hände zu Fäusten. „Weil… weil…ich weiß nicht. Es ist so hervorgesprudelt. Ich bin nicht gut in derlei Dingen und ich schlafe seit Wochen nicht gut und habe Angst… ich habe ihm gesagt, dass wir nie etwas Wirkliches hatten und das stimmt gar nicht. Natürlich hatten wir etwas Wirkliches, ich mag ihn ja auch gerne und ich respektiere ihn. Er war so getroffen davon, so traurig und ich…“ „Er hat geweint deswegen. Sehr lange.“ Allan sah zur Seite und schwieg. „Kann ich etwas tun, damit du zu eurer Intimität zurückkehrst?“, stellte Jean die Frage, die ihm unter den Nägeln brannte, seit er seinen Kapitän getröstet hatte. Allan schüttelte den Kopf. „Nein. Ich…ich kann mich ihm nicht mehr hingeben. Nicht jetzt. Vielleicht irgendwann, wenn ich verarbeitet habe, was du getan hast, aber im Moment tut es mir weh, ihn zu sehen. Es macht mir Angst.“ Es wäre besser gewesen, wenn der Reporter rein aus Böswilligkeit mit Knox Schluss gemacht hätte. So war es nur nachvollziehbar und Jean spürte die Hoffnungslosigkeit seines Unterfangens. Das, was ihn aber mehr als erschreckte wie auch verwirrte, war die aufkommende Zufriedenheit in sich selbst, die seine eigene Angst und seine eigene Panik schlich. Es war, als hätte sich ein Knoten gelöst, als der Reporter ein Zusammenkommen verneint hatte. Jean war nicht traurig darüber, sondern erleichtert. Er schauderte. Wie konnte er über Knox‘ Unglück so erleichtert sein? Jean runzelte die Stirn. Nein, darüber war er nicht froh, stellte er fest, sondern über die Tatsache, dass es nun den Reporter nicht mehr gab. Unwirsch schürzte er die Lippen. „Ich wollte dir niemals Angst machen“, wiederholte er. „Und wenn ich könnte, würde ich alles rückgängig machen, was geschehen ist.“ Allan nickte stumm und in den weiten, braunen Augen des Reporters sah Jean so etwas wie aufkommende Ruhe. Die Fäuste waren nicht mehr ganz so angespannt und wenn er sich nicht recht täuschte, dann waren die Schultern ebenfalls nicht so starr vor Angst. Das Telefon in seinem Rucksack klingelte abrupt und Jean zuckte zusammen, als er den Ton erkannte, den Alvarez ihm für Knox eingestellt hatte. Er gab sich beste Mühe, das Klingeln zu ignorieren, auch wenn sein Herz raste. „Bitte sprich mit ihm. Sag ihm, dass es nicht wertlos war, was ihr hattet“, sagte er, während der Puls in seinen Ohren rauschte. Knox wusste, dass er nicht da war. Sein Kapitän hatte von seiner Lüge erfahren. Jean wusste, dass der blonde Junge ihm nichts tun würde. Er wusste, dass keine Strafe folgen würde und dennoch hatte er brachiale Angst, die von Sekunde zu Sekunde stärker wurde. „Jean, ich…“ „Bitte, Allan. Er würde sich freuen“, presste Jean hervor und fühlte das Klingeln seines Handys wie ein schweres Gewicht auf sich lasten. Der Reporter maß ihn und das, was Jean in dem aufmerksamen Blick erkannte, schmeckte ihm nicht. Ganz und gar nicht. „Du bist nicht nur hier, weil du dein Handeln wieder gut machen möchtest“, sagte er schließlich und es war keinesfalls eine Frage. Jean runzelte verwirrt die Stirn. „Weswegen denn sonst?“ „Du bist hier, weil du Jer nicht unglücklich sehen willst.“ „Selbstverständlich nicht. Er ist mein Kapitän.“ Es dauerte etwas, doch dann lächelte Allan. „Er ist mehr als das.“ Irritiert starrte Jean auf das Lächeln, das viel zu sanft und viel zu wissend war. Es verwirrte ihn mehr als die Worte als solche. „Wie meinst du das?“, fragte er und Allan legte den Kopf schief. „Denkst du, ich wüsste nicht, wie du ihn ansiehst?“ Jean blinzelte. „Wie ich ihn ansehe?“, echote er ahnungslos und Allan hob die Augenbraue. „So als wäre er dein Lebensmittelpunkt“, führte er aus und Jean atmete erleichtert aus. „Nun, das ist er. Er ist mein Kapitän und mein Mitbewohner. Die Zeit, die ich ohne ihn verbringe, ist weitaus geringer als die, die ich mit ihm verbringe.“ Anscheinend hatte er nicht das Richtige gesagt, so wie der Reporter ihn nun musterte. „Er ist mehr als das“, wiederholte er und wieder war es keine Frage. Irritiert brummte Jean und Allan rollte mit den Augen. „Das, was ich in deinen Augen sehe, ist Zuneigung über Freundschaft hinaus. Er ist dein Lebensmittelpunkt, weil du mehr für ihn empfindest als Freundschaft.“ Weil er…was? Zuerst war Jean wie eingefroren. Er konnte sich weder bewegen noch einen klaren Gedanken fassen – zumindest bis die Worte mit einem Mal in ihm Gehör fanden. Vehement schüttelte Jean den Kopf. „Nein, das stimmt nicht. Wie kommst du darauf? Das…das ist falsch…er…er ist mein Kapitän, ich…nein…“, widersprach er nervös und zog sich auf das zurück, was er auch Renee gesagt hatte. Knox war sein Kapitän und damit kein potentieller Partner. Aber das würde Allan nicht verstehen. Auch Renee hatte es nicht verstanden. Zumal er doch gar nicht wusste, was Liebe war. Wie sollte er erkennen, dass das, was er für Knox fühlte, auch wirklich in diese Kategorie fiel? Und gehörte zu Liebe nicht auch Begehren? Fand er seinen Kapitän attraktiv, wenn er morgens mit chaotischen Haaren und Sabberspuren im Gesicht ins Bad strauchelte? Sein Handy klingelte erneut und wieder war es Knox. Dieses Mal öffnete Jean hastig seinen Rucksack und suche nach dem Smartphone. Er hielt es Allan entgegen, auch wenn dieser zu weit weg war um es anzunehmen ohne näher zu kommen. „Er ist es. Sprich mit ihm“, lenkte er von den verwirrenden und erschreckenden Worten ab und sah mit Befriedigung, wie der Reporter nun zusammenzuckte. „Jetzt?“ Jean nickte. „Ja, jetzt. Je eher ihr miteinander sprecht, desto eher hört Knox auf, sich selbst Vorwürfe zu machen, dass alles, was er tut, nicht gut ist und dass er nie etwas Wirkliches mit dir hatte.“ Fünfmal klingelte es, dann kam Allan vorsichtig zu ihm und nahm ihm sein Telefon ab. Jean fühlte sich unwohl dabei, immer noch. Auch wenn der Gedanke, dass der Reporter sein Telefon einbehalten würde, absurd war, so war er doch da. Allan nahm ab und presste sich das Telefon ans Ohr. Es war absurd, aber diese einfache Geste beruhigte Jeans Angst mehr als alles Andere. „Nein... nein, Jer, ich bin es, Allan. Nein, das ist Jeans Telefon. Er ist hier, bei mir in der Redaktion. Nein, ihm geht es gut. Nein, wir haben uns nicht geschlagen. Ja, er ist noch hier.“ Der Reporter zögerte und hörte zu, was Knox dazu zu sagen hatte. „Ja, komm vorbei. Ich würde gerne mit dir reden.“ Knox sagte noch etwas und der Reporter brummte zustimmend. Er legte auf und gab Jean sein Telefon zurück, entfernte sich danach beinahe augenblicklich von ihm. „Er ist in zehn Minuten hier.“ Jean nickte zögernd. „Danke…dass du mit ihm sprichst.“ Allan musterte ihn nachdenklich und ging dann zu seinem Schreibtisch zurück. Er schob Blätter hin und her, die vorher bereits geordnet waren, wenn man Jean fragte. Er war nervös und aufgeregt, fahrig beinahe. Jean konnte es ihm nachfühlen. „Ich hoffe, dass du ihn nie wieder verletzt“, sagte Allan schließlich und Jean schluckte schwer. „Das werde ich nicht mehr tun.“ „Gut.“ „Brian, also der Collegetherapeut…er hilft mir bei dem, was passiert ist. Er hilft mir zu verstehen und zu verarbeiten.“ Allan nickte und ließ sich auf seinen Stuhl nieder. Schweigend starrte er der Tür – seiner neuen Angst – entgegen und endlos langen Minuten warteten sie auf die Ankunft von Knox, der fast schon mit Gewalt durch die Tür stolperte und dessen Augen wild den Raum absuchten, bevor sie auf ihm zum Liegen kamen. „Jean.“ Die unbändige Erleichterung, die die Silber seines Namens charakterisierte, schmerzte ihn. Die Frage, die sich damit einhertrug, ebenso, denn Knox hatte gleichzeitig auch Angst, dass er dem Reporter etwas getan hatte. Aufgrund seines Handelns in der Vergangenheit sicherlich berechtigt, aber… „Knox“, nickte er entsprechend ruhig und erhob sich. Mit dem Blick auf Allan kam er langsam zu seinem Kapitän, der ihn mit großen Augen musterte. „Ich lasse euch beiden alleine.“ „Aber…Jean, was…?“ Ungebeten kamen ihm Allans Worte ins Gedächtnis. Er liebte Knox? Das war ein Ding der Unmöglichkeit und dennoch wurden seine Wangen so verdächtig heiß, dass er wegsehen musste. „Ich lasse euch beiden alleine und warte draußen“, lenkte er vom Thema ab und ging an seinem Kapitän vorbei in den belebten Flur des Verwaltungsgebäudes. Er fixierte die Stuhlreihe dort und sah Val, die ihn mit verschränkten Armen und hochgezogenen Augenbrauen musterte. Jean schluckte und kam zu ihr. Er sagte nichts und schließlich grollte sie. „Hör mal zu, Pinocchio, noch so einen Stunt, der unseren Kapitän an den Rand der Verzweiflung treibt und ich mache dich dem Erdboden gleich, ist das klar?“ Er wusste, dass diese Drohung eher im übertragenen Sinn zu sehen war und dass sie diese nicht wahrmachen würde, doch ihr Ton ließ ihn schaudern. Enttäuscht und wütend war er, aber auch erleichtert. „Und anlügen wirst du mich auch nie wieder, kapiert?“ Schweigend nickte er. Was blieb ihm denn auch anderes übrig? Sie hatte ja Recht. ~~**~~ Unsicher sah Jeremy Jean hinterher und wartete darauf, dass dieser die Tür schloss und damit den Lärm des geschäftigen Colleges hinter sich ließ. Die eintretende Stille war allerdings umso drückender und im ersten Moment wusste Jeremy nicht wirklich, was er sagen sollte. „Wir haben nur geredet“, nahm Allan ihm die brennendste aller Fragen ab und Jeremy sah zögernd zu ihm hoch. „Es ist weiter nichts passiert. Er wollte mit mir über dich sprechen. Er hat gefragt, was er tun könne, damit wir unsere Intimität wieder erlangen.“ Jeremy blinzelte. „Ist…war es okay für dich, dass er hierhergekommen ist?“, fragte Jeremy leise und Allan schüttelte den Kopf. „Ich habe nach wie vor Angst vor ihm. Aber wir haben geredet.“ „Können wir auch reden?“, fragte Jeremy zögernd und zu seiner großen Erleichterung nickte Allan. „Ich habe dumme Dinge gesagt, Jer. Ich wollte dich nicht verletzen und ich wollte schon gar nicht sagen, dass das, was wir hatten bedeutungslos und nichtig war. Deine Gegenwart ist eine Bereicherung und du bist ein wundervoller Mensch voller positiver Energie und Lebensfreude. Jede Minute mit dir war eine schöne Minute und ich werde sicherlich irgendwann auch mit einem Lächeln daran zurückdenken und ich werde sie sicherlich auch vermissen. Es tut mir leid, dass ich dich so sehr verletzt habe und dass ich derart dumme Worte gesagt habe, Jer. Bitte entschuldige.“ Trotz der Distanz zwischen ihnen, trotz dem großen und chaotischen Raum, taten Jeremy diese Worte unerwartet gut. Er schluckte, einmal, zweimal, dreimal, bevor seine Kehle nicht mehr ganz so zugeschnürt war und er spürte, wie sich der Knoten löste, der die letzten Tage über seine Brust verkrampft hatte. Er spürte, wie er freier atmen konnte. Beruhigter. „Du hast alles Glück auf der Welt verdient, Jer, und ich hoffe, dass du es findest. Aber ich weiß auch, dass ich dir das auf lange Sicht nie hätte geben können. Du brauchst einen Partner, der an deiner Seite steht und nur dort. Der dich liebt und dir eine feste Partnerschaft bietet.“ Jeremy schwieg, denn er wusste, dass Allan Recht hatte. Sie hatten das Thema besprochen, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten. Jeremy suchte langfristig nach etwas Festem, konnte sich aber auch vorübergehend gut auf etwas Unverbindliches einlassen. Auf Dauer würde ihn das aber nicht glücklich machen. So traurig er über den Verlust von Allans Nähe auch war, so sehr wusste er, dass es früher oder später zwangsläufig dazu gekommen wäre. Das schmälerte seine Trauer nur unwesentlich, aber es gab ihr etwas weniger Hoffnungsloses. „Jer, du wirst immer einen Platz in meinem Herzen haben. Die Erinnerungen an die Dinge, die wir gemeinsam getan haben, wird immer dort sein. Ich brauche aber Zeit dafür und für die Verarbeitung all dessen.“ Jeremy lächelte vorsichtig. „Also werden wir uns irgendwann wiedersehen? Also wirst du mich nicht für immer ignorieren?“ Allan seufzte und kam tatsächlich näher. Vorsichtig, als hätte er Angst davor und Jeremy sah, wie die Halsschlagader pochte. Er kam so nahe, dass er Jeremy in die Arme schließen konnte und vorsichtig schlang er seine Arme um ihn. Jeremy erwiderte die Umarmung und konnte nicht verhindern, dass es Tränen der Trauer und Erleichterung waren, die seine Wangen hinunterflossen. „Nein, das werde ich nicht. Irgendwann wird es wieder anders sein, du wunderbarer, einzigartiger, faszinierender Mann.“ Jeremy schniefte und Allan hauchte ihm einen Kuss auf die Haare. „Und in der Zwischenzeit schnappst du dir den Jungen, den du wirklich willst“, wisperte Allan mit einem minimalen Lächeln und löste sich von ihm. Jeremy musste nicht fragen, wen er meinte. Er musste es weder bejahen noch verneinen. Auch deswegen verabschiedeten sie sich. Doch es war kein Abschied für immer, das wusste Jeremy nun. „Ich werde es versuchen, wenn er auch will“, erwiderte er und wischte sich die Tränen von den Wangen. Allan nickte in Richtung Tür und Jeremy drehte sich um. Mit der Hand auf der Klinke verharrte er. „Ich hoffe, dass es dir bald wieder gut geht.“ Allan lächelte und das Lächeln war voller Trauer. So sehr es Jeremy auch schmerzte, so entschlossen verließ er nun die Redaktion und wurde von einer Welle lärmender und lachender Studenten überrollt, die den Weg zwischen ihm, Val und Jean blockierten. Ungeduldig wartete er, bis der Strom vorbei war und wechselte dann behände die Seite. Val starrte ihm fragend in die Augen, während Jean ihn musterte, als ob er einen Schlag befürchtete. Jeremy seufzte und winkte sacht auf Hüfthöhe, um zu zeigen, dass er nicht wütend war oder dass er sonst etwas Böses wollte. Er hatte damit begonnen, als er festgestellt hatte, dass es für Jean ein leicht zu erkennendes Zeichen der Entspannung war. So auch jetzt. Der Backliner atmete unbewusst tief durch und Jeremy lächelte sanft. „Wollen wir?“ ~~**~~ Jean legte sich ins rücklings auf die Matratze und bettete seinen Kopf auf das Kissen. Solange Knox noch im Bad war, konnte er die Augen schließen und die Erschöpfung des Tages über sich hinwegwaschen lassen. Sein Kapitän und er hatten noch keine Zeit gehabt, über all das zu sprechen, was passiert war. Von der Redaktion des Reporters aus waren sie zur nächsten Vorlesung und von dort aus zum Training, zur Taktikbesprechung, ins Fitnessstudio und nun waren sie zurück. Zuhause, wisperte es tief in ihm, auch wenn er sich immer noch scheute, den Gedanken zuzulassen. Jean hatte lediglich kurz gefragt, ob Knox wütend auf ihn wäre und das hatte dieser verneint. Darüber hinaus hatten sie noch über nichts gesprochen, dabei schlummerten ungewöhnlich viele Worte unter der eisernen Selbstbeherrschung seiner sonstigen Schweigsamkeit. Jean hörte, wie Knox seine elektrische Zahnbürste ausmachte und seinen Mund ausspülte. Er öffnete seine Augen, in dem Wissen, dass sein Kapitän innerhalb der nächsten Minute aus dem Bad kommen würde, nach dem immer gleich ablaufenden Geräuschpegel. Macht der Gewohnheit, hatte Knox seine Abendrituale genannt und Jean ließ sich von der Vorhersehbarkeit des Ganzen einlullen. Der Schrecken des alleine unterwegs Seins war schlimmer und nachwirkender als er es zunächst angenommen hatte und Jean fühlte sich wund, unruhig und unausgeglichen. Man sollte meinen, dass er stolz auf sich sein konnte, dass er es geschafft hatte, alleine von einem Punkt zum anderen zu gehen, doch weit gefehlt. Den ganzen Tag über suchte er die Sicherheit seines Teams um das Gefühl des Alleinseins auszugleichen und war Knox nach dem Training nicht von der Seite gewichen. Nun, wo Jean in der Sicherheit ihrer Wohnung war, geisterten die Worte des Reporters wieder durch seine Gedanken und wechselten sich mit einer allumfassenden Erschöpfung ab, die ihn im Griff hatte, seit er die Redaktion verlassen hatte. Die Kombination aus beidem ließ ihn nicht klar denken und somit auch keine klaren Fragen formulieren, die er Knox stellen konnte. Die Tür zum Bad öffnete sich und Jean drehte den Kopf in Richtung des blonden Jungen. Knox trug seinen langen Schlafanzug mit den kleinen Weihnachtsmännern, ein Geschenk von Alvarez. Von wem auch sonst fragte Jean sich und notierte sich innerlich die Frage, was sein Team sich zu diesem Feiertag schenken würde. Knox legte sich in sein Bett und vergrub sich unter der Decke, bevor er sich Jean zuwandte und der Schein seiner Nachttischleuchte den anderen Jungen beleuchtete. „Hi“, grüßte der Junge ihn lächelnd und Jean drehte sich ebenfalls auf die Seite. „Geht’s dir gut?“, fragte Knox, als hätte Jean ihn heute nicht angelogen, ihm wieder Sorgen bereitet und als wäre er nicht hinter seinem Rücken zu dem Reporter gegangen. „Es tut mir leid“, erwiderte Jean deswegen schlicht und Knox runzelte die Stirn. „Was?“ „Das Gespräch. Die Sorgen. Alles“, fasste er seine Gedanken zusammen und Knox schüttelte den Kopf. „Du hast heute etwas Wundervolles getan, Jean.“ Na so würde er es garantiert nicht ausdrücken. „Ich habe dich belogen und dir Sorgen bereitet“, wiederholte er, doch das stieß auf wenig Zustimmung. „Und du warst alleine unterwegs, hast den Mut aufgebracht, zu Allan zu gehen und hast ihn dazu gebracht, mit mir zu reden.“ Jean kannte den Ton, diesen absolut störrischen, sturen, nicht einlenkenden Ton. Es machte keinen Sinn, dagegen an zu argumentieren, selbst wenn er genügend gute Argumente gehabt hätte. So begnügte er sich damit, seine Lippen zu schürzen und seinen Kapitän dunkel anzustarren. „Das Gespräch mit Allan hat mir soviel gegeben. Der Abschied von ihm ebenso. Es hat soviel Schmerz gelindert und das ist alleine dir zu verdanken.“ „Schmerz, den ich überhaupt erst hervorgerufen habe.“ „Schmerz, den du tausendfach wieder gut gemacht hast.“ Jean brummte und spürte der Wärme in seiner Brust nach, die wirklich gar nichts mit seinem Schlafanzug oder seine Decke zu tun hatte. Auch wenn er sich das wünschte. Lebensmittelpunkt. Mehr als Freunde. Welcher Gedanke wäre schlimmer für Jean? Der, das Bett mit dem anderen Jungen zu teilen oder nach seinem Abschluss ohne den Jungen weiterleben zu müssen? Ganz alleine, ohne diese blauen Augen, die ihm soviel Licht gaben. Er beschloss, Andrew zu fragen, wann und woran er erkannt hatte, dass er Josten liebte. „Hey, Jean?“ Er brummte. „Du hast etwas Tolles vollbracht und ich bin sehr stolz. Ich freue mich für dich.“ Wider Willen wurden nun auch Jeans Wangen warm. Er vergrub zumindest die Hälfte seines Gesichtes in sein Kissen und musterte das Sinnbild von Gemütlichkeit auf der anderen Seite des Raumes. „Es fühlt sich schlimm an, dass ich alleine dorthin gegangen bin“, gestand er murrend ein. „Immer noch.“ „Es war erst das zweite Mal. Habe Geduld mit dir selbst.“ Die hatte Jean sicherlich nicht. Und er hatte schon gar keine Gnade mit seinem Ich. „Ich bin nicht normal“, fällte er das kritische Urteil über sich und Knox lächelte. „Das stimmt, du bist ein außerordentlicher und außergewöhnlicher Mensch.“ Dass sein Kapitän den Sinn seiner Worte auch immer ins Gute verdrehen musste. Jean blinzelte, nicht wirklich in der Lage, etwas darauf zu erwidern. Auf die Worte. Auf das Gefühl in seinem Inneren. Verlegen schnaufte er. ~~**~~ „Bist du dir sicher, dass das wirklich eine gute Idee ist?“, fragte Jean zweifelnd und drehte sich zu Alvarez, die ihre Jacke aus dem Kofferraum ihres Wagens holte. Eine leichte Winterjacke, so wie Jean sie auch trug. Ihre Trojanjacken, mit ihren Namen auf der Rückseite. Das, was in Evermore immer Uniformität bedeutet hatte, war hier unterlegt mit Stolz und Zugehörigkeitsgefühl. Eine reine Freiwilligkeit. Eine Freiwilligkeit, die Jean über seinem neuen, blauen Rollkragenpullover aus Wolle trug, den er zusammen mit Fahima gekauft hatte. Er hatte ihn gewählt, weil er dem Blau von Renees Kleid so ähnlich war und hatte sich den anderen Farben zugewandt, die er in Alimas Geschäft gefunden hatte. Es war nicht viel, aber das, was Fahima ihm gezeigt hatte, war ausreichend gewesen. So hatte er nun noch einen roten und einen flaschengrünen Pullover und drei Paar Jeans, die Jean in ihrer Steifheit noch immer unheimlich waren. Oder Schuhe, die keine Sportschuhe waren, sondern dicke Winterstiefel. Und gefütterte Sneaker. Eine dicke Winterjacke für ihren Urlaub an Silvester. Sein Kapitän war jetzt schon so dick eingepackt, mit seinem dicken, langen, um sich geschlungenen Schal, der dessen untere Gesichtshälfte beinahe gänzlich bedeckte. Und wenn Jean es richtig sah, steckte der andere Junge sich gerade Handschuhe in seine Jackentaschen. Handschuhe. „Unser Sonnenschein hier wird frieren, das kann ich dir sagen, aber glaub mir, das ist es wert.“ Zweifelnd sah Jean auf den blonden, wie immer am Ende des Tages unordentlichen Schopf. „Und vergiss bloß die Punkte auf der Liste nicht“, zischte Alvarez und winkte Knox, als dieser sich zu ihnen umdrehte. Jean und Laila maßen Alvarez und Jean schnaubte. „Als würde es nicht reichen, dass ich irgendeinen künstlich angelegten Garten im Dunkeln mit euch besuche“, rollte er mit den Augen und Laila schnappt empört nach Luft. „Jean Moreau, das ist nicht irgendein Garten“, sagte sie mit der Strenge, die sie auch bei Alvarez an den Tag legte, wenn diese über die Stränge schlug und Jean zog unwillkürlich die Schultern hoch. „Das ist der Garten.“ Damit konnte er überhaupt nichts anfangen, ebenso wenig mit Alvarez‘ mysteriöser wie knapper Aussage, dass sie im Dunkeln einen Garten besichtigen würden. Der Sinn dessen erschloss sich Jean überhaupt nicht, schließlich sah man im Dunkeln die Pflanzen doch nicht, aber anscheinend störte das hier niemanden. Laila und Alvarez waren aufgeregt, Knox hingegen war die Fahrt über in Gedanken versunken gewesen und er hatte nach einer Möglichkeit gesucht, seinen Kapitän zum Reden zu bringen. Mit wenig Erfolg, denn Jean wusste nicht wirklich, wie man Smalltalk hielt und konnte auch nur eine begrenzte Anzahl an Fragen über nichtige Dinge stellen, ohne dass es auffällig oder merkwürdig wurde. Knox ging es besser als vor seinem Gespräch mit dem Reporter, aber dennoch nicht gut. Auch wenn Jean es niemals zugeben würde, so vermisste er das morgendliche Tanzen und Singen im Bad und in der Küche. Er vermisste den leicht von der Hand gehenden Smalltalk, der die Stille zwischen ihnen füllte. Umso erleichterter war er deswegen um Momente wie diesen, in denen sie nicht alleine waren. Alvarez und Laila füllten die Stille und Jean konnte sich ein wenig entspannen. Gemeinsam gingen sie vom Parkplatz aus zum Eingang des Gartens. „Garten der Ruhe“, übersetzte Alvarez ihnen den spanischen Titel und Jean sah sich verstohlen um. Er erkannte, dass sie nicht in völliger Dunkelheit über die Wege laufen würden und staunte nicht schlecht über die farbigen Lichter, die die Bäume und Sträucher in einem unwirklichen Glanz erstrahlen ließen, so als würden sie sich direkt in einem Märchen befinden. Aus unsichtbaren Boxen erklang dezente Musik, die er so noch nie gehört hatte. Sie passte zu dem unwirklichen Eindruck, den die Pflanzen machten. „Hier entlang“, strahlte Laila und deutete auf den Rundweg. Anderthalb Stunden stand dort, aber Jean war sich sicher, dass sie auch schneller sein würden. Schließlich war er nur ungefähr zwei Kilometer lang. Die lief Jean in weitaus weniger als einer halben Stunde. Sein Kapitän schauderte neben ihm und vergrub sich tiefer in seinen Schal. „Ist dir jetzt schon kalt?“, fragte Jean ungläubig und ein Murren drang hinter dem roten Ungetüm hervor, das verdächtig nach einem Ja klang. Sie konnten von Glück reden, dass es nicht regnete, befand Jean mit einem Blick auf die Wehrsonne und die blauen Augen, die kurz zu ihm huschten. „Möchtest du auch meine Jacke haben?“, fragte Jean schließlich. Er würde dann zwar frieren, doch das war nichts Neues für ihn. Das und es war zeitlich begrenzt. Wenn es damit Knox besser ging, warum sollte er ihm dann nicht seine Jacke geben? „Nein“, murrte der blonde Junge und Jean hob die Augenbraue. „So kalt ist mir nicht.“ „Noch nicht“, warf Alvarez ein und Knox boxte ihr gegen den Oberarm. Jean rollte mit den Augen und ging neben Laila staunend in den Garten hinein. Die Platten des geschwungenen Weges, auf dem sie gingen, waren beleuchtet und immer, wenn sie auf die nächste traten, lösten sie eine andere Farbe aus. Leise Töne trugen sich zu ihm und Jean schaute auf die Bäume, die mit verschiedenen Strahlern angeleuchtet waren und ein Dach aus Blau und Grün bildeten. In ihren hohen Ästen hingen ebenfalls bunte Kugeln und tauchten die beiden Mädchen und Knox in ein unwirkliches Licht. „Ist es nicht wunderschön?“, murmelte Laila neben ihm und Jean nickte verzaubert, bevor er seine allzu kindliche Reaktion auf dieses Schauspiel unterdrücken konnte. Selbst Knox tauchte aus seiner Schweigsamkeit auf und ließ sich von Alvarez mitziehen, um jeden einzelnen Baum auf ihrem Weg zu begutachten und recht erfolglos zu fachsimpeln, um was es sich dabei handeln konnte. „Ich wusste nicht, dass es so etwas gibt“, sagte er und machte nebenher ein Foto von der Explosion aus Lila, Grün, Blau und Pink um sie herum. „Es ist wie in einem Märchen“, erläuterte er seine Gedanken und Laila nickte. „Der Garten ist zu jeder Jahreszeit schön und einen Besuch wert, aber kurz vor Weihnachten ist er ganz besonders hübsch.“ Sie gingen weiter und Nebelmaschinen tauchten den nun blauen Wald in unwirkliche Stille, nur durchbrochen von ihren Schuhen, die auf dem Kies knirschten. „Glaubst du, dass diese Liste Knox helfen wird?“, fragte er, als sein Kapitän und sein Vizekapitän außer Hörweite waren und Laila nickte. „Auch wenn es jetzt nicht so scheint, er wird sich wieder fangen. Mit genug Ablenkung und Versicherung, dass es Menschen gibt, die ihn lieben, wird das wieder.“ Sie war zuversichtlich und Jean glaubte ihr. Vorsichtig rempelte sie ihn an. „Und was ist mit dir?“ Fragend sah er ihr in die Augen und schob seine Hände in die Taschen seiner Jeans. „Was soll mit mir sein?“ „Bist du glücklich?“ Jean schluckte. Wie sollte er diese Frage so einfach beantworten? „Es ginge schlimmer“, sagte er das, was ihm zuerst einfiel und Laila schnaubte. Der Anflug eines Lächelns huschte über Jeans Gesicht. „Ich bin froh, noch hier zu sein“, erläuterte er und sie nickte so sanft, dass es beinahe wehtat. „Ich bin auch froh, dass du noch hier bist, selbst wenn du deine dollen fünf Kritikminuten hast.“ „Das sind mehr als fünf Minuten, je nach Kritik“, widersprach er und Laila lachte. „Das Leben hier ist…lebenswert“, sagte Jean schließlich und seufzte. „Nicht einfach, aber lebenswert.“ „Magst du die Trojans denn?“ So unschuldig die Frage gestellt war und so simpel, wie sie schien…sie war es nicht. Ganz und gar nicht. „Ich denke schon“, erwiderte er schließlich und sie hakte sich langsam bei ihm ein, so seicht, dass er sich dem jederzeit entziehen konnte. „Du passt gut hierher.“ Jean schnaubte. „Es ist viel zu sonnig.“ „Ja ja, Mr. Gewitterwolke, wenn das das einzige Problem ist…“ War es nicht und eigentlich war es auch gar kein Problem. Aber es war das Einfachste aller seiner Probleme und es charakterisierte die Trojans mehr als er es wirklich wahrhaben wollte. Sie gingen weiter und erreichten einen kleinen See, auf dem sich eine kleine Hütte befand, die anscheinend nur aus bunten Glasscheiben bestand. Das dunkle Blau der Bäume spiegelte sich in dem stillen See, nur durchbrochen von vereinzelten, pinken Sprenkeln. „Schau mal, das Feenhaus“, sagte Laila an seiner Seite und Jean erkannte Knox und Alvarez in dem Haus. Er nahm sein Handy und machte ein Foto von den Beiden, wie sie ihre Köpfe zusammengesteckt hatten und unter dem bunten Dach tuschelten, während sich die Hütte im Wasser spiegelte. „Sie könnten Seelenverwandte sein“, seufzte Laila und Jean sah Liebe auf ihrem Gesicht. Für beide. „Sie haben den gleichen Unsinn im Kopf“, sagte er und rollte er mit den Augen. „Sage ich ja.“ Langsam kamen sie über den Steg zur Hütte und Jean fixierte sich mit Bedacht auf das bunte Haus und nicht auf das Wasser im See unter ihnen. Die Bewegung auf dem Steg ließ das Wasser an das künstliche Ufer des Teiches plätschern und auch hier konzentrierte sich Jean auf die Unterschiede zu Rikos Folter. Das und auf Knox‘ Gesichtsausdruck sowie dessen minimalen Lächeln, das hundertmal besser als der ernste Gesichtsausdruck der letzten Tage war. Es gefiel Jean und ungebeten kamen ihm die Worte des Reporters in den Sinn. Wieder einmal. „Wunderschön“, murmelte ihr Kapitän und Jean war sich nicht sicher, was er meinte. „Wollen wir ein Selfie machen?“ Ein Selfie bedeutete auf diesem beengten Raum, dass sie die Köpfe zusammenstecken mussten. Undenkbar war das noch vor ein paar Monaten gewesen. Nun? Jean platzierte sich hinter den blonden Jungen und zwischen den Mädchen und ließ zu, dass Knox eine ganze Reihe an Selfies machte. Sicherlich fand das eine oder andere seinen Weg in den Trojanchat oder auf Knox‘ Pinnwand in ihrem Zimmer, die so voll mit Leben war. So sehr Jean es am Anfang auch vermieden hatte, einen Blick dorthin zu werfen, so oft studierte er alle diese Bilder nun, wenn sein Kapitän gerade nicht mit im Raum war. Auf dem Weg hatte er auch schon festgestellt, dass er selbst dort schon hing. Mehrfach. Jean seufzte innerlich, während sie weitergingen und unter einem Himmel von großen, weißen Sternen auf geometrische Figuren zusteuerten, die mit ihren kleinen, ziselierten Mustern wunderschöne Schattenspiele auf den Boden warfen. Er warf hin und wieder einen prüfenden Blick zu Knox, dessen Gesicht halb in seiner Schalkonstruktion verschwunden war und der mit seiner Winterjacke aussah wie eines dieser lustigen, runden Werbemännchen auf den Plakaten in Los Angeles. Seine Augen waren groß und rund und auf seinem Gesicht stand eine Art stummer Begeisterung, die Jean bei näherem Hinsehen sehr mochte. „Die kann man drehen“, sagte er staunend und während Jean noch seinem Fingerzeig folgte, war sein Kapitän schon mitten zwischen den Figuren und drehte eine der doppelspitzigen Pyramiden. Alvarez lachte und gemeinsam tobten sie durch die Figuren und die Muster, die dadurch auf sie selbst und auf den Boden geworfen wurden. Knox lachte und Jean erkannte, dass er zum ersten Mal, seit der Reporter ihr Zusammensein beendet hatte, wieder unbeschwert und fröhlich war. Er lächelte und sah aus dem Augenwinkel, wie Laila ihr Handy auf ihn gerichtet hatte. Mit erhobener Augenbraue drehte er sich zu ihr und sie zuckte grinsend mit den Schultern. „Du sahst so glücklich aus gerade. Das muss ich für die Nachwelt festhalten.“ Jean runzelte kritisch die Stirn. War er das wirklich? Glücklich? „Ich freue mich für Knox, dass er wieder lachen kann“, gab er den wahren Grund seines vermeintlichen Glücks preis und Laila strahlte ihn an, als sei die Sonne aufgegangen. „Siehst du, die Liste macht also Sinn.“ Jean nickte langsam. „Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob es klug ist, Händchen zu halten, so schnell, wie Knox weg ist.“ „Händchen halten?“, fragte Laila und Jean nickte. „Punkt neun der Liste. Alvarez sagte, dass ich große Hände hätte, die dafür geeignet wären.“ Mit viel Selbstbeherrschung starrte Jean nicht auf eben jene, sondern konzentrierte sich auf Laila. Diese schwieg für einen Moment und Jean konnte ihren Gesichtsausdruck nicht wirklich deuten, der sich dann in einem Lächeln ergoss. „Ich denke, das bekommst du schon hin. Ansonsten lässt du dich einfach von ihm mitziehen.“ Jean grollte. „Ich bin schwerer als er.“ „Dafür hat er die Kraft eines übermütigen Welpen. Wenn er will.“ Jean dachte an Barnie und dessen massiven Körper und unbändige Kraft. Ja, er konnte sich durchaus vorstellen, dass Knox das ebenfalls hinbekam. Sie wanderten weiter und Jean ließ sich ein wenig zurückfallen, um die Pflanzen und Bäume zu betrachten. Es war ein wenig wie damals im Disneyland, magisch und fantasievoll. Jean hatte gedacht, dass er solche Welten hinter sich gelassen hatte, doch weiter gefehlt. Umgeben von den Geräuschen, der Musik und umhüllt von Licht wanderten seine Gedanken in die Welt von Feen und Gnomen und Geistern und er erinnerte sich mit plötzlicher Klarheit an all die Geschichten, die er als Kind damals gesponnen hatte. Auf ihren Reisen, in ihrem Haus, in ihrem Garten. Geschichten über verborgene Welten und geheime Wesen, die nie jemand zu Gesicht bekam. Als er ein Kind gewesen war, hatte er sich von ihnen umgeben gefühlt. In Evermore waren sie gestorben, einer nach dem anderen, und nun? Sicherlich war der Glauben daran kindisch, aber für einen kleinen Moment war Jean bereit, diesen Glauben wieder anzunehmen und seine Umgebung füllte sich mit Wesen und Geschichten, zaghaft erst, dann immer reichhaltiger. In seinen Gedanken wurden Alvarez und Laila zu Ritterinnen, gut gerüstet und bewaffnet, dieser Garten wurde zu einem Königreich in einem unbenannten Land, in dem es kein Leid gab. Knox war der Hauptmann der Garde und er… Jean blieb nachdenklich stehen und legte eine Hand auf den Stamm einer mächtigen, alten Eiche. Ja, wer war er? Der geflohene Abtrünnige eines bösen Königreiches, ein Kämpfer oder Entdecker vielleicht. Ein Dämon oder Teufel, der auf die gute Seite gezogen wurde. Ein Wesen, das befreit worden war aus seiner Knechtschaft und nun dem Hauptmann der Garde seine Loyalität geschworen hatte. Geflohen in ein Königreich im Einklang mit der Natur und der Magie. „Jean, schau mal!“, rief eben jener Hauptmann und er wurde aus seinem Tagtraum gerissen. Langsam drehte Jean sich um, unwillig beinahe und folgte Knox‘ aufgeregter Zeigerichtung. Er kam näher und blieb neben seinem Kapitän stehen, der fasziniert auf das Feld voller künstlicher Tulpen starrte, die mit einem sanften Pulsieren ihre Farbe wechselten. Sachtes Gelb-Orange beleuchtete Knox‘ Gesicht und die weiten, staunenden Augen. „Ist das schön“, murmelte der blonde Junge und Jean konnte ihm nur beipflichten. Das Farbenspiel der Blumen wurde hervorragend untermalt von einer sanften Musik, die Jean soviel Ruhe vermittelte, wie er sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Wie von selbst schob sich seine Hand in die seines Kapitäns und sacht verschränkte Jean ihrer beider Finger ineinander. Knox sah überrascht zu ihm hoch und Jean warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, die Augenbraue wissend erhoben. Wenn es auf der Liste stand und Knox half, warum dann nicht hier und jetzt? Er sah das begeisterte Lächeln aus dem Augenwinkel und Knox legte nach einem kurzen Moment seinen Kopf auf Jeans Schulter ab, den Blick nach vorne gerichtet. Gemeinsam verfolgten sie das Farbenspiel des Blumenmeers, schweigend und in Eintracht. Jean erlaubte sich, die Gegenwart und Nähe seines Kapitäns zu genießen. Er erlaubte sich, die Wärme des anderen Jungen zu spüren und nun durch seine Haare gekitzelt zu werden, als er seinen Kopf an Knox‘ lehnte. ~~**~~ Laila sah zu, wie Sara begeistert ein Foto nach dem anderen von den beiden Jungen machte, die unweit von ihnen standen, Hand in Hand, die Köpfe vertraut aneinandergelehnt. Sie steckte die Hände in die Taschen ihrer Jacke und wartete, bis der Teufel in Menschengestalt fertig war, die beiden Jungen für die Ewigkeit, den Trojanchat und vermutlich auch den Foxeschat festzuhalten. „Du hast die Liste frisiert. Es gibt keinen Punkt namens Händchenhalten“, murmelte sie schließlich, als Sara ihr Handy senkte und wurde mit einem breiten Lächeln beschenkt, das ihr eigentlich alles mitteilte, was sie wissen musste. „Richtig“, bestätigte Sara unnötigerweise und drehte sich zu ihr. „Sehen wir es als kleine Starthilfe für zwei blinde Trottel, die so sehr zueinander hingezogen werden, dass man aufpassen muss, nicht in ihr Gravitationsfeld zu kommen.“ „Vielleicht möchten sie es langsam angehen?“, gab Laila zu bedenken und Sara schnaubte. „Wie langsam denn? Ihre Zeit auf der Erde ist endlich. Von jetzt an bleiben ihnen nur noch achtzig Jahre.“ „Jean ist erst seit ein paar Monaten hier. Jer kennt ihn ebenfalls erst seit ein paar Monaten näher.“ „Das hat dem da aber keinen Abbruch getan“, deutete Sara auf die beiden Jungen, die Seite an Seite standen, ihre beiden Hände verschränkt, Knox neben Moreau, in ihren beiden College-Exy-Jacken, die Nummer eins neben Nummer sieben, einer kleiner und blond, der andere groß und braunhaarig. Laila erinnerte sich an Jeans zaghafte und sachte Fragen bezüglich ihrer Sexualität. Sie ahnte, warum die Beiden so lange brauchten und warum sie die Spannung zu hochhielten. Jeremy tat gut, es langsam angehen zu lassen, denn nur so konnte er Jean den Raum und die Zeit geben, sich über seine eigene Orientierung bewusst zu werden. Dass er Erfolg damit hatte, war deutlich sichtbar und das nicht nur, weil das Miststück ihrer Freundin die Liste getürkt und sie um ein paar unwesentliche Punkte erweitert hatte. „Du weißt, dass Jer dich Runden um Runden um Runden laufen lassen wird, wenn das herauskommt?“, hakte Laila nach und Sara grinste. „Falls, du Liebe meines Lebens, falls…“ Vielsagend hob Laila die Augenbraue und ließ sich nur zu bereitwillig von dem zärtlichen Kuss ablenken. ~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 54: Dornröschen im 570GT -------------------------------- Dass L.A. schon in normalen Zeiten ein Schmelztiegel an Kulturen, Menschen, Autos und Häusern war, war nichts, aber auch gar nichts im Vergleich zu L.A. in Weihnachtsstimmung, also exakt dann, wenn sich der gesamte Schmelztiegel auf das Fest der Feste vorbereitete und seine eigene, sonnenbeschiene Form von Vorweihnachtsstimmung produzierte. Diese wiederum hatte mit der schneebewehrten Besinnlichkeit seines Heimatstädtchens überhaupt nichts zu tun und so gab sich L.A. auch die besten Mühen, Weihnachten und Savoir-vivre unter einen kitschigen Hut zu bringen, den Jeremy cool fand. In Maßen. Betonung auf Letzterem. Insbesondere, da er sich dieses Jahr nicht wirklich in Weihnachtsstimmung befand und erst seit seinem Gespräch mit Allan von vor ein paar Tagen wirklich dazu kam, die eiternde Wunde des Verlassen Werdens auch wirklich heilen zu lassen. So wie ein großflächig aufgeschabtes Knie heilte und bei jeder Bewegung zog und zerrte und derweilen auch wieder aufbrach, wenn man zu unvorsichtig war. Die einzigen beiden Lichtblicke für ihn waren momentan, dass er seine Familie wiedersehen würde – jeden von ihnen - und dass Jean ihn begleiten würde. Vor zwei Tagen hatte Jean ja gesagt und damit einen Geschenke-Shopping-Marathon sondergleichen ausgelöst. Hatte Jeremy gedacht, dass Jean mit großen Menschenmassen ein Problem hatte, so lag er damit vollkommen richtig. Deswegen waren sie auch so früh wie möglich in die Stadt gefahren. Hatte er gedacht, deswegen vorzeitig abbrechen zu müssen, so täuschte er sich nunmehr seit vier Stunden und wurde sich mehr und mehr bewusst, dass sich Jeans Entschlossenheit und Zielstrebigkeit nicht nur auf seine Art zu spielen auswirkten. Jean hatte ein Ziel und eine Aufgabe, die er so gewissenhaft wie nur möglich ausführen wollte. Mit Mord in den grauen Augen, seine Haare unter der grauen Beanie verborgen und mit kritisch gerunzelter Stirn bahnte er sich seinen Weg durch die Läden, alles gemäß seines vorherig gemachten Schlachtplans und ließ sich von diesem Weg nur durch Jeremy abbringen, der ebenfalls die Gelegenheit nutzte und die restlichen Geschenke einkaufte. Ansonsten schob der sanfte Diktator an seiner Seite ihn aber gnadenlos von Laden zu Laden, von denen er manche noch nicht einmal betreten durfte. Jeremy wartete brav mit dem Rücken zum Schaufenster draußen, auf den Lippen ein amüsiertes Lächeln. So entschlossen Jean war, so gnadenlos war er mit der Auswahl seiner Geschenke und der Ablehnung, wenn sie nicht dem entsprachen, was er sich gedacht hatte und eigentlich war Jeremy davon hochgradig verzaubert. Uneigentlich wünschte er sich in dieser Sekunde jedoch eher zu einem Marathon an den Strand als noch weiter in den nächsten Laden mit Weihnachtsmusik, angeblich weihnachtlichen Düften und vermeintlicher Besinnlichkeit. Er sehnte sich nach dem Nachmittagstermin, den sie hatten, an dem sich Jean ein potenzielles Auto ansehen würde. Jeremy fuhr ihn gerne dahin und war auch dementsprechend gespannt darauf, allerdings befürchtete er mittlerweile, dass er einfach einschlafen würde, bevor Jean auch nur den Kaufvertrag unterschrieben hatte. Sein Blick kehrte zu eben jenem, der mit sturmgeweiht verzogenen Lippen an einem Tresen stand und einen Katalog mit Fotografien durchging, von denen er eine Fahima schenken wollte. Jeremy hatte große Lust, seine Stirn an Jeans Schulter zu betten und seine Augen zu schließen, doch er befürchtete, dass es sich dämpfend auf Jeans Entschlossenheit auswirken würde, wenn er dem anderen Jungen zeigte, wie erschöpft er war. Schließlich zeigten sich hier Fortschritte, die Jeremy mit jeder Faser seines Herzens liebte. Ganz zu schweigen, dass er immer noch davon zehrte, wie schön ihr Ausflug in die Enchanted Gardens gewesen war. Jean hatte zwar kein weiteres Wort darüber verloren, warum er nach seiner Hand gegriffen hatte, doch das Verhältnis zwischen ihnen beiden schien sich seitdem gewandelt zu haben. Jeremy konnte es nicht genau beziffern, aber etwas war anders. Auch Jeremy hatte das Thema noch nicht wieder aufgebracht, aber er nutzte Jeans Initiative und berührte ihn öfter als sonst an der Schulter oder der Hand. Es schien auch Jean zu erleichtern und ihm etwas seiner Anspannung zu nehmen, die ihn noch vor ein paar Tagen fest im Griff gehalten hatte. „Das nehme ich“, deutete der Backliner auf ein Bild und Jeremy kehrte aus seiner Gedankenwelt zurück. Es war ein hübsches Foto, voller Leben und Farben. Es passte zu Fahima und er kam nicht umhin Jeans Sinn für Kunst zu bewundern. Er ließ sich das Bild einpacken und bezahlte mit schlafwandlerischer Sicherheit mit seiner Karte, was auch etwas war, das Jeremy sehr glücklich stimmte, wenn er an den Anfang von Jeans Hiersein dachte. Eben jener kam zu ihm und Jeremy sah lächelnd zu Jean hoch. „Das ist ein sehr schönes Geschenk“, lobte er und plötzlich unsicher verzog Jean seine Lippen. „Denkst du das?“ „Ich weiß es.“ Jean sah auf seine Tüten, dann auf Jeremys. „Es ist das erste Mal, dass ich so etwas kaufe.“ So etwas. Geschenke, wurde sich Jeremy bewusst und abrupt überkam ihn die Erkenntnis, dass Jean natürlich noch nie Geschenke gekauft hatte, seitdem er nach Amerika gekommen war. Und vorher aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht. Jeremy streckte seine Hand aus und legte sie auf Jeans Oberarm. Die Muskeln unter seinen Fingern zuckten und Jean maß ihn neutral. Um Längen zu neutral. Jeremys Umarmung war ein spontanes Ding und ebenso unbeholfen. Sie war holprig und stürmisch und doch spürte Jeremy, wie Jean bewusst und nachsichtig ausatmete und zuließ, dass er seine Arme um ihn schlang und ihre Taschen zwischen sie einkesselte. „Knox…?“, fragte der andere Junge zögernd und Jeremy lächelte schräg zu ihm hoch. „Ich freue mich, dass du jetzt hier bist und Teil des Weihnachtszirkus sein kannst.“ Jean hob die Augenbrauen. „Auf die überfüllten Geschäfte kann ich verzichten“, erwiderte er trocken und Jeremy lachte. „Dafür werden dich die drei Tage bei meinen Eltern entschädigen, ich schwöre es.“ Jean zögerte und auch Jeremy hielt inne. Da war etwas in den grauen Augen, das er nicht entziffern konnte. Jean kämpfte damit und besiegte schließlich seinen unsichtbaren Gegner. „Könnten wir über Running Springs zu ihnen fahren?“, fragte er zögerlich und Jeremys Augen weiteten sich, als er begriff, was Jean damit andeutete. „Du möchtest deinen Bruder sehen, oder?“ Jean zögerte und kurz huschte Schmerz über sein Gesicht, der so tief war, dass Jeremy unmöglich den Boden am Grund dieses dunklen Sees sehen konnte. „Ich möchte ihm ein Geschenk übergeben, wenn er mich sehen will.“ „Jederzeit, Jean. Wir können gerne erst zu deinem Bruder fahren. Das ist nur ein Umweg von einer Stunde und außerdem kommen wir so auch irgendwie am Yosemite Nationalpark vorbei und durch Carson City und Reno und…“ Jean legte ihm sacht zwei Finger auf den Mund, um sein begeistertes Brabbeln zu unterbinden und Jeremy war durchaus froh darüber, gestoppt zu werden, bevor er noch mehr Unsinn von sich gab. Nichtsdestotrotz übernahm der Schelm in ihm und geübt öffnete er die Lippen, umschloss Jeans Finger und speichelte sie voll, während er an den Gliedern nuckelte. Die Geste war spontan und erst, nachdem er Jeans große, graue Augen und rapide rot werdenden Wangen sah, wurde ihm bewusst, dass der spontane, spielerische Akt vermutlich etwas war, das Jean überforderte. Nicht, dass Jean überfordert aussah. Überrascht starrte der andere Junge auf Jeremys Lippen, dann in seine Augen, wieder zurück auf seine Lippen. Aus der Überraschung wurde indignierte Empörung, getüncht mit roten Wangen und ebenso roten Ohrläppchen. Mit einem unschuldigen Lächeln löste sich Jeremy von Jean und dessen Finger hingen für ein paar Sekunden feucht glänzend zwischen ihnen. Das kleine Stückchen sichtbare Haut offenbarte eine Gänsehaut. „Knox!“, grollte Jean verspätet und ruckartig zog er seine Finger zurück, barg sie in seiner freien Hand. „Ja?“, grinste Jeremy und sah zu ihm hoch. Er legte den Kopf schief und sah keine Angst oder Ablehnung in Jeans Augen. Ganz im Gegenteil. Eine gute Portion Verwirrung wechselte sich ab mit Empörung und Erstaunen. Hilflos öffneten sich die schmalen Lippen und schlossen sich wieder. „Knox!“, wiederholte Jean eindrücklich und Jeremy lachte. ~~**~~ „Hier?“ Der Junge neben ihm brummte zustimmend und Jeremy fuhr seinen Wagen im Schritttempo auf das Gelände des Autohändlers. Die Glasfront des Verkaufsraumes sah luxuriös aus, zumindest sah Jeremy das aus dem Augenwinkel heraus, während er bemüht war, bloß keinem der sicherlich teuren Autos zu nahe zu kommen. Hier hatte Jean ein Auto gefunden, das er sich kaufen wollte? Sicherlich war es irgendwo im Hinterhof, oder? Was es auch war, er war gespannt darauf und freute sich schon, seitdem Jean ihn gefragt hatte, ob er ihn zu dem Autohaus fahren würde. Klar hatte er ein bisschen Angst um Jean und die anderen Straßenteilnehmer, aber es war wieder ein Schritt in das Leben, das Jean schon immer führen wollte. Außerdem wäre es verlogen gewesen zu behaupten, dass er nicht sehen würde, wieviel Freude Jean am Fahren hatte. Jeremy machte den Wagen aus und zog seinen Schlüssel. Er warf einen Blick auf Jean, dessen Augen groß und interessiert auf dem Autohaus lagen und der schon unruhig gewesen war, seitdem sie die richtige Ausfahrt vom Highway genommen hatten. „Wollen wir?“, grinste Jeremy und Jean nickte. Normalerweise wartete er, bis Jeremy den Wagen verlassen hatte, bevor er selbst ausstieg, nicht jedoch heute. Aufgeregt tat er ein paar Schritte, bevor er sich anscheinend besann, dass er nicht alleine war und noch viel nervöser drehte er sich zu Jeremy um, der sich das Grinsen nicht aus dem Gesicht wischen konnte. Er schloss zu Jean auf, damit dieser nicht noch weiter auf ihn warten musste und ging gemeinsam mit ihm in den Hauptverkaufsraum, der Jeremy sich beinahe augenblicklich sehr schlecht angezogen und sehr arm fühlen ließ. Hier gab es kein Auto wie seines. Die Sportwagen, die hier standen, waren allesamt von einer Marke, die er nicht kannte. Er meinte sich zu erinnern, dass er ein paar Autos davon schon einmal auf den Straßen von L.A. gesehen hatte, aber unter den vielen Sportwagen der Reichen dieser Stadt war der Wiedererkennungswert eher gering. „Ähm…sind wir hier richtig?“, fragte Jeremy unsicher und Jean wandte sich ihm zu. Kritisch runzelte er die Stirn, als er nochmal auf sein Smartphone sah, das sie hierhin navigiert hatte. „Ja, das ist die Adresse“, sagte er und Jeremy hob zweifelnd die Augenbrauen. Vielleicht hatte der Verkäufer ihn über das Ohr gehauen? Hatte Jean etwa eine Anzahlung leisten sollen? „Mr. Moreau, schön, dass Sie hier sind“, riss ihn eine weibliche Stimme aus seinen panischen Überlegungen und Jeremy fuhr herum. Jean folgte der Bewegung weitaus gesetzter und nickte schweigend. Ernst nahm er die entgegengestreckte Hand der Frau entgegen und schüttelte sie, während Jeremy mit offenem Mund neben ihm stand. Was...? „Mr. Knox, schön auch Sie in unseren heiligen Hallen begrüßen zu dürfen“, war nun auch er an der Reihe und zögernd ließ er seine Hand in ihre gleiten, aus der irrationalen Angst heraus, etwas kaputt zu machen. „Mrs. Inola“, sagte er zögernd und ihr Händedruck war überraschend fest. „Nennen Sie mich ruhig Dyani. Haben Sie gerade Spielpause?“, fragte sie mit einem Augenzwinkern und er nickte unisono mit Jean. „Sehr gut, dann hoffe ich, dass sie viel Zeit mitgebracht haben, ich habe schon einiges Interessantes für Sie vorbereitet“, wandte sie sich lächelnd zurück an Jean und deutete auf ihren hochgestylten Schreibtisch inmitten der Sportwagen. Alles war aufgeräumt und lediglich ein großer Bildschirm samt Tastatur deutete daraufhin, dass hier überhaupt gearbeitet wurde. Neuester Stand der Technik, fiel Jeremy auf. Jean folgte ihr und Jeremy folgte Jean, während er sich staunend umsah. Langsam ließ er sich auf einen der bequemen Stühle des Rundschreibtisches nieder. „Haben Sie gut hierhergefunden? Der Verkehr in L.A. kann ja wirklich schlimm sein“, fragte sie. Jean nickte und deutete auf Jeremy. „Er kennt sich hier aus und die Navigationsapp hat uns hierher gebracht.“ „Das freut mich. Ich habe auch gesehen, dass Sie ihr Spiel gegen die Bearcats damals gut hinter sich gebracht haben. Tolle Leistung!“ Erstaunt blinzelte Jeremy. Wieso sprach sie dieses Spiel an, das schon Wochen her war? Er runzelte die Stirn und umso deutlicher machte es Klick, als er sich an Jeans Frage am Flughafen erinnerte, was ein Normalpreis für ein Auto wäre. Oh. OH. Jeremy lachte mit einem Hauch an Verzweiflung laut auf und hatte beinahe augenblicklich ihrer beider voller Aufmerksamkeit. Dyanis professionell freundlich, Jeans hingegen eher kritisch. „Ist alles in Ordnung?“, fragte er und Jeremy nickte, während er sich peinlich berührt den Mund zuhielt. Natürlich war alles in Ordnung. Selbstverständlich. Vermutlich war keines dieser Autos günstiger als diese 240.000 Dollar. Vermutlich war dieser Schreibtisch mehr wert als sein Auto. „Alles bestens!“, presste er schließlich hervor und legte die Hände auf dem Schoß. Jean hatte doch gesagt, er wolle sich ein Auto kaufen. Ein Auto…kein…oh Gott. Oh Gott. ~~**~~ Trotz seiner absoluten Aufregung und Vorfreude, hier zu sein, entging Jean nicht, dass sein Kapitän sich seltsam verhielt, seitdem sie hier waren und das, obwohl es die Tage nach seinem Gespräch mit dem Reporter besser geworden war. Knox sang wieder, leise zwar nur und unregelmäßig, aber er sang. Mittlerweile vertraute Jean ihm auch wieder seine Frühstückseier an, ohne die Befürchtung haben zu müssen, dass diese verbrannt waren. Sein Kapitän lächelte und scherzte, auch wenn er in unbeobachteten Momenten in sich gekehrt und nachdenklich war. Damit konnte Jean aber besser umgehen, als mit dem traurigen Jungen, der gar nichts sagte. Oder mit dem Jungen, der gerade neben ihm saß und den Eindruck erweckte, als würde er gleich vom Stuhl fallen. Jean fragte sich nicht zum ersten Mal, ob die Überraschung, die er für Knox geplant gehabt hatte, auch wirklich gut war. Es sah nicht so aus, denn sein Kapitän war blass und der seltsame Laut, der die Lippen des Jungen verlassen hatte, war auch nicht das, was Knox sonst von sich gab. Kritisch beäugte er den blonden Jungen, doch als dieser versichernd lächelte, widmete sich Jean wieder der Beraterin – vorerst, aber immer mit einem kritischen Seitenblick aus den Augenwinkeln zu Knox. „Haben Sie Interesse an einem bestimmten Modell oder sollen wir zusammen das passende Modell für Sie finden?“ Jean hatte, seit er ihre Karte erhalten hatte, immer mal wieder geschaut und recherchiert, welches der Modelle ihm am Meisten gefiel. Dabei hatte er viel über PS-Zahlen und Autotechnik gelernt und hatte sich so theoretisches Wissen angeeignet, das er in der Praxis sehen wollte. Er persönlich glaubte nicht, dass er den Unterschied zwischen 540 und 570 PS wirklich spüren würde, so hatte er sich für eine Karosserieform entschieden, die ihm gefiel, und sich in dem Konfigurator die Farben ausgesucht. „Ich bin mir bei der Innenausstattung nicht sicher“, gab er schließlich zu und Dyani, nickte verständnisvoll. Mit ruhiger Stimme erklärte sie ihm und Knox in der darauffolgenden Stunde, welche Möglichkeiten er hatte und was die einzelnen Punkte bedeuteten, die sie ihm aufzählte. Da Jean mit vielem einfach noch nichts anfangen konnte, nutzte er seinen Kapitän und vielmehr dessen gar nicht so versteckte Reaktionen als Kompass, was er nehmen könnte und was nicht. „Möchten Sie eine Probefahrt machen?“, fragte sie schließlich, als sie fertig waren und Jean nickte, während Knox ein erstickter Laut entwich. „Ganz alleine?“, fragte der blonde Junge mit großen Augen und Dyani schüttelte den Kopf. „Für Fahrzeuge dieser Preisklasse haben wir Berater, die Sie bei Ihrer Probefahrt begleiten. Sie werden Sie auf das Fahrzeug einweisen, Sie mit den Funktionen vertraut machen und Sie schließlich bei der Fahrt begleiten.“ Das Wissen darum schien Knox zu erleichtern und Jean hob zweifelnd die Augenbraue. Er hatte doch unlängst einen Führerschein gemacht und wusste, wie man ein Auto fuhr. Was sollte denn so schwierig daran sein, einen Sportwagen zu fahren? Er würde sich ja nicht wirklich anders fahren als Knox‘ Auto, oder? Zwanzig Minuten später wurde sich Jean der Unendlichkeit seiner Naivität bewusst und stand zusammen mit seinem Kapitän, Dyani und Robert, dem Berater, der mit ihm die Probefahrt machen würde, vor dem Modell, das er sich ausgesucht hat und ließ sich Dinge erklären, die er mitnichten in Knox‘ Auto fand. Die Grundzüge waren gleich, ja. Der Rest… Jean schluckte gegen seine gewaltige Nervosität an. Sie kribbelte in seinem ganzen Körper und es war ein gutes Kribbeln. Er war aufgeregt und ungeduldig, er konnte es nicht erwarten, in dem Wagen zu sitzen und über die Straßen von Los Angeles gefahren zu werden, bevor er auf einer eigens dafür eingerichteten Teststrecke selbst das Auto bewegen durfte. „Sollen wir?“, fragte der kleinere Mann mit den grauen Haaren, der ihn amüsiert musterte, und Jean nickte. „Ja“, versuchte er sich an einer ausdruckslosen Antwort, doch die mochte ihm nicht recht gelingen. Man hörte die Aufregung und Knox grinste. „Viel Spaß, Rennfahrer“, sagte er um Längen zu laut und zu fröhlich. Jean brummte und ließ sich vorsichtig in den Wagen nieder, der so tief auf der Straße lag, dass er sich unweigerlich fragte, wie er da jemals wieder herauskommen sollte. „Bereit, Mr. Moreau?“, fragte Robert und er nickte mit trockenem Hals und großen Augen. „Alles klar, dann schnallen Sie sich bitte an und los geht’s.“ Jean tat wie ihm geheißen und zuckte überrascht zusammen, als Robert den Wagen startete und dieser mit einem tiefen Grollen zum Leben erwachte. Er vibrierte unter der Kraft des Motors und Gänsehaut breitete sich in Windeseile auf seinem ganzen Körper aus. Fasziniert folgte Jean den Erklärungen des Fahrers und wurde in den Sitz gepresst, als dieser das Gelände verließ um mit ihm durch die Stadt zu fahren, von dort aus ein kurzes Stück auf den Highway um schließlich zum Testgelände zu kommen. Als sie zum Stehen kamen, hatte Robert ihm die Funktionen des Wagens erläutert, die Bedienung und die Besonderheiten. Jean juckte es in den Fingern, dieses Monstrum selbst zu lenken und ihm die Richtung vorzugeben. Robert öffnete die Flügeltüren und stieg aus. Jean versuchte, es ihm nachzutun, stellte jedoch zu seinem eigenen Frust fest, dass das gar nicht so einfach war, wie er es angenommen hatte. Im Gegenteil. „Erstes Mal Sportwagen?“, fragte Robert, als er sich endlich aus dem Auto geschält hatte und Jean nickte stumm. „Alles klar. Der Trick ist, erst das eine Bein, darauf das Gewicht verlagern und dann aus dem Wagen hieven. Das erfordert viel Muskulatur in den Oberschenkeln und im Becken. Beides konnte er vorweisen. Jean tauschte mit dem älteren Mann die Plätze, schnallte sich an und griff mit zitternden Händen nach dem Lenkrad. Er startete den Wagen und ließ seinen Blick über die weite Teststrecke – eine stillgelegte Rennstrecke - schweifen und gab Gas. Langsam erst, dann mit Nachdruck. Seine Aufregung wich der Konzentration und Jean widmete seine komplette Aufmerksamkeit dem Zusammenspiel aus Mensch, Sportwagen und Asphalt. In diesem Moment war alles, was ihn begleitete, seine Vergangenheit, die vor ihm liegende Zeit, das Spiel gegen die Ravens, weg. Hier gab es nur ihn und den Wagen. Hier gab es Roberts ruhige Stimme, die ihm Tipps gab, wie er manches besser zu machen hatte. Jean folgte diesen Anweisungen nach einiger Zeit beinahe blind und fuhr Runde um Runde. Wie aus einer Trance tauchte er auf, als sie schließlich zum Stehen kamen und er sich mit vollkommener Ruhe und Gelassenheit an Robert wandte, der ihn mit einem Lächeln musterte. „Kann es sein, dass Sie Ihre Sportart verfehlt haben, Mr. Moreau? Sie könnten auch Rennfahrer sein.“ In Anbetracht der Tatsache, dass er sich nie von sich aus für Exy entschieden hatte, sondern dazu gezwungen worden war, diesen Sport auszuüben, konnte es durchaus sein, dass hier ein zweites Talent lag. Oder dass hierfür sein Herz auch wirklich schlug. „Warum nicht?“, verließ es Jeans Lippen ohne dass er die Worte wirklich geplant hatte. Robert grinste und zuckte mit den Schultern. „Was nicht ist, kann noch werden.“ Nein, das konnte es nicht, dafür war sein Leben viel zu abhängig von Exy. Jean seufzte innerlich und schüttelte den Kopf. „Es bleibt beim Privatgebrauch“, sagte er mit einer Sehnsucht in seiner Stimme, die er nicht wirklich verbergen konnte. „Wenn nicht, sagen Sie Bescheid. Ich habe einen kleinen Rennstall in einer der unwichtigeren Ligen. Ich könnte Sie den anderen Fahrern mal vorstellen. Oder Sie könnten mal mitfahren.“ Überrascht blinzelte Jean. Er nickte, bevor er diese Gelegenheit ausschlagen konnte und Robert hob die Augenbrauen. „Dachte ich es mir. Noch eine Runde?“ Wer war Jean, dass er diese Frage verneinte? ~~**~~ Wenn Jean gedacht hatte, dass die Party in dem Studentenwohnheim vor ein paar Monaten schon schlimm gewesen war, dann hatte er nicht damit gerechnet, dass ein Club die doppelte und dreifache Menschenmenge auf engem, stickigen Raum pressen konnte und das dann noch einen entspannten Abend zu nennen wagte. Überall, wo er hinsah, waren Menschen, während im Hintergrund die Musik dumpf aus den Bässen dröhnte. Es war die gleiche Musik wie die, zu der Knox auch in ihrem Apartment tanzte, und entsprechend aufgeregt war sein Kapitän auch, als er an seiner Seite von einem Fuß auf den anderen trat und darauf wartete, dass sie zu ihrer Loge eingelassen wurden. Wobei Loge ein großes Wort war, wenn er sich ihren abgeschiedenen Bereich ansah, von dem aus man die Tanzfläche und die Bar sehen konnte. Alles war bunt ausgeleuchtet und an den Decken hing Weihnachtsdekoration, die genauso kitschig war wie die in der gesamten Stadt. Jean erinnerte sich zwar nicht mehr richtig an die Weihnachtsdekoration in Marseille, aber er glaubte nicht, dass sie sich mit diesem bunten Augenkrebs hier messen konnte. Am Skurrilsten war der Rundbogen aus stacheligen, grünen Blättern, der am anderen Ende des Clubs stand und rot und grün erleuchtet war. Wie ein seltsames Objekt stach er heraus und Jean nahm sich vor, Knox nach dem Sinn dieser Hässlichkeit zu fragen. Sein Kapitän sah anders als sonst, mit einer engeren Jeanshose und einem weinroten T-Shirt, das mal keinen Trojansschriftzug hatte. Es saß auch etwas enger und Jean fragte sich, ob es das war, was man in einem LGBTQI+-Club anzog. Er selbst trug ein dünnes, weißes Langarmshirt und eine Jeans, beides weniger eng als das, was sein Kapitän trug. Es stand ihm gut und Jean bemerkte, dass Knox‘ Hose seinen Hintern betonte. In Anbetracht der Tatsache, dass ihr Besuch laut dieser Liste nur zum Sinn hatte, Knox von dem Reporter abzulenken, ihm neue, hübsche Männer zu zeigen und dafür zu sorgen, dass er von welchen angesprochen wurde, schien es Knox‘ Antwort darauf zu sein. Zumal dieser Hintern, den Jean bereits ohne Hose gesehen hatte, ja auch ansehnlich war. Tief in sich wusste Jean allerdings auch, dass er nicht wollte, dass Knox einen anderen Jungen kennenlernte. Der Gedanke war gleichermaßen erschreckend wie egoistisch und Jean hatte nur eine Ahnung, warum er so dachte. Eine sehr konkrete Ahnung. Er ist mein Kapitän, blockte er diese ab. Andererseits wäre es vielleicht ganz gut, wenn Knox heute Abend abgelenkt sein würde, denn kaum dass sie das Autohaus verlassen hatten, war Jean mit Fragen bombardiert worden, die alle nur eins zum Ziel hatten: ihn zu fragen, ob er sich sicher war, soviel Geld für so einen Wagen auszugeben, ohne direkt zu fragen, ob er soviel Geld für so einen Wagen ausgeben würde. Am Anfang war Jean noch verwirrt über die um das eigentliche Thema herumschiffenden Fragen gewesen, doch am Ende hatte es ihn nur noch mehr amüsiert, dass Knox es partout nicht geschafft hatte, die eigentliche Frage zu stellen. Nicht, dass Jean ihm die Antwort verweigert hätte, nein. Wenn er sich bei einem sicher war, dann, dass er ihn haben wollte. Einen McLaren 570 GT, einen Sportwagen, der mit einem eigenen Team an Mechanikern kam, wenn er technische Probleme haben sollte. Ein Wagen, der Geldanlage und Lebensentscheidung zugleich war. Jean hatte sich lange überlegt, was er mit dem Geld der Moriyamas anstellen wollte, dieser menschenverachtenden Entschädigung. Nachdem er den Sportwagen am Flughafen gesehen hatte, hatte er immer wieder darüber nachgedacht, das Geld für etwas auszugeben, das ihm wirklich gefiel und ihm ein gutes Gefühl bereitete. Nach der Probefahrt war sich Jean sicher gewesen, dass es ihm gelingen würde, die schlimmen Gedanken bezüglich des Geldes in etwas Schönes umzuwandeln. Ja, Jean liebte den Wagen, das wusste er mit Sicherheit. Er liebte den kupferroten Lack, das helle Innendesign, das Geräusch des Motors, er liebte die Schnelligkeit. Er wollte es, wie er selten etwas gewollt hatte in den letzten Jahren. Und so hatte er den Kaufvertrag unterschrieben und musste nun drei Monate auf die Fertigstellung warten. Dass er seinen Kapitän damit außer Gefecht setzen würde, damit hatte er nicht gerechnet, der hin- und hergerissen zwar zwischen Unglauben, Ohnmacht und Besorgnis. Wenn Jean sich allerdings nicht recht täuschte, dann war da auch ein wenig wohlversteckte Begeisterung. „Ey, Moreau!“ Jean beschloss, Alvarez alleine deswegen schon zu ignorieren, weil aus so einer Einleitung nie etwas Gutes bei ihr herauskam. Außerdem war er damit beschäftigt, den Menschen aus dem Weg zu gehen, die sich hier auf engstem Raum zusammendrückten. Eine unlösbare Aufgabe, aber wer war er, dass er nicht zumindest versuchte, erfolgreich zu sein? Im Nachhinein hätte er wirklich in ihrem Apartment bleiben sollen. Vielleicht wäre er sogar eingeschlafen. Müde genug dafür war er nach ihrem Besuch bei dem McLaren-Händler und Knox‘ inquisitorischen Blicken und Fragen im Anschluss daran sicherlich. Doch er hatte sich entgegen Knox‘ Rat dazu entschieden, mitzukommen – und zu leiden – und nun war er hier, das erste Mal in seinem Leben in einem Club. Wenn es nach ihm ginge, wäre es auch das letzte Mal, aber er befürchtete, dass die Tanzbegeisterten an seiner Seite ihn damit nicht durchkommen ließen. „Französische Gewitterwolke!“, rief sein Vizekapitän über den Lärm des Liedes hinweg und nun drehte sich Jean tatsächlich um. „Was willst du trinken?“ Das war weniger schlimm, als Jean befürchtet hatte. „Wasser in der Flasche, geschlossen.“ Alvarez nickte. „Das Gleiche wie immer. Laila?“ „Bier“!“ „Val? Logan?“ „Zwei Bier!“ „Alles klar, für mich dann eine Coke.“ Sie wandte sich an ihren Kapitän. „Jer, gehst du holen?“ Zuerst überrascht, dann etwas säuerlich starrte ihr der blonde Junge in die Augen und Jean schnaubte amüsiert. „Klar!“, grimmte Knox schließlich und setzte sich in Bewegung. Kaum war der Junge in der Menge verschwunden und kaum hatten Logan und Val sich auf die Couchecke zurückgezogen, wandte Alvarez sich ihm zu und starrte abwartend zu ihm hoch. „Moreau.“ „Alvarez“, echote Jean. „Moreau.“ Er rollte mit den Augen. „Hast du gestern beim Training was auf den Kopf bekommen?“ „Wieso starrt dich unser Sonnenschein so an, als würde er etwas sagen wollen, sich aber nicht traut, das zu tun?“ Jean zuckte mit den Schultern. „Frag ihn selbst?“, erwiderte er und sie schnaufte. „Er starrt dich an.“ „Das tut er öfter.“ „Aber nicht so.“ „Also starrst du ihn an, während er mich anstarrt?“, hakte Jean ironisch nach und Alvarez grinste. „Bleibt somit in der Familie, schließlich starrst du Captain Sunshine auch an.“ Jean drehte sich kommentarlos weg und setzte sich zu den beiden küssenden Menschen auf die Eckcouch, die glücklicherweise groß genug für sie alle war. Er beobachtete, wie Knox mit dem Barkeeper flirtete und ihre Getränke zusammenraffte. Geschickt und im Takt der Musik bahnte er sich seinen Weg durch die tanzenden Leiber zurück zu ihnen und stellte die Getränkeflaschen auf den kleinen, runden Tisch. Die Tanzwütigen hielten es noch nicht einmal eine halbe Getränkelänge auf der Couch aus, bevor sie auf die Tanzfläche stürmten und Logan mit Jean alleine ließen. Anscheinend war auch er lediglich mitgekommen, um Val zu begleiten, die mit Knox, Laila und Alvarez momentan aus seinem Pulk an Leibern bestand. Alvarez‘ Worte kamen ihm in den Sinn. Beobachtete er Knox auch? Momentan sicherlich schon, aber momentan versuchte er auch zu ergründen, was der Spaß daran sein mochte, sich zu dieser Musik zu bewegen. Die Worte des Reporters kamen ihm in den Sinn und er legte nachdenklich den Kopf schief. Er strich mit dem Daumen über den Hals der Wasserflasche, während er sich vorstellte, wie es wäre. Könnte er Knox so nahe sein wie es die Männer in dem Video waren? Könnte er über seinen Körper streichen und auch zulassen, dass Knox das Gleiche tat? Konnte er seinem Kapitän so nahe sein, in dem Wissen, dass Knox ihn zwingen konnte? Jean erinnerte sich noch gut daran, wie Knox gestöhnt hatte, als er ihn und den Reporter überrascht hatte. Würde er auch für ihn stöhnen? Jeans Gedanken schweiften erneut zu den beiden Männern aus dem Video und er fühlte den wohlvertrauten Stich an Hitze in seinem Unterleib. Überrascht sah Jean ach unten und merkte, dass seine Hose auf einmal enger wurde. Wenn das so weiterging, würde man sehen, dass er erregt war. Das war… „Sie haben dich auch gezwungen, hierher zu kommen, oder?“, riss Logan ihn aus seinen Gedanken und Jean zuckte so gewaltig zusammen, dass er beinahe seine Wasserflasche fallen ließ. „Nein! Ich habe niemanden gezwungen!“, erwiderte er hastig und Logan hob die Augenbrauen. Er musterte ihn, als hätte er den Verstand verloren. Minimal lehnte er sich zu ihm. „Ich habe gefragt, ob sie dich auch gezwungen haben“, deutete er irritiert mit der Hand zur Tanzfläche. Jean schluckte schwer und folgte Logans Fingerzeig, auf der sich die Körper seines Teams aneinanderrieben. Er hatte das doch schonmal gesehen, warum war er nun anders? Er nahm Knox anders wahr als vor Monaten. Was war es denn dort gewesen? Eine Ansammlung an Herumgezappel, unnötig in Jeans Augen. Und nun fühlte er sich von eben jenem angesprochen, er empfand es als ästhetisch und anregend. Unerfreut bemerkte Jean, dass sein Körper ihm da durchaus zustimmte. Er besann sich, dass Logan ihm eine Frage gestellt hatte. „Nein. Ich habe ihn freiwillig begleitet“, erwiderte er und erhob sich abrupt. „Ich gehe zum Klo.“ Das wäre momentan der sicherste Ort, um dem Anblick seines Kapitäns und seiner aufkommenden Lust zu entkommen, die sich zum ungünstigsten Zeitpunkt meldete. „Alles in Ordnung mit dir?“ Er sah vorsichtige Sorge auf Logans verwirrtem Gesicht und nickte. „Zuviel Wasser“, log Jean murmelnd und bahnte sich seinen Weg durch die Menschen zu den Toiletten, die ebenso bunt erleuchtet waren wie der restliche Club auch. Der Bass des Liedes wummerte durch die geschlossenen Türen und es war mehr los als Jean erwartet hatte. Schneller, als jemand Blickkontakt zu ihm herstellen konnte, hatte er sich in eine der Kabinen zurückgezogen und die Tür hinter sich geschlossen. Jean hoffte, dass die sterile und fremde Umgebung ihn schneller wieder zu sich brachte, als es die Eckcouch tun würde, doch weit gefehlt. Aus der Nebenkabine drangen – so erkannte er nach ein paar Sekunden mit Schrecken – eindeutige Laute der einvernehmlichen Lust. Unterdrücktes Stöhnen, feuchte, frivole Laute, die Jean ungläubig die Augen schließen ließen. Das durfte doch nicht wahr sein. Das. Durfte. Nicht. Wahr. Sein. Es war so, als würde das Universum ihm gerade aufzeigen wollen, dass seine Lust das Richtige war und dass er ihr nicht so leicht entkommen konnte. Sollte. Was auch immer. Die zwei Männer neben ihm sagten es ihm auf eine sehr deutliche Weise und Jean verließ die Kabine, als das dumpfe, rhythmische Pochen gegen die dünne Toilettenwand an Geschwindigkeit aufnahm. Augenrollend wusch er sich die Hände und verließ die Toilette. Wieder hinein in die lärmende, fröhliche, tanzende Menschenmenge. Jean grollte und stellte sich unter den komischen Bogen, der momentan der am Wenigsten besuchte Ort in diesem Club zu sein schien. Er seufzte und atmete tief durch. Es kribbelte und prickelte immer noch in ihm, doch die Menschenmenge war ihm wie ein Schutz zwischen ihm und Knox, dessen Körper, dessen Bewegungen und seinen eigenen, unverständlichen Gedanken, die ihn in das reinste Gefühlschaos stürzten. „Hi.“ Beinahe hätte Jean die sanfte Stimme neben ihm nicht gehört. Beinahe hätte er geglaubt, dass es jemand anderem galt. Doch die physische Anwesenheit der Person neben ihm sagte ihm etwas Anderes. Jean sah nach rechts und musterte den schwarzhaarigen, zierlichen Jungen, der beinahe einen ganzen Kopf kleiner war als er. „Hallo“, erwiderte er mit einem neutralen Lächeln, wie er es bei Theodora gelernt hatte. Vermutlich war der Junge Exy-Fan und wollte ein Selfie oder Ähnliches. „Ich bin Marc. Freut mich, dich kennen zu lernen.“ „Jean“, entgegnete er zögernd. „Was für ein schöner Name.“ Jean wollte schon mit den Schultern zucken, doch der verträumte Ausdruck in den dunklen Augen hielt ihn davon ab. Wann war das letzte Mal gewesen, dass ihm jemand gesagt hatte, dass sein Name schön war? Sein Vater hatte das getan, damals in Marseilles. In einem anderen Leben. „Danke“, erwiderte er. Anscheinend war Marc doch kein Exy-Fan, wenn er ihn nicht kannte. Die Frage war, warum er ihn dann ansprach. „Ich habe dich hier noch nie gesehen“, zwinkerte Marc und Jean nickte. „Ich bin zum ersten Mal hier“, erwiderte er vorsichtig, ungelenk gar. Er war nicht gut darin, sich mit Fremden zu unterhalten und schon gar nicht mit Fremden, die ihn so ansahen, wie Marc ihn ansah. Knox hatte ihn auch schonmal so angesehen und da war viel zu viel Begeisterung in den Augen gewesen, dass Jean wusste, wie er damit umgehen sollte. „Mit meinem Team“, schob er hinterher und deutete auf die Tanzfläche, auf der er keinen von ihnen sah. „Uuuh, ein ganzes Team?“ Marc legte den Kopf schief und wenn Jean sich nicht täuschte, dann war er auch einen Schritt näher getreten. „Sie sind sicherlich nicht so groß und muskulös wie du.“ „Naja, manche sind größer, einige kleiner, ich bin schon ziemlich groß…“ „Überall?“ Jean blinzelte. Er verstand nicht, was der andere Junge meinte. „Was meinst du?“ Marc grinste und krümmte den Zeigefinger um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Jean beugte sich vorsichtig zu ihm hinunter, nur dass Marc nicht im Geringsten daran interessiert war, ihm etwas zu sagen. Die Lippen, die sanft auf seinen lagen und ihn küssten, irritierten und schockierten Jean so sehr, dass er im ersten Moment einfach verharrte und dem Gefühl nachspürte, das von der unerwarteten und intimen Berührung ausgingen. Ein fremder Junge küsste ihn und das Schlimmste daran war, dass Jean weder den Gedanken noch das Gefühl abstoßend fand. Die Lippen waren weich und warm und fühlten sich so an, wie Knox‘ Lippen auf seiner Hand. Der Geruch des Jungen war angenehm und seine Nähe trotz allem unaufdringlich. Es war angenehm und dennoch irgendwie… Jean löste sich von Marc und räusperte sich mit großen Augen. „Warum hast du das getan?“, fragte er mit klopfendem Herzen und Marc runzelte verwirrt die Stirn. „Naja…du stehst unter dem Mistelzweigbogen. Das ist der Ort für Küsse hier. Mistelzweig und und so, Tradition des Clubs dies das.“ Er sagte das so, als müsse Jean wissen, was damit gemeint wäre und stumm verfluchte er seine Unwissenheit und auch die mangelnde Einführung durch sein Team in solche Gebräuche. „Unter so etwas wird geküsst?“, fragte er nach und Marc nickte verwirrt. „Aber ja. Unter Mistelzweigen.“ Er deutete nach oben und Jean folgte seinem Fingerzeig. Oh. Jean schluckte und spürte verdächtige Röte seine Wangen emporkriechen. „Also, ich…“, begann er, wusste aber nicht wirklich, wie er den Satz beenden sollte. „Du wusstest das nicht?“, hakte Marc sacht nach und er schüttelte den Kopf. Der andere Junge lachte liebevoll. „Alles klar, schöner, unwissender Mann. Wenn du nicht geküsst werden möchtest, solltest du dich von diesem Bogen fernhalten.“ Jean nickte schweigend und deutete auf die Tanzfläche. „Okay…und außerdem bin ich mit meinem Kapitän hier“, sagte er, als würde das alles erklären und vielleicht tat es das auch. Er war in Gedanken bei Knox, nicht bei diesem Jungen. Er hatte nichts gegen einen männlichen Kuss, aber eben nicht von Marc. Eben jener brauchte etwas, bis er verstand. Verschmitzt lächelte er und zog einen Stift aus seiner Tasche. „Also, Mann mit dem wohlklingenden, romantischen Namen, wenn du mal nicht mit deinem… Kapitän hier bist, dann hast du hier meine Nummer.“ Er zwinkerte und griff sanft nach Jeans linker Hand. Die Spitze des Stiftes kitzelte auf seiner Handinnenfläche und Jean starrte fasziniert auf die Nummer, die sich dort manifestierte. „Ruf mich an. Und sei dir gewiss, dass ich jederzeit für dich auf die Knie gehen werde, egal, wie groß du bist.“ Jean rätselte noch über den Sinn der Worte, als Marc ihm schon Kuss auf die Wange hauchte und in der Menge verschwand. Jean sah ihm verwirrt hinterher und als er die nächste Bewegung in seinem Augenwinkel sah, sah auch er zu, dass er weitestmöglichen Abstand zu diesem Bogen bekam. Mit starrem Blick kämpfte er sich zu ihrer Ecke, in der mittlerweile alle saßen, auch die nimmermüden Tänzer. Vorsichtig ließ er sich nieder und Knox beugte sich vor. Auf seiner Stirn glänzte etwas Schweiß und Jeans Aufmerksamkeit fing sich an den strahlenden Augen und geöffneten Lippen. „Alles in Ordnung, Jean?“, fragte er über den Lärm ihres Teams hinweg, die sich gerade angeregt über die semi-professionellen Tänzer auf dem Dancefloor stritten. „Ich bin mir nicht sicher“, begann Jean und starrte auf seine Handfläche, auf der Marcs Nummer herausstach. Er hielt sie dem blonden Jungen hin und schürzte unwirsch die Lippen. „Ich stand unter dem Bogen da hinten. Diesem Mistelzweigbogen, unter dem man sich küssen soll. Ich wusste das nicht und dann war da Marc. Er hat mich geküsst“, sagte er nicht ohne Vorwurf in Richtung seines Kapitäns. Knox‘ Augen weiteten sich und besorgt berührte er Jeans Hand. „Was? Einfach so? Geht es dir gut? Wenn er dich gegen deinen Willen angefasst hat, dann können wir die Security…“ „Es war okay“, schnitt Jean den Strom an immer lauter werdenden Worten ab. Er senkte die Augen auf ihre beiden Hände. „Unerwartet, aber okay. Als ich mich von ihm gelöst habe, war das okay für ihn, er hat mich zu nichts gezwungen.“ „Das…oh.“ Jean nickte. „Aber er hat etwas gesagt, mit dem ich nichts anfangen kann. Er meinte, dass er jederzeit für mich auf die Knie gehen würde, egal, wie groß ich wäre. Was meint er damit?“ Jean wurde sich nur am Rande bewusst, dass der Rest der anwesenden Trojans ihre Diskussion beendet hatten. Er sah das nicht als schlimm an, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als Knox‘ Augen groß und rund wurden und der Rest der Anwesenden in lautstarkes Gegröle ausbrach, das eindeutig ihm galt. Ohne jeden Zweifel. Verwirrt sah er zu ihnen und starrte in durchweg grinsende Gesichter. Grollend wandte er sich wieder an seinen Kapitän, doch Knox war da nicht besser und in den nächsten Minuten lernte Jean alles über Synonyme für Oralsex, was er in seinem Leben nicht hatte wissen wollen. So sehr es ihn auch in alle Richtungen grollen und sein Team verfluchen ließ… die Erinnerungen an Evermore blieben in diesem Moment stumm und ruhten zugunsten des normalen Lebens und der Freiwilligkeit sexueller Handlungen. ~~~~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 55: A Christmas Carol ----------------------------- Jean vergrub seinen Kopf in den dicken Schal, den er um sich geschlungen hatte. Es war windig geworden und kühl auf dem Dach ihres Hauses, auf das er sich zurückgezogen hatte um mit Andrew telefonieren zu können. Ajeet hielt Knox mit Hausaufgaben beschäftigt, so hatte er sich davonstehlen können ohne einen Verdacht zu erregen. Unwirsch verzog er seine Lippen und wählte Andrews Nummer, ging gleich in den Videochat, weil er sehen wollte, ob jemand im gleichen Raum wie der blonde Junge war. Bei seinem Glück war es am Ende auch noch Day… Wie immer klingelte es nicht lange, bis Andrew abnahm und er dem ausdruckslosen Gesicht begegnete. Er sagte nichts, sondern hob nur seine Augenbraue. Natürlich. Andrew war kein Smalltalkmensch. „Bist du alleine?“, fragte Jean direkt und Andrew verdrehte die Augen. Er sah zur Seite und schnalzte mit der Zunge. „Raus.“ Ein einzelnes, unterkühltes Wort reichte um Proteste seiner Mitbewohner auszulösen. Day, wenn Jean sich nicht verhört hatte, und Hemmick. Andrew warte, bis die Tür hinter den Beiden zufiel und wandte seine Aufmerksamkeit dann vollständig Jean zu. „Was willst du?“, fragte er und nur ein unaufmerksamer Mensch hätte die Ausdruckslosigkeit mit Desinteresse verwechselt. „Wann hast du gemerkt, dass du Josten liebst?“, kam er direkt zur Sache und Andrews Schweigen wandelte sich in etwas Anderes, etwas weniger Andrew-artiges. Es wurde abweisender, ja geradezu feindseliger. „Dummes, dummes Rabenkind“, spottete der andere Junge schließlich und legte auf, ließ Jean perplex zurück. Was…? Jean blinzelte. Wieso hatte Andrew einfach aufgelegt? Das hatte er noch nie getan. Warum spottete er über seine Frage, die doch nur etwas Offensichtliches ansprach? Unsicher starrte Jean auf sein Telefon und senkte die Hand, die es hielt. Aber sie hatten doch immer ehrlich miteinander gesprochen und sich die Wahrheit gesagt. Die Fragen, die Andrew gestellt hatte, waren ebenso offen gewesen, schmerzhaft gar. Frustriert trat Jean ein kleines Steinchen von sich weg. Andrew war der Einzige, den er fragen konnte, was sein Problem anbetraf. Renee war nie in solch einer Situation gewesen und er wollte niemanden aus seinem Team mit seiner Vergangenheit belästigen. Brian wäre auch eine Lösung, aber Brian war sein Therapeut. Er war niemand wie er. Jemand, der überlebt hatte. Er überlegte, ob es Sinn machte, Andrew noch einmal anzurufen und entschied sich dagegen. Die Abneigung in dem sonst so emotionslosen Gesicht hatte gereicht und was wollte er dem blonden Jungen dann sagen? Dass er das Gefühl hatte, trotz allem auf Männer zu stehen? Nur um dann vermutlich noch ausgelacht zu werden? Bittere Enttäuschung erfüllte Jean und er steckte sein Handy in die Tasche seines Hoodies. Die Kälte des Abends schlug ihm ins Gesicht und bittere Hoffnungslosigkeit zerrte mehr an ihm, als er es zuzugeben bereit war. Abrupt drehte er sich um und ging zurück zum Aufgang, als sein Handy nochmal klingelte. Widerwillig nahm Jean es aus der Tasche und sah Andrews Namen und trotz seiner Gefühle zögerte er, den Anruf entgegen zu nehmen. Schlussendlich tat er es trotzdem und es wunderte ihn nicht, dass Andrew kein Interesse daran hatte, in einen Videocall zu gehen. Jean hörte, wie der blonde Torhüter Luft einzog, und er konnte förmlich vor sich sehen, wie er rauchte. „Wer?“, fragte Andrew schlicht und Jean runzelte die Stirn. „Was meinst du?“ „Wer dein französisches Herzchen erobert hat.“ Als er gegen seinen Willen zu den Foxes gebracht worden war, hätte er Andrews Taktik der Ablenkung mit Sicherheit nicht verstanden. Er hätte die Worte genommen, wie sie ihm gegenüber geäußert worden wären, in der Hoffnung, dass sie wahr wären. In er Hoffnung, sie zu verstehen. Nicht jetzt, denn er hatte Monate menschlichen Miteinanders hinter sich. Er hatte Taktiken beobachtet und hinterfragt, er hatte gelernt. „Wer sagt, dass dem der Fall ist?“, stellte er die Gegenfrage und Andrew schnaubte. „Du rufst an und fragst nach Liebe. Was sollte sonst der Fall sein?“ Brutal und ehrlich, zumindest, wenn es um andere ging. Jean grollte und verfiel dann in ein unerfreutes Schweigen. Jetzt, da Andrew doch da war, wusste er nicht, wie er formulieren sollte, was er wissen wollte. Vielleicht sollte er mit dem Grundlegenden anfangen. „Ich brauche Antworten.“ „Ich bin nicht deine Antwort.“ „Nein, aber du hast Antworten für dich gefunden.“ Das brachte Andrew zunächst zum Schweigen. „Habe ich?“, fragte er schließlich lauernd und Jean schnaubte. „Ja, hast du. Josten ist deine Antwort und hör auf mit dem Bullshit, er wäre es nicht. Er tut alles für dich und du für ihn.“ Andrew schnaubte. „Und du glaubst, dass du deinen Josten in wem gefunden hast?“ Jean stellte fest, dass er tatsächlich dankbar war, dass sie sich nicht sahen. Es reichte ihm, die Stimme des anderen Jungen zu hören, die Wahrheiten von ihm hören wollte, derer er sich nicht sicher war. „Ich darf sie in ihm nicht gefunden haben, er ist der Kapitän“, erwiderte er und Andrew grollte. „Natürlich. Hat Captain Sunshine dir das eingeredet, dass ihr euch mögt? Hat er dich angefasst?“ Irritiert runzelte Jean die Stirn. „Er weiß gar nichts davon und er hat mich mit Sicherheit zu nichts überredet.“ Andrews nichtssagender Laut schwebte für lange Momente als Einziges zwischen ihnen und Jean rätselte über die Bedeutung dessen. War es Zustimmung, Ablehnung, was war es? „Du hast dich also in den Erstbesten verguckt, der dir etwas Gutes getan hat“, schnarrte der blonde Torhüter schließlich und nun war es an Jean zu grollen. „Renee mag ich nicht auf diese Weise und dich würde ich ja noch nicht einmal mit der Kneifzange anfassen“, erwiderte er empört. „Ist das so?“, fragte Andrew lauernd und Jean konnte den seltsamen Unterton nicht wirklich identifizieren, der die Frage begleitete. „Ja.“ „Wo soll ich dir etwas Gutes getan haben?“, hakte Andrew nach und Jean rollte erneut mit den Augen. „Du bist nicht wie er“, kam er schließlich zum eigentlichen Punkt und nahm seine Runden auf dem Dach wieder auf. Die Sonne schien, halb verdeckt von Wolken und Jean spürte merklich den kalten Wind, der durch seinen Hoodie drang. Es roch nach Regen und Jean atmete tief ein. Er mochte den Geruch sehr. „Er ist…die Sonne. Er strahlt, wenn er einen Raum betritt und er ist unschuldig. Er hat nichts Böses an sich.“ „Jetzt triffst du mich aber tief“, schnarrte er. „Habe ich etwas Böses an mir?“ „Sag du es mir, wie es sich mit Muttermördern verhält.“ „Es war ein Autounfall.“ Jean lachte kurz, verfolgte das Thema aber nicht weiter. Er verstand Andrews Vorsicht, denn Riko hätte jederzeit versucht, dem anderen Jungen mit einem Geständnis das Leben zur Hölle zu machen. „Er ist anders als du und bevorzugst du kleine, rotbraune, lebensmüde Idioten“, schloss er das Thema. „Aber wie kann ich ihn überhaupt bevorzugen, nachdem, was passiert ist? Er ist ein Junge und er ist mein Kapitän.“ „Aus welchem Grund sollten das Ausschlussgründe sein?“ Jean schwieg. Das war doch eine rein rhetorische Frage, oder? Schließlich kannte Andrew seine Vergangenheit bereits. Doch je länger der andere Junge auf eine Antwort wartete, desto mehr wurde Jean bewusst, dass das eben nicht klar war. Hilfesuchend sah er zum Himmel. „Wieso favorisiere ich immer noch Männer, nachdem, was passiert ist? Wieso mache ich den gleichen Fehler noch einmal? Er kann über mich bestimmen, er kann mir Befehle erteilen. Auch auf…intimste Art und Weise.“ Andrew brummte und nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette. „Willst du eine ehrliche Antwort?“ „Wenn nicht, würde ich Josten fragen.“ „Autsch.“ „Sag mir, dass ich nicht Recht habe.“ „Dann müsste ich lügen.“ „Ich hasse euch beide.“ „Kluges Findelkind. Also?“ „Ja.“ Andrew nahm einen weiteren Zug aus seiner Zigarette und schaltete dann um auf Videoanruf. Überrascht nahm Jean die Aufforderung an und die hellbraunen Augen waren eine beruhigende Insel der Ausdruckslosigkeit in Jeans aufgewühlter Gefühlswelt. „Machen Männer dich an?“ „Nicht alle.“ „Aber Captain Sunshine?“ „Und die Männer aus dem Video, das Renee mir geschickt hat.“ Andrew hob vielsagend die rechte Augenbraue. „Willst du ihm körperlich nahe sein?“ „Das weiß ich nicht.“ Andrew seufzte so langgezogen, als hätte Jean die dümmstmögliche Antwort gegeben. Jean erkannte diese Art des Seufzens wieder und eigentlich hatte es bisher immer Josten gegolten, wenn dieser einen seiner Exy-Schwärm-Momente gehabt hatte. Die Reaktion schmerzte Jean und unwirsch verzog er die Lippen. Nun war er es, der überlegte, aufzulegen, entschied sich aber dagegen. Teil seiner Gespräche mit Brian war die offene, ehrliche Kommunikation über seine Bedürfnisse, nicht die Flucht aus eben solchen. Resolut atmete er durch und stählte sich für das, was kommen mochte. „Ich weiß nicht, wem ich sonst diese Fragen stellen kann. Ich weiß, dass ich nicht so erfahren bin in solchen Dingen wie du, aber ich brauche eine Antwort und dein Spott demütigt mich“, presste er ehrlich hervor und sah nach unten, weg von den hellen Augen, deren Ausdruckslosigkeit ihm zuviel war in diesem Moment. Andrew seufzte erneut, doch dieses Mal fehlte der Spott. Es war eher ein Schnaufen. „Sieh mich an, Moreau“, sagte er sonor und es brauchte seine Sekunden, bis Jean die Kraft und den Mut dazu hatte. „Würdest du ihm deine Autoschlüssel geben?“ Überrascht schossen Jeans Augenbrauen in die Höhe. Was sollte diese Frage denn jetzt? Was hatte das mit seinen Worten zu tun? „Wieso fragst du das?“ „Um mit dir herauszufinden, ob du deinem Kapitän an die Wäsche willst.“ Die direkte Art der Formulierung ließ Jean schlucken. So klang es… fürchterlich pornographisch. „Ich möchte ihn in meiner Nähe haben. Das klingt, als wäre mein einziges Ziel, mit ihm zu schlafen.“ „Das Eine kann zum Anderen führen. Also. Autoschlüssel?“ Jean entschloss sich, das Frage-und-Antwort-Spiel mitzuspielen, hatte er ja auch nicht wirklich eine Wahl, wenn er eine Lösung für sein Problem haben wollte. „Mein Auto kommt erst in drei Monaten. Aber ich denke, dass er es auch fahren möchte, wenn er eingewiesen wurde.“ Jean dachte an das bleiche und gleichzeitig begeisterte Gesicht seines Kapitäns zurück, mit dem er den Sportwagen gemustert hatte. Andrew nickte knapp. „Würdest du ihm einen Wohnungsschlüssel deiner zukünftigen Wohnung geben?“ Diese Antwort fiel ihm wesentlich leichter, denn er wollte nicht alleine sein. „Ja, das würde ich.“ „Wenn er dich um etwas bittet, würdest du ja sagen?“ „Ja.“ Nicht, dass Knox um viel bat. „Egal was?“ Jean überlegte. Er würde vieles für Knox tun, aber nicht alles. „Nein… ich hätte Grenzen.“ Zumindest theoretisch. „Ist er dein Notfallkontakt im Handy?“ Stirnrunzelnd warf Jean einen Blick auf besagtes Gerät, als könnte es ihm so eine Antwort geben. „Was ist ein Notfallkontakt?“, hakte er denn nach und Andrew gab sich größte Mühe, dieses Mal nicht mit den Augen zu rollen. „Jemand auf einer Schnellwahltaste, der angerufen wird, wenn dir etwas passiert. Wenn du zum Beispiel im Krankenhaus landest.“ „Ich komme nicht ins Krankenhaus.“ „Das bleibt abzuwarten und es geht hier ums Prinzip. Also?“ „Vielleicht würde ich wollen, dass sie ihn zuerst anrufen.“ „Erlaubst du ihm, dich zu berühren oder berührst du ihn?“ Jean nickte. „Beides und es passiert häufiger. Er hat zum Beispiel…“ Andrew schnalzte laut und scharf mit der Zunge. „Verschone mich mit den glorreichen Details. Ich will nur wissen, ob.“ „Ja“, bekräftigte Jean erneut und verzog beinahe schmollend die Lippen. „Würdest du in der Dusche für ihn auf die Knie gehen und ihm einen blasen?“ Was?! Jean blinzelte, als er versuchte, in der Frage einen anderen Sinn zu erkennen, als er ihn gerade gehört hatte. Doch die Gnadenlosigkeit von Andrews Ehrlichkeit ließ ihn nicht, sie ließ ihm keinen Ausweg aus der Frage und dem Wissen, das sein Team ihm in dem Club eingetrichtert hatte. Seine Lippen öffneten und schlossen sich. Verlegen sah er zur Seite. „Ich weiß nicht?“, stellte er schließlich die Gegenfrage und es war genau das. Er wusste nicht, ob er das tun könnte. „Ich habe das noch nie getan.“ Sein leises Eingeständnis pausierte ihre Unterhaltung für wenige Sekunden, aber lange genug, dass sie beide sich erneut fangen und die Vergangenheit ruhen lassen konnten. „Wann hast du gemerkt, dass du Josten interessant findest“, fragte Jean und Andrew hob die Augenbraue. „Seit wann ist der Junkie für dich interessant?“ Nun war es an Jean, alleine durch seine Mimik zu zeigen, dass Andrew ihn nicht verarschen sollte. „War es bevor oder nachdem du ihn unter Drogen gesetzt hast?“, hakte er nach und erntete ein böses Lächeln dafür. Böse genug, dass Jean wusste, wie sehr er getroffen hatte. „Also vorher“, beantwortete er seine eigene Frage und grinste herausfordernd und nun war es Mordlust, die die hellbraunen Augen noch ein Stückchen heller werden ließen. „Jean, Valjean“, tadelte Andrew und schnalzte mit der Zunge, während er zu seinem kontrollierten Ich zurückkehrte. So hatte er Jean bei ihrem ersten Zusammentreffen genannt, während er ihm seine gerade geheilten Finger derart gequetscht hatte, dass Jean noch Tage später Schmerzen gehabt hatte. Von Minyard und von Riko, der ihn für Kevins Verrat bestraft hatte. „Gehen wir doch mal davon aus, dass das Thema du und dein Sonnenschein sind und nicht ich und der Junkie… was spricht für dich gegen ein nettes Stelldichein mit ihm?“ „Er kann mich dazu zwingen“, wiederholte Jean und atmete tief aus. „Aus welchen Gründen könnte er dich zwingen?“ „Er ist mein Kapitän.“ „Und weiter?“ Jean musste wirklich überlegen, ob es noch einen Grund dafür gab, doch ihm wollte so recht nichts einfallen. „Sonst gibt es keinen Grund.“ „Aus welchem Grund könnte er dich nicht zwingen?“ Stirnrunzelnd ließ er sich diese viel schwierigere Frage durch den Kopf gehen. „Er ist unschuldig. Also nicht in dem Sinn, sondern er weiß nicht, wie man sich schlägt. Er hat sich noch nie geprügelt und er verabscheut Gewalt. Seine Familie liebt ihn und er liebt sie. Seine großen Brüder ärgern ihn und er wird nicht wütend darüber.“ Andrew schauderte und würgte. „Das ist ekelhaft.“ Irritiert schnaufte Jean. „Warum?“ „Bilderbuchfamilien sind widerlich.“ Jean ließ das so stehen und dachte auf den Gründen herum, die ihn von Knox fernhalten würden. „Was mache ich denn, wenn er etwas möchte, was ich nicht möchte?“ „Dann sagst du nein. Du hast das Recht, nein zu sagen. Du hast das Recht, dich zu wehren.“ Es machte tatsächlich einen Unterschied, ob Jean es erlebte oder ob Andrew es ihm in all der klaren, disziplinierten Einfachheit noch einmal sagte. „Und was, wenn ich die Trojans dann verlassen muss? Ich möchte sie nicht verlassen, sie sind…gut zu mir.“ „Jean, Valjean, Teil der Gummibärenbande“, rollte Andrew mit den Augen und er zischte. „Das ist nicht das Thema.“ „Nein, das Thema ist, dass es so nicht läuft. Du wirst kein College wechseln, nur weil es eventuell nicht zwischen euch funktioniert. Du wirst nicht nach Evermore zurückgeschickt, wenn du nicht das willst, was dein Kapitän will. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass ihr euch trennt und euch aus dem Weg geht.“ „Ich mag seine Gegenwart.“ „Das ist kein Grund, nicht zu versuchen, ihm näher zu kommen.“ War es tatsächlich so einfach? Nähe zu versuchen? Nähe zu erhalten? Wenn Knox ebenso empfand, hieß das und das stand noch auf einem ganz anderen Blatt. Doch diese Frage würde er nicht Andrew stellen. Jean schnaufte. „Bist du glücklich mit Jostens Anwesenheit?“ „Er lebt noch“, erwiderte Andrew ohne Regung und Jean erkannte mit einem Mal ein Muster. Es war ihm vorher nicht bewusst gewesen, aber jetzt, wo es ihm klar geworden war, machte es Sinn. Für Menschen wie Andrew…und auch ihn. Menschen, deren Gefühle gegen sie verwendet worden waren und die missbraucht worden waren. Er hatte vergessen, was Liebe war und Andrew hatte sie nie erfahren, auch wenn die Familien, in denen er aufgewachsen war, immer ein Hort der Liebe gewesen sein sollten. Eigentlich. Anstelle dessen hatte er eine Perversion dessen erfahren und deswegen sollte Jean es nicht wundern, wenn Andrew jedem Gespräch auswich, das in diese Richtung ging. „Ich verstehe“, sagte er und nickte, ganz zu Andrews Unbill. „Schön für dich, Findelkind“, zischte er und Jean lachte amüsiert. Andrew musste das tun und Jean war mehr als bereit dazu, ihm diesen Freiraum zu geben. „Ich bin dir dankbar, dass du mich am Leben erhalten hast. Sowohl im Haus der Krankenschwester als auch danach. Und ich bin dir dankbar, dass du meine Fragen beantwortest“, sagte er offen und ließ diese Ehrlichkeit auch auf seinem Gesicht stehen. Dass der andere Junge damit ebenso wenig umgehen konnte wie mit der Wahrheit über sich und Josten, sah Jean und deswegen kommentierte er das nicht weiter. „War das alles?“, brummte Andrew und er nickte lediglich und wissend. „Ja, für den Anfang war es das. Ich komme dann später nochmal auf dich zu“, sagte er mit einer großen Portion Ironie und Überraschung kolorierte das sonst so ausdruckslose Gesicht. „Grüße den Junkie von mir.“ „Grüß ihn selber, du hast seine Nummer“, grollte er und Jean nickte. Das Gefühl, dass er es geschafft hatte, hinter Andrews Mauern zu kommen, war definitiv da und Jean spürte so etwas wie Zuneigung in sich, die immer noch anhielt, als der andere Junge schon längst aufgelegt hatte. ~~**~~ Jean hatte kein gutes Verhältnis zu Weihnachten. In Evermore hatte Riko Feiertage zum Anlass genommen, sich besonders an ihm auszutoben oder ihm pervertierte Geschenke zu machen. Von einem behüteten Weihnachten in Gegenwart seines Vaters und manchmal seiner Mutter war er in eine feindliche Umgebung gestoßen worden, die ihm jedes Vertrauen an diesen Feiertag genommen hatte. Diesen und viele andere. Jean war entschlossen, diese schlechten Erinnerungen dieses Jahr hinter sich zu lassen und das anzunehmen, was nun kommen würde. Die positive Form dessen, die er bei einer Familie verbringen würde, die sich liebte. So war zumindest die schöne Theorie gewesen, untermalt von kitschigem Weihnachtsschmuck und noch viel kitschigerer Weihnachtsmusik. Die fürchterliche Praxis sah aber ganz anders aus, wie Jean mit jeder Minute erkannte, die er im Haus seines Bruders und Vaters verbrachte. Kitschige Weihnachtsdekorationen, die in ihm Verachtung hervorriefen, suchte er hier vergebens. Der dezent geschmückte Baum in Rot und Gold überragte selbst ihn um gut einen Kopf und war dicht und ausladend. Es roch nach den Nadeln und überall waren Kerzen und Weihnachtsfiguren, die das ungemütliche Wetter draußen hinter den Fenstern fernhielten. Leise, ruhige Musik spielte im Hintergrund und lockte Jean mit ihrer Gemütlichkeit. Sein Blick fiel auf einen Weihnachtsmann und er schluckte schwer, als er den weißen, ein wenig in die Jahre gekommenen Rauschbart sah. Er erkannte diesen Weihnachtsmann. Jahrelang hatte er ihn begleitet. Jahrelang hatte Jean sich vorgestellt, dass so der richtige Weihnachtsmann aussah, mit roten Backen, einem fröhlichen Lächeln und einem langen, weißen Bart. Manchmal hatte er das Gefühl, dass diese Figur schon vor seiner Geburt dagewesen war. „Mon frère?“ Blinzelnd tauchte Jean aus seinen bittere Gedanken auf und sah auf Louis hinunter, der ihn mit großen Augen anstarrte. Jean las Sorge in ihnen und er räusperte sich. „Alles in Ordnung“, log er, um seinen Bruder nicht zu verschrecken und versuchte sich an einem Lächeln. Das war einfach, denn so wie Knox seinen fürchterlichen Tannenbaumpullover trug, trug Louis einen nicht minder schrecklichen Rentierpullover. „Nein, ist es nicht! Du trägst keinen Weihnachtspullover. Dann kann der Weihnachtsmann gar nicht sehen, wo er deine Geschenke hinbringen soll“, grimmte sein kleiner Bruder und Jean blinzelte. Einen Moment lang wusste er nicht, was er mit den Worten anfangen sollte, doch dann wurde ihm mit Schrecken bewusst, dass Louis vermutlich noch an den Weihnachtsmann glaubte. Herrje. Wie gut, dass die Geschenke in einer undurchsichtigen Tüte waren und sich außerhalb von Louis‘ Blickfeld im Auto befanden. Hilflos sah Jean zu Knox und von dort aus zu seinem Vater, der liebevoll schmunzelte und dann auf den Tisch deutete, der unweit von ihnen im Essbereich stand. Er hatte ihn ebenso weihnachtlich eingedeckt und Jean erkannte zwei Kuchen. Wer sollte das alles essen? „Papa hat sie selbst gebacken!“, grinste Louis stolz und Jean schluckte. Seit wann backte sein Vater? In Marseilles war das nie der Fall gewesen. „Ich habe es gelernt, nachdem wir hierhin gezogen sind und ich uns selbst versorgen musste“, erläuterte eben jener, als hätte er seine Gedanken gelesen und Jean schluckte die bitterbösen Worte hinunter, die ihm auf der Zunge lagen. „Jean hat für uns einen tollen Nachtisch gemacht“, holte ihn Knox beinahe schon mühelos von ihnen weg und das sanfte Lächeln auf dem Gesicht seines Vaters schmerzte Jean mehr, als er zuzugeben bereit war. „Ist das so?“ „Einmal“, gestand Jean widerwillig ein. „Was war es denn?“, fragte der ältere Mann und Jean sah ihm kurz in die Augen. Es fiel ihm wie immer schwer, über alltägliche Dinge mit seinem Vater zu kommunizieren. „Tiramisu.“ „Ich liebe Tiramisu!“, warf Louis begeistert ein. „Ich liebe Jeans Tiramisu“, warf Knox ein. „Das war sehr lecker!“ Zwinkernd schob sich der blonde Junge an seine Seite und Jean seufzte innerlich. Der Schnelligkeit nach zu urteilen, mit der die gefräßigen Bestien am Tisch den Nachtisch damals verschlungen hatten, hatte es geschmeckt, ja. Jean ging langsam zum Tisch und ließ sich vorsichtig auf einen der Stühle nieder. Knox saß ihm gegenüber, genauso wie sein Vater. Louis hatte sich den Platz neben ihm reserviert und strahlte glücklich. „Machst du das nächste Mal für mich auch ein Tiramisu?“, fragte er und Jean hob die Augenbraue. „Vielleicht“, erwiderte er mit einem minimalen Schmunzeln und spürte, wie die schlimmste Anspannung etwas wich, das Jean als Schüchternheit klassifizieren würde. Seit Jahren saß er zum ersten Mal mit seinem Vater an einem Tisch und sie aßen zusammen. So wie früher auch immer. Es war komisch, dieses Gefühl der Erinnerung, das so weit weg zu sein schien und ihm doch mit jeder Sekunde, die er hier verbrachte, in den Nacken atmete. Früher war das gemeinsame Essen so selbstverständlich gewesen, wie es nun eine Absurdität war und Jean war dem Chaos seiner Gefühle um diesen Umstand hilflos ausgeliefert. „Jean?“ Die zögerliche Stimme seines Bruders holte ihn genauso zurück in das Hier und Jetzt wie es der sorgenvolle Blick seines Kapitäns tat. Er nickte und versuchte sich an einem schmalen Lächeln. „Alles in Ordnung.“ „Wirklich? Deine Augen waren so weit weg.“ „Ich habe an früher gedacht, als ich so alt war wie du.“ Auch wenn Jean seine Augen fest auf Louis gerichtet hatte, so spürte er dennoch, wie sich der Blick seines Vaters in seine Seite bohrte. „Wie war es da?“ Jean erstarrte, sobald er sich des Sinns der Frage bewusst wurde. Was sollte er Louis sagen? Was konnte er ihm sagen, ohne dass seine Stimme brach oder Hass durchschien. Hass auf seine Familie, die ihn aus dieser behüteten Umgebung herausgerissen hatte. „Lou, sicherlich kann sich Jean gar nicht mehr an soviel erinnern. Es ist ja schon lange her“, kam ihm ausgerechnet ihr Vater zur Hilfe und wider besseren Wissens hielt Jean seinen Blick. „Es war nicht perfekt, aber wir haben jedes Weihnachten gefeiert. Mit leckerem Essen und auf der Couch, das riesige Wohnzimmer dunkel und weihnachtlich erleuchtet. Es war die Zeit der Ruhe und der Spiele, die Zeit des in den Kamin Starrens“, sagte er weniger für Louis, sondern nur für den Mann, der ihm gegenüber saß. „Ich habe es geliebt, ich habe mich geliebt gefühlt. Ich habe mich sicher gefühlt.“ Die kleine Kinderhand, die sich in seine schob, erschreckte Jean und abrupt verließ er die schmerzdurchfurchte Mimik seines Vaters und wandte sich seinem kleinen Bruder zu, der ihn mit einem glücklichen Lächeln anstrahlte. Louis zweite Hand bettete sich auf seine. „Aber jetzt bist du wieder hier und musst kein Weihnachten mehr in dem doofen Schloss bei den doofen Ravens verbringen!“, nickte er zuversichtlich und Jean schluckte. Was blieb ihm anderes übrig als zu dem zuzustimmen? „Nie wieder“, bestätigte er mehr sich selbst und Louis stimmte ihm begeistert zu. „Ich lass dich nicht mehr gehen, versprochen.“ Mit Horror merkte Jean, dass seine Augen feucht wurden. Er lächelte schmerzlich und löste eine seiner Hände aus dem festen Griff. Er streckte Louis den kleinen Finger entgegen und hoffte, dass der Junge die Geste bereits kannte. Er erkannte, dass er sich keine Sorgen darum machen musste. Begeistert hakte sich Lou mit seinem eigenen, kleinen Finger ein und drückte sie fest zusammen. „Versprochen?“ „Versprochen!“ Die Liebe auf dem Gesicht seines Vaters war ebenso fürchterlich wie die Süße des Kuchens, den Jean aus Ermangelung einer sonstigen Reaktionsmöglichkeit schließlich aß, nachdem sie beide ihre Finger wieder zu sich gezogen hatten. Knox schmeckte es, das sah er nur zu deutlich und Jean fragte sich, wo der andere Junge das dritte Stück ließ, dass er sich mit einem charmanten Lächeln auf den Teller lud. Jean hingegen kämpfte noch mit seinem ersten und dem dazugehörigen Kaffee, seine Kehle so eng wie schon lange nicht mehr. Hatte Jean gehofft, dass nach und nach Entspannung Einzug halten würde, so täuschte er sich. Der familiäre Zusammenhalt, die alltäglichen und unschuldigen Themen, die Louis ohne Unterlass mit ihnen teilte, die Antworten seines Vaters, all das gärte zu einer unguten Mischung aus Sehnsucht, Wut und Trauer, die sich wie eine ungute Mixtur in ihm zusammenbraute. Sie stand diametral der Zuneigung entgegen, die er für Louis empfand und den Erinnerungen, die ihm eine verklärte Version seiner eigenen Vergangenheit zeigten, in der alles gut war. Was es nicht gewesen war. So sehr er seinen Vater auch geliebt hatte, so traurig war er gewesen, wenn seine Mutter keine Zeit gehabt oder kalt und abweisend gewesen war. Jean räusperte sich und nutzte die Sprechpause seines kleinen Bruders, um sich zu erheben. „Ich muss…zur Toilette“, presste er die notdürftige Lüge hervor und ging nach oben. Er musste mitnichten, doch es zog ihn in die dringend benötigte Einsamkeit seines eigenen, vergangenen Zimmers. Wie schon beim letzten Mal auch erdete es ihn, wurzelte ihn in sich selbst, seiner eignen Vergangenheit und seinem Charakter. Das hier war er, es war ein Zeugnis. Er war jemand mit einer Vergangenheit, mochte sie auch noch so schmerzlich sein. Tief einatmend ließ sich Jean auf seinem Bett nieder und barg seinen Kopf in seinen Händen. Er wünschte sich wie nichts, dass er weiterhin so abweisend seinem Vater gegenüber sein konnte, aber alleine das gemeinsame Sitzen am Tisch, das Kuchenessen und das Gefühl vergangener Weihnachten hinterließen Sehnsucht in ihm. Törichte, dumme Sehnsucht, die ihm seine Zeit in Evermore zur Hölle gemacht hatte. Er hatte doch gelernt, dass eben diese Gefühle fürchterlich und schlimm waren, dass sie ihn angreifbar und verletzlich machten. Und nun, kaum, dass er Evermore entkommen war, waren sie wieder da und Jean hasste sich regelrecht für das nostalgische Aufwallen von Gefühlen und für die damit einhergehende Schwäche. Er hob den Blick und starrte aus dem Fenster in den wütend stürmenden Regen hinein, der sein Innerstes sehr perfekt wiederspiegelte. „Jean?“ Von all den Personen, die seinen Namen mit einer solchen Zärtlichkeit ausgesprochen hatten, war sein Vater nicht derjenige, den Jean hier oben erwartet hätte. Im ersten Moment unverständig starrte er ihm in die Augen und bemerkte mit Horror, wie offen seine Mimik sein musste. „Du warst lange weg, da dachte ich, dass ich mal nachschauen sollte, ob…“, begann er in ihrer beider Muttersprache und schluckte schwer. Stumm nahm Jean das zur Kenntnis und senkte den Blick auf seine Hände. Ihm fehlten die Worte, also schwieg er und sein Vater setzte sich auf die andere Ecke des Bettes, möglichst weit von ihm entfernt und doch nah genug, dass Jean das Aftershave riechen konnte, welches er immer trug. „Ich freue mich sehr, dass du hier bist“, sagte er ältere Mann schlicht und Jean brachte noch nicht einmal die Kraft auf, den Worten mit verletzendem Spott zu begegnen. „Es ist schrecklich, hier zu sein“, erwiderte er anstelle dessen mit zugeschnürter Kehle und musste nicht hinsehen, um die Trauer seines Vaters zu erkennen. „Das tut mir leid“, wisperte er und Jean schloss die Augen. Da waren noch weitere Worte, die unter der Oberfläche seiner Selbstbeherrschung darauf warteten, hinausgelassen zu werden. „Es ist fürchterlich, weil es so wie früher ist“, presste er hervor. „Weil von jetzt auf gleich etwas Schönes zu etwas Pervertiertem gemacht wurde. Weil Riko es dazu gemacht hat. Er und der…Trainer.“ Alleine die Wucht des Ausgesprochenen trieb Jean die Tränen in die Augen und dieses Mal schämte er sich nicht für sie oder versuchte sie zu verstecken. Ein erstickter Laut verließ die Kehle seines Vaters. „Mein Junge“, wisperte er. „Mein armer Junge.“ Die Worte schnürten Jean die Kehle zu. Das Weinen seines Vaters tat es. Ob die Tränen, die über seine Wangen liefen, gut und erlösend waren, wusste er nicht, aber aufhalten konnte er sie auch nicht mehr, dafür war es zu spät. „Er hat mir jedes Jahr Gewalt geschenkt. Schmerzen. Narben. Solange, bis dieser Tag und die Erinnerungen daran an Bedeutung verloren haben, weil es nichts Gutes mehr an ihm gab.“ „Aber jetzt ist das Monster tot“, sagte der Mann, der ihn in diese Hölle gebracht hatte, und Jean bewegte diesen Satz in seinen Gedanken. Ja, Riko war tot. Er würde nie wieder zurückkehren und ihm wehtun. Aber das Echo seiner Taten war durchaus noch in der Lage, das zu tun und das würde Jean sein Leben lang begleiten. Immer und immer wieder. „Ich kann nicht wieder gut machen, was ich dir angetan habe, mein Junge. Ich kann nur versuchen, deine Zukunft zu einem besseren Ort zu machen, wenn du mir das erlaubst.“ Jean brachte den Mut auf, seinen Vater anzusehen und die Trauer auf dem zerfurchten Gesicht überwältigte ihn ohne jedwede Vorwarnung. „Ich bin nicht dein Junge“, sagte Jean, um sich zu schützen, doch noch während er die Worte aussprach, erkannte er, wie wenig sein Innerstes selbst an sie glaubte. Wunderte es ihn da, dass der andere Mann ihm widersprach? „Doch, Jean, du wirst immer mein Junge bleiben. Ich habe dich gezeugt, ich war bei deiner Geburt dabei. Ich habe dich großgezogen. Dein erstes Wort war Papa und ich habe deine ersten Schritte begleitet. Ich habe zusammen mit dir deine ersten Buchstaben und Sätze geschrieben und ich habe mit dir dein erstes Buch gelesen. Du wirst immer mein Junge bleiben, aber wenn du nicht möchtest, dass ich dich so nenne, dann respektiere ich das.“ Die Frage, ob er das wirklich wollte, konnte Jean nicht gänzlich beantworten. Mein Junge… diesen beiden Worte ließen ihn sich wieder klein und jung fühlen. Sie zogen ihn zurück in dieses Zimmer und damit in ein Leben, das so weit weg schien. Riko hatte versucht, sein altes Leben auszulöschen und so war er nach Los Angeles gekommen. Als ein Wesen, das nichts mehr hatte, sich als Besitz betitelte und nichts mehr als seinen eigenen Tod wollte. Jeremy hatte ihm sein Leben wiedergegeben, er hatte ihn defibrilliert und nun war Jean sich nicht sicher, ob er ein Leben ohne Vergangenheit führen wollte. Ohne Wurzeln. Dank Knox‘ Gegenwart wurde er ein Stück zu dem Menschen, der er früher gewesen war. Dem buchliebenden, vertrauensseligen Jungen. „Ich habe nichts dagegen“, sagte er, bevor die hasserfüllte, missbrauchte Seite in ihm verneinen konnte, was ihm irgendwie gut tat. Dass die Worte dennoch wie ein Fluch seine Lippen passierten, war ein Testament an eben jene, andere Seite. „Mein Junge, mein erwachsener Junge“, flüsterte sein Vater und Jean hörte das Lächeln in der rauen Stimme. Er brachte das Gegenstück nicht über die Lippen, noch nicht, wie er mit Schrecken feststellte. Der Gedanke daran war aber bereits da, als leises Wispern, beinahe unhörbar im Chaos seiner Gefühle. „Ich hoffe, deine künftigen Weihnachten werden so, wie du es dir wünschst. Mit den Menschen, die du liebst.“ Jean riskierte einen kurzen Blick auf seinen Vater und sah dort das Wissen um Knox. Er öffnete die Lippen um etwas zu sagen, doch der andere Mann kam ihm zuvor. „Er ist ein guter Junge. Die Liebe, mit der er dich ansieht, ist klar erkennbar, ebenso wie die Sorgen, die er sich um dich macht.“ Mit großen Augen starrte Jean seinen Vater an. „Wir sind kein Paar“, erwiderte er und überraschte weiteten sich die Augen des älteren Mannes. „Nicht?“ Jean schüttelte den Kopf. „Er ist mein Kapitän. Wir sind…Freunde.“ Wie seltsam es doch war, dieses Wort auszusprechen. Wie unzureichend für das, was er selbst glaubte zu fühlen. Peinlich berührte Stille trat zwischen sie und Jean sah auf seine Hände. „Möchtest du mehr?“, fragte François vorsichtig und Jean runzelte die Stirn. „Mehr was?“ „Mehr von ihm, von Jeremy.“ „Ich… ich weiß gar nicht, ob er das auch möchte.“ Sein Vater schenkte ihm ein sanftes und liebevolles Lächeln. „Vielleicht solltest du ihn mal danach fragen.“ Vielleicht. Wenn Jean den Mut dazu aufbrachte. Irgendwann. „Ich habe ein Geschenk für Louis dabei. Aber…er glaubt noch an den Weihnachtsmann, oder?“ „Ja, noch kann ich ihn davon überzeugen, dass die Geschenke nicht gekauft werden, aber er wird bereits misstrauischer.“ Jean schnaubte. Er hatte mit acht aufgehört, an den Weihnachtsmann zu glauben, eben weil er misstrauisch gewesen war. „Ich habe auch ein Geschenk für dich“, sagte sein Vater und Jean zuckte zusammen. „Wenn du es haben möchtest, heißt das.“ Unsicher musterte Jean sein Gegenüber. „Ich habe nichts für dich“, sagte er und sein Vater schüttelte den Kopf. „Du bist hier. Du sprichst mit mir. Das ist das schönste Geschenk, das du mir machen kannst.“ Unsicher schwieg Jean, weil die Emotionen, die dieser einfache Satz in ihm auslöste, mehr als undefinierbar waren. ~~**~~ Mit einem erleichterten Ächzen ließ Jeremy seine Tasche auf sein Bett fallen und atmete tief durch. Es war drei Uhr nachts und sie waren soeben zuhause angekommen. Er fühlte sich rundherum wohl, auch wenn die Fahrerei hierhin anstrengend gewesen war. Die Fahrt war gefüllt gewesen mit allen möglichen Themen, so auch der Kuss von Mark. Jean hatte sich die Nummer abgewaschen ohne sie aufzuschreiben und Jeremy war unanständig froh darüber. Er wollte nichts von dem Jungen, der ihn angebaggert hatte und auch darum war Jeremy froh gewesen, auch wenn er den kritisch-prüfenden Seitenblick seines Beifahrers nicht wirklich hatte deuten können. Sie hatten außerdem über vieles Anderes gesprochen, aber nicht über das Gespräch mit seinem Vater oder über das kommende Spiel gegen die Ravens. Auch das war ein Thema, das sie beide mieden. Jeremys schlechtes Gewissen machte ihm deutlich, dass das, was er nicht tat – eben mit Jean darüber zu sprechen – nicht akzeptabel war. So gar nicht. Nach Silvester wäre es höchste Zeit, dass er die schlechten Nachrichten vorsichtig überbrachte. Jean hatte ihn in den ruhigen Stunden der Fahrt dabei immer wieder aus dem Augenwinkel gemustert, egal, ob er der Beifahrer oder Fahrer gewesen war. Auf den Versuch, das anzusprechen, hatte er ausweichend reagiert und so war Jeremy nicht weiter darauf eingegangen, sondern hatte die manchmal entstehenden Lücken unter anderem mit den Weihnachtsregeln gefüllt, die es im Hause Knox gab. Die Bescherung fand im Pyjama statt – in Jeans Fall war jedoch eine Jogginghose, ein Hoodie und dicke Socken auch vollkommen in Ordnung, Hauptsache es war gemütlich. Streiten war an Weihnachten streng verboten – das waren Tage der Harmonie und meist hielten sie sich auch alle daran, es sei denn, es ging ums abendliche Fernsehprogramm. Je nach Wetter war Grog ein Muss, alternativ auch Alkohol mir Rum – in Jeans Fall war kein Alkohol aber auch möglich. Kinderpunsch gab es für die Zwillinge sowieso. Niemand durfte sich über zuviel Essen beschweren und das galt auch für Jean, egal, wieviel er brummte und wie missgelaunt sich seine Lippen verzogen. Nach ihrer Ankunft hatten sie sich leise in das Haus gestohlen und waren ekstatisch durch Esma, Oscar und Anu begrüßt worden. Barnie folgte ihnen, weitaus schüchterner als die Drei, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, wo er Jean wiedererkannte und den größeren Jungen nicht aus seinen treuen, schwarzen Augen ließ, während er um Aufmerksamkeit und Streicheleinheiten bettelte. Unter felligen Protesten hatten sie sich nach oben begeben um ihre Taschen loszuwerden. Jeremy sah auf, als Jean in der Tür erschien und sich auch wie beim letzten Besuch schon außerhalb des Zimmer an den Rahmen lehnte, peinlich darauf bedacht, das Zimmer nicht zu betreten. Jeremy hatte nicht gefragt warum, ahnte aber, dass es vielleicht mit seinem verstorbenen Kapitän zusammenhing. „Hey“, sagte Jeremy eingedenk seiner bereits schlafenden Familie leise und Jean neigte seinen Kopf. „Hey“, gab er zurück und ließ seinen Blick über das chaotische und liebevolle Chaos schweifen, das Jeremys Zimmer darstellte. Das bunte und vollgestopfte Zimmer, das vor Highschoolerinnerungen und Wettbewerbspreisen jedweder Art nur so strotzte. Vielsagend hob er die Augenbraue. „Sieht wie in Los Angeles aus“, kam das harte Urteil über Jeremy und er schnaubte. „Ich bin eben ein sehr beständiger Mensch, was meine Inneneinrichtung angeht.“ Jean nickte vielsagend. „So nennt man das“, erwiderte er gedehnt und Jeremy verschränkte schmollend die Arme. „Jetzt sag bloß, dass du dich in unserem Apartment nicht wohl fühlst.“ Jean öffnete die Lippen um etwas zu sagen und überlegte es sich dann doch anders. Lieber deutete er voller Abneigung auf das riesige Kevin Day-Poster, das über Jeremys Bett an der Schräge hing. „Das ist schlechter Geschmack“, beschwerte er sich und Jeremy grinste herausfordernd. „Soll ich dich daneben hängen?“, fragte er todesmutig und labte sich an dem sturmgeweihten Blick aus grauen Augen. „Das würde von noch viel schlechterem Geschmack zeugen“, grollte Jean und Jeremy lachte leise. Vielsagend hob er die Augenbrauen und deutete auf den Flur. „Wollen wir noch nach unten und uns ein bisschen auf die Couch setzen?“, fragte er und Jean nickte. „Gerne.“ Gemeinsam schlichen sie sich nach unten und Jeremy füllte ihnen beiden etwas Limonade in zwei Gläser, während Jean es sich bereits auf der Couch gemütlich machte. Einen Moment gönnte Jeremy es sich, den Backliner aus der Küche heraus zu beobachten und den Frieden zu genießen, den die Einheit aus nur durch den Weihnachtsbaum erleuchtetem Wohnzimmer, zufriedenen Hunden und ebenso ruhigem Franzosen bildete. Jean passte in dieses Zimmer, er passte hierhin und es gefiel ihm hier, zumindest glaubte Jeremy das zu sehen. Langsam kam er zu Jean, der, so erkannte Jeremy es jetzt, mit Barns auf der Couch saß. Der große, schwarze Hund lag auf dem Rücken und hatte seinen Kopf auf Jeans Oberschenkel gelegt. Jean kraulte ihn und sah nun hoch, als Jeremy ihm sein Glas hinhielt. Dankbar nahm er es entgegen und Jeremy ließ sich ebenfalls auf der Couch nieder. Er warf einen Blick auf den Weihnachtsbaum mit seinen weißen und silbernen Kugeln. Tief atmete er durch und schloss einen Moment lang die Augen. Er liebte Weihnachten. Er liebte alles daran. Die Zeit, die er mit seiner Familie verbringen durfte, die Gerüche in ihrem Haus, der immer zu große Weihnachtsbaum, der das halbe Wohnzimmer blockierte, der Schmuck des Monstrums, das Essen, was sie gemeinsam kochten. Alles. Er liebte es, dass sie den Morgen des 25. zusammen in Pyjamas verbrachten und so Bescherung machten. Er liebte die Ruhe und Harmonie, die zwischen ihnen herrschte und die Gesellschaft seiner Eltern und Geschwister. Und dieses Jahr liebte er noch eine Sache mehr an Weihnachten: dass Jean mit ihm gekommen war und diese hochheiligen Tage mit ihm verbrachte. Ja, er liebte es auch jetzt, obwohl er die letzten Tage nicht in Weihnachtsstimmung gewesen war wegen allem, was mit Allan geschehen war. Jeremy öffnete seine Augen und sah, wie Jean gedankenverloren Barns anstarrte, sein Gesicht ein Spiegel an Traurigkeit. Unwirsch schürzte der blonde Junge die Lippen und legte den Kopf schief. Er konnte sich denken, welche Gedanken Jean beschäftigten und er fühlte sich hilflos im Angesicht des Schweigens und der Trauer. Langsam stellte Jeremy sein Glas ab und legte sich auf den Rücken. Umständlich robbte er sich an Jean heran und starrte ihm überkopf in das überraschte Gesicht. Eine Augenbraue hob sich fragend und Jeremy imitierte problemlos Barnies Pose inklusive erhobener Vorderpfoten. Dass sich die zweite Augenbraue ebenfalls erhob, überraschte ihn da nicht wirklich. „Wuff?“, probierte er es probeweise und Jeans Augen fragten ihn ganz deutlich, wenngleich auch vollkommen nonverbal, was in ihn gefahren sei, und Jeremy winselte zu Barnies Verwirrung leise. „Ich kraule dir nicht den Bauch“, sagte der Backliner warnend und Jeremy verzog den Mund. „Du gemeiner Fiesling.“ „Das ist nichts Neues.“ Jeremy zog einen Flunsch und ließ die Hände sinken. Er blieb jedoch so liegen und lächelte nach ein paar Momenten versöhnlich. „Jean?“ „Hm?“ „Wie stellst du dir eigentlich die Zukunft nach dem College vor?“ Dass seine auch für ihn unerwartete Frage nicht das war, was der Jean erwartet hatte, sah Jeremy ebenso sehr wie die Tatsache, dass Jean sich darüber noch keine wirklichen Gedanken gemacht hatte. Es ließ ihn schlucken und mit den Gedanken zu Jeans Selbstmordversuch zurückkehren. Für lange Zeit hatte es keine Zukunft für den anderen Jungen gegeben, das war nun anders. „Ich werde Exy spielen“, sagte Jean und das war wenig überraschend. „Wo?“, fragte Jeremy und Jean zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, wo. Ich kenne nicht so viele Städte.“ „Etwas, das wir ändern müssen.“ „Wir müssen trainieren.“ „Wir werden nach Abschluss des Semesters Ferien haben. Du erinnerst dich?“ Jean grollte. „Ich möchte mit dir in einer Mannschaft spielen“, sagte Jeremy abrupt und Jean runzelte die Stirn. „Warum solltest du das wollen?“, fragte er kritisch und plötzlich unsicher verharrte Jeremy. Was, wenn Jean das gar nicht wollte, was er hier so impulsiv in den Raum geblasen hatte? „Weil ich nicht gegen dich spielen möchte“, sagte er das, was ihm als Erstes in den Sinn kam, das er herausposaunen konnte. Die anderen Gründe, warum er in Jeans Nähe sein wollte, waren nichts für hier und jetzt. „Hast du Angst?“ „Vor dir auf dem Spielfeld? Immer! Fehlt nur noch, dass du mit Theodora und Kevin mir gegenüberstehst, am Besten mit Andrew im Tor.“ Jean und Jeremy schauderten unisono bei dem Gedanken daran. „Nein danke“, sagten sie gleichzeitig und der blonde Junge grinste und hob die Hand zu einem High Five. Schnaufend schlug Jean ein und verharrte noch einen Moment lang, nachdem Jeremy seine Hand schon wieder zu sich gezogen hatte. „Ich würde gerne mit dir in einer Mannschaft spielen“, sagte er schließlich. „Jemand muss ja deine Fehler ausbügeln.“ Empört schnappte Jeremy nach Luft, auch wenn das mitnichten die sich in ihm ausbreitende Wärme dämpfen konnte. Jean wollte auch mit ihm in einer Mannschaft spielen? Das war…Jeremy hatte keine Worte dafür. Nicht im Moment. „Ey!“ Vielsagend musterte Jean ihn und Jeremy zuckte erschrocken zusammen, als ein fünf-Kilo-Gewicht auf seinem Bauch landete. „Gargamel!“, fluchte er den schnurrenden Kater an, der sich nach Aufmerksamkeit und Zuneigung heischend an seinem Gesicht rieb und ihm schließlich seinen Hintern in selbiges drückte, weil er entdeckt hatte, dass Jean auch da war. Moppernd schob Jeremy den Hintern des rothaarigen Fluffs aus seiner Nase. „Los, geh zur Liebe deines Katerlebens, du oller Verräter, du!“, grimmte er und sah zu, wie dieser sich in Jeans Schoß platzierte. Und nein, er war nicht neidisch auf Gargamels Position. Nein. Ebenso wenig wie auf die andere Hand des Backliners, die ihn sanft kraulte. ~~**~~ „Jer, jetzt komm endlich! Trödel nicht rum!“ „Ruhe, ich mache mir nur noch eben einen Kaffee!“ „Beeilung oder ich mach deine Geschenke gleich für dich auf!“ „Wag dich, Charlie!“ „Was bekomme ich, wenn nicht?“ „Ich vergrabe dich nicht auf der Kuhweide, wie wäre es?“ Jean lauschte dem lebhaften und lauten Familienstreit im Hause Knox und umfasste seine eigene Tasse mit Kaffee fester. Natürlich würde sie ihm niemand hier wegnehmen, aber man musste schließlich sichergehen. Er saß in Jogginghose und Renees Hoodie auf dem Boden in der Nähe des Baumes und hatte auf dem Weg dorthin alle Mistelzweige, die in diesem Haus hingen, weitläufig gemieden. Um ihn herum tobte und lachte die ganze Familie, die er seit heute Morgen schweigend beobachtete und im Stillen die Unterschiede zwischen ihnen und seiner eigenen Familie aufzählte. Zu einem schlüssigen Ergebnis kam er nicht, aber er genoss die Zeit hier. Der Gedanke an die Weihnachten, die er in den Klauen Evermores verbracht hatte, hatte ihm in der kurzen Nacht keinen Schlaf gegönnt und entsprechend müde war er auch. Die Geister der Vergangenheit hatten ihm keine Ruhe gelassen und nur Barnies ruhiges Schnarchen und Gargamels Schnurren hatten die Erinnerungen an Rikos Gewalttaten schließlich abgemildert. Und nun war er hier, in einem Raum mit Fenstern. Er sah und hörte den Regen, der von draußen an die Scheiben klatschte. Er roch das Feuerholz im Kamin, das dem Raum eine Wärme und Gemütlichkeit gab, die Jean zu schätzen wusste. Er war in einem privaten Haus in Anwesenheit einer Familie, die nichts Böses kannte und deren einzige Gemeinheiten an diesem Tag anscheinend darin bestanden, die sorgsam gestapelten und geordneten Geschenke durcheinander zu bringen. Jean stellte fest, dass er lebte und dass er gerne lebte. Knox ließ sich neben ihn fallen und strahlte ihn an, in seinen Augen die Liebe, die seine ganze Familie ausstrahlte. „Alles gut?“, fragte der blonde Junge. „Alles gut“, bestätigte Jean und meinte es aus vollstem Herzen. Gut, vielleicht war er ein wenig aufgeregt, ob den Anwesenden oder auch – im Fall von Ajeet, Val, Alvarez, Laila und Fahima – den Nichtanwesenden seine Geschenke gefielen, aber ansonsten war alles in Ordnung. „So meine Damen und Herren gierigen Pubertiere und diejenige, die meinen, dieser schon entwachsen zu sein“, holte Mr. Knox ihn aus seinen Gedanken und Jean widmete dem älteren Mann seine volle Aufmerksamkeit. „Es ist Zeit für die Bescherung!“ Den aufkommenden Jubel wartete er ab und hob dann eine Hand. „Bevor ihr euch wie die Geier auf eure Geschenke stürzt… Jean.“ Jeremys Vater wandte sich ihm zu und Jean musterte ihn vorsichtig. „Ja?“ „Dein Geschenkestapel ist der Blaue in der Mitte. Jer meinte, dass Dunkelblau deine Lieblingsfarbe sei. Für seltsame Geschenke unserer Brut übernehmen wir keine Gewähr, Beschwerden sind an die jeweiligen Schenkenden zu richten.“ Jean schluckte schwer. Geschenke waren das Letzte, mit dem er gerechnet hatte und vor allen Dingen nicht so viele. Auf den ersten Blick schien es, als hätte jedes Familienmitglied ihm etwas geschenkt und das verunsicherte ihn mehr, als dass er zuzugeben bereit war. Es wog beinahe noch schwerer als das noch unausgepackte Geschenk seines Vaters, das in seiner Tasche ruhte und das er nicht zu öffnen wagte. „Es geht reihum, einer nach dem anderen macht seine Geschenke auf. Möchtest du anfangen?“ Auch wenn der Ton des Mannes nicht so streng wie sonst war, war er doch ein wenig zuviel für Jean. Das Angebot war zuviel für ihn, denn er wusste nicht mehr, wie man richtig auf Geschenke reagierte. Stumm schüttelte er den Kopf. „Nein, ich würde gerne erst den Anderen den Vortritt lassen…wenn es recht ist“, sagte er vorsichtig und wider Erwarten war das kein Problem. Mr. Knox nickte verständnisvoll. „Alles klar, ich fang‘ an!“, krähte Charlie und Tyler schnaubte. „Nichts ist, ich bin dran.“ „Gar nicht wahr, du warst letztes Jahr schon dran“, mischte sich Mia ein und sein Kapitän nutzte den Streit seiner Geschwister um zum Weihnachtsbaum zu krabbeln. Während er versuchte, nach einem seiner Geschenke zu greifen, würde er unter überraschten und lauten Protesten von Jamie zurückgezogen, der sich ohne viel Federlesens auf ihn draufsetzte um ihn anscheinend daran zu hindern, die Finger an seine Präsente zu legen. Jean hob die Augenbraue und sah von den Beiden recht hilflos zu dem Rest dieser chaotischen, lärmenden Familie. Das war nicht das Weihnachten, das er kannte, und vielleicht war es deswegen auch so einfach, es nach all den Jahren und all der Gewalt wieder als etwas zu akzeptieren, das ihm keine Schmerzen bereitete und es beim Namen zu nennen. Es war Mrs. Knox, die schließlich ein Machtwort sprach und Charlie als diejenige bestimmte, die anfangen durfte, ganz zur Entrüstung ihrer anderen Kinder. Sie blieb taub auf dem Beschwerdeohr und brachte so die Bescherung in geordnete Bahnen. Sie gaben Jean genug Raum, dass er ihnen allen zuschauen konnte, wie sie ihre Geschenke öffneten und wie sie ihre Dankbarkeit zeigten, bevor er das erste eigene Geschenk in den Händen hielt. Es war etwas Großes und Dünnes. Unsicher sah er hoch und Mrs. Knox lächelte ihm versichernd entgegen. „Das kommt von mir“, erläuterte sie und Jean fragte stumm um Erlaubnis, ob er es öffnen durfte. Sie nickte stumm und Jean schälte vorsichtig das dunkelblaue Geschenkpapier mit den Weihnachtsmännern von dem Kalender, wie er nun erkannte. Ein Kalender mit Bildern von Barnie, dem roten Fluff und den Tieren der Farm. „Dankesehr. Er ist wunderschön“, sagte Jean staunend und auch zum großen Teil überwältigt und Mrs. Knox strahlte ihn an. „Freut mich, dass er dir gefällt, Jean!“ Es gefiel ihm nicht nur, sondern er war erstaunt und berührt davon, dass sie sich überhaupt die Mühe gegeben hatte, etwas für ihn zu basteln. Für ihn, also jemanden, den sie erst zum zweiten Mal in ihrem Leben gesehen hatte. Nicht, dass er sich dafür nicht erkenntlich zeigte, denn sie liebte die Frank Sinatra Schallplatte, die er ihr auf Anraten seines Kapitäns gekauft hatte. „Vielen Dank dir, ich liebe Sinatra!“, sagte sie und drückte seine Hand so sanft, dass Jean es beinahe nicht spürte. Mia und Charlie waren da stürmischer und entgegen Knox‘ wütendem Grollen umarmten sie ihn stürmisch, als sie ihre Geschenke ausgepackt hatten. Bei ihnen hatte er sich für Notizbücher entschieden. Eines in Türkis für Mia, eines in Rot für Charlie, dazu ihre Lieblingsschokolade, nach der er Knox hatte fragen müssen. Ihr Geschenk an ihn brachte ihn fast zum Lachen. Es war ein selbstgemachtes Buch über seinen Mitbewohner, mit Kinderfotos und Details von ihm auf jeder Seite, verziert mit Doodles und Comics. „Ihr…ihr…“, presste Jeremy an seiner Seite entrüstet mit hochrotem Kopf hervor und nonchalant zuckten die beiden Mädchen mit ihren Schultern. „Was? Das ist nichts Ultrageheimes!“, sagte Charlie grinsend und Jean strich über den liebevoll gestalteten Ledereinband in rot und gelb. Von seiner Brust breitete sich wohltuende Wärme aus und erreichte auch seine stetige Anspannung, die in diesem Augenblick weg war. Wie es schien, hatte er auch für die restlichen Familienmitglieder die richtigen Geschenke ausgesucht. Die abstrakte Holzskulptur, die er für Jeremys Vater ausgesucht hatte, fand den Gefallen des älteren Mannes. Tyler freute sich über den schottischen Whisky und Jamie über den dicken Bildband über London. Nach und nach packte er selbst auch die restlichen Geschenke der Familie aus. Einen digitalen Bilderrahmen von Mr. Knox, einen Exites-Gutschein, der viel zu teuer war, von Tyler und Jamie. Knox‘ Geschenk hielt er in den Händen und fragend sah er zu seinem Kapitän, der mit einem aufgeregten Lächeln zwischen ihm und der flachen, länglichen Schachtel hin- und hersah. Vorsichtig löste Jean den Deckel und sah auf eine Korkkarte in Din A3-Größe in der Form der USA, in der die einzelnen Bundesländer samt Hauptstädten aufgemalt waren. Vorsichtig holte er sie aus der Packung, ebenso wie die Pinnadeln in dunklem Blau. Unter der Karte lag ein Umschlag und Jean öffnete ihn vorsichtig. Es war eine Postkarte aus Papier von Los Angeles und auf der Rückseite stand Startpunkt von Jeans und Jeremys Road Trip. Fragend sah Jean zu seinem Kapitän, der verlegen grinste und sich über den Nacken rieb. „Also das ist Geschenk für den Fall, dass du es überhaupt möchtest. Du hast ja noch so wenig von unserem Land gesehen und da dachte ich, ich schenke dir einen Roadtrip mit mir zusammen durch die Staaten; du sagst, wo du hinmöchtest und ich fahre dich dahin. Also falls du das überhaupt möchtest. Den Trip. Oder mit mir. Ich meine, vielleicht möchtest du ja auch mit jemand anderem fahren, mit Renee oder Fahima oder so oder auch gar nicht, aber…“ „Es ist ein schönes Geschenk und ich würde gerne mit dir durch dieses Land fahren“, unterbrach Jean das unsichere Gebrabbel und sah die Freude, die er dem anderen Jungen damit bereitete. Sie ließ ihn ebenfalls lächeln und er senkte den Blick auf die Karte. Zart strich er mit seinen Fingern über den unebenen Kork und die Bundesländer, von denen ihm viele nichts sagten. Das warme Gefühl wurde zu einem Kribbeln und Jean schnaufte. Mit unwirsch verzogenen Lippen deutete er auf die Geschenke, die er für Knox hatte. „Du musst auch noch welche auspacken“, murrte er und begeistert haschte Knox nach den beiden Geschenkboxen. „Welches zuerst?“, fragte er und Jean hob die Augenbraue. Er deutete auf das kleinere von beiden und Knox raffte es an sich. Ehrfürchtig packte er es aus und brach in einem begeisterten Grinsen aus, als er neue Sandalen aus der Box zog. Es war die gleiche Marke, die Knox auch jetzt trug, nur in weniger unfallanfällig, da neu und nicht ausgelatscht. „Bist du es leid, mein Herumstolpern mit anzusehen?“, grinste Knox und Jean hob bedeutungsschwanger seine Augenbraue. Grinsend zog sein Kapitän das andere Geschenk aus der Schachtel hervor und brach in schallendes Gelächter aus, während er den weinroten Hoodie mit gelber Schrift emporhielt, auf dessen Rücken über einer großen Eins Kapitän Sunshine stand. Auf der Vorderseite befand sich auf der Herzseite das Symbol der Trojans. Jean hatte auch bei anderen schon solche Pullover gesehen, trotzdem war er sich unsicher gewesen, ob Knox sich wirklich darüber freuen würde. Die Unsicherheit verflog abrupt, als der andere Junge sich ohne zu zögern den Hoodie über den Kopf streifte und mit der Bezeichnung um die Wette strahlte. „Der ist wunderbar, Jean, und so weich! Ich liebe ihn!“ Unmerklich nickte er und deutete auf die zweite Schachtel. „Da ist noch etwas“, murmelte er verlegen und Knox nahm sie auf. Er öffnete diese weitaus weniger vorsichtig als vorher und seine Augen weiteten sich. „Oh Gott“, stöhnte er auf und hielt das Puzzle hoch, ganz zum Gelächter seiner Familie. „Du hasst mich, oder?“ Das war sicherlich nicht der Grund, aus dem Jean dem anderen Jungen das durchsichtige Acrylpuzzle gekauft hatte, dessen Teile alle individuell gefräst worden waren. Fünfhundert Teile und keines davon gleich, nach Aussage des Verkäufers ein Schwierigkeitsgrad für Fortgeschrittene. Der Name des Puzzles war „Der Unfall“. Perfekt für seinen Kapitän. „Wehe, du hilfst mir nicht mit!“, grollte eben jener spielerisch und Jean wusste, dass das keine Drohung war. Noch vor Monaten hatte er nicht so gedacht und das war mit Abstand das größte Geschenk, das er an diesem Feiertag erhielt. Das Wissen um die Unversehrtheit, die er von Jeremy Knox, Kapitän der Trojans, erwarten konnte. Mit jeder Faser seines Seins. ~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 56: Das Schloss im Wald ------------------------------- Seit sie die Schneefallgrenze passiert hatten, war Jean damit beschäftigt gewesen, aus dem Fenster zu starren und den Anblick der schneebedeckten Berge in sich aufzusaugen. Die hohen, gezuckerten Spitzen mit ihren zerklüfteten Schluchten. Die wilde, unberührte Natur. Hier war alles weiß, auch die Straßen und Jean staunte über die Landschaft, die so verändert war zu dem, was er bisher gesehen hatte. Es war nicht so, dass er in West Virginia nicht auch Schnee gesehen hatte, als sie zu Spielen gefahren worden waren. Aber niemals hatte Riko ihm erlaubt, sich von der Landschaft so ablenken zu lassen wie es nun möglich war. Niemals hatte Riko ihm erlaubt, tief in den Schnee zu gehen. Über den schmutzigen, braunen Schlamm, der auf den Straßen lag und ein Abklatsch dessen war, was Schnee eigentlich bedeutete, ja. Selbst in Marseille hatte es nie Schnee gegeben und seine Eltern waren mit ihm auch nicht Ski gefahren. Hypnotisch war sie, die Landschaft, und Jean spürte ein aufgeregtes Kribbeln in seiner Magengegend, was vielleicht auch von dem zu vielen Essen stammen konnte, das Familie Knox aufgetischt hatte. Der Kofferraum war voll mit ihren Taschen und Geschenken sowie dem Essen, das Mrs. und Mr. Knox ihnen mitgegeben hatten. Für die kommenden Tage im Kreis ihres Teams in einem riesigen Haus mitten im Nirgendwo. Natürlich war der Gedanke daran, dass die Einsamkeit des Hauses dafür genutzt werden könnte, ihm wehzutun, da gewesen, doch Brian hatte die Antwort darauf zusammen mit ihm schon erarbeitet. Spieler um Spieler waren sie durchgegangen und hatten die Charakterzüge der Jungen und Mädchen erörtert. Jean war schließlich selbst zu dem Schluss gekommen, dass keine Gefahr von den Trojans ausgehen würde und er war immer noch erstaunt, wie schnell und vor allen Dingen wie nachhaltig er das begriffen hatte. Knox bog vom Highway ab und brachte sie tiefer in die Berge hinein, die sich nun nicht mehr vor ihnen auftürmten, sondern sie mit dicht bewaldeten Hängen verschluckten und nicht mehr loszulassen schienen. Die Straßen wurden enger und nebliger, was Jean staunend mitverfolgte. Er wusste nicht, dass Schnee und Nebel einhergingen und es war ein faszinierendes Naturschauspiel. Wie eine andere Welt, in die sie eintauchten und die sie verschluckte. Eine der Feenwelten, an die er früher geglaubt hatte. „Ich finde es wunderschön hier“, merkte Knox leise an und Jean nickte stumm. Dem konnte er nur zustimmen und ein Blick auf seinen Kapitän sagte ihm, dass es ihm wohl deutlich auf dem Gesicht geschrieben stehen musste. „Noch ungefähr zwanzig Minuten, dann sind wir da“, sagte der blonde Junge und Jean seufzte. Ein großes Ferienhaus, sein gesamtes Team, viel Essen, viel Alkohol und wenig Training. Das würde die nächsten Tage bestimmen, wie es aussah. Das Spiel gegen seine alte Mannschaft rückte näher und näher und Jean hatte für Sekunden das Gefühl, dem Zorn und Hass der Ravens auf dem Spielfeld hilflos ausgeliefert zu sein. Dem war nicht der Fall, das wusste er. Sie hatten viel trainiert, aber eben nicht genug, damit Jean sich sicher fühlte. Mit Gewalt verbot Jean sich jeden weiteren Gedanken an den kommenden Monat. Sie näherten sich dem Ende des Jahres, Silvester, einem Fest, dem sein Team entgegenfieberte. Der Übergang in das neue Jahr, unterlegt mit guten Vorsätzen. Nicht, dass Jean in den letzten Jahren viel davon mitbekommen hatte, war es doch ein Tag wie jeder andere auch gewesen. Vor einem Jahr war es Josten gewesen, der danach gefragt hatte, mit schmerzverzerrtem Blick und blutigem Speichel, den er in das Waschbecken vor sich ausgespuckt hatte. Jean schnaubte innerlich. Ein Jahr war es her, dass er den Grundstein für Jostens Faible gelegt hatte, ihm das Leben zu retten. Unwirsch darüber, dass er schon wieder über Evermore nachdachte, fuhr Jean sich durch die Haare und presste seinen Hinterkopf gegen das in die Jahre gekommene Polster der Kopfstütze. „Kann man dort auch wandern gehen?“, fragte er um sich auf ein anderes Thema zu bringen und Knox nickte begeistert. „Absolut! Möchtest du?“ Jean bejahte. Schließlich war er ja auch deswegen mit Fahima einkaufen gewesen und hatte sich von ihr mit Wanderschuhen, einer dicken Winterjacke und einer Mütze ausgestatten lassen. Sie fuhren weiter und schließlich tat sich ein großes Holzhaus vor ihnen auf, das eher einem Schloss glich als den Häusern, die Jean bisher gesehen hatte. Es hatte Erker und Türmchen und eine breite Einfahrt, in der schon einige Autos standen. Überall war Schnee und bedeckte die Büsche und Bäume, die das Haus umgaben. Jeans Herz schlug schneller, als sie anhielten und Knox mit einem erleichterten Seufzen die Tür aufriss. Weitaus langsamer folgte Jean ihm und setzte einen Fuß nach draußen. Kaum, dass er sich aus dem Wagen hievte, schauderte er vor unerwarteter Kälte. War es im Winter immer so kalt? Das war ja fürchterlich. Knox öffnete den Kofferraum und warf Jean seine Winterjacke zu. „Nicht erkälten, Sommerkind“, grinste er und Jean hob zweifelnd die Augenbraue. „Sommerkind?“, echote er zweifelnd, schlang sich aber in das warme Material ein, welches die Kälte zuverlässig abhielt. Er kam zu seinem grinsenden Kapitän und griff sich den langen Schal, den Knox‘ Mutter für ihn gestrickt hatte. Vorsichtig strich er über die weiche, dunkelblaue Wolle, deren Enden in die Farben der Trojans mündeten. Er schlang ihn um sich und hieß erleichtert die Wärme willkommen, die ihm die Kälte wortwörtlich vom Hals hielt. „Lass uns erstmal reingehen und die anderen begrüßen, dann bekommen wir auch Tragehilfe für die Massen an Essen“, zwinkerte Knox und Jean schnaubte. Gemeinsam mit dem anderen Jungen ging er zum Haus und sah auf den knirschenden Schnee unter seinen Schuhen, der sich so ganz anders anfühlte, als er es vermutet hatte. Härter, weniger pudrig. Staunend blieb er stehen und legte seine Hand auf einen der Büsche, die neben ihm standen. Es war kalt und überraschend nachgiebig. Sacht nahm Jean etwas davon hoch und sah, wie die einzelnen Flocken auf seiner Hand schmolzen. Jean starrte darauf und nahm beide Hände um sie in der weißen Puderschicht zu vergraben. Es war…unglaublich. Es war kalt und wunderschön. Zart und verletzend zugleich. „Alles okay?“ Jean hörte Besorgnis in Knox‘ Stimme und sah mit großen Augen hoch. „Ja. Es ist nur…“ Er runzelte die Stirn. Konnte er Knox gegenüber schonungslos ehrlich sein, selbst auf die Gefahr hin, dass er diesen mit seiner Wahrheit traurig machte? Unwirsch schürzte Jean die Lippen und atmete bewusst aus. „Ich habe noch nie Schnee angefasst“, gestand er ein und wie erwartet weiteten sich die blauen Augen in einer Mischung aus Entsetzen und Überraschung. „Noch nie?“, echote Knox und Jean nickte. Sein Kapitän fing sich schneller als er es gedacht hätte und Nachdenklichkeit legte sich über das rotwangige Gesicht. „Keine Schneeballschlacht?“ Jean hatte noch nicht einmal eine Ahnung, was das war. Langsam schüttelte er den Kopf. „Schlitten fahren?“ Schlitten war die Bezeichnung für ein teures, exklusives Auto, soweit wusste Jean aus den Erzählungen seines Teams. Was das mit Schnee zu tun hatte, konnte er sich nicht zusammenreimen, also verneinte er erneut. „Schneemann? Schneeengel?“ Was ein Schneemann war, wusste Jean. Dass es ein Symbol für Weihnachten war, ebenso, das hatte er mehr als einmal in Los Angeles gesehen. Einen Schneeengel hingegen kannte er nicht. War es eine andere Bezeichnung für das Christkind? „Knox…“, grollte er und sein Kapitän lächelte entschuldigend. „Entschuldige, ich habe nur eine To-Do-Liste für morgen erstellt“, erwiderte er vielsagend und Jean schwante Übles. „Knox…“, grollte er, kam aber nicht dazu, seinem Missfallen weiter Ausdruck zu verleihen, als die Eingangstür aufgerissen wurde und Alvarez im Türrahmen stand, umrahmt von hellem, weichen Licht. „Sie sind da!“, grölte sie in das Haus und sprintete auf sie zu. Jean trat ihr behände aus dem Weg und so war der blonde Junge der Hauptempfänger ihres Ansturms, der sie beide in einen der Schneeberge brachte. Zu sagen, dass Jean über den feinen Schneestaub, der dabei aufgewirbelt wurde und die beiden verschluckte, kurz lachen musste, wäre nicht gelogen, auch wenn er es bis in alle Ewigkeit bestreiten würde. „Hi Jean!“ Er drehte sich um und nickte Fahima zu, die ihn weitaus weniger enthusiastisch begrüßte, als es Alvarez getan hatte, die sich hinter ihm mit ihrem Kapitän im Schnee wälzte und sie beide weiß puderte. Jean befand, dass es sicherer war, wenn er hineinging und gestattete sich eine minimale Umarmung. „Vielen lieben Dank für dein tolles Geschenk, Jean“, murmelte Fahima und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Jean räusperte sich verlegen und zuckte mit den Schultern. Fahrig schob er die Hände in die Taschen seiner Jacke. „Gefällt es dir?“ Begeistert nickte sie und Jeans Blick verfing sich an der glitzernden Feuerwerksbrosche an ihrem violetten Hijab. „Komm, ich zeige dir schonmal das Haus. Bis die Beiden das draußen ausdiskutiert haben, vergeht noch ein bisschen Zeit.“ Jean nickte und ließ sich von ihr hineinführen. Die bereits anwesenden Teammitglieder begrüßten ihn mit unverdientem, lauten Jubel und er grüßte sie knapp zurück, schließlich hatten sie sich doch vor ein paar Tagen das letzte Mal erst gesehen. Außerdem gab er ihnen noch immer keinen Grund, ihn so überschwänglich zu begrüßen. Knox vielleicht, ja, aber doch nicht er. Fahima führte ihn vom rustikalen, riesigen Wohnzimmer in die noch viel größere Küche. Von dort aus ging es auf den Balkon mit seinem bereits laufenden und erleuchteten Whirlpool, in dem anscheinend Platz für neun Personen war und der Jean beinahe augenblicklich Unwohlsein verursachte. Er wandte sich ab und ging mit ihr in den Partykeller, in dem ein Pooltisch, ein Kickertisch und mehrere Glücksspielautomaten standen. Die Sauna befand sich im Nebenraum, dahinter der Waschraum. Sie kamen wieder nach oben und Jean bewunderte die helle Holzkonstruktion der Wände und Decken, die dem Haus eine urige Gemütlichkeit verliehen, schön ergänzt durch Skulpturen und Bilder der Umgebung. „Hier auf dieser Etage ist die erste Hälfte der Schlafräume, euer Zimmer ist ein Stockwerk höher. Dort ist es etwas ruhiger als in Partytown“, zwinkerte sie und Jean schluckte. Ein gemeinsames Zimmer mit Knox würde nicht anders sein als in Los Angeles, aber irgendwie… „Plus, euer Zimmer hat ein eigenes Bad“, ergänzte sie und Jean grollte leise. „Ich benötige keine Sonderbehandlung“, erläuterte er und Fahima lachte. „Du nicht, aber Jer. Niemand möchte darauf warten, bis er fertig im Bad ist. Niemand, mein Freund. Das dient dem Teamfrieden.“ Zweifelnd runzelte Jean die Stirn. „Aber in Los Angeles braucht er auch nicht so lange.“ „Und bei sich zuhause?“ Jean zuckte mit den Schultern. „Normal?“, erwiderte er, wurde sich im gleichen Moment aber bewusst, dass er eigentlich gar nicht so genau wusste, wie lange der blonde Junge im Bad gebraucht hatte, schließlich war er immer vor Knox wach. Im Regelfall. Bedeutungsschwanger hob Fahima die Augenbraue. „Teamfrieden, Monsieur Moreau, Teamfrieden.“ Jean rollte mit den Augen und folgte ihr zu dem Zimmer, dessen Tür sie nun öffnete. Auch hier dominierte Holz und Jean empfand es auf den ersten Blick gemütlich und heimelig. Auf den Zweiten stellte er fest, dass es nur ein Bett in diesem Raum gab. Es war zwar groß, beinahe ausladend, aber es war nur ein Bett. Jean schluckte schwer und blieb wie angewurzelt an der Schwelle zum Raum stehen. „Es gab eigentlich immer Einzelbetten, aber anscheinend haben die Besitzer die im Verlauf des letzten Jahres gegen Doppelbetten ausgetauscht.“ Die Erklärung war durch und durch logisch, aber das tat Jeans Unwohlsein keinen Abbruch. Er wusste, dass Knox sich nicht an ihm vergreifen würde. Er wusste, dass der blonde Junge keine Gefahr für ihn war. Dennoch. Ein Bett für sie beide. Seine Erinnerungen flüsterten ihm ein, dass ein anderer Junge in seinem Bett immer zu Schmerzen und Demütigung geführt hatte. Immer. Und nun wäre es das erste Mal, dass dem nicht so war. Zumindest wusste Jeans rationale Seite das. Hinter ihm polterten Schritte die Treppe hoch und er zuckte zusammen, als sein Kapitän hinter ihm auftauchte, gepudert, rotwangig und glücklich strahlend. Das Glück schwand von Sekunde zu Sekunde, als auch er das Bett sah und sich hilfesuchend zuerst an Jean, dann an Fahima wandte. „Das…kann nicht sein“, sagte er unsicher und Fahima lächelte entschuldigend. Sie zuckte mit den Schultern. „Sie haben die Betten wohl ausgetauscht“, wiederholte sie die Hiobsbotschaft, die sie auch schon Jean überbracht hatte und Knox schüttelte den Kopf. „Können wir ein anderes Zimmer haben? Eins mit zwei Betten?“, fragte er hoffnungsvoll und wieder verneinte sie. „Jedes Zimmer hat Doppelbetten, Sorry, Jer.“ Unsicher sah Knox zu Jean hoch und ebenso unsicher mied er die blauen, fragenden Augen. „Fahima… öhm…würdest du uns für einen Moment alleine lassen?“, fragte Knox und Fahima musterte sie beide nachdenklich, bevor sie nickte. „Klar! Besprecht das in Ruhe und wir sehen uns dann unten.“ Das. Ein Wort, drei Buchstaben, die so harmlos schienen und es doch nicht waren. Rein aus Sturheit betrat Jean das Zimmer und verschränkte mitten im Raum die Arme, während er auf das Bett starrte. Knox tat es ihm gleich und musterte ihn dann vorsichtig, während ihm der geschmolzene Schnee aus den Haaren und der Kleidung auf den Holzboden tropfte, wo er dunkle Flecken hinterließ. „Ich kann auf dem Boden schlafen oder unten auf der Couch, dann hast du das Bett für dich alleine.“ Da war es, das Angebot, auf das Jean gehofft hatte und das er gleichzeitig aber auch nicht hören wollte. Er wollte keine Extrawurst, nur weil er irrationale Angst vor einem anderen Menschen, nein, einem unbestimmten anderen Jungen in seinem Bett hatte. Er wollte nicht, dass Knox auf dem Boden oder der Couch schlafen musste, nachdem er ihm soviel Gutes getan hatte. Jean überlegte, ein ebensolches Gegenangebot zu machen, doch das würde Knox nicht annehmen. Das wusste er auch ohne dass er die Worte tatsächlich aussprach. Unwirsch maß er das große, ausladende Bett, das ihnen beiden gehören würde. Das er sich mit seinem Kapitän teilen würde, ohne dass er darin vergewaltigt werden würde. Wieder und wieder sagte Jean sich das, bis ihm der Gedanke kam, ob Knox vielleicht gar nicht mit ihm in einem Bett schlafen wollte. Vielleicht schlug er zuviel um sich in der Nacht? „Würdest du es wollen? Ich meine, hier schlafen? Ich habe Alpträume. Vielleicht werde ich dir gefährlich.“ Mit großen Augen musterte Knox ihn. „Du bist mir auch in L.A. nie gefährlich geworden, Jean. Und nein, ich möchte das nicht, wenn das bedeutet, dass ich dich aus dem Bett treibe.“ Hatte er es sich nicht gedacht? Ja, hatte er. Jean schluckte. Ihm lagen Worte auf der Zunge, die so einfach und doch so schwierig waren. Er brauchte mehrere Anläufe, um sie regelrecht hervor zu pressen. „Nein, ich meine, wenn ich auch dort liegen würde“, erwiderte er ungelenk und da konnten die blauen Augen gleich noch viel weiter werden. Knox schluckte und seine Augen huschten unsicher zwischen Jean und dem Bett hin und her. „Aber du…“, begann er, verstummte aber dann, als er anscheinend nicht wusste, wie er weitermachen sollte und Jean amtete bewusst ruhig ein. „Wir könnten es versuchen. Wenn es möchtest.“ Eine kleine Stimme in Jean schrie ihn an, dass er verrückt war. Unvorsichtig. Dumm und naiv. Er konnte sich nicht mit seinem Kapitän ein Bett teilen. Als wenn getrennte Betten jemals jemanden aufgehalten hatten, sich an ihm zu vergreifen, hielt er dagegen und stählte sich für die Zustimmung des blonden Jungen. „O…okay. Ich meine…ja, ich hätte kein Problem damit, es sind ja zwei Bettdecken, aber du…“ Er verstummte abrupt und Jean nickte schließlich. „Ich möchte es ausprobieren.“ „Wirklich? Bist du dir sicher?“ So unsicher, wie Knox die Frage stellte, so unsicher fühlte Jean sich. Dennoch. „Ja, Knox. Sicher.“ Nicht, dass er auch nur ein Auge zumachen würde die Nacht. ~~**~~ Nach und nach kamen die Trojans an und der ganze Nachmittag war ein Trubel des Hallo Sagens, Umarmens und Begrüßens, als hätten sie sich Ewigkeiten nicht gesehen. Jeder von ihnen brachte Essen mit, was zu Bergen an Nahrungsmitteln jedweder Couleur in der Küche führte, die Jeremy das Wasser im Mund zusammenliefen ließen. Alleine Fahima hatte schüsselweise das leckere Humus ihrer Mutter mitgebracht, dazu einen ganzen Korb selbstgebackenes Fladenbrot und Falafel. Die Zutaten für Sahlab standen direkt daneben und Jeremy hatte schon jetzt Hunger darauf. Amanpreet hatte Ajeet haufenweise Pakora und Samosa mitgegeben und die wunderbar angerichteten Platten verlockten Jeremy beinahe dazu, sich schon etwas zu stibitzen. Wären da nicht die wunderbaren Tage im Kreise seiner Familie gewesen, die Essen und noch mehr Essen für Jean und ihn bedeutet hatten. Als alle angekommen waren, fanden sie sich im Wohnzimmer ein und stöhnten kollektiv über die neue Bettenart. Jeremy navigierte sich vorsichtig durch die am Boden liegenden und sitzenden Menschen zur Couch und ließ sich auf Alvarez‘ Schoß fallen, die laut und unerfreut aufstöhnte. „Na Schnecke?“, grinste er und sie rollte mit den Augen. „Na Schwergewichtskapitän eines mittelmäßigen Highschoolteams“, gab sie zurück und er riss gespielt empört die Augen auf und fasste sich an die Brust. „Wie glücklich ich doch wäre, wenn ich mein erstes Magengeschwür nach dir benennen darf, Schnucki“, grimmte er und sie zischte unerfreut. „Dafür ist ein Tag ohne dich wie ein ganzer Monat Urlaub, Herzchen.“ Er winkte ab. „Oooh, red‘ einfach weiter, wird schon irgendwann was Sinnvolles dabei sein.“ Alvarez sah theatralisch auf ihre silberne Armbanduhr. „Wie wäre es, ich habe grad zwei Minuten Zeit, Hasi, sag mir alles, was du weißt!“ „Um aus Shakespear‘s Hamlet, Akt 4, Szene 5, Vers 28 zu zitieren: „Nein.““ Alvarez lachte gellend und Jeremy fiel mit ein. Er ruckelte sich gemütlich zurecht und lehnte sich zurück, damit Logan vorbeigehen und sich mit den anderen Trojans auf und an die Couch quetschen konnte. Logan setzte sich halb auf Vals Schoß und reichte Jeremy und Alvarez zwei der vier Biere, die er mitgebracht hatte. „Danke!“, strahlte Jeremy und hielt die Flasche nach oben. Er sah in die Runde und stellte fest, dass mittlerweile alle da waren und alle ein Getränk in den Händen hielten und sie somit ihre liebgewonnene Tradition beginnen konnten. Umständlich erhob er sich und hob die Bierflasche. „Trojans!“, rief er in den Raum. „Cap!“, riefen diejenigen, die das Ritual bereits kannten und Jeremy sah in die Runde der zufriedenen und lächelnden Gesichter. Selbst Jean, der sich an den Rand der Couch gestellt hatte, trug eine sorgsame Neutralität anstelle der üblichen Ablehnung ihrer gemeinsamen Freizeitaktivitäten, mit der er zumindest äußerlich ihren Aktivitäten begegnete. „Trojans!“, wiederholte er lauter. „Cap!“, riefen nun alle Trojans und Jeremy grinste. „Herzlichen Willkommen zum diesjährigen Silvester!“ Sein Team jubelte laut und klatschte begeistert. „Stoßen wir an: auf uns, auf die Trojans, auf unser College, auf die Freundschaft, die uns verbindet. Stoßen wir an auf unseren Sportsgeist…“ „…und unseren Sportspoltergeist!“, warf Alvarez ein und aus Jeans Richtung grollte es. Jeremy hob überrascht die Augenbrauen und wagte einen Blick in Richtung des Backliners, der ihn dunkel musterte und Alvarez einen Mittelfinger zeigte. Sie warf ihrem Mit-Backliner einen Luftkuss zu. „Ach komm, du liebst mich doch.“ Jean schnaubte. „Wofür?“ „Für meine perfekte Spielweise.“ „Wann sollte sich die gezeigt haben?“ „Selbstverständlich in jedem Training!“ „Wohl eher noch nie“, gab Jean ohne mit der Wimper zu zucken zurück und der Rest der Trojans johlte begeistert auf. Jeremy selbst lachte laut und starrte gebannt auf den Backliner, als Alvarez Jean mit einem Apfel bewarf, den er einhändig fing und in den er mit einem dunklen, herausfordernden Lächeln hineinbiss. Jeremy war sich nicht sicher, ob er jemals schon etwas Erotischeres gesehen hatte und verlegen räusperte er sich. „Also…Geister und Poltergeister“, fuhr er fort, als die Anderen zur Ruhe kamen. „Lass uns auf alles anstoßen, was wir gemeinsam erlebt haben und was uns zu einem eingeschworenen Team und zu Freunden macht!“ Erneut brach Jubel aus und Jeremy grinste. „Ihr wisst, ich liebe euch alle, aber ich werde die kommenden Tage gegen jeden von euch Krieg führen, sobald eben jener ausgerufen wird!“ Ein Großteil seines Teams grölte vor Freude, nur die Erstis und Jean sahen sich irritiert um. „Krieg! Krieg! Krieg!“, skandierten die übrigen Trojans und Jeremy erkannte, dass es nicht nur bei Jean Nachholbedarf in Sachen Krieg gab. Er hob die Hand und bat nonverbal um Schweigen. „Also, zur Erklärung. Zu Kriegszeiten ist jeder, der das Haus verlässt und sich in das Kriegsgebiet begibt, Freiwild, was Schneeballschlachten angeht. Zurückschlagen ist jederzeit möglich. Verlierer gibt es nicht, aber niemand ist sicher!“ „Gerade du nicht!“, warf Ellie ein und Jeremy stemmte die Hände in die Hüften. „Ich sprinte schneller als du!“ „Ich werfe dir einen Knüppel zwischen die Beine, Cap!“ Amüsiert winkte er ab und hob seine Flasche Bier zum ersten, gemeinsamen Schluck des Abends. Oh wie sehr freute er sich auf die kommenden Tage voller Chaos, gutem Essen, langen Spaziergängen und Schlittenfahrten. Er freute sich auf die Nähe seines Teams und auf die gemeinsamen Abende vorm Kamin. Er freute sich auf gute Gespräche und viel Gelächter und er freute sich auf den verdammten Whirlpool. Vor allen Dingen auf den. Wenn er es sich eingestand, freute er sich auch sehr darauf, mit Jean das Zimmer zu teilen. Er freute sich und er war erschrocken und irrsinnig nervös über die Verantwortung, die er trug. Jean vertraute ihm. Er vertraute ihm so weit, dass er mit ihm in einem Bett schlafen wollte. Er vertraute ihm nach all dem, was geschehen war. Wie konnte Jeremy da nicht aufgeregt sein und versuchen, Jean es so angenehm wie möglich zu machen? Sein Blick verirrte sich zu dem anderen Jungen, der am Rand der Couch stand, nahe genug, um ein Teil des Teams zu sein, weit genug entfernt, um nicht mitten im Pulk zu sitzen. Von Mal zu Mal näherte er sich seinem Team vorsichtig an und zeigte wie bei seiner Familie auch Interesse an dem Zusammensein, auch wenn es ihn immer wieder deutlich unsicher machte. Doch immer öfter, wenn er sich alleine und unbeobachtet fühlte, zuckten Jeans Mundwinkel nach oben und er lächelte. Immer öfter lag auf seinem Gesicht nicht der Ausdruck von Angst und Qual, sondern von Ruhe und Zufriedenheit über das, was er hatte. Mit einem weiteren Schluck kehrte er zurück zu seinem Team und verschaffte sich erneut Ruhe. „Die Spielregeln für die kommenden Tage sind folgende: wir kochen gemeinsam, wir essen gemeinsam, räumen gemeinsam auf. Aktivitäten werden einzeln, in Gruppen oder mit der gesamten Mannschaft gemacht. Wenn jemand eine Idee hat, packt er sie ans Brett im Eingangsbereich und die Leute pinnen ihre Namenskärtchen darunter. Der Whirlpool und die Sauna sind frei für alle, wie üblich wird Ellie dauerhaft von einem ins andere tingeln.“ „Infame Unterstellungen!“, rief sie und der Rest der Trojans strafte ihre Worte mit lautem Gelächter. Jeremy nahm einen dritten Schluck und ließ sich wieder auf Alvarez Schoß fallen, die ihm durch die Haare wuschelte. „Schön, wieder hier zu sein, Cap“, murmelte sie und er nickte glücklich. „Absolut!“ Alvarez beugte sich zu ihm und schob seine Haare zur Seite. Fragend sah Jeremy zu ihr hoch und sie lächelte. „Schön, ihn mit dabei zu haben“, sagte sie ungewöhnlich sanft und Jeremy seufzte. Er hielt ihren vielsagenden Blick und nickte. „Wunderschön.“ „Ich denke nicht, dass er es bereut.“ „Was?“ „Am Leben zu sein.“ Jeremys Augen huschten kurz zu Jean, der sich mit Ajeet über die Fahrt hierhin unterhielt. Seine Finger spielten mit der Bierflasche und er musste noch einen Schluck trinken, bevor er die Kraft fand, Alvarez zu antworten. „Nein, das denke ich auch nicht“, sagte er und zum ersten Mal geschah es ohne Angst, dass Jean sich vielleicht doch etwas antun würde, jedoch mit Sorge, dass er in seinen Fortschritten zurückgeworfen wurde, wenn er von Evermore erfuhr. ~~**~~ Unschlüssig stand Jean vor dem Bett und erkannte, dass die Courage, die er heute Mittag gehabt hatte, sich anscheinend mit Beginn der Nacht verflüchtigt hatte. Zumindest war sie weniger geworden und ließ ihn nun zögernd zurück, während sein Kapitän im Bad rumorte. Nein, nicht sein Kapitän. Knox. Der blonde Junge und Chaot, der den ganzen Tag über von Gruppe zu Gruppe gehuscht war und sich in jedes noch so mitmenschliche Chaos gestürzt hatte. Das, was Jean die letzten Monate über meist nur in Dosen gesehen hatte – dass dieses Team tatsächlich ein Zusammenschluss an Leuten war, die sich mochten – hatte er heute Abend in konzentrierter Form gesehen. Sowohl beim lauten, vollkommen aus dem Ruder gelaufenen Essen an dem großen Tisch als auch beim anschließenden Herumlungern auf der Couch. Der Whirlpool hatte Platz für neun Leute, elf hatten sich in das Becken hineingequetscht, sodass Jean schon fast gar kein Wasser mehr gesehen hatte. Das hatte dem großen Becken mit Wasser etwas seinen Schrecken genommen und er hatte sich immer wieder dabei ertappt, dass er zu der großen Badewanne, denn nichts Anderes war es eigentlich, gesehen hatte. Insbesondere die Sprudelfunktion hatte Jean mit Interesse beobachtet und sich gefragt, ob die wilden Wellen auch wirklich angenehm waren. Die dunklen Erinnerungen an Evermore waren in dem Moment in den Hintergrund getreten und Jean wusste, dass keiner der Trojans ihm das antun würde, was Riko getan hatte. Das, was von seiner Angst und den Reminiszenzen der Folter übriggeblieben war, war ein unangenehmes Prickeln in seinem Nacken gewesen, je näher er dem Whirlpool kam. Das hatte Jean umgangen, indem er an dem riesigen Tisch Platz genommen hatte, an dem ein Viertel seines Teams gerade Gesellschaftsspiele spielte. Der Abend war schön gewesen und hatte Jean entspannt zurückgelassen. Es half, damit er sich auf das Kommende einstellen konnte. Die Geräusche im Bad verstummten und die Tür zum Schlafzimmer öffnete sich vorsichtig. Knox trat heraus, in einem langen Pyjama, auf dem Jean kleine Feuerwerksexplosionen erkannte. Zweifelnd hob er eine Augenbraue und der blonde Junge zuckte grinsend mit den Schultern. „Besondere Anlässe müssen besonders gefeiert werden“, erläuterte er und Jean schnaubte, bevor er seine Augen abwandte. „Bist du fertig im Bad?“, fragte er nervös und Knox nickte. Jean huschte an ihm vorbei und schloss die Tür hinter sich, die, wie er jetzt erkannte, kein Schloss hatte. Stumm grollte er über diesen Umstand, der ihn zwar unsicher, aber nicht ängstlich machte und ließ sich soviel Zeit, wie es ging, um sich fertig zu machen. Doch irgendwann hatte er keinen Grund mehr, sich seine Zähne noch mehr zu putzen, sein Gesicht noch ein fünftes Mal zu waschen oder seine Narben ein drittes Mal mit der Creme von Doc Chandler einzureiben, die angeblich dafür sorgen würde, dass sie ihm weniger Probleme bereiteten. Sein abendliches Ritual war schneller beendet, als er es erhofft hatte und Jean stand schließlich vor dem Spiegel und sah in sein erschrockenes Konterfei, das ihm mit großen Augen und schnell schlagendem Herz entgegenstarrte. Er war aufgeregt und hatte Angst. Letztere war definitiv in ihm, aber, so erkannte er nun mit Schrecken, nicht so weit ausgeprägt, wie er gedacht hatte. Die Worte seines Vaters und auch Allans kamen ihm in den Sinn, damit einhergehend auch die Frage, wie er über Knox‘ Gefühle und Handlungen dachte und wie es in ihm selbst aussah. Am Anfang wäre die Antwort klar gewesen. Er hätte Angst gehabt, dass Knox sich ihm aufzwang. Er hätte die Nähe gehasst und sie als bedrohlich empfunden. Das in all seiner Negativität wäre einfach gewesen, doch das war es nun nicht mehr. Seine eigenen Gefühle waren nicht einfach, seine Wünsche waren es ebenso nicht, die mit seinen Erinnerungen und seinem Trauma kollidierten. Nichts war einfach, schon gar nicht der Weg zurück in das Schlafzimmer. Jean brauchte zwei Anläufe um die Tür zu öffnen und hob überrascht die Augenbrauen, als er sah, dass Knox eine Barriere aus kleinen Kissen zwischen ihnen aufgebaut hatte, die anscheinend von der Wohnzimmercouch stammten. Knox saß bereits auf seinem Teil des Bettes und lehnte am Kopfende. Das helle Licht der Deckenlampe hatte er gegen den heimeligen, kleinen Schein ihrer Nachttischlampen ausgetauscht, die einen gemütlichen Lichtkreis an die Holzwände warfen. „Warum?“, fragte Jean irritiert und der blonde Junge deutete stolz auf sein Werk. „Ich habe eine Barriere geschaffen, damit wir kein gemeinsames Bett, sondern zwei einzelne haben“, erläuterte er und Jean schnaufte leise über die schier kindliche Logik, die ihm erschreckenderweise mehr Ruhe vermittelte, als er es für möglich gehalten hatte. Er atmete tief durch – einmal, zweimal, ein drittes Mal – und setzte sich dann vorsichtig auf den Rand seiner eigenen Seite, möglichst weit weg von Knox. Nachdenklich maß er die Konstruktion und strich mit den Fingern über die Decke und die Kissen. „Ist es wirklich okay?“, fragte der blonde Junge sanft und Jean nickte unmerklich. „Ja, das ist es.“ Es würde okay sein. Hoffte er. Ansonsten waren es nur vier Nächte. Er hatte auch schon weniger Schlaf bekommen, also sollte das kein Problem für ihn darstellen. Eine Bewegung neben ihm ließ Jean aufsehen und Knox legte sich hin, zog die Decke bis unter das Kinn hoch. Jean beobachtete ihn dabei und folgte ihm schließlich so vorsichtig, als würde das Bett aus Bomben bestehen. Es roch gut, heimelig gar und die Decke, mit der er seinen Körper bedeckte, war weich und angenehm warm. Ein paar Sekunden lang herrschte Stille zwischen ihnen beiden, dann räusperte Jean sich. „Was ist eine Schneeballschlacht?“, fragte er das, was er bereits seit heute Nachmittag hatte fragen wollen und Knox konnte die Überraschung auf seinem Gesicht nicht wirklich verbergen. Es hätte Jean auch sehr gewundert, dass sein ausdrucksstarker und ehrlicher Mitbewohner jemals dazu in der Lage gewesen wäre, auch nur eine seiner Emotionen zu vertuschen. Selbst vor jemandem wie ihm. Knox lächelte und Jean blinzelte über die verschmitzte, unbändige Freude, die er darin erkannte. „Kurz zusammengefasst formt man Bälle aus Schnee und bewirft sich damit.“ Kritisch runzelte Jean die Stirn und lauschte seinem wild schlagenden Herzen, das sich nur langsam beruhigte. Zumindest solange, wenn Jeans Unterbewusstsein ihn nicht darauf aufmerksam machte, dass er mit einem anderen Jungen im Bett lag, nur durch ein paar Kissen getrennt. „Warum sollte man das tun? Was hat das für einen Sinn? Es durchnässt doch nur die Kleidung.“ „Jaa, das ist der Sinn daran!“ Jean war sich sicher, dass Knox ihn auf den Arm nahm. Was konnte daran so befriedigend sein, wenn man sich gegenseitig nass machte? Insbesondere bei der Kälte? Anscheinend standen seine kritischen Zweifel deutlich auf seinem Gesicht, denn Knox lächelte zuversichtlich. „Du wirst es morgen sehen. Und glaub mir, es macht sehr viel Spaß!“ „Dir macht es auch Spaß, äußerst schief zu singen“, merkte Jean nachdenklich an und Knox riss die Augen auf. Er kräuselte empört die Nase. „Du…du…Kacknase!“ Jean blinzelte, als er dem Wort nachlauschte. Bitte…was? Was war das denn für eine Bezeichnung? Nicht, dass Jean sich einen Reim aus der Kombination beider Wörter machen konnte, wenngleich er auch mit den jeweiligen Einzelbedeutungen etwas anfangen konnte. Indigniert rümpfte er die Nase. „Selber Kacknase“, erwiderte er dann mit entsprechend angeknackster Würde und Knox wedelte mit seinem Finger zwischen ihnen, sorgsam auf seiner Seite des Bettes. „Herr Kacknase, wenn ich doch bitten dürfte.“ „Wohl eher Captain Kacknase“, grollte Jean und Knox lachte so laut und anhaltend, als hätte er einen guten Scherz gemacht. Jean beobachtete ihn dabei und sog die ehrliche Freude, an der nichts falsch war, in sich auf. Ein ehrliches, fröhliches, liebevolles Lachen, das sich über Knox‘ gesamtes Gesicht zog und es erhellte. „Captain Kacknase“, wiederholte Knox und griff nach seinem Handy. Fragend sah Jean ihm dabei zu und linste auf den Bildschirm. ~Jetzt nennt er mich schon Captain Kacknase~, schrieb Knox an Renee und hielt es Jean unter die Nase. „Darf ich ihr das schicken?“ Jean hob die Augenbrauen. „Kann ich dich davon abhalten?“ „Jederzeit.“ Er brauchte noch nicht einmal zwei Sekunden um eine Entscheidung zu treffen. „Zuviel Aufwand. Mach.“ Knox drückte auf den Senden-Button, machte den Ton aus und legte sein Handy beiseite. Er legte sich auf den Rücken und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Nachdenklich runzelte er schließlich die Stirn und drehte sich dann erneut zurück zu Jean, den Kopf auf seinem angewinkelten Arm abstützend. „Würde es dir helfen, wenn ich eher einschlafe als du?“, fragte Knox viel zu sanft um Jeans dünneres Nervenkostüm nicht in Aufregung zu versetzen. „Ich weiß nicht“, erwiderte er ehrlich. Vielleicht. Wahrscheinlich sogar, da er in Los Angeles ebenfalls immer nach Knox einschlief. „Vermutlich.“ „Alles klar, machen wir so.“ Knox drehte sich nach rechts um das Licht an seiner Seite zu löschen und rollte sich dann wieder zurück. „Wenn etwas sein sollte, dann weck mich bitte. Wenn du nicht einschlafen kannst oder wenn du dich durch mich nachts unwohl fühlen solltest, dann sag mir das.“ Jean nickte, auch wenn er es nicht so meinte. Er würde niemals Knox noch mehr Schlaf rauben als er es jetzt schon immer in Los Angeles tat. Dank seiner Alpträume schliefen sie beide nur einen Bruchteil der Nächte einer Woche durch und niemals beschwerte Knox sich, auch wenn seine Augenringe an den darauffolgenden Morgen tief und dunkel waren. Der blonde Junge reichte ihm seinen kleinen Finger und Jean erkannte diese Geste nur zu gut. Er grollte unter den hoch erhobenen Augenbrauen seines Mitbewohners. „Versprich es mir.“ Wollte er lügen? Nein, wollte er nicht wirklich. Konnte er lügen? Vermutlich stand die Wahrheit ebenso sehr auf seinem Gesicht geschrieben wie sie es auf Knox‘ tat. Mit spitzem, kleinen Finger schlug Jean ein und verhakte ihrer beider Körperteile. „Versprochen“, murrte er und das glückliche Lächeln des blonden Jungen begleitete Jean bis tief in die Nacht hinein. Auch dann noch, als Knox bereits tief in seinen Träumen seufzte, zufrieden grunzte und etwas murmelte, das verdächtig nach Schnellballschlacht klang. ~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 57: Wasser in all seinen Aggregatzuständen -------------------------------------------------- Jean nahm sich eine der großen Kaffeetassen aus dem Regal und schenkte sich den schwarzen Teer ein, den die Kaffeemaschine anscheinend schon vor Stunden ausgespuckt hatte. Zumindest wurde der Inhalt seiner Tasse sehr schwarz und sehr undurchsichtig. Jean hob die Augenbraue und hoffte, dass es nicht Val gewesen war, die den Kaffee gekocht hatte. Er nahm probeweise einen Schluck und verzog das Gesicht. Leider doch. Leider war es Val gewesen. Jean schauderte und seufzte innerlich. Allerdings war es genau das, was er nach einer meist schlaflosen Nacht brauchte, die er an der Seite des anderen Jungen verbracht hatte. Knox hatte selig wie ein kleines Kind geschlafen. Wie immer hatte er sich von einer Seite auf die andere gedreht und seltsame Geräusche im Schlaf von sich gegeben. Er hatte die Kissen umgeräumt und Jean nicht nur mit seiner Anwesenheit wach gehalten. Jean hatte sich von diesem Zyklus einlullen lassen und war schließlich selbst eingeschlafen. Kurz, nur um erschrocken wieder hochzuschrecken und mit einem wütenden Grollen wach zu bleiben. Um halb Acht hatte er seinen tief schlafenden und glücklich träumenden Kapitän hinter sich gelassen und war aufgestanden. Er hatte das improvisierte Schild mit „besetzt“ an die Tür zum Badezimmer gehängt und war duschen gegangen, um mit dem heißen Wasser seinen Kreislauf in Schwung zu bringen. Als er sich nach unten geschlichen hatte, schlief Knox immer noch und so hatte Jean nun genug Ruhe für seinen ersten Kaffee, den er sich anscheinend nur mit Val teilen musste, weil sonst noch niemand wach war von seinem faulen Team. Nicht, dass sie irgendwo im Haus zu sehen oder zu hören war. Seine dicken, von Mrs. Knox gestrickten Socken, hielten seine Füße wunderbar warm, als er in das große Wohnzimmer kam und einen Blick in den weitläufigen Garten warf, der in einem kleinen Teich mündete. Zumindest sah die weiße, plane Fläche so aus, die man durch einen Holzsteg erreichen konnte. Das Wohnzimmer selbst war absolut chaotisch vom letzten Abend und Jean beneidete den heutigen Aufräumtrupp so gar nicht. Er vergrub seine freie Hand in dem dunkelroten Trojans-Hoodie, den er zur Feier des Tages angezogen hatte und öffnete die Terrassentür. Dicke, weiße Flocken fielen vom grauen Himmel und Jean sah ihnen staunend entgegen. Misstrauisch wandte er sich um, ob jemand seines Teams in der Nähe war, der vielleicht auf irgendeine Weise den Krieg ausrufen könnte, doch er konnte kein bekanntes Gesicht entdecken, so holte er seine Winterschuhe und streifte sie sich über. Wie gestern auch knirschte der Schnee unter seinen Sohlen, als er ein paar Schritte hinaustrat und den weißen Flocken seine freie Hand entgegenstreckte. Hypnotisiert beobachtete Jean sie dabei, wie sie auf das Dunkelrot des Pullovers fielen und dort liegen blieben. Kalt genug war es auf jeden Fall dafür. Noch viel kälter wurde es, als die Flocken sich auf seiner Hand ansammelten und zu durchsichtigen Kristallen wurden, aus ihnen wiederum Wasser, das seine Hand benetzte. Es war wunderschön und beängstigend zugleich und Jean spürte mit Erschrecken eine so tiefe Zuneigung für dieses Naturschauspiel, wie er es nur manchmal für Knox fühlte. Ein Kribbeln, tief in seinem Magen, das Glück in seinem Hirn auslöste. Instinktiv streckte Jean seine Zunge heraus um den Schnee zu schmecken und reckte seinen Kopf in den Nacken. Er schloss die Augen, damit die dicken Flocken ihm nicht in eben jene schwebten und schauderte vor neuen Eindrücken, die sich ihm aufdrängten und die er wie ein Schwamm in sich aufsog. Es war wieder etwas für sein fast volles Buch, das dringend einen Nachfolger benötigte. Ein Geräusch am Eingang holte ihn aus seinen Gedanken und Jean öffnete ruckartig seine Augen. Er sah in die entsprechende Richtung und erkannte Knox, der mit einem viel zu wachen Lächeln in der Tür stand. Zu Weihnachten hatte er genauso ausgesehen und seine Brüder hatten ihm dafür einen Spitznamen gegeben. Gremlin, rezitierte Jean stumm. Anscheinend hatte Jamie mitbekommen, dass Jean dieser Begriff nichts sagte und so hatte er ihm in einer unbeobachteten Minute ein Bild von einem solchen Wesen gezeigt. Jean hatte zwar die Ähnlichkeit nicht erkannt, fand aber den Begriff amüsant und lautmalerisch passend zu den in alle Richtung stehenden Haaren, dem viel zu großen Hoodie und der weiten Jogginghose. Jean schulte sein Gesicht auf Ausdruckslosigkeit und ging wieder zurück zum Haus. „Hi“, winkte sein Kapitän und trat beiseite. Jean streifte sich seine Schuhe auf dem Läufer ab und musterte den blonden Jungen, der anscheinend wirklich frisch aus dem Bett gekommen war. „Guten Morgen“, erwiderte er und nahm einen Schluck Kaffee, was mit gieriger Hoffnung beobachtet wurde. So gierig, dass selbst Jean es auffiel und er, als der naive Dummkopf, der er war, Knox nach einem hoffnungslosen Zögern kommentarlos seine Tasse reichte. „Danke!“, murmelte der Gremlin an seiner Seite und nahm einen großen Schluck, bevor er die Tasse wieder zurückreichte und Jean mit einem kritischen Blick feststellte, dass er sich nun neuen Kaffee holen oder sogar kochen durfte. „Wie hast du geschlafen?“, fragte der blonde Junge zögernd und Jean zuckte mit den Schultern. „Okay.“ Zumindest für den kurzen Abschnitt, der ihm vergönnt gewesen war. „Hast du lange schlafen können?“ Wie gut Knox ihn doch kannte. „Nein. Es war nur ein Bisschen“, sagte Jean ehrlicherweise und Bedauern huschte über das sommersprossige Gesicht. „Es tut mir leid, Jean, wirklich. Wenn du magst, kann ich auf der Couch schlafen nächste Nacht.“ „Nein. Ich möchte nicht, dass du das tust. Es war erst die erste Nacht, außerdem ist es nicht Los Angeles. Es wird sicherlich besser.“ „Aber du hast zuhause auch besser geschlafen.“ „Da haben mir Barnie und der rote Fluff auch keine Wahl gelassen“, sagte Jean und der Grund war ebenso an den Haaren herbeigezogen wie seine Behauptung, dass es in der nächsten Nacht besser werden würde. Aber es war in Ordnung, dafür, dass er zum ersten Mal mit einem Jungen in einem Bett geschlafen hatte. Er hatte es in Kauf genommen, schutzlos ausgeliefert zu sein und es war nichts passiert. Selbst als er geschlafen hatte, war nichts passiert und Jean war stolz auf den Fortschritt. Er war stolz auf die Beruhigung, die ihm das einbrachte. „Es ist okay, Knox“, entkräftete er die immer noch vorherrschenden Zweifel und langsam glättete sich die Stirn seines Kapitäns. Alleine um die peinliche Stille zwischen ihnen beiden zu überbrücken, reichte Jean Knox erneut seine Kaffeetasse und war erleichtert, als dieser danach griff und gehorsam den letzten Schluck nahm. „Guten Morgen ihr Sonnenscheine!“, grölte es in eben diese Stille abrupt aus dem Hintergrund und ließ sie beide zusammenzucken. Alvarez, natürlich, die viel zu wach grinste und hinter der auch noch Ellie, Logan, Laila und Ajeet den Raum betraten. Hinter ihnen, vermutlich im Flur, hörte Jean auch den Rest seiner Mannschaft und zog sich mit einem Brummen zurück in die Küche, überließ seinen Kapitän dem Schicksal seines Teams um sich nützlich zu machen. Mittlerweile konnte er auch Kaffee kochen und tat das mit Leidenschaft, denn er hatte festgestellt, dass er den Geruch von gemahlenen Bohnen sehr mochte. Der Lärm aus dem Wohnzimmer kratzte an seinen noch empfindlichen Trommelfellen und er lehnte die Tür an, nutzte die eintretende Stille um sich in Ruhe der Kaffeemaschine zu widmen. Erst bei dem eindeutigen „Ich rufe den Krieg aus!“ kehrte Jean auch gedanklich wieder zurück zu seinem Team und lauschte dem Gejohle, Gegröle und Getrample, das sich anscheinend nahtlos nach draußen verlagerte. Jean befüllte in Ruhe die Kaffeemaschine, machte dann mit der zweiten weiter und wartete schlussendlich noch einen Moment, bevor er sich zurück ins Wohnzimmer traute und einen Blick in den nun leeren Raum warf, während Teile seines Teams draußen im Schnee tobten. „Ist der Kaffee bald fertig?“, fragte es überraschend aus Richtung Couch Logan und Jeans Kopf schoss herum, während Logan sich von der Couch hoch- und sich somit in sein Sichtfeld schraubte. Jean blinzelte. „Geh in die Küche und sieh nach“, erwiderte er und Logan schnaubte. „Du kommst doch grad aus dem Raum.“ „Da war er noch nicht fertig.“ „Und das fiel dir so schwer als Antwort?“ Jean rollte mit den Augen. „Warum bist du nicht draußen?“, fragte er ausweichend und nickte knapp in Richtung Garten, wo die Jungen und Mädchen exakt das taten, was Knox ihm beschrieben hatte: den Schnee zu Bällen formen und sich damit abzuwerfen. Sie lachten, johlten und grölten, etwas das Jean nicht wirklich nachvollziehen konnte. „Weil ich keine Lust habe, morgens schon Schnee zu fressen. Du?“ Das war eine gute Frage. Warum war Jean eigentlich nicht da draußen? Zum Teil aufgrund seiner Unsicherheit, die er immer noch vor neuen Dingen empfand. Er wollte sich die Dynamik seines Teams erst einmal ansehen, bevor er eventuell mitmachte. Was aber in den Sternen stand, da er das Ganze höchst…fragwürdig fand. Was sollte daran Spaß machen? Es war kalt, man wurde nass und man bekam ein Geschoss ins Gesicht oder in den Nacken. Oder sogar, wie Jean nun mit Schrecken erkannte, von hinten in den Pullover. Dem Quietschen und Schreien der Kriegführenden nach zu urteilen, tat das dem Spaß aber keinen Abbruch. „Willst du deinem Kapitän nicht zur Hilfe eilen?“, fragte Logan und Jeans Aufmerksamkeit kehrte zu dem Defensive Dealer zurück. „Du sitzt auch hier auf der Couch, während deine Freundin gerade Bekanntschaft mit dem Busch macht“, gab er ironisch zurück und Logan schnaubte. Schweigend sahen sie aus dem Fenster und in der Tat fiel Val gerade in einen der riesigen Schneeberge, dicht gefolgt von Ajeet und Laila, die sich hinterher stürzten. „Sie kann sich selbst verteidigen.“ Logan zuckte mit den Schultern und Jean lächelte. „Knox ebenso.“ Das konnte er tatsächlich, wie Jean nun sah. Der blonde Junge war genauso schnell wie auf dem Spielfeld und hatte damit einen nicht unerheblichen Vorteil gegenüber dem Rest der Baggage. Zumindest bis er auf Alvarez traf und die Beiden sich nicht das Geringste schenkten. Jean beobachtete das so aufmerksam, dass ihm erst verspätet auffiel, dass der Kaffee sicherlich schon längst fertig war. Und das auch nur, weil Logan in der Zwischenzeit anscheinend aufgestanden und in die Küche gegangen war, sich Kaffee geholt hatte und sich nun mit einem vielsagenden Grinsen neben ihn stellte und einen Schluck nahm. Jean grollte dunkel. ~~**~~ Jeremy zog seinen Kopf tiefer in die schützende Barriere seines Schals, den er viermal um seinen Hals geschlungen hatte. Seinen Kopf wärmte eine dicke Wollmütze, die ihm seine Ma gestrickt hatte, passend zu den Handschuhen an seinen Händen. Er liebte den Schnee, aber als südkalifornisches Kind war es schlicht zu kalt für ihn, um auch nur einen Zentimeter Haut zu zeigen. Auch beim Wandern nicht und insbesondere dann nicht, wenn es unablässig schneite und die dicken, weißen Flocken sich persistent auf ihre Kleidung setzten. Alvarez, Abini, Sofia und Cilian hatten damit gar keine Probleme, Giorgia, Stephen und Raheem waren eher so wie Knox selbst und Mary-Lou. Dick eingepackt und rund durch die vielen Schichten. Laila und Jean kannten die gesunde Mitte aus eingepackt wie das Michelin-Männchen und eigentlich geboren in Alaska. Der Rest ihres Teams hatte keinen Bock darauf gehabt, sie bei ihrer 15-Kilometer-Wanderung durch die verschneiten Hügel und Täler der Umgebung zu begleiten, so waren sie nach dem Frühstück losgelaufen um sich die Beine zu vertreten und die Schwere des Abendessens und des Frühstücks loszuwerden. Wobei wandern nicht wirklich der richtige Begriff für die Art von Leistungssport war, die sie hier betrieben. Insbesondere Jean legte ein Tempo vor, das sie alle schnaufen ließ, zumindest solange, bis Raheem pfeifend stehen blieb. „Ey Moreau, wir sind hier nicht im Training, lauf langsamer!“, keuchte er und Jean blieb einen Augenblick lang mit dem Rücken zu ihnen stehen. Dann drehte er sich mit Missbilligung auf dem geröteten Gesicht um und steckte die Hände in die Taschen seiner dicken Winterjacke. Er machte den Mund auf, wurde jedoch von Laila unterbrochen, bevor die erste Silbe seine Lippen verlassen konnte. Sacht legte sie ihm eine Hand auf den Arm und zog seine Aufmerksamkeit zu sich. Vor ein paar Monaten wäre das noch nicht möglich gewesen, auch wenn Laila eine der Ersten gewesen war, die Zugang zu Jean gefunden hatten. Insgesamt hatte sich schon schneller mit den weiblichen als mit den männlichen Trojans arrangiert und Jeremy zerbrach es immer noch das Herz, den Grund dafür zu kennen. „Nach Silvester, Jean Moreau. Jetzt genießen wir unseren Urlaub, damit wir umso tatkräftiger in das neue Jahr starten können. Und nein, heute ist kein wir-kritisieren-unser-Team-Tag“, mahnte sie und Jeans steil gerunzelte Stirn brauchte etwas, bis sie sich glättete. Jeremy sah sehr deutlich, wie es in dem scharf konturierten Gesicht arbeitete, doch schlussendlich klappte Jean den Mund zu. Sein gemurmeltes Französisch ließ Raheem laut lachen und etwas auf Arabisch antworten, das Jeremy noch viel weniger verstand. Jean schon, wenn er sich dessen erst erschrockenen, dann ungläubigen Gesichtsausdruck ansah, der in einem ausdrucksstarken Augenrollen mündete. Raheem sprach dank seiner Eltern sowohl Französisch als auch Arabisch und war generell dazu übergangen, Jean ebenfalls fremde Begriffe an den Kopf zu werfen, wenn dieser auf seine eigene Muttersprache wechselte. Irgendwann hatte Jeans Neugier gesiegt und er hatte gefragt, was Raheems Worte bedeuteten. Seitdem erhielten er und auch alle, die um sie herumstanden, Nachhilfe in Arabisch und zu Jeremys Amüsement waren es primär Beleidigungen und nicht jugendfreie Begriffe, die ihren Weg in Jeans Wortschatz fanden. „Weiter?“, fragte Alvarez schließlich und hakte sich bei Jeremy ein, zog ihn gnadenlos mit sich an die Spitze ihrer Wandergruppe. Sie milderten das Tempo ab, auch wenn Jeans Blick in Jeremys Nacken brannte. Wenn er allerdings zurücksah, wich der andere Junge betont seiner Aufmerksamkeit aus und unterhielt sich mit Raheem angeregt über Sinn und Unsinn arabischer Grammatik. „Jer“, begann sie verschwörerisch und er brummte leise, während er auf die zerklüfteten Berge zu ihrer Rechten starrte, deren Spitzen im Nebel lagen. „Al“, murmelte er in dem gleichen Tonfall und sie legte ihren Kopf auf seine Schulter. „Geht’s dir gut?“ Jeremy sah lächelnd zur Seite. „Absolut. Ich freu mich, mit euch allen hier zu sein. Dir?“ „Bestens. Gnadenlos gemästet von meiner Familie über die Tage. Ich habe mir bis in den Februar Wiegeverbot erteilt.“ Leidend nickte er. „Geht mir genauso. Ich bin dick und rund gefressen. Und den Rest habe ich für die kommenden Tage mitbekommen. Mein Dad hat mal wieder viel zu viel für „seine liebsten Trojans“ gemacht.“ Jeremy seufzte. „Dein Dad ist ja auch schon cool. Und wenn die künftigen Treffen nicht für Mr. Tall, Dark and Handsome hier reserviert sind, dann komme ich sicherlich auch wieder mit.“ Jeremy blinzelte. „Du kannst jederzeit mitkommen. Laila auch. Das weißt du doch.“ „Ja, schon klar. Das nächste Mal dann!“ „Ist das ein Versprechen?“ Alvarez brummte zustimmend. „Wie geht’s dir wegen der Allan-Geschichte?“, fragte sie schließlich und Jeremy musste einen Moment lang überlegen. Er hatte Weihnachten nicht über Allan nachgedacht. Keine Minute lang war seine allumfassende Traurigkeit zurückgekehrt. Seine Familie hatte ihn abgelenkt und dort, wo sie nicht war, hatte Jean die Lücken gefüllt, die entstanden waren. Das kurze Aufflammen von Trauer bei dem Gedanken daran war schmerzhaft, aber kurz und vergänglich. „Es wird okay werden.“ „Wirklich?“ Jeremy schnaubte. „Niemand von euch lässt mir ja wirklich Zeit zu trauern oder darüber nachzudenken“, erwiderte er mit einem Zwinkern und Alvarez lachte. „Niemals. Vor dir liegen viele andere Abenteuer, da ist es unangebracht, an die Vergangenheit zu denken.“ Jeremy hob die Augenbraue. „Andere Abenteuer? Zum Beispiel?“, fragte er amüsiert nach und Alvarez grinste. Sie drehte sich zu den anderen Trojans um und riss die linke Faust hoch. „KRIEG!“, schrie sie dann ohne Vorwarnung und Jeremy zuckte brachial zusammen. Er brauchte ein paar Sekunden um zu verstehen, was sie damit meinte und fluchte dann bildgewaltig. Verdammt…verdammt verdammt verdammt, er musste sich Deckung und vor allen Dingen Munition suchen! Verdammt! „Ich hasse dich, du stinkendes Stück Käse!“, fluchte er wortgewaltig und bückte sich nach dem nächstbesten Schneehaufen, um zumindest ein paar Schneebälle zu formen, bevor er angegriffen wurde. Aus dem Augenwinkel heraus sah er, dass Jean trat während des Kampfes zur Seite trat und mit vernichtendem Blick ihrem Treiben zusah. „Alles okay?“, fragte Jeremy während der Munitionsproduktion hastig und Jeans stumme Missbilligung dieses Krieges musste ihm Antwort genug sein, bevor er sich darauf konzentrierte, sich gegen den Rest seines Teams zur Wehr zu setzen. Schneebälle flogen zielsicher hin und her und Jeremy war nur partiell gut darin, ihnen auszuweichen oder sich Deckung zu suchen. Er lachte mehr als dass er sich zur Wehr setzen konnte und schaffte es mit Mühe und Not, sich vor den Anderen zu schützen. Aber Jeremy versuchte es und konzentrierte sich gleichzeitig auf Angriff. Er warf seinen Schneeball nach Raheem, der aber geschickt auswich und somit den direkten Weg auf Jean freigab. Mit Horror sah Jeremy, dass der Backliner sich just in diesem Moment umgedreht hatte und der vermeintlich so zielsicher geworfene Ball nun mittig auf den Hinterkopf bekam. Jeremy schluckte und auch der Rest der Kriegführenden kam zu einem abrupten Halt. Es war ein ungeschriebenes Gesetz der Trojans, Jean erst einmal aus allem herauszulassen. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass Jean den ersten Schritt machte und sie ihn dann einbezogen. Dieses Gesetz hatte Jeremy soeben gebrochen und die eintretende Stille kündete von seinem Sakrileg. Die Bewegungslosigkeit, in der Jean einen Moment lang verharrte, bevor er sich umdrehte, tat es. Betont langsam und mit einem nahezu mörderischen Blick. Jeremy schluckte schwer und sah aus dem Augenwinkel heraus, wie sämtliche, um ihn herumstehende Trojans wortwörtlich mit dem Finger auf ihn zeigten. „Danke, ihr Verräter“, murmelte er und begegnete Jeans grauen Augen, die durch den Schnee umso einiges heller und durchdringender waren als sonst. Jeremy schluckte, als eben diese Augen kein anderes Ziel kannten als ihn selbst. „Knox.“ Ein einfaches Wort. Sein Name. Schon oft gesagt. Anders als jetzt. Weniger drohend. Weniger wie ein Versprechen auf Strafe, leise und ohne Intonation ausgesprochen. Jeremy schluckte. Er brachte nicht mehr als ein leises Wimmern hervor und starrte wie ein Reh ins Scheinwerferlicht, als Jean langsam auf ihn zukam. Ein langsamer Schritt nach dem anderen. Wie ein Raubtier. Das war nun nichts Neues, auf dem Spielfeld war Jean genau das. Allerdings war er nie auf der Jagd nach Jeremy gewesen. Zumindest seitdem sie in einer Mannschaft waren. Und zumindest war Jeremy dann nie alleine gewesen, sondern umgeben von Trojans. Jetzt? Sie warfen ihm dem Jäger zum Fraß vor. Wenn man das überhaupt Jagd nennen konnte, denn Jeremy war so sehr von den hellen, grauen Augen gefangen, dass er sich nicht von der Stelle rühren konnte. Ja, kurz wurde er aus deren Fokus gelassen, kurz wandte Jean seine Aufmerksamkeit auf einen Punkt hinter Jeremy, doch die Erleichterung währte nur kurz. Jeremy wagte es nicht, auch nur eine Sekunde den Blick abzuwenden. „Knox.“ Eine erneute, leise Warnung, gepaart mit der schleppenden Frage nach dem Warum. „Jean?“, schaffte Jeremy nun doch, den Namen des Jungen auszusprechen, der vor ihm stehen blieb und ihn zwang, den Kopf in den Nacken legen zu müssen, um dem intensiven Starren etwas entgegensetzen zu können. Zumindest in Ansätzen etwas, denn als sich Jeans Augen auf Jeremys geöffnete Lippen konzentrierten, war es mit Jeremys Selbsterhaltungstrieb beinahe vollkommen vorbei. Dieser verdammte Blick. Diese Konzentration auf seine Lippen, ohne, dass Jeremy wirklich die Gedanken dahinter kannte. Dieses Raubtier, das vor ihm stand und ihn zu verschlingen drohte. Dieses Bedürfnis, Jean einen Schritt entgegen zu treten, sich ein bisschen zu strecken und seine Lippen auf die des größeren Jungen zu legen. Herrje. „Was...öhm…?“, fragte er leise und quietschte keine Sekunde später entsetzt auf, als etwas fürchterlich Kaltes in seinen Nacken gestopft wurde. Er fuhr herum und Alvarez grinste ihn dunkel und bösartig in die Augen und Jeremy brachte sich entrüstet schnaufend in Sicherheit. Er begriff. Verspätet, aber er begriff. Entsetzt sah er von Alvarez zu Jean und wieder zurück. „Ihr…ihr…habt euch gegen mich verschworen! Ihr…ihr Verräter! Ihr Miesen! Ihr…!“, wetterte er unter dem schallenden Gelächter seines Teams und selbst Jean zeigte ein minimales Lächeln auf seinen Lippen, die grauen Augen voller Belustigung. Na wenigstens wollten sie ihn nun nicht mehr auffressen. Jeremy jaulte innerlich auf. Es wäre ja nicht so, dass er nicht viel dafür gegeben hätte, von Jean aufgefressen zu werden! Doch Jeans Einmischung hatte Jeremy die Möglichkeit gegeben, seinen Mitbewohner vollständig in den momentanen Krieg einzubeziehen und das tat er jetzt auch, als er einen seiner Schneebälle auf Jean warf, der ihn nur halb abwehren konnte. Jeremy grinste siegessicher und hob herausfordernd die Augenbrauen. Weniger herausfordernd, mehr pseudo-verführerisch wackelte er mit ihnen und sah mit Freude, dass Jean sich ebenfalls bückte um sich Munition zu holen. Alvarez johlte und Cilian ließ es sich nicht nehmen, sie beide einzudecken, während sie alle wie kleine Kinder im Schnee herumtollten und einander als Deckung missbrauchten, bis sie nun auch wirklich alle wie weiß gepudert waren. Jean warf mit bedachter Konzentration und tödlicher Präzision und Jeremy bekam mehr als einen Ball ins Gesicht oder an den Hinterkopf. Auch von Jean, der – dafür, dass dies seine erste Schneeballschlacht war – eine beneidenswert schnelle Auffassungsgabe an den Tag legte. Und ein Lächeln. Da war ein Lächeln auf dem sonst so ernsten Gesicht, Jeremy sah es genau. Zumindest bis er rücklings mit rudernden Armen auf der Flucht vor Laila in einen der Schneeberge fiel und seine Arme und Beine gleich dazu nutzte, Jean zu zeigen, was genau ein Schneeengel war und wie man ihn machte. ~~**~~ Jean vermisste die Wärme des Kamins selbst jetzt, da er sich die dicke Bettdecke bis unters Kinn hochgezogen hatte. Schnellballschlachten und Schneeengel, dass er nicht lachte. Das waren alles nur Mittel zum Zweck um den Körper auskühlen und nicht wieder warm werden zu lassen. Zumindest was Jean anging, hatten das restliche Warmwandern und die sich anschließende, heiße Dusche wenig dazu beigetragen, die in seine Knochen ziehende Kälte zu vertreiben. Erst die ruhigen Momente direkt vor dem Kamin hatten ihm da etwas mehr Wärme zurückgegeben, zumindest bis Teile seines Teams beschlossen hatten, einen Film zu schauen. Zögernd hatte er seinen warmen Platz vor dem Feuer geräumt, aber schlussendlich hatte Jean sich in dem Schlafzimmer wohler gefühlt. Wie auch die Kälte war die reine Handlung, sich einen Film anzuschauen, bei den Trojans nicht etwas, das er fürchten musste, doch das wollte das erlebte Trauma nicht hören. So versuchte Jean zu umschiffen, was ihm Unwohlsein bereitete und litt dann lieber wieder unter der Kälte. Knox‘ Angebot, ihn zu begleiten und ihm Gesellschaft zu leisen, hatte er rigoros und mehrfach abgelehnt. Der blonde Junge kam um eins ins Bett und bewegte sich wie in der letzten Nacht auch möglichst leise und langsam in ihrem Zimmer und im angrenzenden Badezimmer, wo er sich für die Nacht fertig machte. Fast wollte Jean ihm sagen, dass es nicht nötig war, dass er in diesem Maße Rücksicht auf ihn nahm, doch eben nur fast. Eben jene Rücksichtnahme tat Jean gut und sie beruhigte ihn, auch wenn er das erst jetzt begriff. „Ist es okay?“, fragte Knox wie auch in der letzten Nacht und deutete auf das Bett. War es okay, dass er sich hier hinein legte. Wie konnte es das nicht sein? „Ja“, erwiderte Jean schlicht und beobachtete den blonden Jungen dabei, wie er sich vorsichtig unter die Decke schob und sie ebenfalls bis unter das Kinn zog. „Wie hat dir der Tag gefallen?“, fragte er mit erwartungsvoller Freude und Jean schnaufte. „Es war kalt und nass“, erwiderte er ehrlich und Knox rollte amüsiert mit den Augen. Analysierend huschten die Augen über Jeans Gesicht. „Aber es hat dir gefallen.“ „Ich kann den Spaß an Schneeballschlachten nicht verstehen.“ „Die nicht, dafür aber Kürbisstückchenschlachten zu Halloween?“ Bedeutungsschwanger hob Knox die Augenbraue und Jean räusperte sich vernehmlich. „Außerdem hast du gelächelt.“ „Einbildung“, log Jean mehr schlecht als recht. Knox runzelte kritisch die Stirn und die blauen Augen sagten Jean zurecht, was sie von Worten hielten. Sie waren auf ihre ganz eigene Art und Weise eindringlich und Jean schluckte ob der Stärke, die er hinter dem freundlichen Gesicht wahrnahm und die ihn anzog wie eine Motte vom Licht angelockt wurde. „Ich hatte ein wenig Spaß“, gestand er schließlich ein und das genügte den kritischen, blauen Augen und dem nicht mehr ganz so wachen Geist anscheinend. Knox legte eine Hand auf die sie trennenden Kissen und beinahe war Jean versucht, seine auf die schlanken Finger zu legen. Er tat es nicht, sondern musterte den blonden Jungen stumm und sah zu, wie dessen Augen mit der Zeit schwer wurden und gegen seinen Willen zufielen. Er kämpfte mit sich um wach zu bleiben, um sich weiter mit ihm zu unterhalten. Jean sah, wie aussichtslos der Kampf war und er lächelte. „Schlaf, Jeremy“, sagte er in seiner Muttersprache leise und als wäre das eine Zauberformel gewesen, entspannte sich der sonst so energiegeladene Körper. Knox schloss die Augen und es dauerte keine Minute, bis seine Atmung tiefer und regelmäßiger wurde. Nun lächelte Jean offen. Heute im Schnee war er eingefangen worden von dem Anblick von Knox‘ Lippen, die so berührenswert schienen. Er hatte sich mit Gewalt von ihrem Anblick losreißen müssen und auch jetzt verfing er sich in ihrer Betrachtung. Er schnaubte amüsiert, als Knox zu sprechen begann und undeutliche, gemurmelte Worte seine Lippen verließen, während seine Hand über das Kissen strich und es zu sich zog. Wenn Jean sich nicht sehr täuschte, erlebte der blonde Junge gerade die Schneeballschlacht nochmal. „Jeeaaan…“ Der Namensgeber dieses viel zu unschuldigen und vertrauensseligen Lautes zuckte zusammen, als Knox zufrieden schmatzte und sich auf den Rücken drehte. Er schnalzte mit der Zunge und brummte zufrieden, das Kissen, welches sich gerade noch zwischen ihnen befunden hatte, zufrieden an seine Brust gebettet. Wovon Knox wohl träumen mochte? Was genau tat er gerade in dessen Träumen? Jeans linke Hand schlich sich wie ein Dieb nach vorne, in Knox‘ Nähe. Wieder war der Drang da, den anderen Jungen zu berühren und Jean zuckte wie verbrannt zurück, als er merkte, was er im Begriff war zu tun. Er würde einen anderen Jungen anfassen, der noch dazu schlief. Was dachte er sich? So schnell und so unauffällig es ging, erhob Jean sich und schlich sich aus ihrem gemeinsamen Zimmer, bevor er noch andere, schlimme Dinge anrichten konnte. Wie hätte er denn reagiert, wenn Knox ihn einfach so im Schlaf berührt hätte? Er hätte Angst gehabt. Er hätte es nicht gewollt. Also musste er in jedem Fall dem blonden Jungen das Gleiche zugestehen. Jean lauschte für einen Augenblick in das Haus und fand es still vor. Erst dann ging er die knarzenden Treppenstufen nach unten und trat auf die kühle, durch den Whirlpool sacht erleuchtete Terrasse, die ihm in all ihrer Stille Ruhe vor dem Chaos seiner Gedanken schenkte. Fröstelnd schlang er die Arme um sich und lehnte sich an eine der Terrassensäulen. Der Himmel war klar und die Sterne standen heller am Himmel, als er es jemals in Los Angeles gesehen hatte. Jean konnte sogar die Milchstraße erkennen, unweit des hell leuchtenden Mondes. Ein Brummen von links lockte Jeans Aufmerksamkeit und er sah auf den Whirlpool. Aus den Unterhaltungen seines Teams wusste er, dass dieser automatisch das Wasser aufheizte um es so auf einer angenehmen, warmen Temperatur zu halten. Seitdem sie hier waren, war er immerzu besetzt gewesen und hatte Jean damit bisher vorenthalten, wie tief er war. Das war nun anders und vorsichtig trat er näher. Es war viel Wasser, viel mehr, als er es in den letzten Jahren in einer Wanne gesehen hatte. Es machte ihn unsicher, auch wenn es damals nicht viel Wasser gewesen war, das ihn beinahe erstickt hatte. Das war das eigentlich Bittere daran. Es war keine Badewanne gewesen, die ihm Angst vor größeren Mengen an Wasser verschafft hatte. Nein, Riko hatte eine Kanne und ein Tuch genommen, um das Ertrinken zu simulieren. Er hatte seinen Kopf nicht unter Wasser gedrückt und dennoch hatte es Jean so nachhaltig traumatisiert, dass er in den Tagen danach noch nicht einmal etwas hatte trinken können. Er hatte sich geweigert, auch nur einen Tropfen zu sich zu nehmen, weil er solche Angst gehabt hatte, dass es wieder passierte. Damals war es Day gewesen, der ihn mit Geduld und Strenge wieder dazu gebracht hatte, etwas trinken zu können. Jean schluckte und berührte mit seinen Fingerspitzen das Wasser des Whirlpools. Hier gab es niemanden, der ihm das antun würde. Sie respektierten seine Scheu vor Wasser und er lernte, mit der direkten Nähe der Wellen am Strand zu leben. Sacht fuhr Jean mit seinen Fingerkuppen über die Wasseroberfläche und beobachtete die Wellen, die er damit verursachte. Es fühlte sich weich und warm an und er fragte sich, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn er in der riesigen Badewanne säße und die Massagefunktion anschaltete, die sein Team so liebte. Wenn er es denn könnte. Doch was hielt ihn davon ab, es zu versuchen? Die Trojans schliefen alle und er könnte ungehindert ein- und wieder aussteigen, wenn es zuviel wurde. Niemand würde sehen, wenn er Angst hatte und sie gegen ihn verwenden. Niemand würde sehen, wenn er nach Sekunden wieder aus der Wanne musste, weil die Erinnerungen zu stark wurden. Jean tauchte seine Hand unter und hielt sie einen Augenblick lang dort. Der Pool wechselte von blau auf grün und tauchte sie in ein sanftes Licht. Er lauschte in sich hinein und hörte auf das Wispern der Angst, das ihn davon abhalten wollte, in den Pool zu steigen. Er begegnete dem stur und nutzte die vorherig friedvolle Stimmung, in der er sich befunden hatte um sich die Kleidung vom Körper zu streifen. Er hatte zwar keine Schwimmbekleidung wie der Rest seines Teams, jedoch sollte es seine Boxershorts auch tun, auch wenn ihm das im ersten Moment viel zu kalt war. Zu ungewohnt und zu kalt. Die ersten Zweifel meldeten sich an, ob das wirklich eine gute Idee gewesen war, doch er ignorierte sie. Lieber stieg er die Holztreppe hoch und stellte ein Bein in den Whirlpool. Sein Herz schlug schneller und Jean schlang auch das zweite Bein in die Wanne, stand nun bis zu den Knien im Wasser. Das war mehr als er jemals in den letzten Jahren getan hatte. Jean starrte auf das Wasser und ging vorsichtig einen Schritt bis zur Sitzecke am rechten, äußeren Rand. So hatte er das Haus im Blick und konnte schnellstmöglich den Pool verlassen, wenn es notwendig sein würde. Langsam ließ er sich nieder und hatte einen Moment lang das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Zuviel Wasser, zu viele Erinnerungen, zu viel Schlimmes, das ihm angetan worden war. Er hörte Rikos Stimme und das Lachen des Ravens, als er sich gegen das Gefühl des Erstickens gewehrt hatte. Er spürte das Brennen seiner Lungen und das Zucken seiner Glieder, im Phantomschmerz, den Fesseln zu entkommen. Er saß hier und schnappte nach Luft. Quälende Sekunden ging das so und aus den quälenden Sekunden wurden Minuten, in denen er seiner Vergangenheit hilflos ausgeliefert war. Seine Angst schrie ihn an, dass er raus aus dem Wasser sollte. Er wiederum schrie seine Angst an, dass er fertig damit war, sich vor etwas Alltäglichem zu fürchten. Riko war tot, er selbst lebte. Er erlebte soviel, wie er in neun Jahren nicht erlebt hatte. Er genoss das Leben in vielen Momenten. Es war Zeit, dass er dieses Trauma hinter sich ließ. Wieder und wieder sagte Jean sich das, kämpfte mit und gegen sich selbst. Es dauerte, doch dieses Mal war er erfolgreich. Er war sturer. Er war stärker. Er war Jean Moreau. Er war ein Mensch. Sein eigener Mensch, nicht der Besitz eines Anderen. Schlussendlich kam Jean zur Ruhe und er lehnte angespannt an dem warmen Kunststoff des Whirlpools. Seine Hände hatten sich in die Halterungen gekrallt und entkrampften sich nur langsam. Seine Atmung kehrte zu einem normalen Tempo zurück und Jean gestattete sich den Gedanken, dass er es tatsächlich getan hatte. Er saß hier im Wasser. Er hatte es geschafft, sich davon zu überzeugen, dass er nicht in Gefahr war. Er hatte es geschafft, sich davon zu überzeugen, dass Riko tot war und ihm nicht mehr wehtun konnte. „Ich lebe“, wisperte er und schluckte schwer. Erleichtert atmete er ein. Er lebte tatsächlich und bereicherte sein Buch wieder mit einem neuen, ersten Mal, insbesondere, da er jetzt den Massagemodus einschaltete und überrascht einen Satz nach vorne tat, als die Düse ihn am Rücken kitzelte. Kritisch starrte er auf das blubbernde Wasser und setzte sich dann vorsichtiger wieder zurück, so wie er es auch beim Rest seines Teams beobachtet hatte. Mit etwas mehr Zeit war es schön. Es war angenehm und entspannend. Es lockerte seine Muskeln und machte sie nachgiebig. Jean ließ sich einlullen von dem rhythmischen Blubbern, er ließ sich einfangen von dem Anblick der hell leuchtenden Sterne über ihm. Er ließ sich einfangen von der Ruhe und Einsamkeit, die ihn umgab. Sein Zeitgefühl sagte ihm, dass er eine Stunde im Whirlpool war, bevor ihm die Augen zufielen und er die Massagefunktion ausstellte. Vielleicht konnte er jetzt in Anwesenheit des anderen Jungen auf ihrem Zimmer schlafen. Jean hoffte es wirklich und schlang eines der Handtücher um sich, die neben dem Whirlpool bereitlagen. Er ging nach oben und hinterließ nasse Fußabdrücke auf dem Holzboden, die er mit nachdenklichem Stolz zur Kenntnis nahm. Es waren seine. Weil er in einem Whirlpool war. Beschwingt von der Erkenntnis betrat er vorsichtig und leise ihr Zimmer und blieb stehen. Er schnaubte amüsiert, als er sah, dass Knox sich anscheinend im Schlaf an den Kissen zu schaffen gemacht und ein weiteres an sich gerafft hatte, das er nun vor seiner Brust gepresst hielt, während er auf dem Rücken lag. Damit hatten sie nun keine wirklichen Kissen mehr zwischen sich und Jean schüttelte innerlich seufzend den Kopf. Für die paar Stunden leichtem Schlummer würde er es ertragen, zumal er nun auch nicht mehr auf den Gedanken kommen würde, Knox oder seine Hände anzufassen. Es war okay und es war okay, dass es okay war. ~~**~~ Jeremy glitt langsam von seiner Traumwelt in eine seichtere Ebene seines Bewusstseins. Er wachte ohne Hast auf, bedächtig und entspannt kam sein Geist zurück in die Welt der Wachen. Ganz ohne Wecker und ohne Zeitdruck gönnte er sich einen langen Moment der kuscheligen Wärme, der absoluten Entspannung und des Wohlseins. Er hatte gut geschlafen und noch viel besser geträumt, von Schneewanderungen und dem Lächeln auf schmalen Lippen, die er so attraktiv fand. Er hatte von Schneeballschlachten und Weihnachtsessen geträumt und von französischen Worten, die er in der ihm immer noch fremden Sprache leichtfüßig und fließend gesprochen hatte. Die wohlige Wärme und vielleicht auch ein wenig seine drückende Blase waren es letzten Endes, die ihn die Augen öffnen ließen, weil etwas an seinen Gedanken zog, das er zunächst nicht genau identifizieren konnte. Was es war, erschloss sich ihm erst nach ein paar Sekunden des Rätselns. Die Wärme, die ihn umfangen hatte, kam von einem Körper, der ihn fest an sich gepresst hielt, angefangen bei der Vorderseite des Bettkuschlers, die sich so eng an seinen Rücken presste, dass kein Blatt Papier zwischen ihrer beider Körper passte. Er wurde durch einen Arm gehalten, der seinen Oberkörper entschlossen und unnachgiebig an den anderen Menschen presste, der hinter ihm lag und dessen ruhiger Atem Jeremy über das Ohr strich. Allan, war Jeremys erster Gedanke, doch der wurde beinahe mit Geburt absurd. Allan war nicht mehr da, er war auch nicht hier. Doch die Alternative war noch viel viel absurder. Viel viel viel absurder. Jeremy schielte zu dem Arm, der ihn an den anderen Körper gepresst hielt und er erkannte sowohl den Schlafanzug als auch die Finger der Hand. Zweifelsfrei identifizierte er beides und er erstarrte. Oh. Oh. OH. Der Junge, der ihn so fest an sich gepresst hielt, war Jean. Ausgerechnet Jean, der tief schlafende Jean, dessen Brustkorb sich im Takt seiner Atmung hob und senkte. Er hielt Jeremy, wie Jeremy es liebte, umarmt zu werden. Entschlossen und eng, vertraut und intim. Wie sie in der Nacht zusammengefunden hatten, konnte Jeremy auf Teufel komm raus nicht sagen. Wieso Jean ihn umarmte, ebenfalls nicht. Oder ob er sich in diese Umarmung gestohlen hatte. Letzteres wäre eine Katastrophe, wenn der andere Junge aufwachte, doch irgendwie glaubte Jeremy nicht daran. Jeans Arm war ein sanftes, diktatorisches Gefängnis, das ihn freiwillig an sich gepresst hielt. Jeremys Herz quoll über vor Liebe für diesen Augenblick und für den Jungen, der sich ihn anscheinend unbewusst im Schlaf als Kuscheltier ausgesucht hatte. Es quoll über vor Zuneigung und auch Begeisterung, dass es möglich war, dass sie sich so nahe waren. Es quoll jedoch auch über vor Aufregung, was passieren würde, wenn Jean aufwachte. Was schneller geschehen würde, als es Jeremy lieb war, denn seine Blase meldete nun dringenden Bedarf eines Badezimmerbesuches an. Lautlos fluchte er in jeder Sprache, die er kannte. Das durfte doch nicht wahr sein, nein nein nein. Verdammt, ausgerechnet jetzt, oh nein, verdammt. Er wollte hier nicht weg, aber er musste. Wortwörtlich und im übertragenen Sinn. Das Schicksal musste ihn hassen. Wirklich hassen. „Jean“, sagte Jeremy so leise und beruhigend, wie er es vermochte um den Jungen hinter sich aufzuwecken und ihn nicht zu verschrecken oder zu überfordern. Nichts tat sich, der Atem ging noch nicht einmal anders. Oh Gott. „Jean“, versuchte er es lauter und der andere Junge regte sich, doch noch war keine wirkliche Wachheit zu erkennen. „Mr. Gewitterwolke“, brummte er tiefer als sonst. „Ich weiß, dass das gerade sehr bequem ist und dass ich dich aus deinem wohlverdienten Schlaf hole, aber ich muss wirklich dringend zum Klo“, sagte er langsam und die Atmung änderte sich. Die Muskeln waren weniger entspannt als vorher, etwas, das Jeremy jetzt erst auffiel. Daran erkannte er, dass Jean wach wurde. Ein minimales Zucken ging durch den Körper des Backliners. „Jean, ich komme gleich gerne wieder zurück, aber es wäre gut, wenn du mich jetzt einen Moment loslassen würdest“, sagte Jeremy mit einem leidenden Blick aus dem Fenster und ein entsetztes Aufkeuchen antwortete ihm, begleitet von einem panischen Zurückzucken des Arms, der ihn so wunderbar gehalten hatte, und einer kühlen Leere genau dort, wo vorher ihrer Körper verbunden gewesen waren. ~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 58: Frohes Neues ------------------------ Wie betäubt sah Jean dem glückselig strahlenden Jungen hinterher, der aus dem Bett sprang, als hätte Jean ihn nicht in der Nacht gegen seinen Willen an sich gepresst und festgehalten. So festgehalten, dass Knox nicht hatte auf die Toilette gehen können. Er schluckte mühevoll, während er nur langsam begriff, was er eigentlich getan hatte und was für ein Monster er war. Obwohl er es selbst nicht ertrug, gegen seinen Willen berührt zu werden, presste er den schlafenden Jungen an sich, hielt ihn so, dass es für ihn kein Entkommen gab. Und das Schlimmste war, dass es ihm auch noch gefallen hatte, so aufzuwachen. Bevor er mit Schrecken erkannt hatte, was er hier tat, hatte er gut geschlafen. Mehr noch. Er war entspannt gewesen, gelöst, in Sicherheit. Das gleiche Gefühl, das er hatte, als er Barnie im Schlaf umarmt hatte. Er hatte sich gut gefühlt, aufgehoben in der Sicherheit der Wärme und Nähe eines anderen Lebewesens. Es hatte ihm gefallen. Und einem Teil in ihm gefiel es immer noch, obwohl er das Undenkbare getan hatte. Jean sah auf seine zitternden Hände. Sein Instinkt riet ihm zur Flucht, weg aus dem Bett, von von hier, weg von seiner Schande. Doch wo sollte er hin? Hier ins Haus? Etwa in den Keller? Nein. Das wäre lächerlich. Weg in die Wildnis? Was würde das lösen? Nichts würde das lösen. Also musste er hier ausharren, bis Knox wiederkam und ihm unter die Augen trat. Der Moment kam schneller als gedacht und starr bohrten sich Jeans Augen in die weiße, bequeme Decke des viel zu bequemen Bettes. Er ballte die Hände zu Fäusten und hörte, wie der andere Junge verharrte. „Jean?“, fragte Knox schließlich und der Konflikt wurde unvermeidbar, so ergab sich Jean seinem Schicksal und sah hoch, direkt in die blauen, unsicheren Augen auf dem viel zu entspannten Gesicht. Viel zu gerötet war es von der Freude, die Jean vor Minuten auf dem braungebrannten Gesicht gesehen hatte. „Warum bist du so fröhlich?“, verließ es wie ein Fluch seine Lippen und er bereute die Worte beinahe sofort. In jedem Moment mehr, als er sah, dass Knox‘ Freude einer Verunsicherung wich, die alleine er hervorgerufen hatte – mal wieder. Jean holte tief Luft, als er das vorsichtige Schweigen des anderen Jungen nicht mehr ertrug. Er nahm allen Mut zusammen, um die Worte hervor zu pressen, die ihm auf der Zunge brannten. „Ich meine… ich habe ich gegen deinen Willen und ohne dein Einverständnis angefasst. Ich habe dich an mich gepresst, ohne, dass du das wolltest und ich habe dich daran gehindert, auf die Toilette zu gehen. Wieso kannst du so da stehen und lächeln?“, strömte es verständnislos heraus ohne dass Jean die Worte filtern konnte. Aus der Verwirrung wurde Erkenntnis und Jean ahnte Schlimmes. Sehr viel Schlimmes, denn Knox trat einen Schritt nach vorne. Wie betäubt starrte Jean zu ihm hoch. „Darf ich mich setzen?“, fragte der blonde Junge und Jean folgte tumb seinem Fingerzeig in Richtung Bettkante. Er nickte, auch wenn er nicht verstand, warum Knox das wollte. Die Nähe zu ihm, dem Selbstsüchtigen, dem Zwingenden, suchte. „Ich fand es schön, wie du mich gehalten hast.“ Ein Satz, der alle Gedanken in Jean zum Erliegen brachte, die gerade durch seinen Kopf tobten. Wie er ihn gehalten hatte, nicht dass er ihn gehalten hatte. Er stellte die Handlung noch nicht einmal in Frage. „Ich…habe dich fest an mich gepresst“, hakte Jean ungläubig nach und Knox nickte. „Ich habe dich nicht gefragt.“ „Das ist richtig. Aber weder du noch ich waren wach.“ War es so einfach, eine unerlaubte Berührung zu vergeben? „Du hast nicht zugestimmt.“ Die blauen Augen maßen ihn aufmerksam, mit viel zu viel Wissen, als dass es Jean wirklich angenehm war. „Ich stimme nachträglich zu, mit dem Wissen, dass ich schon vorher zugestimmt hätte, Jean. Ich habe nichts dagegen, dass du mich umarmst oder dass du mich an dich presst. Wirklich nicht.“ „Aber ich habe dich davon abgehalten, zur Toilette zu gehen.“ „Nein, meine Blase hat sich einen ungünstigen und ätzenden Zeitpunkt ausgesucht, mich zu stören, wie ich gemütlich in deinen Armen gelegen habe“, erwiderte er und Jean runzelte ungläubig die Stirn. „Du musst mich nicht in Schutz nehmen“, grollte er und Knox schüttelte den Kopf. Das Lächeln verschwand zugunsten von Ernsthaftigkeit und für elendig lange Momente schwieg er. Als Knox dann auch noch den Blick auf die Bettdecke senkte und seine Finger mit eben jener spielten, um Zeit zu gewinnen, ahnte Jean Böses. Vielleicht hätte er doch hinaus in den Schnee fliehen sollen, unvernünftig und kopflos. Besser als das, was nun kommen mochte, war das sicherlich auf jeden Fall. Knox atmete tief durch und sah hoch, auf seinen Lippen ein schiefes Lächeln voller Trauer, das Jean einen Schauer über den Rücken jagte. „Wenn meine Blase mich nicht aus dem Bett gezerrt hätte, wäre ich liegen geblieben und hätte deine Umarmung und deine Nähe genossen, bis du aufgewacht wärst“, sagte er vorsichtig und Jean konnte sekundenlang nichts mit den Worten anfangen. Knox fand es schön. Er wäre liegen geblieben. Beide Tatsachen schwirrten in Jeans Gedanken und kreisten umeinander, bis sie irgendwie Sinn ergaben. Was sie nicht taten. Sie brachten Jean aber zu der Frage, ob er es gewollt hatte und ja, das hatte er. Auch jetzt noch war sein schlechtes Gewissen durchtränkt von dem Gefühl, es wieder zu wollen, weil es sich so angenehm angefühlt hatte. Aber mehr noch. Es war eine Vorstufe zu der körperlichen Nähe, die die Männer in dem Video geteilt hatten und je länger Jean darüber nachdachte, umso mehr verwob sich dieser Gedanke mit den Erinnerungen an seine Erregung, als er Knox in dem Club hatte tanzen sehen. Das, was vorher ein Gedankenspiel war, entwickelte sich hier zu einem handfesten Gedanken. Zur Möglichkeit einer Empfindung. „Du bist erschrocken darüber.“ Es war weniger eine Frage als eine Aussage und Jean fand nicht die Kraft um sie zu verneinen. Er war erschrocken darüber, aber nicht über das, was Knox meinte. Er war erschrocken über die Finalität, mit der er sich bewusst wurde, dass er, selbstsüchtig wie er war, den Jungen vor ihm berühren wollte. Mehr als nur einmal. „Jean?“ Er empfand Lust. Hatte sie empfunden und wollte sie wieder empfinden. Er wollte sie mit dem Jungen empfinden, der vor ihm saß und ihn besorgt ansah. Knox streckte seine Hand nach ihm aus, vorsichtig und langsam, immer darauf bedacht, ihm Zeit zum Reagieren zu geben. Jean reagierte tatsächlich und fing die Hand ab, hielt sie sacht mit seiner eigenen fest. „Du verstehst nicht“, kamen Worte über seine Lippen, die er so nicht geplant hatte. Sie waren roh und ungeschliffen und Jean fragte sich, in welches Unglück sie ihn führen würden. Er erlebte und fühlte das zum ersten Mal. Er kannte weder die Spielregeln noch die Grenzen oder das, was man besser nicht sagte. Er war sich sicher, dass es zu einer Katastrophe führen würde, doch Jean konnte nicht anders. „Was verstehe ich nicht?“, hakte der Junge nach, der die letzten Monate immer um ihn herum gewesen war. Der ihn aufgerichtet hatte, nachdem er am Boden gewesen war. Er lebte, weil es neben Alvarez‘ wütenden Worten vorrangig der Gedanke an Knox gewesen war, der ihn davon abgehalten hatte, sich umzubringen. Knox widersprach all dem, was er jemals über Kapitäne von Exy-Mannschaften gelernt hatte. Er widersprach all der Dunkelheit, die ihn gefangen gehalten hatte und die nun langsam, aber stetig dem Licht wich. Jean blieb dabei, dass Renee seine Seele gehörte. Er hatte sie ihr geschenkt. Doch Knox…Knox gehörten seine Gefühle. Nur sein Körper war rein und alleine sein eigener. „Diese Berührungen…sie sind nicht das Einzige“, begann er, wusste jedoch nicht weiter. Angestrengt fixierte er sich auf die Hand in seiner. Schwielen hatten sie. „Sondern?“ „Du verstehst das nicht“, wiederholte Jean und Knox legte den Kopf schief, war er mehr hörte als sah. „Ich möchte dich nicht berühren“, begann er und sah rechtzeitig auf, um Zeuge falscher Erkenntnis in den blauen Augen seines Kapitäns zu werden, dicht gefolgt von Bedauern und dem Versuch, Jean seine Hand zu entziehen. „Entsch…“, begann Knox und Jean grollte. Das hatte er doch gar nicht so sagen wollen, wieso konnte er sich plötzlich nicht mehr ausdrücken? Vielleicht, weil es das erste Mal war, dass er so etwas überhaupt aussprechen musste. Das erste Mal, dass er sich freiwillig dem Thema Sexualität zuwandte und das auch noch nicht einmal mit sicherem Ausgang. Mit der Gefahr, dass es fürchterlich schief ging, dass seine Erlebnisse ihn unfähig machten, einem anderen Jungen so nahe zu sein. Oder vielleicht hatte Knox auch einfach kein Interesse, weil er beschädigt war. Weil er nicht so war wie normale Menschen, ohne Trauma. Jean griff fester zu und hielt die schwieligen Finger davon ab, sich ihm zu entziehen. Nächster Versuch also. Er atmete tief ein. „Ich möchte dich nicht nur so berühren“, schob er hinterher, seine Stimme vor Hast und Schnelligkeit undeutlicher denn je. Der Akzent seiner Muttersprache kam stärker durch, wie immer, wenn er emotional war. Verwirrt öffnete Knox den Mund, doch Jean war schneller. Wenn er jetzt nicht sagte, was unter der Oberfläche seiner Haut schlummerte, dann würde er es nie sagen. Ungünstiger Zeitpunkt hin oder her. „Ich möchte dich so berühren, wie der Reporter dich berührt hat“, platzte es aus Jean heraus. „Zumindest glaube ich das, denn ich fühle mich in deiner Nähe wohl und als du dich das letzte Mal auf der Tanzfläche bewegt hast, hat es sich auch noch anders angefühlt als sonst. Und die Männer in dem Video, da habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, wenn…ich meine…“ Jean verstummte, als er sah, dass er Unsinn erzählte und dass diese Tatsache frei und offen auf Knox‘ Gesicht stand. „Und auch wenn der Reporter und auch mein…mein Vater meinen, dass du es wollen würdest, so kann ich verstehen, wenn dem nicht so ist. Ich meine, ich bin schließlich nicht das, was du dir vorstellst und ich weiß auch gar nicht, was genau ich will und was man braucht für…also dafür“, fuhr er dennoch fort mit den Unsinnigkeiten. „Ich weiß ja noch nicht einmal, ob ich in der Lage bin, die Dinge zu tun, die die Männer in dem Video getan haben oder die der Reporter getan hat und vielleicht möchtest du diese Dinge auch gar nicht mit mir tun, weil ich unerfahren bin und schwierig und weil ich Dinge getan habe, die dich verletzen.“ So, jetzt sollte er wirklich den Mund halten. Es kam nur noch Mist heraus, der die Situation noch vertrackter werden ließ, als sie es jetzt schon war. Peinlich berührt löste Jean sich von Knox Hand, doch dieses Mal war es der blonde Junge, der seine Finger nicht gehen ließ und sie einfing. „Hey.“ Jean ignorierte das Wort, so gut er konnte und sah an Knox vorbei auf das Bett. Sie beide trugen noch ihre Schlafsachen und die Tatsache, dass es Jean jetzt erst bewusst wurde, wie nah sie sich darüber hinaus waren, zeigte ihm, wieviel Vertrauen er auch schon unterbewusst zu Knox hatte. Mal sehen, ob der andere Junge überhaupt noch Vertrauen zu ihm hatte, nachdem sie über dieses Chaos hier gesprochen hatten. „Hey.“ Eindringlicher, störrischer, ganz Knox eben. Jean stählte sich und sah auf, suchte den Weg in die blauen Augen und das, wie er jetzt erkannte, feuerrote Gesicht. Knox war unruhig, wie immer, wenn er aufgeregt war und die Finger seiner freien Hand bewegten sich unablässig. Das hieß jedoch noch lange nicht, dass Knox irgendetwas sagte. Ganz im Gegenteil. Analysierend huschten seine Augen hin und her und schienen Jeans Gesicht zu vermessen. Auf Ehrlichkeit? Vermutlich. „Jean…“ Das war sein Name. Aber der Unterton machte es ganz und gar nicht gut. Die Ernsthaftigkeit dort war beängstigend. Die Augen hörten auf sich zu bewegen und fixierten ihn ohne Unterlass. „Ich möchte das auch.“ Vier einfache Worte, die bei näherer Betrachtung alles andere als das waren. Was wollte Knox auch? Worauf bezog sich das? Auf alles, was er gesagt hatte? Jean runzelte die Stirn. „Was meinst du?“, hakte er rau nach und Knox versuchte sich an einem Lächeln, die Wangen immer noch feuerrot und die Augen strahlend. „Dir nahe sein. Und näher als nahe sein.“ Blinzelnd versuchte Jean die Worte zu verstehen. Er glaubte, sich verhört zu haben. Oder etwas falsch verstanden zu haben. Das war doch nicht so einfach. Es konnte nicht so einfach sein. Ein verwirrter Laut verließ seine Lippen und er biss sich auf eben jene. „Das kann nicht sein“, entschied er dann und Knox legte den Kopf schief. „Warum nicht?“, fragte er viel zu sanft. „Weil es nicht geht.“ „Warum sollte es das nicht?“ Jean zog abrupt seine Hand zurück und verschränkte unwohl die Arme vor sich. Er zog auch seine Beine zu sich und grub seine Zehen in das Laken unter ihm. „Warum sollte es so einfach sein?“, stellte er die Gegenfrage. „Ich weiß doch noch nicht einmal, ob ich es kann. Ich bin beschädigt, in allem, was ich tue.“ Nur zu vorhersehbarer Unmut huschte über Knox‘ Gesicht. „Du bist nicht beschädigt, Jean. Dir wurde Gewalt angetan, körperliche und geistige Gewalt.“ „Nenn es, wie du es willst, es führt dazu, dass ich niemals so sein werde wie der Reporter.“ Knox hob bedeutungsschwanger die Augenbrauen. „Allan. Und natürlich bist du nicht wie er. Du bist dein eigener Mensch. Mit all deinen Facetten, die dich einzigartig machen.“ Worte, die Jean zwar verstand, die er aber nicht verarbeiten konnte. Hilflos wandte er den Blick ab. „Du redest dir das schön“, grimmte er dann, doch Knox schüttelte nur den Kopf. „Ich rede mir gar nichts schön, Jean. Ich habe dich über die letzten Monate über kennengelernt und viel Zeit mit dir verbracht. Ich habe in dir einen wunderbaren Freund gefunden und mehr als das. Ich möchte dir auch nahe sein. Und wenn du es nicht kannst, dann ist das auch in Ordnung.“ „Es wird dich verletzen!“ „Nein, das wird es nicht.“ „Was, wenn ich körperliche Intimität doch nicht ertragen kann?“ „Dann erträgst du sie nicht. Das ist okay.“ „Was, wenn ich auch normale Nähe nicht möchte?“ „Dann ist das auch okay.“ Jean fand es alles andere als okay. „Ich weiß nicht, wie das ist…freiwillige Intimität. Ich mache sicher viele Dinge falsch.“ „Du machst sie nicht falsch, du machst sie anders und entscheidest dann, ob dir das gefällt.“ Verzweifelt grollte Jean über die Sturheit des Jungen, der anscheinend nicht wusste, was gut für ihn war. „Wieso willst du dich mit mir abgeben? Ich bin ein fürchterlicher Mensch“, versuchte er beinahe schon bitter, die Wahrheit aus Knox herauszupressen, doch er scheiterte an dem viel zu begeisterten Gesicht. „Weil du ein wunderbarer Mensch bist, bissigen Humor und ein großes Herz hast, was du sehr gut unter Tonnen an Kritik zu verstecken weißt. Weil du alles Glück der Welt verdient hast und ich gerne Teil dieses Glücks sein möchte. Ich möchte gerne in deiner Nähe sein und deine Nähe spüren, wenn du es erlaubst und dich wohl damit fühlst. Hinzukommt, dass du wirklich wirklich attraktiv bist, unverschämterweise so. Mir fallen viele Gründe ein, warum, Jean, aber unterm Strich kann man sagen, dass ich schon ein bisschen verliebt in dich bin.“ Wie ein Donnerschlag verhallten Knox‘ Worte zwischen ihnen und Jean starrte in das Gesicht, die erschrockenen Augen, die offenen Lippen, die gerade vermutlich Dinge ausgeplaudert hatten, die so noch nie laut gesagt worden waren. Er wurde geliebt und alleine das Wissen darum war beinahe augenblicklich zuviel für Jean. Panik schoss in ihm hoch und ließ ihn ungelenk aus dem Bett stolpern. Instinktiv suchte er die Flucht, die ihm die Situation bot, und schneller, als er es wirklich begreifen konnte, war er auf dem Flur. Erst, als die Tür ins Schloss fiel und ihn von Knox trennte, wurde sich Jean bewusst, dass es eigentlich genau das genaue Gegenteil von dem war, was er eigentlich wollte und brauchte. Und was Knox brauchte, nachdem er ihm das gesagt hatte, dieses intime Geständnis von Emotionen, die so angreifbar machten. Unwirsch drehte Jean sich wieder um und riss die Tür auf, sah sich mit weiten, erschrockenen, aber auch traurigen Augen konfrontiert. Natürlich, er hatte es mal wieder geschafft und war nun wieder derjenige, der Knox verletzt hatte. Bestimmt schloss Jean die Tür hinter sich und kam zum Bett zurück. Etwas steif setzte er sich neben Knox, näher als gerade, aber immer noch weit genug, damit etwas Abstand zwischen ihnen war. „Siehst du, es geht schon los. Ich habe dich schon wieder traurig gemacht, nur weil mich Dinge erschrecken“, murmelte er und biss sich auf die Unterlippe. „Es ist okay“, versuchte sich Knox an einem wackligen Lächeln und Jean grollte. „Das sagt Josten auch immer und es ist genauso gelogen wie deine Worte jetzt.“ Ertappt zog Knox den Kopf zwischen die Schultern und die Beine zu sich, bettete sein Kinn auf die Knie. Aufmerksam und viel zu einfühlsam wurde Jean gemustert. „Du bist nicht beschädigt oder anders als andere Menschen, Jean. Du bist einfach ein toller Mensch und ich würde mich freuen, dir nahe zu sein. Aber wenn das nicht geht, dann ist es auch in Ordnung, wirklich.“ „Ich habe Angst“, gestand Jean ein. „Davor, es nicht richtig zu machen, vor meinen Erinnerungen und vor den Gefühlen, die so ganz anders sind als all das, was ich bisher gefühlt habe. Ich habe Angst vor dem Wort Liebe. Es ist so gewichtig, so neu. Es macht Dinge mit mir, die ich vorher nicht kannte.“ Knox hob seinen Kopf und nickte bedächtig. „Möchtest du darüber sprechen?“ Wollte er? Jean wusste es nicht wirklich. Alleine das Konzept Liebe war für eine lange Zeit undenkbar gewesen. Er hatte das Wort verachtet und es negativ unterlegt. Liebe zur Gewalt. Liebe zur Folter. Liebe zur Perversion und Liebe für das Leid anderer. Doch nichts davon traf auf den Jungen zu, der neben ihm saß, größer und stärker, als es Riko jemals gewesen war und doch auf eine ganz offene Art verletzlich. Knox gab offen zu, dass er in ihn verliebt war und das erschreckte Jean, weil er nicht wusste, wie sich das anfühlte. So wie jetzt? War es der Wunsch, Knox nahe zu sein, auch nachdem nicht mehr hier waren am College? War es die verbindliche Sicherheit, die er in der Gegenwart des anderen Menschen verspürte? War es die Lust, die er verspürt hatte, als er das Video der beiden Männer gesehen und sich vorgestellt hatte, wie es war, das mit Knox zu tun? Jean wollte all diese Fragen stellen, doch er traute sich nicht. Noch nicht. Er schüttelte den Kopf und es war okay. Knox akzeptierte das. „Ich weiß nicht, ob ich lieben kann“, sagte Jean schlussendlich ehrlich, doch auch das traf nicht auf Ablehnung. Im Gegenteil. Knox musterte ihn mit einem sanften Lächeln voller Offenheit. Er sagte nichts und unsicher schwieg Jean, da er mit noch mehr Fragen zurückblieb als vorher. Er wusste nicht, wie er weitermachen sollte, was nun als nächstes kam oder was von ihm erwartet wurde. Das hier war, so erkannte Jean mit erschreckender Klarheit, die Welt ohne Netz und doppeltem Boden. Das hier war um Längen unbekannter als seine Ankunft in Los Angeles vor ein paar Monaten. In diesem Schweigen krochen Knox‘ Finger zu ihm, langsam, klar erkennbar. Jean beobachtete wie sie sich unweit von ihm auf das Bett legten, mit der Handinnenfläche nach oben. Es war ein Angebot, ein Versprechen, es war der erste Schritt zu etwas, das Jean nie für möglich gehalten hatte und das doch so einfach war. Er schluckte schwer und seine eigenen, verräterischen Finger zuckten, als sie wie ein Magnet von der dort liegenden Hand angezogen wurden. Ja, er wollte Nähe. Knox‘ Nähe. Die Nähe des Jungen, nicht des Kapitäns. Er wollte vergessen, was geschehen war und die schlechten Erinnerungen mit guten verdrängen, soweit es ihm möglich war. Jeans Finger strichen hauchzart über die Haut der Handinnenfläche und fuhren die Linien dort nach. Fragend sah er hoch und erkannte keine Ablehnung auf dem glücklich strahlenden Gesicht des blonden Jungen, auch nicht, als er jeden einzelnen der Finger nachfuhr. Liebe… er wusste nicht, was genau es war, aber war es wichtig im Angesicht dessen, was er bereit war zu tun? „Würdest du mich irgendwann noch einmal so wie beim Aufwachen in den Arm nehmen?“, fragte Knox schließlich leise und Jean dachte auf dieser Frage herum. Warum nicht? Er hatte sich wohl gefühlt, er hatte keine Angst gehabt. Es war sicherlich keine Unmöglichkeit. „Wann?“, fragte er und Knox zuckte verlegen mit den Schultern. „Jetzt?“ Jean seufzte innerlich und nickte. Er konnte diesem Jungen den Wunsch nicht abschlagen. Er wollte es auch gar nicht, insbesondere, weil Knox über das ganze Gesicht strahlte und weil sich eine Wärme in seiner Brust ausbreitete, die mehr als angenehm war. Und weil er es selbst auch wollte. Ohne zu zögern legte der blonde Junge sich hin und robbte nach oben zum Kopfende. Jean folgte langsamer, dafür mit klopfendem Herzen und legte sich vorsichtig neben ihn, erst einmal darauf bedacht, Abstand zu halten. „Soll ich auch den Arm um dich legen?“, fragte er, weil er nichts ohne Knox‘ Einverständnis machen wollte und der blonde Junge nickte. Vorsichtig bettete Jean seinen Arm auf den vor ihm liegenden Körper. „Darf ich näher an dich herankommen?“, fragte Knox und anstelle einer Antwort rückte Jean entschlossen näher. Vorsichtig presste er erst seine Brust an Knox‘ Rücken, dann folgte auch der Rest seiner Vorderseite, bis sie ihre Ausgangsposition hatten, Körper an Körper, noch nicht einmal getrennt durch eine Decke. Menschliche Nähe, die nur noch übertroffen konnte von Nacktheit. Jean schluckte trocken und versuchte das Chaos seiner Gedanken und Gefühle zu ordnen. Was dachte er darüber? Es war ungewohnt, aber doch nicht schlimm. Er mochte es und nahm es nicht als Gefahr wahr. Knox roch gut und die Atmung des anderen Jungen gab ihm einen Rhythmus vor, der ihn mit jeder Sekunde beruhigte. Das Wohlbefinden seines Aufwachens stellte sich wieder ein und Jean fragte sich, ob es nach all den Umarmungen und dem Hände Halten unausweichlich gewesen war, dass sie nun auch das hier teilten? Schon als er das erste Mal keine Abneigung gegen Knox‘ Berührung verspürt hatte, sondern vorsichtiges Vertrauen in den Anderen geschöpft hatte. Dass er nun den energiegeladenen Körper des Strikers an sich gepresst hielt, war ein Gefühl sondergleichen. Jean konnte spüren, wie sich Knox‘ Muskeln zwischen ihnen bewegten, er spürte jede kleinste Bewegung und das verursachte ihm eine Gänsehaut, die nichts mit Angst zu tun hatte. Es war ein Gefühl, das er so noch nie gespürt hatte. Eine Macht…die nicht zerstörerisch war. Eine Verantwortung, dem Jungen vor ihm nicht wehzutun. „Ist das okay für dich oder sollen wir uns wieder lösen?“, fragte eben jener sacht und Jean schnaubte in die blonden Haare, die seine Nase kitzelten. „Es ist okay…und schön.“ Knox gab einen zufriedenen Laut von sich und verschränkte vorsichtig ihre Finger miteinander. „Dann können wir ja jetzt weiterschlafen.“ Jean grollte. „Es ist beinahe schon Mittag.“ „Es ist gerade mal halb neun“, hielt Knox entsetzt dagegen und Jean rollte mit den Augen. „Schon halb neun, Knox.“ „Wir haben Urlaub. Außerdem sind die Anderen garantiert noch nicht wach.“ „Also genug Zeit für Ausdauertraining.“ Ein Laut irgendwo zwischen Verzweiflung und Resignation entkam Knox und Jeans Lippen zogen sich zu einem Lächeln nach oben. Es war schön so. Wirklich schön. „Was für ein Video meinst du eigentlich?“, fragte Knox schließlich und Jean hob die Augenbrauen. Stimmt, in seinem Gestammel hatte er Renees Video erwähnt. Wie auch seinen Vater und den Reporter. „Renee hat es mir geschickt. Das und ein paar andere. Frauen mit Männern, Frauen mit Frauen, Männern mit Männern, alles zusammen…damit ich herausfinden kann, was mir gefällt. Und das Video der beiden Männer hat mir gut gefallen“, gab Jean leise zu, fast schon schüchtern. Noch viel mehr als seine Worte an Knox war das ein Eingeständnis seiner Vorlieben, das in Evermore gefürchtete Konsequenzen gehabt hätte. Es hätte ihm weitere Demütigungen eingebracht. Die Angst davor war auch jetzt da, tief in ihm eingebrannt, und kurz flammte sie auf. Doch Jean gelang es, sie zurück zu drücken und sich bewusst zu werden, dass der blonde Junge vor ihm niemals zu handeln würde. „Oh.“ Fragend sah Jean auf den blonden Schopf. „Oh?“, echote er und Knox lachte verlegen. „Also ein Porno?“ Jean blinzelte und runzelte die Stirn. War es das? Ein Porno? „Sie haben Sex“, erläuterte er schulternzuckend und Knox räusperte sich verlegen. „In verschiedenen Positionen.“ „Das ist so ziemlich genau die Definition eines Pornos, ja.“ Nachdenklich brummte Jean. „Ich könnte ihn dir zeigen.“ Knox musste sich ein wenig verrenken, um ihn anzusehen und Jean war verzaubert von den geröteten Wangen. „Gerne, aber bitte nicht jetzt. Ein Porno wäre…zuviel für mich heute Morgen“, erwiderte er ehrlich und Jean verstand, was Knox ihm damit sagen wollte. Schließlich war auch er davon erregt gewesen und soweit war Jean noch nicht, dass er mit der Lust des anderen Jungen zwanglos und spontan umgehen konnte. Jean brummte und ein anderes Thema kam ihm in den Sinn. „Wirst du es dem Rest des Teams sagen? Das hier?“, fragte er vorsichtig und Knox lächelte. „Nur, wenn du es auch willst, Jean. Wir beide entscheiden darüber.“ Er überlegte. Wollte er es zum jetzigen Zeitpunkt? Nein. Denn so sehr er sein Team auch…nicht hasste…so sehr wusste er, dass diese es gut meinenden Menschen ihn nicht in Ruhe lassen würden. Außerdem wusste er auch noch gar nicht, ob er diese neue, intime Situation, die ihn unsicher machte, mit ihnen teilen wollte. „Ich möchte es erst einmal nicht“, entschied er und es war vollkommen in Ordnung für den Jungen, der vor ihm lag und dessen körperliche Wärme auf Jean überging, auch wenn das physikalisch überhaupt keinen Sinn machte. Knox bestätigte ihm das, mit Worten, Gesten und alleine mit dem Wissen, dass er Jean niemals Schmerzen zufügen oder ihn demütigen würde. ~~**~~ Jeremy lächelte, als Jean schlussendlich ins Bad ging, um sich zu duschen. Er lächelte, als sie zum Frühstück nach unten gingen, in angemessenem Abstand, denn Jean fühlte sich noch unsicher damit, ihre Verbindung vor dem Team preiszugeben. Er lächelte während des Frühstücks und auf dem anschließenden Weg zu ihrem traditionellen Hügel, auf dem sie Schlitten fahren würden, während er den dick eingepackten Jean mit Mütze, Schal und Handschuhen dabei beobachtete, wie er mit Val scherzte und Ajeet unmissverständlich zu verstehen gab, dass ein Schneeball in seinem Gesicht keine gute Wahl wäre. Jeremy konnte nicht anders, all das Glück, das in ihm seine Kreise zog, musste irgendwie raus. Es suchte sich erbarmungslos seinen Weg. Er war dem fast hilflos ausgeliefert… nicht, dass er etwas dagegen hatte. Verstohlen warf Jeremy einen Blick auf Jean, während dieser mit Laila vor ihnen lief, scheinbar mühelos den Hügel hinauf, den sie gerade mit den Schlitten erklommen. Dieses Mal war ihr ganzes Team mit dabei und stapfte laut lachend und scherzend durch den Schnee. Ihre Tradition, das alljährliche Schlittenrennen, dessen zwei Sieger einen Abend Essen und Weggehen vom restlichen Team gesponsert bekamen. Jeremy grinste. Er schäumte schier über vor Endorphinen. Immer und immer wieder ließ er sich ihr Gespräch durch den Kopf gehen, die ehrlichen Worte, die sowohl seine als auch Jeans Lippen verlassen hatten. Hätte Jeremy gedacht, dass Jean ebenfalls etwas für ihn fühlte? Nein. Hätte er gedacht, dass seine ehrlichen und unbedachten Worte auf Zustimmung und nicht, wie für Schrecksekunden befürchtet, auf Ablehnung stießen? Nicht wirklich. Und doch hatte Jean stockend und unsicher Worte herausgepresst, die in all ihrer Unglaublichkeit erst einmal keinen Sinn für Jeremy ergeben hatten und sie sich erst spät zu etwas ungeheuerlich Schönem zusammenfügten. Jean wollte ihm nahe sein. Er wollte ihm nahe sein. Näher als nah. Jean hatte ihn umarmt, er hatte ihn mit Worten beschenkt, die Jeremy niemals für möglich gehalten hätte. Und trotz aller Wenns und Abers, die zwischen ihnen schwebten, trotz all der Unsicherheit und Angst, die er auch hatte, etwas falsch zu machen und das Zarte zu zerstören, was sie hatten, wollte er sich ins Ungewisse stürzen und Jean ein gutes Beispiel sein. Er wollte ihm wunderbare Erinnerungen bereiten. Natürlich war sich Jeremy der immensen Verantwortung bewusst, die er dabei trug. Er war der erste Junge, der Jean nahe sein durfte und der ihm nicht wehtat. Er war der Erste, der mit Jean intime Nähe teilen würde, wenn dieser es zuließ. Die Verantwortung war immens und Jeremy war in gleichen Teilen erschrocken und vollkommen erstaunt über dieses gewaltige Vertrauen. Und natürlich schrie alles in Jeremy nach Jeans Nähe. Er würde den anderen Jungen gerne halten, ihn umarmen, ihm nahe sein. Er würde ihm gerne sagen, dass er wunderschön war, dass er gut roch, dass die Kraft in seinen Armen so wunderbar war. Doch all das ließ Jeremy unter der Oberfläche seiner Gefühle für Jean schlummern, denn er ahnte instinktiv, dass es noch nicht die richtige Zeit dafür sein würde. Wenn sie es denn jemals war. Nichts wollte Jeremy weniger als Jean mit seinen Emotionen zu verschrecken. „…rde an Jeremy Knox, Kapitän der Trojans, achtfacher Gewinner des Kayleigh-Day-Spirt-Awards, ewiger Verlierer unserer Schlittenrennen…“ Jeremy schreckte aus seinen Gedanken hoch, gerade rechtzeitig um mitzuerleben, wie Alvarez ihm gegen den Oberarm boxen wollte. Grollend wich Jeremy ihr aus und schubste sie in Richtung Wegesrand. Sie lachte und krallte sich an ihm fest, die Drohung, ihn mit in den Abgrund zu reißen, immanent. „Was willst du, Vizekapitän des drittbesten Teams der Liga?“, grollte er mit klopfendem Herzen und Alvarez schnaubte. „Wissen, was gestern Nacht passiert ist.“ Jeremy runzelte die Stirn. „Was soll passiert sein?“ „Du grinst wie das letzte Honigkuchenpferd. Hattet ihr Sex?“ Jeremys Kopf schoss in einer solchen Geschwindigkeit herum, dass es in seinem Nacken knirschte. Wild sah er sich um ob jemand ihnen zugehört hatte, doch Alvarez‘ Frage war in dem allgemeinen Lärm ihres Teams untergegangen. „Was?“, zischte er. „Du lässt Mr. Tall-Dark-Sexy-and-Glowing heute nicht aus deinen Augen. Er sieht ständig zu dir. Ihr verhaltet euch komischer als sonst. Glaubst du, ich wäre blind? Los, gib mir Informationen.“ Jeremy versuchte, sich von dem Kraken an seinem Arm loszumachen – mit wenig Erfolg. Alvarez krallte sich erbarmungslos an ihm fest. „Es ist alles okay!“, sagte er und das war nicht gelogen. Es war okay, mehr als das. Vielmehr als das. „Captain Nichtssagend hat Ausgang, oder wie? Natürlich ist alles okay, das sehe ich auch. Also…habt ihr gev…“ Weiter kam sie nicht, als Jeremy ihr den Mund zuhielt. „Ruhe jetzt“, grollte er unerfreut. „Frag das nicht, zumindest nicht so laut. Und nein, haben wir nicht.“ Vielsagend hob Alvarez die Augenbrauen und deutete mit ihren Augen in Richtung Jean, der sich – des Tumults bewusst – zu ihnen beiden herumdrehte. Alvarez winkte und Jean sah fragend zu Jeremy. „Dieser Teufel hier möchte wissen, ob wir letzte Nacht gut geschlafen haben“, soufflierte Jeremy mit einem ironischen Unterton und Jean bohrte seinen durchdringenden Blick in Alvarez‘ viel zu neugierige Augen. „Es war okay“, antwortete Jean unbewegt, ausdruckslos beinahe und für einen Moment nahm Jeremy das sehr ernst. Doch bevor enttäuschte Verwirrung in ihm Fuß fassen konnte, hörte er den ironischen Unterton in der staubtrockenen Stimme und lachte. Alvarez befreite sich von ihm und stemmte die Hände in die Hüften. „Du verbirgst etwas, Franzose!“, behauptete sie und Jean zuckte nonchalant mit den Schultern. „Wundert dich das?“, stellte er die ironische Gegenfrage und ein zischender Laut entkam seiner Mitbacklinerin. „Ich werde dich gleich so was von nass machen, Moreau, das glaubst du doch wohl!“ Jean hob nur die Augenbrauen und Jeremy dachte unwillkürlich an das Geständnis des anderen Jungen, dass er noch nie einen Schneeengel und noch nie eine Schlittenfahrt gemacht hatte. Auch das hier wäre sein erstes Mal und Jeremy würde alles dafür tun, dass es eine gute und tolle Erfahrung wurde. Wie gut, dass Jean noch nicht ahnte, wie oft sie im Schnee landen würden. Sie gingen weiter und erreichten schließlich die Hügelkuppe, von der aus es einen wunderbaren Blick in das schneebedeckte Tal mit den benachbarten Wäldern gab. Jeremy seufzte und sein Brustkorb wurde beinahe vor überschäumendem Glück gesprengt. Liebevoll strich er über den Holzschlitten an seiner Seite. Er räusperte sich und drehte sich zu den Trojans. „So Leute, ihr kennt den Drill. Wir grooven uns erst einmal ein, machen ein paar Durchgänge zur Probe. Dann wird es ernst und wir machen unser berühmt-berüchtigtes Rennen, das ich natürlich dieses Jahr gewinnen werde!“ Das Lachen seines Teams war wohlverdient und Jeremy grinste. Einzig Jean maß ihn verwirrt. „Laila sagte, dass man zu zweit auf einem Schlitten sitzt“, sagte er kritisch und Jeremy nickte. „Mit wem sitzt du auf diesem Gerät?“ Jeremy grinste. „Mit dir natürlich!“ Jean schnaubte. „Und was, wenn ich gewinnen will?“ Für einen Moment herrschte Stille, dann lachte Ajeet als Erster laut auf, gefolgt vom Rest der überraschten Trojans. „Oh mein Gott, habe ich da Humor gehört?“, fragte Val mit gespielter Empörung und stemmte die Hände in die Hüften. Jean rollte mit den Augen und vergrub seine Hände in den Taschen seines Wintermantels. „Träum weiter.“ „Von dir und deinem Humor? Immer!“ „Geh weg, unheimliches Weib.“ „Geh du doch weg, Mr. ich-bin-mit-der-Bande-verheiratet.“ Dass Jean die Bande des Exyfeldes sehr häufig und gerne in seine Pässe miteinbezog, wussten sie mittlerweile alle. Dass er es mit einer beneidenswerten Präzision tat, ebenfalls. Insbesondere Val war das genaue Gegenteil und sie konnte mit der Bande auch nach Jahren nicht wirklich etwas anfangen. Das war ein stetiger Quell des Spotts zwischen den Beiden. „Schlitten?“, mischte Jeremy sich in die aufkommende Diskussion ein, die er auf Jeans Gesicht sah und deutete neben sich. Eingehend maß Jean ihn, als hätte er das hölzerne Gestell nicht schon auf dem Weg hierhin gesehen. „Soll ich beim ersten Mal vorne sitzen und du hältst dich fest? Oder willst du ganz alleine fahren?“, fragte er und Jean schüttelte langsam den Kopf „Nein, ich möchte zunächst nicht alleine fahren. Wo hält man sich fest?“, fragte er und Jeremy deutete auf die hinteren Streben. „Entweder dort oder an dem vorne Sitzenden.“ Jean hob vielsagend die Augenbraue. „Ich nehme an, Letzteres ist sicherer?“ „Ja natürlich“, behauptete Jeremy zwinkernd und er liebte den Moment, genau wissend, dass er mit Jean scherzen konnte ohne dass dieser aus Unwissen vor der Ironie, die dahinter stand, Angst hatte. Jeans hellgraue Augen sagten ihm genau das und Jeremy stieg lieber auf den Schlitten, bevor er sich noch in eben jenen verlor oder bevor er unter dieser äußerst kritischen Musterung im Boden versank. Weitaus langsamer als er stieg Jean hinter ihm auf und näherte sich ihm beinahe scheu. Links und rechts keilten seine Schenkel Jeremy ein und leicht lehnte er sich zurück. „Ist das okay?“, fragte er leise über den Lärm von Ellie und Ajeet hinweg, die zusammen auf einem Schlitten als Erste den Berg hinuntersausten und innerhalb kürzester Zeit an beachtlicher Geschwindigkeit gewannen. Jean sah ihnen für einen Augenblick nach und nickte dann stumm. „Ich habe aber noch keinen Halt.“ Es war die verklausulierte Bitte um Erlaubnis erkannte Jeremy und deutete auf seine Körpermitte. „Am Besten legst du deine Arme um meine Körpermitte und hältst dich fest.“ Ganz so überzeugt war Jean nicht davon, aber er folgte seinem Vorschlag. Eng hielt er ihn an sich und Jeremy nutzte ihr Gewicht, um den Schlitten etwas nach vorne zu schieben, bis an die Hügelkante. „Bereit?“, fragte er schließlich und Jean brummte. „Fährst du so Schlitten, wie du Auto fährst?“, fragte er zweifelnd und Jeremy schnaubte. „Schlimmer“, erwiderte er mit unheilvollem Unterton. „Vertraust du mir?“, schob er herausfordernd nach und Jean gab einen Laut irgendwo zwischen Verzweiflung und Bejahung von sich. „Habe ich eine Wahl?“ „Jederzeit, Jean Moreau. Jederzeit!“ Eben jener seufzte tief und nickte dann. Fröhlich nahm Jeremy das zur Kenntnis und schob sie beide über die Kante um unter lautem Quietschen loszufahren. Während Jeremy vor Glück lachte, klammerte Jean sich überrascht und eng an ihn, als sie den Hügel hinuntersausten. Gezischtes Französisch verließ seine Lippen und verlor sich im Fahrtwind, bevor Jeremy auch nur eines der Worte ausmachen konnte, die er bereits unter Jeans strenger Anleitung gelernt hatte. „Alles wird gut!“, rief er gegen den Wind an und der Junge hinter ihm grollte, während sie Fahrt aufnahmen und der Schlitten immer schneller wurde, je mehr sie sich dem Ende näherten. Dem Ton der Worte nach zu urteilen war er gerade der schlimmste Schlittenfahrer, den die Welt aufzubieten hatte. Damit konnte Jeremy leben, insbesondere jetzt, da er sie nach dem Rausch der Geschwindigkeit geschickt langsam ausrollen ließ und mit seinen Füßen schließlich bei Ellie und Ajeet bremste, die mit glücklich strahlenden Gesichtern auf sie warteten. Jena selbst brauchte etwas, um sich von Jeremy zu lösen, auch als sie schon lange standen. Als er es schlussendlich tat, nutzte Jeremy den entstandenen Freiraum, um sich glücklich grinsend umzudrehen. Das gerötete, ein wenig erschrockene, aber auch schon in Ansätzen begeisterte Gesicht des Backliners, das ihn in einer hinreißenden Mischung aus Empörung und Begeisterung anstarrte, war Jeremy die beste Belohnung, die er in der letzten Zeit für seine exorbitanten Schlittenfahrkünste erhalten hatte. Wer brauchte da schon ein Abendessen? Jeremy liebte diesen Ausdruck, stellte er fest und er kicherte. „War gut?“ Jeans Stolz rang mit einer ehrlichen Antwort, das sah Jeremy. Unwirsch verzog der andere Junge seine Lippen und noch viel unwirscher verschränkte er die Arme. „Das nächste Mal sitze ich vorne“, grimmte er schließlich, ganz zu Jeremys, Ellies und Ajeets Freude. ~~**~~ „Lieber Jean…“ Misstrauisch sah eben jener von seinem Handy auf, mit dem er sich in der Nähe des Kamins auf die in die Jahre gekommene Couch zurückgezogen hatte. Knox war währenddessen mit Ricardo, Stephen, Niam und Logan in die Sauna gegangen und Jean hatte bis zu diesem Zeitpunkt gedacht, er könne die Zeit nutzen um mit Renee zu chatten. Er musste dringend mit ihr über das sprechen, was gestern passiert war, denn er brauchte ihre Versicherung, dass es das Richtige war, was er tat. Instinktiv wandte er sich nicht an Andrew, da er befürchtete, dass dieser Knox erneut bedrohen würde. Vielleicht irrte er sich auch, aber er wollte kein Risiko eingehen. Gestern Morgen hatten sie über ungeheuerliche Dinge gesprochen, über Unwahrscheinlichkeiten, die mit einem Mal so wahrscheinlich waren, dass es Jean schauderte. Er hatte die Möglichkeit, sich fortzuentwickeln. Er hatte die Möglichkeit, neue Dinge zu erleben neue Gefühle zu haben und neue Wagnisse einzugehen. Das war erschreckend und wunderbar zugleich und er kam nicht umhin, den Jungen, der ihm all diese Möglichkeiten eröffnet hatte, mit seiner Aufmerksamkeit und seinen Blicken zu verfolgen. Ihn aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, aus einem nun erlaubten Blickwinkel. Gestern waren sie sich auf dem Schlitten nahe gewesen, Jean eng an Knox gepresst. Dass sich Knox von hinten eng an ihn presste, war nicht möglich gewesen, das hatten sie gemeinsam herausgefunden. Und es war okay gewesen, dass er es nicht konnte. Sie hatten beide eine andere Lösung gefunden. Wieder und wieder hatte Jean sich mit oder ohne Knox den Hügel hinuntergestürzt und mehr als einmal war der Schlitten von der Bahn abgekommen und hatte sie beide kullernd den Hügel hinuntergeschickt und mit Schnee bepudert. Das schlussendliche Rennen hatten eine zufrieden strahlende Yara und ein überschwänglich glücklicher Niam gewonnen, knapp vor Ajeet und Ellie. Knox und er… waren nicht ganz Letzte, aber knapp und Jean war erstaunt gewesen, wie sehr ihn das fuchste. Vollkommen durchgefroren war er schlussendlich wieder in ihrem Haus angekommen und hatte lange geduscht. Entsprechend müde war er früh ins Bett gegangen und hatte dieses Mal die Kissen zwischen seiner und Knox‘ Seite weggelassen. Am nächsten Morgen war er zwar nicht an Knox gepresst aufgewacht, dennoch waren sie sich nahe gewesen, einander zugewandt und Jean hatte die erste Stunde des Tages damit verbracht, den blonden Jungen eingehend dabei zu beobachten, wie er im Schlaf murmelnd seine Lippen bewegte und seine Augen hinter geschlossenen Lidern hin- und herhuschten. Es war der letzte Tag des Jahres und Jean hatte jeden Gedanken an das Jahr, das hinter ihm lag, unterdrückt. Den Morgen und den ganzen Tag über. Lieber hatte er sich auf Knox konzentriert, dessen Verhalten planbar, verlässlich und wunderbar war. Dass nun Laila, Alvarez, Ajeet und Fahima sich zu ihm setzten, war weniger geplant und ihre aufmerksamen Gesichter, die allesamt auf ihn gerichtet waren, lösten in ihm eine latente Unruhe aus. „Die Antwort ist nein“, richtete er an Alvarez, die ihn bösartig angrinste und konzentrierte sich auf Fahima, deren liebevolles Lächeln ihm tausendmal mehr Beruhigung war. „Wir würden dir gerne etwas geben“, erläuterte sie und er hob die Augenbraue. Langsam ließ er das Handy sinken, steckte es in die Tasche sah sich misstrauisch um. „Okay?“, hakte er nach und Ajeet verschränkte mit einem verschämten Grinsen die massiven Hände ineinander. „Du hast uns so wunderbare Weihnachtsgeschenke gemacht, Jean.“ „Sehr persönliche Geschenke“, stimmte Laila mit ein und Jean senkte verlegen den Blick. Ja, er hatte ihnen Geschenke gemacht, aber er hatte nicht mit einer Reaktion gerechnet. Bisher hatte er bis auf Dankesnachrichten auch keine erhalten und das war in Ordnung für ihn gewesen. Dass die Vier nun vor ihm standen, machte ihn unsicher. „Und deswegen haben wir uns gedacht, dass wir uns dafür revanchieren.“ Jean konnte nichts Böses in Ajeets Stimme und Gesicht entdecken, also wartete er unruhig ab, was noch kommen würde. Der regenbogenfarbene Umschlag, den Alvarez ihm abrupt entgegenstreckte, hatte er jedenfalls nicht erwartet und er zuckte entsprechend nervös zusammen. „Was ist das?“, fragte er unwirsch und starrte auf die bunten Farben. „Mach es auf, dann weißt du es.“ So einfach war es. Jean grollte und nahm unter den wachsamen Augenpaaren seiner vier Teammitglieder den Umschlag entgegen und öffnete ihn vorsichtig. Er zog behutsam eine Karte heraus und klappte sie auf. Dabei klappte sich ein kleines, ziseliertes Schloss auf, das ihm latent bekannt vorkam. Jedes der Worte, das er las, verstand er, nur machten sie in ihrer Gesamtheit keinen Sinn. Es war ein Gutschein, soweit, so gut. „Was ist das Disney's Contemporary Resort?“, hakte er vorsichtig nach und Fahima lächelte. „Es ist ein Hotel in der Nähe des Disneyland in Orlando, Florida.“ Überrascht sah Jean hoch. In Frankreich gab es auch ein Disneyland. Das hatte er damals mit seinem Vater besucht und war wie verzaubert gewesen. Dass es auch hier in Amerika eins gab, war ihm neu und es erweckte Gefühle in ihm, die er nicht wirklich einordnen konnte und die ihm eine weitere Form der Wärme bereiteten. „Dort steht ein Wochenende?“, stellte er fragend in den Raum und Ajeet nickte. „Für dich und eine Begleitung deiner Wahl.“ „Mit Parkeintritt für euch beide…“, ergänzte Fahima. „…damit du auch ein Stück Frankreich hier in Amerika hast“, schloss Laila und Jean schluckte schwer. Die klaren Erinnerungen an das Disneyland in Frankreich, die er verloren geglaubt hatte, schlichen sich in sein Denken und seine Hände zitterten ohne sein Zutun. Dieser Gutschein löste eine Sehnsucht in ihm aus, die er unterschätzt hatte, gemischt mit unendlicher Dankbarkeit für das erhaltene Geschenk. „Vielen Dank“, murmelte er und sah auf den Umschlag. Sacht fuhr er über das, wie er nun erkannte, Disneyschloss. „Es ist wundervoll.“ Vier Paar Lippen zogen sich um die Wette nach oben und Jean fand nicht die Kraft zu grollen oder seine schützenden Wälle nach oben zu ziehen. Disneyland…ein Ort mit so vielen Erinnerungen, ein Ort der Unbeschwertheit und des Glückes, der ihn damals hatte glauben lassen, dass die Welt niemals böse sein konnte. Damals hatte er an Märchen geglaubt und an das Gute, das stetig obsiegen würde. „Vielen Dank“, wiederholte er leise und sah hoch, als Fahima zu ihm kam. „Okay?“, fragte sie und Jean nickte zögernd. Sacht schloss sie ihn in ihre Arme und strich ihm über den Rücken. „Gefällt es dir wirklich?“, hakte Ajeet besorgt nach und Jean bemerkte, dass es tatsächlich Tränen waren, die in seinen Augen standen. „Es weckt Erinnerungen“, presste er hervor, ehrlicher als sonst, und überrascht nahm er zur Kenntnis, dass jeder von ihnen Verständnis hatte. „Dann kannst du an eurem nächsten freien Wochenende einen Menschen deiner Wahl, also Jeremy, einpacken, und mit ihm ins magische Wunderland fahren“, grinste Alvarez und Jean grollte nun doch. Bestimmt löste er sich von Fahima und verschränkte die Arme. „Wer weiß, vielleicht nehme ich auch dich mit?“ Sein Vizekapitän lachte. „Win win für mich. Wer war nochmal Jeremy?“ Jean rollte herzhaft und voller Inbrunst mit den Augen, die Tränen aus ihnen wegblinzelnd. ~~**~~ „Hat jeder ein Glas?“ Die Anwesenden bejahten dies ekstatisch, nur Jean folgte dem ruhiger und sah auf sein Glas Orangensaft. Kein Alkohol, immer noch nicht. Er wurde nicht wirklich warm mit dem beißenden Geschmack. „Wunderkerze?“ Auch die hatte er und fragte sich, wann er das letzte Mal ein solches Stäbchen in den Händen gehalten hatte. Sein Vater hatte früher die Jahreswende damit eingeläutet und als er alt genug gewesen war, hatte Jean auch eine solche Wunderkerze halten dürfen. Wie erwachsen er sich damals doch vorgekommen war. Er sah zu Knox, der sich gerade auf einen der Holzstämme draußen gestellt hatte und ohne viel Mühe auf dem runden Holz balancierte. Es waren nur noch ein paar Minuten, bis die Jahre wechselten und anscheinend war es gute, alte Tradition seiner Mannschaft, diese Zeit nach einer Party drinnen schlussendlich draußen mit Lagerfeuer, Marshmallows und guten Geschichten über die Vergangenheit zu verbringen, die schlussendlich in dem Ritual des Anstoßens und der Wunderkerzen mündeten. „Trojans!“, rief er und die Mannschaft antwortete unisono mit ihrem kehligen Kampfschrei. „Wieder ist ein Jahr vorbei und wir stehen hier, im Schnee und im Angesicht des neuen Jahres!“ Begeisterung schlug ihm entgegen und Jean konnte ein gewisses Kribbeln in seiner Bauchgegend nicht verneinen, auch wenn er weit davon entfernt war, wie Ellie zu jubeln. „Wir sind ein Team, eine Mannschaft, wir sind Freunde und manchmal auch mehr als das. Wir schätzen einander und wir lieben uns.“ „Wuppwupp!“, johlte Alvarez und ein paar Trojans klatschten pfeifend. „Die bisherige Saison war großartig und die kommenden Spiele werden wir mit der gleichen Energie und dem gleichen, fairen, sportlichen Engagement gewinnen, wie wir die letzten auch gewonnen haben!“ Jean hoffte es. Er hoffte nicht, dass die Ravens in Los Angeles siegreich sein würden. „Nach diesem ereignisreichen und wundervollen Jahr werden wir voller Tatendrang ins Neue starten und verdammt nochmal den Pokal mit nach Hause nehmen!“ Zum Ende hin war Knox immer lauter geworden und das Team klatschte und grölte frenetisch. „Wir stehen in Freundschaft und Loyalität zusammen! Wir stehen für Respekt und Sportsgeist! Wir stehen für Fairness und einen Sport, der sich nicht durch Gewalt gegen die gegnerische Mannschaft definiert!“ Die Trojans jubelten und Jean schluckte gegen den allzu großen Kloß in seinem Hals an. All das, was die letzten Jahre seines Seins bestimmt hatte, all das, was er bei den Ravens gelernt hatte, stand diametral der Philosophie der Trojans entgegen. Vieles von dem, was in ihn geprügelt worden war, konnte er auch jetzt nicht ablegen und er war somit immer ein dunkler Fleck in den hellen Trojans. Es gab auch jetzt noch Tage, wo er voller Zorn über ihre Art zu spielen war. Voller Wut über das Gute, was sie auf das Spielfeld brachten. Und dennoch… Sie waren Rollenvorbilder, wie es sein sollte, nicht, wie es gut für einen Sieg war. Und doch war Jean ein Teil von ihnen. Er war ein Trojan und in diesem Moment wurde ihm das mit erschreckender Klarheit bewusst. Er trug rot und gelb, er trug die Nummer sieben. Er war Starting Backliner der USC Trojans in Los Angeles. Jeans Gedanken schweiften zum Beginn des Jahres. Er hatte nicht gewusst, dass Silvester war, denn in Evermore war es ein Tag wie jeder andere gewesen. Das einzige Anzeichen war Riko gewesen, wie er sich abfällig über die mit Sicherheit siegreiche Saison lustig gemacht hatte. Wie immer hatte Jean seine Gewalt ertragen, seine Launen. Er hatte in der dunklen Stille sein Handy hervorgeholt und es gewagt, Renee Nachrichten zu schreiben. Dann irgendwann nach ein paar Monaten, nach unzähligen Tagen, war die Katastrophe passiert… Jean schluckte und schob beinahe schon panisch alle Erinnerungen daran zurück in die Untiefen seines Traumas. Er wollte dem Jahreswechsel nicht mit schlechten Gefühlen beiwohnen. „…jeder die Wunderkerze?“ Jean blinzelte und sah sich erschrocken um. Sein Team hob die schwarzen Stäbchen empor und stellte sich in kleinen Grüppchen zusammen. Jeweils einer hatte ein Feuerzeug dabei und hielt es an die gekreuzten Stäbchen. „Komm zu uns, Monsieur France“, holte Val ihn zu ihnen und Jean stellte sich neben sie. „Kerze!“ Gehorsam hielt er auch seine Kerze hoch und wohnte erstaunt bei, wie erst Knox von neunundzwanzig hinunterzählte und der Rest des Teams dann bei zehn einstimmte. Bei null angekommen, jubelten sie, als hätten sie die Meisterschaft gewonnen und die Trojans mit den Feuerzeugen zündeten die Wunderkerzen an, die ihre kleinen Leuchtfunken in die Dunkelheit sprühten und sie alle in einem flackernden Licht erhellten. „Frohes neues Jahr!“ „Frohes Neues!“ „Wuppwupp, alles Gute für’s neue Jahr!“ Diese und ähnliche Wünsche machten die Runde und die Trojans umarmten sich gegenseitig überschwänglich. Auch Ajeet, der mit seiner Familie bereits im November Silvester gefeiert hatte, ganz traditionell. Fahima, die Silvester eigentlich gar nicht feierte. Ebenso wenig wie Yara, deren Eltern aus Iran stammten. Oder Niam, mit seinen jüdischen Wurzeln. Sie alle freuten sich für ihr Team und wurden ebenfalls für ihre Gebräuche respektiert. Ebenso wie Jean. Seinen Wunsch auf wenig körperliche Berührungen akzeptierten restlos alle Trojans und berührten ihn am Arm oder an der Schulter, sie lächelten ihn an und stießen ihre Gläser an seins. Als es ihm dennoch zuviel wurde, stellte er sich etwas abseits in eine dunkle Ecke außerhalb des heimelig duftenden und laut knisternden Lagerfeuers und beobachtete das Treiben seines Teams, wie er es bereits desöfteren auf einer Party beobachtet hatte. „Jean.“ Er drehte sich nach rechts und entdeckte Knox, der vor ihm stand, vibrierend vor überschüssiger Energie und voller positiver Emotionen. Der Junge strahlte über das ganze Gesicht und für einen Moment hatte Jean das Gefühl, dass er ihm in die Arme springen wollte. Zumindest machte Knox alle Anstalten dazu und kam nur knapp vor Jean zum Stehen. Er reckte den Kopf in die Höhe und grinste Jean an. „Knox…“, erwiderte er langsam und sein Blick fing sich an den geöffneten Lippen und den geröteten Wangen. Es juckte Jean in den Fingern, Knox zu berühren, die Energie in ihm zu spüren und ihn in seine Arme zu schließen. „Frohes neues Jahr, Jean. Frohes, frohes, frohes neues Jahr!“, wisperte sein Kapitän und Jean stellte fest, dass es unmöglich war, das in ihm ausbrechende Lächeln zu unterdrücken. „Mögen all deine Wünsche wahr werden und mögest du das beste neue Jahr erleben, was du jemals hattest.“ Jean war unfähig, etwas darauf zu erwidern, also schloss er Knox so ungestüm in die Arme, wie er ihn schon mehrfach umarmt hatte. Stürmisch, etwas zu stark, beinahe schon so, als würde er ihn verschlingen wollen. „Danke. Danke für alles, Jeremy Knox, Captain Sunshine“, wisperte Jean ihm dankbar ins Ohr und fasste sich ein Herz. Im Schutz der Dunkelheit umfasste er das Gesicht des anderen Jungen und holte sich Mut in den blauen, strahlenden Augen, die ihn geweitet anstarrten. Vielleicht, aber nur ganz vielleicht war es die ausgelassene Stimmung seines Teams, die auch ihn angesteckt hatte, denn anders konnte Jean es sich nicht erklären, warum er den plötzlichen Drang verspürte, nicht nur Knox‘ Gesicht zu umfassen. Nein. Er wollte auch das, was er schon tausendfach in Los Angeles gesehen hatte. Kurz schweifte sein Blick über das Team, das ihnen keine Bedeutung beimaß, nur um dann umso intensiver zu dem Jungen zurück zu kehren, der vor ihm stand und nickte. Ganz sacht, unaufdringlich, bejahend und zustimmend. Er gab sein Einverständnis für Jeans Vorhaben, etwas noch nie Dagewesenes zu erhaschen. Knox‘ Lippen teilten sich und wenn Jean sich genau konzentrierte, konnte er den Atem seines Gegenübers dahinfliehen hören. Die letzte Hürde, die er nehmen musste, war seine eigene und diese überwand Jean nun, als er die Distanz zwischen ihnen schloss und seine Lippen auf die des blonden Jungen legte. Er selbst schauderte und atmete zittrig ein ob des irrsinnigen, nie dagewesenen Gefühls voller Emotionen. Wie weich diese nie stillstehenden Lippen doch waren. Wie nachgiebig und anschmiegsam sie sich an seinen anfühlten. Knox atmete mit einem abgebrochenen Schluchzen aus und gab einen Laut von sich, den Jean auch schon in dem Video gehört hatte. Nur dass es aus seinem Mund viel viel besser klang. Fragend löste Jean sich von den unerwartet weichen Lippen und nun war es ein Laut des Protestes, dicht gefolgt von einem Gurren, das er in dieser Art so noch nie gehört hatte. Sacht strich er über das Gesicht und die Haare, fuhr mit seinen Augen wie mit seinen Fingern die Konturen des Jungen nach, der mehr als nur ein Freund für ihn war. Huh. Das war es also, was man Anziehung nannte. Das Ziehen in seinem Unterleib, das Begehren tief in seiner Magengegend, welches bis zu seinem Herzen abstrahlte. Die watteartige Wärme in seinem Kopf, gepaart mit einer konträren Hyperfokussierung. „Nochmal“, wisperte Jean und es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Bejaht wurde sie dennoch und nun war es Knox, der die Initiative ergriff und seine Lippen hauchzart auf Jeans legte und damit so viele Dinge besiegelte, die Jean allesamt nicht benennen konnte. Und es auch gar nicht wollte. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 59: Die Stimme der Wahrheit ----------------------------------- Jean folgte Knox gedankenverloren in ihr Apartment, die Tasche geschultert, seine Arme beladen mit all den Sachen, die sie mitbekommen hatten und die auch ihr Team nicht hatte aufessen können. Sie waren für die nächsten Tage und Wochen noch gut versorgt und bis zu ihrer Ankunft hier hatte er sich noch wohl und entspannt gefühlt. Jean stellte alles sorgfältig ab und atmete einen Moment lang durch. Jetzt, wo sie zurück waren, wo er alleine mit dem anderen Jungen war, kamen jedoch andere Gedanken auf. Das Apartment, so sonnendurchflutet und anders es auch war, war der gemeinsame Wohnraum von Knox und ihm. Es mochte nicht viel anders sein, aber Jean fühlte sich ausgelieferter als in der Blockhütte, verletzlicher. Wie komisch es doch war, hierhin zurückgekommen, nach all dem, was in den letzten Tagen passiert war. Sie hatten sich geküsst und Jean staunte immer noch darüber. Er konnte das Gefühl der Ruhe und des Glücks noch schwer fassen, das er in sich spürte. Die Aufregung, dass er einen Schritt mehr in ein normales Leben getan und sich getraut hatte, mit Knox zu sprechen. Es war bei den gestrigen, zwei Küssen geblieben und Jeans Inneres verzog sich voller Wärme, als er daran dachte, dass Knox in ihrem Bett keinen weiteren Kuss gewollt hatte, sondern ihm die Möglichkeit gegeben hatte, über seine Erfahrungen nachzudenken. Sie hatten lediglich ihre Finger ineinander verschränkt und wieder war es Jean gelungen, ein paar Stunden leichten Schlaf zu ergattern. Er hatte sich wohl gefühlt, zufrieden mit dem, was geschehen war. So wie er hier stand, überkamen ihn jedoch Zweifel an seinen Gefühlen vom gestrigen Tag, weil sie ihm zu leichtfertig und gutgläubig schienen. Schließlich stand körperliche Nähe immer noch in Verbindung mit Zwang. Mit trockener Kehle räusperte er sich. „Knox?“, fragte er in das Schlafzimmer hinein, in dem der andere Junge gerade seine Sachen verräumte und sein Kapitän sah hoch. Er hielt mit einem seiner Pullover in der Hand inne und musterte Jean. „Ja?“ Jean schluckte. Wenn er Dinge vokalisierte, dann wurde darauf reagiert. Bisher war nichts, was er gesagt hatte, als dumm klassifiziert wurden. So würde auch seine kommende Frage sicherlich nicht als dumm gewertet werden, oder? „Du…wirst mich zu nichts zwingen, oder?“, fragte er leise und bohrte seinen Blick in die blauen Augen des anderen Jungen, auch wenn dessen direkte Aufmerksamkeit beinahe unerträglich für ihn war. Doch was war schon der Preis des Erkanntwerdens im Vergleich zur Wahrheit der Antwort? Jean sah Verstehen in den aufmerksamen Augen, das nun das Lächeln ersetzte und Knox näherkommen ließ. Langsam und darauf bedacht, ihn nicht zu verschrecken. In ausreichender Entfernung blieb er im Türrahmen stehen. „Ich werde dich niemals zu etwas zwingen, Jean. Niemals“, erwiderte er ernst und Jean labte sich an den Worten. „Und du wirst auch niemandem befehlen, mir weh zu tun, oder?“ Schmerz huschte über das braungebrannte Gesicht seines Kapitäns und Jean wurde sich bewusst, wie oft er vergaß, dass Knox eine solche Gewalt in seinem Leben nicht kannte. Zumindest nicht, bis Jean in sein Leben getreten war. „Das werde ich niemals, Jean“, erwiderte er, als wenn sie beide nicht schon wussten, dass Knox es niemals tun würde. „Versprichst du mir das?“ Ruhig und bedacht nickte Knox. „Ja, Jean, das verspreche ich dir.“ Vorsichtig atmete Jean ein, bedacht wieder aus. Es war absurd, aber es machte ihr Hiersein besser. Es machte die Anwesenheit des blonden Jungen besser, auch wenn es an dieser nie etwas auszusetzen gegeben hatte. Es beruhigte Jean und insbesondere seine Angst. Er sah nach unten, auf den in die Jahre gekommenen Linoleumbelag, der auf den Hauptwegen, die sie durch die Räume gingen, ordentlich abgenutzt war. „Ich frage nur, weil Riko sie in meinen Raum…“, begann er, beendete den Satz aber nicht. Konnte es auch nicht, weil die Erinnerungen daran fürchterlich waren. „Also nicht nur, aber… das erste und letzte Mal“, schloss er und sah durch sein eingeschränktes Sichtfeld, wie sich Knox‘ Hand langsam und vorsichtig näherte und sich zu seiner begab. Jean ließ es zu, dass sich die schmalen Finger mit seinen verschränkten und dass Knox sie mit seiner zweiten Hand zu sich holte. Er ließ es auch zu, dass diese weichen Lippen einen Kuss darauf hauchten. „Niemals, Jean, niemals“, wiederholte Knox und sah zu ihm hoch. Es löschte seinen Schmerz zwar nicht, aber es machte ihn ein bisschen besser. ~~**~~ „Frohes neues Jahr, Regenbogenmädchen“, lächelte Jean in die Kamera und Renee schnaufte. „Dir auch, Großer, aber pass bloß auf, L.A. färbt gefährlich auf dich ab…das geht so nicht. Wenn das so weitergeht, dann müssen wir dich wieder zu den Foxes holen“, tadelte sie und er schauderte alleine schon bei dem Gedanken daran, sich mit Day und Hemmick auseinandersetzen zu müssen. Danke, aber danke nein. Im Leben nicht. „Ich glaube nicht, dass die Trojans mich gehen lassen werden“, mutmaßte er kritisch und Renee zuckte mit den Schultern, während sie ihn anscheinend in die kleine Küchenzeile mitnahm, die sie in ihrem Apartment hatte. Sie griff sich ihre Lieblingslimonade und ging mit ihm zu einem der Sitzsäcke, die Andrew anscheinend bei ihr zurückgelassen hatte. Sie stellte das Glas ab und ließ sich mit einem dumpfen Puff fallen. Ihn selbst stellte ihn in eine der Falten, sodass er einen ungehinderten und nun ruhigen Blick auf sie hatte. „Das hat mich noch nie davon abgehalten, dich zu mir zu holen.“ Jean rollte mit den Augen und ja er traute es ihr zu. „Wie war denn dein Silvester?“, lenkte er vom Thema ab und sie grinste ob des allzu offensichtlichen Manövers. „Super! Allison, Matt – ich soll schön grüßen – und ich haben hier zusammen gefeiert, während Andrew, Neil, Aaron, Kevin und Nicky – ich soll ebenfalls schön grüßen – nach Columbia ins Eden gefahren sind. Wir haben irgendetwas geschaut und zum Jahreswechsel Raketen in den Himmel geschossen. Ich habe deine Bilder gesehen und war ein Bisschen neidisch“, sagte sie augenzwinkernd und Jean lächelte erneut. „Es war eine schöne Berghütte“, gestand er ein. „War es denn schön mit deinem Team dort? Hat es dir gefallen?“ Er nickte. „Ich weiß nun, was Schneeengel sind und ich habe dank Knox ein Schlittenrennen verloren. Und sie bewerfen sich mit kalten Schneebällen.“ Er schnaubte und in Renees Augen tanzte unverhohlene Belustigung. „Das klingt wunderbar, Jean.“ „War es auch“, murmelte er und knibbelte an der Balustradenkante ihres Daches, an der er lehnte. „Renee?“ „Ja?“ Jean starrte rechtzeitig genug wieder auf den Bildschirm um zu fühlen, dass seine Wangen warm wurden. „Wie oft küsst man?“ Kurz irritierte er sie mit der Frage, das sah er deutlich, dann leuchtete etwas Schelmisches in ihren Augen auf. Etwas Gieriges und Jeans Wangen wurden gleich noch wärmer. „Wer?“, fragte sie schlicht und er ließ seinen Blick über den Campus schweifen. „Knox“, antwortete er schließlich und hatte nun ihr vollständiges Interesse. „Seit wann?“ „Silvester.“ „Und ihr habt euch geküsst.“ Jean brummte zustimmend. „Zweimal.“ „Wolltest du es?“ „Ja. Ich habe ihn zuerst geküsst.“ Renee hob ihre linke Augenbraue und ihre Mundwinkel zogen sich nach oben. „Wie war es?“, fragte sie sanft und Jean grub seine Zähne malträtierend in die Unterlippe. „Sehr schön. Überraschend anders. Ich mochte es“, destillierte er seine Empfindungen auf ein paar wenige Worte herunter, doch auch die machten ihn ungewohnt schüchtern. „Das freut mich sehr für dich, Jean.“ Jean hörte die ehrliche Zuneigung in ihren Worten und erhaschte einen Blick auf ihr Gesicht. „Aber ich weiß nicht, wie oft man küssen sollte“, gestand er nochmal ein und sie nickte. „Da gibt es kein Rezept für. Wann es für dich okay ist. Wann ihr es wollt.“ Unwirsch schürzte Jean die Lippen. Das war…wenig konkret. Er hatte doch keine Erfahrung darin, wie sollte er wissen, wie oft es in Ordnung war, es zu wollen? „Ist es schlimm, es oft zu wollen? Oder selten?“, hakte er nach und sie schüttelte den Kopf. „Es ist normal.“ Jean glaubte ihrer Verbindlichkeit. Wie ein Ertrinkender hielt er sich an ihren Worten fest, klammerte sich an ihre Erfahrung. Vielleicht war es doch gar nicht so schwer, einen Rhythmus für sich zu finden. Eine Häufigkeit, die gut für ihn war. „Seid ihr zusammen?“, fragte sie und Jean zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich war noch nie mit jemandem zusammen. Vielleicht? Ich habe ihn noch nicht danach gefragt.“ „Was möchtest du denn?“ Jean legte den Kopf schief. Ja, was wollte er? In Knox‘ Nähe sein. Sein Lächeln sehen. Und ja, er wollte seine Lippen noch einmal auf die des blonden Jungen legen. Vielleicht, irgendwann, wenn er mutig genug war, auch mehr tun, so wie die Männer in dem Video. „Ich möchte ihn in meiner Nähe“, wiederholte er seinen ersten Gedanken. „Ich möchte ihn berühren.“ „Das ist ein schöner Wunsch.“ Jean grimmte. „Sag es nicht Andrew. Er hat Knox ja schon bedroht, als ich daran noch nicht einmal gedacht habe.“ Renee hob die Augenbrauen. „Andrew hat Jeremy bedroht?“ „Ja, anscheinend schon. Wenn er mir wehtun würde und so weiter.“ „Wie hat Jeremy darauf reagiert?“ „Er hatte Angst.“ „Das verstehe ich.“ Jean schnaufte. „Aber klar, ich sage nichts.“ „Danke.“ Für einen Moment lang schwiegen sie und Jean zählte die Steinchen, die neben seinem Sneaker lagen. Es war kühl hier oben und er freute sich, gleich wieder in das warme Apartment zurückkehren zu können und Knox dabei zu beobachten, wie er leise fluchend seine Präsentation für morgen fertigmachte. „Bist du glücklich mit dem Leben, das du führst?“, fragte Renee schließlich ernst und Jean fixierte sie ebenso ernst. Er brauchte etwas für die Antwort. „Ja, ich bin zufrieden damit“, erwiderte er und er sah, wie glücklich er sie damit machte. „Ich werde das nie wieder versuchen, Renee. Ich verspreche es.“ Jean sah, wie sehr seine Antwort ins Schwarze traf und wie groß das Leid war, das er in ihr mit seinem Deal mit Andrew hervorgerufen hatte. Sie wusste es gut zu verbergen, aber der sachte Tränenfilm, der in ihren Augen schwamm, sprach Bände. „Ich bin dir dankbar, dass du mich gerettet hast und mir somit die Möglichkeit gegeben hast zu leben.“ Nun weinte sie wirklich und Jean wollte nichts lieber, als sie zu umarmen um so wieder gut zu machen, was er ihr an Leid gebracht hatte. ~~**~~ Vielleicht, aber nur ganz vielleicht hatte Jean Recht gehabt. Nicht, dass Jeremy das mit einer Silbe zugeben würde, aber Jean hatte Recht gehabt. Schnaufend und ächzend quälte er sich durch das Training der ersten Woche. Rhemann hatte die Daumenschrauben angezogen, als er gesehen hatte, wie unkonzentriert, faul und träge sie nach den Ferien waren. Er hatte sie von Tag zu Tag härter rangenommen und somit blieb Jeremy nichts Anderes übrig, als die Tage mehr oder minder zu durchleiden. Morgens Training, danach seine verdammten Kurse, nachmittags Fitnessstudio, danach wieder Training und danach ins Apartment. Es war Donnerstag und Jeremy wollte einfach nur schlafen. Nein, Korrektur, er wollte noch wie jeden Abend Jeans Hand drücken und mit ihm in der Dunkelheit ihres Schlafzimmers sprechen, bis einer von ihnen beiden einschlief. Ha. Einer von ihnen beiden war gut. Er. Bis er einschlief. Nach ungefähr zwei Minuten. Zwei kurzen Minuten, denn er würde gerne länger mit Jean sprechen. Nicht, dass er bisher den Mut gefunden hatte, Jean von ihrem kommenden Spiel in Evermore zu erzählen. Das sparte er sich für dieses Wochenende auf, genauer gesagt für morgen. Sie hatten morgen Abend nichts vor und er würde Jean in der Sicherheit ihres Apartments die schlechten Nachrichten überbringen. „Oh mein Gott, ich sterbe“, sagte er und ließ sich auf das harte Linoleum ihres Stadions fallen. Sie waren für heute fertig und das auch noch im doppelten Sinn. Sie waren fix und alle und keiner von ihnen hatte das Bedürfnis nach noch einer Runde. Keiner bis auf Jean, der gemütlich noch Runden lief, um sich auszupowern. Jeremy grollte dem Backliner hinterher, der unweit von ihnen vorbeijoggte, durchgeschwitzt, knallrot, aber noch fit genug dafür. Hätte er nicht heute Morgen einen Kuss bekommen, würde er jetzt meckern, ganz sicher. Aber so… „Streber!“, übernahm Al seinen Job und Jeremy schnaubte amüsiert und auch ein bisschen beeindruckt, als Jean sich im Laufen umdrehte, rückwärts lief, Al seinen Mittelfinger zeigte und sich wieder zurückdrehte um weiter zu laufen. „Scheiß Wunderkind“, fluchte seine Vize und Jeremy lachte von seiner bequemen Position am Boden, von der er sicherlich nie wieder hochkam. Er drehte seinen Kopf gerade so weit, dass er Jean beim Laufen zusehen konnte und bewunderte die langen, muskulösen Beine, die ihn über die Bahn trugen. Jean trug wie so oft eine schwarze Leggins unter seiner Trikothose und das war Folter und Labsal zugleich für Jeremy. „Er ist eine Tötungsmaschine“, fiel Ellie mit ein und Jeremy konnte ihr nur beipflichten. Jean hatte sie heute alle an ihre Fehlbarkeit erinnert und ihnen das Training zur Hölle werden lassen, als wäre er ein Rhemann-Klon. Besagter Junge lief seine letzte Runde und kam zu ihnen. Dieses Mal war er außer Atem und Jeremy nahm das grimmig zur Kenntnis. Also doch nicht unbesiegbar. Jean beugte sich vorneüber und versuchte wieder Luft zu bekommen, bevor er mit den letzten Dehnübungen abschloss und die Muskeln seines Körpers entspannte. „Endlich fertig?“, grollte Alvarez und Jean sah hoch, grinste teuflisch. „Wollen wir noch eine Runde?“, fragte er und sie zischte bösartig. „Geh weg, Franzose! Geh dahin, wohin ich deine ekelhafte körperliche Fitness nicht sehen muss.“ „Mach die Augen zu und träum‘ von deiner eigenen Fitness, faules Stück“, gab Jean zurück und Jeremy lachte laut auf. Was für ein Unterschied doch zwischen Jeans Ankunft hier und jetzt lag. Wie einfach Al und er zusammengefunden hatten. Er rollte sich auf die Seite und stemmte sich umständlich in die Höhe. „Dusche!“, proklamierte er und kämpfte sich wie ein alter Mann in Richtung Umkleide. Sein Team schlug sich da nicht besser und ächzend machten sie sich abendfertig. Als er selbst fertig war, ließ Jeremy sich im Foyer auf der Couch nieder, während er auf Jean wartete, der wie immer, wenn er hier duschte, als Letzter in die Dusche ging. Er lehnte seinen Kopf gegen das abgewetzte Leder und schloss für einen Moment die Augen, darauf vertrauend, dass der Backliner ihn nicht einfach so hier sitzen ließ und morgen früh zum Training wieder auftauchte. Jean enttäuschte ihn nicht und räusperte sich vernehmlich, riss Jeremy damit aus seinem leichten Schlummer. „Bin da! Bin wach!“, grinste er und streckte Jean seine Hand entgegen, die dieser kritisch musterte. „Du bist faul.“ „Nur fertig. Erbarmen mit deinem geschundenen Kapitän?“ „Bringt mir das Vorteile?“ „Ja.“ „Welche?“ „Ich bekoche dich.“ Jean schob seine Hände in die Taschen seiner Trojans-Jogginghose und ein kleines, gemeines Lächeln umspielte seine Lippen. „Du sprachst von Vorteilen…“, erwiderte er staubtrocken an und Jeremy heulte auf. Anklagend hob er den Zeigefinger. „Du gemeiner, fieser Bösling!“ Jean war vollkommen unbeeindruckt und wurde nun auch noch zusätzlich vom Klingeln seines Handys abgelenkt. Missbilligend zog er es aus seiner Tasche und starrte noch viel unerfreuter auf das Display. „Es ist Day“, sagte er und Jeremy setzte sich aufrecht hin. „Cool! Geh ran, dann kann ich ihm hallo sagen!“ Jean ließ ihn genau sehen, was er davon hielt und grollte. Nichtsdestotrotz hob er ab und Jeremy zuckte mitfühlend zusammen, als Kevins Nachname wie ein Fluch über Jeans Lippen kam. „Grüße“, rief Jeremy fröhlich dazwischen und Jean nahm das Handy von seinem Ohr. „Du bist jetzt auf laut, Knox hört auch zu“, sagte er abweisend und Kevin gab einen überraschten Laut von sich. „Hallo Jer, wie geht’s dir?“ „Bestens und dir, Kev?“ „Das Training läuft. Ist verbesserungswürdig, aber es läuft. Die Foxes wissen zumindest noch, wie man diese Sportart ausübt. Ich hoffe, bei euch geht das besser.“ Jeremy blinzelte unschuldig, als er sah, dass Jean mit sich und seinem Widerspruch kämpfte, den er aber nicht hervorlassen wollte, weil er sich nicht mit Kevin unterhalten wollte. Der Kampf war äußerst charmant zu beobachten und schlussendlich erlöste Jeremy doch beide…Kevin und Jean. „Wir haben einiges an Nachholbedarf, aber es wird schon. Für das kommende Spiel werden wir auf jeden Fall gewappnet sein.“ Kevin schluckte hörbar am anderen Ende der Leitung. „Deswegen rufe ich an. Also wollte ich Jean anrufen…“ Unsicher verharrte er und Jeremy begriff. „Oh sorry, dann lass ich euch beiden mal alleine“, wollte er sich aus dem Gespräch ausklinken, doch Jean hielt ihn stumm und Kopf schüttelnd zurück. „Nein, das ist okay“, stimmte auch Kevin mit ein. „Das betrifft schließlich die ganze Mannschaft. Evermore hat gerade eine Meldung über ihre Social Media Kanäle gepostet. Sie…freuen sich darauf, euch bei ihnen begrüßen zu dürfen. Aber das war doch anders herum, oder? Ihr… ihr spielt doch gegen sie bei euch in L.A., oder?“ Ein erstickter Laut verließ Jeans Lippen und Jeremy sah ruckartig zu ihm. Bleich und mit großen Augen starrte Jean dann wieder das Handy an und schlussendlich wurde aus der Bestürzung Wut. „Was soll das, Day? Soll das ein Scherz sein?“, zischte er wütend und Jeremy schluckte schwer. Oh Gott, so sollte das nicht laufen, Himmel nein. Er hatte es Jean doch schonend beibringen wollen, nicht so. Nicht so. Oh Gott, nein. Kevin schluckte laut hörbar. „Nein, Jean. Ich habe es in dem Pressestatement gelesen. Ich denke mir das nicht aus. Sie haben das geschrieben.“ „Das ist Schwachsinn! Das Spiel ist für Los Angeles terminiert. Sag es dem Idioten, Knox“, knurrte Jean und Jeremy sah bleich und wortlos zu ihm hoch. Es schien, als würde die ganze Welt in diesem Moment einfrieren und stillstehen. Er konnte nicht lügen, er durfte nicht lügen. Er wollte nicht lügen. Nicht mehr. Und er sah, in welche Katastrophe sie sein konstantes Schweigen geführt hatte. „Knox…?“, wiederholte Jean mit Unglauben in der Stimme, die immer leiser wurde. „Jeremy?“ Verzweifelt nun, erstickt und jung. Es brach Jeremy das Herz, nachhaltig und unsauber. „Er hat Recht, Jean“, presste Jeremy hervor und sein schlechtes Gewissen riss sein Innerstes regelrecht auseinander. „Wir spielen in Evermore.“ ~~**~~ So unfähig, etwas zu begreifen, war Jean das letzte Mal gewesen, als seine Eltern ihn in Evermore zurückgelassen hatten. Endes des Monats mussten sie nach Evermore, sie fuhren dorthin zurück. Sie fuhren nach West Virginia und Day wusste es. Knox wusste es auch und er hatte nichts gesagt. Mit jedem Atemzug, den er tat, wurde die Luft in seinen Lungen weniger und die Panik größer. Sie würden nach Evermore fahren und ihn dort lassen, wie vor neun Jahren. Jetzt, wo er dabei war, sein Glück zu finden, würden sie ihn dort lassen. Hatte er den blonden Jungen mit etwas verärgert? War er nicht gut gewesen? Hatte er zu wenig getan, um hier zu bleiben? Hatte er sich nicht gut genug eingebracht, dass er nun dorthin zurückkehren musste? War er zu streng gewesen? Zu fordernd im Training? Jean hörte wie aus weiter Ferne, wie sein Name genannt wurde. Von Knox und von Day. Jean…das hatte sein Vater auch immer gesagt, Jean…mein Junge…Jean…bevor er ihn nach Evermore hatte bringen lassen. Die Moriyamas wollten ihn wieder zurückhaben und da war es, das Ende seines Traumes von der kurzen Freiheit, die er jemals gehabt hatte. Jean sah auf, in das bleiche, erschrockene Gesicht seines Kapitäns. Natürlich war er das. Doch das hieß nichts. Wirklich nicht. Sein Vater hatte auch gelitten, zumindest glaubte Jean ihm das. Auch er war traurig gewesen und hatte sich doch nicht wehren können. Er war noch nicht einmal wütend darüber. Er war verzweifelt und wurde mit jeder Sekunde panischer. Sie würden ihn dalassen. Einfach so. Weil er etwas falsch gemacht hatte. Vielleicht. Aber er musste auch nichts falsch gemacht haben… nein, Evermore musste nur ja sagen. Sie mussten nur sagen, dass sie wollten und dann würde er da bleiben müssen. Das Ende seiner Freiheit, hier war es. Ende Januar. Jean starrte auf sein Handy und Days Namen, der immer noch dort aufleuchtete. Vielleicht sollte er hassen, vielleicht sollte er wütend sein, doch das gelang Jean nicht. Viel zu groß war der Scherbenhaufen seiner Welt, viel zu tief der bodenlose Fall, in dem er sich befand. Er warf das Gerät auf die Couch und trat einen Schritt zurück, dann noch einen. „Jean…?“ Hörte er da Panik? Jean wusste es nicht genau, denn er weigerte sich, Knox anzusehen. Er konnte den Anblick nicht ertragen. Jetzt nicht. „Jean, bitte, lass mich erklären…“ Nein, nein, das wollte er nicht. Und da, wo er vorher im Angesicht von Gewalt und Erniedrigung immer erstarrt war, hatte er nun genug Kraft in sich, den anderen Weg zu wählen: die Flucht. Jean trat einen Schritt zurück, noch einen, einen dritten. Raus hier, weg von diesen Menschen, so wie er es vor neun Jahren hatte tun sollen. „Jean? Bitte!“ Er ließ seine Tasche fallen und trat zurück in den Eingangsbereich ihres Stadions. Er trat einen weiteren Schritt in Richtung Eingangstür. Er wollte weg hier, nur weg. Nur. Weg. „Bitte nimm wenigstens dein Handy mit, wenn du ohne mich gehst, Jean. Bitte“, flehte Knox und eine Sekunde lang erstarrte Jean. Sein Handy, mit dem sie ihn orten könnten. Nein. Das würde er nicht tun. Schneller, als Knox ihn zurückhalten können würde, verließ er ihr Stadion, blind vor Angst, und stolperte aus dem Gebäude heraus. Er rannte, sprintete, ohne eine feste Richtung. Nur weg von hier, weg von neuerlicher Folter und Eingesperrt sein. Er rannte durch die Straßen Los Angeles, vorbei an Häusern, die er sich nicht einprägte. Er rannte auf den maroden Gehwegen und den schlaglochbewehrten Straßen. Er rannte durch die grünen Anlagen und ausgetrockeneten Abwasserkanäle. Weg. Nur weg. ~~**~~ Was hatte er bloß angerichtet? Was hatte er durch sein dummes, verlogenes, niederträchtiges Verhalten bloß angerichtet? Wie betäubt starrte Jeremy Jean hinterher und fand nicht den Mut, dem anderen Jungen zu folgen. Wie angewurzelt verharrte er hier in seiner Schuld, während im Hintergrund Kevin immer wieder seinen und Jeans Namen rief, von Mal zu Mal eindringlicher. Er hatte kein Recht dazu, Jean zu folgen oder ihn erreichen zu dürfen, nicht nachdem, was er getan hatte. „JER!“ Er zuckte so gewaltig zusammen, dass er über seine eigenen Füße stolperte. Überhastet griff er zu Jeans Handy und umfasste es zitternd. „Er ist weg, Kevin. Ich habe ihn vertrieben. Er ist weg“, wisperte er panisch und Kevin gab einen erstickten Laut von sich. „Dann lass ihn nicht gehen, halte ihn auf!“ Oh wie stark war der Drang, genau das zu tun. Jeremy schloss verzweifelt die Augen. „Nein, Kevin, das werde ich nicht tun. Wenn er mich nicht sehen möchte, dann werde ich ihn nicht dazu zwingen. Das mache ich nicht.“ So schmerzlich das auch war, er würde Jean nicht seine Gegenwart aufzwingen. Selbst wenn der andere Junge sogar sein Handy hier ließ. Kevin schwieg am anderen Ende der Leitung und Jeremy tat es ihm gleich. „Ich wollte es ihm morgen sagen, Kev“, sagte er schließlich unglücklich. „Ich konnte es vorher nicht, weil er so glücklich war und auf so einem guten Weg. Ich wollte, dass er noch Weihnachten und Silvester unbeschwert verbringen kann, bevor ich ihm die Nachricht überbringe.“ „Und ich bin dir zuvorgekommen…“ „Ja“, wisperte Jeremy. „Ich glaube, er ist wütend. Er sah so geschockt und wütend aus. So verloren. Oh Gott Kevin, was habe ich getan?“ Für eine Weile schwieg Kevin und dann verließ ein mitfühlendes Geräusch seine Lippen. „Du hast ihm, wie ich es getan habe, unbewusst das Recht abgesprochen, selbst zu entscheiden. Du hast gedacht, dass du besser wüsstest, was für ihn gut wäre als er selbst. Das ist das, was er mir beim letzten Bankett vorgeworfen hat und was ihn absolut wütend macht.“ Verzweifelt raufte sich Jeremy seine Haare. „Das wollte ich nicht. Wirklich nicht. Das musst du mir glauben. Ich wollte ihm nur Gutes tun.“ „Nicht ich, Jer. Er muss es dir glauben.“ Da hatte Kevin Recht. Bittererweise. „Du bist ein guter Mensch, Jer. Besser, als wir alle zusammen. Natürlich willst du ihm nicht wehtun. Er wird es verstehen, wenn du es ihm erklärst, da bin ich mir ganz sicher. Lass ihn erst einmal zur Ruhe kommen und zurückkehren, dann wird es sich sicherlich wieder einrenken.“ Jeremy ließ sich durch diese Versicherung aber nicht wirklich beruhigen, schließlich zeigte ihm sein Handeln und Jeans Reaktion doch, wie sehr er Nachholbedarf darin hatte, Jean nicht in allem beschützen zu wollen. Also über die Gebühr beschützen zu wollen. Er seufzte niedergeschlagen. „Vielleicht hast du Recht.“ Kevin schnaubte. „Ich habe meistens Recht, Jer.“ Dass es eben kein Scherz war um ihn aufzumuntern, erkannte Jeremy an Kevins Stimmfärbung und das brachte ihn nun trotz allem doch zu einem kurzen Lachen. Das Lachen verging ihm zwei Stunden später, als Jean weder zu ihrem Apartment zurückkehrte noch irgendwo sonst in ihrem Haus war. Oder sich bei jemand Anderem befand. ~~**~~ Jean kauerte unter einer Brücke, als die Sonne unterging. Er saß auf dem kalten Beton an einen der brachialen Pfeiler gepresst und starrte mit Kopfschmerzen und Magenschmerzen auf den riesigen, erbärmlich stinkenden Wasserkanal vor sich, der noch nicht einmal zu einem Zehntel gefüllt war. Die Säule in der Mitte des Kanals war mit irgendwelchen bunten Schmierereien – Graffitis – verunziert und bröckelte insbesondere an der Wasserkante ab. Die mächtigen Metallstreben der Strommasten ragten rechts und links von der Brücke auf und in der Ferne hörte Jean Autolärm. Er wusste nicht, wo er war und wie er in diese über und über mit Beton ausgekleidete Gegend gekommen war, die ihm wie das Vermächtnis eines Naturhassers vorkamen. Er wusste nicht, wie er jemals zurückkommen sollte oder ob er das überhaupt wollte. Vieles in ihm schrie nein, denn dann würde er sich in sein eigenes Unglück zurückbegeben. Er war kein Lamm mehr, das zur Schlachtbank geführt werden würde. Er wusste es besser. Momentan jedoch wusste er gar nichts und Jean kauerte sich noch enger in sich zusammen. Er zuckte bei jedem Geräusch zusammen und hoffte, dass die Schatten, die nun intensiver wurden, keine anderen Menschen waren. Dass er alleine sein durfte, bis ihm etwas für seine Flucht einfiel. Wie auch immer ihm etwas einfallen sollte, denn er wusste ja nichts und sich selbst vertraute er schon gar nicht mehr. ~~**~~ James Rhemann hatte über all die Jahre schon viele Emotionen in seinen Kapitänen gesehen. Freude, Trauer, Wut, Entschlossenheit, Mutlosigkeit – all das war bereits dagewesen. Eine derartige Verzweiflung, gepresst in den Körper des blonden Jungen, der zitternd in seiner Küche stand und ihn mit blauen, großen Augen anstarrte, hatte er jedoch noch nie gesehen. Wir finden ihn nirgendwo. Der Satz geisterte immer noch in James‘ Gedanken herum und wurde mittlerweile begleitet von den Gesamtumständen. Kevin Day, der Jeremy Knox zuvorgekommen war und Jean durch seine Information weggetrieben hatte. Den traumatisierten Jungen aus Evermore, der mit dem Wissen verschwunden war, dass er Endes des Monats für ein Spiel dorthin zurückkehren würde. Jesus. Bei allem, was David ihm über Moreau erzählt hatte, war es keine Überraschung, dass er weggelaufen war. Dass er keine Orientierung hatte und vermutlich jetzt bereits in Panik war, machte umso schlimmer. Wer wusste schon, was der Junge anstellte oder wem er in L.A. über den Weg lief, an welche Person er sich in seiner Angst wandte. Aber war es auch ein Wunder? James hatte Fotos gesehen, die er von Wymack bekommen hatte. Auf diesen Fotos waren die Verletzungen des Jungen säuberlich dokumentiert und sie sprachen von einer Gewalt, die kein Mensch ertragen sollte. Ja doch, vielleicht diejenigen, die Jean diese Verletzungen zugefügt hatten oder die geduldet hatten, dass so etwas unter ihrer Obhut passierte. James war entsprechend angespannt gewesen, als er Jean das erste Mal gegenübergestanden hatte, da ihm eine immense Verantwortung oblag, von der er bis heute nicht wusste, ob er ihr gerecht wurde. Jean hatte in seiner Zeit in Amerika nur Gewalt seitens Personen erlebt, in deren Obhut er sich befand. Der Coach der Ravens und sein Kapitän hatten ihm unaussprechliche Dinge angetan. Wer war Rhemann, dass er es da schaffen würde, ihm die Angst vor sich zu nehmen? Zumal in der kurzen Zeit, die sie zusammen haben würden? So sehr Jean nämlich auch mit den Trojans warm geworden war…oder sie ihn mit ihrer Freundschaft überschüttet hatten, so groß war immer noch Jeans Angst vor ihm. James hatte sich eigene Spielregeln auferlegt. Niemals von hinten an Jean anschleichen und wenn der Junge ihn nicht bemerkte, auf sich aufmerksam machen. Er sorgte dafür, dass Jean immer etwas bei Spielen trank oder dass er ihm nicht so feste wie den anderen Spielern auf die Schulter klopfte. Er sorgte dafür, dass sie, wenn es ging, nicht alleine in einem Raum waren oder dass er Jean nicht zu nahe kam. „Und du hast keine Ahnung, wo er hingegangen sein könnte?“, fragte er und Jeremy schüttelte den Kopf. „Er wollte sein Handy nicht mitnehmen und ist gegangen. Er war aufgewühlt und panisch. Coach, er hat doch keine Orientierung und er hat doch… was wenn er…? Wir müssen ihn doch…er ist doch seit vier Stunden weg…“ Sein Kapitän war nicht in der Lage, einen geraden Satz hervorzubringen, so sehr sorgte er sich und es verursachte James Magenschmerzen. „Setz dich ins Wohnzimmer, Junge“, brummte er und befürchtete einen Moment lang, dass Knox einfach umkippen würde. Doch der blonde Junge kam heil auf der in die Jahre gekommenen und quietschenden Couch an. James füllte ihm ein großes Glas Wasser ein und stellte es ihm auf den Tisch. Er stemmte die Hände in die Hüften, als Knox wie ein getretener Hund zu ihm hochsah. „Trinken“, befahl er knapp und drehte sich dann weg. Sein Handy lag in der Küche und das brauchte er um nach einem kleinen Gefallen zu fragen. „Bin gleich wieder da, ich gehe mal eben telefonieren.“ Immer mit einem Blick auf Knox holte er sich sein Telefon und rief Bens Kontakt auf. Benjamin Samuel Hutchinson, Polizeichef des Los Angeles Police Departments, Ex-Mann seiner Schwester und einer der besten Menschen, die er jemals kennengelernt hatte. Sie waren wie Brüder und insgeheim war James froh, dass Ben es geschafft hatte, sich von der Hexe zu lösen, die sich seine Schwester nannte. Und ja, nach den 51 Jahren, die er dieses Miststück schon kannte, durfte er das mit Fug und Recht behaupten. James hatte Glück und Ben hob nach dem dritten Klingeln ab. „Jamie, alter Junge, was verschafft mir die Ehre?“, donnerte er in den Hörer, den James mit einer schwungvollen Bewegung von seinem Ohr entfernte. „Benni, alter Junge, ich bräuchte einen Gefallen von dir“, gab er ebenso laut zurück. Nachdenklich brummte es am anderen Ende der Leitung. „Ob du den Preis bezahlen kannst?“ „Ein gutes Abendessen, eine Karte zum Endspiel meiner Mannschaft, ein Meet and Greet mit Jeremy Knox und unserem Neuzugang, Jean Moreau, und ein brandneues USC-Fanshirt?“ Kurz herrschte Stille in der Leitung und dann lachte Ben laut. „So großzügig? Was willst du dafür haben? Den Schlüssel zu Fort Knox?“ „Haha. Nein, pass auf, Folgendes…“ ~~**~~ Die Zeit mit sich und seinen Gedanken alleine zu sein, war die Hölle für Jean. Mit den ewig im Kreis laufenden, immer tiefer grabenden Gedankenspiralen, die ihm Dinge vorgaukelten, die abstruser wurden, je mehr Zeit verging. Er war nicht alleine hier, das hatte er schon mit Schrecken festgestellt. Immer wieder kamen Menschen vorbei, die er auch schon auf den Straßen Los Angeles gesehen hatte. Langsame, stolpernde, schwankende, humpelnde Menschen am Rande der Gesellschaft, von denen niemand Notiz nahm. Sie waren ohne Wohnung, ohne Job, sie hatten kein Geld und lebten davon, eben jenes von anderen Menschen zu erbitten. Sie trugen ihr Hab und Gut bei sich, in Tüten oder Einkaufswägen. Jean verharrte stumm und reglos in seinem Versteck und sah den Gestalten hinterher, die an ihm vorbeigingen ohne ihn wahrzunehmen. War das ein Leben, das er sich auch für sich vorstellen konnte? Unerkannt und außerhalb der Gesellschaft? Ohne eine feste Bleibe, die ihn nur verraten würde? Die Monate in Los Angeles hatten ihm gezeigt, dass er menschliche Kontakte brauchte und dass er immer noch nicht dazugelernt hatte. Menschen schadeten ihm, egal wer, egal, wie freundlich. Sie gaben ihn weg, da er etwas falsch gemacht hatte. Wie immer, wenn Jean an den Gedanken dachte, zog sich etwas in ihm so schmerzhaft zusammen, dass er beinahe keine Luft bekam. Die Frage nach dem Warum blieb ergebnislos und er vergrub seinen Kopf zwischen seinem Oberkörper und seinen angezogenen Beinen. Mittlerweile waren alle seine Gelenke steif und durchfroren und die Sonne des aufgehenden Tages würde da mitnichten Wärme spenden. Es wäre ein weiterer Tag, den er ratlos hier verbrachte. Nichts hatte ihm seine Flucht gebracht. Gar nichts. Nur einen vor hungriger Wut knurrenden Magen, eine trockene Kehle und Schmerzen in seinem ganzen Körper. Ein Geräusch neben ihm ließ ihn aufsehen und erschrocken zuckte er zusammen, als unweit von ihm ein Mensch stand, groß, breitschultrig, eine muskulöse Erscheinung, die zum Fürchten war, die schwarzen Haare wie gewohnt kurz und der Bart sauber gestutzt. Jean hatte noch nicht einmal mehr die Kraft, sich von der Stelle zu bewegen und zu fliehen, als er Rhemann sah, und es war zu einem nicht kleinen Teil Erleichterung, die er verspürte. Er musste keine Entscheidung mehr treffen, nein. Sie war ihm so eben abgenommen worden, auch wenn er nicht wusste, wie das geschehen konnte. Wenn es tatsächlich so einfach war, ihn zu finden, dann war es vielleicht gut so, dass sie ihn jetzt hatten und nicht erst dann, wenn er sich Hoffnungen auf Freiheit gemacht hatte. „Hallo Junge“, sagte Rhemann in seinem dunklen, tiefen Bariton und Jean fand sich unfähig zu reagieren. Verzweiflung mischte sich unter die Hoffnung und er presste seinen Kiefer fest aufeinander. „Darf ich mich zu dir setzen?“ Konnte er es denn verhindern? Jean schwieg und Rhemann starrte ihm solange in die Augen, bis Jean begriff, dass sein Coach sich erst dann hinsetzen würde, wenn er dem zustimmte. Ungelenk nickte er und der bullige Körper ließ sich langsam auf dem schmutzigen Beton neben ihm nieder. Sie hatten Abstand, aber der ältere Mann war nahe genug um mit einem Satz bei ihm zu sein und ihn für seine Dummheit zu bestrafen. Er bewegte sich tatsächlich und da, wo Jean eben jenen Schlag mit Resignation erwartete, stellte Rhemann ihm langsam eine Thermoskanne hin. Sie war bereits verwaschen und Jean konnte nur noch in Ansätzen das Logo der Foxes erkennen. Überrascht hoben er seine Augenbrauen und Rhemann schnaubte. „Ein Geschenk von David zu meinem Fünfzigsten. Ich nutze sie, weil sie so groß ist und ich sie sehr praktisch finde. Ganz zum Spott unseres Teams. Ich hab‘ für dich schwarzen Kaffee reingefüllt, ohne Milch und Zucker.“ Vermutlich mit Betäubungsmittel versetzt, dachte Jean sich und erkannte an der entgeisterten Überraschung seines Coaches, dass er diese Gedanken laut ausgesprochen hatte. Mühevoll schluckte er und senkte den Blick. „Verzeihung“, war das erste bewusste Wort, das sich wie Schleifpapier den Weg aus seiner Kehle herausbahnte. „Wie?“, presste Jean schließlich hervor, als die Stille zuviel wurde, und Rhemann legte den Kopf schief. „Wie ich dich gefunden habe?“ Er lächelte verlegen und zwinkerte dann. „L.A. ist gespickt mit Überwachungskameras. Ich habe jemanden gefragt, ob er jemanden fragen kann, der schauen könnte, wo du bist, also wurde dein Bild mit Kameraaufnahmen der letzten 24 Stunden abgeglichen. Tatsächlich gab’s einen Treffer und dann bin ich in der Gegend auf die Suche nach dir gegangen.“ Das war…beängstigend. Auf unsichtbaren Kameras gesehen und erkannt zu werden, war erschütternd und Jean schauderte. „Coach?“, fragte er leise und Rhemann brummte. „Könnten Sie…mich einfach gehen lassen? Könnten Sie ihnen sagen, dass Sie mich nie gesehen haben?“ Er musste es einfach versuchen. Einmal noch, vielleicht hatte es ja Erfolg. „Wen meinst du mit „ihnen“, Jean?“, hakte Rhemann nach einem ersten Zögern nach und Jean sah weg von ihm, hin zu den massiven Betonpfeilern, die ihn ein Stück weit an Evermore erinnerten. Vielleicht war er deswegen hier gestrandet? Weil es ihm bekannt war. „Die Moriyamas.“ Anstelle einer sofortigen Verneinung oder Gewalt runzelte sein Trainer sorgenvoll die Stirn. Er lehnte sich vor und musterte Jean streng. „Was haben die Moriyamas damit zu tun?“ „Sie bringen mich dorthin zurück“, erwiderte Jean mit Schmerz in seiner Stimme. „Nach…“ Er konnte den Namen nicht aussprechen. Noch nicht einmal das gelang ihm. „Nach dem Spiel lassen Sie mich dort. Weil es so gewünscht ist oder weil ich etwas falsch gemacht habe oder beides.“ Jean barg seine zitternden Hände zwischen seinem Bauch und seinen hochgezogenen Knien und Rhemann musterte ihn erst einmal schweigend. Dann griff er sich die Foxes-Thermoskanne und löste den Becher vom Deckel. Die Kanne schraubte er auf und langsam füllte er den dazugehörigen Inhalt in den Becher, den er näher zu Jean schob. „Du hast nichts falsch gemacht und die Moriyamas haben überhaupt nichts gewünscht. Du bist ein fester Teil der Trojans und hast das vertraglich unterzeichnet. Wir werden den Teufel tun und dich bei ihnen lassen, nachdem wir den Hallenboden mit ihnen gewischt haben.“ Jean blinzelte. Er verstand nicht. Er glaubte nicht. Wieso sollten sie denn sonst nicht hier in Los Angeles spielen? Anscheinend sah Rhemann diese Zweifel in seinen Augen, gemessen an dem abrupten Erkennen auf seinem Gesicht. „Das Spiel wurde dorthin verlegt, weil unser Stadion wegen Bauarbeiten ab Mitte nächster Woche geschlossen sein wird“, erläuterte Rhemann und Jean lauschte ungläubig der Erklärung. „Die Universität konnte den Termin nicht verschieben und wir werden solange im Stadion der L.A. Lions trainieren. Ich habe versucht, das Spiel zu verschieben oder es woanders stattfinden zu lassen, aber das Komitee hat sehr deutlich gemacht, dass dieses Spiel bei den Ravens stattfinden wird. Sie wollen daraus ein Presseevent machen, mit dem Narrativ, dass der ehemalige Raven gegen seine alte Mannschaft antritt. Der große Showdown dieser Saison, eine Geschichte für die Titelseiten. Das ist der Grund warum. Ich werde dich garantiert nicht dalassen, Moreau. Die Mannschaft wird dich nicht dalassen. Du bist ein Trojan und nichts kann dich uns wegnehmen.“ Rhemann machte eine unwirsche, aber langsame Handbewegung. „Na gut, eine Sache. Wenn du nicht mehr bei uns sein möchtest, dann ist das deine Entscheidung und deine alleine. Dann zwingt dich niemand, bei uns zu bleiben. Aber wenn du dich hier wohlfühlst und bleiben möchtest, dann bist du weiterhin ein gerngesehener und gewollter Teil dieses Teams.“ Jeans ausgekühlter Körper und die Schmerzen, die er hatte, machten es ihm schwer, die Worte seines Coaches auf Lügen zu analysieren. Er versuchte, sie einzuordnen, ja, aber das gelang ihm nur mäßig. Sicherlich, da war die gutgläubige, hoffnungsvolle Seite in ihm, die glauben wollte, was gesagt wurde. Die hoffte, dass es sich endlich zum Guten wenden würde. Doch genauso groß war die Seite, die ihn darauf aufmerksam machte, dass Knox es schon gewusst und es ihm verschwiegen hatte. „Wieso hat er dann nichts gesagt?“, verbalisierte Jean seine Zweifel und Rhemann schnaufte. „Jeremy hatte Angst, dir Weihnachten und Silvester zu versauen. Er hatte Angst, weil du zu dem Zeitpunkt so glücklich warst und er wollte es dir zu einem vermeintlich passenderen Zeitpunkt sagen.“ Jean schürzte unwirsch die Lippen. „Er hat für mich entschieden.“ Sein Coach nickte und Jean erkannte das schlechte Gewissen des älteren Mannes. Er sah es in den tiefen Furchen der Stirnfalten stehen. „Ja, das hat er und es war ein Fehler. Einer, der ihm unendlich leid tut und das kann ich dir ziemlich genau sagen, denn das Elend auf meiner Couch ist wirklich nicht schön mitanzusehen. Und einer, der mir genauso leid tut, denn ich habe davon gewusst und ihn nicht abgehalten. Ich bin genauso schuldig wie er.“ Jean scheute vor der Entschuldigung seines Trainers wie auch vor der Erkenntnis zurück, dass das, was die letzten Stunden seine Hirnwindungen beherrscht hatte, falsch war. Dass sie ihn nicht loswerden wollten. Wie etwas, das schnell vergänglich und flüchtig war, waberte es kurz außerhalb seiner Reichweite, jederzeit bereit, von ihm gegriffen zu werden. „Er hat mich angelogen“, presste er hervor und der Schmerz in seinem Inneren war stärker, als er es angenommen hatte. „Er hat mich angelogen, obwohl wir uns in der Hütte nähergekommen sind. Ich…muss ihm doch vertrauen können.“ Verzweifelt sah Jean hoch und es war eben jene Verzweiflung, die ihn seit gestern im Griff gehalten hatte. Er vertraute Knox und doch vertraute Knox ihm nicht genug, um ihm die Wahrheit zu sagen. Dass er etwas gesagt hatte, was seinen Trainer überraschte, wurde ihm erst jetzt bewusst und er zog seinen Kopf zwischen die Schultern. „Wir haben uns nur geküsst, nichts weiter“, präzisierte er hastig und Rhemann brummte abwehrend. „Das ist vollkommen eure Sache, Moreau. Wenn ihr zueinander gefunden habt, dann freut mich das sehr für euch, aber es geht mich nichts an. Du bist nicht gezwungen, mir das zu sagen. Und falls du auf die Idee kommst, die sexuelle Orientierung meiner Mannschaft ist mir egal. Was auch immer euch gefällt und womit ihr euch wohlfühlt, soll mir nur recht und billig sein. Ich mag euch alle so, wie ihr seid.“ „Aber ich weiß nicht, ob ich ihm vertrauen kann“, begehrte Jean erneut auf, als ihr Coach den eigentlichen Punkt seiner Worte nicht verstand, auch wenn dessen so selbstverständlich scheinende Worte ihn wärmten. Der Herr hätte niemals so etwas gesagt. Niemals wäre er so offen gewesen. Niemals hätte er gesagt, dass er sie mochte. Als Rhemann verstand, atmete der ältere Mann erst einmal tief durch und schlug die Beine über. Er verschränkte seine Arme und erwiderte Jeans Starren schlussendlich mit einem sachten Lächeln. „Wenn du jemandem hundertprozentig vertrauen kannst, dann ist das Captain Jeremy Sunshine Knox. Er ist loyal und treu, er hat so ein großes Herz, wie ich es selten gesehen habe. Nur trifft er dadurch manchmal Entscheidungen, die gut gemeint und damit manchmal nicht die Besten sind.“ Wer war Jean, dass er seinem Coach widersprach? Er hatte Knox niemals anders kennengelernt und bisher war er immer derjenige gewesen, der den anderen Jungen verletzt hatte. Unmerklich nickte Jean, den Blick auf der Tasse Kaffee verfangen. Rhemann sah das und ein aufforderndes Lächeln verzog sie breiten Lippen. „Trink, Junge, du bist sicherlich durchgefroren bis auf die Knochen“, sagte er leise und Jean bejahte das stumm. Vorsichtig griff er zu dem Plastikbecher und zog ihn zu sich heran. Er musste ihn mit beiden Händen fassen, so sehr zitterte er, aber letzten Endes gelang es Jean. Er trank den angenehm warmen, aber elendsbitteren und viel zu starken Kaffee, den er so noch nie getrunken hatte. Überrascht weiteten Jeans Augen sich und er nahm sich mit dem zweiten Schluck weitaus mehr Zeit als mit dem ersten. „Ich koche nicht so oft Kaffee, eigentlich gar nicht, bin ein Teemensch. Kann man ihn trinken?“ Nein, konnte man nicht, aber wer war Jean, dass er es wagte, diese Geste zu kritisieren? „Ich sehe, dass dem nicht der Fall ist, Moreau, denk ja nicht, ich könnte deinen Gesichtsausdruck nicht interpretieren.“ Jean schluckte – keinen Kaffee, dafür aber seinen eigenen Speichel – und sah vorsichtig zu Rhemann. Dort, wo er Wut erwartet hatte, fand er Sanftheit und Verständnis. „Du darfst mich kritisieren, Junge. Ich mache sicherlich nicht alles richtig wie man an diesem Beispiel sieht. Wenn es dir nicht schmeckt, dann darfst du das sagen.“ Jean zögerte und fasste sich dann ein Herz. „Er ist viel stärker als der, den Knox kocht“, erwiderte er vorsichtig und Rhemann nickte stolz. „So geht das! Sehr gut! Alles klar, also weniger Pulver?“ Jean nickte und trank noch einen dritten Schluck, bevor er die Tasse nun wirklich absetzen musste. Sein Magen beschwerte sich jetzt schon und das würde nicht gut gehen, wenn er mehr davon trank. Für eine Weile verharrten sie schweigend nebeneinander, dann räusperte Rhemann sich. „David hat mit mir telefoniert, bevor du zu uns gekommen bist. Er hat mir ein bisschen was über Evermore und die Scheiße, die dort passiert ist, erzählt. Nicht viel, aber es reicht aus um zu wissen, warum du Angst vor mir hast und ungerne in meiner Nähe bist. Ich würde mich aber dennoch freuen, wenn es mir irgendwann gelingen würde, dein Vertrauen zu gewinnen.“ Jean schluckte ob der ruhigen und ehrlichen Worte. Die beiden Männer hatten miteinander über ihn gesprochen? Bislang hatte Rhemann das mit keinem Wort erkennen lassen und ihn so behandelt wie alle anderen Trojans, nur mit weniger Körperkontakt. Aber dass Wymack ihm etwas über Evermore erzählt hatte und seine Angst vor Trainern… „Ich weiß nicht, ob ich das kann“, gestand Jean schließlich ein. „Er hat mir so oft wehgetan. Und anderen.“ Rhemann fragte nicht danach, wer er war. Jean musste es nicht erläutern und er war dankbar darum. „Wenn ich dir sage, dass ich das nie tun würde, dann stehe ich dazu, verstehe aber auch, dass du es mir nicht einfach so glauben kannst.“ „Er hat es nie versprochen. Er wollte auch keine Widerworte oder Kritik. Er hat auch nicht so trainieren lassen, wie Sie es tun, so leicht und…wenig streng.“ Rhemann hob die rechte Augenbraue. „Leicht?“, echote er ungläubig und Jean nickte scheu. „Am Anfang war ich wütend über dieses Training.“ „Jetzt bist du es nicht mehr?“ Jean schüttelte den Kopf. „Ich sehe die Fortschritte, die sie machen.“ „Auch dank dir.“ Er zog erneut den Kopf ein, dieses Mal vor Verlegenheit. Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, also schwieg er, gemeinsam mit seinem Coach. „Möchtest du von hier fortgehen? Aus L.A. meine ich?“, fragte Rhemann schließlich und Jean spielte unsicher mit seinen Fingern. Gestern hatte er die Antwort darauf gekannt. Jetzt? Nicht mehr so. „Ich möchte dir nur sagen, dass du jederzeit gehen kannst, wenn du dich damit wohler fühlst zu kündigen. Niemand wird dich zwingen, deinen Vertrag weiterhin zu erfüllen. Wenn du hier wegmöchtest, das ist deine eigene Entscheidung. Du solltest dann nur, um dir lästigen Verwaltungskram zu ersparen, das Ganze mit der Collegeverwaltung abklären. Das ist die einzige Bedingung.“ Jean nahm die Worte stillschweigend zur Kenntnis und verarbeitete sie für sich. Sie beruhigten ihn, sie gaben ihm Sicherheit, sie gaben ihm Hoffnung. „Danke, Coach“, sagte er leise und wagte einen Blick auf das ernste Gesicht. „Nicht dafür, Junge.“ Jean zögerte. Er hatte schon einmal davon abgesehen zu gehen und das hatte er nicht bereut. Jetzt, hier gab es eine zweite Weggabelung, an der er stand. Und wieder sagte ihm sein Bauchgefühl, sich für die Trojans zu entscheiden. „Ich glaube, ich möchte bleiben“, sagte er schließlich und die Falten um Augen und Mund verdoppelten sich, als Rhemann lächelte. „Aber ich…komme nicht mehr hier hoch.“ Rhemann taxierte ihn und erhob sich dann zu Jeans Schrecken in einer Behändigkeit, die er nicht erwartet hatte. Vorsichtig starrte er zu dem anderen Mann hoch, der nun einen Schritt zurücktrat und dann noch einen. Erst, als sie genug Abstand zueinander hatten, dass Jean ihn bequem ansehen konnte, stemmte er die Hände in die Hüften und Jean erkannte die Coachpose beinahe augenblicklich. Ebenso wie er die Coachstimme erkannte, die sich mit leichtem Widerhall zu ihm trug. „Alles klar, Moreau. Beine nach vorne, aber langsam, Zentimeter für Zentimeter. Ich will keine überhasteten Bewegungen sehen! Langsam!“ Reichlich überfahren starrte Jean den Mann an, in dessen Augen Amüsement, aber auch ernste Absicht tanzten. „Was ist los, heute Sonntag oder was? Auf geht’s, ich will Erfolge sehen. Langsame Erfolge!“ Der Ansporn, seinem Coach Folge zu leisten, war definitiv da, auch wenn Jean erstaunt war, wie sehr. ~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 60: Die Folgen der Stille --------------------------------- „Coach?“ Der größere Mann neben ihm brummte fragend und Jean rückte sich etwas an der Tür zurecht, an der er lehnte. Er traute es sich nicht, sich richtig in den Beifahrersitz zu setzen, da er seinem Coach dann zu nahe gewesen wäre und selbst diese paar Zentimeter wichtig waren, damit er sich nicht bedroht fühlte. Zumindest nicht ganz so bedroht. Rhemann hatte es mit einem kurzen Blick zur Kenntnis genommen und sich auf der Fahrt nach Hause Mühe gegeben, Jean nicht durch schnelle, hastige Bewegungen oder Flüche zu verschrecken. Letzteres gelang ihm nur bedingt, weil er, wie Jean zu einem ersten Schrecken festgestellt hatte, ein grundsätzlich wütender Autofahrer war, der alles und jeden verfluchte. Zu langsam, zu schnell, zu weit rechts, zu weit links. Grundsätzlich im Weg. Als Jean das erste Mal in Erwartung eines Schlages zusammengezuckt war, hatte er seine Lautstärke und seine Flüche etwas gemindert. Nichtsdestotrotz blieben sie und Jean lauschte den kreativen Beleidigungen, merkte sich ein paar für die Zeit, wo er seinen eigenen Wagen fahren würde. Jean spielte mit den viel zu großen Ärmeln der Jacke, in der er steckte. In die Rhemann ihn gesteckt hatte, als das Zittern nicht mehr aufgehört hatte. Die warme Heizung blies ihm zusätzlich dazu ins Gesicht und langsam wurde ihm tatsächlich warm und sein Körper kam zur Ruhe. Von seinem Herzen konnte er das nicht sagen und er atmete tief aus. „Ich bin wütend“, sagte er in die entstandene Stille. „Und ich bin enttäuscht. Von ihm. Ich möchte ihm vertrauen, aber…“ Er stockte. „Was mache ich, wenn ich ihm gleich gegenüberstehe?“ Rhemann brummte und schwieg für eine Weile. Dass er auf der Frage herumdachte, sah Jean und deswegen erkannte er auch den Moment, in dem sein Coach eine Lösung fand. „Dann redest du. Und er auch. Ihr redet miteinander über das, was passiert ist und findet eine Lösung für euer zukünftiges Zusammensein. Offen und ehrlich.“ Jean dachte darauf herum und runzelte schließlich die Stirn. „Ist das so einfach?“ „Naja, einfach sicherlich nicht. Das erfordert viel Ehrlichkeit von seiner Seite und viel Vertrauen von deiner.“ Als Jean unsicher schwieg, schnaufte Rhemann. „Ihr Beiden mögt euch, ihr seid unzertrennlich, das sehe ich. Die Frage, die du dir deswegen vielleicht auch stellen solltest, ist, ob du ihn wirklich für diese Dummheit aus deinem Leben ausschließen möchtest.“ Die Möglichkeit als solche erschreckte Jean mehr als er bis gerade eben geahnt hatte. Wollte er, dass der blonde Junge, den er so sehr zu schätzen gelernt hatte, nicht mehr in seinem Leben war? Nein, das sicherlich nicht. Aber… Ja, das Aber war es, was ihm das Denken erschwerte. Anscheinend erreichten sie Rhemanns Haus, denn anders konnte Jean sich die Einfahrt, in der sie hielten, nicht erklären, in der bereits Knox‘ Wagen stand. Überrascht sah er an der Fassade hoch und staunte nicht schlecht ob der schieren Größe des Ganzen. Es war vollkommen anders als das Haus der Knoxes oder das Haus der Krankenschwester. Größer, luxuriöser. „Ja, man verdient schon genug als Trainer einer Collegemannschaft, insbesondere dann, wenn die bessere Hälfte bei einer der größeren Kanzleien in L.A. arbeitet“, sagte Rhemann, als er anscheinend seinen Blick bemerkt hatte und Jean räusperte sich. Ausgiebig schaute er sich den Vorgarten an. „Es ist ein schönes Haus.“ Der ältere Mann hob seine Augenbrauen. „Das Dach ist schön.“ Rhemann räusperte sich vernehmlich. „Komplimentierst du als nächstes die Büsche um Zeit zu schinden, Junge?“, brummte er lakonisch und Jean zuckte ertappt zusammen. Verdächtige Wärme kroch über seine Wangen und er presste die Lippen aufeinander. Rhemann zwinkerte nachsichtig. „Er beißt nicht.“ Unglücklich schwieg Jean. Das wusste er und das war nicht das Problem. Ganz und gar nicht. Aber er wusste nicht, wie er selbst reagieren würde. Würde er wieder wütend werden? Wie würde es jetzt zwischen ihnen sein? „Ich weiß nicht, wie es werden wird“, veräußerte er seine Gedanken und Rhemann lächelte. „Das weiß man nie, bis man es ausprobiert hat.“ Jean bezweifelte, dass das eine gute Lebensweisheit war und atmete tief aus. „Wollen wir?“, fragte Rhemann und musterte ihn abwartend. Wieder war die Wahl seine eigene und er wurde nicht gezwungen und wieder war er schwerer als wenn Jean einfach nur Befehlen folgen würde. Wer hätte gedacht, dass die Bandbreite von Emotionen so erheblich war? Anstelle einer Antwort schnallte er sich ab und öffnete die Tür. Es war noch früh am Morgen und das Haus schien noch zu schlafen, so wie Los Angeles noch zu schlafen schien. Jean zog die Jacke seines Coaches enger um sich, als er mit einem Mal fröstelte. „Willst du erst einmal duschen?“, fragte Rhemann und Jean schüttelte nach einem Moment des Überlegens den Kopf. Er fühlte sich zwar dreckig und durchgefroren, aber er konnte sich im Haus seines Coaches nicht ausziehen. Alleine die Vorstellung, dass er in dem Haus seines Trainers nackt war, verursachte ihm eine Gänsehaut des Unwohlseins. „Alles klar, dann auf in die Höhle des Löwen.“ Zögernd folgte Jean seinem Coach und trat vorsichtig über die Schwelle des Hauses. Er hielt sich länger als nötig damit auf, sich seine Schuhe von den eisigen Füßen zu streifen und kam dann zu dem älteren Mann, der mit verschränkten Armen im Türdurchgang stand. Er folgte der Blickrichtung und sah, wie Knox in dem ausladenden Wohnzimmer auf der Couch lag, Eva fest in dem Griff seiner Hand vor sich gepresst. Sein Kapitän selbst schlief tief und fest, seinen Hoodie bespeichelnd. Auch wenn er wusste, dass er das Gespräch nur aufschob und Knox nicht eine Ewigkeit lang schlafen würde, so war Jean doch ausgesprochen erleichtert. Rhemann schnaufte. „Komm, zeig mir, wie man richtigen Kaffee macht. Vielleicht ist die Couchkartoffel bis dahin wach. Ach ja…und hier.“ Ohne Umschweife warf Rhemann ihm mit vielsagend erhobener Augenbraue sein Handy zu, was Jean ungelenk auffing und in die Tasche der Jacke steckte. Schweigend folgte er dem anderen Mann in die ebenso luxuriöse wie ausladende Küche. ~~**~~ Jeremy wurde mit Kopfschmerzen und einem trockenen Mund wach, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, während seines angespannten Wartens auf eine Rückmeldung ihres Coaches überhaupt eingeschlafen zu sein. Aber anscheinend war dem so und er fand sich nun auf der bequemen und ausladenden Couch wieder. Es war Tag, allerdings wohl noch früh am Morgen und aus der Küche drangen Geräusche zu ihm, die darauf schließen ließen, dass Mrs. Rhemann bereits aufgestanden war. Ächzend setzte Jeremy sich auf und stellte Eva sacht beiseite. Er rieb sich über die eingeschlafenen Arme und ließ seine Gedanken zum fürchterlichen, letzten Tag und er vergangenen Nacht gleiten. Jean war verschwunden und Jeremy hatte vor Panik nicht mehr klar denken können, in der Annahme, dass Jean in seiner Angst verschwunden war und sich etwas angetan hatte. Dass ihr Coach den Chef des LAPD kannte, hatte die Sache marginal besser gemacht, aber es hatte ihm Hoffnung gegeben. Schreckliche Hoffnung auf eine schnelle Nachricht. Und tatsächlich. Die Suche per Kamera war erfolgreich gewesen und Rhemann war schließlich aufgebrochen. Auf dem Weg dorthin hatte er Jeremy auf dem Laufenden gehalten und die Nachricht, dass er Jean gefunden hatte, hatte Jeremy wieder atmen lassen. Er erhob sich und steckte Eva in die Kapuze seines Hoodies. Er hatte sie mitgenommen, denn schließlich hatte sie Jean schon einmal davon abgebracht, sich umzubringen. Ein Glücksbringer wie auch eine Möglichkeit miteinander zu kommunzieren. Langsam ging er durch das Wohnzimmer und blieb am Durchgang zur Küche stehen, als er sah, dass es nicht Mrs. Rhemann war, die in der Küche werkelte, sondern sein Coach und Jean, dick eingepackt in Rhemanns Lieblingsjacke. Erleichterung durchflutete Jeremy und seine Sicht verschwamm. Jean war da. Er war hier. Er hatte sich bereiterklärt, hierhin zu kommen. Er war am Leben. Am Leben. Er hatte sich nicht umgebracht oder war für immer weggelaufen. „Sieben Löffel Kaffee also?“, fragte ihr Coach und Jean nickte stumm. „Gut, irgendwie dachte ich, da gehören fünfzehn rein.“ „Das ist viel“, erwiderte der andere Junge leise und Jeremy hörte deutlich das zuviel aus seinen Worten heraus, ohne, dass Jean auch nur einen Ton darüber verlor. Rhemann lachte gutmütig und schob seine Hände in die Hosentaschen seiner verwaschenen Jeans. „Also war er furchtbar?“, fragte Rhemann offensichtlich augenzwinkernd und Jean zog seine Schultern hoch. „Nein, das nicht.“ „Nur untrinkbar also?“ Der Moment, in dem Jean erkannte, dass Rhemann ihn aufzog, und seine Lippen sich für den Bruchteil einer Minute unwillig verzogen, war für Jeremy ein wunderbarer Moment. Er gab einen Laut von sich, der ihm sowohl Rhemanns als auch Jeans Aufmerksamkeit einbrachte. Jeremy erstarrte und hielt den Atem an, als Jeans Augen ihn ein paar Sekunden sezierten, bevor der andere Junge sich abrupt wegdrehte. Rhemann hob die Augenbraue und nickte. „Ich lass‘ euch beiden dann mal alleine, Jungs.“ Jean sah auf, als wolle er ihren Coach davon abhalten und wenn Jeremy sich die zuckenden Finger ansah, dann wurde dieser Verdacht noch bestärkt. Beinahe schon hilflos sah er Rhemann hinterher, wie er mit einem Winken die Treppe in die erste Etage nahm. Jeremy sah genau die Anspannung, die sich Jeans Nacken hochfraß, während er sich wieder zur Anrichte drehte und anscheinend darauf wartete, dass die Kaffeemaschine fertig wurde. Da sie noch nicht einmal einen Tropfen Kaffee in die Glaskanne gespuckt hatte, würde das eine lange Zeit sein. Jeremy schluckte und kämpfte mit seinen Worten. Er schob seine Hände in die Ärmel seines Hoodies und sah von Jean zur Anrichte und von dort aus irgendwohin in dieser viel zu aufgeräumten Küche, aus dem Fenster in die Weite hinein. Er sah Vögel in den Bäumen, die ihm als Ablenkung dienten, bevor er sich dem Unvermeidlichen stellte: seiner Schuld, die zwischen ihnen stand wie eine unüberwindliche Mauer aus Schweigen. Jean ignorierte ihn ohne ihn zu ignorieren, so absurd es auch klang. Jean war sich bewusst, dass er hier war und er schenkte ihm doch keine Aufmerksamkeit. Aus Zorn oder gar Hass? Wieviel hatte er mit seinem Schweigen zerstört, was Jean erst zart zu ihm aufgebaut hatte? Als die Stille zum Zerreißen gespannt war, räusperte Jeremy sich verzweifelt und nahm Eva aus seiner Kapuze, schließlich war sie schon immer eine Verbindung gewesen. Er trat einen Schritt nach vorne, die Hand mit ihr zögerlich ausgestreckt, ein Geschenk, ein Friedensangebot. „Jean“, wisperte er und der andere Junge zuckte so gewaltig zusammen, dass Jeremy es beinahe schon körperlich spürte. „Bitte sieh mich an.“ Jede Sekunde, die verstrich, hatte Jeremy das Gefühl, es weniger zu verdienen, dass Jean ihn ansah, ihn und dann – mit Ablehnung - Eva. Jede Sekunde Stille war ein Gramm Schuld, das sich weiter und weiter aufhäufte. Jeremy schluckte und stellte sie vorsichtig auf die Küchenanrichte, als er merkte, dass der andere Junge sie nicht nehmen würde. „Jean, bitte. Sag irgendetwas. Mach irgendetwas. Schrei mich an, seit wütend, enttäuscht, zornig. Sag mir, dass ich ein Idiot war…“ Jeremy verstummte und sackte in sich zusammen, als immer noch keine Reaktion kam. Umso größer war aber der Schock, als Jean zu ihm herumfuhr, die grauen Augen hell vor Wut, die Fäuste so angespannt als würde er ihn schlagen wollen. Er öffnete die Lippen, um etwas zu sagen und klappte sie nutzlos wieder zu. In seinem Gesicht arbeitete es, ausdrucksstark wie selten zuvor. Jeremy hob an, etwas zu sagen und Jean gab einen beinahe unmenschlichen Laut von sich. „Du hast mich angelogen“, presste er hervor, der erste Satz von vielen schmerzhaften. Der Anfang von etwas, das Jeremy nicht vorhersehen konnte. „Du hast mir verschwiegen, über Wochen, dass wir dort spielen. Du hast es gewusst und mich im Dunkeln gelassen.“ Jean hielt inne und Jeremy senkte den Kopf. Schuld dominierte seine Gefühlswelt, erdrückende, schwere Schuld, die ihm die Fähigkeit zum Sprechen nahm. Das war schon ironisch, denn jetzt, wo er jede Möglichkeit und jede Pflicht hatte zu sprechen, konnte er es nicht. Er, der immer zuviel sagte. „Du hast mich als nicht gleichwertig angesehen, als schwach und zu traumatisiert um mit der Wahrheit fertig zu werden. Du hast für mich entschieden, was meine Realität ist und mich kontrolliert. Mich und meine Gefühle. So wie…“ Jean stockte und er musste auch nicht weitersprechen. So wie Riko. Wie sein verstorbener Kapitän. Er hatte sich wie Riko verhalten. Je mehr er darüber nachdachte, desto verzweifelter wurde Jeremy. Das hatte er alles nicht so gewollt. Er hatte doch nur gewollt, dass es Jean nicht schlecht ging. Seine Absichten waren nicht schlecht gewesen und doch war er der schlechteste Mensch, den es gab. Stimmte es, was Jean sagte? Dass er ihn als schwach wahrgenommen hatte? Niemals, würde Jeremy sofort sagen. Niemals sah er Jean als schwach an. Aber was war mit seinem Unterbewusstsein? Seit Jean hier war, hatte er sich dem Schutz des anderen Jungen verschrieben. Er hatte sich Jeans Glück verschrieben, so sehr, dass er außer Acht gelassen hatte, dem anderen Jungen zuzugestehen, auch unglücklich zu sein. Er war bevormundend gewesen und fürchterlich. Er hatte Jean hintergangen, obwohl dieser ihm mit seinem Körper vertraut hatte. Nachdem was sein verstorbener Kapitän ihm angetan hatte, ein unglaublicher Vertrauensbeweis, den Jeremy mit Füßen getreten hatte, kurz nachdem sie sich geküsst hatten. Jeremy traute sich nicht, hochzusehen und den Zorn und den Hass in Jeans Augen zu sehen, so berechtigt beides auch war. „Meine Eltern…“, begann Jean und seine Stimme brach. Jeremys Kopf schoss hoch und er begegnete Schmerz in Reinform. Purem, reinen Schmerz und Verzweiflung. „…was glaubst du, haben sie mir gesagt, bevor sie mich nach Evermore verschifft haben? Was glaubst du, haben sie mir gesagt, bevor sie mich einfach dagelassen haben? Nichts haben sie mir gesagt. Nichts. Sie haben mich im Dunkeln gelassen. Genau wie du.“ Jede Silbe zog Jeremy den Boden unter den Füßen weg. Mit jeder Silbe wurde seine Schuld größer und steigerte sich ins Unermessliche. Nicht nur, dass er wie Riko gehandelt hatte, nein, er hatte Jean auch in das Trauma des Verlassen Werdens hineingestoßen. Er hatte unwissentlich das getan, was auch seine Eltern ihm angetan hatten. Jeremy ballte seine Hände zu Fäusten und senkte den Blick. War es überhaupt möglich, dass Jean ihm jemals vergab? Nein, vermutlich nicht. Er sah auf ihrer beider Füße und seine Sicht verschwamm. Er konnte den Vorwürfen nichts entgegensetzen und das war das Schlimmste. Jean hatte Recht. Mit allem, was er sagte. „Ich habe gedacht, dass ich etwas falsch gemacht habe. Dass ihr mich deswegen dort lassen wollt. Dass ich etwas nicht getan habe oder falsch getan habe. Oder dass ich dir nicht richtig zu Gefallen war und dass du mich deswegen loswerden möchtest. Ich habe gedacht, dass ihr abwartet, bis ich glücklich bin um mir dann alles zu nehmen. Jedes Licht, was ich jemals hier gesehen habe.“ Die Tränen fielen, bevor Jeremy auch nur in der Lage war, ein Wort der Entschuldigung oder des Bedauerns hervorzupressen. Er weinte um den Schmerz, den er Jean zugefügt hatte. Er weinte um das, was er zerstört hatte. Es war unfassbar, welches Leid er Jean mit seinem dummen Schweigen zugefügt hatte. „Wie soll ich dir denn jetzt noch vertrauen?“, schloss Jean mit einer solchen unterschwelligen Verzweiflung, dass Jeremy schier übel davon wurde. Er sah hoch und da standen nur hilflose Wut und Enttäuschung in den grauen Augen, die ihn schier zu durchbohren und nach einer Antwort zu suchen schienen, die Jeremy nicht geben konnte. Er grub seine Zähne in seine Unterlippe und schwieg. Lange Zeit schwieg er, auf der Suche nach den richtigen Worten. „Ich wollte dir nie wehtun“, presste er schließlich ungelenk hervor. „Niemals. Ich wollte dir eine schöne Weihnachtszeit und ein schönes Silvester bereiten. Ich wollte auf den richtigen Moment warten, es dir zu sagen, weil ich Angst hatte, dass es dich zurückwirft. Du hast Recht, ich habe für dich entschieden und es war nicht in Ordnung. Es war ein Fehler und schlimm. Ich habe dich nicht informiert und so für dich etwas entschieden, was ich nie hätte entscheiden sollen. Das tut mir so leid. Ich werde das nie wieder machen, Jean, denn ich möchte, dass du mir vertraust. Ich möchte nicht, dass du dich unsicher in meiner Gegenwart fühlst oder dass du glaubst, dass ich lüge. Ich will dich nicht anlügen, nie wieder. Ich möchte dir nie wieder etwas verschweigen.“ Angesichts Jeans eisernem Schweigen fiel es Jeremy schwer, weiter zu sprechen, doch er nahm all seinen Mut zusammen, den er aufbringen konnte. „Ich würde dich nie in Evermore lassen, Jean. Ich würde dich immer mitnehmen und mit allem verteidigen, was ich habe. Ich möchte dich nicht verlieren oder deine Nähe oder das Vertrauen, das du mir schenkst.“ Jeans Augen schweiften über Eva und Jeremy schluckte. Wie damals schon in der Wüste war sie eine Art Friedensangebot, eine Erinnerung an das, was sie schon hatten. Doch jetzt starrte Jean das Kuscheltier einfach nur an, blind und bewegungslos und was, wenn nicht das, zeigte, wie wenig er dazu geneigt war, Jeremys Worte anzunehmen. Der Backliner wandte den Kopf zur Seite und gab einen undefinierbaren Laut des Unbills von sich. „Ich bin so wütend auf dich. So enttäuscht“, presste er hervor, rau und leise. „Und ich weiß nicht, wie das weggehen soll.“ Worte, die wie Munition in Jeremy einschlugen. Jede Einzelne fügte ihm Schmerzen zu und er verfluchte sich innerlich tausendmal für das, was er getan hatte. „Lass es mich wieder gut machen“, erwiderte er schließlich kraftlos und zum Teil auch mutlos. Er würde nie wieder lügen, doch wie sollte er das einem Jungen verdeutlichen, der für den Großteil seines Lebens belogen und misshandelt worden war? Als Jeans Augen sich in seine bohrten, wusste Jeremy, dass er verloren hatte, denn da stand nur Zögern und Ablehnung. „Ich…“, begann Jean und wandte sich dann ruckartig ab. „Ich muss an die frische Luft. Alleine“, schob er nach, als Jeremy Anstalten machte, ihn zu fragen, ob er mitkommen sollte. So nickte er. „Ich bin hier, wenn du zurückkehrst.“ Oder falls. Vielleicht rief Jean auch jemanden an, der ihn abholte, um nicht mit ihm nach Hause fahren zu müssen. Kaum, dass er die Terrassentür zum Garten hörte, sackte Jeremy an der Küchenanrichte zusammen und setzte sich auf den warmen Boden. Er zog die Knie an seinen Körper und bettete seine Stirn auf sie. ~~**~~ Jean kam bis zum Ende des Gartens, bevor er sich zwang stehen zu bleiben um nicht noch einmal wegzulaufen. Dieses Mal war es jedoch keine Angst, die ihn antrieb, sondern das Gefühlschaos, das in ihm und um ihn herum tobte. Sein Kapitän weinte und zeigte ein Verhalten, das Jean nur marginal kannte: Bedauern für etwas, das getan worden war. Sein Vater hatte etwas Ähnliches geäußert und schon dort hatte Jean nicht gewusst, wie er damit umgehen sollte. Bei Knox wusste er es noch viel weniger. Gerade bei Knox nicht, denn hier standen noch ganz andere Gefühle im Raum, die an Jean zerrten und es ihm unmöglich machten, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Er hatte alles, was er gesagt hatte, auch so gemeint. Es war aus seinem Innersten gekommen. Doch wie er damit umgehen sollte, das war Jean ein Mysterium. Seine Wut flüsterte ihm ein, sich von Knox zu entfernen, seine Enttäuschung, Knox nie wieder zu vertrauen. Die Zuneigung, die er empfand, dass er den anderen Jungen nicht von sich stoßen konnte. Nicht, wenn ihm dessen Nähe soviel bedeutete. Aber konnte Jean sich wirklich noch darauf einlassen? Jean wusste es nicht und seine Gedanken erlaubten ihm kein Urteil, so griff er zu dem, was ihm in der Vergangenheit die meiste Ruhe gebracht hatte. Blind fand seine Hand das Smartphone in der Tasche von Rhemanns Jacke und zog es hervor. Ebenso blind wählte er Andrews Nummer und hoffte darauf, dass der andere Junge abnehmen würde. Er ließ es lange klingeln und erst, nachdem er schon auflegen wollte, nahm Andrew ab und ging sofort in den Videochat. Überrascht hob Jean die Augenbrauen, als er sah, wie unordentlich die Haare des Torhüters waren. Die linke Seite seines Gesichtes war in der Art schlafender Menschen zerknautscht, die vor kurzem erst aufgestanden waren. Knox sah regelmäßig so aus und Jean war immer wieder erstaunt gewesen, wie unterschiedlich schnell sich diese Falten glätteten. „Gib mir einen Grund…“, schnarrte Andrew und Jean sah Mordlust in den sonst so ausdruckslosen Augen. Mordlust und Reste des Schlafes, aus dem er den anderen Jungen anscheinend gerissen hatte. Hilflos starrte Jean auf das Gesicht, das ihm aus unerfindlichen Gründen Ruhe vermittelte. Es war unhöflich, das wusste er, aber er war in diesem Moment zu nichts Anderem fähig. Andrew hätte sicherlich eine Antwort auf seine Fragen, doch wie formulierte er sie? „Hat Josten dich schon einmal angelogen?“, presste er schließlich ungelenk hervor und Andrew starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. Vielleicht war dem auch so, wenn er schon die nicht-existente Beziehung der Beiden hinterfragte und Vergleiche zu seiner eigenen zog. Seiner eigenen, nicht-existenten Beziehung, weil er eben nicht wusste, wie man eine solche führte. „Dein Ernst?“, rollte Andrew schließlich mit den Augen und strich sich seine Haare zurück. „Fragst du gleich auch noch, ob der Himmel blau ist?“ Jean runzelte die Stirn. „Nein. Was hat ein blauer Himmel damit zu tun? Es geht um Josten.“ Er wusste nicht, was er so Amüsantes gesagt haben sollte, aber Andrew für einen Moment derart belustigt zu sehen, brachte Zweifel in ihm auf. War das wieder einer dieser Insider-Scherze, die er nicht verstand? „Gibt es Ärger im Paradies oder warum erachtest du es für notwendig, mit deinem gerade wiedergefundenen Leben zu spielen und mich zu wecken?“ Irritiert sah Jean auf sein Handy. „Es ist halb acht.“ Andrew brummte in schleppender Zustimmung der Uhrzeit und Jean musterte ihn unerfreut. Als ob er die ungesunden und nachlässigen Schlafgewohnheiten dieses Chaotenteams kannte. Den Einzigen, den er beim Schlafen beobachtet hatte, war Josten selbst gewesen und das waren andere Umstände gewesen. Keine Vergleichbaren. „Es ist scheißegal-wieviel-Uhr-Zeit und kurz vor ich-leg-gleich-auf“, drohte Andrew zynisch und Jean atmete tief durch, schluckte seinen Nachsatz über ungesunde Schlafrhythmen. Er wäre schließlich auch so bigott wie gefährlich wie unangebracht, da er genau wusste, wie sehr Andrew auch mit Alpträumen zu kämpfen hatte. Jean wandte den Blick ab und knirschte mit den Zähnen. „Knox hat mich angelogen“, stieß er schließlich hervor und die andere Seite der Leitung blieb stumm. „Oder nein…er hat mir etwas verschwiegen.“ „Dass du in deine herzallerliebste Heimat zurückkehrst.“ Jeans Augen kamen ruckartig zum Bildschirm zurück und er grollte. „Es ist nicht meine Heimat“, zischte er und Andrew lächelte ironisch. „Wollte nur mal nachhören, ob sich an deinen Reiseplänen etwas geändert hat.“ „Fick dich, Minyard“, entwich es Jean instinktiv und frustriert. „Kein Bedarf und auch nicht das Thema. Also er hat es dir verschwiegen.“ „Hat Josten das mit dir auch gemacht?“, hielt Jean dagegen und er musste wissen, ob die Beiden auch etwas Ähnliches durchgemacht hatten. Schließlich waren sie nun unzertrennlich. „Du meinst, ob mich der Junge mit falschen Kontaktlinsen, falscher Haarfarbe, falschem Namen und falscher Geschichte belogen hat?“ Ausdruckslos starrte Andrew ihm entgegen und Jean erkannte die Wahrheit in eben jener. Die lakonische, durchaus aber auch frustrierte Wahrheit. Oh. War Frust auch der Grund gewesen, aus dem Andrew Josten unter Drogen gesetzt hatte? Neben Vorsicht und einem Beschützerinstinkt in Bezug auf seine Familie und Kevin, den er gut zu verstecken wusste? Jean hütete sich davor, diese Frage zu stellen. „Hast du ihm das vergeben?“ Andrew hob die Augenbrauen. „Er hatte Gründe“, erwiderte er schließlich indifferent und Jean konnte sich mehr als gut vorstellen, welche Gründe es gewesen waren. Nur zu gut hatte er die kurz aufflammende, hilflose Verzweiflung unter dem unnützen Widerstand in Jostens Augen gesehen, als er ihm die Haare gefärbt hatte. Der schmale Körper hatte selbst ohne Rikos Einwirkungen genug Narben gehabt, um einen Ausblick darauf zu geben, was ihn erwarten würde, wenn sein Vater ihn wieder in die Finger bekam. „Wenn jemand Gründe hat, kann man dann vergeben?“, stellte er die eher grundsätzliche Frage, während Andrew mit ihm anscheinend zu einer seiner Sitzsäcke ging und sich darauf fallen ließ. „Kommt drauf an. Welchen Grund hatte Sonnescheinchen?“ Jean verzog das Gesicht ob des fürchterlichen Spitznamens und seufzte schließlich. „Er sagte, dass er mich schützen wollte. Er habe mir ein schönes Weihnachten und Silvester schenken wollen.“ Andrew würgte. „Ekelhaft, aber wenig überraschend.“ „Was soll das heißen?“ „Captain Gut-Gemeint kennt seit deiner Ankunft im Gummibärenbandenland anscheinend nur ein Ziel, nämlich dich glücklich zu machen. Dass er die die frohe Botschaft eures Spiels in Evermore da nicht überbringt, liegt auf der Hand, so dumm es auch ist.“ Stürmisch runzelte Jean die Stirn, als er die Selbstverständlichkeit von Andrews Antwort in sich wirken ließ. War es tatsächlich so logisch gewesen? So vorhersehbar? „Wie kann ich sicher sein, dass er mich zukünftig nicht auch anlügt?“, fragte er schließlich sein eigentliches Problem. Andrew schwieg lange genug, dass Jean glaubte, sein Handy wäre eingefroren und zuckte dann mit den Schultern. „Hast du ihn damit konfrontiert?“ Jean nickte. „Wie hat er reagiert?“ „Er hat geweint und mir versprochen, dass es nie wieder vorkommen wird.“ Der blonde Junge rollte erneut mit den Augen und schüttelte den Kopf. „Kannst du erkennen, wenn er dich anlügt oder dir etwas verschweigt?“ Jean überlegte. Als es um seine Eifersucht auf Fahima gegangen war, hatte Jean ein subtiles Gefühl des Falschseins gehabt, das er nicht ganz hatte greifen können. Eine Ahnung, dass etwas falsch war, auch wenn er nicht genau gewusst hatte, was. Ansonsten waren die Regungen des anderen Jungen ehrlich gewesen. „In Ansätzen, ja. Bei manchen Sachen. Hier nicht.“ „Das ist ein Anfang und gleichzeitig ein Lernprozess.“ „Du vertraust Josten, sehr sogar“, sagte Jean. „Wie ist das möglich?“ Andrew schnaubte dunkel amüsiert. „Indem ich weiß, dass er mir nicht schaden will. Weißt du das bei Knox?“ „Ja.“ Noch bevor Jean irgendwie über die Antwort nachdenken konnte, hatten seine Lippen schon ein einzelnes, richtungsweisendes Wort hervorgepresst. Ja, er konnte das mit Sicherheit sagen, denn nichts, aber wirklich gar nichts in Knox‘ Verhalten deutete darauf hin, dass er ihm etwas Böses wollte. Es war erstaunlich, wieviel Ungesagtes auf Andrews Gesicht stehen konnte. „Wiegt sein Verschweigen seine restlichen Taten auf?“ Konnte man das gegeneinander aufwiegen? Jean wusste es nicht, aber es brachte ihn dazu, über all das Gute nachzudenken, das Knox ihm getan hatte. Von Anfang bis jetzt war es nur Gutes gewesen und selbst jetzt bereute der andere Junge sein Verschweigen. „Er hat mir sonst nur Gutes getan“, gestand Jean schließlich ein. Bevor Andrew etwas erwidern konnte, öffnete sich bei ihm anscheinend eine Tür und seine Aufmerksamkeit wich für einen Moment vom Bildschirm zu dem Neuankömmling. Im Hintergrund hörte Jean Gemurmel. „Das Findelkind“, erwiderte Andrew zu Jeans Unbill und keine zehn Sekunden später wackelte das Video und Jostens verschwitzter Kopf schob sich in das Bild, der ihn in seiner üblichen Herausforderung angrinste. Jean bleckte die Zähne über soviel unnötigen Frohsinn. „Jean!“ „Josten.“ „Bereit für’s Spiel am Ende des Monats?“ Jean grollte abgrundtief böse und war sehr versucht, einfach aufzulegen. „Warst du es, das erste Mal, nachdem Riko dich hat gehen lassen?“, hielt er dagegen und Josten lachte, auch wenn daran nichts Fröhliches war. „Nein. Ich hatte eine Panikattacke auf dem Spielfeld. Aber Andrew hat mir geholfen.“ Er sah zur Seite und im Hintergrund hörte Jean ein eindeutiges Geräusch des Missfallens. Wie offen und frei Josten über die Folgen seines Aufenthaltes in Evermore sprach. Jean schluckte schwer. Es schien, als wäre wie sonst auch Konfrontation das, was dem anderen Jungen dabei half, mit den Erinnerungen fertig zu werden und sie klein werden zu lassen. Jean brummte nichtssagend und gestattete sich einen längeren Blick auf Josten. Er sah glücklich aus, ruhiger und entspannter. Wie selbstverständlich lebte er mit Andrew zusammen und das obwohl er ihn angelogen hatte, wohl mehrfach. In vielen wichtigen Dingen, so auch in seiner Identität und darin, welche Gefahr das für Andrew bedeuten könnte. Konnte er das dann mit Knox nicht auch? Zusammenleben und irgendwann wieder vertrauen? Er vertraute ihm doch jetzt schon mit seinem Leben. „Wie geht’s dir damit?“ Eine simple Frage und doch so schwierig zu beantworten. Jean wandte sich von den stechend-blauen Augen ab und hin zum Garten. Es war immer noch kühl und er spürte, wie die Kälte zurück in seine Knochen kroch. Doch das war nebensächlich und eine offensichtliche Hinhaltetaktik „Ich habe Angst“, gestand er schließlich ein und Josten nickte in seinem Augenwinkel bestätigend. „Lähmt sie dich?“ Jean zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich noch nicht. Day hat es erst vor zwei Tagen gesagt.“ Und so lange hatte er nicht geschlafen. Er befürchtete jedoch, dass es so sein würde. Nach den letzten Stunden, nach all der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit würden seine Gedanken sicherlich nicht zufrieden sein mit dem, was er an Versicherungen erhalten hatte. „Wenn, sag Bescheid.“ Amüsiert schnaubte Jean. „Zu welchem Zweck?“ „Dann komme ich vorbei und treibe sie dir aus“, grinste Josten und Jean rollte mit den Augen. Da war absurd. Zwischen ihnen lagen mehrere Stunden und außerdem hatten die Foxes sich ebenfalls für das Ende der Saison vorzubereiten. Dumm wäre das und nachlässig. All das teilte Jean ihm mit, solange, bis Rhemann ihn hereinrief, weil es Frühstück gab und er erkannte, dass er wirklich Hunger hatte. „Ich muss gehen, der Coach ruft“, sagte er und Josten grinste. „Wir sehen uns“, erwiderte er und irgendwie klang es wie eine Drohung. Jean schnaufte, beendete das Gespräch und steckte sein Telefon in die Tasche. Langsam kam er zurück zum Haus und folgte den Gerüchen nach Essen aus der Küche, die ihm das Wasser im Mund zusammenliefen ließen. Zunichte gemacht wurde das durch den elenden Anblick seines Kapitäns, der eingesunken am Tisch saß und angestrengt auf die Tischplatte starrte, anscheinend in dem festen Vorsatz, seine Anwesenheit zu ignorieren. Aus Schmerz und Scham, wusste Jean, denn er hatte wohl gesehen, wie weh seine Worte Knox getan hatten. Er selbst musste für einen Moment innehalten und tief durchatmen. Andrew war auch immer noch mit Neil zusammen. Obwohl dieser gelogen hatte. Aber er hatte Gründe dafür gehabt. Wie Knox auch. Jean wusste nicht, wie man das wirklich machte, also konzentrierte er sich auf das, was er schon kannte. Eva war seit Beginn eine Art zu kommunizieren gewesen. Sie war etwas, das sie beide verbunden hatte. Auch wenn Jean Knox noch nicht verbal entgegentreten konnte, so war er doch in der Lage, sie mit steifen Fingern von der Anrichte zu nehmen, auf der sie stand und sie mit zum Tisch zu bringen. Zögernd kam er zum Tisch und stellte Eva neben Knox, der wie verbrannt zusammenzuckte und abrupt zu ihm hochsah. Groß und ungläubig waren sie, die blauen, rotumränderten Augen. Es zerbrach Jean das Herz, Knox so zu sehen, das spürte er nun ganz klar und deutlich. Er wollte nicht, dass es so zwischen ihnen war, aber er wollte auch keine Lügen mehr. „Setz dich, Junge“, sagte ihr Coach und Jean ließ sich an dem zweiten der drei gedeckten Plätze an dem runden Küchentisch wieder. Erst als Rhemann ebenfalls Platz nahm und den Korb mit den Toasts herumgab, fasste Jean sich ein Herz um das zu tun, was er noch niemals vorher gewagt hatte. Er forderte etwas ein, in Anwesenheit seines Kapitäns und seines Trainers. „Ich möchte alles wissen. Jedes Detail“, sagte er mit vor Unsicherheit zitternder Stimme, doch auch diese wurde gehört. ~~**~~ Jean kämpfte einen Moment lang gegen den Schwindel an, der sein klares Denken gerade fest im Griff hielt, und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Er stützte sich an dem malträtierten Boxsack ab und atmete ein paar Mal tief durch, die bittere Galle schluckend, die ihm im Rachen stand. Er konnte von Glück reden, dass niemand seines Teams bei ihm war. Vier Tage, nachdem er durch halb Los Angeles gelaufen war um doch nicht zu fliehen, hatte er zusammengerechnet keine vier Stunden Schlaf bekommen, weil jede Minute Schlaf eine Minute Alptraum bedeutete. Es schien, als würden sich seine schlechten Erinnerungen gegenseitig überbieten wollen und so waren seine Tages- und Nachtstunden davon geprägt, was ihm Riko und sein ehemaliges Team angetan hatten. Die lärmenden Studenten auf dem Campus waren mit Leichtigkeit die Ravens in ihrem Gemeinschaftsraum, während sie ihn mit Waterboarding folterten. Stephens Geruch brachte ihn zurück in sein Bett in Evermore, mit seinem Gesicht in die Matratze gepresst, während ein schwerer Körper auf ihm lag und eine dunkle Stimme in sein Ohr stöhnte. Alvarez leichter Schlag auf seine Schulter brachte ihn zurück zu seinem Herrn, der seine Unzulänglichkeit wieder und wieder bestraft hatte. Das halbe Team hatte gewusst, dass er für die Dauer einer Nacht verschwunden gewesen war und entsprechend groß war die Sorge um ihn gewesen. Unangenehme Gänsehaut, die beinahe schon an Schüttelfrost grenzte, hatte ihn befallen, als er am nächsten Tag wieder Teil der Trojans war und sie ihn mit ihrer sonnigen Zuneigung überschüttet hatten. Er hatte ihre Anwesenheit und Nähe nicht ertragen und sich wie besessen in die Drills geflüchtet. Statt der trauten Zweisamkeit ihres Apartments hatte Jean heute wie auch vor zwei Tagen im Anschluss das Fitnessstudio im Sportlerbereich aufgesucht und sich weiter gequält, in der Hoffnung, dass die Einsamkeit und die körperliche Erschöpfung ihm irgendwann Ruhe verschaffen würden. Knox‘ besorgte Frage, ob er ihn begleiten solle, hatte Jean entschieden verneint und die Tortur des Alleineseins der Tortur der sanften Nähe und emotionalen Zuneigung vorgezogen, auch wenn er vor dem Fitnessstudio für Minuten seine Panik hatte niederkämpfen müssen und sich absolut unwohl fühlte. Er sah die konstante Sorge in den Augen seines Kapitäns, der ihm subtil und sanft seine Hilfe anbot. Vier Tage, nachdem sie über alles gesprochen hatten und Knox und er in ihr Apartment zurückgekehrt waren, waren die Dinge noch…vorsichtig. Zurückhaltend und distanzierter als vorher. Knox war vor allen Dingen vorsichtiger und versuchte es Jean so recht zu machen wie möglich. Sie sprachen miteinander, Knox sorgte sich um ihn und Jean ignorierte Letzteres. Wen er dahingehend nicht ignorieren konnte, war Brian. Brian hatte ihm neue Denkansätze gegeben und ihm Möglichkeiten aufgezeigt, mit Knox‘ Verhalten, seinen daraus resultierenden Gedanken und auch mit seinem Kapitän umzugehen. Jean hatte nur weder die Kraft noch die Ruhe um diesen Gedanken die nötige Objektivität zu schenken und so hatte er sich dazu entschieden, zu funktionieren. Wie zu Beginn seines Hierseins. Bis sie gegen seine alte Mannschaft spielen würden. Bis dieses drohende Schafott vorbei war. Falls, wie er in dunklen Momenten dachte. „Jean, genug für heute!“, riss Shirley ihn aus seinen Gedanken und er sah mit verschwommenem Blick wieder hoch. Das war keine gute Idee, wahrlich nicht. „Ich kann noch eine Runde“, keuchte er trotzdem und richtete sich stur auf. Sein Körper war sturer und der Schwindel ließ ihn die Augen schließen, was Shirley mühelos auf seine Fährte brachte, die wie ein Bluthund Schwäche erschnüffelte und es auf den Tod nicht ausstehen konnte, wenn jemand Raubbau mit seinem Körper betrieb. „Nein, kannst du nicht. Du bist vollkommen fertig und kurz davor umzukippen. Was soll das, das hier ist kein Folterkeller.“ Abrupt öffnete Jean seine Augen und starrte sie an, einen Moment lang in der irrational aufflammenden Angst gefangen, dass sie dort weitermachen würde, wo die Ravens aufgehört hatten. Doch das war nur ein Spruch gewesen, ein Ausdruck, der hier das komplette Gegenteil bedeutete. Trotzdem sickerte die Angst in ihn ein und krallte sich fest. „Wir spielen Ende des Monats gegen meine alte Mannschaft. Ich habe keine guten Erinnerungen an sie“, gab er zu und Shirley schnaufte. Sie stemmte die Hände in die Hüften und hob herausfordernd das Kinn. „Und du glaubst, dass wenn du dich bei mir auspowerst, das vergessen kannst, was passieren wird?“ „Auch, ja.“ Sie grollte. „Ich bin keine Therapeutin, Jean, das habe ich dir bereits bei unserem ersten Zusammentreffen gesagt.“ Jean schüttelte den Kopf. „Ich wollte mich wirklich nur auspowern, das ist alles.“ „Du bist kurz davor, mit deinem Kopf auf dem Betonboden aufzuschlagen. Das ist eine Stufe darüber.“ „Ich bin noch nicht am Ende.“ Streng musterte sie ihn und er zog unweigerlich den Kopf ein. „Das sehe ich, du sturer Bock. Aber es reicht jetzt. Hast du außerdem mal auf die Uhrzeit geschaut? Es ist elf Uhr abends. Du brauchst Schlaf.“ Wenn es denn so einfach wäre. Jean ließ seine behandschuhten Fäuste sinken und löste den Klettverschluss mit den Zähnen. Er klemmte erst den einen, dann den anderen Handschuh zwischen seine Oberschenkel und zog sie sich von den Händen. Mit zitternden Fingern fischte er nach dem Handtuch, das er sich bereitgelegt hatte. „Komm, geh duschen und mach dich fertig. Ich bringe dich zu eurem Wohnheim, sonst bleibst du auf dem Weg dahin noch auf irgendeiner Parkbank sitzen.“ Das war keine so unwahrscheinliche Möglichkeit und so folgte Jean ihren Worten. Sie brachte ihn zu seinem Wohnheim und wartete sogar, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte, bevor sie wegfuhr. Sture Frau. Sobald sie außer Sichtweite war, blieb Jean einen Moment lang stehen und kämpfte sich dann die Treppe hoch. Erschöpft schloss er ihre Wohnungstür auf und streifte seine Schuhe ab, ließ seine Tasche im Eingang stehen. Er sah, dass noch Licht brannte und kam vorsichtig ins Wohnzimmer. Knox war auf der Couch beim Film schauen eingeschlafen, das Handy vergessen in seiner Hand. Sein Kapitän hatte auf ihn gewartet. Jeremy, verbesserte Jean sich, denn er wollte jetzt, in diesem beinahe schon intimen Augenblick, keine Distanz zu dem schlafenden Jungen aufbauen. Nicht mehr, als er in den vergangenen vier Tagen errichtet hatte. Er hatte nicht gewusst, wie er wieder zu ihrem leichten Umgang zurückkehren sollte, also hatte er das hier in Kauf genommen: eine Distanz, die ihm nicht wirklich schmeckte. Er wollte nicht, dass es anders war als vor Silvester. Er wollte das, was sie an Silvester geteilt hatten, immer noch. Und es war ja möglich, er sah es ja an den beiden Idioten aus South Carolina. Gefühle, Emotionen, Erinnerungen… alles war da und alles war ein Teil des Chaos, das in ihm tobte. Auch wenn die Wut auf dessen Handeln zwischenzeitlich immer noch aufflammte, so wusste er doch mit unerschütterlicher Sicherheit, dass er den blonden Jungen nicht missen wollte. Und dass er dessen Berührungen und dessen Nähe vermisste, so wenig er sie auch in den vergangenen Tagen hätte tolerieren können. Jean hielt inne. Der Gedanke war so abstrus wie er logisch schien. Sein Innerstes sehnte sich nach der Güte und der Nähe des schlafenden Jungen. So wenig er auch wusste, wie er es verbalisieren sollte, wenn der andere Junge wach war, so sicher war sich Jean nun, als er zu Jeremy kam und sich neben ihm auf den Boden niederließ. Er sah in das entspannte Gesicht und hob seine Hand um die blonden Strähnen nach hinten zu streichen, hielt jedoch Zentimeter vor Jeremys Haaren inne und erstarrte in der Bewegung. Er wollte den anderen Jungen berühren. Er wollte anknüpfen an das, was gewesen war. Er hoffte, dass er es konnte und das nicht eine unsichtbare Barriere zwischen ihm und dem Normalen war. Jeremy regte sich langsam und schlug schneller, als es Jean lieb war, seine Augen auf. Verwirrt suchten sie sich für einen Moment ihre Umgebung, dann blieben sie an Jean hängen und Jeremy zuckte zusammen. „Jean, oh…sorry, ich bin im Weg…einen Augenblick, ich…“ Anscheinend stand etwas auf Jeans Gesicht, dass seinen Kapitän zum Schweigen brachte und so genau wollte er gar nicht wissen, was. Vielleicht war es nun sein brachial schlechtes Gewissen, dass er Knox soweit gebracht hatte sich bei ihm für nichts zu entschuldigen. Dafür, dass er geschlafen hatte. Jean seufzte. Jeremy hatte das die vergangenen Tage oft getan und sich dafür entschuldigt, im Weg zu sein, nicht schnell genug zu sein, den Ball nicht direkt auf Jeans Bedürfnisse gepasst zu haben, zu langsam beim Duschen zu sein… all das, was keiner Entschuldigung bedurfte. Ruckartig legte Jean seine Hand auf Jeremys Wange und sah, wie groß die blauen Augen wurden. Abgehackt atmete sein Kapitän ein und hielt die Luft an, während er Jean fixierte und Jean sich fragte, wie er von dieser instinktiven Berührung nun weitermachen sollte. „Es gibt nichts, wofür du dich noch entschuldigen müsstest, Jeremy.“ Selbst für Jean waren die Worte mit einem viel zu schweren Akzent unterlegt und beinahe augenblicklich brachte das Freude in Jeremys blaue Augen. Er selbst ertappte sich dabei, wie ein aufkommendes, müdes Lächeln seine Lippen verzog. „Du hast geschlafen.“ Das war neutraler Grund, eine Feststellung, während die Haut unter seinen Fingern sich so weich anfühlte. So vertraut und vermisst. Jeremy nickte und gähnte. Jean spürte die Muskeln unter seinen Fingern und wie sie sich bewegten. „Ich habe auf dich gewartet oder darauf, dass du anrufst, damit ich dich abholen kann“, erwiderte er schließlich verschämt und schon wieder hatte Jean das dringende Bedürfnis, eben jene Scham auszulöschen. „Shirley hat mich gebracht. Ich hätte mich bei dir melden sollen“, hielt er dagegen und Jeremys Hand legte sich vorsichtig und zögernd auf seine. Es schien, als würde er etwas sagen wollen, das er im letzten Augenblick dann doch schluckte und Jean damit beinahe fast wahnsinnig machte. Er wollte nicht, dass Knox ihm etwas verschwieg oder dass er uncharakteristisch stumm blieb. „Was ist es?“, fragte er und Jeremy lächelte liebevoll. „Deine Nähe und Berührung sind schön. Ich freue mich sehr darüber.“ Das war nicht das, was Jean erwartet hatte und nach all der Anspannung der letzten vier Tage reichten diesen beiden Sätze um einen Knoten platzen zu lassen, der Jean im festen Griff gehabt hatte. Er sackte schier in sich zusammen und verspürte den überschwemmenden Drang, Jeremy komplett in seine Arme zu schließen. So wie an dem Morgen, an dem sie aufgewacht waren. „Ich…möchte dir nicht fern sein. Nicht jetzt, nicht auf Dauer“, presste Jean hervor, in dem immer noch ungewohnten Gefühl, auch hier seine Bedürfnisse zu vokalisieren, und Knox nickte wie selbstverständlich. „Wir könnten dem Abhilfe schaffen und uns zusammen auf diese Couch quetschen?“, schlug er vor und Jean schnaubte in einer Mischung aus Verzweiflung, Belustigung und Erschöpfung. „Wo finde ich denn dort noch Platz?“, fragte er mit sachtem Spott und Knox robbte sich zur Kante. „Hinter mir?“, fragte er vorsichtig und Jean warf einen Blick auf den beengten Raum der durchgesessenen Couch. Sie wäre sich sehr nahe, so nahe, wie im Bett. Sie hätten Kontakt und er würde den Jungen wieder in seinen Armen halten. Jean glaubte, dass das kein Problem werden würde, nicht heute, auch wenn er diese Nacht nicht schlafen können würde und morgen mit Magenschmerzen und immer größer werdenden Konzentrationsproblemen trainieren würde. Doch jetzt brauchte er eine kurze Zeit der Normalität. Er brummte und schraubte seinen schmerzenden Körper in die Höhe, um umständlich hinter Jeremy zu klettern, der dem Ganzen mit sorgsamer Aufmerksamkeit beiwohnte und dessen Glück beinahe schon greifbar war. „Ist das okay?“, fragte der blonde Junge, nachdem Jean sich hinter ihn gequetscht hatte und er nickte stumm. Das Kribbeln des ersten Körperkontaktes war vermutlich etwas, an das er sich nie gewöhnen würde, dicht gefolgt von einer Schwemme an Furcht, die Jean aktiv bekämpfen musste um zu der Wärme durchzudringen, die ihn mit Knox‘ Gegenwart und Wärme erfüllte. Als seine Atmung sich beruhigte und er vorsichtig den Arm um Jeremy legte, fühlte er zum ersten Mal seit vier Tagen so etwas wie Ruhe. Er glich seinen Atemrhythmus dem des anderen Jungen an und ließ dessen Herzschlag seinen eigenen bestimmen. Jean schloss die Augen und vergrub seine Nase in Jeremys blonde Haare. „Ich möchte nicht, dass du dich für Dinge entschuldigst, die keiner Entschuldigung bedürfen“, murmelte er schließlich und Jeremy seufzte. „Ich muss mich noch tausendmal bei dir für das entschuldigen, was ich getan habe“, erwiderte er und Jean kam nicht umhin, erneut einen Vergleich zwischen Jeremy und Riko zu ziehen. Ersterer hatte ihm etwas verschwiegen und schämte und entschuldigte sich dafür, als hätte er etwas viel Schlimmeres getan. Letzterer hatte etwas viel Schlimmeres getan und niemals war auch nur ein Wort des Bedauerns über seine Lippen gekommen, eben weil es kein Bedauern gegeben hatte. „Du bist das Licht“, sagte Jean scheinbar aus dem Zusammenhang gerissen und doch so passend. Es machte aber für Jeremy vermutlich keinen Sinn, das wusste er, aber er musste das äußern, bevor er keine Kraft und keinen Mut mehr dazu fand. „Du bist mein Licht“, spezifizierte Jean noch viel scheuer und ein erfreutes Brummen verließ den vor ihm liegenden Jungen, der ihn enger an sich heranzog. „Und du bist meine Gewitterwolke.“ Das…war nicht das, womit er als Antwort gerechnet hatte. Jean hob die Augenbrauen und grollte. Jeremy lachte leise und legte seinen Arm auf Jeans. „Genau das. Das ist der Donner und die Blitze kommen dann auch bald.“ Der Kuss, den Jean schüchtern auf den blonden Hinterkopf presste, löste ein Schaudern in dem Jungen vor ihm aus und Jeremy ruckelte sich enger an ihn. „Bleiben wir ein bisschen so?“, fragte Jean und Knox nickte enthusiastisch. Seine Haare kitzelten Jean in der Nase, doch er wollte keine seiner Hände dafür opfern, sich die Strähnen aus dem Gesicht zu streichen. „Wir bleiben so lange so, wie du es möchtest.“ Wie lange wollte er das? Jean konnte es nicht sagen, dafür kannte er sich selbst zu wenig. Er glaubte jedoch, dass er es länger aushielt. Zumindest heute Abend. Unterm Strich bekam er nicht viel Schlaf die Nacht, vielleicht nur zwei Stunden, doch das war in Ordnung im Angesicht von Knox, der sich im eigenen, tiefen Schlummer seine Hand gegriffen und sie nicht mehr losgelassen hatte mit beiden Händen. Der, rege wie er war, im Schlaf sprach…oder vielmehr zählte. Auf Französisch, wie Jean es ihm beigebracht hatte. Es war das, was er die letzten vier Tage vermisst hatte und das, woraus er nun Kraft zog. Die Nähe, die Wärme, die Zuneigung. All das, was Evermore ihm versagt hatte, fand er hier vor, im Moment gepresst in den muskulösen Körper eines Jungen, der in Jean so viele unterschiedliche Gefühle weckte, dass es beinahe schon wehtat. Auch verstand er nun, warum Andrew Neil vergeben hatte, dass er ihn belogen und ihm etwas verschwiegen hatte. ~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 61: Sonne, Mond und Sterne ---------------------------------- Zwei Tage später gab Jeans nutzloser, dummer, verweichlichter Körper einfach auf. Es passierte während des Trainings, während eines Zweikampfes im Drill mit Val, bei dem er aus einem Schwindelgefühl heraus die Balance verlor und zu Boden stürzte. Das an sich war nichts Neues und passierte ab und an auch hier, doch das Novum war, dass er nicht wieder hochkam, weil der Schwindel in seinem Kopf zu allmächtig wurde und ihm für Sekunden das Bewusstsein raubte. Vielleicht auch länger als ein paar Sekunden, denn als Jean die Augen wieder aufschlug, knieten Val und Knox neben ihm und mit einem erschrockenen Blick in die Runde sah er den Coach, Laila, Ajeet und Fahima, die gerade noch in weiter Entfernung zu ihm gestanden hatten, weitaus näher bei sich. Instinktiv zuckte Jean zurück und sein Körper krümmte sich in Erwartung von Schlägen und von Gewalt, die sicherlich kommen würden. Er lag schließlich und war nicht in der Lage aufzustehen, dabei musste er doch aufstehen, sonst würden sie ihn bestrafen. Er… „Hey.“ Wie ein Schwert durchschnitt die sanfte Stimme die Stille und abrupt klammerte sich Jean an sie, mit der er nur Gutes verband, und er fixierte sich auf den Jungen, dessen blaue, besorgte Augen ohne Unterlass sein Gesicht musterten und ihm sagten, dass er nicht mehr in Evermore war. Jean spürte eine Hand auf seiner und dieses Mal war es niemand, der ihm die Finger brach, so sehr er sich auch vor der initialen Berührung erschreckte. Die Erkenntnis raubte ihm für einen Moment sowohl Atem als auch Angst und drängte alles Andere in den Hintergrund. „Willkommen zurück.“ Jeremy, der ihn mit einem sanften und besorgten Lächeln musterte, das immer wieder vor Jeans Augen verschwamm. „Du warst kurz weggetreten.“ Als Jean blinzelte und erneut zu Jeremy sah, war das Lächeln der Sorge gewichen und Jean bereute das. Er hatte in den letzten Tagen soviel Sorge gesehen. Scheu sah er in die ihn musternden Gesichter. „Ich kann aufstehen“, sagte er leise und wie um es zu beweisen, versuchte er sich in die Höhe zu stemmen ohne auf eine Antwort zu warten. Ohne Erfolg. Mit einem Schlag wurde Jean wieder kurz schwarz vor Augen und übel. Nach ein paar nutzlosen Sekunden des Kampfes ließ er sich wieder auf den Rücken fallen, ein Laut des ungläubigen und hilflosen Zorns auf seinen Lippen. „Ganz ruhig, Moreau.“ Coach Rhemann, dieses Mal und Jean riss seine Augen auf. Er durfte ihn nicht aus den Augen lassen, nicht, wenn er so schutzlos war. Er schluckte, als er erkannte, dass sich der Mann näherschob und sich neben ihn kniete. Er würde ihm doch nichts tun, oder? Sonst hatte er auch nichts getan… aber jetzt war es eine andere Situation, jetzt war Jean schwach und hatte keinen Nutzen für sein Team. „Weißt du, wo du bist?“, fragte Rhemann, während er sich neben ihm in gemessener Entfernung niederkniete und Jean krächzte zustimmend, weil er seinem Kopfnicken nicht traute. „Weißt du, wer du bist?“ Wieder krächzte er bejahend. „Weißt du, was passiert ist?“ Jean schluckte. „Zweikampf…mit Val.“ „Und danach?“ Ängstlich schwieg er. Er wusste es nicht. Er konnte keine Antwort auf die direkte Frage geben. „Immer noch schwindelig?“, brummte Rhemann und als Jean es nicht verneinte, sah er zu Fahima. „Ruf Fiona an, sie soll herkommen.“ Jean schluckte und öffnete den Mund um zu protestieren. Seine Angst hinderte ihn daran und schnürte ihm die Kehle zu. Die Teamärztin sollte extra wegen ihm kommen? Er hatte doch nichts, er war doch nur kurz umgefallen. Das war früher auch schon passiert und er war immer wieder hochgekommen. „Ich kann das“, murmelte er mehr zu sich als zu den Anderen und Jeremy drückte seine Hand leicht, zog so seine Aufmerksamkeit auf sich. „Es ist wirklich okay“, murmelte der blonde Junge und Jean ahnte, dass seine Angst ihm ins Gesicht geschrieben stand. Genau deswegen versuchte er es noch einmal. Er hatte die letzten Tage genug Angst gehabt, auch nur ein Auge zuzumachen und zu schlafen oder auch nur daran zu denken, dass er Ende des Monats zurück in Evermore wäre. Er floh vor seiner Angst, indem er sich in die Sitzende hochkämpfte und angestrengt auf seine und Knox Hand starrte, störrischer als der Schwindel dieses Mal. Eine Flasche mit einem dieser bunten, isotonischen Flüssigkeiten schob sich in sein Blickfeld und er sah von der großen Hand, die sie hielt, zu seinem Coach, der aufmunternd in die Richtung nickte. „Trink das, Junge“, sagte er ruhig und mit zitternden Fingern griff Jean danach. Er konnte von Glück sprechen, dass ihr Coach den Deckel bereits aufgeschraubt hatte, denn Jean bezweifelte hochgradig, dass er dazu in der Lage gewesen wäre. Mühevoll führte Jean die Flasche an seinen Mund und trank gehorsam ein paar Schlucke, während er die Blicke der Trojans wie heiße Nadeln unter seiner Haut fühlte. Als die Flasche zu schwer wurde, setzte er sie ab. „Entschuldigung“, murmelte er, ohne Rhemann anzusehen. Rhemann schnaubte. „Dafür gibt es nichts zu entschuldigen, Junge. Knox, Anand, ihr helft Moreau gleich in Fionas Büro, der Rest von euch macht eine Viertelstunde Pause und dann geht’s weiter!“ Jean wollte ansetzen, dass er auch wieder mittrainieren konnte, doch ein zweifach strenger Blick aus fast schwarzen und blauen Augen hielt ihn wohlweislich davon ab und er schloss mit einem abrupten Zuklappen seinen Mund. Er sah, wenn es keinen Sinn machte, zu diskutieren, selbst, wenn er genug Mut dazu gehabt hätte. „Kannst du aufstehen?“, fragte Ajeet sorgenvoll und alleine, um es Knox und Rhemann zu beweisen, rollte Jean sich zur Seite, um von dort auf seine Knie und dann auf die Füße zu kommen. Er brummte zufrieden, als er es tatsächlich schaffte, schwankend zum Stehen zu kommen und vernichtend auf die Hand seines Kapitäns starrte, die nahe seines Körpers schwebte. Knox respektierte seinen Wunsch, nicht angefasst zu werden, doch der offensichtliche Zweifel auf dem Gesicht des anderen Jungen war zu deutlich, als dass Jean es nicht als Misstrauen interpretieren würde. Nein, rief er sich schließlich ins Gedächtnis. Knox wollte helfen. Im Gegensatz zu Riko, der ihn zu diesem Zeitpunkt bereits geschlagen oder getreten hätte, wollte Jeremy eine Stütze sein. Er würde ihm nicht wehtun. „Willst du dich abstützen?“, fragte der blonde Junge mit einem sanften Unterton und nach einem unsicheren Schritt nach vorne bejahte Jean, was er vorher innerlich verneint hätte. Gemeinsam mit Ajeet an der einen Seite und Knox an der anderen ging er langsam vom Spielfeld aus den unangenehm langen Weg in Richtung Untersuchungsraum, der ihm alles abverlangte. Wenn Jean es sich ehrlich eingestand, war er froh, dass er wieder sitzen konnte, auch wenn ihm Arztliegen nicht geheuer waren. Das Rauschen in seinen Ohren hatte wieder zugenommen und er fragte sich mittlerweile, wie er es von hier aus überhaupt nach Hause schaffen sollte. An Training war nicht mehr zu denken und das war als solches äußerst erschreckend. Riko hätte ihn für ein solches Verhalten maximal bestraft. Er hatte selbst mit gebrochenen Knochen kein Training ausfallen lassen dürfen. „Möchtest du noch etwas trinken, Jean?“, fragte Jeremy und er nickte. Stumm sah Jean zu, wie er an den Schrank der Ärztin ging und eine der unzähligen isotonischen Flaschen herauszog, sie aufschraubte und ihm hinhielt. Beinahe schon gierig trank Jean sie leer. Passend zu dem energischen Klopfen an der Tür senkte er sie wieder und sah, wie Doktor Chandler in der Tür stand. Zum Glück hielt sich mittlerweile der Schwindel in Grenzen und er sah nur zu deutlich ihr freundliches, aber bestimmtes Lächeln. Jean erkannte es als das, was es war und jedweder Widerstand gegen eine Untersuchung erstarb noch bevor er wirklich Fuß fassen konnte. „Darf ich reinkommen?“, fragte sie, als ob der Raum nicht ihr gehören würde. Trotzdem blieb sie knapp vor der Tür stehen, bis er nickte und ihr die Erlaubnis gab. Fragend sah sie zu Jeremy du Ajeet und dann auf ihn. „Sollen die Beiden hierbleiben, während wir reden oder sollen sie draußen warten?“ Vor Monaten hätte Jean nicht gewagt, seinen Kapitän nach draußen zu schicken oder ihm etwas vorzuenthalten. Doch nun wusste er, dass es sein gutes Recht war und er nickte. „Ich würde gerne alleine sein“, erwiderte er mit einem entschuldigenden Blick auf Jeremy und Ajeet, die ihm mit nichts als Freundlichkeit und Verständnis begegneten. „Alles klar, wir warten draußen auf dich!“, erwiderte der Hüne selbstverständlich. „Ich hole schonmal deine Sachen und packe sie zusammen“, ergänzte Jeremy und Jean nickte, froh und dankbar darum, es nicht selbst machen zu müssen und seinem Team unter die Augen zu treten. Als wenn es nicht schon schlimm genug wäre, dass sie nach Evermore fahren würden, hatte er ihnen nun auch gezeigt, wie schwach er wirklich war, schwach und unbrauchbar. Erst, als beide Jungen den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatten, zog Doktor Chandler sich ihren Hocker zu sich und ließ sich darauf nieder. Langsam rollte sie damit zu ihm und sah mit erwartungsvollen, dunklen Augen zu ihm hoch. „Sie haben das Bewusstsein verloren?“, begann sie fragend das Gespräch und Jean nickte zögernd, während seine Aufmerksamkeit sich auf ihre langen, geflochtenen Zöpfe richtete. Wenn sie ihn nun auf die Ersatzbank verbannte, konnte er nicht trainieren. Wenn er nicht trainieren konnte, war er nicht gut genug. Wenn er nicht gut genug war, würden die Hyänen in Evermore ihn fertigmachen. „Es geht wieder. Es war nur kurz.“ Sie brummte nachdenklich und musterte ihn. „Ist Ihnen immer noch schwindelig?“ Vorsichtig schüttelte er den Kopf. „Nein, nur ein wenig schlecht und ich bin noch unsicher auf den Beinen.“ „Hatten Sie das schon einmal?“ Jean verstummte und sah auf seine Hände und die leere Flasche in den krummen Fingern. Wieviel konnte er ihr erzählen? War es ratsam, das zu tun? Mutiger, als er sich wirklich fühlte, hob er den Blickund begegnete dieses Mal ihren Augen. „Ein paar Mal in Evermore. Wenn der Schmerz zu stark wurde“, schob er nach, als er sah mit Schrecken, dass ihre Gedanken in die falsche Richtung liefen. „Also…nachdem Riko mich aufgeschnitten hat und… manchmal auch wegen des Blutverlustes, aber auch nicht immer.“ Nichts an ihrem Gesicht deutete darauf hin, was seine Worte in ihr auslösten. Ernst musterte sie ihn und nickte schließlich. „Aber heute haben Sie nicht geblutet und es gab auch keinen anderweitigen Schmerz?“ Entschieden schüttelte Jean den Kopf. „Nein, es war nur ein Zweikampf mit Val und da sind wir zu Boden gegangen. Dann wurde es kurz schwarz vor Augen…aber mir war schon den ganzen Tag nicht gut. Also die letzten Tage.“ Da war es heraus, sein Grund und wieder suchte er sich ein anderes Ziel, an dem er sich festhalten konnte. „Ist es einfach so aufgetreten?“ Stumm schüttelte Jean den Kopf und spielte mit der leeren Plastikflasche. Er knibbelte an der Banderole und verschaffte sich somit die Zeit, die er nicht wirklich brauchte. „Ich schlafe nicht“, gab er schließlich zu, schnell und hastig herausgepresst. „Wir spielen in Evermore am Ende des Monats und ich habe Alpträume von…ihnen. Ich habe Angst zu schlafen.“ „Die letzten Tage?“ Abgehackt nickte Jean und die Ärztin brummte. „Ich glaube, wir haben da unseren Grund bereits gefunden, aber um sicher zu gehen, möchte ich mir Ihr Herz kurz anhören und Ihren Blutdruck und Puls messen. Das und Ihre Pupillenreaktion anschauen. Ist es okay?“ Als wenn Jean jemals nein sagen würde, aber alleine die Tatsache, dass sie fragte, beruhigte ihn. „Ja“, erwiderte er schlicht und sie nickte. „Alles klar, dann wollen wir mal.“ Sie tat, was sie gesagt hatte und Jean wurde sich bewusst, dass er all das von seiner Eingangsuntersuchung bereits kannte. Es war nicht schlimm, aber es machte ihn nervös, dass sie eventuell zu keinem guten Ergebnis kam. „Ihr Herz ist in Ordnung, Puls und Blutdruck auch“, sagte sie schließlich, als sie fertig war und legte die kleine Lampe weg, mit der sie seine Pupillenreaktion verfolgt hatte. Jean blinzelte die bunten Flecken vor seinen Augen weg und sah sie fragend an. „Ihre Pupillenreaktion ist absolut normal und Ihnen fehlt nichts außer einer ordentlichen Mütze voll Schlaf und Ruhe.“ „Ich muss trainieren“, murmelte Jean und sah hoffnungsvoll hoch. Nach und nach erstarb das jedoch, als er an ihrer Entschlossenheit scheiterte, mit der er niedergestarrt wurde. „Mr. Moreau“, begann sie streng und Jean zog unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern. Sie folgte der Bewegung und seufzte. Lächelnd schüttelte sie den Kopf. „Ich verordne Ihnen für die nächsten zwei Tage Ruhe. Strenge Ruhe, Mr. Moreau. Kein Training, kein College, Sie ruhen sich aus. Ich werde Ihnen etwas verschreiben, das Sie ruhiger und mit weniger Alpträumen schlafen lassen wird.“ Doktor Chandler hielt inne und ihr Lächeln verhieß Jean nichts Gutes. „Es kommt aus der PTBS-Forschung und ist vielversprechend bei der Bekämpfung von Alpträumen.“ PTBS…die Kurzform für eine posttraumatische Belastungsstörung, das hatte Jean von Brian gelernt. Er hatte so etwas, hervorgerufen durch die Jahre der Folter und durch die physische und psychische Gewalt, die ihm aufgezwungen worden war. Vieles, das er empfand oder tat, war ein Ausfluss dessen und noch viel mehr war noch gar nicht verarbeitet, weil sein Körper und sein Geist immer noch nicht richtig begriffen hatten, dass er in Sicherheit war. Sicher, ja. Frei, ja. Aber vollumfänglich befreit? Noch war er im Aufnahmemodus, aber nicht vollständig im Verarbeitungsmodus. „Es schmälert Alpträume?“, fragte er schließlich stirnrunzelnd, als er sich auf ihre eigentlichen Worte besann und sie nickte. Er hasste die Hoffnung, die sein Herz im festen Griff hielt bei dem Gedanken daran, dass er vielleicht wieder schlafen konnte. Jean starrte auf seine Hände und grub seine Zähne in seine Unterlippe. „Ich möchte endlich wieder ohne Alpträume schlafen“, gestand er ein. „Ich habe in Evermore besser geschlafen als hier…“ Die Erkenntnis dessen war bitter und er ballte seine Hände zu Fäusten. Warum ausgerechnet dort, wenn es ihm hier doch soviel besser ging? „Weil Sie sich dort noch in der belastenden Situation befunden haben. Dort war Ihr Körper noch auf Gefahr programmiert. Nun aber beginnt er zu heilen, ebenso Ihr Geist, und damit beginnt er auch zu verarbeiten, was Ihnen geschehen ist. Auch wenn es nicht so aussieht, Alpträume gehören mit zur Verarbeitung dieser Erlebnisse dazu.“ Jean atmete langsam aus. Brian hatte ihm schon etwas in die Richtung gesagt, auch wenn Jean es nach schrecklichen und schlimmen Traumbildern nicht nachvollziehen konnte, wie das seiner Heilung zuträglich sein sollte. Die Frage, wie lange es dauern würde, bis er alles verarbeitet hätte, hatte er Brian schon einmal gestellt und eine ernüchternde Antwort erhalten, die ihm einiges an Kraft geraubt hatte. Vielleicht würde er sein Leben lang damit zu kämpfen haben. Es würde besser werden, sicher, aber vielleicht war er sein Leben lang auf Therapeuten und Medikamente angewiesen. Jean erinnerte sich noch gut an seine eigene Antwort. Er hatte mit Zorn und Unverständnis in der Stimme gefragt, dass er sich doch die Gewalt nicht ausgesucht hatte und warum er auch jetzt noch darunter litt, obwohl alle Beteiligten tot waren. Es war eine rein rhetorische Frage gewesen. Natürlich wusste Jean, dass das Eine nichts mit dem Anderen zu tun hatte. „Wann kann ich wieder trainieren?“, fragte Jean um sich selbst auf andere Gedanken zu bringen und Doktor Chandler nickte verständnisvoll. „Nach zwei Tagen sehen wir, wie es Ihnen geht und dann werde ich Sie vermutlich zum Training freigeben. Nur möchte ich, dass Sie sich in den kommenden zwei Tagen wirklich ausruhen und ausspannen.“ Jean fragte sich, wie das gehen sollte, aber eine Wahl hatte er auch nicht wirklich. ~~**~~ Jeremy mummelte sich tiefer in die Decke ein und wandte den Kopf zur Seite, weg von dem klaren Sternenhimmel hin zu Jean, der gedankenverloren in das Universum starrte, fern von ihm und dem Dach, auf dem sie lagen. Seit sie heute Nachmittag vorzeitig vom Training zurückgekehrt waren, hatte er Jean umsorgt, ihm Getränke und Essen gebracht und ihn auf die Couch verfrachtet. Wann immer Jean Anstalten gemacht hatte, Dinge selbst zu tun, war er eingesprungen und hatte zum Schluss die Rechnung dafür bekommen. Jean hatte ihn schließlich an der Küchenanrichte eingekesselt und ihn solange niedergestarrt, bis Jeremy eingeknickt war und die Paprika hatte sinken lassen, die er eigentlich gerade für Jean hatte schneiden wollen. Der andere Junge war ihm so körperlich nahe gewesen, dass Jeremy seinen Atem auf den Wangen gespürt hatte. Es war kein Wort zwischen ihnen gefallen und doch hatte Jeremy begriffen, dass Jean genug davon hatte, umsorgt zu werden und nichts tun zu können. Das Einzige, was Jeremy mit einem Blick auf die grauen und durchdringenden Augen erwidert hatte, war ein geflüstertes „Wollen wir auf’s Dach?“ gewesen. Spontan und ungeplant war es gewesen, doch der ihn sezierende Diktator war mit diesem Vorschlag zufrieden gewesen. Und so lagen sie nun hier, auf einer aufgeblasenen Doppelluftmatratze, die Jeremy kurz vorher aus ihrem Campingkeller geholt und aufgeblasen hatte. Jean hatte für die Decken gesorgt und so kuschelten sie sich nun sterneguckend auf dem Dach ihres Gebäudes unter die wärmenden Daunen. Jeremy hatte Jean eine weitere Französischlektion entlockt, Sternenbilder und alles, was ihm zum Thema Nacht eingefallen war. Aufmerksam hatte er den leisen und weichen Worten zugehört. Er hatte sie aufmerksam wiederholt und immer wieder einen Blick auf Jean geworfen, der mit jeder Vokabel ruhiger und entspannter geworden war. Verzaubert lächelte Jeremy. „Une étoile“, wiederholte er das Wort für Stern, das er als erstes heute Abend gelernt hatte und meinte nicht wirklich die fernen, hellen Punkte am dunklen Nachthimmel. Nein, ganz sicher nicht. Jean tauchte langsam aus seinen Gedanken auf und blinzelte. Blinzelte nochmal, als er erkannte, dass er gemeint war. „JNe suis-je plus la lune?“, fragte er langsam genug, dass Jeremy die Worte nachvollziehen konnte und er lächelte, als er jedes einzelne von ihnen verstand. „Tu es la lune…et une étoile. Non, beaucoup des etoilés“, erwiderte er stolz und noch etwas ungelenk und es war tatsächlich ein Lächeln, das Jeans Lippen nach oben zog. „Ich höre eine Übertreibung in deinen Worten“, sagte er und Jeremy blieb an den Lippen hängen, den unwiderstehlichen, schmalen Lippen, die so gut zu Jeans Kinnpartie passten. Er hatte mit der Matratze auch eine Laterne mitgebracht und die Kerze darin entzündet. Das flackernde Licht erhellte Jeans Gesicht und so erkannte Jeremy den exakten Moment, in dem Jean seinen Blick deuten konnte und über seinen nonverbalen Wunsch nachdachte. „Du möchtest mich küssen?“, fragte Jean schließlich so direkt, dass es Jeremy die Röte ins Gesicht trieb. „Grundsätzlich ja, aber nur, wenn du…“ Weiter kam er nicht, als Jean sich plötzlich vorbeugte und seinen Satz am Anfang ungestüm, dann jedoch sanft und schüchtern mit seinen Lippen abschnitt. Zart berührte Jean ihn und Jeremy entwich ein sehnsüchtiges Seufzen. Es sollte ihm peinlich sein und für einen kurzen Moment war es der unterschwellig bedürftige Ton auch, doch dann ging alles in dem Gefühl der intimen, körperlichen Nähe unter, das sie miteinander teilten und das so plötzlich wie unerwartet gekommen war. Jeremy freute sich, dass Jean die Initiative ergriffen hatte. Er freute sich, dass Jean Interesse und Gefallen an ihrem Kontakt fand und er freute sich, dass Jean ihm so sehr vertraute, dass er ihm körperlich nah war. Er freute sich ebenso, dass Jean die Pause angenommen hatte und darauf einließ, die Doc Chandler ihm nach seinem Zusammenbruch auferlegt hatte. Wenn auch mit deutlichem Missfallen und Widerspruch in den grauen Augen. Jean löste sich von ihm und Jeremy folgte augenblicklich der Geste, aus Angst, dass er zu forsch gewesen war. Doch da war keine Angst oder Ablehnung in den Augen des anderen Jungen, sondern Musterung und etwas, das er vorsichtig als Lust bezeichnete. „Ich möchte dich berühren…ist das in Ordnung?“, fragte Jean und Jeremy musste sich davon abhalten, nicht voller Begeisterung zu erwidern, dass Jean ihn gerne überall berühren durfte, wenn er wollte. Das wäre zu früh und zu direkt. „Das ist in Ordnung“, bestätigte er deswegen mit mühevoller Zurückhaltung und hielt der darauffolgenden Musterung stand. Anscheinend kam Jean zu einem positiven Ergebnis und hob seine Hand. Vorsichtig strichen seine Fingerkuppen über Jeremys Gesicht und hinterließ eine brennende Spur an Gänsehaut und Verlangen. Das war jedoch nichts zu dem Gefühl, das ihn erfüllte, als Jeans Finger über den Hals zur Schulter hinunterstrichen und Jeremys Arm entlangtanzten. Obwohl er Kleidung trug, spürte er jeden Zentimeter. Bei seinen Fingern hielt Jean an und verschränkte seine eigenen hauchzart mit Jeremys. Ebenso hauchzart waren seine Lippen auf der Haut und Jeremy grinste glücksselig. Zumindest solange, bis Jean seinen Zeige- und Mittelfinger zwischen seine Lippen nahm und Jeremys spielerische Geste imitierte. Nur dass nun nichts Spielerisches an ihr war und er Jean nur überrascht und vollkommen perplex anstarren konnte, während das Gefühl von Jeans Lippen um seine Finger und die Wärme des Mundes viel weiter unten in ihm viel tiefere Gefühle auslösten. „Jean, ich…“, begann er hilflos und der andere Junge löste sich langsam von seinen Fingern und küsste seine Fingerspitzen. „Ich wollte dir das Gefühl zurückgeben, was du in mir erzeugt hast“, sagte er wie selbstverständlich und Jeremys Lippen verließ ein unwürdiges Wimmern. Soviel zu seinem verfluchten Trieb, Späße mit seinem Backliner zu treiben. „Nicht gut?“, fragte Jean stirnrunzelnd und Jeremy schüttelte wild den Kopf. „Doch! Doch! Ausgezeichnet! Es ist…anregend. Sehr anregend. Es kribbelt in meinem Körper“, präzisierte er und Jean nickte mit hocherhobener Augenbraue. „Das hat es auch in mir ausgelöst“, erwiderte Jean ehrlich und Jeremys Wangen wurden warm. Erschrocken und perplex starrte er dem anderen Jungen in die Augen, der nur zu gut wusste, was er gerade gesagt hatte und was die Bedeutung dessen war. „War das da auch wirklich okay?“, fragte er zweifelnd und Jean nickte. „Es war ein schönes Gefühl.“ Dem konnte Jeremy nur zustimmen und er konnte nur hoffen, dass Jean ihm irgendwann erlaubte, seine Lippen um etwas Anderes zu schließen und ihm damit ein noch viel besseres Gefühl zu bescheren. Irgendwann, wenn Jean sich mit einer anderen Ebene der körperlichen Intimität eventuell wohlfühlen würde. Der Junge neben ihm seufzte und die Hand auf seinem Gesicht brachte Jeremy von seinen Tagträumen wieder zurück zu dem Jungen, der in der Gegenwart neben ihm lag und ihn musterte. „Knox?“, fragte er und der Unterton in der weichen, leisen Stimme hielt Jeremy davon ab, entsprechend humorvoll auf seinen Nachnamen zu reagieren. „Ja?“, stellte er anstelle dessen die ruhige Gegenfrage und Jean kämpfte sichtbar mit seinen nächsten Worten. „Wenn ich diese Tabletten nehme… dann wirst du das nicht ausnutzen, oder? Du wirst nicht…Dinge tun?“ Jeremy schluckte schwer, als er begriff, was Jean fragte. Er meinte das Schlafmittel, das ihm die Ärztin verschrieben hatte, damit er endlich schlafen konnte. Er begriff aber auch, was Jean darüber hinaus noch meinte und alleine, dass er fragte, war ein Fortschritt, so bitter die Frage als solche für Jeremy auch war. „Das werde ich niemals ausnutzen, Jean. Das verspreche ich dir. Ich werde dir niemals etwas tun, egal, ob du wach bist oder schläfst“, sagte er ernst und gab Jean Zeit, sein Versprechen zu begreifen. Es brauchte seine Zeit, doch schließlich nickte der andere Junge. „Vielen Dank“, sagte er schlicht und der schüchterne Kuss auf den Mund war Jeremy Labsal und Versicherung zugleich. Es war ein Testament an das, was Jean schon geschafft hatte und Jeremy war stolz auf den anderen Jungen. Er bewunderte Jeans Mut, sich in neue Dinge zu stürzen und er bewunderte seine Kraft, sich den schlimmen Erinnerungen zu stellen, die Evermore ihm eingebracht hatte. Aber Jeremy war nicht nur auf Jean stolz, nein. Er war auch auf sich stolz und zu einem nicht unwesentlichen Teil auch erleichtert, dass er, aber auch die restlichen Trojans, es geschafft hatten, Jean davon zu überzeugen, dass das Leben doch lebenswert war. Er war stolz, dass er es geschafft hatte, das Vertrauen dieses Jungen zu erringen. ~~**~~ „Favio…“ „Sara.“ „Favio.“ „Sara.“ „Favio.“ Alvarez legte ihr bestes, charmantestes Lächeln auf und starrte den Organisator ihres Trojans-Fanclubs in Grund und Boden. Unbeeindruckt starrte er zurück und hob schlussendlich die rechte Augenbraue. „Was willst du?“, knurrte er missgelaunt – gut geschauspielert, wie sie wusste. Favio war ein Herzchen, das für Exy brannte, ohne selbst jemals einen Schläger in die Hand genommen zu haben. Leider, denn soweit war die Liga noch nicht, um Rollstuhlfahrern eine Chance zu bieten, ebenfalls zu spielen. Alvarez sah da durchaus Potenzial und Möglichkeiten und unterstützte zusammen mit den Trojans Favios Petitionen an den Verband und Aktionen für die Akzeptanz gehbehinderter Spielerinnen und Spieler. Es war ein Projekt, das sie spätestens im Rahmen ihrer Profikarriere verstärkt in die sozialen Medien tragen würde – mit mehr Reichweite, als sie es jetzt schon hatte. „Ich brauche deine Hilfe, Professor X“, grinste sie und der schwarzhaarige Junge bewarf sie mit der Verpackung seines Donuts, den er gerade gegessen hatte. Es war ihr liebevoller, wenn auch unkreativer Spitzname für ihn, Auswuchs seines Psychologiestudiums hier am College. „Korrektur, wir brauchen deine Hilfe, insbesondere unser französisches Wunderkind.“ Favio runzelte kritisch die Stirn. „Es geht um das Spiel in Evermore, richtig?“ Alvarez nickte. Seit drei Tagen trainierten sie im Stadion der L.A. Lions und mittlerweile hatte sich rumgesprochen, dass es kein Heimspiel geben würde. Ebenso hielten sich hartnäckig die Gerüchte über Moreaus abrupte Ankunft in L.A. und sein Aussehen, als er bei ihnen eingetroffen war. Dafür war ihr College doch auch irgendwie ein Dorf. Das hatte Jeans Ruf keinen Abbruch getan, den er am College genoss, und für den er völlig blind war. Völligst, wenn man Alvarez fragte. Unter anderem auch bei Favio, der wie der Rest des Fanclubs erst irritiert, dann restlos begeistert ob des Wechsels war und nach Jeans viel zu seltenen Social Media-Posts darbte. „Wo soll ich helfen?“ Alvarez grinste. „Also, pass auf…ich habe da folgende Idee…“ ~~**~~ Jean lehnte an seinem Kopfende und fuhr sich mit seinen Händen durch das Gesicht, in der fahlen Hoffnung, etwas Wachheit in seine Glieder und sein Hirn zu bekommen. Vor fünf Tagen hatte er damit begonnen, die Tabletten zu nehmen. Schon die erste Dosis hatte Wirkung gezeigt und ihm vier Stunden Schlaf in der Nacht geschenkt, bevor ein Alptraum ihn aus dem tiefen Schlummer gerissen hatte. Heute Nacht hatte er komplett durchgeschlafen, doch wie gestern und vorgestern war er müde aufgewacht, erschöpft und zunächst desorientiert. Jeremy war vor ihm wach gewesen und hatte ihm einen Kaffee an die Seite gestellt, dessen Duft sich verführerisch zu ihm schlängelte. Jean lauschte dem Gesang des anderen Jungen unter der Dusche, während er den Kaffeegeruch in sich aufsog. Blind tastete er nach der Tasse und zuckte zurück, als seine Finger das immer noch unausgepackte Geschenk seines Vaters streiften, das auf seinem Nachttisch stand. Bisher hatte er sich davor gedrückt, es auszupacken und auch jetzt verspürte Jean eine unerklärliche Scheu vor dem, was sich unter dem Geschenkpapier verbergen mochte. Insbesondere heute machte ihn das aber auf sich selbst wütend und packte die Schachtel, bevor er es sich anders überlegen konnte. Noch während sie auf seinen Schoß fiel, öffnete er grimmig die Augen und rieb sich den Schlaf aus den schweren Lidern. Dunkelblaues Weihnachtspapier starrte ihm entgegen, dezent mit goldenen Sternen und Tannenbäumen. Die Schachtel war mittelschwer und was auch immer sich darin verbergen mochte, machte beim Bewegen ein dumpfes Geräusch. Jean warf einen kurzen Blick auf die geschlossene Badezimmertür. Zehn Minuten hatte er noch um dieses Mahnmal seiner zerbrochenen Beziehung zu seinem Vater zu öffnen, ohne dass er von den aufmerksamen, blauen Augen seziert wurde, die ihn bereits jetzt schon so gut kannten, dass es manchmal erschreckend war. Sacht strichen seine Finger über das Quadrat und eher durch Zufall öffnete er eine der sauber angeklebten Laschen. Jean schluckte. Das war doch gar nicht so schwer gewesen, befand er. Ein Anfang, der alles Weitere einfach machte. Wenn es denn nur so wäre. Jede Bewegung blieb ein Kampf mit sich selbst, ein Widerwillen gegen die Zuneigung, die sein Vater für ihn empfand und die sich in sein eigenes Herz schlängelte. Jean sträubte sich gegen sie und gerade deswegen schlug sein Herz auch so schnell, als er den Deckel der Schachtel öffnete und im ersten Moment nicht begriff, was er dort sah. Verspätet wurde ihm bewusst, dass es eine Armbanduhr war. Und er brauchte noch einen weiteren Moment später um die Bedeutung dahinter zu erkennen. Sie hatte ein dunkelblaues Lederarmband und ein Holzgehäuse mit silbernen Reglern. Auf dem beige-grauen Zifferblatt befand sich eine silberne Micky Maus und die silbernen Zeiger teilten ihm mit, dass es eigentlich schon viel zu spät war und er schon längst hätte aufstehen sollen. Jean schluckte und strich hauchzart über die Uhr. Er schluckte nochmals, schwerer dieses Mal, als ihn ungebeten eine Erinnerung überkam, die er am Liebsten ganz tief in seinen Inneren vergraben hätte. Früher, in Frankreich, hatte er Micky Maus geliebt und einer seiner letzten Wünsche war tatsächlich eine Armbanduhr gewesen. Soweit Jean sich erinnern konnte, hatte er das einmal erwähnt, aber…Evermore war ihm zuvorgekommen. Wie passend es doch war, dass er das Geschenk jetzt öffnete, kurz bevor sie in West Virginia gegen die Ravens spielten. Dass sein Vater sich nach so vielen Jahren noch daran erinnerte, war unbegreiflich für Jean und fürchterlich, weil es wunderschön war. Sein Innerstes war zerrissen zwischen Bewunderung für das schöne Schmuckstück und Ablehnung, es war zerrissen zwischen guten Erinnerungen an all dem Horror, der zwischen damals und heute stand. Er wusste, dass sein Vater anknüpfen wollte an die schönen Zeiten, doch konnte Jean selbst das? Die Erinnerungen an all das Schöne, was gewesen war, nehmen und als Basis nutzen für all das, was kommen sollte? Jean probierte es, wortwörtlich, indem er die Uhr aus der Schatulle nahm und sie vorsichtig um sein Handgelenk legte. Er schloss sie nicht, sondern probierte, wie sie sich anfühlte und wie sie aussah. Er hörte in sich hinein, wie er sich mit ihr fühlte und kam zu keinem schlüssigen Ergebnis. Noch nicht, auch wenn er bereits das Gefühl einer Entscheidung hatte, das zum Greifen nah war. Sacht legte Jean die Uhr zurück in die Schatulle und griff zum Kaffee. Drei Schlucke ließ er sich Zeit um schlussendlich zu seinem Handy zu greifen und den Kontakt seines Vaters aufzurufen. Die Nachricht, die er verfasste, war kurz. Vielen Dank für die Uhr. Sie ist schön. Es dauerte keine Minute, da pingte sein Handy und die Antwort seines Vaters leuchtete auf. Das freut mich sehr, Jean. Nachdenklich trank Jean seinen Kaffee und strich über das schöne Leder. Wenn er aus Evermore wieder zurück war, würde er sie nochmals anlegen. Er würde probieren, wie es war, sie zu tragen, als Zeichen dafür, dass ein Kapitel in seinem Leben abgeschlossen war. ~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 62: Am Vorabend der Schlacht ------------------------------------ Gierig trank Jean seine Flasche Wasser leer und versuchte, sein wild klopfendes Herz wieder zu beruhigen. Er starrte unerfreut auf das Spielfeld, auf dem die L.A. Lions soeben den Boden mit ihnen gewischt hatten und kam zu dem Schluss, dass das Trainingsspiel, welches ihrer beider Trainer untereinander ausgemacht hatten, keine gute Idee gewesen war. So gar nicht. Zumindest für ihn nicht. Jeans sowieso schon dünnes Nervenkostüm franste angesichts der vernichtenden Niederlage, die den Trojans in den letzten, anderthalb Stunden zugefügt worden war, nur noch mehr aus- Seine Vermutung, dass sie niemals gegen Evermore gewinnen würden und dass sie nicht genug trainiert hatten, wurde größer und größer. Er wusste, dass es irrational und unbegründet war, doch er hatte das Gefühl, dass sie gewinnen mussten, da er sonst gezwungen war, dort zu bleiben. Der Gedanke war abstrus und unbegründet, vollkommen, dennoch… Einer der Spieler ihrer gegnerischen Mannschaft erhob sich von der Bank seiner Mannschaft und steuerte auf sie zu, den Blick fest auf ihn gerichtet. Jean schluckte. Er hatte heute, wie die letzten Tage auch, festgestellt, dass ältere Spieler ihn nervös machten, oftmals sogar mehr als das. Er hatte keine Angst vor ihnen, nicht so, wie es in Evermore gewesen war, aber seine Nackenhaare standen bei dem Gedanken daran, alleine mit ihnen zu sein oder ihnen den Rücken zuzudrehen. Umso froher war er gewesen, dass sie in den letzten Tagen wenig Kontakt gehabt hatten. Umso misstrauischer war er nun, als der Mann direkt zu ihm kam und ihn mit eben jenem Blick fixierte, den Jean auch schon während des Spiels gesehen hatte. Verstohlen sah er sich nach seinem Team um und fand die beruhigenden Präsenzen Ajeets und Vals in seiner unmittelbaren Nähe. Ihm konnte nichts passieren, wiederholte Jean stumm. Er wusste das. Er hatte es gelernt. Alleine schon, um sich abzulenken, versuchte er sich den Namen des Mannes einzuprägen, der mit großen, zielstrebigen Schritten auf ihn zukam. Mikhail Sorokin hieß er, ein Backliner, der Jeremy am langen Arm hatte verhungern lassen während ihres Spiels. Ihn und Fahima, die sich die Zähne ausgebissen hatten. Sorokin war kleiner als er, aber muskulös und hatte den Gang eines Jägers, der seine Beute bereits im siegessicheren Blick hatte. Als er vor Jean zum Stehen kam, starrte er ihn herausfordernd an und musterte ihn von oben bis unten. „Moreau.“ Jean ließ sich Zeit mit seiner Antwort und umklammerte seine leere Wasserflasche, die viel war, aber keine Stütze. „Sorokin“, erwiderte er schließlich bemüht ausdruckslos, konnte aber die ablehnende Vorsicht nicht ganz aus seiner Stimme heraushalten. Kühl wurde er gemustert und dann schnaubte Lion-Backliner amüsiert. „Du hast keine Ahnung, wer ich bin, oder?“, fragte er und Jean runzelte die Stirn. Was sollte das? „Ich kenne deinen Namen und deine Spielstatistik bei den Lions.“ Sorokin hob vielsagend die Augenbraue. „Wir haben beide für denselben Kult gespielt, Nummer drei“, sagte er und Jean Her setzte für einen Schlag aus. Ein Raven? Was? Hier? Wer? Er…er konnte ihn nicht…er kannte ihn nicht…was? Die rationale Seite, mit der er männliche, ältere Spieler betrachtete, wich einer langsam aber stetig aufkommenden Angst. Jean trat instinktiv einen Schritt zurück, was Sorokin nicht verborgen blieb. „Schwarz gefärbte Haare, halblang, bisschen schmächtig. Ich war im gleichen Jahrgang wie Muldani und habe die Ravens nach einem Jahr verlassen.“ Trotz seiner Angst erkannte Jean die Selbstzufriedenheit, die mit dem letzten Satz mitschwang und Verwirrung dämpfte seine Angst. Er erinnerte sich nicht an alle älteren Spieler, damals viel zu gefangen in dem Schock der Gefangenschaft und der Gewalt. Sie waren, bis auf Muldani und die Spieler, die Riko in sein Bett geschickt hatte, gesichtslos gewesen. Potenzielle Bedrohungen, denen er aus dem Weg gehen musste. Vorsichtig zuckte er mit den Schultern und musterte Sorokin, der im Gegensatz zu damals breitschultrig, braungebrannt und blond war. „Ich hab’s damals nicht ausgehalten, die ganze Gewalt und alles. Die Drills und die sektenähnliche Struktur. Ich hab’s gehasst, bis auf den Grund meines Herzens. Und dieser widerliche alte Knacker, der sich Herr nennen lässt, den habe ich gleich noch mehr gehasst.“ Angewidert würgte Sorokin und Jeans Angst trat zugunsten hochgradiger Verwirrung in den Hintergrund. Erstaunt hing er an seinen Lippen und blinzelte. „Ich kenn dich noch, da warst du klein. Also kleiner als jetzt“, fuhr er fort, als würde Jean ihn nicht die ganze Zeit schweigend anstarren. „Moriyamas engster Kreis.“ Was, wenn nicht das, gab Jean seine Stimme zurück? „Ich war nicht…“, begehrte er auf und stockte. Er wollte Rikos Namen nicht in Anwesenheit eines anderen Ex-Raven nennen. Doch es war auch nicht notwendig. Sorokin nickte. „Das war auch keine positive Umschreibung, Moreau. Ich habe mitbekommen, wie das Arschloch dich und Day behandelt hat. Das war widerlich. Ich wollte etwas sagen, doch als ich gegangen bin, haben Sie mich gezwungen, eine Verschwiegenheitserklärung zu unterschreiben.“ Jean schluckte. Das war… unerwartet. Er hatte bisher alle Ravens verteufelt, in der Annahme, dass es sich um immer den gleichen, schlechten Menschentyp handelte. Theoretisch war Muldani eine Ausnahme, aber auch nur theoretisch. Das Gefühl war dagewesen. Und jetzt? Jemand, der gegangen war, weil es ihm zuviel Gewalt gewesen war? Jemand, der gesehen hatte, was Riko getan hatte und bereit gewesen wäre, etwas zu sagen? „Was ich damit sagen will, Kleiner, ist Folgendes. Zeig’s ihnen und ich weiß, dass du es kannst. Dass ihr das könnt. Ihr seid Evermore meilenweit überlegen und werdet sie in Grund und Boden spielen. Ich weiß, dass du’s kannst und dass du’s willst. Du musst die Angst nur loslassen, die du vor ihnen hast und die selbst ich erkennen kann.“ Jean blinzelte. Kleiner? Er war größer als Sorokin. Indigniert rümpfte er die Nase und schürzte die Lippen, während der Sinn der restlichen Worte so langsam Einzug in sein Denken fand. Ja, er hatte Angst vor den Ravens. Mit jeder Faser seines Seins hatte er sie. Sah man das? Hielt es ihn tatsächlich zurück? Das Lob des Mannes ließ seine Wangen noch wärmer werden als sie es ohnehin schon waren und er räusperte sich verlegen. „Ich weiß nicht, wie ich die Angst loslassen soll“, gestand er schließlich ein und Sorokin brummte. „Mir hat Wut geholfen“, erwiderte er. „Denn mit meiner Wut war ich stärker als sie und ihre Gewalt.“ Wut war für Jean kein gutes Thema. Seine Wut hatte Knox verletzt, mehrfach. Anscheinend stand das allzu deutlich auf seinem Gesicht geschrieben, denn Sorokin nickte verständnisvoll. „Meine Wut kannte nur eine Richtung und zwar die gegnerische Mannschaft. Ich war personifizierte Wut, mein Schläger war es, und das hat mich präzise und gnadenlos werden lassen. Es war wie ein Schild, durch den sie nicht dringen konnten.“ „Ich weiß nicht, ob mir das möglich sein wird“, gestand er ein. „Ich glaub‘ an dich, Kleiner“, grinste Sorokin und drehte sich um, bevor Jean auch nur grollen konnte. „Ich bin größer als du!“, rief er trotzdem hinterher und Sorokin winkte ihm ohne zurück zu sehen. Jean drehte sich um und begegnete der vollen Aufmerksamkeit seines Teams, die er leichtsinnigerweise für das Gespräch komplett ausgeblendet hatte. Val war ihm am nächsten und ihre Lippen formten stumm das Wort, was er mitnichten hören wollte. „Sag’s nicht“, drohte Jean und ihr Gesicht war eine Maske der Unschuld, während in ihren Augen alles Ungesagte stand, was auf ihren Lippen lag. „Was?“, fragte sie scheinheilig nach. „Wag dich.“ „Was denn?“ Jean grollte. „Na komm, wir wollen in die Umkleide und uns fertig machen…“ Damit konnte Jean besser leben und nickte. „…Kleiner.“ Wäre Jean so wie die Trojans, würde er Val nun unter seinem Arm einklemmen und ihr, wie Ajeet es manchmal tat, solange durch die Haare wuscheln, bis sie spielerisch um Gnade flehte. Er war nicht so, noch nicht, also traute er sich das nicht. „Miststück“, erwiderte er aber aus vollem Herzen. ~~**~~ Alvarez hatte schon schlechte Laune, als sie die Nummer wählte. Das wurde auch nicht besser, je länger sie klingeln lassen musste, damit sie ihn an die Leitung bekam. Das Prinzchen schlechthin, der allseits beliebte Sohn von, der Exy-Prototyp, den sie alle verehrten. Alvarez konnte kotzen, denn das Jedermannliebchen war nichts mehr als ein arroganter Bock, der mit seiner Attitüde beinahe Jean das Leben gekostet hatte. Dass Alvarez ihn dafür weder respektieren noch lieben würde, war klar. Dass es ihr zuwider war, Kontakt zu ihm aufzunehmen, ebenso. Nach dem gefühlten hundertsten Klingeln nahm er ab und blökte sein unfreundliches „Ja?“ in den Hörer. Sie schnaubte. „Du schuldest mir einen Gefallen, Day und wage es ja nicht, mir den zu versagen“, sagte sie anstelle einer Begrüßung und für einen Moment herrschte Stille in der Leitung. „Alvarez?“, fragte er dann, als wäre es nicht offensichtlich und sie brummte. „Ja.“ „Gib mir einen Grund, nicht aufzulegen, weil du meine Zeit verschwendest.“ Oh ja, da war er, das große Arschloch, das seine Raven-Attitüden nie abgelegt hatte. Kein Wunder, dass Jean ihn verachtete. Kein Wunder, dass Jean so wütend auf ihn war. Und wenn ihr adoptiertes Rabenkind wütend war, dann war Alvarez als Adoptivmutter gleich mit wütend. „Den habe ich dir bereits benannt. Du bist mir einen Gefallen schuldig.“ „Ach?“ Alvarez brummte bejahend. „Wegen dir wäre Jean fast gestorben, weil du deine Scheißzähne nicht auseinander bekommen hast, was den Countdown angeht. Wir haben Jean in der Wüste eingeholt und ihn daran gehindert, sich von Minyard umbringen zu lassen. Du hast nichts getan, im Gegenteil. Und deswegen schuldest du mir jetzt einen verdammten Gefallen, wenn es um Jean geht. Verstanden, Arschloch?“ Und wie wütend Alvarez war. Die Stille am anderen Ende der Leitung dehnte sich mit jeder verstreichenden Sekunde aus und wurde drückender, je weiter sie fortschritt. Stur schwieg auch sie und wartete auf eine Antwort, die schlussendlich nicht weniger als eine ewige, halbe Minute benötigte. „Was willst du für einen Gefallen?“, fragte Day schließlich und Alvarez lächelte grimmig. „Am Besten holst du gleich schonmal Josten und Minyard dazu“, sagte sie bedeutungsschwanger. ~~**~~ Konzentriert starrte Jean auf die Aufgabe vor sich und runzelte die Stirn. Seine Finger zuckten in Erwartung der vor ihm liegenden Herausforderung. Der Geruch von schwarzem, intensiven Tee schlängelte sich in seine Nase und beruhigte ihn ebenso unterbewusst, wie es die Jazzmusik im Hintergrund tat. Obwohl es wenig unterbewusst war, wenn Jean sich dessen ja durchaus bewusst war, was hier geschah und diese Entspannung extra aufsuchte. Wobei er ja nicht nur die Entspannung suchte. Fahima hatte ihn gefragt, ob er zum Hölzklötzchenspielen vorbeikommen wollte, bei Tee und guter Musik. Jean war hochgradig irritiert gewesen über diesen Vorschlag, allerdings war Fahima nicht jemand, die seine Späße mit ihm trieb. Außerdem schätzte er Fahimas Ruhe und die Zeit, die sie miteinander verbrachten. So gerne er auch Zeit mit Jeremy verbrachte und sich durch seine Gegenwart sicher und gemocht fühlte, war es doch mit Fahima etwas ganz Anderes. Während Jeremy Leben, Zuneigung und Freude bedeutete, war Fahima die Ruhe und die Gelassenheit und genau das brauchte er jetzt, nicht mehr ganz eine Woche vor ihrem Spiel gegen seine alte Mannschaft. Dass Holzklötzchen spielen bedeutete, dass sie eckige kleine Holzstäbe aus einem Turm zogen, diese dann wieder oben drauflegten und das Ganze weniger entspannend, denn eher konzentriert war, wusste er erst jetzt. Das Spiel war mit seinen Fingern, die er manchmal nicht richtig bewegen konnte, nicht einfach, aber wenn er alles um sich herum gehen ließ und sich auf nichts mehr konzentrierte als das, was gerade vor ihm war, ging es. Vorsichtig zog Jean einen der Stäbe heraus und legte ihn oben auf. Der Turm wackelte und Jean verharrte bewegungslos, als könne er so verhindern, dass er umfiel. Doch er hatte Glück und er fiel nicht in sich zusammen, sondern stabilisierte sich. Mit einem tiefen Ausatmen lehnte Jean sich zurück und griff behutsam nach seinem Tee. Schwarz, mit Minze und viel Zucker, hatte zumindest Fahima gesagt und ihm das kleine Glas gereicht, das in seinen Händen beinahe winzig wirkte. „Du bist gut darin“, sagte sie mit einem Nicken zum Turm und Jean hob die Augenbrauen. „Dein Lob ist noch unangebracht“, winkte er ab und sie lächelte. „Im Gegenteil.“ Sie war an der Reihe und musterte den Turm von allen Seiten aufmerksam. Anscheinend identifizierte sie einen der Klötze und löste ihn mit einem vorsichtigen Ruckeln aus seiner Verankerung. Jean hielt den Atem an und sah ihr fasziniert zu, wie sie ihre Beute oben auf legte. Fahima nahm ebenfalls einen Schluck und musterte ihn dann. „Wie geht’s dir?“, fragte sie und Jean zuckte innerlich zusammen über die Falle, in die er getappt war. Natürlich würde sie ein solches Gespräch führen wollen, da er anscheinend das Sorgenkind Nummer eins der Mannschaft war. Und der gemeinschaftliche, adoptierte Sohn, wie Laila es ihm zu verstehen gegeben hatte. Nicht, dass er sich danach fühlte. Nicht, dass er es akzeptierte, plötzlich 27 zusätzliche Väter und Mütter zu haben. „Ich schlafe nachts meistens“, sagte er nichtssagend und sie nickte anerkennend. Tatsächlich war es besser geworden mit dem Stundenansatz, auch wenn die Intensität der Alpträume wieder zugenommen hatte. Es verging keine Nacht, in der er nicht davon wach wurde, was Riko ihm antat oder antun ließ. Es verging kein Tag, an dem er in kleinen Gesten seiner Umgebung, in nichtigen, harmlosen Dingen, Spiegel zu Evermore entdeckte. Es war so regelmäßig schlimm geworden, dass der Terror zur Regel geworden war. Heute Nacht hatte er erneut durchlebt, was Riko ihm an seinen letzten Tag in Evermore angetan hatte. Wieder und wieder hatte Riko ihn aufgeschnitten, geschlagen und ihn mit Worten und Speichel bespuckt, sobald Jean die Augen geschlossen hatte. Den frühen Morgen war er wach gewesen und hatte vom Boden vor Jeremys Bett aus dem anderen Jungen beim Schlafen zugesehen und sich von dessen mittlerweile wohlvertrauten Riten des Herumdrehens und Redens beruhigen lassen. „Wir stehen zwischen dir und ihnen“, sagte sie so selbstverständlich, als würden sie über das Wetter sprechen. „Du bist ein Trojan.“ Jean griff zu dem Glas Tee und nahm einen schweigenden Schluck. „Das weiß ich.“ „Aber du hast Angst.“ Jean zögerte. „Ja“, gestand er dann ein und Fahima nickte. „Sie werden dir nicht mehr wehtun und dich verletzen.“ „Doch, das werden sie mit Sicherheit“, widersprach er. Sie würden einen Weg finden. „Dann müssen sie an uns vorbei und soweit kommen sie nicht.“ Die Entschlossenheit und eisige Ruhe in Fahimas Worten erstaunte Jean und er wusste nicht, was er daraus machen sollte. Da griff er lieber einen der Holzquader und zog vorsichtig dran. „Hmm…der wird fallen“, mutmaßte sie und er verzog unwirsch den Mund. „Nein, wird er nicht.“ Eine starke Behauptung ersetzte jeden schwachen Beweis und Jean zog sacht an ihm. Kaum hatte er ihn zur Hälfte aus dem Turm gelöst, geriet dieser ins Schwanken und mit Erschrecken sah er, wie alle Teile in sich zusammenfielen und vom Tisch auf den Teppich kullerten, den Fahima über das Linoleum gelegt hatte. Jean grollte und starrte vorwurfsvoll auf Fahima, die ihn mit ruhigem Blick und vielsagendem Lächeln musterte. „Ich habe immer Recht“, sagte sie und der Unterton sagte Jean, dass sie nicht nur den Turm meinte. Er rollte mit den Augen und wurde nicht dafür bestraft. Im Gegenteil. Fahima lachte und versetzte ihm einen spielerischen Schubs und das war okay. Er hatte gelernt, dass es hier okay war und so machte es ihm auch nichts aus, ihre Hand auf seinem Oberarm zu spüren. ~~**~~ Jean lauschte Renees widerwilligen Erzählungen über das letzte Spiel der Foxes, die er fast aus ihr hatte herauspressen müssen. Er sah in ihren Augen, was ihre Worte noch nicht sagten. Er sah in ihrer Mimik, dass er ihren Fragen nicht entkommen konnte, ebenso wenig ihrer Sorge um ihn. So hörte sich Jean zu Ende an, was er bereits wusste, nämlich, dass sie gut und erfolgreich gegen die UT Longhorns gewonnen hatten. Er hatte das Spiel gesehen, auf seinem Laptop, und sich die Spielzüge der Foxes eingeprägt, damit er auf sie in den Play-Offs vorbereitet war. „…aber das ist nicht der eigentliche Grund unseres Anrufes, nicht wahr?“, schloss sie sanft, aber unnachgiebig und Jean seufzte. Wenige Tage nur noch. Er schüttelte den Kopf. „Nein. Ich…“, begann er und wusste eigentlich nicht wirklich, womit von all dem er beginnen sollte, was ihm auf dem Herzen lag. Doch es war Renee. Ihr genügte anscheinend wie immer ein zielsicherer Blick in seine Augen um in das Innerste seiner Seele blicken zu können. „Evermore.“ Ein Wort, das so viel barg, sanft ausgesprochen und doch voller Schmerz. „Ich habe Angst“, gestand Jean ihr flüsternd ein. „Davor, nicht zurück zu kehren. Und davor, all das wiedersehen zu müssen.“ Bedächtig nickte sie. „Ich habe Angst, dass ich wie gelähmt bin, wenn ich dieses Spielfeld betrete und vor meinem geistigen Auge das sehe, was er mir angetan hat.“ „Das wirst du ganz sicher“, erwiderte Renee und Jean schloss gepeinigt die Augen. „Die Erinnerungen werden da sein, Großer. Dafür sind sie zu frisch und niemand wird von dir erwarten, dass du alles, was dir zugestoßen ist, bereits verarbeitet hast. Sie werden da sein, wenn du das Spielfeld betrittst, aber du hast liebe Menschen um dich herum, die vorher nicht da waren um dich zu schützen. Du hast dein Team, deine Freunde. Sie sind da und unterstützen dich. Du bist nicht alleine da. Jean schluckte. „Das reicht nicht aus. Glaube ich.“ „Sicher?“ Er zuckte mit den Schultern. „Nein.“ „Du wirst am Besten wissen, was du mit ihnen erlebt hast, Großer. All die Erinnerungen an schöne Dinge, die dich auch jetzt noch begleiten. Was, wenn du diese als Gegenpol nimmst, auch vor Ort? Für jedes schreckliche Etwas denkst du an etwas Schönes und überlebst so die paar Stunden, in denen du da bist? Und es sind nur ein paar Stunden, denn mehr werden sie dich nicht dabehalten können. Eure Ankunft, das Aufwärmen, euer Spiel, die Presse danach, das war es.“ Aber was wenn, wollte Jean fragen, behielt es jedoch für sich. Sie würden ihn nicht dabehalten können, warum sollten sie auch? Die Worte der leitenden Firmenanwältin waren deutlich gewesen. „Wirst du zuschauen?“, fragte er und sie lächelte erneut. Er konnte die Zufriedenheit darin nicht ganz deuten, doch Renee nickte. „Auf jeden Fall werde ich zuschauen.“ „Wirst du kommen, falls es Probleme geben sollte? Wenn sie mich dabehalten sollten?“, fragte er beinahe schon mit kindlicher Sorge und sie nickte ernst. „Jederzeit, Jean, das weißt du.“ Nervös strich er über Eva, die außerhalb des Sichtfeldes auf seinem Schoß saß. „Du bist mein Schutzengel“, gestand er ein und sah Röte auf ihren Wangen. Warum auch immer, schließlich war es doch eine Tatsache. „Und du bist ein wundervoller und starker Mensch, Jean.“ Er schnaufte und sah verlegen zur Seite. „Kein Grund zu übertreiben.“ Renee grollte spielerisch. „Nenn mich Lügnerin und ich komme mit Nicky vorbei und lasse euch beiden alleine.“ Das war Jean bei allem Stress und bei aller Nervosität vor dem Kommenden doch tatsächlich einen Mittelfinger wert. ~~**~~ Mit ruhiger, bedächtiger Hand befüllte Jeremy die Kaffeemaschine in ihrer Küche und ließ die Filterabdeckung zugleiten. Ebenso langsam und geräuscharm füllte er Wasser in den Tank und schaltete die Maschine an. Aufmerksam beobachtete er Jeans Zusammenzucken, als sie lautstark ihren Dienst aufnahm und bewegte sich gut sichtbar und ruhig in Richtung des anderen Jungen, seine Hände immer da, wo Jean sie sehen konnte. Es war Freitag und morgen spielten sie gegen Evermore. Heute Mittag um 12 Uhr flogen sie los, siebeneinhalb Stunden Anreise mit Zwischenstopp in Charlotte. Anderthalb Stunden Aufenthaltszeit, bevor es weiterging nach Huntington, wo sie für eine Nacht ein Hotel gebucht hatten, bevor es am nächsten Tag weiterging nach Evermore. Normalerweise wären sie wie letzte Saison auch in die bedrückenden Gästequartiere der Ravens gezogen, doch das hatte ihr Coach kategorisch abgelehnt. Er hatte Jean noch nicht einmal den Vorschlag gemacht, dort zu übernachten, sondern aus eigener Tasche die Zimmer reserviert und bezahlt. Für zwei Nächte, da die Flugverbindung zurück so fürchterlich war. Jeremy war Coach Rhemann äußerst dankbar dafür, denn Jean ging es auch so schon schlecht genug. Kein Wort brachte er über seine Lippen, dafür war er umso schreckhafter und ängstlicher, was Bewegungen und Geräusche anging, in den Augen namenloser Schrecken vergangener Jahre. Jeremy hatte sich darauf eingestimmt und auf seine Kapitänspersönlichkeit gewechselt, aus der heraus er ruhig und verbindlich gesprochen und gehandelt hatte um Jean etwas Ruhe und Sicherheit zu geben. Es hatte zwar Panikattacken, aber keine Alpträume verhindern können. Jeremys Herz blutete immer noch, wenn er an die Schreie in der Nacht dachte, die panischen und verzweifelten Worte, die ihn und schlussendlich auch Jean aus dem Schlaf gerissen hatten. Weder seine Decke noch seine Worte hatten Jean beruhigen können, umso erstaunter war Jeremy darüber gewesen, dass Jean es zugelassen hatte, dass er sich zu ihm auf die Couch setzte und sogar seine Hand gegriffen hatte, als Jeremy sie ihm angeboten hatte. Jean hatte ihn nicht angeschaut, verloren in seinen eigenen Erinnerungen, dennoch hatte ihn Jeremys Präsenz beruhigt. So hatte er den ganzen Morgen damit verbracht, dem anderen Jungen mit ruhigen Gesten und Worten beiseite zu stehen. Als die Kaffeemaschine fertig war, nahm Jeremy zwei Tassen aus dem Schrank und befüllte sie, brachte sie beide zur Wohnzimmercouch. Jean saß auf einem der abgewetzten Polster und starrte mit leerem Blick aus dem Fenster. Nur langsam kehrte er in ihre Realität zurück und sein Kopf drehte sich noch viel unbeholfener in Richtung der Tasse. Verspätet schien er zu begreifen, was dort stand und wo er war. Kurz huschten seine grauen Augen zu Jeremy und dieser lächelte. „Für dich, Gewitterwolke“, sagte er ruhig und die Augen weiteten sich. Knapp nickte Jean und griff zur Tasse. Er nahm sie hoch und stellte sie auf seine Oberschenkel. „Jeremy?“, presste er schließlich hervor und nun war Jeremy es, der zusammenzuckte. „Ja?“ Die Worte, die Jeans Lippen verließen, waren in seiner Muttersprache und dieses Mal konnte Jeremy noch nicht einmal ein Wort davon ausmachen oder sich herleiten, dafür waren sie zu schnell und ineinander verwoben. Er wusste nur, dass es anscheinend eine Frage gewesen war, auf die Jean eine Antwort erwartete. Noch bevor er nachfragen konnte, stellte Jean die Tasse hin und sah auf, seine Augen voller Emotionen, die er anscheinend nicht aussprechen konnte. „Was auch immer es ist, das ich für dich machen soll, Jean, so lautet die Antwort ja“, erwiderte er mit der Verbindlichkeit seines Kapitänsranges, ohne diesen gegenüber Jean geltend zu machen. Der andere Junge musterte ihn stumm und begriff schließlich, dass Jeremy ihn nicht verstanden hatte. Er schnaufte und erhob sich. „Umarme mich“, sagte er schließlich in einer seltsamen Mischung aus Frage und Befehl. Wer war Jeremy, dass er dem nicht Folge leistete, egal, was es gewesen war. Langsam trat er einen Schritt auf Jean zu, dann noch einen. Noch viel bedächtiger hob er die Arme und legte sie schließlich um Jean. Leicht zunächst, beinahe unmerklich, damit dieser sich an die körperliche Nähe gewöhnen konnte. Erst, als der angespannte Körper und die stahlharten Muskeln etwas von ihrem Schrecken verloren, intensivierte er die Umarmung und zog Jean eng an sich heran, spürte ihn sowohl körperlich als auch emotional. Es dauerte, doch irgendwann erwiderte Jean die Umarmung und schlang die Arme ebenfalls um Jeremy. Jean legte den Kopf auf seine Schulter und atmete bewusst ein und aus. Jeremy wollte ihm sagen, dass alles gut werden würde. Dass sie in zwei Tagen wieder hier sein und ihren Sieg feiern würden. Er wollte ihm sagen, dass niemand es zulassen würde, dass die Ravens noch ein einziges Mal so Hand an ihn legen würden wie sie es in den vergangenen Jahren getan hatten. Nichts davon sagte er, weil er es auf die eine oder andere Weise bereits gesagt hatte. Jetzt ließ er seinen Körper und ihre Verbundenheit für sich sprechen und hoffte, dass es ausreichte, um Jean die Ruhe zu vermitteln, die dieser wirklich brauchte. ~~**~~ Jean saß auf seinem Hotelbett und starrte blind auf den anscheinend unzerstörbaren Teppichboden in leuchtendem Türkis, der augenscheinlich keinen einzigen Kratzer aufwies. Er wusste, dass sie nur wegen ihm hier und nicht in Evermore waren. Er wusste, dass der Coach das aus eigener Tasche bezahlt hatte, da der Verband sicherlich nicht für solcherlei Extrawünsche aufkam. Es machte ihm ein schlechtes Gewissen, unter anderem auch deswegen, weil er so dankbar dafür war, dass sie eben nicht in Evermore schliefen und Rikos Geist ihm in den Nacken atmete. Nicht mehr als jetzt schon. Selbst diese Entfernung reichte bereits, dass er den Zug seines Gefängnisses mit jeder Faser seines Körpers spürte, der sich mehr und mehr verweigerte. Jean war konstant übel und das war das Kleinste seiner Probleme. Sein Kopf dröhnte und er brachte kaum ein Wort über die Lippen. Er war so schweigsam, dass Jeremy noch nicht einmal nach ihrem Safeword fragen musste um zu wissen, was in Jean tobte. Neuerdings waren Sehstörungen hinzugekommen, die gut und gerne auch körperlichen Ursprungs sein konnten, wären sie nicht just in dem Moment aufgetaucht, als sie hier in Huntington gelandet waren. Da hatte es auch nichts geholfen, dass Jeremy die ganze Zeit des Fluges über seine Hand gehalten hatte und Jean sie erst nach der Landung mit einem schlechten Gewissen losgelassen hatte, weil er Jeremys Finger so sehr zerdrückt hatte, dass sie rot und eingedellt waren. Sein Kapitän hatte abgewunken und nur Fahima, die mit ihnen in einer Reihe gesessen hatte, war Zeugin dieser Geste gewesen. Das Zimmer teilte Jean sich erneut mit Jeremy, nur dass sie dieses Mal zwei große Betten anstelle von einem hatten und Jean wusste nicht, ob er wirklich erleichtert darüber sein sollte. Knox‘ Nähe vermittelte ihm Ruhe, er sehnte sich schier danach, auch wenn er keines der Gefühle in seinem Inneren vokalisieren konnte. Es klopfte und Jean sah erst irritiert auf die Zimmertür, dann auf das angeschlossene Bad, in dem Jeremy sich gerade fertig machte und nun den Kopf aus der Tür steckte. „Magst du dir Tür öffnen? Das ist vermutlich Al, sie wollte nochmal vorbeikommen“, sagte er und Jean wusste, dass er nur den Kopf zu schütteln brauchte, wenn er sich außerstande sah, das zu tun. Doch er wollte. Er wollte stärker sein, als er es jetzt war und so musste er sich auch zusammenreißen. Schweigend nickte er und Jeremy verschwand nach einem zuversichtlichen Lächeln wieder im Bad. Jean erhob sich schwerfällig und ging zur Tür. Er öffnete sie und sah auf den Menschen hinunter, der vor ihm stand, ohne wirklich Notiz davon zu nehmen, wer es war. So brauchte es auch seine Zeit, bis er begriff, dass es nicht Alvarez war, wie Jeremy es vermutetet hatte. Jean blinzelte, die Tür fest in seiner Hand und krächzte fragend, als seine Augen, sein Hirn und seine Erinnerungen endlich zusammenkamen und ihm einen Namen gaben. Andrew. Blond, klein, scheinbar gelangweilt, komplett in schwarz gekleidet, als gäbe es keine anderen Farben auf der Welt. Vielleicht war er eingeschlafen, mutmaßte Jean, und er träumte jetzt abstruse Dinge, wie zum Beispiel das Auftauchen des Torhüters. „Bist du fertig mit Starren?“, fragte der blonde Junge ungnädig und Jean sah zurück in den Raum, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Jeremy war aus dem Bad gekommen und erstarrte ebenso wie Jean auch, hochgradige Verwirrung auf seinem Gesicht. „Minyard?“, fragte er und Jeans hilfreiche Erinnerungen teilten ihm mit, dass Jeremy den Jungen nur beim Nachnamen nannte, weil er Angst hatte, ihn mit seinem Zwilling zu verwechseln. Nicht, dass Jean das nachvollziehen konnte, war der Andere – Aaron hieß er – doch weniger stoisch, denn eher abweisend-unfreundlich. Aber es war gut zu wissen, dass sein Kapitän ebenso ratlos war, wie er selbst auch, wenngleich auch schneller in seiner Auffassungsgabe, als er sich verlegen räusperte. „Ähm…möchtest du reinkommen?“, fragte er und Andrew rollte mit den Augen. „Wenn dein Backliner nicht weiter für morgen probt und niemanden durchlässt, dann ja.“ Jean sah Amüsement aber auch Verständnis auf dem Gesicht seines Kapitäns und trat automatisch einen Schritt zur Seite. Andrew nutzte den freien Eingang und trat in ihr Zimmer, doch damit war es noch nicht gut. Sein hauseigenes, suizidales Großmaul folgte ihm, der Jean angrinste, als wäre sein Anblick ein Anlass der Freude; so nah an Evermore sicherlich kein valider Grund dafür. Natürlich, das hätte sich Jean denken können, denn wo Andrew war, war auch Neil, auch wenn dessen Vorname immer noch fürchterlich verboten auf Jeans Zunge klang. Dass der Dritte im Bunde ebenfalls nicht fehlte, überraschte Jean dann doch und er starrte Day mit großen Augen an, als er nun schüchtern das Zimmer betrat. „Hallo Jean“, grüßte er leise und Jean fand nicht die Kraft, ihm wie üblich ablehnend gegenüber zu treten. Dafür starrte er ihn lieber in Grund und Boden. „Hallo Großer“, holte ihn dabei ruckartig eine ihm wohlbekannte, weibliche Stimme aus seinen Gedanken. Jean fuhr herum und sah sich Renee gegenüber, deren Anblick nicht schöner und nicht schrecklicher zugleich sein konnte, war er doch Versicherung und Erinnerung in Einem. Dass nach ihr Alvarez das Zimmer betrat und den durchaus großen Raum mit den Anderen zu etwas Kleinem und Beengten machte, war Jean schon fast wie eine Labsal, hieß es doch, dass es mit den Überraschungen erst einmal vorbei war. Oder? Fragend und scheu sah Jean in die Runde und blieb an Jeremy hängen, dessen Verwirrung soviel leichter zu äußern war. Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf und strahlte in die Runde. „Ähm...hi zusammen. Ihr…seid hier“, sagte er auch nicht wirklich eloquent, aber immer noch eloquenter, als es Jean in diesem Moment jemals sein konnte. „Al hat uns gefragt, ob wir kommen wollen. Also eigentlich hat sie Kevin gefragt und er hat uns dazu geholt“, antwortete Neil und Jean hing an seinen Lippen wie ein Ertrinkender nach Informationen. Wie ferngesteuert sah er zu Alvarez, die ihm anscheinend stolz auf sich zuwinkte. „Als Support für unser Backlinersorgenkind“, bekräftigte sie. „Aber ihr müsst trainieren. Ihr habt doch ein Spiel nächstes Wochenende“, war das Erste, was seit Stunden Jeans Lippen verließ, krächzend und rau, sich an dem festhaltend, was sein Verstand am Besten greifen konnte gerade. Die Frage, ob Alvarez den Verstand verloren hatte, schloss sich als Nächstes an, doch die wollte nicht so recht über seine Lippen kommen. Dass das bei allen außer bei Day für Belustigung sorgte, überraschte ihn nur im ersten Moment. Im Zweiten ahnte er, dass diese unvernünftigen Idioten ihr wertvolles Training tatsächlich für ihr Hiersein geopfert hatten. Für ihn. „Ich…“, begann Jean, wusste aber nicht so recht, wie er weitermachen sollte und wen er anstarren sollte. Sicherheitshalber ruhte sein Blick auf Renee, die ihn mit solch einer Zuneigung in ihren Augen anlächelte, dass es die Blockade in Jean einreißen ließ, die ihn daran hinderte, normal zu denken und zu handeln. „Wir sind heute Abend und morgen zum Spiel da“, erläuterte Neil und in seiner Stimme schwang etwas mit, dass Jean mühelos als Herausforderung, aber auch als Stolz erkannte. Er wusste warum. Weder Josten noch Day würden freiwillig nach Evermore zurückkehren, wenn sie es nicht mussten. Und nun taten sie es, um ihn zu unterstützen. Renee tat es, um ihn zu unterstützen. Andrew ebenfalls. Jean wurde bei dem schlichten Gedanken daran schummrig. „Ich glaube, ich muss mich setzen“, murmelte er und ließ sich auf einen der braunen Polstersessel fallen. ~~**~~ „Du starrst.“ Jean brachte tatsächlich so etwas wie ein Schnauben zustande und überraschte damit nicht nur sich selbst. Aus dem Augenwinkel heraus sah er, dass Jeremy ihn erstaunt musterte. „Mit Recht“, schnarrte er Andrew entgegen, der ihm gegenübersaß. Er konnte immer noch nicht wirklich begreifen, dass die unvernünftigen Foxes hier waren und morgen als Zuschauer am Spiel teilnehmen würden – wegen ihm. Weil Alvarez sich an Day gewandt und ihm nach ihrer eigenen Aussage die Hölle heiß gemacht hatte, dass er und Andrew, Neil und Renee bloß kommen sollten. Weil ihr adoptierter Backliner ihnen Sorgen bereitete und er die größtmögliche Unterstützung erhalten sollte, die möglich war. Jean grollte innerlich bei dem Gedanken daran. Er war kein Kind, das behütet werden musste. Die Seite in ihm, die froh darum war, dass die Foxes hier waren, ignorierte er dabei. Zumindest versuchte er es – mit leidlichem Erfolg. Er spießte mit seiner Gabel das letzte Salatblatt auf und schob es sich in den Mund, kaute nachdenklich darauf herum, den Blick nicht von Andrew lassend. Zu Beginn des Abends hatte er den ihm mitgebrachten Salat und die Wasserflasche nicht angerührt und stumm dem Lärm seines Teams und der Foxes gelauscht. Andrew hatte sich das keine Viertelstunde mitangesehen, bevor er mit bedeutungsschwangerem Blick beides geöffnet und Jean mit nachdrücklicher Geste hingeschoben hatte. Es wäre nicht nötig gewesen, das wusste Jean, aber das Gefühl der trügerischen Sicherheit war Balsam für seine blank liegenden Nerven. „Man sollte meinen, Josten und du wäret Zwillinge in eurem geistlosen Starren.“ Der jetzige Andrew machte sich über seinen Brownie mit Vanilleeis und Sahne her, der vor ungesunden Inhaltsstoffen nur so strotzte. Jean beobachtete das mit missfallendem Stirnrunzeln und hörte erst damit auf, als Andrew ihn darauf hinwies, wie sehr sein Blick doch dem von Day glich. Jean hob die Augenbraue. „Jostens Starren hat sicherlich einen anderen Grund.“ „Welchen?“ „Dein einnehmendes und charmantes Wesen.“ Sie saßen auf der Terrasse ihres Hotels auf runden Korbsesseln und unter Lichterketten mit großen Glühbirnen. Jean hatte sich mit dem Rücken zur Mauer unter einem der beiden Bäume niedergelassen, die dem gepflasterten Innenhof etwas Leben verleihen sollten und setzte zum mittlerweile dritten Mal vorsichtig eine Spinne oder einen Käfer ab, die ihn als Klettermöglichkeit benutzten. Val und Logan hatten für alle Essen geholt und wie selbstverständlich auch die Foxes dazu eingeladen, sich mit ihnen, am Vorabend ihres Spiels, hierhin zu setzen. Jean atmete aus und dieses Mal ging es ihm leichter von der Hand als vorher. Die Überraschung des Auftauchens hatte ihn aus seiner Gedankenspirale gelöst und seinem Geist anderes Futter gegeben, mit dem er sich beschäftigen konnte. Das an sich war nicht weniger problematisch, insbesondere, was Josten und Day anging. Allerdings war Renees Präsenz etwas, das Jean mehr als alles Andere beruhigte, vermittelte sie ihm doch das Gefühl der Sicherheit. Sie aßen gemeinsam und Jean ließ sich von den um ihn herum tosenden Gesprächen einfangen und einlullen. Hin und wieder sah er zu Jeremy, der glücklich lächelte und dessen Hand unter dem Tisch Jeans fand und sie versichernd drückte. Jean erwiderte die Geste und verschränkte seine steifen Finger mit Jeremys schmalen, warmen. Als er hochsah, musterte Renee sie beide mit ruhigem, wissenden Blick. „Trottel“, murmelte Andrew dagegen in seinen Milchshake hinein und Jean grollte. „Habe mir ein Beispiel an dir genommen“, gab er zurück und hob bedeutungsvoll die Augenbrauen in Richtung Josten, der mit Alvarez über morgige Spielzüge fachsimpelte. ~~**~~ Jean ließ sich beim Verlassen des Innenhofs zurückfallen und bedeutete Val, dass sie schon vorgehen sollte. Hinter ihm war nur noch Josten und über den Abend hinweg hatte Jean allen Mut zusammengekratzt, den er aufbringen konnte, um mit dem Striker zu sprechen und die Fragen zu stellen, die ihm auf der Zunge lagen. Tief einatmend drehte er sich um und schluckte. „Josten.“ Fragend hielt der andere Junge inne und nickte Andrew zu, der mit einem neutralen Blick auf Jean hinter Val das Hotel betrat. „Jean.“ Sie standen sich gegenüber und plötzlich war Jeans Kehle wie ausgedörrt, seine Worte wie ausgestorben. Er schluckte den allzu großen Kloß hinunter und atmete tief durch. „Warum bist du hier?“, fragte er schließlich in seiner Muttersprache und Josten legte den Kopf schief. Er verstand und ein kurzes, unerfreutes Lächeln huschte über seine Lippen, als er sah, wie Jeans Blick sich auf dem Brandmal in seinem Gesicht verfing. „Ist das deine eigentliche Frage?“, stellte Josten die Gegenfrage ebenfalls auf Französisch und Jean verneinte, bevor er sich davon abhalten konnte. „Ja…nein…schon“, wich er aus und der andere Junge schnaubte. Er trat einen Schritt näher heran und deutete auf den nun nur noch äußerst schwach sichtbaren Schatten auf der Wange. „Du hast dir die Drei entfernen lassen.“ „Ja. Ich wollte sie nicht mehr. Kann man etwas gegen das Brandmal tun?“ Josten zuckte mit den Schultern. „Vielleicht.“ „Willst du es nicht?“ „Nicht wirklich.“ Jean hielt inne und schwieg. Er sah zur Seite, weil er den Anblick nicht ertrug. Er sah zur Seite, weil seine Schuld hier umso schwerer wog. „Warum bist du hier, obwohl ich dir soviel angetan habe?“, fragte er schließlich und Jostens sehniger, muskulöser Körper entspannte sich sichtbar. „Hattest du eine Wahl?“, fragte er schließlich und Jean schnaufte. „Das hat dein blondes Gift auch schon gefragt, aber darum geht es nicht. Ich habe es getan, egal, ob er es mir befohlen hat. Ich habe dich niedergehalten, während er dich aufgeschnitten hat. Ich habe ihm das Messer gereicht, mit dem er dich aufgeschlitzt hat. Ich habe es ebenfalls getan, wenn er es von mir verlangt hat. Ich habe dir den Mund zugehalten, wenn ihm deine Schreie zu laut wurden.“ Josten musterte ihn und in den stechend blauen Augen lag eine Dunkelheit und Mordlust, die Jeans Nackenhaare stehen ließen. So hilflos Josten auch manchmal schien, was Zwischenmenschlichkeiten anbetraf, so erfahren war er in allem, was Leid und Gewalt anging. So ruchlos und gnadenlos war er. „Und du hast mich aus der Hölle gezogen, hast mir jedes Mal, wenn Riko mit mir fertig war, gesagt, dass ich nicht unterschreiben soll. Du hast mir den Zeitraum immer wieder vor Augen gehalten und mir gesagt, wieviele Stunden schon verstrichen waren. Obwohl er dich jahrelang gefoltert hat, hast du ihm Widerstand geleistet und dafür gesorgt, dass ich noch die Kraft habe, Evermore zu verlassen. Du hast nicht die günstige Gelegenheit genutzt, mich als seinen neuen Prügelknaben vorzuschieben.“ Jean grollte. „Das wäre zu einfach und zu kurzlebig gewesen.“ „Du unterschätzt mich.“ Josten lachte dunkel. „Deine unbedachten Worte unterschätze ich in keinem Fall.“ Der Striker zuckte mit den Schultern und schob die Hände in die Taschen, gab Jean damit Zeit, über die Vergebung nachzudenken, die in Jostens Worten mitgeschwungen war. Eine unmögliche Vergebung, wenn man Jean fragte. „Du hast eine Panikattacke bekommen, als du zum ersten Mal wieder gegen die Ravens gespielt hast, nachdem Riko mit dir fertig war. Wieso kehrst du nun freiwillig dorthin zurück?“ „Wegen dir, Jean.“ Das war die Antwort, die er heute Abend mehrfach erhalten hatte, die er aber zumindest bezogen auf Josten nicht verstand. „Womit habe ich dein Vertrauen und deine Wohltätigkeit verdient, Neil?“, fragte Jean frustriert nach und betonte zynisch den Vornamen des anderen Jungen, versuchte, dabei nicht allzu sehr auf die Gänsehaut zu achten, die sich seine Arme hochzog. Er hatte das Gefühl, kein Anrecht auf den Namen zu haben. Nathaniel war da einfacher gewesen, weil es verächtlicher gewesen war. Neil war…der Junge, der schreiend und weinend unter seinen Händen gelegen hatte, während Riko ihn aufgeschnitten hatte. Neil war der verzweifelte Junge gewesen, der sich in einer Nacht an ihn gepresst und nicht mehr losgelassen hatte, egal, was Jean gesagt hatte. Neil war der Junge, der nun erleuchtet von warmen Glühbirnenlicht vor ihm stand und zu ihm hochsah. „Du bist du, Jean. Ein Freund. Ich mag dich“, sagte Neil so ehrlich, dass Jean es wie ein Messer in den Bauch traf. Gepeinigt schloss er die Augen, nur um sie eine Sekunde später wieder aufzureißen. „Du bist ein Dummkopf.“ Das war er wirklich. Wie konnte er ihn mögen, wenn er ihm doch wehgetan hatte? Neil schnalzte und winkte ihn mit seinem Zeigefinger heran. Misstrauisch starrte Jean auf die Geste und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was wird das?“, fragte er ungnädig und Neil grinste sein bisher abgrundtief bösestes Lächeln. „Vertrau mir.“ Jean verzog das Gesicht und rollte mit den Augen. „Toller Grabsteinspruch.“ „Würde ich dich abstechen?“ „Wenn ich Hand an deine Foxes legen würde, dann ja.“ „Klar. Aber das tust du nicht. Dafür magst du sie zu sehr.“ „Das redest du dir ein.“ Neil hob vielsagend die Augenbraue und wiederholte seine Geste. Jean schnaufte und trat einen Schritt näher, dann noch einen, bevor er sich hinunterbeugte. Die Hände, die in die Nähe seine Gesichtes kamen, waren langsam und verfolgbar und so machten sie Jean wenig Angst. Sacht legte der andere Junge seine Hände halb um seinen Hinterkopf und zog ihrer beider Köpfe aneinander, Stirn an Stirn. Jean musste die Augen schließen um nicht zu schielen und spürte der Härte von Jostens Stirn nach. „Wird das ein merkwürdiges Paarungsritual?“, grimmte er, verharrte jedoch in dem Griff. „Nein. Es soll dir zeigen, wie hart dein Schädel ist, mit dem du morgen Raven-Arschloch-Köpfe einschlagen wirst.“ Neils Atem huschte über sein Gesicht und er roch dessen Fruchtsalat, den er sich bestellt hatte. Jean schnaufte. „Wortwörtlich? Das könnte Probleme geben.“ „Wegen mir. Ein paar tote Sadisten weniger.“ „Pass auf, dass man deinen Stammbaum nicht zu sehr merkt, Stuart-Wesninski.“ „…sagt der Syndikatssohn mit der Mördermutter.“ Für ein paar Sekunden schwiegen sie und trotz des ungewohnten Körperkontaktes entspannte Jean sich. „Du packst das morgen. Sie können dir nichts. Du bist ihnen über und machst sie fertig.“ So zuversichtlich, wie Neil die Worte aussprach, fühlte Jean sich nicht, ganz und gar nicht. Aber der Funke des Glaubens war da und er nährte sich von dem gar nicht mal so subtilen Versprechen des Strikers. ~~**~~ Gemeinsam gingen sie nach oben, weil keiner von ihnen die Treppe laufen wollte und Jean blieb wie angewurzelt stehen, als er Day am Kopf der Treppe sah, der augenscheinlich auf sie gewartet hatte. Neil hob seine Augenbrauen und nickte in Richtung des anderen Jungen. „Ich lass euch dann mal alleine. Gute Nacht und bis morgen!“ Stumm sah Jean ihm hinterher, als er ohne eine Antwort abzuwarten die Treppe hoch- und an seinem Teammitglied vorbeisprintete, sie beide damit alleine ließ. Was Jean am Liebsten verhindert hätte. Langsamer als vorher erklomm er die letzten Stufen und blieb unweit von Day stehen, der ihn intensiv musterte. Schließlich nickte er knapp in Richtung eines der Tagungsräume des Hotels und Jean war wirklich versucht, ihm nicht dorthin zu folgen und einfach weiterzugehen. Doch was es auch war, das ihn mitzog, er war nicht in der Lage, sich dagegen zu wehren oder einfach darüber hinwegzusehen. Misstrauisch folgte er Day in den leeren Raum und schloss die Tür hinter sich, blieb in der Nähe stehen. Von hier aus hatte man einen guten Blick auf die über dem Ohio River untergehende Sonne, die sie beide in ein warmes, rotes Licht tauchte. Day lehnte sich an einen der Tische und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Eine Geste, von der sich Jean nach näherem Nachdenken mit Gewalt abhalten musste. Grob schob er seine Hände in die Taschen seiner Jogginghose mit großem Trojanslogo. „Was willst du?“, fragte er, als der andere Junge keine Anstalten machte, irgendeinen Ton zu sagen und Day straffte die Schultern. „Ich möchte mit dir über morgen sprechen.“ Jean runzelte die Stirn. „Was gibt es da zu reden?“ „Darüber, wie es für dich sein wird, zurück zu kehren.“ Ein verächtlicher Laut verließ seine Lippen. „Sag du es mir, wie war für dich das erste Mal Evermore, nachdem Riko dir die Hand zertrümmert und beschlossen hat, mit den Ravens den Distrikt zu wechseln um euch die Hölle auf Erden zu bereiten?“ Gepeinigt schloss Day die Augen und löste seine Arme aus ihrer eisernen Verschränkung. Als er Jean erneut fixierte, stand in seinen grünen Augen eine Vielzahl von Emotionen, die Jean nicht alle entziffern konnte. „Ich habe mich schrecklich gefühlt, hatte Angst und Panik vor dem kommenden Spiel. Ich habe gedacht, dass ich sterben würde“, erwiderte er ehrlich und Jean konnte es nur zu gut nachvollziehen. So fühlte er sich auch. Hatte sich so gefühlt in den letzten Tagen. „Als wir angekommen sind, habe ich gedacht, dass mich die Mauern verschlucken und nicht wieder herauslassen werden und das Einzige, was mir geholfen hat, war das Spiel gewesen. Die Konzentration darauf.“ Natürlich. Wie konnte es auch anders sein? Doch war Jean denn so viel anders? Er hoffte auch, sein Seelenheil in dem Spiel zu finden, das alles, auch ihre Umgebung, ausblenden würde. Unwohl löste er sich von der Tür und fand einen vermeintlich interessanten Punkt auf dem Fluss. Langsam ging er zur Fensterfront und beobachtete die beleuchteten Ausflugsschiffe dabei, wie sie behäbig ihre Kreise zogen. Er erinnerte sich noch gut daran, wie es war, auf Day zu treffen. Auf seine neue Mannschaft und seine neue Freiheit. Jean hatte ihn gehasst, so sehr gehasst wie er Riko noch niemals in seinem Leben gehasst hatte. Zuerst in Palmetto, dann in Evermore selbst. Beide Spiele hatte er es gehasst, jede einzelne Sekunde. Riko hatte es ebenso sehr gehasst und es Jean spüren lassen. Er ballte die Hände zu Fäusten und schob den Gedanken in die hinterletzte Ecke seiner Erinnerungen. „Ich könnte kotzen beim Gedanken daran, morgen dorthin zurück zu kehren“, gab Jean zu und Day brummte zustimmend. „Es wird die Hölle werden, bis du dich aufs Spiel konzentrierst.“ „Na danke für die Beruhigung, Motivation konntest du schon immer“, sagte Jean ironisch und hörte mehr als dass er sah, wie Day sich erhob und zu ihm kam. Langsam wandte er ihm seinen Kopf zu und starrte seinem vormals besten Freund in die Augen. „Sie werden dich nicht dabehalten. Du bist frei von ihnen.“ Jean schnaubte verächtlich. „Glückskeksspruch vom glücklichen Kenner?“, fragte er spöttisch und ließ seine Augen vielsagend auf der vormals zertrümmerten Hand ruhen. Seine Worte erzeugten zunächst etwas, das Jean Verzweiflung nennen würde, dann wurde aus dieser Wut. Reine, blanke Wut, die Jean unwillkürlich zurückschrecken ließ, hatte er sie doch noch nie auf dem Gesicht des anderen Jungen gesehen. „Glaubst du, dass mich all das, was geschehen ist, unversehrt zurückgelassen hat? Ich bin geflohen, nachdem ich bei ihnen aufgewachsen bin. Nachdem der Herr mich gnädig aufgenommen hat. Was glaubst du, in welcher Angst ich jede Nacht gelebt habe? Dass er mich wieder holen kommt und mir auch die andere Hand bricht? Glaubst du etwa, dass du der einzige Traumatisierte bist? Ich habe konstante Gewalt erlebt, Jean. Nicht so wie du, aber auf eine eigene, zerstörerische Art und Weise. Wie du weißt. Sie haben mich auch psychisch und physisch misshandelt und es macht mich immer noch fertig. Und ja, ich kann dir sagen, was meine Ängste waren, als ich nach Evermore gefahren bin, weil es meine Ängste waren und weil sie berechtigt waren. Deine Ironie kannst du dir sparen. Bei allem, was zwischen uns vorgefallen ist und bei allem Unrecht, das ich dir angetan habe, ich lasse mir von niemandem, auch von dir nicht, einreden, dass das, was ich durchlebt habe, nicht schlimm war“, grollte Day und starrte ihn mit einem solch dunklen Zorn an, dass es Jean schauderte. Noch nie war Day so wütend ihm gegenüber gewesen. Noch nie hatte er in dieser deutlichen Art über das gesprochen, was ihn belastete. Noch nie hatte er diesbezüglich derart berechtigte Kritik an Jeans Worten geäußert und Jean würde lügen, wenn er behauptete, dass er diesbezüglich kein schlechtes Gewissen hatte. Denn Day hatte nie ihn nie verspottet, niemals sich ihm gegenüber lustig gemacht und er selbst hatte nichts Besseres zu tun, als sich über das, was Day durchlitten hatte, lustig zu machen. Wie Riko. Das schlechte Gewissen, das in Jean hochkroch, war jäh, unwillkommen und unerwünscht. Mit zusammengebissenen Zähnen starrte er Day in die Augen und atmete tief durch. Einmal, zweimal, insgesamt siebenmal, bevor er über seinen eigenen Schatten springen konnte. „Es ist nicht in meiner Absicht, das, was du durchlitten hast, klein zu reden oder es zu verspotten“, sagte er und die Worte kamen wie Scherben über seine Lippen, so schmerzhaft waren sie. „Ich erinnere mich an das, was Riko und der Herr dir angetan haben. Ich weiß, dass du…gelitten hast. Das hätte nicht passieren dürfen.“ Jean musste pausieren, sonst würde das, was in ihm schwelte, ihn von innen heraus auffressen. Stumm musterten sie sich, sekunden- und minutenlang, eine ganze Vergangenheit zwischen ihnen. Jean klammerte sich währenddessen an diese grünen Augen, die ihm in Evermore so viel bedeutet hatten und die ihn nun so wütend machten. Immer wieder, wenn er Day sah. Und doch hatte er sich gegen eine Veröffentlichung von Days Post entschieden. Oder folgte ihm in leere Räume. Unterhielt sich gegen besseren Wissens mit ihm. Er klammerte sich an sie, weil sie trotz allem etwas Vertrautes waren und er für einen Augenblick den Hauch ihrer guten, gemeinsamen Vergangenheit, ihrer Verbundenheit, spürte. Zu vertraut war er, als dass Jean sich jetzt nicht abwenden musste. Weit kam er nicht, denn Day hielt ihn mit einer Hand auf dem Arm zurück. „Jean.“ Es lagen soviel Emotionen in seinem Namen, dass Jean sie kaum auseinanderdividieren konnte. Instinktiv reagierte er darauf und machte den Fehler, sich Day zuzudrehen. „Du bist stark genug um mit ihnen fertig zu werden. Du stehst das morgen durch. Wenn ich das kann, dann kannst du es auch, denn du warst schon immer stärker als ich.“ Noch bevor Jean etwas darauf erwidern konnte, hatte Day sich von ihm gelöst und war einen Schritt zurückgetreten. Er drehte sich um und ging in Richtung Tür, weg von ihm, weg von einer Antwort, die Jean so schnell nicht geben konnte. „Kevin“, presste er hervor, bevor er sich davon abhalten konnte und der andere Junge blieb abrupt stehen. Langsam drehte er sich um. „Wir werden sie fertigmachen und mit euch in den Play-Offs den Boden wischen.“ Day lachte überrascht und schnaubte. „Kommt und versucht es. Wir werden vorbereitet sein.“ ~~**~~ Als Jean Jeremys und sein Hotelzimmer betrat, saßen sein Kapitän und Renee auf einem der beiden Betten und unterhielten sich bei einer Flasche Bier. Überrascht und in Knox‘ Fall auch missbilligend – schließlich hatten sie morgen ein Spiel – musterte er die Beiden, die ihn unisono mit Wärme und Zuneigung anstrahlten und somit ein unaufhaltsames, teuflisches Duo bildeten, das Jean nicht nur auf eine Art und Weise gefährlich werden konnte. Trotz der offen sichtbaren Ähnlichkeiten, erkannte er auch Unterschiede und Jean benötigte einen Moment, um seine Gefühle für die Beiden, die in ihm hochkamen, zu verarbeiten, weil sie diametral zu allem standen, was er in den letzten Tagen gefühlt hatte. Und weil der ganze Abend seine dunkle Gefühlswelt in Aufruhr gebracht hatte. Renee streckte ihm auffordernd eine Hand entgegen. „Komm zu uns, Großer.“ Jean blinzelte. Zu ihnen Beiden? In ihr Gespräch? „Muss ich?“, fragte er in einem Anflug seines in den letzten Tagen verloren gegangenen, bissigen Humors und Jeremy hob spielerisch schockiert die Augenbrauen. „Mein Herz!“, behauptete er leidend und fasste sich an die Brust, das Spiel mitspielend. Die vorsichtige Herumalberei tat gut nach den letzten Tagen und Jean musterte die Beiden kritisch, bevor er Renees Fingerzeig folgte und sich vorsichtig, wie man sich einem Raubtier nähern würde, zu ihnen begab. Langsam ergriff er Renees Hand und ließ sich auf dem Bett nieder, zwischen demjenigen, dem er körperlich nah war und derjenigen, der er seine Seele verschrieben hatte. „Störe ich nicht nur eure Sonnenschein- und Regenbogengespräche?“, fragte er mit einem Quantum an Unsicherheit in seinen Worten und begegnete einem doppelten Kopfschütteln. „Wir haben über die Farm gesprochen“, erwiderte Jeremy und Renee nickte. „Jeremy hat mir von den Tieren erzählt und seiner Familie und wie ihr Weihnachten gefeiert habt.“ Jean nickte zögernd. „Es war schön.“ Sacht strich Renee ihm über seine Hand. „Das glaube ich. Und euer Roadtrip wird sicherlich ganz großartig werden.“ Jeremy räusperte sich verlegen und Jean spürte, wie Belustigung seine Lippen nach oben ziehen wollte. Er gab dem Verlangen nach und seufzte um es zu überdecken. „Ich werde Bilder und Andenken schicken.“ „Na das hoffe ich doch.“ Sie tauschte einen vielsagenden Blick mit Jeremy, dessen Hand über die Matratze kroch und sich wie als Einladung mit der Handfläche nach oben hinlegte. Jean nahm die Einladung an und war nun für einen kurzen Moment mit ihnen Beiden verbunden, bevor Renee ihre Hand von seiner löste und sich leicht auf die Schenkel klopfte. „Ich lasse euch Beiden jetzt mal alleine und…“ „Nein!“ Jean überraschte sie alle damit. Sich selbst, Jeremy und Renee. Beinahe schon panisch hatte er Renees Hand gegriffen und hielt sie nun fest. Was genau er mit seinem Nein meinte, wurde ihm erst jetzt bewusst und Röte schoss in seine Wangen. Sie war hier und der Abend war wunderschön gewesen. Und wenn er es ertrug, mit Jeremy in einem Bett zu schlafen, dann fand er auch Ruhe. Aber mit Renee fand er Sicherheit. Es hatte sich tief in ihm hineingebrannt, dass sie sein Schutzengel war und dass ihm bei ihr nichts passieren würde. In Abbys Haus hatte er in ihren Armen schlafen können – richtig schlafen können, ohne Alpträume und ohne die darunterliegende Angst, dass jemand kommen und ihn holen würde. „Ich…ääh…“, begann er und wusste, dass sein unwahrscheinlicher Wunsch, sein unmöglicher Instinkt, was er wollte, nicht auf Gegenliebe stoßen würde. Wie auch, schließlich hatte er selbst nie darüber nachgedacht und nur jetzt, wo Renee gehen wollte, war der Wunsch in ihm hochgekocht. Der irrsinnige Gedanke, dass das überhaupt möglich sein könnte. „Was möchtest du, Jean?“, fragte Jeremy sanft und Renee brummte zustimmend, was Jean nur noch mehr Röte aufs Gesicht trieb. Stur starrte er auf die Bettdecke und erkannte mit Horror, dass diese beiden Sonnenkinder ihn solange nicht aus ihren liebevollen, aber unerbittlichen Fängen lassen würden, bis er etwas gesagt hatte, was Sinn ergab. Oder eben auch keinen. Ein Laut, nicht ganz Jaulen, nicht ganz Grollen, verließ seine Kehle und Jean schnaufte. „Ichmöchtemiteuchschlafen“, presste er hervor, zu schnell, als dass es wirklich verständlich war, hoffte er. Vergebens, wenn er sich die überraschten Bewegungen und Laute anhörte. Gleichwohl wurde ihm die Doppeldeutigkeit seines Satzes bewusst, was es nur noch schlimmer machte und Jeans Puls rasen ließ. „Also nicht…sexuell, sondern zusammen. Einfach so. Ohne. Ich…“ Verzweifelt verstummte er und erhob sich ruckartig. Wieso hatte er solch peinliche Gedankengänge? Das war fürchterlich. Jean machte Anstalten, sich von dem Bett zu entfernen, wurde jedoch von einer eisern sanften Hand festgehalten. „Bitte lass mich los, Renee“, flehte er. „Nur wenn du mich ansiehst und bleibst“, erwiderte sie mit ihrer unerschütterlichen, unnachgiebigen Freundlichkeit, die Jean zögernd gehorchen ließ. Langsam drehte er sich wieder um, musterte sie. Er sah keine Verwirrung auf ihrem Gesicht, keine Ablehnung, nur Zustimmung. Langsam ließ sie ihn los. „Nicht weglaufen, Großer. Komm, blieb hier und lass uns darüber reden.“ Was gab es denn da zu reden? Es war ein dummer Wunsch, unnütz und unwahrscheinlich. „Es ist eine schöne Idee“, fiel auch Jeremy ein und überrascht wandte Jean sich ihm zu. Wieso hatte sein Kapitän nichts dagegen? Schließlich waren sie doch…eine Gemeinschaft. Wieso teilte er ihn? Wieso war das kein Problem? „Weil du nicht mein Eigentum bist“, erwiderte Jeremy und mit innerem Horror erkannte Jean, dass er seine verzweifelten Fragen laut ausgesprochen hatte. „Tut es dir gut, mit uns in einem Bett zu liegen?“ Es dauerte etwas, dann nickte Jean elendig auf die viel zu sanfte Frage seines Kapitäns, der nun mit den Schultern zuckte. „Ich bin es gewohnt, in einem Knubbel an Leuten zu schlafen. Renee?“ „Ebenso.“ Beide sahen ihn erwartungsvoll an und Jean schrumpfte ob der doppelten Zuneigung in sich zusammen. „Es ist okay“, murmelte Renee. „Wenn du es willst, dann ist es okay. Du musst dich dafür nicht schämen.“ Jean starrte auf seine Hände und haderte mit sich, kämpfte mit sich und dem drängenden Wunsch nach Sicherheit, unsicher, ob er ihm nachgeben sollte. ~~**~~ „Okay so?“ „Hm.“ „Wirklich?“ „Ja.“ „Liegst du bequem?“ „Das sollte ich dich fragen, Knox.“ „Nicht ablenken, Mr. Gewitterwolke.“ Jean seufzte und presste seine Vorderseite noch enger an Jeremys Rückseite. Mit einem Arm hatte er dessen Körpermitte umfasst, mit dem anderen Arm hielt er Renees Hand, die sie ihm über Jeremys Kopf entgegengestreckt hatte. Sie hatten die Betten zusammengeschoben und Renee hatte ihre Sachen aus dem Viererzimmer der Foxes geholt. Sowohl Jeremy als auch Renee hatten Jean die Position aussuchen lassen, in der er sich am Wohlsten fühlte und so lagen sie nun hier, Jeremy in der Mitte, mit dem Rücken zu Jean, Renee mit dem Gesicht zu Jeremy und Jean, verbunden mit ihm. Es war das, mit dem Jean sich am Wohlsten fühlte, denn der Gedanke, in der Mitte der Beiden zu liegen, war zwar schön, aber noch unerreichbar. „Passt es, Großer?“ Jean nickte. „Für dich?“ „Immer.“ Er schnaufte und Renee langte nach dem Lichtschalter über ihnen, tauchte den Raum in partielle, nur durch das von draußen einfallende Licht unterbrochene Dunkelheit. „Gute Nacht“, sagte Jeremy und dieses Mal war es tatsächlich genau das für Jean. Eine gute Nacht voller Sicherheit. ~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 63: Ravens vs. Trojans ------------------------------ Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Jeremy mit Ehrfurcht auf die schwarz-grauen Steintürme von Evermore geschaut, deren eckige Zinnen und kleine Fenster wie eine Festung wirkten. Wie ein Bollwerk, das unerwünschte Personen fernhalten sollte. Der Graben vor dem Haupteingang und die schwarze, schwere Holztür zum Innenhof des Colleges machten es auch nicht besser. Es hatte eine Zeit gegeben, da waren die Ravens in seinen Augen eine erstklassige und hochgradig disziplinierte Mannschaft gewesen, die er sich als Vorbild genommen hatte, um sein eigenes Können weiter zu entwickeln. Schon als Kevin ihn kontaktiert und ihn gefragt hatte, ob er sich vorstellen könne, Jean aufzunehmen, hatte das Bild einen Knacks bekommen. Als er mehr und mehr mitbekommen hatte, was Jean in Evermore angetan worden war, war das Bild der perfekten Einheit, der alles überragenden Mannschaft komplett verschwunden und hatte einem Eindruck Platz gemacht, der negativer nicht sein konnte. Und so war er auch nicht beeindruckt, als sie vor diesen Türmen, diesen Mauern standen, sondern verfluchte sie mit allem, was ihm zur Verfügung stand. Hier waren Jean unbeschreibliche Dinge angetan worden und niemand, absolut niemand, hatte eingegriffen. Niemand hatte hingeschaut und niemand hatte etwas getan. Sein Blick glitt zu Jean, der sich die Kapuze seines Hoodies über den Kopf gezogen hatte und angespannt neben ihm stand, das Gesicht kreidebleich. Er zitterte am ganzen Körper und Jeremy schob seine Hand in Jeans. Natürlich zuckte dieser zurück und Jeremy wartete ruhig ab, ob Jean sich ihm entzog. Das geschah nicht und er sah nur zu deutlich den Hilferuf in den grauen Augen, die Angst und die fürchterlichen Erinnerungen, die dahinterlagen. Hilf mir, schrien sie und Jeremy fragte sich, wie oft sie das ungehört geschrien hatten. Zu oft, lautete die ernüchternde und fürchterliche Antwort und er rückte näher an Jean heran. „Hey“, wisperte er liebevoll und so leise, dass er ihn hoffentlich nicht noch weiter verschreckte. „Du bist Backliner der USC Trojans und wir sind hier, um gegen die Ravens zu spielen. Wir werden dieses Gebäude nach unserem Spiel wieder verlassen und du wirst nicht zurückbleiben. Das lassen die Trojans und ich nicht zu“, murmelte er, nicht zum ersten Mal an diesem Tag und wie die Male zuvor auch kam das einer Panikattacke zuvor. Jeans hektische Atmung beruhigte sich nach und nach und der panische Ausdruck in seinen grauen Augen dämpfte sich etwas. Wirklich?, fragten seine Augen und Jeremy nickte. „Wir beide werden da wieder rauskommen.“ Jeans Finger verschränkten sich eisern und durchaus schmerzhaft mit seinen, doch das in diesem Moment war es okay für Jeremy. ~~**~~ Nein. Nein nein nein. Kein anderer Gedanke gellte so laut und so durchdringend in Jeans Gedanken, als sie durch den Eingang des Colleges zum dahinterliegenden Sporttrakt gingen. Er wollte nicht hierhin, er konnte nicht. Dennoch tat er Schritt um Schritt in sein Verderben hinein in die Mauern, die ihn so oft umschlossen und eingesperrt hatten. Er kannte den Geruch nach altem, feuchten Stein, die Geräusche, die seine Schritte auf dem Betonboden machten, in- und auswendig. Er schmeckte die Bitterkeit seines eigenen Blutes, obwohl er unverletzt war. Er fühlte die Kälte, die schon jetzt in seine Knochen kroch, eine unerbittliche Erinnerung an jahrelanges Frieren. Er hörte Stimmen vor dem Eingang und senkte seinen Blick, den Ravens-Fans nicht in die Augen blicken wollen, die ihn verspotten und anfeinden würden. Vielleicht würde er sie auf dem Spielfeld ignorieren können, doch nicht jetzt, wo er sich so roh fühlte, so aufgerieben und wund. „Alter…was ist das denn?“, grunzte Val und Jean zuckte alleine schon ob der Lautstärke zusammen. Instinktiv und ängstlich sah er hoch und konnte im ersten Moment nur Rot identifizieren. Der ganze Innenhof, der sonst so kahl war, war rot und doch war da – so erkannte Jean nach ein paar langen Sekunden – kein Schwarz. Kein Rot-Schwarz, sondern Rot-Gold. Was…? Gleichermaßen betäubt und erstaunt starrte er auf die Menschen, die ihnen gegenüberstanden und deren Aufmerksamkeit sie plötzlich auf sich zogen. Der Junge, der nun auf sie zugerollt kam, kam Jean bekannt vor und durch das Pochen in seinem Schädel hindurch begriff er, wo er ihn das letzte Mal gesehen hatte und wer er war. Favio, der Chef des Trojan-Fanclubs. Er war hier und mit ihm so viele ihrer Fans, dass es Jean schier schwindelig wurde. Sie füllten den ganzen Innenhof aus, sie lärmten und jubelten, sie klatschten, als ihre Mannschaft nun den Hof betrat. „Hi Jer“, grinste Favio und sein Kapitän beugte sich hinunter, umarmte den anderen Jungen gleichermaßen überrascht wie stürmisch. „Was macht ihr denn hier?“, fragte er und Favio lachte. „Vielleicht hat deine Vize mich heimgesucht und mir erklärt, wie wichtig es ist, dass wir heute alle hier sind um für euch bei diesem Spiel zu jubeln und das gruselige Stadion in rot-gold zu tränken und es diesen komischen Schwarz-Roten zu zeigen“, zwinkerte er und Jean starrte zuerst ihn, dann Jeremy an. Aber das war doch viel zu weit. Sie waren viel zu weit von Los Angeles entfernt, als dass sich das lohnen würde. Das hatten sie doch sonst auch nie getan und nun… Jean begriff. Es war nur für ihn. Sie waren wegen ihm hierher gekommen. Sprachlos sah er zu Alvarez, die ihn wild angrinste. „Was braucht man, um einen Krieg zu gewinnen, Moreau? Soldaten. Soldaten sage ich dir“, erklärte sie die Unmöglichkeit der Dinge und er war sich nicht sicher, ob er nicht doch vielleicht träumte oder sich verhört hatte. „Du bist nicht alleine, Monsieur Exy. Niemals mehr.“ Jean konnte nichts sagen, selbst, wenn er es gewollt hätte. Im Angesicht all der freundlichen Gesichter, der bunten Farben, der Menschen, die nicht gegen ihn waren, konnte er es nicht. ~~**~~ Der Schlund der Hölle hatte ihn gefangen und sich hinter ihm geschlossen. Zitternd saß Jean auf der Umkleidebank, seine schmerzenden Hände in den roten Stoff seines Trikots gekrallt. Es gab keine Fenster hier, kein Tageslicht, nur kaltes Neonröhrenlicht und eine laute, kalte Lüftung, die mit ihrem Klacken seinen Herzschlag konterkarierte. Nichts, weder sein Team noch ihr Fanclub, der extra wegen ihm angereist war, konnte die Erinnerungen, die diese Gemäuer mit sich brachten, Einhalt gebieten. Die Umkleiden hatten nie etwas Gutes für ihn bedeutet. Gänsehaut kroch über seinen ganzen Körper und er verkrampfte sich. Knox war die ganze Zeit neben ihm und nur seine Präsenz, körperlich wie geistig in Jeans Gedanken, hielt ihn davon ab, in Panik zu geraten. Sein Kapitän zog sich mit ruhigen, bedachten Bewegungen um und Jean sah aus dem Augenwinkel nackte Haut, die ihn die Augen schließen ließ, weil sie ihn an das erinnerte, was schon einmal in einer dieser Umkleiden geschehen war. War es diese gewesen? Mit Schrecken erkannte Jean, dass er es nicht mehr wusste, dass er sich nicht daran erinnern konnte, wo sich einer der nun Toten ihm aufgezwungen hatte. Er hörte eine Bewegung neben sich und Jeans Augen flogen auf, gerade rechtzeitig, um Knox zu sehen, der sich vor ihm auf die Knie begab und zu ihm aufsah. „Jean.“ Sein Name, leise, aber verbindlich ausgesprochen. Eine beinahe non-verbale Versicherung, dass Riko nicht mehr hier war. Hauchzart legte Knox seine Hand auf seinen Unterarm und drückte versichernd zu. „Wir werden uns gleich aufwärmen müssen“, sagte er sanft und es war vieles, nur kein Befehl. Letzteres wäre Jean allerdings lieber gewesen, um ein Vielfaches. Etwas, dem er sich nicht verweigern konnte, weil die Konsequenzen so fürchterlich wären, dass er seine Angst alleine deswegen schon überwinden müsste. Doch das war hier nicht der Fall und so war es Folter auf ihre ganz eigene Art und Weise. Nicht, dass Jean das jemals irgendwann mit einer Silbe Knox gegenüber erwähnen würde. „Ich brauche noch einen Moment“, krächzte Jean beinahe unhörbar über den Trubel seines Teams hinweg und sein Kapitän nickte verständnisvoll. Das hatte Riko auch getan und dann zugeschlagen. Aber so war Knox nicht. Jean hob seine Hand und berührte sacht die blonden Haare des Jungen. Sie waren nicht dunkel, sondern wie alles an Knox die lebende Antithese zu seinem verstorbenen Kapitän. „Es wird alles gut werden“, sagte Knox mit einer Zuversicht, die Jean nicht teilte, deren subtiles Drängen aber beinahe genauso gut funktionierte wie ein Befehl. „Irgendwann“, murmelte er und atmete tief durch. Einmal, zweimal, ein drittes Mal, bevor er seine Hand zurückzog und sich erhob. Knox bewegte sich ein Stück zurück und erhob sich ebenfalls, trat noch einen Schritt zurück und drehte sich zur Seite, um ihm Raum zu geben, sich umzuziehen. Mit steifen Gliedern schälte Jean sich aus seinem Trainingsanzug und zog sich die Hose und das Trikot über. Er ließ sich erneut auf die Bank nieder, um sich die knielangen Socken anzuziehen, darüber seine Schuhe. Die Handschuhe, der Helm und die Arm- und Beinpolsterung würden später folgen, nach dem Aufwärmen. Schaudernd zog er sich seine Trikotjacke erneut über und verfluchte sich dafür, dass er nicht daran gedacht hatte, sich bereits im Hotelzimmer umzuziehen. „Ich bin fertig“, sagte er noch zittrig und Fahima kam an seine Seite. „Gut, dann gehen wir da jetzt raus und zeigen es ihnen.“ Schweigend, mit klopfendem Herzen und klammen Händen verließ Jean die Umkleide, umschlossen von den Mitgliedern seines Teams. Er hielt den Blick gesenkt, immer auf seine Schuhe, die ihn in all ihrer roten Aufdringlichkeit eine Erinnerung daran waren, dass er kein Raven mehr war. Erst, als sie die Plexiglastüren passierten, hob er wie ferngesteuert seinen Kopf. Weil Riko es ihm so eingeprügelt hatte. Die Augen gen Feind und jeder war ein Feind, solange er die falschen Farben trug. Wie falsch diese Erziehung war, sah er, als er für einen Moment irritiert war. Warum stand er hier, wenn die Ravens dort in der anderen Ecke des Stadions waren? Er musste zu ihnen, er durfte ihnen nicht fernbleiben, er… „Hey, Mit-Backliner, du siehst so aus, als würdest du zu den Schmuddelkindern laufen wollen. Lass das“, grimmte es an seiner Seite und überrascht sah Jean nach links. Alvarez stand neben ihm, ihre übliche Kriegsbemalung im Gesicht, in den Augen eine grimmige Genugtuung und brutale Herausforderung. „Trojan, nicht Raven, du erinnerst dich?“ Ja, das tat er. Was auch der Grund war, warum er von den anwesenden Ravens mit Verachtung und Abscheu gemustert wurde. Mehr als sonst. Wie beim Bankett, nur, dass sie nun nicht zu ihm kamen und ihn bedrängten oder ihn forderten. Nein, sie ergossen ihren Hass stumm über ihn, gepaart mit einem Versprechen auf Gewalt und Demütigung auf dem Spielfeld, das ihnen keiner nachweisen könnte. Williams musterte ihn von oben bis unten und grinste höhnisch. Seine Strafe für das Verhalten auf dem Bankett hatte er schon längst abgesessen und nun war seine Zeit der Rache gekommen, das sah Jean ganz deutlich. Wie er Williams kannte, würde er sich nicht nur an ihm rächen, sondern auch an Knox und am Rest der Trojans. Sie alle würden wegen ihm verletzt werden. „Soll er kommen, wir werden mit ihm fertig werden“, sagte Laila und kam neben ihn. Sie zog ihren langen Zopf nach vorne und stupste ihn sacht mit ihrer Schulter an. „Sollen sie alle kommen, dieses Mal gewinnen wir.“ Jeans Augen zuckten kurz zu ihr, sein altes Team aus den Augen lassend. Er fand nicht die Kraft zu lächeln. Nicht hier, wo Riko begonnen hatte, ihn zu Tode zu prügeln. Er fror ein in der Erinnerung an die schmerzhaften, schrecklichen Minuten, die der Schläger seines verstorbenen Kapitäns immer und immer wieder auf ihn hinuntergeprasselt war. Als er dessen überdrüssig geworden war, hatte er ihn an seinen Haaren vom Spielfeld gezogen und die Geräusche, die Rikos Schläger und seine Wut in seine Erinnerungen gebrannt hatten, ließen Jean auch jetzt nicht los. Wie viele Stunden hatte er hier auf dem Spielfeld verbracht? Wieder und wieder und wieder, weil er dazu gezwungen worden war. Er war hier groß geworden, hatte sich bis zur Bewusstlosigkeit verausgabt. Wieder und wieder hatten Riko und der Herr ihn hier gequält. Auch jetzt noch klangen ihre Stimmen in seinen Ohren. Verächtlich, hochmütig, wütend, hasserfüllt. Nutzlos hatten sie ihn genannt. Eine Schande. Einen Nichtsnutz. Dumm. Ekelhaft. Schwach. Eine Hure. „Trojans!“ Die donnernde Stimme seines Trainers riss Jean abrupt aus seinen Gedanken und er fuhr ruckartig herum. Er sah sich Auge in Auge mit Coach Rhemann, der seinen Blick eisern hielt. „Mannschaft, zu mir!“ Mit abgehackten Bewegungen folgte Jean dem Befehl und blieb in Blickrichtung zu den Ravens stehen. Niemals sollte er ihnen den Rücken zudrehen. Niemals. „Also. Wir alle wissen, dass das heute kein Spaziergang wird. Die Ravens sind ein ernstzunehmender Gegner und sie werden es keinem von euch leicht machen. Insbesondere dir nicht, Moreau, und ich will, dass du mir jedes Wort und jede Geste in deine Richtung meldest. Ohne Ausnahme. Sie sind auf Bewährung und das Komitee sieht sehr genau hin, was sie tun. Wenn es noch einmal zu einem Übergriff wie auf dem Bankett kommen sollte, dann haben sie ernsthaften Ärger an den Backen. Und zwar ohne weitere Warnung. Darüber hinaus werde ich aber auch nicht zulassen, dass sie euch bedrohen, ist das klar?“ „Sehr klar, Coach“, antwortete Knox, wo Jean nicht die Kraft dazu hatte und zittrig atmete er ein. „Gut soweit. Dann wärmt euch jetzt auf und bleibt auf Distanz. Keine Provokationen, keine Schlägereien.“ Neben ihm schnaufte Alvarez und Rhemann hob bedeutungsschwanger die Augenbraue. „Denk nicht mal dran, Sara Alvarez.“ „Würde ich das jemals tun?“ „Würdest du es nicht tun?“ Jean sah zögerlich hoch und ihr Gesicht hatte die Art von Ertapptheit auf den gebräunten Zügen, die ihn schlucken ließ. Er würde es ihr zutrauen, dass sie sich mit den Ravens schlug. Seinetwegen. Das durfte nicht passieren. „So, ab mit euch zum Aufwärmen. Und lasst euch nicht provozieren.“ Mit angstvoll klopfendem Herzen folgte Jean seinem Kapitän und hielt sich bei ihm. Er vermied mit allem, was er aufbringen konnte, den Blick auf die Ravens, deren Gemurmel ihn jedes Mal erreichte, wenn er sie während des Laufens passierte. Ihm war kalt und er war unruhig, trotz den Runden, die er lief. Dass Ajeet die ganze Zeit beim Aufwärmen unsinnige Dinge erzählte und versuchte, das Team von den Ravens und von den mittlerweile hereinströmenden Fans abzulenken, machte die Sache nur marginal besser. In Jeans Fall gar nicht. Er war erleichtert, als sie in ihre Hälfte zurückkehrten und sich dehnten, in ausreichender Entfernung zu den Ravens. Er war erleichtert, als sie mit den Drills begannen und er durch Konzentration und Präzision ausblenden konnte, in wessen Nähe er sich befand, auch wenn das unterirdische Stadion ohne Fenster ihm von Minute zu Minute mehr zusetzte. Als er aus nervöser Ungeschicktheit einen Ball fallen ließ, erstarrte er, den Boden der Halle fixierend. Was hatte er getan? Was erlaubte er sich? Das würde eine Strafe nach sich ziehen, das wusste er doch. Wieso war er so dumm und… „Ey, Gewitterwolke.“ Ängstlich fuhr Jean zusammen und blickte in Vals Gesicht. Ihre pinken Haare waren zu einem geflochtenen Zopf zurückgezogen und ihre braunen Augen musterten ihn streng. „Ist nicht schlimm, okay?“ Jean starrte ihr betäubt ins Gesicht und brauchte einen Moment um zu begreifen, dass er nicht mehr Teil der Ravens war. Dass er nicht mehr bestraft werden würde, wenn er Fehler machte, auch wenn sie fatal waren. Er nickte schwach und nahm den Ball, der ihm aus seinem Netz geglitten war, zitternd wieder auf, als er hinter sich einen entsetzten Ausruf hörte. Knox, erkannte er, ohne dass er hinsehen musste und fuhr herum, in der Annahme, dass dem anderen Jungen etwas passiert sei. Doch dieser lag nicht am Boden und krümmte sich, wie Jean es zunächst angenommen hatte, sondern starrte mit großen, erschrockenen Augen zu einem der viel zu überdimensionierten Bildschirme, die über dem Spielfeld hingen und die bisher Werbung und die üblichen Vorspielvideos gezeigt hatten. Jean hatte noch nie wirklich viel Notiz von ihnen genommen, nun aber konnte er nicht wegsehen. Auch wenn sich sein Hirn im ersten Moment weigerte zu begreifen, was er dort sah. Im ersten Moment fragte er sich, warum dort halbnackte Männer gezeigt wurden, die gleiche Dinge taten, wie die Männer in dem Video, das Renee ihm geschickt hatte. Dieser Eindruck hielt nicht lange, denn nach und nach wurde sich Jean bewusst, was genau er dort sah. Wen er dort sah. Sich selbst, in Jeremys Trojans Trikot, auf seinen Knien. Hinter ihm kniete jemand Anderes und Jeans Hirn flüsterte panisch den Namen desjenigen, der ihm in dieser Nacht fürchterliche Schmerzen zugefügt hatte. Den Kopf des verstorbenen Spielers erkannte man jedoch nicht, da anscheinend ein Foto von Jeremys lachendem Gesicht über das des verstorbenen Ravens geshoppt worden war. Grinsend wackelte es hin und her, während der Körper immer und immer wieder in Jean stieß. Ohne Regung sah Jean sich selbst ins Gesicht, wie er auf die Vergewaltigung reagierte, seine Lippen geöffnet in einem, wie er auch ohne Ton wusste, schmerzerfüllten Schrei. Er begriff, dass er seine eigene Vergewaltigung dort sah, besagtes Video, von dem die Firmenanwältin gesprochen hatte. Er begriff, dass es mit voller Absicht dort gezeigt wurde und er begriff, wie widerlich und ätzend diese Art der Kriegsführung war. Demütigung flammte in ihm auf, heiß und vernichtend und mechanisch wandte er den Blick von der Leinwand ab. Alle in diesem Stadion sahen ihn, wie er vergewaltigt wurde und der kurze Ausschnitt so aussah, als würde er Lust empfinden, obwohl es das Gegenteil war. Ruckartig hob Jean seinen Blick in die Zuschauerränge, die fast voll waren, mehr rot-gold als rot-schwarz. Er hörte das kollektive, entsetzte Aufstöhnen, das durch die Menge ging, aber auch die Pfiffe und das Gegröle, Gejohle und Geklatsche der Ravenfans. Weil er sich nicht traute, in die Gesichter seines Teams zu sehen, suchte er Williams, dessen Lächeln Jean das mitteilte, was er wissen musste. Natürlich hatte er das Video gesehen, natürlich war er daran beteiligt und natürlich nutzte er das, um ihn zu demütigen, um ihn zu demoralisieren und ihn in sein Trauma zurück zu stoßen. Natürlich hatte er Freude daran, Jean jetzt ins Gesicht zu sehen und Zeuge des Entsetzens zu werden, das ohne Zweifel in Jean tobte. Abrupt wandte Jean seinen Blick ab und suchte Renee auf den Zuschauerrängen. Sie und der Rest der Foxes befanden sich jedoch nicht mehr dort, sondern waren mittlerweile auf den Bereich seiner Mannschaft direkt hinter der Plexiglasscheibe gezogen. Day saß neben ihr und war kreidebleich im Gesicht. Selbst auf die Entfernung sah Jean, dass Tränen in seinen Augen schimmerten und dass ihm so übel war, dass er kurz davor war, sich übergeben zu müssen. Das hatte er auch getan, als anscheinend dieses Video aufgenommen worden war. Neil war aufgesprungen und starrte hasserfüllt in Richtung Ravens, nur zurückgehalten durch Andrews eiserne Hand um seinen Unterarm. Renee fixierte einzig und alleine ihn, ruhig und versichernd, in ihren Augen jedoch etwas, das Jean so noch nie gesehen hatte. Er würde es bodenlosen Zorn nennen, war sich dessen aber nicht sicher. Es mochte auch Mordlust sein. Eine Bewegung neben sich ließ ihn zurückweichen und er sah auf Knox hinunter. Jeremy. Die geweiteten blauen Augen seines Kapitäns waren feucht vor Tränen. Sie waren entsetzt, panisch, erschüttert. Sie waren wissend, denn Jean hatte in einem Anflug an selbstzerstörerischer Ehrlichkeit Details der Vergewaltigungen preisgegeben. Jeremy wusste, dass das Video echt war, er wusste, um was es sich dabei handelte. Es zu wissen und zu sehen, stand auf zwei unterschiedlichen Seiten und das erkannte Jean nun. „Jean…“ Er grollte. Unfähig, ein Wort zu äußern, grollte er, ein animalischer Laut irgendwo zwischen Wut und Entsetzen. „Sieh nicht hin“, presste er hervor, hilflos im Angesicht der verstrichenen Gelegenheit. Es war zu spät. „Was ist das für eine gottverdammte Scheiße?“, donnerte Rhemanns Stimme in die betäubte Stille und Jean zuckte zusammen. Er wusste, dass er sich entschuldigen sollte, weil es wegen ihm erneut eine Verzögerung war, doch mit einem Blick auf ihren Trainer erkannte er, dass er überhaupt nicht Ziel des Zorns war. „Jetzt reicht es. Knox, mitkommen, sofort“, grimmte er und im ersten Moment reagierte Jeremy gar nicht. Erst, als Rhemann pfiff, riss er sich anscheinend zusammen und sah zu ihrem Berg von einem Coach auf. Er bewegte sich aber immer noch nicht und anstelle dessen trat Jean einen Schritt nach vorne. „Was wollen Sie tun?“, presste er hervor und Rhemanns brennender Blick durchdrang ihn bis in sein Innerstes. „Ich habe dir gesagt, dass ich nicht zulasse, dass sie dir etwas tun, Moreau. Sieht das da so aus, als würden sie dich in Ruhe lassen? Nein. Ich lasse nicht zu, dass sie irgendein Sexvideo mit euren Köpfen zeigen. Das hat mit Sport nichts mehr zu tun. Mir reicht’s, ich sorge dafür, dass sie disqualifiziert werden. Jetzt.“ Ungeduldig wandte Rhemann sich ab und ging mit herrischen Schritten in Richtung Schiedsrichterbank. Erst verspätet begriff Jean, was ihr Coach wirklich gesagt hatte und fuhr erschrocken zusammen. Wenn dieses Spiel nicht stattfand…dann war alles umsonst gewesen. Dann war das Leid und all das, was er in den letzten Wochen und Monaten durchgemacht hatte, für nichts gewesen. „Nein!“ Panisch ließ er Knox stehen und eilte ihrem Coach nach, erreichte ihn, als er bei diNunzio ankam, der herrisch den Trainer der Ravens zu sich heranwinkte. Jean schluckte. DiNunzio, einer der erfahrensten und gnadenlosesten Schiedsrichter, den ihre Liga aufzubieten hatte, schnaufte missgelaunt. Er wartete, was bis der Trainer der Ravens ebenfalls da war und deutete dann auf die Leinwand. „Abstellen, sofort“, bellte er und Miura nickte bleich und unerfreut. Rhemann grollte. „Nein, das reicht mir nicht. Ich will die Disqualifikation“, donnerte sein Coach und Jean sah ihm entsetzt ins Gesicht. „Ich will, dass die, die dafür verantwortlich sind, die volle Strafe tragen. Das geht auf das Konto Ihrer Mannschaft und Ihrer Fans und das reicht jetzt.“ Bedrohlich überragte Rhemann Miura und Jean schluckte ängstlich. „Man sollte meinen, dass nach dem Bankett durch das Komitee klar und deutlich gemacht worden ist, dass sich Rivalitäten auf das Spielfeld beschränken und dass jeglicher Angriff unerwünscht ist und bestraft wird. Das hier ist mehr als ein Angriff und Sie sind dafür verantwortlich. Ihr Team, das Sie nicht im Griff haben und das Sexvideos über Ihre Bildschirme laufen lässt, die meine Spieler zeigen.“ Rhemann brüllte fast und Jean zog instinktiv seinen Kopf zwischen die Schultern. „Ich werde dafür sorgen, dass dieses Video abgestellt wird“, erwiderte Miura mit schwerem, japanischen Akzent und deutete ein respektvolles Nicken an. Ein verächtliches Schnauben verließ Jeans Lippen, ohne dass er es aufhalten konnte und wollte. Wie es schien, übertrug sich die Wut seines Coaches auch auf ihn, sickerte langsam in die Angst und die Bestürzung ein. „Sind Sie dabei so langsam wie bei Ihrem Eingreifen auf dem Bankett?“, fragte er in verächtlichem, beißenden Japanisch und die schwarzen Augen zuckten zu ihm. Miura passte sein Ton nicht, das sah er Jean sehr deutlich, doch er fürchtete sich nicht vor dem anderen Mann. Im Gegenteil. Seine eigene Wut blieb und setzte sich in seinem Magen fest. In einem eiskalten Griff hielt sie ihn fest und erfüllte ihn mit einer Kälte, die Jean in Los Angeles selten gespürt hatte, wohl jedoch in Evermore. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde er ruhiger und innere Totenstille kehrte ein. „Moreau, spar dir das. Das Spiel wird nicht stattfinden. Das hat nichts mehr mit Sport zu tun. Rein gar nichts.“ Jean schluckte angesichts des eindeutigen Befehls seines Coaches, bei dem allen in ihm schrie, dass er gehorchen solle. Es war so in ihn hineinerzogen worden, brutal, jahrelang. Er fürchtete Gewalt, doch er konnte auch nicht zulassen, dass alles, was sie durchgemacht hatten, zunichte gemacht wurde. Er musste spielen, er musste gegen seine alte Mannschaft gewinnen. Er musste diesen Teufelskreis durchbrechen. „Nein, Coach!“, sagte er und tat das Undenkbare. Er berührte Rhemann an seinem Unterarm, zaghaft und immer darauf eingestellt, geschlagen zu werden. „Bitte.“ Rhemann musterte ihn sekundenlang stumm und nickte dann knapp zu einem Punkt abseits der Gruppe und hin zu Jeremy, der unweit von ihnen stand und dessen Verzweiflung deutlich sichtbar war. Noch ein Grund mehr, warum Jean an seiner Wut festhalten konnte. Er wollte Jeremy nicht so sehen, er wollte nicht, dass der andere Junge noch mehr traumatisiert wurde durch das, was Jean zugestoßen war in seinem Namen. „Jean…?“, flüsterte er und hinter ihm sah Jean die Trojans ratlos und mutlos stehen. Das durfte nicht sein. Sie durften sich durch dieses schreckliche Video nicht herunterziehen lassen, nicht, nachdem sie so viel trainiert hatten. „Moreau, das kann ich ihnen nicht durchgehen lassen. Dieses Spiel darf nicht stattfinden. Die Ravens gehören disqualifiziert. Diese Mannschaft ist für die Anlage verantwortlich. Und sieh dir ihren Trainer an, er hat es nicht eilig, dieses…Video zu beenden. Und da reden wir noch nicht einmal von der Frage, woher es stammt, ob es echt ist und ob du deine Zustimmung zur Verbreitung gegeben hast.“ Vehement schüttelte Jean den Kopf. „Nein… nein, das habe ich nicht. Ich wusste nicht, dass sie es machen. Ich…“ Er verstummte und suchte Jeremys Blick. „Ich bin das in dem Video, aber es ist nicht Knox.“ Dass es ein Video einer Vergewaltigung war, verschwieg er, denn selbst er wusste, dass ihr Coach sie dann erst recht nicht spielen lassen würde. „Darum kümmern wir uns auch später, denn ich werde nicht zulassen, dass jemand Videos verbreitet, die er von dir oder einem anderen Trojan ohne Zustimmung gemacht hat.“ „Coach, ich muss gegen sie spielen sonst kann ich nie damit abschließen, was passiert ist. Die letzten Wochen waren fürchterlich. Bitte!“ Er knurrte wild und zuckte innerlich zusammen ob des Tons, den er gegenüber seinem Coach und seinem Kapitän anschlug. „Bist du dir sicher?“, fragte Jeremy unsicher und Jean grollte. Er nickte knapp und bohrte seine Augen in die seines Coaches. „Ich stehe das nicht noch einmal durch“, sagte er mit fester Stimme. „Das musst du auch nicht, denn wenn sie disqualifiziert werden, dann sind sie sowieso raus.“ „Das ist nicht das Gleiche!“ Rhemann verstummte und musterte ihn nachdenklich. Endlos lange Sekunden hielt er Jean im Unsicheren, bevor er schlussendlich nickte und sich an diNunzio wandte, der ihn kritisch maß, dann aber ebenfalls seine stumme Zustimmung erteilte. „Meinetwegen“, brummte er, mit warnendem Blick auf den Coach der Ravens. „Das Spiel findet statt. Sehe ich sowas“, er deutete auf den Bildschirm, „oder so etwas Ähnliches noch ein einziges Mal, dann breche ich das Spiel ab und sorge für eine Disqualifizierung. Ist das klar? Das hier ist ein sauberes Spielfeld. Krieg können Sie außerhalb führen und die rechtlichen Konsequenzen dafür tragen, klar?“ Rhemann und Miura nickten und auch Jean stimmte dem innerlich zu. Das war nicht ideal, aber damit konnte er leben. Jeremys Hand, die sich in seine stahl, war Versicherung und Frage zugleich und Jean wandte sich seinem Kapitän zu, der sichtlich erschüttert war. „Ich bin mir nicht sicher, ob das gut ist“, sagte er leise und Jean sah auf ihn herunter. Ruhig, zornig, mit eisigem Hass für die Ravens. Sein Blick huschte zu der Leinwand, die mittlerweile schwarz war und über die Zuschauerränge, die kollektiv verstummt waren. Im Hintergrund lief eine Lautsprecherdurchsage, die erklärte, dass jeder weitere Akt der Unsportlichkeit seitens der Mannschaft und seitens der Fans mit sofortiger Entfernung aus dem Stadion geahndet werden würde und dass dazu in den kommenden Minuten die Sicherheitskräfte verdreifacht werden würden. Die Stimme des Stadionsprechers bat eindringlich um Fairness und Akzeptanz der gegnerischen Mannschaft. Jean war zum Kotzen zumute. Als wenn Fairness jemals in Evermore ein Thema gewesen war. „Ich schon“, grimmte Jean und umschloss seinen Schläger mit eisernem Griff. „Aber das Video…“, begann Jeremy, verstummte dann jedoch. Jean bleckte die Zähne. „Ja, sie haben mich und sich dabei gefilmt“, gestand er ein und seine Stimme war vor Zorn beinahe unhörbar. „Es ist fürchterlich mit anzusehen und es tut mir leid, dass du es sehen musstest. Aber was wollen sie denn noch mehr machen als das, was dort geschehen ist? Wollen sie es in die Welt hinausposaunen und damit zeigen, dass sie es geduldet haben? Alleine das, was sie jetzt schon getan haben, wird der Familie ausreichen, um jeden, der damit zu tun hatte, aus der Mannschaft zu entfernen, wenn nicht sogar anderes.“ Das Lächeln, was seine Lippen nach oben zog, war dunkel, als das wilde Tier, was Evermore in ihm herangezüchtet hatte, wieder zum Vorschein kam. „Ich will sie im Spiel dafür fertig machen, Jeremy. Mit den Trojans. Ich will ihnen ihre Methoden um die Ohren schlagen und mit ihnen den Boden wischen. Wieder und wieder und wieder. Ich will ihnen zeigen, wie stümperhaft und unwürdig sie sind.“ Jeremy blinzelte und langsam verschwand die Bestürzung auf seinem Gesicht sowie das Zittern in seinem Körper. Er begriff, was Jean brauchte und er konnte sich damit arrangieren, konnte sich auf das einlassen, was kommen würde. Jean sah zu ihrem Team. Er bedeutete Jeremy stumm, ihm zu folgen und ging entschlossen zu den Trojans. ~~**~~ Jeremy fixierte Williams mit eiserner Ruhe, als er zum Münzwurf ging, der ihr Spiel einläuten würde. Mit hochmütiger Arroganz erwiderte der Raven sein Blick und hielt es nicht für nötig, ihn zu grüßen. Dass Jeremy damit gut leben konnte, war unumstritten, denn viel zu sehr waberten Jeans Worte in seinen Erinnerungen, dass der jetzige Ravenskapitän sich Jean ebenfalls aufgezwungen hätte, wenn Riko die Erlaubnis dazu erteilt hätte. Was für ein widerliches Arschloch. Doch nicht nur das. Was heute passiert war, hatte sein Team nachhaltig schockiert und Jeremy verspürte noch immer Übelkeit in sich, wann immer er an das Video von Jeans Vergewaltigung dachte. Er ekelte sich, vor den Ravenfans, vor den Ravens selbst und vor dem Trainer. Er ekelte sich vor dieser Familie, unter deren Augen all das überhaupt erst hatte geschehen können. DiNunzio stand zwischen ihnen, das Gesicht unerfreut und die Mimik eiskalt. „Ich will ein faires Spiel meine Herren“, sagte er warnend und Jeremy erwiderte seinen Blick. „An uns soll es nicht liegen, Sir“, erwiderte er, während der leitende Schiedsrichter die Münze warf. „Wir Trojans wissen, was Sportsgeist ist.“ Williams schnaubte verächtlich, sagte jedoch nichts und der Münzwurf ging zugunsten der Ravens aus. Sollten sie, die Trojans waren vorbereitet. Jeremy streckte seine Hand aus, das Lächeln auf seinen Lippen ein Ding der Unmöglichkeit. „Auf ein faires Spiel“, sagte er mit Zorn in seiner Stimme und Williams schlug ein, zerdrückte seine Hand dabei so sehr, als wollte er sie ihm schon vor dem Spiel brechen. Jeremy verzog keine Miene und löste sich schließlich von dem gegnerischen Kapitän. „Wir werden euch alle machen“, zischte Williams, als Jeremy sich zu seiner Mannschaft umdrehte und diNunzio gab ein missbilligendes Schnalzen von sich. Jeremy hob die Augenbraue. „Nein, werdet ihr nicht, weil ihr ohne Kevin und Jean nichts seid und deswegen zu solchen Mitteln wie dem Video greifen müsst“, erwiderte Jeremy und wartete die Antwort des anderen Jungen nicht ab. Er ging zurück zu ihrer Bank um auf den Aufstellungsaufruf zu warten. Jean hatte sie alle davon überzeugt, dass sie spielen mussten, ganz gleich, was die Ravens versuchten und mit welchen schmutzigen Tricks sie spielten. Er hatte eindringlich gefordert, dass all die Mühen der letzten Wochen und Monate nicht einem kurzfristig abgesagten Spiel, das vielleicht nachgeholt werden würde, zum Opfer fallen sollten. Er hatte heruntergespielt um was für ein Video es sich dabei handelte. Jeremy hatte dem stumm und mit Magenschmerzen beigewohnt. Er wusste, dass es echt war. Er wusste, was es zeigte und warum das passierte. Dort, wo er panisch und bestürzt war gewesen, war Jean gefasst und erfüllt mit eiskaltem Zorn und hatte ihm somit zumindest einen Grundstock an Ruhe gegeben. Jeremy nahm von Alvarez seinen Helm und seinen Mundschutz an. Den Rest trug er schon, nach dem Aufwärmen hatte er sich entsprechend gerüstet. Er sah in die Runde der angespannten Gesichter und nickte. „Bereit?“ Laila, Alvarez, Fahima, Logan und Jean nickten und Jeremy zog seinen Helm auf. Er winkte den Trojans, die auf der Bank saßen und salutierte Kevin, in dessen grüne Augen nur langsam Leben zurückkehrte. Neil grinste ihn dunkel an und zum ersten Mal in seiner bisherigen Exykarriere spürte Jeremy so etwas wie Blutlust. Er wollte, dass sie mit den Ravens den Boden aufwischten, er wollte ihnen zeigen, dass Fairness und Sportsgeist der Weg waren und nicht Folter und Vergewaltigung. Bestimmt schob er sich den Mundschutz zwischen die Lippen und sah an ihrem Trainer hoch, der ihn dunkel maß. „Pass auf dich auf, Junge“, grimmte Rhemann und Jeremy nickte. Sein Name wurde aufgerufen und er sprintete los, erreichte seine Position und riss unter tosendem Applaus ihrer Fans den Schläger nach oben, grüßte sie kämpferisch. Mit Stolz sah er, wie der Rest seiner Mannschaft folgte und mit Sprechchören und Applaus empfangen wurden, der die Buhrufe der gegnerischen Fans mit Leichtigkeit überdeckte. Er nickte Jean zu, dessen Hände sich um den Schläger gekrallt hatten und widmete seine ruhiger werdende Konzentration auf das gegnerische Team, die nun ebenfalls Aufstellung nahmen. Williams und Reacher waren die Striker, Johnson Offensive Dealer, Jenkins und Engle Backliner. Im Tor stand McMillian und Jeremy kam nicht umhin, über die Horroraufstellung zu schnauben. Die Ravens hatten das brutalste Team zusammengestellt, das sie hatten finden können. Der Signalton ertönte und die Ravens begonnen das Spiel. Mit tödlicher Präzision gab McMillian auf und brachte den Ball beinahe bis in ihre Hälfte. Adrenalin schoss in Jeremy hoch, als die Striker der Ravens vorschossen und ihr erster Vorstoß an Al und Jean zerschellte, die ihnen alles entgegensetzen, was sie aufzubieten hatten. Während Fahima und er sich in Bewegung setzten, um ihren gegnerischen Schatten zu entkommen, holte sich Alvarez den Ball und schleuderte ihn mit aller Macht gegen die Bande in seine Richtung. Jeremy fing ihn, während er mit voller Wucht gescheckt wurde und Johnsons Schläger ihm mit der Wucht des Blocks fast den Arm brach. Jean hatte sie auf dieses Manöver sehr eindrücklich vorbereitet und so schleuderte Jeremy den Ball zurück zu Logan, der ihn zu Jean spielte. Jean wurde ihn los und passte ihn zurück an Fahima, die weit genug nach vorne sprintete um einen Schuss auf das Tor zu wagen. Vergeblich, denn McMillian hielt eisern und Fahima wurde durch Engle gegen die Bande gequetscht. Ein Check am Rande der Legalität, was den Spieler eine schlechtgelaunte Ermahnung von diNunzio einbrachte. Sie bekamen den Ball und wagten einen zweiten Vorstoß auf das gegnerische Tor, der mit erhöhter Brutalität geblockt wurde. Jeremy war nicht in der Lage dazu, sich freizulaufen, ganz zu schweigen von Jean und Alvarez, die anscheinend die Hauptziele des Ravenhasses zu sein schienen. Mehr als einmal landete Jean auf dem Boden, ließ sich zusammen mit dem angreifenden Ravensstriker fallen und federte den Stoß ab. Laila blockte kunstfertig jeden Schuss auf ihr Tor und kassierte dafür mehr als einmal einen zufällig in sie hineinschlitternden Raven. Von Minute zu Minute wurden die Ravens verbissener, brutaler und gewaltbereiter, insbesondere dann, als Fahima das erste Tor für die Trojans machte. Es schien, als sei dadurch ein Damm gebrochen und sie wurden mit einer Welle der Gewalt und der Rücksichtslosigkeit überschwemmt, die mit taktischem Können nichts mehr zu tun hatte. Hier ging es nur um Demoralisierung und Vernichtung innerhalb gültiger Spielregeln, damit so jede rote Karte vernichtet werden konnte. Jeremy war schweißnass und schweratmend, als er erkannte, wie sich Jeans eigene Art zu spielen veränderte. Er wusste nicht genau, wann es passiert war, doch Jeremy hatte den Eindruck, als stünde ein fremder Mensch mit ihm auf dem Spielfeld, als sie ihren nächsten Spielzug machten. Nach seiner Ankunft in L.A. hatte Jean die Spielweise der Trojans nach und nach adaptiert und in seine Bewegungen mit einfließen lassen. Diese ausgewogene Art des Spiels sah er nun nicht mehr und Jean legte nunmehr eine zerstörerische Arroganz und Überlegenheit an den Tag, die Jeremy schaudern ließ. Insbesondere Williams gewann bei ihm keinen Boden und verlor jeden Ballkontakt. Einen Check erwiderte Jean mit kontrollierter, aber roher Gegengewalt, die im Rahmen alles Zulässigen war, jedoch vor Arroganz nur so triefte. Als sich Jean mit seinem Wonder Woman-Move, wie sie seine schlitternde Vorwärtsbewegung auf dem rechten Knie liebevoll getauft hatten, den Ball sicherte und ihn mit aller Macht nach vorne in die gegnerische Hälfte spielte, war Jeremy schon längst da und holte ihn sich mit seinem Schläger von der Bande. Das Publikum toste, als er sich von Jenkins‘ brutalem Block befreien konnte und mit voller Wucht auf das Tor zielte, das hinter dem Ravens Torhüter rot aufleuchte. Jeremy schrie und riss den Schläger in die Höhe. Seine Mannschaft feierte und sie zementierten damit den Zorn und der Hass der Ravens auf sein Team, die ihnen den Rest der ersten 45 Minuten die Hölle auf Erden bereiteten. Fahima musste wegen eines verstauchten Knöchels vom Spielfeld geholt werden, für das Williams eine gelbe Karte kassierte. Laila bekam einen Schlag in den Rücken, der sie für Sekunden zu Boden schickte. Rhemann tauschte sie nach und nach alle aus, ersetzte sie durch Trojans, die nicht grün und blau geprügelt waren und doch brachte es nichts. Zur Halbzeit lagen sie mit zwei Punkten im Rückstand. Zwei unverdiente Tore für die brutalten Arschlöcher, fluchte Jeremy stumm, als sie in die Kabine humpelten. ~~**~~ Zu sagen, dass Jeans gesamter Körper schmerzte, war die Untertreibung des Jahres. Die Ravens ließen keine Gelegenheit aus, um sich an ihm zu rächen und ihn mit ihren Checks zu Boden zu prügeln. Jeremy, Fahima, Laila, Alvarez, Logan, Ajeet, Val und Ellie ging es da nicht besser. Cilian hielt sich missgelaunt einen Eisbeutel an sein rechtes Auge, das trotz Helm einen Schlägertreffer abbekommen hatte. Abini und Fahima hatten ihre Knöchel hochgelegt und würden für den Rest des Spiels nicht mehr einsetzbar sein. „Was für Arschlöcher“, grollte Logan und Jean konnte ihm nur beipflichten. Das hatte auch nichts mehr mit der Erziehung durch den Herrn zu tun. Das hier war Tollwut, das war Hass in ein Spiel gepresst. Das hier war Zerstörung, die mit Sport nichts mehr zu tun hatte. Den Ravens fehlte jedwede Disziplin und Finesse, ihr spielerisches Können nur darauf gerichtet, dass sie gewannen und das um jeden Preis. Rhemann kam zu ihnen in die Kabine und musterte sie alle kritisch. „Wie schlimm ist es?“, fragte er in die Runde und es war Jeremy, schweißnass und mit einem beginnenden Hämatom an seinem Kiefergelenk, der grinste, der grimmig nickte. „Eine Halbzeit haben wir überlebt. Die zweite packen wir auch noch.“ Kritisch runzelte ihr Coach die Stirn und schnaufte schließlich. Ihre Teamärztin neben ihm hielt sich mit ihrer Missbilligung ebenfalls nicht zurück und sah streng in die Runde. „Wir werden nicht um jeden Preis gewinnen“, knurrte Rhemann und Alvarez lachte und zuckte zusammen, als sie damit ihre aufgesprungene Lippe belastete. „Und ob wir das Ding jetzt gewinnen werden. Ich werde diese Bastarde in den Staub treten, Coach und ich bin mir sicher, dass Moreau hier auch noch Reserven hat, oder?“ Ernst und entschlossen nickte Jean und Rhemann maß ihn dunkel. „Hast du wirklich noch welche?“ „Ja, Coach.“ „Ich habe das Gefühl, dass sie dich zerfleischen werden, wenn du da nochmal rausgehst.“ Jean spürte das Lächeln auf seinen geschwollenen Lippen mehr, als dass er sich wirklich bewusst dafür entschieden hatte. Er wusste sehr wohl, wie es aussehen mochte, kalt und Ravenslike, gnadenlos, denn genauso fühlte er sich. Es brachte nichts, seiner alten Mannschaft ausschließlich mit den Regeln der Trojans entgegen zu treten. Es gab für ihn nur eine Sprache, die die Ravens verstanden. Die Sprache des Stärkeren. „Hyänen jagen im Rudel um ihre Beute zu zerfleischen. Das da draußen ist aber kein Rudel. Sie haben keine Einheit, sondern lediglich ihre Brutalität. Sollen sie es versuchen, ich…wir haben etwas Anderes. Technik und Teamgeist“, sagte er dunkel und sah in die Runde. Stille folgte seinen Worten und fast machte Jean sich darauf gefasst, das Falsche gesagt zu haben als jemand klatschte. Aus einer Person wurden viele und bald johlte und grölte die ganze Kabine und skandierten lauthals seinen letzten Satz. Rhemann wiederum nickte ihm schweigend zu und berührte ihn langsam und vorsichtig an der Schulter. „Du packst das, Moreau. Du bist stark. Aber wenn es nicht mehr geht, hole ich dich aus dieser Hölle, Sieg hin oder her.“ Für einen Augenblick schwieg Jean. „Danke…Coach“, murmelte er dann und der ältere Mann nickte. „Okay, dann raus mit euch.“ Sie verließen die Kabine und Jean lauschte auf den Pfiff, mit dem die zweite Halbzeit begann. 45 Minuten noch, die sie durchstehen und gewinnen mussten, denn nichts Anderes würde Jean akzeptieren. Sie durften nicht damit durchkommen, nicht mit ihrer bodenlosen Gewalt. Er setzte alles daran, ihnen das Leben zur Hölle zu machen und ihnen jeden einzelnen Ball abzujagen, damit sie nicht zu Ajeet durchkamen. Das wurde ihm mit Hass vergolten und eines ums andere Mal blieb Jean nichts übrig, als die Gewalt unbeantwortet zu lassen. Nicht jedoch jetzt, als Williams mit ihm nach einem Check zu Boden ging und auf ihm lag. Mit einem lüsternen Grinsen starrte er auf Jean hinunter. „Gewöhn dich schonmal dran, Bückstück. Dich kriege ich dann, wenn du es am Wenigsten erwartest und schiebe dir meinen Schwanz bis zum Anschlag in deinen Verräterarsch“, wisperte er leise genug um für die nahestehenden Schiedsrichter unhörbar zu sein und hielt Jean für einen Moment unten und rieb sich an ihm. Ekel wallte in Jean hoch und er bäumte sich auf, warf Williams von sich herunter, kam dabei behände auf eines seiner aufgeschürften Knie. Mit eiskaltem Zorn starrte er den Ravenskapitän an und bleckte die Zähne. „Du wirst niemals Hand an mich legen und wenn doch, dann bereust du jede einzelne Sekunde daran“, grollte er laut genug für diNunzio, der sie nun erreichte und bereits im Laufen die gelbe Karte zog und sie mit einem bestimmenden, schrillen Pfeifen in die Höhe hielt. Und den Kapitän der Ravens damit vom Feld schickte, der bereits in der ersten Halbzeit eine gelbe Karte kassiert hatte. Jean grinste wild in das hasserfüllte Gesicht des widerlichen Arschlochs und drehte sich weg. Er wusste, dass jeder Ersatz nicht derart brutal wäre wie Williams selbst und das nutzte er nun. Er schlug die Ravens in ihrem eigenen Spiel der Arroganz und Demoralisierung. Die Pässe, die er an Jeremy und Ricardo verteilte, waren auf den Punkt genau und über die Bande abgemessen. Jean nutzte jede Lücke, die sich ihm bot, jeden Block, den er durchführen konnte. Er passte zu Elena, um die Ravens auszupowern, Elena wieder zu ihm zurück, und schlussendlich zu ihren Strikern, die die zwei verlorenen Punkte unter Applaus und Getöse der Trojanfans innerhalb von Minuten aufholten. Es schien, als sei damit der Bann gebrochen, denn trotz allen Hasses, der ihnen entgegengebracht wurde, liefen sie sich immer öfter frei, waren immer öfter ohne Deckung und gelangten in gefährliche Nähe des gegnerischen Tores. Sowohl Ricardo als auch Jeremy standen im Abseits, als Ajeet Jean zupasste und er die zehn Schritte, die ihm zur Verfügung standen, beinahe bereits ausgereizt hatte. Sorgfältig balancierte Jean den Ball in seinem flacheren Netz und verschaffte sich in Sekundenbruchteilen einen Überblick über die Lage. Er blieb stehen, drehte sich zur Seite und deutete an, wieder über die Bande zu spielen, worauf sowohl die Ravensabwehr als auch der Torhüter reagierten. Doch Jean täuschte den Schuss nur an und änderte im letzten Moment den Bewegungswinkel. Die Lücke, die er nutzen konnte, befand sich direkt vor ihm und schenkte ihm nun freie Bahn, als er den Ball direkt in Richtung Tor schickte, in einem Akt der rohen Kraft und Gewalt, befeuert durch beinahe in Jahrzehnt an Gewalt und Folter, an Erniedrigung und Wegschauen. Sie wurde befeuert durch seinen Hass auf jeden einzelnen Raven und jede einzelne Sekunde Angst, die er jemals in Anwesenheit des Teams gehabt hatte. Er schrie all das hinaus, was sich mit diesem Wurf löste und mit dem Ball brutal gegen die Torwand der Ravens donnerte. Es leuchtete rot auf und das ganze Stadion war für einen Moment in absolutes Schweigen getaucht. Das umso tosenderem Applaus und frenetischem Geschrei wich. Über das Spielfeld hinweg suchte er den Blick seines Kapitäns, der wild mit dem Kopf nickte und die Arme in die Höhe riss. Er jubelte ihm zu, ebenso wie der Rest des Teams und es war ein wunderbares Gefühl. Es berauschendes Gefühl der Wiedergutmachung mit sich selbst. Der Rache an den Ravens. Als der Schiedsrichter schließlich zum Weiterspielen pfiff, war kein Halten mehr. Sie ließen die verbliebenen Ravens keinen Zentimeter mehr an Boden gewinnen, im Gegenteil. Stück für Stück eroberten sie das komplette Feld und dominierten das Spiel. Sie gaben den Takt vor, das Spiel, die Tore, sie zerstörten mit Teamgeist und Fairness den dunklen Nexus der gegnerischen Mannschaft und damit auch Jeans Angst vor ihnen. Und vor Evermore. Ja, das hier war ein Krieg. Es war eine Schlacht und diese Schlacht war schon gewonnen noch bevor sie offiziell beendet war. Als der Abpfiff erklang, führten sie mit vier Punkten. Vier vollen Punkten. Erst jetzt wurde sich Jean bewusst, dass er eine volle Hälfte gespielt hatte und dass der Coach ihn nicht ausgewechselt hatte, in dem Wissen, dass er es gebraucht hatte. Jean keuchte, atmete schwer und erst jetzt kam er dazu, sein dahinfliegendes Herz zu bemerken, seinen über und über schmerzenden Körper, seine schreienden Muskeln. Er stand als Sieger auf dem Feld, das er als halbtotes Opfer verlassen hatte. Blinzelnd sah er sich um und hörte den Jubel. Er sah den Applaus und die von ihren Sitzen springenden Fans der Trojans. Er sah seine Mannschaft, wie sie jubelten und schrien. Er sah die Foxes, die es seiner Mannschaft gleichtaten und nichts, aber auch gar nichts, was er sah, konnte an das heranreichen, war er in sich fühlte. Den Triumph. Die Freude. Die Ekstase. Die Erleichterung. Und dennoch war er eins mit seiner Mannschaft und den Menschen, die ihn die letzten Monate vor dem Tod bewahrt hatten. Er war eins mit den fröhlichen Menschen aus Los Angeles, mit der Sonnenscheinmannschaft, die so chaotisch gewesen war in ihrer Art zu trainieren. Die ihn so überschüttet hatten mit Freundlichkeit und Freundschaft, obwohl er ein Fremdkörper gewesen war. War, denn jetzt gehörte er zu ihnen, er war ein Teil von ihnen. Er war ein Trojan, mit Leib und Seele. Jean sah sich um und würde mit einem Mal hochgehoben. Mehr erstaunt als ängstlich starrte er auf diejenige hinunter, die das vollbrachte und blickte in Valentines grinsendes Gesicht, das ihn anstrahlte. Dreimal wurde er herumgewirbelt, bevor sie ihn absetzte und er inmitten seiner feiernden und lachenden und weinenden Mannschaft stand, durchmischt mit den Foxes, die mit ihrem Trainer auf das Feld gelaufen waren und ihren Sieg feierten, der Jean noch nie so süß vorgekommen war. Kein einziger Sieg mit den Ravens war so gewesen, so berauschend und elektrisierend. Jeremy hatte sich den Helm bereits vom Kopf gerissen und Jean tat es ihm nun gleich, löste seinen Mundschutz wie auch seinen schweißgebadeten Schopf von dem Polster des Schutzes und starrte seinem Kapitän in die Augen, der unweit von ihm stand und wartete. Es bedurfte nur eines minimalen Nickens und Jeremy sprintete auf ihn zu und zog ihn in eine enge, glückliche, leidenschaftliche Umarmung. Jean verspürte ein überschäumendes Kribbeln in seinem Magen, das, wie er nun erkannte, viel mehr war als das, was er bisher zu fühlen vermochte. Es war keine Leidenschaft, sondern viel mehr. Viel, viel mehr. Es war das, was Jean niemals zuvor in dieser Intensität gefühlt hatte, was aber schon seit längerer Zeit dagewesen war. Sachte, unterschwellig, nun ein Sturm an Emotionen, der ihn komplett erfüllte. Er hatte ein Wort dafür, wagte aber noch nicht, es zu denken und sich damit eindeutig und endgültig einzugestehen, was es war. So schloss er seinen Kapitän lediglich fest und unnachgiebig in seine Arme und sog dessen Präsenz in sich auf wie die Luft, die er zum Atmen brauchte. „Du hast es geschafft, Jean Moreau, du hast es wirklich geschafft“, murmelte Jeremy und Stolz erfüllte Jean. „Wir haben es geschafft“, erwiderte er und löste sich gerade soweit von Jeremy, dass er ihm in die Augen sehen konnte. „Du hast mich hierhin gebracht, du und dieses verdammte Team“, murrte er liebevoll und Jeremy lachte schallend. „Gern geschehen!“ Jean schnaubte amüsiert und sein Blick fiel auf Day, der unweit von ihm stand und in dessen Augen Stolz stand. Viel zu viel Stolz, als dass es Jean unberührt ließ. Wieviel entspannender war es da, in Andrews neutrales Gesicht zu schauen, das dem ganzen Treiben wenig erfreut zusah. Oder Neil, in dessen Augen Genugtuung und Schadenfreude in Richtung Ravens, aber auch Freude und Stolz in Richtung Trojans stand. Jeremy drehte sich in seinen Armen um und warf Jean einen fragenden Blick zu. Jean seufzte, nickte und Jeremy verstand ebenso nonverbal. Sacht löste er sich von Jean und war mit einem Satz bei Kevin, den er ohne viel Federlesens ansprang, schweißgebadet, wie er war. „Siehst du, siehst du, SIEHST DU! Wir haben es geschafft, die Trojans haben es geschafft, wir haben sie gepackt! Endlich!“, sagte er laut genug für den Rest des Teams und Kevin umarmte ihn so leidenschaftlich und eng, dass sich ein Stich an etwas, das Jean mittlerweile als Eifersucht klassifizieren konnte, in seiner Brust ausbreitete. Das Schlimme war…er wusste gerade nicht, auf wen. „Ja, das habt ihr und euer Spiel war großartig. Präzise Pässe, ein harmonisches Team, kluge Spielideen und Disziplin, wie ich sie in meiner eigenen Mannschaft schmerzlich vermisse. Allerdings hättet ihr…“ Bevor Day weitersprechen konnte, hielt Jeremy ihm mit einem tadelnden Laut den Mund zu. „Ruhe. Nicht jetzt, Kevin Day. Später darf die Kritik kommen.“ Das, was sonst für Empörung oder arrogante Zurückweisung gesorgt hätte, führte nun dazu, dass Day errötete. Jean rollte mit den Augen. Die Beiden… Day löste Jeremy von sich und setzte ihn vorsichtig ab. Vorsichtig kam er zu ihm, gerade so als würde er ein Minenfeld betreten. Jean hielt ebenso achtsam inne und stumm musterten sie sich. „Du warst sehr gut. Unaufhaltsam, technisch ausgereift, in Hochform. Dein Spiel war erstklassig“, sagte Day schließlich und Jean zögerte. Ein euphorisches, verräterisches Lächeln wollte seine Lippen nach oben ziehen, doch er kämpfte dagegen an, auch wenn der Widerstand gegen Day noch mehr bröckelte als gestern Abend. „Danke“, erwiderte er neutral und krampfte seine Hand um den Schläger, auf den er sich mehr stützen musste, als er es wirklich zugeben wollte. „Du hast es geschafft und bist gegen sie angetreten, selbst nachdem…“ Day schluckte und Jean schnaubte leise. „Was wollten sie denn noch mehr tun als das, was sie damals schon getan haben? Ein Video davon zu sehen… macht es das Geschehene schlimmer? Nein.“ „Du bist stark, Jean. Du bist hierhin gefahren, an diesen Ort. Du hast sie in ihrem eigenen Spiel besiegt und dich nicht unterkriegen lassen.“ Vorsichtig streckte Day seine vormals gebrochene Hand nach ihm aus und sie schwebte wie ein Friedensangebot unkommentiert zwischen ihnen. Jean wusste, dass er jederzeit gehen und damit eben jenes Angebot ausschlagen konnte. Er ahnte, dass es vielleicht das Richtige war, wenn er nicht noch einmal enttäuscht werden wollte, doch die unvernünftige Seite in ihm, die auch schon Neil nicht zurückgewiesen hatte, sagte da etwas Anderes zu. Zögernd und auf der Hut schlug Jean ein und einen kurzen Moment lang berührten sie sich, der Händedruck fest und versichernd, sich fest in die Augen schauend. Die Welt schrumpfte sich auf sie beide zusammen, nichts war für einen Moment mehr wichtig in ihrem nonverbalen Umgang mit der Vergangenheit. Dann holte zumindest Jean ein leise quietschendes Geräusch aus ihrer Blase und er sah in die zwillingshaft grinsenden Gesichter Neils und Jeremys, die sie beide musterten. Jean hob die Augenbraue und löste sich entschlossen von Day, der ebenfalls einen Schritt zurücktrat. Die offensichtliche Enttäuschung darüber geschah den Beiden recht und Jean wandte sich zu Andrew, der ihn mit einem lakonischen Augenrollen begrüßte. „Junkies“, sagte er und Jean stimmte ihm nickend zu. „Danke“, sagte er schlicht und meinte damit alles, was der andere Junge jemals für ihn getan hatte, obwohl er es nicht hatte tun müssen. Für alles, was ihn am Leben gehalten hatte. Jean lächelte und Andrew wandte sich mit einem Grollen ab. Natürlich. Jean ließ dem anderen Jungen den Moment seiner eigenen Emotionalität und sah zu Renee, die still in all diesem Trubel stand. Sie maß ihn und er sah Stolz in ihren Augen. „Du hast es geschafft“, sagte sie ruhig und Jean nickte. „Dank dir.“ Sie kam zu ihm und hauchte sacht einen Kuss auf seine Wange. „Wärest du nicht so stark gewesen, dann hätte ich keinen Erfolg gehabt“, zwinkerte sie und gemeinsam genossen sie einen Moment der Erinnerungen und des Verstehens. Einen Moment all dessen, was passiert war. Der Lärm ihrer Zuschauertribüne, die sie immer noch frenetisch feierte und deren rechte Seite ein Lied anstimmte, das Jean nur zu bekannt vorkam, forderte schlussendlich seine Aufmerksamkeit. Blinzelnd hörte er zu und erstaunt weiteten sich seine Augen, als er begriff, was sie sangen und welches Lied ihre Stimmen nach und nach durch das ganze Stadion trieben. Wie von selbst setzte er sich in Bewegung in ging an den Rand der Absperrung, sah mit großen Augen zur Tribüne hoch, in der sie das Lied sagen, was Fahima und Logan auch schon schief gesungen hatten. Das Lied über Stärke, über nicht gebrochen werden, über Krieger, darüber, dass niemand Angst davor haben musste, gesehen zu werden und dass jeder, egal ob geschlagen oder missbraucht, er selbst war und Liebe verdiente. Als Jeans Augen auf Favio zum Ruhen kamen, zwinkerte dieser und winkte ihm knapp zu, im stummen Verständnis, was es für Jean bedeutete, dieses Lied hier und jetzt zu hören. Jean nickte zurück und hob seinen Schläger, in eben jener kriegerischen Sicherheit, die dieses Lied in ihm erweckte. Er löste damit Jubel aus, der ihn im ersten Moment erschreckte. Jubel, der sich auf ihn richtete. Jubel, der von allen Seiten kam, von vorne und von hinten, wo sich klatschend sein Team näherte und sich neben ihn stellte. Sie alle wurden schließlich gefeiert, besungen, motiviert und Jean spürte ein solch überschäumendes Glücksgefühl, dass es ihm schier schwerfiel zu atmen. Jetzt, in diesem Moment, wusste er, dass es sich gelohnt hatte, zu überleben und dass es sich immer wieder lohnen würde, weiter zu leben. ~~**~~ „Mr. Moreau, Mr. Moreau, Frage zu Ihrem Spiel am heutigen Tag! Wie war es für Sie, gegen Ihre alte Mannschaft anzutreten?“ Jean richtete seinen vielmals praktizierten, ausdruckslosen Blick in Richtung des Reporters, der die unsinnige Frage gestellt hatte. Natürlich war es von ihm erwünscht, dass er an der Pressekonferenz teilnahm. Er…der die Mannschaft gewechselt hatte. Der nun gegen seine alte Mannschaft gewonnen hatte. Als wäre es nur sein Verdienst gewesen. „Gut, wir haben schließlich gewonnen“, erwiderte er mit bitterernstem Gesicht und neben ihm schnaubte Rhemann amüsiert. Jeremy lächelte unterdessen sein professionelles Lächeln und ließ sich nichts anmerken. Unter dem Tisch jedoch presste sein Knie sich versichernd gegen Jeans, was dank des großen Werbeplakates durch die anwesenden Presseleute nicht gesehen wurde. „Wie ist es für Sie, auf der anderen Seite dieser spielerischen Naturgewalt zu stehen?“ Nein, die vorherige Frage war nicht dumm. Diese hier war dumm. „Mein Team hat in diesem Spiel seinen Sportsgeist bewahrt und sich der Herausforderung der spielerischen Eigenheiten der Ravens gestellt“, erwiderte er neutral, doch mit einem warnenden Unterton. Die Ravens waren eine Naturgewalt gewesen…zerstörerisch und ohne Gewissen. Ohne Ordnung. Ein Abklatsch ihrer Kunstfertigkeit und Jean glaubte nicht, dass sie noch einmal ein Bein auf den Boden bekommen würden. „Eigenheiten wie zum Beispiel das Video noch vor Beginn des Spiels, das von noch Unbekannten in das System des Spielfeldes geschleust wurde?“ Wo Jeans Gesicht vorher neutral gewesen war, wurde es nun von Sekunde zu Sekunde dunkler. Er schwieg beharrlich und starrte dem Reporter in das erwartungsvolle Gesicht. Anscheinend schwang noch eine andere Frage mit, die er bisher nicht gehört hatte. „Ist es echt?“, elaborierte der Mann mit eindeutigem Interesse. Jean blinzelte. Was für eine ekelhafte, direkte Frage. Was für eine widerliche, sensationsgierige Frage. Einen Moment lang erwog Jean, sie ehrlich zu beantworten. Er war versucht zu sagen, dass er vergewaltigt worden war. Dass dies die dritte von fünf Vergewaltigungen in seinem Leben war, die sein sadistischer, verstorbener Kapitän befohlen hatte, um Days Schwärmerei von Jeremy zu bestrafen. Er war versucht, den Namen zu nennen und ihnen allen hier zu sagen, wie widerlich ihre Fragen waren. „Ich weiß nicht, welche Bedeutung diese Frage für das vergangene Spiel haben sollte“, knurrte Rhemann und Jean war versucht, es dabei zu belassen. Es wäre besser, würde weniger Aufruhr erzeugen. Dennoch öffneten sich seine Lippen und sprachen Gedanken aus, die er noch nicht einmal vorformuliert hatte. „Dieses Video zeigt den mangelnden Sportsgeist, der in der letzten Saison bereits zu schlimmen Situationen geführt hat. Ich bin mir sicher, dass sowohl der Verband eine solche Beschmutzung unseres Sportes nicht unbeantwortet lassen wird“, sagte er und lächelte kalt. Jean bezweifelte, dass die Moriyamas einen solchen Faux-pas durchgehen lassen würden. Nicht, nachdem der neue Lord soviel Wert auf bigotte Ehre legte. Wie Rhemann es ihm nach ihrem Spiel erzählt hatte, setzte der Verband bereits Himmel und Hölle in Bewegung, um es aus allen Kanälen zu entfernen und rechtliche Schritte gegen den Ersteller des Videos einzuleiten. Jean hoffte, dass es keine Kreise zog, doch er wusste gleichzeitig auch, wie unendlich groß das Internet war. Er hoffte nur, dass sein Vater und Louis es nicht zu sehen bekamen und dachte an die Videonachricht, die er von beiden vor seinem Spiel bekommen hatte. In der sie ihm Glück und Erfolg gewünscht und geschrieben hatten, dass sie jede einzelne Minute des Spiels verfolgen würden, obwohl sie nicht bei ihm sein konnten. Jean dachte daran, was es in Louis und seinem Vater auslösen würde, das zu sehen. Er dachte an Jeremys Erschütterung auf dem Spielfeld und er wünschte den Ravens jeden Ärger, den sie bekommen würden. Jede unbarmherzige Strafe, die sie erhalten würden. ~~**~~ Jean ließ das warme Wasser der Hoteldusche über seine schmerzenden Gliedmaßen laufen und wagte es, für einen Moment die Augen zu schließen. Sie waren wieder in ihrem Hotel in Huntington und die Entfernung zu Evermore war weit genug, dass Jean sich in Ansätzen sicher fühlte. Sicher genug, um seinen Körper zu entspannen und seine Gedanken durch sein Hirn ziehen zu lassen. Das Spiel ließ ihn noch nicht los, nichts davon. Und nun, wo eiskalte Wut und Euphorie verschwunden waren, wurde ihm bewusst, wie perfide die Demütigung war, die das Video in ihm ausgelöst hatte. Jeder hatte gesehen, wie er vergewaltigt wurde. Jeder in diesem Stadion hatte ihn gesehen, wie er auf seinen Knien vergewaltigt wurde, nur mit dem Shirt seines jetzigen Kapitäns bekleidet. Dessen nicht genug, hatten sie Jeremys Gesicht über das von Griffiths gelegt. Wie es für Jeremy sein musste, das zu sehen, konnte Jean sich nicht ausmalen und das machte es gleich noch schlimmer, hatte er nun nicht nur sein Trauma, das die Ravens aus den Untiefen seiner Erinnerung gezerrt hatten, sondern auch Jeremys schlechtes Gewissen, das ihm so deutlich auf dem Spielfeld heute ins Gesicht geschrieben gestanden hatte. Und nur, weil Jean ihm völlig unnötig grausam davon erzählt hatte. Er öffnete die Augen und stellte die Dusche ab. Seufzend trat er heraus und trocknete sich ab. Mit dem Rücken zum Spiegel verharrte er, in sich selbst lauschend. Er…lebte. Er hatte keine gebrochenen Knochen. Bis auf die Brutalität der Ravens hatte er keine Wunden an seinem Körper. Er war entkommen, frei, er sah den Himmel, die untergehende Sonne, nachher würde er die Sterne sehen. Jean zog seine Boxershorts an und erstarrte, als er aus dem Schlafzimmer ein gequältes Aufstöhnen hörte. „Au!“ Alarmiert öffnete Jean die Tür und sah seinen Kapitän in einer seiner engen, schwarzen Unterhosen, die er so gerne trug und die alles Mögliche betonten, wie er sich eines seiner Hämatome mit einer schmerzstillenden Creme einrieb, sich Jeans Anwesenheit noch nicht bewusst. Eines der unzähligen Hämatome, verbesserte Jean sich. Knox sah aus, als wäre er verprügelt worden und war er nicht genau auch das? Die Ravens hatten ihre kollektive Wut an ihm ausgelassen. Mit Sport hatte das nichts mehr zu tun. Jeremy hob den Arm und zuckte vor Schmerz zusammen, als er erneut versuchte, seinen Rücken zu erreichen. „Benötigst du Hilfe?“, fragte Jean und Jeremy fuhr herum und verzog den Mund vor Schmerz ob der Geste. Langsam atmete er aus und nickte dann mit einem schiefen Lächeln. „Wenn du magst, sehr gerne.“ Jean ließ seine Augen über den beinahe nackten Körper des Jungen vor sich streifen und machte eine Bestandsaufnahme der Verletzungen. Er legte seine Hand auf Jeremys und entzog diesem sacht die Creme. „Dreh dich um“, murmelte Jean leise, vertraut und ohne zu zögern gehorchte Jeremy, im vollen Vertrauen darauf, dass er nicht verletzt wurde. Sein Rücken sah schlimm aus und er würde noch Wochen hiernach die Hämatome tragen. So wie nach ihren alten Spielen auch. Jean kamen die Worte von Jeremys Vater in den Sinn, die Warnung, die er erhalten hatte. Er verstand warum. Deutlicher als jemals zuvor. Wie von selbst beugte er sich zu Jeremy hinunter und hauchte einen Kuss auf das warme, geschundene Fleisch, was dem Jungen ein erschrockenes Einatmen entlockte. Abrupt löste Jean sich von Jeremy. „Ich habe dir wehgetan“, sagte er, nicht ganz eine Frage, doch zu seiner Verwirrung schüttelte Jeremy den Kopf. „Nein, es fühlt sich sehr gut an. Ich war nur überrascht.“ Er drehte den Kopf seitlich und warf einen Blick über seine Schulter, der sich sehr tief in Jeans Gefühlswelt bohrte. „Also war es okay?“ „Mehr als das. Es ist schön.“ Jean brummte und widmete sich wieder seiner Aufgabe. Hämatom um Hämatom ging er ab, küsste die weiche, warme, gespannte Haut, bevor er die schmerzstillende Creme auftrug. Mit dem ganzen Rücken verfuhr er so, Zentimeter um Zentimeter Haut erkundete er, während Jeremy ganz still stand, nur leise, zufriedene Geräusche von sich gebend, die den Raum zwischen ihnen füllten. Langsam kam er um Jeremy herum, der ihn mit aufmerksamer Ruhe beobachtete, die Haltung entspannt. Jean schluckte und seine Hand krampfte sich leicht um die Tube. Dies war soviel intimer und für einen Moment lang wusste Jean nicht, ob er das konnte. Doch ein Blick auf den dunklen Schatten an Jeremys Kinn genügte, damit er sicher sein konnte. Ein Blick in das schüchterne Gesicht seines Kapitäns, der soviel mehr war, als es der Titel ihm einflüsterte, reichte. Sacht umfasste er die andere, unversehrte Seite des Kinns und hauchte einen Kuss auf den Knochen der geschundenen, während Jeremys warmer Atem seine Nase streifte. Sacht verstrich er die Creme dort und wanderte dann hinunter zum Schlüsselbein, von dort aus zu den Oberarmen und dem Bauch, die ruhige Atmung seines plötzlich so stummen Gegenübers als Anhaltspunkt für seinen eigenen Herzschlag nutzend, der sich mit jeder Sekunde mehr beruhigte. Jean sah schweigend zu Jeremys Oberschenkeln, die trotz Protektoren grün und blau waren. Im Stehen wäre es ihm nicht möglich, sich um sie und auch die Waden zu kümmern, im Knien aber sehr wohl. Er hielt inne. Riko hatte ihn unzählige Male dazu gezwungen, vor ihm zu knien. Er hatte die Demütigung solange zur Unterdrückung genutzt, bis Jean nichts mehr dabei empfunden hatte, auf die Knie zu gehen. Die Erinnerung daran war jedoch noch da und so zögerte er, es für Knox zu tun. Für Jeremy, verbesserte er sich. Einem Menschen, der so gut war, dass es beinahe schon unwirklich schien. Jeremy würde es niemals ausnutzen, wenn er ihm gegenüber Schwäche oder Schutzlosigkeit zeigte. Und so sank er auf die Knie, wie er es schon hunderte Male getan hatte und musste für einen Augenblick innehalten, als die Erinnerungen zu harsch wurden. Seine Knie schmerzten und ihm wurde bewusst, dass er seine Kniescheiben lange nicht mehr belastet hatte. Zusätzlich zu seinen eigenen, schmerzhaften Hämatomen machte es das zu einer nicht ganz angenehmen Erfahrung, doch Jean wollte zu Ende bringen, was er angefangen hatte. Nicht, dass Jeremy das zuließ. Abrupt zuckte der Junge zusammen und bewegte sich so hastig, dass Jean instinktiv in Erwartung eines Schlages zurückwich. Doch nichts geschah außer dass Jeremy sich mit schmerzerfülltem Gesicht vor ihm niederließ und dessen übereifrige Hände so schnell nach ihm griffen, dass Jean nicht wirklich Zeit zum Reagieren und Realisieren hatte. „Ich fühle mich nicht wohl damit, wenn du vor mir kniest. Das ist…nicht gleichberechtigt. Das ist…es erinnert mich an damals, in der Küche, wo du…“, brabbelte er und Jean hörte über das Rauschen seines schnell schlagenden Herzens aufmerksam zu. Die Antwort beruhigte ihn und gleichzeitig wunderte sie ihn nicht so sehr wie noch vor Monaten. Ein Fortschritt, mochte man meinen. Jean sah auf ihrer beider verbundenen Hände und atmete tief aus. „Für dich mache ich es.“ Nicht gerne, nicht ohne zu zögern, aber er tat es. Doch das fand keine Zustimmung in den blauen Augen seines Kapitäns. „Außerdem komme ich so besser an deine Oberschenkel, Schienbeine und Waden.“ Jeremy verzog kritisch die Lippen und starrte auf seine geschundenen Beine. Kurz huschte sein Blick über Jeans ebenfalls halbnackte Gestalt und über die Narben, die seinen ganzen Körper entstellten. Er zeigte sie Jeremy nicht zum ersten Mal, doch immer wieder war Jean deswegen unsicher. „Die sind nicht so wichtig“, murmelte Jeremy und Jean begriff erst verspätet, dass er nicht die Narben meinte, sondern seine eigenen Verletzungen. „Doch“, grollte Jean. „Sie haben dir wehgetan.“ „Uns allen“, korrigierte Jeremy und seufzte. „Darf ich das auch bei dir machen?“ Jean sah fragend hoch und erkannte, dass Jeremy seine eigenen Hämatome ebenfalls versorgen wollte. Unsicher verharrte er. Das würde Körperkontakt bedeuten. Engeren Körperkontakt als bisher und das, wo er nicht viel Kleidung trug. Er wusste, dass Jeremy das nicht ausnutzen würde und ein bisschen neugierig war er schon, wie es sich anfühlen würde. Jean war sich nicht sicher, ob die Neugier seine Angst überwog, aber er war bereit, das auszuprobieren, stellte er nun mit Überraschung fest. „Okay“, presste er schließlich hervor und verharrte in Erwartung von Jeremys nächsten Handlungen, die zunächst daraus bestanden, seine Hände mit zwei hauchzarten Küssen zu versehen. „Nur wenn du möchtest.“ Jean nickte schweigend und nach einem weiteren, prüfenden Blick löste sich Jeremy sanft von ihm. Er griff zu der Tube und Jean ließ sie ohne Protest gehen, die Augen aufmerksam auf den blonden Jungen gerichtet. „Darf ich auch küssen?“ Beinahe schon kindlich mutete die Frage an, auch wenn sie versichernde Zuversicht in Jean kreierte. „Ja.“ Jeremy nickte und beugte sich zu ihm. Langsam und jederzeit nachvollziehbar näherte er sich Jean und hauchte ihm einen Kuss auf das Schlüsselbein, das, so wusste er, blau und grün geschlagen war. Jean hielt den Atem an, weil es sich so anders als alles andere anfühlte, was er je in seinem Leben hatte fühlen dürfen. „Okay?“, hakte Jeremy nach und Jean nickte mit großen, runden Augen. Sehr okay. Das Lächeln des blonden Jungen vor ihm war ihm Labsal, als er sich auf jede andere Berührung einließ, den Eindrücken und Emotionen hilflos ausgeliefert, die Jeremy in ihm hervorrief, während er sich um jedes Hämatom kümmerte. Als er mit seiner Vorderseite fertig war, nutzte Jean die Gelegenheit und zog ihn behutsam in seine Arme, presste den nackten Körper seines Kapitäns eng und vorsichtig an seinen eigenen. Es war etwas umständlich, wie sie hier saßen, doch als Jeremy sich aus seiner überraschten Starre löste und sich in seine Umarmung schmiegte, spürte Jean das, was bisher nur in der Luft zwischen ihnen beiden gehangen hatte. Haut an Haut. Pure, reine Intimität, körperlich und geistig. Willkommen und freiwillig. Jean schloss seine Augen und sog Jeremys Geruch ein, die sonderbare, aber dennoch bekannte und beruhigende Mischung aus seinem Duschgel, dem klinischen Geruch der Salbe und seinem Shampoo. Er erkannte, dass er das öfter wollte… diese Nähe. Dieses Beisammensein. Diese Intimität. ~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 64: Die Jungen und das Meer ----------------------------------- Jean hatte die Nacht schlaflos mit Jeremy in einem Bett verbracht, ihre halbnackten Körper in enger Umarmung. Er selbst hatte es vorgeschlagen, als Jeremy sich seinen Schlafanzug anziehen wollte und war auf begeisterte, aber vorsichtige Zustimmung gestoßen. Jean hatte seine eigenen Zweifel in die hinterletzte Ecke seiner Gedanken verbannt und so die ersten, schrecklichen Sekunden der körperlichen, nackten Nähe überwunden. Nach ein paar Minuten hatte er Ruhe gefunden und war in der Lage gewesen, Jeremy an seine Vorderseite gepresst zu halten, dessen warmer, muskulöser Rücken eine angenehme Wärmequelle. Jeremy selbst war schließlich eingeschlafen und mit dem Wecker keine vier Stunden später wie ein Zombie wieder aufgewacht. Für Jean war wenig Schlaf nicht wirklich ein Problem. Sein Körper hatte sich irgendwann daran gewöhnt, dass es ganze Wochen gab, in denen er nicht mehr als zwei Stunden Schlaf pro Nacht bekam. Nun bekam er in vielen Nächten weitaus mehr, wenn ihn nicht Alpträume wachhielten. Das bedeutete aber nicht, dass er verlernt hatte, mit wenig Schlaf auszukommen. Ganz im Gegensatz zu Jeremy, der mit den wenigen Stunden, die sie nach ihrem Spiel gegen die Ravens bekommen hatten, nicht wirklich zurecht kam. Just in diesem Moment stand sein Kapitän in seiner Trainingshose und seinem viel zu großen Hoodie neben der Ausgangstür vor der Wand und starrte diese bewegungslos an. Jean hob die Augenbrauen und ging zu ihm. Er warf einen Blick auf das müde und erschöpfte Gesicht des Anderen und blieb an dem dunklen Hämatom an Jeremys Kinn hängen. Es sah fürchterlich aus und wieder fragte Jean sich, wie oft er Jeremy so hart angefasst hatte, dass dieser ähnlich ausgesehen haben musste. Sacht strich er über die unverletzte Haut am Kinn und sicherte sich die Aufmerksamkeit der blauen Augen. Der müden, halb geschlossenen, blauen Augen. Es ging ihm einfacher von der Hand, Jeremy zu berühren, fiel Jean auf. „Und, ist die Wand interessant oder versuchst du durch deine Anwesenheit eine zweite Tür zu schaffen?“, fragte er trocken und langsam kam Leben in den Jungen neben ihn. Er erkannte anscheinend, wo er stand und grollte leise, während er zu Jean hochsah. „Viel zu früh.“ Jeans Mundwinkel zuckten und er deutete auf die Tür direkt neben ihnen. „Es ist Zeit, wir müssen nach unten.“ Jeremy antwortete nicht, sondern schloss seine Augen. Er murmelte etwas, das verdächtig nach Trag mich klang, setzte sich dann aber in Bewegung, bevor Jean noch auf dumme Gedanken kommen konnte. Gemeinsam gingen sie nach unten, wo der Rest ihres übernächtigten Teams darauf wartete, in den Bus verfrachtet und zum Flughafen gebracht zu werden. Das ungewohnte Schweigen der Trojans machte Jean nicht unsicher, wie er nun feststellte. Er hatte die innere Sicherheit zu wissen, wie sein Team tickte. Er hatte die Sicherheit, diesen Ort hier wieder verlassen zu können. Jean erkannte, dass die Ruhe, die er verspürte, ihren Ursprung genau in diesem Wissen hatte und das war auf seine ganz eigene Art und Weise heilsam. Die Stille der Trojans hielt bis zu dem Moment an, in dem sie ins Flugzeug stiegen und sich, nun doch mit einem Mal lebhafter, um die besten Plätze stritten. Ausgenommen waren Jean, der mit einem Mittelsitz anscheinend einen der unattraktivsten Plätze erwischt hatte. Nicht, dass er dem zustimmte, aber es verschaffte ihm Ruhe vor der ausgebrochenen Diskussion. Jeremy hatte ebenfalls seine Ruhe, auch wenn er einen der begehrten Fensterplätze sein Eigen nennen konnte. Nicht, weil niemand wagte, ihm den Platz streitig zu machen, sondern weil er einen unbeobachteten Moment dazu genutzt hatte, sich auf seinen Sitz fallen zu lassen und innerhalb von Sekunden einzuschlafen. Vielleicht auch, weil Jean den Rest seines Teams mit simplen Blicken davon abhielt, den blonden Jungen aufzuwecken. Bevor sie starteten, hatte Val einen Platz neben ihm ergattert, nachdem sie Logan schändlich den Wölfen zum Fraß vorgeworfen hatte. Warnend grinste sie Jean an, als er stumm die Augenbrauen hob. Sie hoben ab und es dauerte bis zum Frühstück, bevor Val sich ihm mit ihrem schlechten Flugzeugkaffee in der Hand zuwandte. Jean hatte labbrige Brötchen für sich und Jeremy genommen und sich ebenfalls an eines der fürchterlichen Getränke gewagt. Es Kaffee zu nennen, weigerte er sich. „Wegen dem Video…“, begann Valentine ohne Vorwarnung und Jean hielt inne. Natürlich wählte sie einen Moment, in dem er ihr nicht entfliehen konnte. Jean presste seine Lippen aufeinander und wandte seinen Blick ab. Er wollte ihr dabei nicht in die Augen sehen, wenn sie ihre allzu offensichtlichen Fragen stellte. „Ist es echt?“ Jean krampfte seine Finger um den instabilen Becher. „Ja.“ „Du siehst nicht glücklich aus in dem Video.“ Jean lachte innerlich bitter auf. Nicht glücklich…was für ein Euphemismus. Doch Valentines Ton war zu vorsichtig und sensibel, als dass sie diese Frage sorgenlos gestellt hätte. Sie war besorgt. Um ihn. „Das war ich auch nicht“, bestätigte er so nichtssagend wie es ihm möglich war, ohne dass ihn die Erinnerungen daran übermannten. Ein Blick auf Knox half ihm dabei, dessen Gesicht ihm zugewandt am Kopfteil lehnte. Der Anblick des Menschen, in dessen Namen er vergewaltigt worden war, war für ihn eine Versicherung, dass es nicht nur Schlechtes auf der Welt gab. In seinem Augenwinkel sah er Valentine nicken und sie gab ein Geräusch der Zustimmung von sich. „Damals, als Jer dich im Keller gefunden hat…da war es eigentlich nicht er, sondern Logan und ich. Wir wollten ungestört sein und sind dabei auf dich gestoßen. Du hattest Alpträume.“ Jean brauchte etwas um ihren Worten folgen zu können und als er begriff, was sie meinte, war es, als würde ihn eines von Rikos Messern durchbohren. Solange wusste sie es schon. Es war vor Monate gewesen und weder sie noch Logan hatten einen Ton gesagt. Angestrengt starrte er auf die abgegriffene Broschüre der Fluggesellschaft, die an der Rückseite des Vordersitz klemmte. „Diese Schweine.“ Er hörte Hass in ihrer Stimme und selbigen hatte er ebenfalls gefühlt. Hass und Verzweiflung, zu gleichen Teilen. Dass ihr Hass wie Labsal für seine Seele war, überraschte Jean. Er nickte stumm. „Ja, das waren sie“, murmelte er und zuckte überrascht zusammen, als Jeremys Kopf sich überraschend auf seine Schulter legte und die blonden Haare ihn kitzelten, während der andere Junge etwas murmelte, das Jean mit Mühe als Mischmasch aus Französisch und Englisch erkannte. Jean seufzte und wandte sich nun an Val, die sowohl ihn als auch Jeremy aufmerksam musterte. „Okay für dich?“, fragte sie und er war dankbar für ihre Sorge. So wie die Ravens jahrelang weggeschaut hatten, war hier jeder aufmerksam, selbst denjenigen gegenüber, die nichts Böses im Sinn hatten. „Ja, ist es“, gab er schließlich zu, ohne zu zögern. Es war angenehm. Er wollte es so, die körperliche Nähe zu Jeremy. „Er tut dir gut“, merkte sie an und Jean konnte das nicht bestreiten. Der Drang, die blonden Haare zu küssen, war unbestreitbar da. Das Gefühl in seiner Brust ebenso. „Jee~eean“, seufzte sein ewig im Schlaf sprechender Kapitän und Jean rollte mit den Augen, während Val amüsiert schnaubte. „Soso“, sagte sie viel zu bedeutungsschwanger für Jeans Geschmack. Bisher hatten die Trojans noch nichts von dem intimen Kontakt zwischen ihm und seinem Kapitän mitbekommen und Jean war sich auch nicht sicher, wie und ob man so etwas überhaupt sagte. Dass sich nun einer der krakenartigen Arme um ihn legte und ihn noch mehr an seinen Sitz band als es der Gurt bereits tat, tat Valentines Aufmerksamkeit keinen Abbruch und auch den Schlüssen nicht, die sie daraus zog. Nicht, dass sie noch viel interpretieren musste, als Knox, tief in seinem Schlaf gefangen, seinem Schultergelenk einen schlafwandlerischen Kuss gab. Sie hob eine Augenbraue und er spiegelte in stummer Herausforderung diese Geste. „Ihr passt gut zusammen“, sagte sie schlicht und Jean ließ das unkommentiert, zumindest solange, bis sie ihren Kopf auf seine andere Schulter bettete. „Valentine!“, zischte er unbegeistert über die Tatsache, dass er nun vollkommen eingekesselt war und für den Rest des Fluges vermutlich zwei Kletten an seiner Seite hatte, die ihn als Stütze missbrauchten. „Shhh… sei ein braves Kissen und beschwere dich nicht.“ Er spürte ihr Grinsen mehr als dass er es sah und schwor blutige Rache für ihre Dreistigkeit. ~~**~~ „Ja, Dad, es ist wirklich alles in Ordnung, mir geht es gut. Anderen geht es viel schlimmer und Fahima muss sogar für eine Woche ihren Knöchel komplett schonen. Noch nicht einmal leichtes Lauftraining“, widersprach Jeremy vehement den Sorgen seines Vaters und versuchte - mit mäßigem Erfolg - ihn gleichzeitig zu beruhigen. Was gar nicht so einfach war, da er sich stur weigerte, auf Videotelefonie umzuschalten, damit sein Vater das Hämatom in seinem Kinn nicht sah. Der dunkle Fleck dort sah kriminell aus. Seinem restlichen Körper ging es da nicht besser und Jeremy war immer noch etwas steif von den Fouls und Checks der Ravens. Umso besser war es, dass sie erst einmal Trainingsverbot hatten – jeder von ihnen, auch diejenigen, die aufgrund dieser Tatsache missgelaunt auf der Couch saßen und den Widerspruch gegen die Erholungsmaßnahme wie ein unsichtbares Schild vor sich hertrugen. Beinahe schon schmollend hatte Jean es schließlich akzeptiert und saß nun im Schneidersitz auf den Polstern, auf seinem Schoß das Buch, das ihm Jeremys Schwestern zu Weihnachten geschenkt hatten, eine Tasse Tee neben sich. Er blätterte tief in Gedanken in den bunten Seiten und Jeremy hätte schon viel dafür gegeben zu wissen, was der andere Junge darüber dachte. „Hast du mich gehört, Jer?“ Nein, hatte er natürlich nicht. Augenrollend seufzte er. „Natürlich, Dad.“ „Was habe ich gesagt?“ „Das Übliche“, grollte Jeremy und erntete ein missgelauntes Brummen. „Du sollst auf dich aufpassen, habe ich gesagt und bloß zu Chandler gehen.“ „Sie hat mich schon durchgecheckt und es ist alles in Ordnung.“ „Bis auf?“ „Ein paar Hämatome.“ „Natürlich. Gib mir mal Jean.“ Jeremy zischte und schüttelte den Kopf, obwohl sein Dad das nicht sehen konnte. „Du wirst ihm keine Vorwürfe machen, Dad. Er hat damit nichts zu tun und wurde ebenso verletzt!“ Er sah zu Jean, der anscheinend aus seinen wenig begeisterten Worten geschlossen hatte, dass es wohl um ihn gehen musste und ihn vorsichtig musterte. Eine Sekunde herrschte Stille, dann seufzte sein Vater. „Habe ich nicht vor, Jer. Ich will wissen, wie es ihm geht.“ Kritisch runzelte Jeremy die Stirn. „Versprochen?“ „Ja, ich verspreche es dir“, erwiderte sein Vater ernst und Jeremy steckte den Kopf ins Wohnzimmer. „Dad möchte mit dir sprechen…ist das okay für dich?“, fragte er und Jean schluckte sichtbar mit großen Augen. Jeremy sah die Anspannung im Nacken und den Schultern des anderen Jungen und er verfluchte sich dafür, dass er der Grund war. „Er will nichts Böses“, schob er nach und Jean nickte zögerlich. Wortlos streckte er seine Hand aus und Jeremy reichte ihm das Telefon. Vorsichtig presste Jean das Smartphone an sein Ohr und die tiefe Stimme seines Vaters drang auch ohne Lautsprecher an Jeremys Ohr, der neben der Couch lauerte – bereit, jederzeit einzugreifen, wenn sein Vater etwas Ungutes sagen sollte. „Wie geht es dir?“ „Es geht mir gut…Sir“, erwiderte Jean verwirrt und vorsichtig. „Sie haben dich auch verletzt.“ Sein Dad formulierte das noch nicht einmal als Frage und Jeremy grollte innerlich. „Ja, das haben sie, aber das war zu erwarten“, erwiderte Jean ehrlich und am anderen Ende der Leitung herrschte für einen Moment Stille. „Das tut mir leid für dich.“ Überrascht hob Jean die Augenbrauen. Seine Hand krampfte sich um das Telefon und er verharrte abwartend, sehr offensichtlich nicht in der Lage, mit den Worten seines Dads umzugehen. Er schluckte schwer und Jeremy wollte sich schon in das Gespräch einmischen, bevor er sich zurückhielt. Er war für Jean da, wenn dieser Unterstützung und Hilfe bräuchte, allerdings würde er Jean nicht bevormunden. Und ihm das Telefon wegzunehmen, damit er durch seinen Vater nicht verletzt würde, wäre das Schlimmste, was er machen könnte. Auch wenn es ihm schwerfiel, dabei zu stehen und dem Gespräch seinen Lauf zu lassen. „Vielen Dank“, presste Jean schließlich hervor und überlegte. „Sie waren trotzdem nicht siegreich und werden es in Zukunft auch nicht sein.“ „Das ist gut zu hören. Sportsgeist zahlt sich aus.“ Natürlich konnte sein Dad sich diesen Seitenhieb nicht verkneifen, grollte Jeremy innerlich. Als wenn Jean jemals eine Wahl gehabt hätte. „Es macht mir Freude, mit den Trojans zu spielen“, erwiderte Jean und Jeremy erkannte den tieferen Sinn in den vorsichtig ausgesprochenen Worten. Es machte ihm Freude, die Facette ihres Sports zu sehen, die nicht auf Gewalt ausgelegt war, sondern auf Teamgeist und Fairness. Sein Vater brummte zustimmend. „Erhol dich gut, Jean und halte meinen Sprössling von Dummheiten ab.“ „Ich weiß nicht, wie.“ Jeremy hob bei den Worten beide Augenbrauen und Jeans Augen begegneten ihm mit einer Mischung aus Amüsement und Erstaunen. „Das habe ich gehört, Dad!“, mischte sich Jeremy nun doch lautstark ein und sein Vater schnaubte. „Solltest du auch, du vertuschender Satansbraten.“ Jean hielt wohlweislich den Mund und reichte ihm das Handy zurück. „Ich lege jetzt auf und widme mich der Entspannung meines geschundenen Körpers“, verkündete Jeremy. „Versprich mir, dass du auf dich aufpasst!“ „Immer, Dad.“ „Bis bald, Satansbraten.“ „Bis bald, Satansbratenvater.“ Er legte mit einem Lachen auf und legte sein Telefon beiseite. Vorsichtig ließ er sich neben Jean auf die Couch nieder und hielt der eindringlichen Musterung des Jungen stand, dessen Trainingsjacke er ein paar Stunden vorher im Flugzeug bespeichelt hatte. Schamlos, in seinem Schlaf, ohne Bewusstsein hatte er sich an Jean angelehnt, ihn umarmt und in seinem Schlaf gesabbert. Es gab Fotos von Jean, Val und ihm, auf denen Jean entweder schicksalsergeben, aber mit sturmgeweihter Stirn zwischen ihnen saß, eingekesselt als unfreiwilliges Kissen oder wütend in die Kamera starrte. Der Trojans-Gemeinschaftschat war darauf beinahe explodiert. Laut Val hatte er sogar Jeans Schulter geküsst und seinen Namen geseufzt. Das kam quasi einem Outing gleich und das hatte Jean noch nicht gewollt, als sie das erste Mal über ihre Gefühle füreinander gesprochen hatten. Eben weil Intimität ihn unsicher machte. „Hey“, murmelte Jeremy, erdrückt durch sein immer wieder aufflammendes, schlechtes Gewissen. Langsam ließ er sich auf die Couch nieder, Jean zugewandt, und hielt er stummen Musterung seines Gegenüber stand. „Wieso fragt dein Vater mich das?“, fragte Jean stirnrunzelnd und Jeremy lächelte schief. „Er macht sich Sorgen.“ „Um mich?“ „Auch, ja.“ „Aber warum?“ „Er mag dich.“ „Er ist wütend auf mich, weil ich dich verletzt habe. Und er hat mich doch nur zweimal gesehen.“ „Er weiß aber, wieviel du mir bedeutest und er weiß, dass du es nicht freiwillig getan hast.“ Jeremys ehrliche Worte brachten Jean zum Schweigen und eine mittlerweile wohlbekannte Röte kroch auf die winterblassen Wangen des Backliners. Unablässig strichen seine Finger über das bunte Buch voller Geheimisse und peinlicher Bilder über Jeremy. Nicht, dass er wusste, was genau sich darin befand, denn er hatte es Jean überlassen, ob dieser das Buch mit ihm teilte oder nicht. „Du sagst solche Dinge immer, als wären sie selbstverständlich“, murmelte Jean und sah zur Seite, auf das andere Buch, das neben ihm lag. Pastellfarben…ein stetiger Begleiter. Er hatte es schon seit Monaten und schrieb Dinge hinein. Natürlich war Jeremy neugierig, doch auch hier wartete, bis Jean mit ihm darüber sprach. „Fühlst du dich mit ihnen unwohl?“, hakte Jeremy vorsichtig nach und Jean schüttelte den Kopf. „Nein…es ist nur…in Evermore wäre so eine Offenheit ausgenutzt worden. Dort war es unmöglich, seine Gedanken und Gefühle so frei zu äußern. Manchmal habe ich Angst, wenn du deine Gefühle so ehrlich auf der Zunge trägst, doch oftmals erstaunt es mich und ich bewundere es.“ Jeremy konnte nicht anders. Jeans Worte trafen ihn so ungebremst, bohrten sich so schnell in sein Innerstes, dass er beinahe überquoll vor Glück. Blitzschnell beugte er sich vor und hauchte Jean einen Kuss auf den Oberarm, was mit einem vielsagenden Blick aus grauen Augen quittiert wurde. „Darüber hinaus tut es mir leid, dass ich dich im Flugzeug als Kissen missbraucht und dich vollgesabbert habe.“ Jean erwiderte zunächst nichts, sondern starrte ihm in die Augen. Mit jeder Sekunde, die verstrich, kam sich Jeremy mehr vor wie das vielbesagte Reh im Scheinwerferlicht und eben das manifestierte sich allmählich in seinem Unterleib. Er war sich sicher, dass Jean sich seiner Wirkung nicht in dem Maße bewusst war, wie Jeremy sie wahrnahm. Da machte es auch nicht besser, dass Jean schlussendlich näherkam. „Wie gedenkst du es wieder gut zu machen?“, fragte Jean simpel, aber sehr effektiv für Jeremys Fantasie, der wirklich viele Möglichkeiten einfielen. Wenig jugendfreie, wenn man fragte. „Was möchtest du denn?“, fragte er nicht weniger leise, aber verdächtig rau und wagte es nicht zu blinzeln. Jean hob die Augenbraue und es war tatsächlich ein minimales Lächeln, das seine Lippen nach oben zog. Langsam überwand er die Distanz zwischen ihnen und Jeremy verharrte bewegungslos, insbesondere jetzt, wo sich Jeans Lippen vorsichtig auf die Seinen legten. Ihr Kuss war wunderbar, vorsichtig, aber intim, sacht, aber eng verbunden. Jeans Finger berührten seine Wange und Jeremy schmiegte sich in den Körperkontakt. Er reckte sich wagemutig etwas nach vorne, kam Jean entgegen und es schien, als würde das die anfängliche Zurückhaltung des anderen Jungen lösen. Auch die zweite Hand umfasste sein Gesicht und hielt ihn ohne Nachdruck. Jean selbst vertiefte den Kuss und schickte kleine Explosionen an Zärtlichkeit und Lust durch Jeremys Körper, der mit einem Erschauern und einem bedürftigen Aufstöhnen reagierte. Jean löste sich nicht von ihm, sondern vertiefte und intensivierte den Kuss und Jeremy schmeckte die Beeren, die Jean heute Mittag gegessen hatte, und den Kaffee, den er ihnen beiden gekocht hatte. Seine Zunge sandte Schauer um Schauer durch Jeremys Körper und er spürte, wie sich die Elektrifizierung in Erregung wandelte. Jean löste sich von ihm, bevor seine Hose zu eng wurde und fuhr sich mit der Zunge über die geröteten, vollen Lippen, was Jeremy sonst die Beherrschung hätte verlieren lassen, weil es so gottverdammt verführerisch war. So erotisch. So anziehend. So…intim. Doch für Jean würde Jeremy jede Beherrschung aufbringen, die er hervorholen konnte. Nicht, dass es da half, dass Jean ihn raubtierartig musterte, die grauen Augen sehr hell und sehr durchdringend. Wie Jeremy die Kombination aus dunkelbraunen Haaren und hellen Augen liebte. „Zu deiner Wiedergutmachung…“, sagte Jean rau und räusperte sich. Jeremy blinzelte erwartungsvoll, sein Körper freudig kribbelnd auf das, was kommen mochte. „Ja?“, fragte er gespannt nach und Jean kam näher. Sein Atem strich erneut über Jeremys Lippen und er schauderte. „Du wirst mit mir am Strand laufen. Die volle Runde“, flüsterte Jean gnadenlos und im ersten Moment hatte Jeremy wirklich Probleme, den Sinn der Worte zu begreifen. Weil sie so überhaupt gar nicht in seine aktuellen Erwartungen passten. Nein, so überhaupt gar nicht. Das war schlimmer als ein Schwall kalten Wassers. Das war grausamer als alles, was Jeremy sich auf die Schnelle hätte ausmalen können. Er wimmerte tief aus seiner Kehle heraus. Herzhaft, leidenschaftlich, gepeinigt. „Jean!“, beschwerte er sich und traf auf eiserne Sturheit und eine erhobene Augenbraue, die ihm deutlich machte, dass dieser Diktator keinen Widerspruch duldete. „Jean, du gemeiner, fieser Schuft!“ Und wie diese verführerischen, grausamen Lippen lächeln konnten. „Wiedergutmachung, Knox“, sagte er und holte sein Handy. Kommentarlos öffnete er ihren Gruppenchat und hielt ihm das Bild unter die Nase. Den eindeutigen Beweis, dass er Jeans Hoodie angesabbert und ihn als Kissen missbraucht hatte. Jeremy versuchte wirklich alles, um Jean umzustimmen. Er starrte ihn mit großen, bedürftigen Augen an, er zupfte an seinem Pulloverärmel, er legte seinen Kopf auf Jeans Oberschenkel, er sah Jean von unten mit großen Augen an. Nichts davon half, aber er bekam einen Kuss auf die Stirn. Einen sachten, schmunzelnden Kuss. Trotzdem! ~~**~~ Jean verlangsamte sein Tempo und ging die nächsten Meter, während er tief durchatmete. Er passte seine Atmung seinen Schritten an und blieb schlussendlich stehen. Er streckte sich und verschaffte seinen Lungen die dringend benötigte Luft. Die Runde am Strand hatte ihn schon ordentlich herausgefordert, doch er war nichts im Vergleich zu seinem leidenden Kapitän, der neben ihm schier starb. Hochrot und keuchend stand er neben ihm und hatte ihn die letzten drei Kilometer mehr verflucht als die gesamten Monate, die Jean ihn bereits kannte. Jean hatte alle Kraft aufbringen müssen, seinen unwilligen Mitbewohner mitzuziehen, zu motivieren und ihn weiter zu treiben und entsprechend ungnädig war er für dessen Flüche gewesen. Sie hatten nicht mehr viel Spiele und wenn sie die Saison gewinnen wollten, dann mussten sie sich ranhalten. Auch. Wenn jemand Jean fragte, ob er vor dem nicht angenommenen Anruf seines Vaters weglief, dann würde er lügen, wenn er nein sagte. Und schließlich hatte Jean ja auch gewartet, bis Jeremy vollständig geheilt war. Das sollte der andere Junge schon in die Rechnung mit einbeziehen, fand Jean. Auch wenn es ihn beruhigte, Jeremy so offen und ehrlich zu sehen, denn die letzte Woche war geprägt von ungesagten Worten gewesen. Erst nach einiger Zeit und einem von Jeremys Träumen hatte Jean erkannt, dass der Grund hierfür das Video war, was die Ravens vor dem Spiel gezeigt hatten. Es belastete Jeremy, doch er sagte keinen Ton. Er wich Jean aus, wann immer er Anstalten machte, darüber zu sprechen und lenkte ihre Gespräche um. Das hochgradig Irrtierende war, dass sein restliches Team es ebenso tat und Jean sich nach einer Woche am Rande seiner ausfransenden Selbstbeherrschung befand. Er seufzte innerlich und sah besagtem Jungen beim Schnaufen zu. „Du französische Mistkröte! Du verfluchter Diktator! Du gnadenloser Sklaventreiber!“, schimpfte es neben Jean und ein anklagender Zeigefinger hob sich in seine Richtung. „Du solltest deinen Atem lieber darauf verwenden, weiterzulaufen“, sagte er in eben jener gnadenlosen Tonart, die ihm als Diktator gerecht werden würde, gewürzt mit einer Prise trockener Humors. Der natürlich nicht gut ankam, wenn man sich die leidende Miene des blonden Jungen ansah. „Nö!“ Jeremy ließ sich auf die Mauer fallen, an der sie Halt gemacht hatten und verschränkte die Arme. „Ich laufe nicht weiter, Moreau, das kannst du vergessen! Wenn du das willst, musst du mich schon tragen!“ Jeremy hatte diese Drohung, von der Jean noch nicht einmal wusste, ob sie wirklich eine war, schon öfter ausgesprochen und dieses Mal juckte es Jean wirklich sehr in den Fingern. Was wäre wenn? Dann wären sie sich nahe. So nahe wie in dem Hotelzimmer. Er würde Jeremy so tragen, wie sein Vater ihn immer getragen hatte, wie einen Klammeraffen. Er überlegte, ob er seinem spontanen Gefühl nachgeben sollte und erlaubte dem Gedanken, sich fortzuentwickeln. Was er tun würde, wenn er Jeremy in seinen Armen hatte. Wie es wäre, einem Körper so nah zu sein. Warum nicht?, geisterte es in seinen Gedanken und er trat mit vielsagendem Blick näher, die Arme in einer herausfordernden Geste ausgebreitet. „Okay“, sagte er schlicht und legte den Kopf schief. Er wollte sehen, was Jeremy tat und ob er die Nähe annahm, die Jean anbot. Ob er sich auf dieses Spiel einließ. Mit großen, blauen Augen sah dieser zu ihm hoch und blinzelte. „Was?“, fragte er überrumpelt und Jean hob vielsagend die Augenbraue. „Läufst du weiter, wenn ich dich ein Stück trage?“ „Äääh…ja, aber du…“ „Deal?“ Jeremy zögerte, überlegte, doch dann bejahte er vorsichtig. „Okay, Deal.“ „Dann auf mit dir.“ „Diktator.“ „Das wusstest du, bevor du mich für die Trojans rekrutiert hast.“ Das war eine glatte Lüge und das sah er auch auf Jeremys Gesicht. Vielleicht schlang Jeremy deswegen seine Arme um Jeans Nacken und sprang an ihm hoch, umschlag seine Hüften vorsichtig mit seinen Schenkeln und presste seinen verschwitzten Körper damit an Jean. Es war ungewohnt und im ersten Moment strauchelte Jean unter der ungewohnten Last. Er fing sich schnell und fasste mit seinen Armen unter Jeremys Oberschenkel, damit dieser nicht rutschte. Er brauchte etwas, doch dann war es ein schönes Gefühl, wenngleich auch ungewohnt. Jean sah zum Meer, das in unruhigen Wellen unweit von ihnen an den Strand rauschte. Er sah zu dem Jungen, der ihm so nah war wie seit ihrer Nacht nach dem Spiel nicht mehr, und genoss es trotz ihrer beider verschwitzter Körper so wie er auch die Nähe des anderen Jungen im Hotelzimmer genossen hatte. „Okay für dich?“, kam es gedämpft von seinem Hals und Jeremys Worte kitzelten Jeans empfindliche Haut dort. Er schauderte, weil es sich so gut anfühlte. Ungewohnt gewollt. Einer der Ravens hatte ihm währenddessen in den Nacken gebissen. Die Spuren davon trug Jean heute noch und auch heute noch wachte er mit Phantomschmerzen auf, wenn einer seiner Alpträume ihn in die Zeit dorthin zurückbrachte. Doch hier, jetzt, in diesem Augenblick schenkte Jeremy ihm ein neues Gefühl, etwas Sanftes, etwas Wirkliches und Jean konnte seine Dankbarkeit nicht in Worte fassen. „Gut so?“, fragte er rau und Jeremy nickte. „Ja, du kannst mich gerne so nach Hause tragen. Was ist mit dir?“ Jean brummte zustimmend, nicht wirklich in der Lage, seine mannigfaltigen Gefühle in Worte zu fassen. Anstelle dessen setzte er sich in Bewegung und fast tat es ihm leid, was seine vorwitzigen Gedanken ihm in der Zwischenzeit eingeflüstert hatten. Der Strand war leerer als sonst, was auch am schlechten Wetter liegen mochte. So waren auch die Blicke der Anwesenden begrenzt, die ihn neugierig musterten, als er seinen Kapitän auf den Sand in Richtung Meer trug. „Das ist schön“, brummte dieser zufrieden und schmiegte sich sacht und vorsichtig an ihn. Ja, schön war es in der Tat. Jeremys Muskeln fühlten sich unter seinen Händen wunderbar an. Das Gewicht des anderen Jungen an seinem Körper, in seinen Armen war versichernd, auch wenn Jeremy nicht wirklich leicht war – ein Testament an seine Muskeln. „Das freut mich“, brummte Jean und setzte vorsichtig ein Bein vor das andere. Er wollte schließlich nicht stolpern und seine kostbare Fracht nicht fallen lassen. Er lauschte seinem schneller werdenden Herzschlag, der ihn für diesen Spaß strafen wollte, schließlich war es Wasser und zwar viel davon. Er war in Anwesenheit seines Kapitäns und das hier war etwas ganz Anderes als der Whirlpool in der Berghütte. Aber, das hielt sich Jean vor Augen, es war Jeremy, der Junge, dem er auch schon körperlich nah gewesen war, ohne dass dieser sich ihm aufzwang. Es war okay. Er war okay. Er würde okay sein. Vielleicht seine Ohren nicht, wenn Jeremy begriff, was er vorhatte, aber Opfer mussten gebracht werden. Beinahe schon kindliche Freude erfüllte Jean, als sein Plan mit jedem Schritt, den er zum Meer tat, Gestalt annahm und Jeremy nichts ahnte, weil er zufrieden an ihm lehnte und sich tragen ließ. Er würde nicht soweit gehen, den anderen Jungen ins Wasser zu tauchen, nein, aber ein bisschen necken und erschrecken würde er ihn schon…schließlich hatte er gesehen, wie gerne Jeremy und Alvarez in dem feuchten Nass herumtobten und sich gegenseitig ärgerten. Jean hatte das Wasser fast erreicht, als Jeremy den Kopf hob und einen fragenden Laut von sich gab. „Wo gehst du hin? Die Promenade ist auf der anderen Seite“, fragte er verwirrt. „Ganz genau“, erwiderte Jean in Vorfreude auf das Kommende. So gut es ihm möglich war, drehte Jeremy sich und sein Atem strich nun über Jeans Kinn. „Aber…da ist viel Wasser.“ „Richtig erkannt“, erwiderte er und ging weiter, unbeirrt von den Fragen, die Jeremy gut sichtbar ins Gesicht geschrieben standen. „Jean…?“, fragte Jeremy gedehnt und lehnte sich soweit zurück, dass er ihm ins Gesicht sehen konnte und Jean wollte sich ein Lächeln beim besten Willen nicht verkneifen. Anscheinend reichte es, damit Jeremy Verdacht schöpfte und er sich in seinen Armen wand. Da Jean ihn eisern hielt, half das nicht viel, also quietschte er auf, als sie die nassen Ausläufer des Strandes passierten. „Nein, Jean. Nein nein nein! Jean, was tust du da? Nein, Jean, nein…lass mich runter Jean, das wirst du nicht…oh Gott, nein…das Wasser ist kalt und nass und ich…nein!“, brabbelte Jeremy inkohärent und klammerte sich nur umso mehr an Jean, als dieser mit seinen Füßen das Wasser erreichte. „Ich habe gehört, dass kaltes Wasser gut für die Muskeln ist“, erwiderte Jean gnadenlos und blieb einen Moment stehen, als sein Körper mit reinem Schock auf das Nass reagierte und sein Geist ihn anschrie, dass er umkehren sollte. „Gut für Sportler.“ Er trat einen Schritt nach vorne, um seine Angst zu besiegen und die Wellen umspülten seine Waden. Es war kalt, nicht so warm wie das Wasser im Whirlpool. „Nein, ganz und gar nicht!“, quietschte Jeremy. „Das ist ein Gerücht und eine Lüge!“ Jean dachte einen Moment darüber nach, bevor er noch einen Schritt nach vorne trat. „Mhhm. Und es ist gut für die Gefäße“, kam er zu einem andern Schluss. Gut für seine war es auf jeden Fall, so schnell, wie sein Herz schlug. Mach das nicht, wisperte es angsterfüllt in ihm. Geh nicht zu tief rein. Geh weg, ganz schnell. Er hörte nicht auf sich selbst, wohl aber auf den Jungen, der sich anscheinend nicht entscheiden konnte, ob er sich an ihm festklammern, an ihm hochklettern, sich von ihm lösen oder seinen Kopf in seiner Halsbeuge verstecken sollte. „Nein, ist es nicht. Dazu gibt es neue Studien.“ „Quelle?“ „Habe ich in unserem Apartment.“ „Gut, dann schauen wir nachher nach.“ „Neiiin, jetzt. Jetzt, Jean, jetzt!“ „Wirklich?“ „Ja!“ „Ganz sicher?“ „JA!“ Jean trat einen beherzten Schritt in die Wellen, die nun die Mitte seiner Oberschenkel umspielten und Jeremys Protestlaute nahmen in der Tat eine Lautstärke an, die ihm beinahe in den Ohren wehtat. „Jean, warum tust du mir das an?“, wimmerte er und schraubte sich mit seinen Beinen enger und höher an Jean fest, starrte ihm mitleidserregend und vorwurfsvoll in die Augen. Verrat, schrie es aus ihnen und Jean fühlte einen Stich an etwas, das nicht Angst war in seiner Brust. „Du liebst das Wasser.“ „Wenn es warm ist!“ Jean brummte zustimmend und er spürte, wie sein gemeines Herz aufging für den Jungen, der ihm so nah war und der sich so gut an seinem Körper anfühlte. Er hauchte Jeremy einen Kuss auf die Schläfe und beugte sich spielerisch nach vorne, darauf bedacht, seine schwere Last noch knapp über dem Wasser zu halten und dessen erschrockenes Aufkeuchen und lautes Lachen zu hören, das er auch immer dann lachte, wenn Alvarez ihn im Wasser untergetaucht hatte. Das würde Jean nicht machen, aber alleine die gleiche Reaktion zu sehen, wäre großartig. „Nein nein nein, Jean! Nicht, nein, aaargh!“ Mit Mühe hielt Jean Jeremy an Ort und Stelle und wollte ihn wieder hochziehen, als der andere Junge ihm durch sein Wehren und seine Versuche, ihm zu entkommen, nach vorne stolpern ließ und Jeremy mehr als halb in die schäumenden Wellen tunkte. Ganz zum lautstarken Protest seines Kapitäns, dessen empörter Schrei Jean die Ohren klingeln ließ, bevor er ihn wieder hochziehen und so vor den Wellen in Sicherheit bringen konnte. Jeremy klammerte sich wie ein Ertrinkender an Jean und wimmerte. „Warum tust du mir das an, du Gemeiner! Ich habe dir nichts getan!“, beschwerte er sich und Jean hob die Augenbraue. „Du hast dich die letzten drei Kilometer beschwert.“ „Zurecht!“ „Du hast mich den Napoleon des Exy genannt.“ „Weil du ein Diktator bist!“ „Napoleon hat sich eher als Kaiser gesehen.“ „Das ist mir egal, ihr seid beide gleich gnadenlos.“ Jean ruckelte Jeremy zurecht, der immer noch wie ein nun halb nasses Klammeräffchen an ihm hing und dessen blauen Augen ihn empört anfunkelten. Ruhig erwiderte Jean den Blick und zuckte überrascht zusammen, als Jeremy sich plötzlich bewegte und einen Satz nach vorne machte, der Jean wiederum nach hinten straucheln und das Gleichgewicht verlieren ließ. Unsanft und ungelenk kam er mit dem Hintern auf dem nassen Meeresboden zum Sitzen mit Jeremy auf ihm und wurde nun seinerseits von den Wellen nassgemacht. Sein Kapitän grinste, löste sich aber augenblicklich von ihm. Versuchte es zumindest, denn Jean ließ ihn nicht. Im Gegenteil. Grollend klammerte er sich an das schwere Gewicht auf ihm. Er hatte keine Angst, nicht vor Knox und er würde die Erinnerungen, die unweigerlich mit dem Wasser und dem Menschen auf ihm kamen, zurückdrängen. Er war nicht mehr in Evermore und das Rauschen am Strand machte ihm das deutlich. Er war in Los Angeles, der Stadt der Engel, mit einem solchen auf ihm. Zumindest verdiente Jeremy in Jeans Augen die Bezeichnung. „Jetzt sind wir beide nass“, murmelte Jeremy und musterte Jean vorsichtig. In seinen Augen sah Jean, was er auch in seinem Herzen fühlte – die Schatten der Erinnerung an Rikos Folter. Er schnaufte. „Es ist okay, auch wenn der eigentliche Plan war, dass keiner von uns nass wird.“ „Vielleicht solltest du weniger Pläne machen, wenn die alle so schief gehen wie dieser hier.“ Jean schnippte Jeremy leicht gegen die Nase und rümpfte seine eigene. „Was kann ich dafür, wenn du selbige zunichte machst, indem du dich wehrst?“ „Hätte ich mich von dir in den Ozean tunken lassen sollen?“ „Das war nicht geplant, ich wollte ein paar Zentimeter vorher aufhören.“ „Schuft!“ Fragend hob Jean die Augenbraue und stieß Jeremy mit seinem Unterleib an, damit dieser sich von ihm erhob. Es war eine instinktive Bewegung, getrieben von dem Wunsch einer nonverbalen Geste, wie sie auch oft auf dem Spielfeld geschah. Dass sie auch missverstanden werden konnte, ging Jean erst dann auf, als Jeremys Lippen ein überraschtes Stöhnen verließ und seine Augen weit und rund wurden. Jean räusperte sich verlegen, als er sehr deutlich erkannte, was diese Geste auch bedeuten konnte und er sah zur Seite. „Ich…wollte nur, dass du Platz machst, damit ich aufstehe, ich wollte dich nicht auf diese Art bedrängen“, sprudelten hastige Worte aus ihm heraus, die Jeremy lächeln ließen. „Du bedrängst mich nicht, im Gegenteil. Es war ein schönes Gefühl“, grinste er verlegen und löste sich von Jean, kam inmitten der Wellen zum Stehen. Langsam streckte er seine Hand nach Jean aus und dieser schlug sie ein. Jeremy zog ihn hoch und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich mag diese Bewegung“, fügte der blonde Junge schließlich mit einem schelmischen Grinsen an und Jean musterte ihn. Würde er irgendwann in der Lage sein, Jeremy diesen Gefallen zu tun und mit ihm das Gleiche wie der Reporter machen? Er hoffte es, insbesondere weil er ja jetzt schon den Drang verspürte, Jeremy zu berühren. „Ich möchte dich irgendwann mehr anfassen, als ich es jetzt schon getan habe“, gestand Jean sich und Jeremy ein und traf auf erwartungsvolle Begeisterung. „Wann du dich sicher genug dazu fühlst und Lust hast“, erwiderte Jeremy sacht und Jean watete einen Schritt durch das Wasser auf ihn zu. Wortlos fixiert er die unwiderstehlichen Lippen und stellte sich tatsächlich die Frage, wie es sich anfühlen würde, wenn diese das Gleiche taten wie die Männer in dem Video. Wie es sich für ihn anfühlen würde, Jeremy oral zu befriedigen. Sacht hauchte er einen Kuss auf die Nasenspitze seines Kapitäns und trat einen Schritt in Richtung Ufer. „Komm, wir haben noch drei Kilometer vor uns.“ Gepeinigt jaulte Jeremy auf. „Nein.“ Und ob. „Doch.“ „Nein.“ Jean trat erneut einen Schritt Jeremy zu, der grollend vor ihm zurückwich. „Wag dich, Moreau! Wehe!“ Ohne darauf zu antworten, kam Jean noch ein weiteres Mal näher und Jeremy wich erneut zurück. Ohne Fremdeinwirkung ließ er sich fallen und tauchte nun vollkommen unter. Irritiert blinzelte Jean und wartete angespannt darauf, dass der blonde Junge wieder auftauchte, was er mit einem triumphierenden Schrei tat. „So! Ich bin jetzt so nass, dass ich gar nicht mehr laufen kann.“ Vollkommen erschlagen von der bestechenden Logik des Ganzen starrte Jean Jeremy ins Gesicht. Er hatte Recht, so machte Laufen keinen Sinn mehr, nicht, wenn er nicht eine Erkältung riskieren wollte. Jean verschränkte die Arme und beobachtete Jeremy dabei, wie er sich aus dem Wasser schälte und zu ihm gestapft kam. Er seufzte tief und ließ seinen Blick vielsagend an Jeremys klatschnasser, am Körper klebender Kleidung hinuntergleiten. Hilflos schüttelte er den Kopf. Das Schlimmste war eigentlich, dass er dieser allzu berechnenden Taktik nicht viel außer einem wirklich starken Kribbeln im Magen entgegen zu setzen hatte. Er begriff, dass es vollkommen in Ordnung war, wenn es seinem Kapitän gelang, die Oberhand zu erhalten. Eben weil es trotz allem gleichberechtigt war. ~~**~~ „Jeremy.“ Der Angesprochene sah von seinem heißen Kakao auf und streckte seinen Kopf gerade soweit aus dem Deckenberg, den er um sich geschlungen hatte, um Jean mustern zu können. Der Backliner hatte sich unweit von ihm niedergelassen und ließ ihn jetzt nicht aus den Augen. Der grausame, ihn ins Wasser tunkende Diktator, der ihn kilometerweit am Strand entlangscheuchte. Der Junge, der ihn im Hotel so vorsichtig berührt hatte und der die letzten Tage immer wieder Kontakt zu ihm gesucht hatte. Jeremy freute sich darüber und war mehr als bereit, die Nähe zu erwidern. Und dennoch gingen ihm die Bilder nicht aus dem Kopf, die er vor ihrem Spiel gegen die Ravens gesehen hatte. Der kurze Ausschnitt, den er gesehen hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Die Brutalität dort ließ ihn nicht los ebenso wenig wie das Wissen, dass es Jean passiert war. Er hatte Angst, Jean zu berühren und dem anderen Jungen damit wehzutun. Deswegen verharrte er und wartete darauf, wie Jean auf ihn reagierte und was er tat. Etwas selbst zu initiieren traute er sich nicht, aus Angst, dass er so wahr wie die Männer, die Jean so wehgetan hatten. „Jean“, erwiderte er sanft und dieser musterte ihn aufmerksam. Jeremys Blick verfing sich auf den selbstgestrickten, dicken Socken, die Jean trug und die mit der Jogginghose und dem Hoodie ein Bild der Gemütlichkeit vermittelten. Er lächelte, auch wenn er sich eigentlich vorgenommen hatte, noch etwas mehr zu schmollen. Nicht, dass er das lange durchgehalten hatte. Aber der Gedanke war dagewesen, zumindest bis Jean seine Haare mit einem Handtuch sanft trocken gerubbelt hatte. „Dir geht das Video nicht aus dem Kopf“, traf er den Nagel zielsicher auf den Kopf und Jeremy schluckte. Die vergangenen Tage hatte er das Thema umschifft, weil er nicht wusste, wie er es richtig ansprechen sollte, was er fühlte und ob er überhaupt das Recht dazu hatte, so zu fühlen. Schließlich war es nicht ihm passiert und dennoch ging es ihm nicht gut mit den Bildern, die seine Erinnerungen plagten. Jeremy senkte den Blick auf seine Hände. „Nein, das tut es nicht“, gestand er ein und Jean schwieg. „Findest du es deswegen…unopportun, mich von dir aus zu berühren? Weil du gesehen hast, dass sie mich missbraucht haben?“, fragte Jean so neutral, wie es ihm möglich war und es zerbrach Jeremy das Herz in all seiner Ehrlichkeit. Unwirsch schüttelte er den Kopf. „Nein, Jean, das ist es nicht, ich schwöre es dir. Was dir zugestoßen ist, würde nie etwas an meinen Gefühlen zu dir ändern. Es ist nur…ich…“ Jeremy hielt inne, auf der Suche nach den richtigen Worten. „…mich lassen die Bilder nicht mehr los, weil sie so schlimm sind. Ich träume davon, was sie dir antun. Ich fühle mich nicht gut dabei, obwohl ich keinen Grund habe, mich schlecht zu fühlen. Es ist nicht mir passiert…ich war nicht da. Und dennoch…“ Elendig verstummte er und wartete auf Jeans vernichtendes Urteil, das sein schlechtes Gefühl bestätigen würde. „Dennoch?“ „Dennoch habe ich Angst, dir wehzutun und genauso zu sein wie sie, indem ich dich gegen deinen Willen berühre oder etwas mache, das dir Angst bereitet.“ Jean bewegte seine Worte in seinen Gedanken und nahm sie kritisch auseinander. „Aber das tust du nicht“, sagte er schließlich. „Das würdest du niemals tun.“ Er zögerte und holte tief Luft, bevor er die Worte aussprach, die ihm anscheinend soviel Schwierigkeiten bereiteten. „Ich vertraue dir“, sagte er schließlich so leise, dass Jeremy es beinahe nicht gehört hätte. Er wusste, warum Jean derartige Schwierigkeiten hatten, es laut auszusprechen und umso mehr adelte es Jeremy, dass er es tat. „Außerdem kann ich deine Berührungen von ihren unterscheiden. Und ich mag deine Berührungen sehr gerne.“ Jeremy schwieg nachdenklich. Er freute sich, das zu hören und es vermittelte ihm auch die benötigte Ruhe. Doch die Bilder vor seinem inneren Auge ließ es nicht verschwinden. Er konnte nicht vergessen, wie einem unschuldigen Menschen Gewalt angetan wurde. Wie Jean Gewalt angetan wurde. „Ich entschuldige mich, dass du das mit ansehen musstest.“ Abrupt sah Jeremy hoch und fassungslos starrte er Jean an. Wieso entschuldigte er sich bei ihm für etwas, das er nicht gewollt hatte und dass er nicht beeinflussen konnte? Er war nicht Schuld, er war das Opfer, nicht die Anderen. „Jean, sag das nie wieder“, flehte Jeremy. „Bitte.“ Irritiert starrte der Backliner ihm ins Gesicht. „Wieso?“ „Weil es nichts zu entschuldigen gibt. Du hast nichts falsch gemacht. Das waren diese Arschlöcher, die dir das angetan haben.“ Jean öffnete die Lippen um ihm anscheinend zu widersprechen, überlegte es sich aber anders. Leise seufzte er und rückte sich auf der Couch zurecht. Mit Bedacht zog er ein Bein an und legte bequem seinen Arm darauf. Eine Pose, die zu Beginn seines Hierseins undenkbar gewesen wäre. „Aber mit mir ist Gewalt in dein Leben gekommen. Du träumst von den Dingen, die passiert sind“, zog Jean den ungeheuerlichen Schluss, den Jeremy so nie unterschreiben würde. „Mit dir ist ein wundervoller Mensch in mein Leben gekommen, der mich bereichert und den ich mir gar nicht mehr wegdenken kann.“ Jean errötete, war jedoch noch nicht von seinen Worten überzeugt, das sah Jeremy ganz deutlich. „Du lässt bewusst Dinge aus.“ „Ja, Jean, weil du nichts dafür kannst.“ Die Dinge, die Jean getan hatte, standen sehr offensichtlich in seinen Augen. Vielleicht veräußerte er sie auch deswegen nicht. Jeremy kommentierte es auch nicht, sondern griff sacht nach Jeans Hand. Bereitwillig ließ Jean Jeremy sie zu sich ziehen und lächelte leicht, als er einen Kuss darauf hauchte. Natürlich löste das Jeremys Problem der nicht verschwindenden Bilder nicht, doch für den Moment war es genug. Über alles Andere würde er später mit Brian sprechen. „Jean, ich…“, begann er und fuhr unisono mit ihm erschrocken zusammen, als ihre Wohnungstür ruckartig und vor allen Dingen laut aufflog. „Jungs!“, grölte eine laute Frauenstimme, die Jeremy ohne Probleme als Alvarez identifizierte. Nicht, dass er mit seinem wild klopfendem Herzen überhaupt dazu in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen. Jean ging es da nicht anders, der abrupt seine Hand zu sich gezogen und sein Bein von der Couch genommen hatte. Perplex musterten sie beide die hereinkommenden Trojans. Ellie, Val und Al, alle mit entschlossenen Mienen und verschränkten Armen. „Wir müssen reden“, sagte Alvarez und Jeremy hob fragend die Augenbraue. Kurz huschten seinen Augen zu Jean, der ebenso ratlos war wie er selbst. „Also, passt auf.“ Ellie dieses Mal. „Wir sagen das auch nur einmal“, ergänzte Val und ließ sich auf der Tischkante nieder. Alvarez und Ellie taten es ihr gleich und Jeremy schluckte unter dem dreifach inquisitorischen Blick. „Moreau“, zeigte Ellie mit dem Zeigefinger auf den anderen Jungen, der sie mit großen Augen ansah. „Val hier hat uns gesagt, dass Captain Sunshine hier dich auf die Schulter geküsst hat im Flugzeug.“ „Und ihr habt nach dem Spiel gegen die Ravens Händchen gehalten.“ „Ihr seht euch an, als wäret der jeweils andere das Zentrum eurer Welt.“ „Ihr schmachtet.“ „Conclusio… ihr habt es endlich geschafft.“ „Und deswegen müssen wir mit euch reden.“ „Also wir müssen DAS Gespräch führen.“ Jean öffnete den Mund, wohl um zu fragen, was das bedeuten sollte, wurde aber von Ellie mit einem strikt erhobenen Zeigefinger davon abgehalten. „Zuhören und nicken, Moreau!“ Jean schluckte nervös und Jeremy zischte unerfreut. Was sollte das, warum machten sie Jean Angst? „Also. Du siehst den Sonnenschein neben dir, oder, Moreau?“ Jean sah gehorsam zu ihm und musterte ihn mit fragend erhobener Augenbraue. Er nickte folgsam. „Das ist unser Sonnenschein, also der der Trojans“, erläuterte Alvarez lapidar. „Unser allseits geliebter Kapitän und unser Goldstück, quasi unser Schatz, den wir alle hüten. Soweit, so klar?“ Wieder bejahte Jean und Val übernahm mit einem Räuspern. Jeremy blinzelte und Horror breitete sich in ihm aus. Er hatte ein Gefühl, wohin diese Reise gehen würde und es gefiel ihm nicht. Ganz und gar nicht. „Leute, ihr solltet..“, begann er, wurde jedoch energisch durch Val unterbrochen. „Wir erlauben unserem Goldstück selbstverständlich, dass er glücklich ist.“ Na da konnte Jeremy sich ja richtig glücklich schätzen. „Aber das bringt Regeln mit sich. Nummer eins…“ „…und damit auch die wichtigste und einzige Regel, Mr. Tall, Dark and Sexy, ist, dass du ihn gut behandelst. Wie ein Goldstück eben.“ Jeremy richtete sich auf, ganz zu Jeans Schrecken. Er grollte. „Hört ihr wohl alle Drei auf, Jean zu bedrohen, ich sag’s euch! Das ist unmöglich, wisst ihr…“ „Und du, Knox“, fuhr ihm sein Vizekapitän über den Mund. „Du wirst es nicht wagen, unseren französischen Adoptivsohn hier unglücklich zu machen. Für dich gelten die gleichen Regeln wie für ihn. Wir wollen euch glücklich sehen, euch alle beide, also wagt es ja nicht, euch gegenseitig nicht gut zu tun!“ Perplex hielt Jeremy inne. Fragend verirrte sich sein Blick zu Jean, der ebenso wenig damit anfangen konnte wie er auch, der aber verdächtig bleich um die Nase war. Jeremys Hand stahl sich zu Jean und legte sich versichernd auf die zuckenden Finger. Dankbar musterten ihn die grauen Augen, zumindest kurz, bevor sie sich auf die augenscheinliche Gefahr des Tribunals vor ihnen richteten. „Und wenn ihr es tut, dann nur mit Kondom. Safer Sex ist guter Sex!“ Empört warf Jeremy seine freie Hand in die Höhe. „Ellie, es ist gut jetzt! Hört auf, ihr alle Drei!“, begehrte er auf, insbesondere weil Jeans Hand auf seiner sich verspannte. Kurz nur, aber sehr deutlich spürbar und Jeremy wollte nichts weniger, als Jean durch einen unbedachten Moment in seine schlechten Erinnerungen zurückstoßen. „Eigentlich wollten wir das gar nicht publik machen. Noch nicht“, erläuterte er und suchte Jeans Blick, der sorgfältig neutral war. Val schnaubte. „Keine Sorge, Cap, keine Sorge Moreau, euer nicht ganz so geheimes Geheimnis bleibt unter uns. Wir verraten nichts. Allerdings solltet ihr die anderen Trojans nicht für dumm verkaufen… so unauffällig seid ihr nun wirklich nicht.“ Jeremy schluckte nervös. Darüber würde er auch mit Jean sprechen müssen, schließlich wollte er mit seiner Emotionalität Jean nicht noch mehr der Neugier ihres Teams preisgeben als er es jetzt schon getan hatte. Val erhob sich und mit ihr Alvarez. „Und wenn ihr gemeinsam Kinder adoptieren solltet, dann…“ „Raus, alle Drei. Raus mit euch!“, befahl Jeremy in seiner dominantesten Kapitänsstimme, die er in sich finden konnte. „Macht, dass ihr Land gewinnt, ich glaube es ja wohl!“ Die drei Mädchen erhoben sich und gaben ihm nacheinander feuchte Küsse auf beiden Wangen. „Igitt!“ Jeremy schauderte und wurde sich Jeans mörderischem, schweigenden Ausdruck bewusst, mit dem er sich Ellie, Val und Alvarez vom Leib hielt. Erst, als die Tür hinter den Dreien zufiel und sie erneut alleine ließ, entspannte er sich und atmete leise aus. „Was war das?“, flüsterte er hilfesuchend und Jeremy zog Jeans Hand zu seinen Lippen. Sanft küsste er sie und presste seine Wange an den Handrücken. „Ich weiß nicht. Haben wir das geträumt?“ Jean schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Es fühlte sich echt an.“ „Es tut mir leid, dass es unangenehm für dich war und dass sie dich überfallen haben.“ „Es war…verständlich“, erwiderte Jean vorsichtig und strich mit seinen Fingern über Jeremys Wange, sandte elektrisierende Schauer durch seine Nervenbahnen. „Sie mögen dich.“ „Und dich genauso.“ Jean nickte ergeben. „Ja, das war zu befürchten.“ Humor wallte in Jeremy auf und er lachte kurz. „Sorry, dein Bad-Boy-Image hat nichts gebracht. Du hast dich in ihre Herzen gegrollt. Also in unsere Herzen.“ Er strahlte und Jean wurde leicht rot. Verlegen sah er zur Seite und Jeremy vermutete anhand des gemurmelten Französisch, dass es sich dabei um eine liebevolle Beleidigung handelte. ~~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 65: Der Hausaufgabendieb -------------------------------- Jean stand stirnrunzelnd vor dem riesigen Regal an Lebensmitteln, die er immer noch nicht alle kannte. Auch nach Monaten waren ihm viele dieser Dinge ein Rätsel und die quietschbunten Packungen luden nun wirklich nicht dazu ein, dass er sein Geld dafür ausgab. Sein Kapitän sah das anders und so hatte Jean eine Einkaufsliste erhalten, wo genau diese Dinge draufstanden und Jean seit geraumer Zeit damit beschäftigt war, im Supermarkt nach ihnen zu suchen. Fahimas angebotene Hilfe hatte er abgelehnt, denn er wollte selbst wissen, wo er was finden konnte. Auch wenn sich ihm das System der Position von Waren in einzelnen Kategorien des Supermarktes nicht wirklich erschloss. „Und?“, fragte eben jene augenzwinkernd, den Wagen neben sich, den sie bereits vollgeladen hatte mit den Einkäufen für ihr Team. Jean starrte auf das bunte Sammelsurium aus gesunden Dingen und fürchterlich ungesunden Lebensmitteln. Fahima hatte nach dem Training den Fehler gemacht, ihren gemeinsamen Einkauf anzukündigen und zu fragen, ob sie jemandem etwas mitbringen sollten. Daraus war ein Exzess an Lebensmitteln, Süßigkeiten und Gegenständen geworden, der Jean mehrfach die Augen rollen lassen hatte. Er war Fahima da keine große Hilfe, aber er bemühte sich, auch wenn er erst die Listen von zwei Personen hatte abarbeiten können. „Ich finde diese Süßigkeit nicht“, gab Jean mit einem resignierten Grollen zu und sah auf Fahima hinunter, die ihn mit kaum verhohlener Belustigung anstarrte und ihn sacht mit der Schulter anrempelte. „Ist doch okay, das ist auch nicht leicht zu finden. Schau mal hier.“ Sie deutete auf das unterste Regal und ganz am linken Ende sah er das, was auch auf der Liste stand. Hawaiin Punch Cotton Candy. Jean schauderte. Das sah schon schlimm aus und er befürchtete, dass es noch viel schlimmer schmecken würde. Nicht, dass er auch nur ein Stück davon in den Mund nehmen würde. „Dieses Team sollte sich gesünder ernähren“, grollte Jean wenig erfreut und scheiterte an ihrem viel zu amüsierten Nicken, das überhaupt nicht ernst zu nehmen war. Er wandte sich indigniert wieder der Liste zu und warf einen Blick in den Laden, der, so wurde es ihm bewusst, derselbe war wie der erste, den er hier betreten hatte. Überrascht hielt Jean inne. Vor Monaten hatte er kein Gespür für Geld gehabt, keinen Sinn zu überleben und auch kein Interesse an den Dingen, die um ihn herum geschahen. Er hatte noch nicht einmal Interesse daran gehabt, sich ein Kissen zu kaufen. Eben jenes Kissen, was er nun wirklich gerne mochte und mitnichten hergeben wollte, auch wenn Jeremy den einen oder anderen Versuch unternommen hatte, ihre Kissen zu tauschen. Nun stand er hier und wusste zumindest grob, wo er was fand. Er konnte alleine durch die Gänge laufen, ohne dass ihn unsichtbare Ketten an die direkte Nähe seines Kapitäns fesselten. Er verlief sich nicht mehr so häufig wie zuvor. Es war gut. Tatsächlich. Das Leben war gut. „Du strahlst von innen heraus, Jean Moreau“, sagte die viel zu aufmerksame Fahima an seiner Seite und Jean zuckte ertappt zusammen. „Das bildest du dir ein“, erwiderte er entsprechend abwehrend, doch Fahima hatte bereits Lunte gerochen. „Das Leben hier tut dir gut. Jeremy tut dir gut. Und du ihm“, sagte sie viel zu sanft, als dass es etwas Anderes als vielsagend gewesen wäre. Natürlich hatte sich in ihrem Tratschtantenteam herumgesprochen, was Alvarez, Val und Ellie so freimütig angenommen hatten. Wie ein Lauffeuer war es am nächsten Tag selbst bei Doktor Chandler gewesen. Überraschenderweise war niemand erstaunt gewesen, im Gegenteil. Es war Logan, der Jean mit einer spöttisch erhobenen Augenbraue angesehen und ihm gesagt hatte, dass es ja nun wirklich nichts Neues war, das zwischen ihm und Jeremy etwas lief. Jean hatte widersprechen wollen, doch Logan hatte abgewunken und war gegangen, ohne ihm die Möglichkeit zu lassen, sich zu rechtfertigen. Der Mistkerl. Nur dass er eben nicht der Einzige war, der so dachte, denn anscheinend war es für die ganzen Trojans schon längst beschlossene Sache gewesen, dass Jeremy und er Dinge taten. Jean fragte sich immer noch wieso. „Ihr seid wunderbar, einzeln wie zusammen“, lobte sie freigiebig und Jean senkte den Blick. Er war verlegen und wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Am Besten gar nichts und am Besten nahm er die Einkaufsliste wieder auf, die er so sträflich vernachlässigt hatte. Sacht knuffte Fahima ihn und ging leise singend in Richtung Gemüse davon. Eigentlich hatte Jean da auch hingewollt, aber nun suchte er die Joghurts heim. Die sagten ihm wenigstens nicht, dass er wunderbar war und raubten ihm damit die Worte. ~~**~~ „Moreau!“ Jean schloss die Tür ihres Schlägerspindes und drehte sich zu ihrem Coach um, der mit seinem üblichen, grummeligen Ton nach ihm gerufen hatte. Fragend hob er die Augenbraue und joggte zu dem älteren Mann, der am anderen Ende des Spielfeldes stand und ihn viel zu neutral musterte, als dass es Jean genug Ruhe vermitteln würde. „Coach?“, fragte er dementsprechend vorsichtig und Rhemann nickte knapp. „Mitkommen.“ Jean folgte seinem Trainer und schloss auf Rhemanns Nicken hin mit nervösen Fingern die Tür zu dessen Büro. „Ich mach’s kurz, Moreau. Die Ravens wurden für die komplette nächste Saison gesperrt. Der Verband hat das Zeigen dieses Sexvideos von dir als grobe Unsportlichkeit gewertet und sie ausgeschlossen. Wie du dir vorstellen kannst, war der Verein ganz und gar nicht begeistert davon. Soweit ich das mitgekommen habe, haben sie ihren neuen Trainer wieder gefeuert und den Kapitän der Ravens auf Dauer suspendiert, weil er im Verdacht steht, das Ganze angeleiert zu haben.“ Jean schluckte, während er Rhemanns Worten lauschte. Es befriedigte ihn zu hören, dass es Konsequenzen für die Ravens gab und dass sie nächste Saison nicht mehr spielen würden. Das geschah ihnen Recht. Was es für Auswirkungen für ihn haben würde, wenn das vormals prämierte und ertragreiche Team wegen ihm nicht mehr spielen durfte… Doch das war vor über zwei Wochen gewesen. Wenn der Lord ihn hatte umbringen lassen wollen, dann hätte er es schon längst getan, oder? Außerdem war er – im Gegensatz zu den Ravens – nicht durch unsportliches Verhalten aufgefallen, ganz im Gegenteil. Er hatte seinen Wert bewiesen, auch unter Umständen, die widriger nicht hätten sein können. Jean ließ seine Gedanken zu dem Punkt schweifen, der ihn mehr beschäftigte als seine Mutmaßungen über den Patriarchen des Moriyama-Clans. Er fragte sich, ob es sicher war, nun mit Rhemann über die Herkunft des Videos zu sprechen. Beim Spiel wäre es das nicht gewesen, doch nun würde sein Trainer ihn sicherlich nicht mehr sperren oder vom nächsten Spiel ausschließen, nur weil es ihm passiert war. „Es war kein Sexvideo“, stellte er richtig und die Verwirrung seines Coaches war offensichtlich. Natürlich, wusste er doch nichts von Jeremys Definition und von dem, was passiert war. Dass Jean in der Nacht vor Schmerz geschrien hatte, sah man auf dem Video natürlich nicht. Jean räusperte sich und starrte auf seine Hände, die von ihrem Training noch ganz rot und gut durchblutet waren. „Ich wollte das nicht, was mit mir gemacht wurde. Also das auf dem Video. Er hat sich mir aufgezwungen, das war kein Sex“, nutzte er Jeremys Definition für den Unterschied zwischen Sex und Vergewaltigung und musterte Rhemann vorsichtig. Seine Worte, so ruhig sie auch waren, ließen die Gestik und Mimik seines Coaches einfrieren. Da war nichts mehr. Rhemann starrte ihm in die Augen und das machte Jean mit jeder Sekunde, die verstrich, unruhiger. Je mehr Zeit verging, desto schlimmer wurde es und schlussendlich räusperte er sich nervös. „Jemand hat sich dir aufgezwungen“, wisperte Rhemann daraufhin rau und Jean nickte. Er zuckte brachial zusammen, als der andere Mann sich abrupt bewegte und wich in instinktiver Erwartung eines Schlages zurück. Dass Rhemann lediglich die Hand nach ihm ausgestreckt hatte und ihn nun bestürzt musterte, sah Jean erst jetzt, als er den Blick hob. „Und davon haben sie ein Video gemacht?“ Seine Stimme wurde immer wütender, je mehr er sagte und Jean schluckte. Sein Instinkt riet ihm zu fliehen, weil diese Wut geben ihn gerichtet sein könnte. Sein in Los Angeles gesammeltes Wissen flüsterte ihm ein, dass Rhemann nicht auf ihn sauer war. Sicher war er sich nicht und sein Instinkt hatte da ganz andere Bedürfnisse. „Ja, das haben sie“, bestätigte Jean schlicht und konnte den Schrecken, der hinter diesen Worten lag, nicht gänzlich verbergen. „Aber die Männer, die das getan haben, sind nicht mehr da. Es ist also okay.“ „Männer… und nein! Nichts ist okay!“, begehrte Rhemann auf und Jean senkte schuldbewusst den Blick. Natürlich war es das nicht. Schließlich konnte Rhemann sehen, dass es möglich war, ihn zu demütigen und dadurch ein Spiel zu gefährden. Jean presste seinen Kiefer eisern aufeinander, als er seinen Fehler erkannte. „Ich kann noch spielen, Sir. Meine Leistung ist dadurch nicht beeinträchtigt. Sie haben damit aufgehört, als ich zwanzig geworden bin. Ich kann weiterspielen, versprochen. Auch wenn sie weiterhin Videos zeigen. Das beeinflusst meine Fähigkeit zu spielen nicht.“ Dieses Mal bewegte sich sein Coach langsamer und berechenbarer für Jean. Er ließ sich auf einen der Stühle auf halbem Weg zwischen Jean und seinem Schreibtisch fallen und barg den Kopf in seinen Händen, scheinbar außer sich vor Emotionen, die Jean nicht genau bestimmen konnte. Ein gequälter Laut verließ Rhemanns Lippen, bevor er mit großen, entsetzten Augen zu Jean hochsah. Keine Wut also. „Junge, hier geht es nicht darum, ob du spielen kannst oder nicht. Hier geht es um dich und was sie dir angetan haben dort. Es tut mir so leid, dass du das alles durchmachen musstest. Ich bin entsetzt und ich bin bestürzt, weil ich nicht weiß, wie ich reagieren soll, um etwas davon wieder gut zu machen. Dir soll es doch gut gehen hier. Du sollst doch nicht leiden.“ Die emotionalen Worte berührten Jean mehr, als er es erwartet hatte. Er nahm sich den anderen Stuhl und setzte sich langsam und in ausreichender Entfernung zu Rhemann darauf. „Es ist okay hier. Ich…ich freue mich. Hier zu sein, weg von Evermore. Ich bin regelmäßig bei Brian und wir sprechen über das, was passiert ist. Er hilft mir. Die Trojans und Sie zeigen mir, dass es auch anders sein kann als dort. Dass es nicht so sein muss. Und dafür bin ich Ihnen dankbar, Coach.“ Seine Stimme war immer leiser geworden und zum Schluss beinahe unhörbar. Es war das erste Mal, dass er die Worte, die er in sich fühlte, auch wirklich aussprach. Rhemann musterte ihn vorsichtig. „Aber da ist doch selbstverständlich, Jean. Du bist ein Mensch. Dir steht jederzeit und immer das Recht zu, unversehrt zu bleiben“, erwiderte er beinahe schon sanft und vor einigen Monaten hätte Jean das als Lüge abgetan. Nun stand er dem Konzept weitaus offener gegenüber, dennoch hatte er immer noch Restzweifel, diese Wahrheit vollumfänglich anzuerkennen. „Es wird…besser“, gestand Jean schließlich ein und erlaubte sich ein versicherndes Nicken. Er meinte es als Versicherung und deswegen konnte er mit der Trauer in den schwarzen Augen seines Trainers wenig anfangen. „Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich jederzeit unterstützen werde, wenn du zur Polizei gehen und Anzeige erstatten willst.“ Jean blinzelte. Zur Polizei? Wie auch schon zu Beginn war die Polizei etwas Nebulöses und Hilfloses, das ihm nicht helfen würde ganz im Gegenteil. Es würde die Moriyamas auf seine Spur bringen und das durfte er nicht zulassen. Nicht mit den Verbindungen, die er geknüpft hatte. Nicht mit den Menschen, die er mochte. „Es ist nicht mehr nötig“, erwiderte er daher indifferent und Rhemann glaubte ihm kein Wort. „Es gibt sie nicht mehr und sie können niemandem wehtun. Außerdem ist Riko tot. Er…er hat es damals initiiert.“ Jean wusste, dass er aufhören sollte zu sprechen, weil seine Worte nur Schmerz in Rhemann erzeugten, doch er konnte nicht. Es sprudelte aus ihm heraus und Jean hegte den Verdacht, dass es daher kam, dass ihm in Evermore nie geglaubt worden war. Dass jeder weggesehen hatte. Rhemann tat das nicht und kümmerte sich. Er sorgte sich und ein kleiner, naiver Teil in Jean sehnte sich genau danach um zu verarbeiten, was geschehen war. Um es wieder gut zu machen. Für sich. „Ich würde dich so gerne in den Arm nehmen“, sagte sein Coach schließlich und Jean war froh, dass der andere Mann keine Anstalten machte, auf ihn zuzukommen. Er stellte es ihm frei und das alleine brachte Jean zum Nachdenken. Wie wäre es denn, wenn? Das Undenkbare. Eine Berührung eines Coaches, der ihm keine Schmerzen zufügte. Trotz seines Bedarfes an Wiedergutmachung und an Wahrnehmung seines Leides war das etwas, das noch sehr weit weg war im Rahmen alles Möglichen. Jean schluckte schwer und starrte auf seine Hände. Rhemann war nicht der Herr. Rhemann schlug ihn nicht, peitschte ihn nicht aus, er hatte ihn immer mit Respekt behandelt. Warum sollte er es also nicht wagen? „Wenn Sie das wünschen“, entgegnete er und erntete ein trauriges Lächeln. „Moreau, es geht nicht darum, was ich mir wünsche, sondern was dir gut tut.“ Das war einfach zu beantworten und ebenso einfach kam es Jean über die Lippen. „Die Trojans tun mir gut“, erwiderte er und brachte ein ehrliches Strahlen auf das Gesicht seines Coaches. „Das ist gut zu hören“, nickte sein Coach, doch die Traurigkeit in seinen Augen konnte er nicht verbergen. Jean zögerte einen Moment und schüttelte dann den Kopf. „Ich möchte es für die Zukunft nicht ausschließen, aber jetzt möchte ich nicht umarmt werden“, sagte er vorsichtig und es war vollkommen in Ordnung für Rhemann. Er nahm es ihm nicht böse, ganz im Gegenteil, und schon das heilte die Wunde, die Jean in seinem Inneren spürte, ein Stück weiter. ~~**~~ Jeremy hatte Tage. Tage, an denen sein Team nicht sicher vor ihm war. Tage, an denen er nur Unsinn im Kopf hatte und sein Team unter ihm zu leiden hatte. Egal wer. Er hatte seit Jeans Ankunft bei ihnen keinen solchen mehr gehabt, doch nun war es unvermeidbar. Seit er aufgestanden war, hatte er sprichwörtliche Hummeln im Hintern. Ihm ging es gut und er war entspannt, gelöst. Brian war in der Lage gewesen, ihm in den letzten Tagen das enge Band, das seine Seele umschlossen hatte, zu lösen. Stück für Stück hatten sie die Grundlage für eine Verarbeitung geschaffen, die ihm helfen würde, mit dem Wissen um die Grausamkeiten, die Jean zugestoßen waren, umzugehen. Das traumatisierende Mitwissen und Mitansehen. Jeremy war erleichtert, dass es einen Weg für ihn gab, damit umzugehen, und das schlug sich auf seine Laune nieder und somit auch auf die Gefahr, dass er einen dieser Tage hatte. Alvarez war die Erste gewesen. Sie hatte gleich noch vor ihrer ersten Vorlesung einen Kaffee mit Chilipulver von ihm bekommen. Ajeet hatte er heute im Training seinen Schläger geklaut und war mit diesem vor dem Torhüter während ihres Trainingsspiels gegeneinander quer über das Spielfeld weggerannt. Ellie und Logan hatten ihre Protektoren vertauscht vorgefunden und nun hatte Jeremy ein neues Opfer. Jean. Ja, er hatte Tage, da war er lebensmüde. Sehr lebensmüde, denn er hatte dem hochkonzentrierten Backliner seine Hausaufgaben für den Makroökonomiekurs unter den aufgestützten Armen weggezogen, weil dieser sich seit Stunden darin vergaben hatte, ohne auf seine Umgebung zu achten. Die Blätter eisern umklammert stand er nun am Durchgang zum Wohnzimmer und wartete, dass Jean langsam auf seiner Trance herauskam. Was er auch tat, auch wenn er Sekunden brauchte, um langsam seinen Kopf zu heben. Noch viel langsamer drehte er den Kopf zur Seite, sodass er über seine Schulter sehen konnte, die Augenbraue fragend erhoben. Stumm wurde Jeremy gemustert und er wie auch seine schelmische Seite grinsten breit. Er hob die Blätter und wackelte mit den Augenbrauen. „Genug gelernt, jetzt ist Freizeit!“, forderte er den Teufel heraus, der ihn nach wie vor stumm musterte und dessen durchdringender Blick viel viel Gutes auf Aufregendes in Jeremy anrichtete. „Jeremy. Das sind meine Hausaufgaben“, sagte Jean ruhig, als wäre das nicht offensichtlich und als würde Jeremy sie zum ersten Mal sehen. Begeistert nickte er und trat einen Schritt nach hinten. Jean zuckte, hielt sich dann aber zurück, ganz klar unschlüssig, was er tun sollte. „Ich war noch nicht fertig.“ „Für heute schon!“, erwiderte Jeremy mit absoluter selbstüberzeugter Überredungskunst, die an Jean abperlte wie Wasser an Öl. „Nein.“ „Doch.“ „Jeremy.“ „Jean.“ Der Backliner atmete tief ein. „Gib sie mir.“ „Nö.“ „Doch.“ „Nein.“ „Jeremy.“ „Du musst sie dir schon holen.“ Ein Muskel in Jeans Wange zuckte. „Ich bin nicht Ajeet“, grollte er, doch Jeremy sah bereits, dass der andere Junge sich erhob und sich dabei die Muskeln unter seinem dunkelgrünen Shirt anspannten. Ein Jäger, der bereit war für die Jagd. Jeremy wich zurück, im eigenen Jagdtrieb des Flüchtenden. Eigentlich sollte Jeremy Angst haben vor den dunklen, grauen Augen, die ihn so unamüsiert musterten und taxierten, als wolle Jean ihn fressen. Hatte er aber nicht, nein, dazu war das Kribbeln in seiner Magengegend und etwas tiefer viel zu aufregend. Dafür war er heute viel zu wagemutig. Jean trat einen Schritt nach vorne und Jeremy parierte dies mit einem Schritt nach hinten. So tanzten sie Zentimeter um Zentimeter hinaus aus dem Schlafzimmer in das Wohnzimmer. „Bleib stehen, Knox“, sagte Jean mit tiefer, warnender Stimme, die Jeremy einen Schauer über den Rücken jagte. Ein Ansporn, weiter zu gehen. „Bring mich dazu“, raunte er mit Schalk in der Stimme und wich nach hinten, als Jean auf ihn zukam. Oh ja, der Backliner hatte das Spiel begriffen und hatte beschlossen, es langsam zu spielen. „Das sind meine Hausaufgaben“, wiederholte Jean murmelnd die Tatsache, die Jeremy nur zu gut bekannt war. „Jetzt nicht mehr“, erwiderte er entsprechend wagemutig. Jean legte den Kopf schief und musterte ihn mit einem minimalen Lächeln. Mit einem Ruck setzte er sich in Bewegung und ebenso schnell war Jeremy bei ihrer Wohnungstür. Er machte den Fehler sich umzudrehen, weg von Jean, der mit einem einzigen, großen Satz bei ihm war. Jeremys Hand lag noch auf der Türklinke, die er gerade eben hinuntergedrückt hatte, als Jean seine Hand auf Jeremys legte und den Schwung der Bewegung ausnutzte um die geöffnete Tür wieder leise ins Schloss fallen zu lassen. Beinahe schon bedrohlich fiel sein Schatten auf Jeremy und der sowieso schon dunkle, kleine Flur wurde mit einem Mal noch viel dunkler und beengter. Jeremy schauderte ob des Gefühls der schweren, unnachgiebigen Präsenz, der vollkommenen Bewegungslosigkeit, die ihn hier an der Tür gefangen hielt. „Meine. Hausaufgaben“, raunte Jean ihm ins Ohr und sein Atem strich kitzelnd über Jeremys Haut. Ein leises Wimmern entkam ihm und instinktiv presste Jeremy sich an Jean, der ihm viel zu wenig Spielraum ließ, sich zu bewegen und deswegen seine Worte ad absurdum führte. Jeremy lehnte seinen Kopf an die Brust des größeren Jungen und schielte wagemutig zu ihm nach oben. „Komm nicht dran“, grinste er schelmisch und Jean hob vielsagend die Augenbraue. „Überleg es dir nochmal.“ „Brauch ich nicht.“ Jeremy lockte Jean und, was ihn umso mehr verwunderte, Jean ließ sich locken. Er ging auf das Spiel ein, hatte kein Problem mit ihrer Nähe und mit seinem Tun. Jeremy mochte wetten, dass Jean gerade nicht über das nachdachte, was er tat, sondern dass hier wieder derjenige zum Vorschein kam, der instinktiv handelte. Der wenig kontrollierte, aber bestimmende Jean. Der dominierende Mann mit all seiner Strenge und gnadenlosen Ruchlosigkeit, die er auf dem Spielfeld zu bieten hatte. Jeans Atem strich über sein Ohr und Jeremy legte voller Freude seinen Kopf schief, entblößte damit seinen empfindlichen Hals. Er seufzte innerlich, als quälend langsame Sekunden verstrichen, in denen nichts geschah. Dann jedoch war Jeans Atem der Vorbote auf mehr und kaum, dass Jeremy sich darauf einstellen konnte, waren es auch schon die Lippen des Backliners, die sich vorsichtig und hauchzart auf seine empfindliche Haut in der Halsbeuge legten. Nichts an Jeremys Wimmern war nun stumm und es mündete in einem glücklichen Aufstöhnen. Er lehnte sich zurück in Jeans Wärme und stellte fest, dass Jeans Tun ihn sehr zuverlässig erregte. Was absolut kein Wunder war bei ihrer körperlichen Nähe und Jeans Geruch, der Jeremy so gut gefiel. „Hmmm…“, seufzte er zufrieden und der Körper hinter ihm fror ein. Jean wurde starr, das konnte Jeremy ganz genau spüren und zu seinem Unbill löste Jean sich abrupt von ihm. Langsam drehte sich Jeremy um und sah, dass der andere Junge einen ganzen Schritt zurückgegangen war. Fragend sah er ihm in das erschrockene Gesicht. „Du…deine Geräusche…ich habe dich bedrängt“, presste Jean rau hervor, ganz zu Jeremys Verwirrung. Er war doch nicht bedrängt worden. Jean hatte doch… Oh Gott. Verspätet begriff Jeremy, was das Problem sein konnte und er lächelte sanft. „Du hast mich nicht bedrängt, Jean, ganz und gar nicht.“ Er lacht verlegen. „Ich bin nur erregt. Auf eine gewisse Art und Weise. Also deine Nähe und dein Tun erregen mich.“ Jeans Blick huschte nach unten und zuckt abrupt wieder hoch in seine Augen. Er schluckte sichtbar. „Wieso bist du das?“, fragte er und knetete unruhig seine Finger. „Was habe ich getan, dass du es bist?“ Es schwang latente Sorge mit in der Stimme und Jeremy atmete tief durch. Jean hatte Angst, dass sich ihm jemand aufzwingen würde. Dass er sich ihm aufzwingen würde. Bewusst entspannte Jeremy sich und verbarg seine gut sichtbare Erregung hinter locker verschränkten Händen. Er schämte sich nicht dafür, würde aber alles tun, damit Jean sich sicherer fühlte. „Ich finde es toll, wenn du du bist, also ja, auch dein unnachgiebiges und dominantes Ich. Das gefällt mir sehr und es erregt mich. Deine Berührungen und Küsse tun das, aber ich würde dich niemals zu etwas zwingen. Niemals, Jean, versprochen.“ Unsicherheit flackerte hinter den aufmerksamen, grauen Augen und Jean brauchte lange, um eine Antwort zu finden. „Aber wenn du erregt bist, sollte ich dem doch Abhilfe schaffen, oder?“ Sacht schüttelte Jeremy den Kopf. „Nein, du bist zu gar nichts verpflichtet. Nur, wenn du auch Spaß daran und Lust dazu hast, dann können wir das gemeinsam angehen.“ Wieder traf er auf eine Mauer des kritischen Musterns und schließlich atmete Jean tief durch. „Wie macht man das?“, fragte er neutral und Jeremy hatte nicht den Hauch einer Ahnung, was Jean meinte. Fragend runzelte er die Stirn und Jean machte eine allumfassende Handbewegung. „Das hier. Sex.“ Jeremy blinzelte. Was? „Willst du, dass ich dir erkläre, wie es geht?“, hakte er vorsichtig nach und Jean schüttelte den Kopf. Verdächtige Röte kroch seine Wangen empor und verlegen sah er zur Seite. Eigentlich überall hin nur nicht zu Jeremy. „Nein, ich…“, Jean stockte, biss sich auf die Lippen und kämpfte augenscheinlich mit seinen Gedanken. Er rang mit ihnen, bevor er sie in Worte pressen konnte. „Nein, ich meine, wie initiiert man das?“ Überrascht weiteten sich Jeremys Augen und auf der Suche nach Worten blinzelte er. Wie initiierte man Sex? Das war eine schwierige Frage. Es kam einfach. Anziehungskraft und Nähe spielten eine große Rolle. So wie jetzt gerade eben. Doch Jean hatte in dieser Beziehung nur Gewalt kennengelernt und wusste dementsprechend nicht, wie es war, wenn es einvernehmlich geschah. „Beide haben Lust darauf und finden zueinander. Es ist manchmal einfach ein Blick oder ein Wort, ein Gedanke. Vielleicht eine Berührung oder einfach geplant, weil man Lust darauf hat.“ „Ist dies so eine Situation?“, hakte Jean nach und Jeremy wog den Kopf hin und her. „Das kommt drauf an. Möchtest du es denn auch?“ Zögernd zuckte Jean mit den Schultern. „Das…weiß ich nicht.“ Langsam trat Jeremy einen Schritt auf den anderen Jungen zu und griff ebenso gut sichtbar nach dessen Hand. Er führte sie zu seinen Lippen und hauchte einen sachten Kuss auf die rauen Knöchel. „Dann ist es auch noch nicht der richtige Zeitpunkt, Jean. Erst dann, wenn du dir sicher bist.“ Jean sah erneut an ihm herunter und musterte die Ausbeulung von Jeremys Trainingshose kritisch. Es hatte etwas von einem stummen Zwiegespräch und das wiederum hatte im ersten Moment etwas Komisches. Als Jean jedoch hoch- und ihm direkt in die Augen sah, verlor sich jeder Anflug von Humor. Er war ernst, vorsichtig gar. „Ich würde gerne darüber sprechen. Also darüber, was du magst.“ Jeremy nickte. „Und was du magst.“ „Was ich mögen könnte“, korrigierte Jean und Jeremy nickte. „Wir könnten uns irgendwann das Video einmal anschauen und dann sagst du mir, was dir daran gut gefallen hat.“ Mit einem Mal schüchtern senkte Jean den Blick und starrte auf ihre verbundenen Hände. „Das wäre schön“, murmelte er und trat abrupt auf Jeremy zu. Sanft zog Jean ihn zu sich heran und presste ihn an sich. Überrascht stöhnte Jeremy auf, als seine Erregung in Kontakt zu Jeans Oberschenkel kam, und Jeans warmer Atem strich erneut über sein Ohr. „Nach meinen Hausaufgaben“, raunte Jean und rupfte die Blätter schamlos aus Jeremys überrascht-fassungsloser Hand. Gepeinigt jaulte Jeremy auf. „Du Mieser! Du hinterhältiger, mieser Schuft!“, beschwerte er sich lautstark über Jeans Überrumpelungstaktik. „Das ist so gemein von dir, so hinterh-“ Weiter kam er nicht, als Jeans Lippen sich auf seine pressten. So sanft sie waren, so unnachgiebig presste Jean Jeremy an die Holztür und hielt ihn nun wirklich gefangen. Und wer war er, dass er sich gegen diese Behandlung auch nur in Ansätzen wehrte? Im Gegenteil. Jeremy stöhnte zufrieden auf, hinein in ihren Kuss. Er öffnete seine Lippen und lud Jean ein, ihr Spiel intensiver zu treiben. Jean ließ sich locken, er ging darauf ein und verursachte in Jeremy einen Schauer der Erregung nach dem anderen. Die Laute zwischen ihnen waren zwar nicht halb so frivol wie Jeremys Gedanken, doch auch das reichte, um ihn butterweich werden zu lassen in den Händen dieses Diktators, der schlussendlich einen bestimmten Schritt zurücktrat und Jeremy sehen ließ, dass auch er durch ihr Tun nicht unbeeindruckt war. Im Gegenteil. „Wer hätte gedacht, dass man dich so einfach zum Schweigen bringen kann“, raunte Jean und musste sich räuspern, was Jeremy zu einem amüsierten Schnauben brachte. Doch bei aller Lust, die in ihm schwelte, war es auch Aufregung ob der Verantwortung und des Vertrauens, das Jean ihm schenkte, die beide sein Herz schneller schlagen ließen. Er war derjenige, der den schlechten Erinnerungen aus Evermore vielleicht etwas Gutes gegenüberstellen konnte und Jeremy war mehr als bereit, diese Aufgabe zu erfüllen. ~~**~~ Und so saßen sie einen Tag später zusammen auf der Couch, aneinander gelehnt, so eng, dass kein Blatt zwischen sie passte. Jeremy hatte nach seinem Einverständnis den Kopf auf Jeans Schulter gelegt und Jean hatte es sich nicht nehmen lassen, einen Kuss auf die weichen, blonden Haare zu platzieren. Jeremy roch gut und Jean brauchte in diesem Moment die anschmiegsame, so freigiebige Nähe des anderen Jungen um sich seiner Sache auch wirklich sicher zu sein. Jean brauchte die zutrauliche Offenheit, immer noch. Er brauchte jemanden, der ihn öffnete und es ihm zeigte. So auch, wie man Sex hatte. Er wollte es – grundsätzlich. Er konnte es sich vorstellen. Er wurde durch Jeremys Nähe erregt und er wollte den anderen Jungen berühren, dessen war sich Jean spätestens seit dem Moment sicher, in dem er Jeremy an der Tür eingefangen hatte. Er wollte diese Laute hören, die tief in seinen Unterleib eindrangen und in ihm ein Kribbeln auslösten, das Jean so noch nicht gekannt hatte. Aber gleichzeitig hatte Jean auch Angst davor, was passieren und wie er reagieren würde. Was, wenn die Erinnerung an Evermore zu stark werden würde? Was, wenn sie immer dominieren würden? Er schüttelte die unsicheren Gedanken ab und deutete mit einem Kopfnicken auf sein Handy. „Bereit?“, fragte er Jeremy, der mit erwartungsvoll großen Augen nickte. Sein Kapitän war aufgeregt, das sah und spürte Jean nur zu deutlich. Widersprüchlicherweise machte ihn selbst das ruhiger und gelassener, auch wenn er keine Ahnung hatte, warum. Jean drückte auf den großen Dreiecksknopf und hielt das Handy so zwischen sie, dass sie beide schauen konnten. Sie hatten ausgemacht, dass sie Szene für Szene durchgehen und darüber sprechen würden, um einen gemeinsamen Stand zu haben. Es fing harmlos an, Küsse und Streicheleinheiten, körperliche Nähe, die Jean durchaus ertragen und auch mögen konnte. Wenn er an Jeremys Berührungen von vor ein paar Tagen nach ihrem Spiel in Evermore dachte, dann würde er sie auf jeden Fall mögen. Jean pausierte das Video und deutete mit einem Nicken auf die beiden Männer. „Es war für mich kein Problem, als wir uns nach dem Spiel gegen die Ravens berührt haben. Ich weiß nur nicht, wie es ist, wenn wir beide unbekleidet sind.“ Jeremy hob den Kopf und nickte ernst. „Ich glaube, da hilft nur ausprobieren, wenn du dich sicher genug fühlst.“ Abwägend runzelte Jean die Stirn. „Ich mag deinen nackten Körper“, erwiderte er ehrlich und Jeremy blinzelte. Dann strahlte er und grinste. „Warte, bis du alles gesehen hast“, sagte er mit wackelnden Augenbrauen und Jean zuckte leicht mit den Schultern. „Das habe ich schon“, sagte er und wurde sich im nächsten Moment bewusst, was er damit ausgedrückt hatte. Natürlich hatte er schon alles gesehen, eben weil er wie ein Spanner die Welt durch ein Schlüsselloch betrachtete und so häufiger in den Genuss von Jeremys Vorder- und Rückseite gekommen war. Das wusste der blonde Junge nur bisher nicht. Bisher. Sie sahen sich an und Jean wusste, dass er rot wurde. Er spürte die Wärme direkt unter seiner Haut, die mehr und mehr an Bedeutung gewann. Verlegen räusperte er sich und hoffte, dass Jeremy nicht nachfragen oder im schlimmsten Fall böse sein würde. Doch da war nichts, außer einem vielsagenden Grinsen. „Du hast gespinxt.“ „Ja, habe ich“, murmelte Jean in einer kruden Mischung aus Schuldbewusstsein und Aufregung, sich verraten zu haben und erntete einen hauchzarten Kuss auf seine Wange dafür. „Das ist okay.“ Er gab einen undefinierbaren Laut von sich und schaltete das Video erneut an. Die Männer legten sich auf das Bett und streichelten sich intensiver, auch tiefer und intimer. Jean spürte, wie das Video ihn auch jetzt nicht kalt ließ und fragte sich zum ersten Mal, seit sie beide den Entschluss gefasst hatten, es zu schauen, ob er es wirklich durchstehen konnte ohne zu einem Orgasmus oder eine deutlich sichtbare Erregung zu bekommen. Das sollte doch möglich sein, oder? Er konnte sich schließlich beherrschen. Oder wollte er es nicht? Konnte er sich vorstellen, heute und hier mit Jeremy bisher nie dagewesene Intimität zu teilen? Jean grübelte. Sie hatten ausgemacht, dass sie erst über Grenzen und Vorlieben sprechen würden, bevor sie sich wirklich so nahekamen. Doch musste dabei ein großer, zeitlicher Abstand dazwischen liegen? Er wusste es nicht, aber er fühlte auch keinen Druck in sich. War es das, was Jeremy damit gemeint hatte, als er gesagt hatte, dass sie es auf sich zukommen lassen würden? Vermutlich. Vielleicht hatte Jeremy ja auch gar keine Lust darauf. Als der eine Mann den anderen in den Mund nahm, hielt er es wieder an und sah in die geweiteten Pupillen des blonden Jungen, den das Video ebenfalls ganz und gar nicht kalt ließ, der sich um seinetwillen jedoch zurück zu nehmen schien. „Ich würde das gerne ausprobieren.“ „Oralsex?“, spezifizierte Jeremy und Jean nickte. „Möchtest du, dass ich dich in den Mund nehme oder möchtest du mich in den Mund nehmen?“, fragte er weiter und Jean räusperte sich. „Beides.“ Jeremys rote Ohren verrieten die Freude, die ihm Jeans Antwort bereitete. „Ich würde auch gerne beides machen.“ „Der Mann in dem Video ist sehr geschickt darin“, merkte Jean nach einem Moment des Schweigens an und verfluchte seine vage Aussage, als er sah, dass der blonde Junge nicht die Frage erkannte, die zwischen den Worten lag. „Ist es wirklich so einfach?“, schob er zähneknirschend nach und endlich verstand Jeremy. Das Zögern in den blauen Augen teilte ihm eigentlich schon alles mit, was er darüber wissen musste und Jean grollte innerlich. Wie schwer konnte es denn schon sein, schließlich schoben sich Menschen, so auch Jeremy, absurde Mengen an Essen in den Mund. Und so groß waren die primären Geschlechtsorgane eines Mannes nun auch nicht, oder? „Man braucht schon etwas Übung“, erwiderte der blonde Junge schließlich ausweichend und Jean erkannte die Untertreibung, als er sie hörte. „Ist es erlernbar?“ Abgehackt nickte Jeremy und rieb sich verlegen über den Nacken. „Aber sicherlich.“ Jean machte an das Thema einen geistigen Haken und ließ das Video weiterlaufen. Er war gut darin, Dinge zu lernen und dank des Sadismus seines alten Trainers auch ebenso schnell. „Wie ist es damit?“, fragte er kritisch und deutete auf das, was man, wie er mittlerweile wusste, Rimming nannte. Er sah Jeremy an, der feuerrot im Gesicht überall hinsah nur nicht zu ihm. Nachdenklich versuchte Jean diese Reaktion zu kategorisieren und hob schlussendlich die Augenbraue, als ein gepeinigter Laut Jeremys Kehle verließ. „Das fühlt sich schon gut an.“ „Aber?“ Jeremy wimmerte und barg den Kopf in den Händen. Irritiert wohnte Jean dem bei und wartete geduldig. Er ließ Jeremy Zeit für eine Erklärung, die dieser anscheinend auch dringend brauchte. „Es ist nicht jedermanns Sache“, presste er schließlich hervor und Jean verstand. Natürlich hatte Jeremy auch Vorlieben. „Hast du es schon einmal gemacht?“ Wild schüttelte Jeremy die blonden, wilden Haare und Jean brummte. Wenn er es jetzt noch nicht gemacht hatte, bei all dem Vorsprung, den er bereits hatte, dann war das vermutlich nichts für ihn. Jean ließ das Thema mit einem zustimmenden Laut fallen und drückte abermals auf den Playkopf. Schweigend sah er dabei zu, wie ein Mann beide Schwänze in die Hand nahm. „Das sieht einfacher aus“, merkte er an, während er das Video laufen ließ und Jeremy brummte zustimmend. „Es fühlt sich auch schön an. Sehr intim.“ Jean glaubte ihm das aufs Wort und schaudere innerlich, als er daran dachte, wie er sich alleine befriedigt hatte. Zusammen würde sich das sicherlich noch besser anfühlen. Glaubte er. „Ich würde es gerne einmal ausprobieren.“ Auch das stieß auf begeisterte Zustimmung und Jean gewann langsam den Eindruck, dass Jeremy mit fast allem zufrieden war, was er ausprobieren wollte oder was er gut fand. Lag es daran, dass der andere Junge soviel Erfahrung hatte oder daran, dass er ihm nichts aufzwingen wollte? Jean runzelte die Stirn und beschloss, Jeremy nach seinen speziellen Vorlieben zu fragen, wenn sie am Ende des Videos angekommen war. Er widmete sich wieder der Intimität vor sich und ließ das Video laufen, bis die beiden Männer bei der Penetration ankamen. Es sah so einfach so, so leicht, doch das war es in Wirklichkeit nicht, soviel hatte er schon recherchiert. Das, was mit ihm gemacht worden war, war nicht richtig. Dehnung war wichtig, Vorsicht ebenso. Analsex sollte nicht bluten und auch nicht schmerzen. Zumindest der Schmerz, den er empfunden hatte, war nicht normal gewesen. Die offensichtliche Lust, die die beiden Männer dabei verspürten, wollte er auch und im Nachhinein war es auch genau das gewesen, was er auf Jeremys Gesicht gesehen hatte, als er ihn mit dem Reporter überrascht hatte. Jean warf einen Seitenblick auf seinen Kapitän, doch dieser starrte, ihn vollkommen ignorierend, hingerissen auf den Bildschirm. Die Lippen leicht geöffnet war Jeremy fasziniert von dem, was er sah. Jean konnte das nur allzu gut nachvollziehen und räusperte sich. „Ich würde das gerne auch ausprobieren“, sagte er leise. „Allerdings glaube ich nicht, dass ich der empfangende Teil dessen sein kann“, nutzte er Jeremys beschönigende Wortwahl für den Akt. Er glaubte nicht, dass er es noch einmal ertragen könnte und Jeremys sanftes Lächeln und Nicken sagten ihm, dass dies auch nicht notwendig sein würde. „Das ist vollkommen okay. Ich würde mich freuen, dich in mir zu haben. Wenn du es andersherum nicht möchtest, dann ist das vollkommen okay.“ Jean schluckte ob der Einfachheit der Worte. So leicht waren sie, so selbstverständlich. Hier war das so, in Los Angeles. „Die Männer verwenden kein Kondom…ist das normal?“, hakte Jean nach und sah den Beiden noch ein paar Sekunden zu, wie sie sich harmonisch im Gleichtakt bewegten, bevor er das Video pausierte. Jeremy wog den Kopf hin und her, anscheinend mit sich in innerem Widerstreit, welche Antwort er geben sollte. „Wenn man sich in einer langjährigen Partnerschaft ohne Partnerwechsel befindet, dann ja. Aber insbesondere am Anfang einer Beziehung oder bei wechselnden Partnern ist es durchaus sinnvoll, ein Kondom zu nutzen.“ Stille trat zwischen sie, als Jean über die Worte nachdachte und versuchte, die Erinnerungen in Schach zu halten, die ihn alleine bei dem Wort überkamen. Als er merkte, dass Jeremy ihn viel zu aufmerksam musterte, räusperte er sich und senkte die Hand mit dem Video um sie auf seinem Schoß abzulegen. Er hatte Jeremy nie die Details dessen erzählt und würde es auch nicht tun. Aber hier musste er eine Ausnahme machen, denn es war notwendig. Oder? Jean grübelte und kam schlussendlich zu dem Ergebnis, dass dieses Wissen Jeremy nicht schaden würde. Er holte tief Luft. „Kurz bevor es passierte, hat Riko Kondome in meiner Umgebung platziert. In dem Badezimmer, auf meiner Tasche in der Umkleide… Es war für mich ein Zeichen, dass es passieren würde, auch wenn ich nicht genau wusste, wann, und irgendwann hatte ich Angst davor. Als ich dann das erste Mal hier ins Bad gekommen bin, habe ich auch Kondome gesehen und gedacht, dass…“ Er sprach nicht weiter, musste es auch gar nicht. Jeremys Entsetzen war deutlich greifbar und Jean tat es beinahe augenblicklich leid, das gesagt zu haben. Anscheinend richteten seine Worte doch Schaden an. Wie so oft. „Ich weiß jetzt, dass es niemals passiert wäre“, unterbrach Jean jeden Versuch des blonden Jungen, sich zu rechtfertigen und seufzte. „Ich weiß, dass Kondome ein Schutz sind. Aber ich glaube, ich muss mich erst an sie gewöhnen und eben auch daran, dass sie für etwas Gutes stehen und dass sie nur ein Mittel zum Zweck sind.“ Nur langsam wich die Anspannung aus Jeremys Gesicht und er entspannte sich, fand zu etwas, das einem Lächeln gleichkam. „Das kann ich verstehen, Jean. Ich habe sie in meinem Teil unseres Badezimmerschrankes, ganz hinten links. Wenn du sie und ihren Gebrauch ausprobieren möchtest, dann geht das sehr gut mit einer Banane.“ Jean blinzelte verwirrt und Jeremy sah ihm abwartend in den Augen. „Banane“, echote er, im festen Glauben daran, dass sein Kapitän ihn gerade auf den Arm nahm. Weit gefehlt, sagte ihm doch die Ernsthaftigkeit der blauen Augen etwas gänzlich Anderes. „Zum Überstreifen.“ „Zum Überstreifen…“, wiederholte Jean und kam sich langsam wie ein Papagei vor. „Weil eine Banane annähernd die gleiche Größe und Form hat wie ein Penis.“ Er hob die rechte Augenbraue. Das wurde ja immer fragwürdiger und absurder. Doch Jeremy schien es ernst zu meinen, wenn Jean den entschlossenen Zug um seine Lippen richtig interpretierte. „Ich habe das so mit meinem Dad gelernt“, murrte er verteidigend und Jeans Herz ging bei den so schmollend ausgesprochenen Worten auf. Ein Lächeln zog seine Lippen nach oben und er suchte mit seiner Hand die des blonden Jungen. „Es ist okay. Ich glaube dir.“ Jeremys Augen verengten sich und er starrte Jean misstrauisch an. „Wirklich?“ „Ja. Auch wenn es absurd scheint.“ ~~**~~ Und es blieb auch dann noch absurd, als Jean das mitten in der Nacht ausprobierte, während Jeremy tief und fest schlief und von den heimischen Kühen träumte. Er hatte beschlossen, sich selbst auszutricksen und das Licht ausgelassen um die Packung nicht sehen zu müssen. Vielleicht ließ sich seine Angst durch andere Sinneseindrücke in Schach halten, also fühlte Jean die Glattheit der Verpackung, die Perforierung, an der er sie aufriss. Er ertastete die feuchte Glitschigkeit des Kondoms und ein unwilliger Laut verließ seine Lippen. Was war das denn? Was sollte daran anregend sein? Vor allen Dingen, wie würde es sich anfühlen, wenn er sich selbst so ein Ding überstülpte? Jean sah an sich hinunter, auch wenn er sich nicht sehen konnte, schließlich trug er seinen Schlafanzug und es war dazu noch dunkel. Unwirsch verzog er die Lippen. Sollte er es ausprobieren? Konnte er es? Vielleicht sollte er tatsächlich erst die Banane nehmen, die Jeremy ihm empfohlen und die er aus der Obstschale mitgenommen hatte. Er brauchte zwei Anläufe und selbst beim zweiten wollte es ihm eher weniger gelingen, dafür war es einfach zu glitschig. Jean grollte. Wieso gab es nicht einfach eine Pille für so etwas? Er hatte von Valentine gehört, dass sie eine Pille zur Verhütung nahm. Die Medizin heute war doch so weit, konnte es dann nicht auch eine Pille zur Verhütung von übertragbaren Krankheiten geben anstelle dieses feucht-glitschigen Dings, das ihm immer wieder durch die Finger rutschte? Anscheinend nicht, also musste er hiermit Vorlieb nehmen und dass er das wollte, hatte er heute Nachmittag beschlossen, als Jeremy und er über das Video hinaus über viele andere Spielarten der intimen Lust gesprochen hatten. Ihr Gespräch hatte in Jean vorsichtige Neugier geweckt. Dass er die Intimität mit Jeremy dabei mit seiner Bewältigung seiner Angst vor Wasser mittels des Whirlpools in der Berghütte verglich, behielt er jedoch lieber für sich, auch wenn der Pragmatismus dessen ihm Sicherheit gab. ~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 66: Buuuh! ------------------ Jean wünschte sich, dass die Anrufe seines Teams den entgangenen Anruf seines Vaters von seiner Liste verdrängen würden, doch leider tat ihm kein Trojan den Gefallen. Vermutlich, weil sie wussten, dass er eher weniger geneigt war, zu telefonieren, ein Konzept, das er bei räumlicher Nähe immer noch für unnötig und überholt hielt. Ja, das mochte es sein, was ihn vor das Problem stellte, seinen Vater nun doch anrufen zu müssen, zwei Wochen nach ihrem Spiel gegen die Ravens. Er tippt unwirsch auf die Nummer und lauschte mit klopfendem Herzen, wie sich die Verbindung mit einem Freizeichen aufbaute. Nach ein paar Mal Klingeln nahm sein Vater ab. „Hallo Jean“, sagte er, als hätte er nicht zwei Wochen auf einen Rückruf warten müssen. Nicht, dass Jean jemals verpflichtet gewesen wäre, sich schuldig zu fühlen. Das wusste er. Dennoch fühlte er sich nicht wohl damit, wenngleich er das Wort Schuld sehr sorgfältig vermied. „Du hattest angerufen“, erwiderte er ohne Begrüßung, schließlich wusste er nicht, wie er den Mann ansprechen sollte, der für das erste Jahrzehnt seines Lebens sein Vater gewesen war. Auf eine Art und Weise war er dies noch immer, aber das schien Jean zu vertraut, der Vorname aber klang auch falsch. „Ja, das hatte ich. Vielen Dank für den Rückruf.“ Jean hörte die Freude in der Stimme des Mannes und seufzte innerlich. „Was wolltest du?“, fragte er und hörte, wie sein Vater sich bewegte und eine Tür schloss. „Ich wollte wissen, wie für dich das Spiel gegen die Ravens war. Und ich wollte sagen, dass ich stolz auf dich und deine Leistung bin, die du erbracht hast. Es war sicherlich nicht einfach für dich gewesen, gegen sie anzutreten.“ Jean benötigte einen Moment, bis er darauf eine Antwort fand. Dass sein Vater stolz auf ihn war, war etwas, das wider Erwarten Gefühle in ihm auslöste. Viel zu intensive Gefühle. Jean schluckte. „Am Anfang war es schlimm“, gab er zu. „Aber die Trojans sind ein gutes Team und haben alles gegeben. So konnten wir die Ravens besiegen.“ Sein Vater brummte bestätigend und Jean hielt irritiert inne, als er erkannte, dass er in gleicher Tonlage brummte, wann immer sein Gegenüber etwas Zustimmungswürdiges sagte. „Sie haben dich sehr viel und oft bedrängt. Ich hatte Sorge, dass sie dir etwas antun würden.“ Jean schnaubte. „Sie haben mir in der Vergangenheit genug angetan, was hätten sie noch mehr tun können?“, fragte er unüberlegt, aus bitterem Zorn heraus und natürlich provozierte das eine Entschuldigung, die Jean nicht hören wollte. „Es ist gut ausgegangen und für ihr unsportliches Verhalten haben sie für die nächste Saison eine Sperre erhalten“, beschwichtigte er und sah aus dem Fenster. Für das Video, dessen Inhalt er seinem Vater niemals erläutern würde. „Das ist gut und verdient. Ich hoffe, sie werden nun für jeden Verstoß bestraft“, merkte der Mann am anderen Ende der Leitung ungewohnt streng an und Jean rollte mit den Augen. Wenn dem so wäre, dann würde niemand von ihnen bis zum Ende seiner Tage mehr spielen. Der Reaktion seines Vaters entnahm er, dass das Video nicht im Fernsehen gezeigt worden war. Das war gut. „Nun kommen nur noch die Foxes als ernstzunehmender Gegner“, lenkte Jean sich von den dunklen Gedanken ab, die damit einhergingen und sein Vater gab einen bestätigenden Laut von sich. Es raschelte am anderen Ende der Leitung. „Wenn du nichts dagegen hast, werden wir bei diesem Spiel anwesend sein, Louis und ich. Nach eurem Sieg konnte er an nichts Anderes als euer Spiel gegen die Foxes denken.“ „Das Spiel findet in South Carolina statt.“ „Dessen bin ich mir bewusst. Aber er lässt sich davon nicht abbringen.“ Jean brummte zustimmend und verfluchte sich in der nächsten Sekunde innerlich dafür. Er klang tatsächlich exakt so wie sein Vater. „Wohl eher von seiner Lieblingsmannschaft nicht.“ „Die gegen seinen Bruder spielt…er ist im Zwiespalt, für wen er jubeln soll und ist mit sich übereingekommen, dass er es für beide Seiten machen wird.“ „Ich verstehe. Ich habe nichts dagegen, wenn ihr anwesend seid.“ „Ich bin dir sehr dankbar dafür, Jean.“ Er erwiderte nichts, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. Die eintretende Stille war mit jeder Sekunde belastender und schließlich war es sein Vater, der erneut das Wort ergriff. „Lou fragte, was du dir zum Geburtstag wünschst“, murmelte er und Jean fiel im ersten Moment vor Schreck das Handy fast aus der Hand. Sein Geburtstag war etwas, das er am Liebsten vergessen wollte. Er hasste den Tag, nein, er fürchtete sich regelrecht davor. Riko hatte ihn schon zu Beginn seiner Gefangenschaft in Evermore zu etwas Abartigem gemacht. Zu seinem Ehrentag eine besondere Folter, ein besonders hartes Training, die letzte Vergewaltigung. Nichts an dem Tag war in den letzten Jahren gut gewesen und für Jean war es irgendwann zu einem Grund des Zorns geworden. Zorn, Hass und Wut, aber auch Angst und Panik hatten in den letzten Jahren seine Gefühlswelt dominiert und entsprechend reagierte er auch jetzt. „Nein“, presste er hervor, abgehackt und panisch. „Nein, ich will nichts, das darf nicht sein.“ Unruhig erhob er sich und tigerte in seinem Wohnzimmer auf und ab. Er war versucht, aufzulegen und nie wieder ans Telefon zu gehen, wenn der Mann anrief. „Jean…warum?“ Die ruhige Stimme seines Vaters durchbrach Jeans panisch durcheinanderlaufende Gedanken und er kam zu einem körperlichen wie geistigen Halt. Er war nicht mehr dort und die Wahrscheinlichkeit, dass ihm etwas Derartiges passierte, war gering. „Riko hat mir beigebracht, diesen Tag zu hassen“, erwiderte Jean schließlich schlicht, als er genug Kraft zum Sprechen hatte und sein Vater schluckte hörbar. „Das tut mir leid. Ich…ich weiß nicht, was ich sagen soll, um es besser zu machen.“ „Nichts wird es besser machen“, erwiderte Jean wütend und das darauffolgende Schweigen war drückend und schlimm. Schlussendlich räusperte sein Vater sich. „Vielleicht… kann ich dich dabei unterstützen, um dem Tag etwas von seiner Schönheit zurück zu geben?“ Es war als Frage formuliert und Jean hatte jede Möglichkeit, nein zu sagen. Er wollte das Nein hinausschreien in die Welt, in sein Telefon, er wollte seinem Vater nicht endende Vorwürfe machen. Doch das alles würde keinen Sinn machen, denn es machte keine Folter, keine Vergewaltigung ungeschehen. Außerdem gab es da eine kleine Stimme in ihm, die jedoch wollte, dass dem Tag die negativen Implikationen genommen wurden. Der kleine Junge in ihm, der diesen Tag gerne gefeiert hatte, wollte, dass es wieder dazu kommen würde. Jean versuchte, diesen Jungen im Keim zu ersticken, doch ganz wollte ihm das nicht gelingen. Wie lange er nichts gesagt hatte, wurde ihm bewusst, als der Mann einen fragenden Laut von sich gab. „Jean, sprich mit mir bitte“, flehte er beinahe schon durch das Telefon. „Ich kann dazu nichts sagen. Es war kein guter Tag die letzten Jahre über“, erwiderte Jean erstickt. „Ich habe Angst davor, dass ihn jemand zur Kenntnis nimmt.“ Sein Vater schwieg zunächst. „Niemand hier ist wie Riko. Weder Louis noch ich.“ Jeans rationale Seite wusste das, seine Angst konnte zu diesem Zeitpunkt jedoch überhaupt nichts damit anfangen. „Louis hat mich die letzten Jahre über Briefe für dich schreiben lassen und sobald er das Schreiben gelernt hat, dir einen eigenen verfasst. Ich habe sie nie abgeschickt, da ich wusste, dass die Moriyamas sie abfangen würden. Er hat an jeden deiner Geburtstage gedacht und wenn du irgendwann möchtest, dann übergebe ich sie dir.“ Der kleine Junge in Jean wollte. Definitiv. Der Mann in ihm war sich da nicht so sicher. „Ich melde mich nochmal“, wich er der Entscheidung aus und sein Vater akzeptierte das. „Ich würde mich freuen. Louis‘ Geburtstag ist im Übrigen am 15.04.“, merkte er lediglich an und reflexartig sah Jean auf seinen Kalender. Genug Zeit, um sich Gedanken über ein Geschenk zu machen. ~~**~~ „Kevin, du hier und nicht beim Training?“, grinste Jeremy fröhlich in die Kamera und das Konterfei des Foxes verzog sich voller Missbilligung. „Wir haben für heute Schluss gemacht“, gab er diesem Unbill eine Stimme und Jeremy nickte gewichtig und mit Mühe halbwegs ernst. Natürlich ärgerte es Kevin, dass die Foxes nicht soviel trainierten wie er. Aus der Ferne heraus war das amüsant, wäre Kevin ein Trojan – so schön der Gedanke auch war – hätte Jeremy ihn vermutlich schon längst gefesselt und geknebelt in den Schrank gestellt. „Und da denkst du gleich an mich? Das ehrt mich“, entwaffnete er eben jenen und sah, wie der andere Junge ob seiner Worte verlegen wurde. „Wir haben seit eurem Spiel gegen die Ravens nicht mehr gesprochen und ich wollte fragen, ob alles gut ist bei dir?“, fragte Kevin und Jeremy spürte Wärme in seinem Bauch. Sie hatten nur ein paar Nachrichten hin- und hergeschrieben, leichte, manchmal foppende Worte. Kevin schwieg über die schwerwiegenderen Themen, die immer noch ungesagt zwischen ihnen standen und Jeremy akzeptierte das. Irgendwann, wenn sich die Gelegenheit bot, würde er Kevin darauf ansprechen und fragen, wie es ihm wirklich ging. „Alles gut soweit, viel Arbeit und viel Training. Wir bereiten uns auf die restlichen Play-Offs vor und genießen ansonsten die wärmer werdende Stadt, auch wenn es mehr regnet als vorher. Wir haben ein paar neue Spiele in unserem Repertoire und irgendwann bekomme ich dich auch noch dazu, sie zu spielen.“ Kevin schnaubte. „Das ist Zeitverschwendung.“ Jeremy rollte mit den Augen. „Ist es nicht, Kevin Day. Du brauchst einen Ausgleich für Exy.“ „Ich gehe tanzen, feiern und trinken. Das muss reichen.“ „Du liebst Geschichte und Reisen.“ „Es war ein Fehler, dir von meinen Hobbys zu erzählen“, grimmte Kevin und Jeremy lachte. „Ich finde es toll, dass du es getan hast. Und deswegen kann ich dir sagen, dass wir dieses wunderbare Brettspiel über das historische England…“ „Jeremy Knox“, fauchte er und unschuldig blinzelte eben jener. „Wart’s ab, bis wir in einem Team zusammenspielen und in einer WG wohnen, dann werde ich dich jeden Abend dazu bringen“, drohte er im Spaß. Es war eine freundschaftliche Spinnerei gewesen, dass sie zusammenwohnen würden, falls sie es jemals in ein gemeinsames Team kommen sollten. Jeremy fand die Idee damals schon gut und daran hatte sich heute nichts geändert, auch wenn er bezweifelte, dass Jean und Kevin jemals so eng zueinander finden würden, dass sie sich zusammen eine Wohnung nehmen würden. Auch wenn die Beiden schon Fortschritte gemacht hatten miteinander. „Glück für mich, dass die Chancen darauf eher gering sind“, gab Kevin ihm den Todesstoß und Jeremy griff sich theatralisch an sein Herz. „Du sollst mir Mut machen, meinem Lieblingsstriker nahe zu sein!“ Der Fox rollte mit den Augen, doch Jeremy erkannte Verlegenheit, wenn er sie sah. „Du bist doch selbst ein Ausnahmetalent.“ „Nicht so wie du.“ „Lügner.“ „Selber.“ Sie grollten gemeinsam und Jeremy lachte. „Ich liebe dich, du sturer South Carolina-Bock“, durchbrach er schamlos Kevins Verteidigung und sie beide wussten, dass es auf eine vollkommen freundschaftliche, platonische Art gemeint war. Jeremy fand es wichtig, das zu sagen, Kevin auch jetzt noch daran zu erinnern, dass er ihn sehr mochte und dass er sein Freund war. Auch jetzt noch, nachdem er Dinge wusste, die Kevin in keinem guten Licht dastehen ließen. Doch Jeremy war nicht bereit, das vorbehaltslos zu glauben. Kevin war kein schlechter Mensch, ganz und gar nicht. Er hatte seine Gründe und darüber würde Jeremy mit ihm in einer geeigneten Minute sprechen. Vielleicht ein ruhiges Wochenende, das sie mal zu zweit verbringen konnten. „Du bist ein toller Mensch, Jer.“ Das war Kevins höchstes Lob und es ehrte Jeremy. Schweigen trat zwischen sie und schließlich sah Kevin zur Seite. Er wurde unsicher und alleine daran erkannte Jeremy, dass es etwas mit seinem Backliner zu tun haben müsste. „Hast du schon etwas für Jean zum Geburtstag?“, fragte Kevin mit rauer Stimme und überrascht weiteten sich Jeremys Augen. Natürlich hatte er gewusst, dass Jean im Prinzip irgendwann Geburtstag haben würde, doch bisher war dieser jeder Frage danach ausgewichen und hatte Jeremy in einem ihrer nächtlichen Bettgespräche anvertraut, dass dieses Datum kein Gutes für ihn war. Dass besagtes Datum aber so schnell kommen würde, wie es sich in Kevins Worten anhörte, überraschte ihn. Er schüttelte zurückhaltend den Kopf. „Nein, er… hat das Datum nicht verraten“, gab er zu. Kevin zuckte sichtbar zusammen und senkte den Blick, die gute und gelöste Stimmung dahin. „Riko hat ihm Dinge angetan an seinem Geburtstag, immer und immer wieder. In Evermore machte Jean dieser Tag Angst. Ich dachte, er…er würde sich bei euch sicherer fühlen, schließlich ist er glücklich bei euch.“ Jeremy ließ sich die Worte durch den Kopf gehen, bevor er selbigen schüttelte. „Niemals würde ich…“, begann er, sprach aber nicht weiter. Musste er auch nicht, da Kevin nur zu gut verstand. „Er hat nächste Woche Freitag Geburtstag“, murmelte er überraschend und Jeremy schluckte. Diese Information war wie eine verbotene Frucht, zu süß, um sie nicht zu probieren, zu verboten, um eigeninitiativ danach zu fragen. Sein schlechtes Gewissen flammte deutlich auf, das Datum nun zu kennen. Der achtzehnte Februar. Jean war also ein Winterkind, nahe an der Grenze zum Frühling. Ein Wassermann. „Ich weiß nicht, ob ich ihn darauf ansprechen soll“, überlegte Jeremy und Kevin nickte verständnisvoll. „Wenn es von dir kommt, wird er es vielleicht besser aufnehmen. Aber ihr solltet keine Überraschungsparty für ihn geben und ihm auch nicht mit dem gesamten Team gratulieren. Das wird ihm Angst machen.“ „Selbstverständlich. Danke dir, Kevin. Wirklich. Vielen Dank.“ Kevin lächelte und es war eines seiner ehrlichen Lächeln. Es war schön und strotzte nur so vor Zuneigung. „Für dich immer, Jer.“ ~~**~~ Jeremy hatte versucht, den passenden Zeitpunkt abzuwarten, in dem er Jean gestehen konnte, dass er nun seinen Geburtstag kannte. Er wollte es nicht während ihrer Bettgespräche machen, denn dort war Jean besonders verletzlich und sprach nur in Ausnahmefällen von den Dingen, die ihm angetan worden waren. Jean pushte sich und das Team im Training angesichts der kommenden Play-Offs so sehr, dass Jeremy mehr müde als aufmerksam abends nach Hause kam und sich nur an einem Tag in der Woche hatte wegstehlen können um ein Geschenk zu kaufen, das er in einer unbeobachteten Sekunde im hinterletzten Schrankwinkel versteckt hatte. Ihm lief die Zeit davon und vielleicht nutzte Jeremy deswegen die minimale Chance, die sich ihm hier im hauseigenen Waschkeller bot, während sie beide ihre wöchentliche Wäsche machten. „Ich kenne deinen Geburtstag“, platzte er hervor, kaum dass Jean sich wieder aufgerichtet und zu ihm gedreht hatte. Die folgende Bewegungslosigkeit und der Schrecken taten Jeremy leid und er gab sich größtmögliche Mühe, nicht bedrohlich zu wirken. Seine hastig zu einem Knoten zusammengebundenen Haare, die bunten Socken und seine ausgewaschenen Shorts samt Mottoshirt taten hoffentlich ihr Übriges, dass er so weit vom Kapitänsimage weg war wie er es sein konnte. Sorgenvoll knetete Jeremy seine Unterlippe zwischen seinen Zähnen, während Jean ihn erschrocken und stumm anstarrte. Vielleicht war der Keller keine gute Gelegenheit gewesen. Nein, ganz sicher sogar, denn der Keller hatte nur ein kleines Fenster, das nur wenig Tageslicht hineinließ. Er hätte es vielleicht auf dem Dach machen sollen. „Woher?“, fragte Jean schließlich rau und nervös und Jeremy schluckte. „Ich habe mit Kevin telefoniert. Er hat gefragt, ob ich schon ein Geschenk für dich hätte und mir dann dein Geburtsdatum genannt. Es tut mir leid.“ Mit Mühe hielt er Jeans Blick, der bei der Nennung von Kevins Namen augenblicklich wütender wurde, abweisender. Das an sich war vorhersehbar, aber wenn Jeremy sich nicht täuschte, so war es dieses Mal noch etwas abweisender. „Und schon wieder kann Day nicht sein verdammtes Maul halten“, grollte Jean abgrundtief böse und drehte sich abrupt weg. „Verdammt!“, zischte er und schlug mit der Faust auf die rumpelnde Waschmaschine. Jeremy zuckte zusammen, doch Jean beruhigte sich schneller, als Angst in ihm entstehen konnte. Er atmete tief ein und drehte sich schlussendlich wieder zu ihm zurück. Er straffte die Schultern. „Ich wollte an dem Tag nicht da sein“, gestand Jean ein. „Ich habe Fahima gefragt, ob wir etwas machen können. Ich wollte weg…von dir. An diesem Tag. Weil ich die Anwesenheit meines Kapitäns an dem Tag nicht ertrage. Ich wollte nicht, dass du es weißt, weil ich Angst habe“, sagte er brutal ehrlich, aber auch ruhig und gefasst. Trotzdem schmerzten Jeremy die Worte sehr, auch wenn er es nicht zugeben wollte. Dass Jean vor ihm keine Angst haben musste, wussten sie beide, doch das konnte Jean nicht final beruhigen. „Das, was du möchtest, Jean. Wenn du dich in Fahimas Gegenwart wohler fühlst, dann mach das. Ich unterstütze dich dabei.“ Jeremy konnte nicht verhindern, dass seine Stimme bei den Worten zitterte, doch er bemühte sich zu lächeln. Sanft und liebevoll. Schmerz verzog Jeans Gesicht und er sah zur Seite. „Es tut mir leid, dass ich so fürchterlich bin“, murmelte er und es brach Jeremy das Herz. In Nullkommanichts war er bei Jean und hatte ihn in seine Arme geschlossen. „Nein, das bist du nicht, du wunderschöner, wunderbarer Mensch. Du bist alles andere als fürchterlich!“, sagte er mit Nachdruck und presste Jean eng an sich. Erst nach ein paar Sekunden wurde dieser nachgiebiger, weicher und erwiderte seine Umarmung. Sacht legte Jean seine Stirn auf Jeremys Schulter ab. „Ich verstehe, warum du den Tag nicht mit mir verbringen möchtest. Ich hoffe, dass wir irgendwann einmal, in der Zukunft, deinen Geburtstag feiern können. Dass es okay für dich ist, wenn ich diesen Tag mit dir verbringe. Bis dahin wirst du den Tag so verbringen, wie es am Angenehmsten für dich ist. Und das ist okay. Wirklich.“ Jean antwortete für eine lange Zeit nicht. Einzig die rumpelnd arbeitende Waschmaschine durchbrach mit dem rhythmischen Klatschen nasser Wäsche die Stille. „Womit habe ich dich verdient?“, wisperte er schließlich und Jeremy hauchte ihm einen Kuss auf die Schläfe. „Wo soll ich anfangen und wieviel Zeit hast du?“, fragte er mit einem Lächeln in seiner Stimme. Jean schnaufte nicht unamüsiert. ~~**~~ An seinem Geburtstag war er geschlagen worden, eingesperrt, gefoltert. Er hatte ohne Kleidung auf seinem Bett gelegen, seine Hände an das Kopfteil gefesselt und war von einem anderen Mann missbraucht worden. Er hatte das Bewusstsein verloren, seine eigenen Finger gebrochen. Er hatte in Angst gelebt, vor jeder Minute dieses wiederkehrenden Tages und hatte eben jene Angst bestätigt gefunden. Immer und immer wieder, mit immer ekelhafteren Arten von Folter. Diese Angst hatte sich so tief in Jean gegraben, dass er schon in der Nacht vor seinem Geburtstag keine Sekunde schlief. Selbst Jeremys Atem und die Geräusche, die er von sich gab, waren schon zuviel und so flüchtete Jean sich noch vor Sonnenaufgang auf das Dach, verloren in schlimmen Erinnerungen an eine Vergangenheit, die ihn heute wie ein eisernes Band im Griff hatte. Riko war dabei ein stetiger Begleiter, immer an seiner Seite, verachtende Worte wispernd. Selbst hier, an der frischen Luft schmeckte er den abgestandenen, gefilterten Sauerstoff der Klimaanlage aus Evermore. Er spürte die Kälte des Kellers in seinen Knochen, als wäre es gestern gewesen. Nichts an diesem Tag glich den Tagen in Evermore, angefangen bei seiner Kleidung. Er trug Renees Beanie, den blauen Hoodie, den sie ihm geschenkt hatte, dazu eine bequeme Jogginghose und bequeme Sneaker. Nichts davon war schwarz. Nichts hier war dazu gedacht, ihm wehzutun. Im Gegenteil. In seinen Händen hielt er das erste Buch der ersten Male. Das pastellfarbene Buch. Es war mittlerweile voll von Erinnerungen an Dinge, die ihm gut getan hatten. Die Nacht neigte sich dem Ende zu und Jean verließ das Dach, bevor Alvarez Laila-Jeremy füttern kam. Bis es Zeit war, wartete er im oberen Flur auf Ellie, die mit ihm heute zu seinen Vorlesungen gehen würde. Sein Kapitän konnte ausschlafen und so würden sie sich morgens nicht begegnen. Mit Unwohlsein dachte Jean an ihr abendliches Training, wo er Jeremy definitiv über den Weg laufen würde. Wie würde seine Angst damit klarkommen? Jean wusste es nicht. Ellie schien seine Stimmung zu spüren, denn sie sagte wenig und blieb eine beruhigende Präsenz an seiner Seite. Bis hin zu den Vorlesungsgebäuden und seinem Saal, wo sie ihn mit einem sachten Knuffen ablieferte. „Bleib brav, Grummelfranzose“, zwinkerte sie und Jean hob überrascht den Blick. „Geh, du blondes Gift“, grimmte er ohne wirkliches Feuer dahinter und sie warf ihm eine Kusshand zu, bevor sie sich umdrehte und ihm dem Schlund seines Vorlesungssaales überließ. Zögernd ging Jean hinein und setzte sich unruhig in die letzte Reihe, weit weg von der Aufmerksamkeit seines Dozenten. Selbst mit Reihen von Menschen zwischen ihnen war kaum in der Lage, den Stoff aufzunehmen. Immer wieder warf er einen Blick auf seine Notizen und stellte ohne wirkliche Überraschung fest, dass sie ungeordnet und unbrauchbar waren. Eben genauso, wie er sich fühlte. Nervös lauschte Jean den Geräuschen um sich herum und zuckte jedes Mal angespannt zusammen, wenn seine Kommilitonen sich zu abrupt bewegten oder zu laut wurden. Da war die Mittagspause beinahe eine Erleichterung für ihn, in der er sich mit Fahima auf einen Kaffee traf. „Geht es dir gut?“, hakte sie mit einem Blick in sein Gesicht nach und Jean fragte sich unweigerlich, was dort wohl stehen mochte. „Es geht“, erwiderte er ehrlich und sie musterte ihn aufmerksam. „Soll ich einfach erzählen?“, fragte sie und Jean war sich bis eben nicht bewusst, wieviel Erleichterung dieses Angebot mit sich brachte. Sie machte es nicht zum ersten Mal und Jean nahm es auch nicht zum ersten Mal dankend an. Vermutlich würde er es auch nicht zum letzten Mal tun. „Ja bitte“, murmelte er, als ihm einfiel, dass von ihm doch noch eine Antwort erwartet wurde. Fahima nickte und erzählte auf dem Weg zum Mittagessen von ihrem gestrigen Besuch bei ihrer Familie. Von all ihren Tanten und Onkel, die da waren. Von den Cousinen und Großcousinen, die um sie herumgesprungen waren. Nur Mädchen, ganz zur spielerischen Verzweiflung ihres Vaters, Großvaters und ihrer Onkel. Fahima erzählte von dem Essen, was ihr Vater zusammen mit seinem Bruder und dessen Frau aufgetischt hatte. Schalen über Schalen, genug um eine ganze Armee zu versorgen. Sie entführte Jean in eine Welt, die ihn weit wegbrachte von seinen Gedanken und seinem Handy, das währenddessen gepingt hatte. Jean vermutete, dass es sein Vater war, schließlich hatte er ihm vor zwei Tagen knapp mitgeteilt, dass er sich melden konnte, wenn er wollte. Er oder Louis. Noch scheute Jean sich aber davor, zurück zu rufen, doch er spürte bereits einen inneren Zug in sich, sich dem Gespräch zu stellen und mit ihnen zu sprechen. Auch ein Bruch mit den Jahren, die er in Evermore verbracht und sich insbesondere am Anfang immer wieder gewünscht hatte, dass seine Eltern kommen und ihn retten würden. Ihn aus der Hölle befreien würden. Wie vergeblich es doch gewesen war. Vielleicht sollte er morgen zurückrufen. Morgen würde er sich sicherlich wieder sicherer fühlen. Am Nachmittag fuhren Fahima und er in die Stadt zu der Kunstausstellung, die ihn interessierte seit er zum ersten Mal Werbung für sie gesehen hatte. Jean hoffte, dass sie ihn von diesem Tag ablenken würde mit all seinen Einflüsterungen und Bildern, die vor seinen Augen tanzten. Dass sie ihm einen positiven Input und Stärke geben würde in all dem dunklen Chaos, das ihn ausmachte. Es gelang, zumindest teilweise. Die Ausstellung war ein Mix aus Moderne und Klassik, aus Musik, Installationen, Skulpturen und Bildern. Es gab viel zu entdecken und viel zu interpretieren, woran Jean mehr und mehr Gefallen fand. Jean hätte es nicht gedacht, war in Evermore doch alles Persönliche ekelhaft und verachtenswert gewesen. Doch mit den Monaten, die er hier war, hatte er festgestellt, dass er die Analyse des Künstlers durch seine Kunstwerke sehr mochte. Diese Kunst hier war gewaltfrei und tatsächlich fand seine innere Unruhe einen Ruhepunkt in dem kühlen, weitläufigen und sonnendurchdrungenem Raum. Er fand ihn in der Gegenwart Fahimas, die eine stetige, ruhige Begleiterin an seiner Seite war; die lebende Antithese zu Riko. Wie sein Kapitän auch. Immer, wenn er an den blonden Jungen dachte, spürte Jean Wehmut in sich. Wehmut, Trauer und ein schlechtes Gewissen. Er hätte es nicht gedacht, insbesondere in den Tagen vor seinem Geburtstag nicht, aber es gab einen nicht zu kleinen Teil in ihm, der durchaus bereit war, seinem Kapitän heute unter die Augen zu treten und seine Gefühle diesbezüglich zu riskieren. Doch je unaufhaltsamer sich der Nachmittag seinem Ende zuneigte und je erbarmungsloser das Training näher rückte, desto mehr Angst hatte Jean vor seiner eigenen Seite, auch wenn er wusste, dass es Unsinn war. Niemand würde ihm etwas tun. Niemand würde ihn auf dem Spielfeld foltern. Sein Kapitän schon gar nicht. Fahimas plötzliche Hand auf seinem Oberarm erschreckte Jean so sehr, dass er instinktiv zwei Schritte zur Seite machte um der vermeintlich schlimmen Berührung zu entkommen. Wild sah er zu ihr, während sie ihn ruhig und gelassen musterte. „Dir geht es nicht gut“, sagte Fahima nach einer Ewigkeit und Jean schüttelte den Kopf. Nein, das war es nicht und das war ihr auch bewusst. Es stand nur zu deutlich in ihren aufmerksamen, dunklen Augen. „Heute ist ein schwieriger Tag.“ Fahima nickte verständnisvoll und bedachte Jean mit einem liebevollen Blick. „Möchtest du darüber reden?“ Jean überlegte lange, dann schüttelte er den Kopf. „Nein.“ „Okay.“ Es war okay für sie, ebenso wie es in Ordnung war, dass er Abstand zu ihr hielt, während sie zusammen die Ausstellung verließen. Es war okay für sie, dass Jean sich mit rauer, knapper Stimme bei ihr für den Tag bedankte, für ihre Gegenwart und Präsenz. Ihr Lächeln begleitete ihn, als er in den Keller ihres Hauses ging um seine Sporttasche für das Training zu holen, die er dort deponiert hatte. Für einen Moment stand Jean in der vollkommenen Stille des Raumes, seine Tasche in den Händen und starrte auf die Kisten und Kartons, die seinen Schlaf zu Beginn seines Hierseins vor neugierigen Blicken geschützt hatten. Er fühlte sich nicht mehr ganz so unwohl in diesem Raum, auch wenn er die Zimmer oberhalb der Erde bevorzugte. Es war einer der Fortschritte, die Jean für sich hatte verbuchen können. Sich in seinem eigenen Haus sicherer als früher zu fühlen, verschaffte ihm eine Ruhe, die nicht zu unterschätzen war. Es verschaffte ihm Stärke und Kraft, die er insbesondere in den Nächten nach seinen Alpträumen brauchte. Jean hatte dazugelernt und seinen schlechten Erinnerungen gute gegenübergestellt. Er hatte es geschafft, in Evermore zu spielen und zu gewinnen. Sein Geburtstag war da eigentlich nur ein kleiner Tropfen. Eigentlich… Und deswegen sollte er sich auch nicht von seinem Kapitän fernhalten, der soviel mehr als das war. Der Mensch, dem er körperlich nahe war. Mit dem er mehr als ein Apartment teilen wollte. Jean atmete tief durch und richtete sich vollständig auf, so wie es Brian ihm gezeigt hatte. Er war groß und er hatte keinen Grund mehr, sich klein zu machen. Gesenkte Schultern, ein gesenkter Kopf…das waren alles Zeichen der Unterwerfung gewesen und Jean arbeitete jeden Tag daran, dies nicht automatisch Knox gegenüber zu machen. Er sollte sich nicht kleinmachen, sondern sein eigener Mensch sein. Er hob den Kopf und drehte sich grimmig zur Tür um. Er würde sich von seinen Erinnerungen nicht kleinkriegen lassen. Nicht mehr. Und heute wäre ein guter Anfang dafür. ~~**~~ Es tat Jean in der Seele weh, wie scheu Knox ihm gegenüber war. Jeremy, verbesserte er sich stumm, bewusst den Namen seines Kapitäns nutzend. Alleine der Name würde ihm nicht wehtun, der Junge dahinter ebenfalls nicht. Seine Erinnerungen schon, doch die hatten nur in wenigen Fällen etwas mit dem Striker zu tun, der heute beim Training mit Alvarez rangelte und ihn in Fahimas sanfte, aber unnachgiebige Hände gegeben hatte. Für gewöhnlich führten Jeremy und er diesen Drill durch, doch heute hatte der andere Junge sich mit einem kurzen, liebevollen Lächeln von ihm abgewandt, das Jean in seiner Güte geschmerzt hatte. Jean hatte heute nichts getan um das Lächeln zu verdienen. Er war vor seinem Kapitän geflohen und hatte ihr Morgenritual des Aufstehens und Frühstückens außer Acht gelassen. Auch jetzt hatte er sich nicht getraut, ihn anzusprechen und hielt größtmöglichem Abstand zu ihm. Nein, das war wirklich nicht das, was Jean wollte. Während des restlichen Trainings hielt sein Kapitän zuviel Abstand zu ihm und schaffte es sogar, in ihrem Übungsspiel gegeneinander in die gegnerische Mannschaft zu kommen und sich dann auch noch nur mit Alvarez zu duellieren und herumzualbern. Jean grollte, wütend über sich selbst, wütend über sein fehlerhaftes Verlangen auf Abstand. Er wollte das nicht, definitiv nicht. Das Spiel an sich war wie verflucht und Jean fragte sich, ob jemand seiner Mannschaft etwas ins Essen getan hatte. Die Trojans schienen heute vergessen zu haben, dass die Play-Offs bald anstanden. Sie schienen vergessen zu haben, dass sie für den Pokal siegreich sein mussten. Sie neckten und foppten sich, ganz zu Rhemanns Unmut, der sich mehr als einmal die Haare raufte und in wenig gefährlichem Unmut über das Spielfeld brüllte. Jean selbst blieb fassungslos stehen, als Ellie und Logan dazu übergangen waren, sich in absolut spielwidriger Art anzurempeln, miteinander tanzten und damit alles durcheinanderbrachten. Die Fassungslosigkeit wich langsam, als er sah, wie glücklich Jeremy darüber war und wie sehr der andere Junge darüber strahlte. Natürlich fand sein Kapitän das gut, schließlich war er einer derjenigen, der jeden zweiten Spielzug mit unsinnigem Quatsch unterbrach. Was Jean aber umso mehr erstaunte, war, dass er selbst nicht unzufrieden damit war. Er mochte Jeremys Glück, sein Lachen und seine Freude. Er wollte ihm zeigen, dass er keine Angst vor ihm hatte. Vermutlich war auch das der Grund, warum Jean ohne nachzudenken bei ihrer nächsten Runde an Alvarez vorbei zu ihrer Position sprintete, als Jeremy auf sie zukam. Bevor ihr Kapitän seine Vize erreichte, hatte Jean ihn schon um die Körpermitte gepackt und hochgehoben. Mit Jeremys überraschten Laut in seinem Ohr lief er mit seiner gar nicht mal so leichten Last in die gegnerische Spielfeldhälfte, dessen warmen, muskulösen Körper fest umfasst, damit er Jean auch nicht entfliehen konnte. „Jean…?“, fragte Jeremy schließlich überrascht und zögernd, als Jean ihn neben dem gegnerischen Tor absetzte und herausfordernd auf ihn hinuntersah. Er spürte, wie ein Lächeln unweigerlich seine Lippen nach oben zog und er klopft sacht auf den Helm seines Kapitäns. „Schön hier bleiben und keinen Unsinn machen“, sagte er, als wäre das auch nur in Ansätzen der Sinn des Spiels und nickte knapp Ajeet zu, der ihn mit großen, runden Augen musterte. Jean tippte sich an seinen eigenen Helm und lief zurück auf seine Position. Erst dann bemerkte er, dass sich eine gespenstische Stille um ihn herum ausgebreitet hatte. Nicht nur dort, die Trojans schienen wie eingefroren zu sein und starrten ihn an. Sie alle taten das und Jean blinzelte. Irritiert sah er sich um und begegnete ihren Blicken, die samt und sonders auf ihm ruhten. Wieso war es bei ihm jetzt plötzlich etwas Besonderes, wenn er herumalberte? Die Anderen taten es die ganze Zeit! „Coach, die Nummer Sieben zankt!“, rief Jeremy empört in die Stille hinein und Jean musste sich mit aller Macht ein Lächeln verkneifen. Er blieb an Rhemann hängen, der mit wehleidigem Blick die Arme in Richtung Himmel streckte und aufjaulte. „Ohne Scheiß, Moreau, du auch noch? Dabei warst du immer der Vernünftige hier! Wieso?!“, beschwerte er sich grollend und deutete mit einem anklagenden Zeigefinger auf ihn. „Wenn du denkst, nur weil du...“, begann er und beendete den Satz zu Jeans Irritation abrupt. Nur weil er was? Fragend runzelte Jean die Stirn, doch Rhemann winkte ab. „Ach macht doch, was ihr wollt, ihr Sack trojanische Flöhe!“, grummelte er, bevor Jean nachfragen konnte und verschränkte die Arme vor der Brust. Jean nickte knapp und kehrte nach einem Schlägercheck mit Alvarez wieder zurück auf seine Position. „Ey, Moreau!“ Er hob fragend die Augenbraue. „Ja?“ „Jetzt haben wir dich voll und ganz assimiliert.“ Er hob die Augenbraue und hob nonchalant und ohne zu zögern den Mittelfinger. ~~**~~ „Jean.“ Das unsichere Räuspern seines Coaches ließ Jean auf dem Weg von der Kabine nach draußen innehalten. Langsam drehte er sich um und ging zurück zum Büro ihres Trainers, warf einen fragenden Blick hinein. „Coach?“ Rhemann saß an seinem Schreibtisch und lächelte ihm sanft zu. Er stand nicht auf, wie er es sonst oft tat und er bat ihn auch nicht hinein, was Jean mit plötzlicher Unruhe auffiel. Irgendetwas stimmte nicht. Rhemann holte tief Luft. „Jeremy hat mir gesagt, dass du deinen Geburtstag nicht gerne feierst und dass das Team dich heute nicht mit Krönchen über das Spielfeld hat laufen lassen zeigt mir, dass du es ihnen nicht gesagt hast. Aber ihr alle bekommt von mir zum Geburtstag eine Kleinigkeit und die wollte ich dir jetzt geben. Und dir natürlich alles Gute für dein neues Lebensjahr wünschen. Wenn du möchtest, ist das kleine bunte Ding auf der Anrichte da direkt neben dir deins. Das ist mein Geschenk an dich.“ Jean brauchte einen Moment, um den ruhigen Worten zu folgen und blinzelte schließlich, als er sich daran erinnerte, wie das ging. Seine Augen huschten von Rhemann zu besagter Anrichte und wieder zurück. Jean wusste nicht, was er sagen oder ob er danach greifen sollte. Rhemanns Worte machten ihn unsicher, gleichwohl lösten sie einen Knoten in ihm, von dem Jean gar nicht gewusst hatte, dass er vorhanden war. Sein Trainer war ein guter Mann, auch wenn er Macht in den Händen hielt. Er missbrauchte nicht, was ihm Gewalt über andere Menschen gab. Jean schluckte gegen die Enge seines Halses an und nickte leicht. „Das würde mich freuen, Coach. Und vielen Dank“, erwiderte er rau und Rhemann brummte. Jean wagte jedoch nicht, sich zu rühren und umso peinlicher war die Stille, die zwischen ihnen entstand. „Es ist deins“, wiederholte ihr Trainer schließlich und ungelenk griff Jean danach. Beinahe ließ er den bunt eingepackten, großen Quader und den Umschlag fallen, doch nur fast, auch wenn seine Hände zitterten. „Danke“, wiederholte er und wagte einen scheuen Blick in das Gesicht seines Coaches, bevor er aus schier aus dem Büro floh, hinaus an die frische Luft. Er war alleine und im ersten Moment irritierte ihn das. Jeremy wartete doch immer auf ihn. Im Zweiten Augenblick wurde ihm bewusst, dass Jeremy ihm die Freiheit seiner Nichtanwesenheit ließ und das trotz ihres Trainings. Jean knirschte mit den Zähnen. Er würde gleich in ihr Apartment zurückkehren und – so der blonde Junge es denn wollte – ihn einfach umarmen. Ihm nahe sein. Wenn er es durfte. Leise Zweifel mischten sich in Jeans Gedanken, die erst einen Halt fanden, als sein Handy klingelte. Natürlich. Day in all seiner Sturheit, mit der er wieder und wieder den Kontakt zu ihm suchte. Und er selbst in all seiner Dummheit, dass er diesem auch noch nachgab. Insbesondere heute. In Evermore war Day immer derjenige gewesen, der an diesem Tag sein Blut weggewischt und ihm Schmerztabletten gegeben hatte. Er war derjenige gewesen, der Jean kleine, unsichtbare Geschenke gemacht hatte. Dinge, die Jean gut verstecken oder essen konnte. Bis er gegangen war und Jean an seinem letzten Geburtstag in all seiner Grausamkeit alleine gewesen war, einsam Rikos Zorn ausgesetzt. „Ja?“, grollte Jean deswegen in sein Telefon, nachdem er abgenommen hatte. Überraschte Stille konfrontierte ihn, bevor Day sich hörbar räusperte. „Wie geht es dir?“, kam er dann gleich zur Sache und im ersten Moment wollte Jean ihm wütend entgegnen, dass es ihn nichts anginge. Im Zweiten jedoch hörte er die feine Nuance heraus, die ungesagten Worte. Heute, an diesem Tag, an seinem Geburtstag. „Gut. Ich lebe“, erwiderte Jean ungnädig und verfluchte sich beinahe eine Sekunde später für sein eigenes, schlechtes Gewissen, das ihn bei diesen Worten überkam. „Der Tag war okay“, gestand er ein und der Junge am anderen Ende der Leitung gab ein zustimmendes Brummen von sich. „Das freut mich.“ Jean lauschte auf die Zwischentöne und überrascht schnaubte er. „Bist du etwa betrunken?“, fragte er ungläubig und Day grollte. „Wer bist du, mein Vater?“ „Sehe ich aus wie ein tätowierter, abgewrackter Gutherzmensch, der sich die heruntergekommensten Spieler aussucht, die er finden kann?“ Day schwieg bedeutungsschwanger und Jean rollte mit den Augen. „Arschloch“, sagte er ohne wirkliches Feuer dahinter und Day lachte hart auf. „Miststück.“ „Möchtegern-Rechtshänder.“ „Krummfinger.“ Nun zischten sie beide und Jean wusste nicht so recht, was er von ihrem Schlagabtausch halten sollte. Er war nicht ganz so feindselig wie er erhofft hatte, eher…locker, beinahe amüsiert. „Moreau?“ „Day?“ „Du bist ein Glückspilz. Ich beneide dich um Jeremys Gesellschaft.“ Jean rollte mit den Augen. „Keine Sorge, er ist dein größter Fanboy“, gab er zurück. „Ich komme eurer heterosexuellen Liebe füreinander schon nicht in die Quere.“ „Er mag dich mehr.“ „Er mag mich auf eine andere Art.“ „Auf die gleiche Art wie du ihn liebst.“ Jean ließ beinahe vor Überraschung das Telefon fallen. „Was erzählst du da für einen Stuss? So betrunken kannst du gar nicht sein.“ Day schnaubte und es zollte Jeans Widerspruch keinen Respekt. Gar keinen. „Ich sehe, wie du ihn ansiehst.“ „Und wie wäre das?“ „Mit Liebe in deinen Augen.“ „Als wenn du wüsstest, was Liebe ist.“ „Weißt du’s denn?“ Jean war kurz davor, einfach aufzulegen. Was fiel Day ein? Natürlich wusste er, was er für Jeremy fühlte. Natürlich wusste er, was der blonde Junge ihm bedeutete. Aber…Liebe? Aufregung, ein Kribbeln in der Magengegend, Freude, Ruhe…ja. Aber Liebe? Das war ein großes Wort für etwas, das noch in den Kinderschuhen steckte. „Es ist sicherlich nicht vergleichbar mit dir und Theodora“, grummelte Jean eher lahm und Day lachte. „Nichts ist vergleichbar mit uns Beiden. Wir sind einzigartig“, behauptete er selbstbewusst und Jean schnaubte abfällig. „Ja, genau das ist das Wort, das ich für euch beide wählen würde. Einzigartig.“ „Höre ich da einen ironischen Unterton?“ „Immer.“ Jean verstummte und räusperte sich schließlich. Die angenehme Atmosphäre verursachte Unsicherheit in ihm. Er sollte Day verachten für das, was er getan hatte. Für seine Feigheit und seinen Egoismus. Er hatte ihn doch auch verachtet, wieso scherzte er nun mit ihm? Warum akzeptierte er jeden Anruf? Sogar heute? Unwirsch verzog er die Lippen und Unruhe kam auf. „Ich muss auflegen“, sagte er und fühlte Erleichterung in sich. Abstand zu Day war sicherlich das Richtige. „Natürlich. Grüße mir Jeremy.“ „Grüße ihn selber, du hast seine Nummer“, ahmte er den blonden, kleinen Teufel nach und Day schnaubte. „Ja, Andrew“, bekam Jean auch beinahe augenblicklich die Quittung für sein Verhalten und schuldbewusst zuckte er zusammen. Er legte auf. Es war besser für sein Seelenheil. Jean starrte für ein paar Sekunden auf sein Handy, auf das erlöschende Display mit einem der Bilder aus der Winterhütte. Wenn er es schon geschafft hatte, mit Day zu telefonieren, wie weit waren da Louis und sein Vater entfernt? Nicht weit, wenn seine verräterischen Finger schon die Rückruftaste betätigten und die Nummer seines Vaters wählten. Es klingelte zweimal, dann wurde abgenommen und Jean stöhnte auf, als es nicht sein Vater war, der ihm begeistert ins Ohr schrie, sondern sein kleiner Bruder. „Jean! JEAN! Da bist du ja! Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“ Nicht wirklich dazu kommend, etwas zu erwidern, wurde er Zeuge eines schiefen, aber engagierten Geburtstagsliedes, das in ihm zunächst Irritation hervorrief. Er hatte schon lange keines mehr gehört und im ersten Augenblick konnte er den Worten nicht folgen und sie schon gar nicht glauben. Dann jedoch wurde ihm bewusst, dass dieses Lied ihm galt, die Worte sich auf ihn bezogen und in einer solchen Unschuld vorgetragen wurden, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Sein Bruder verstummte und Jean bedauerte beinahe die eintretende Stille. „Das war schön“, murmelte er dann rau und räusperte sich. Louis lachte hell auf. „Ich würde dich jetzt gerne drücken, mon frère. Einen ganz langen Geburtstagsdrücker, wie unser Papa immer sagt! Und ich würde dir einen selbstgebackenen Kuchen geben. Das kann ich schon!“ „Das glaube ich dir. Der Kuchen wird sicherlich sehr lecker schmecken“, konzentrierte sich Jean auf das, was ihm am Wenigsten Schmerz bereitete. Soviel Zuneigung war ungewohnt für ihn und an diesem Tag waren die Wälle, die er um sich herum aufgebaut hatte, dünner als sonst. Louis traf da ins Schwarze und ließ Jean wund zurück. „Du, Jean?“ Er brummte fragend. „Kommst du bald wieder zu uns? Damit ich dir einen Kuchen backen kann? Ich würde dich so gerne sehen.“ Wenn er es nicht besser wüsste, würde Jean sagen, dass Louis ganz genau wusste, welche Knöpfe er bei ihm drücken musste. Die unschuldige Frage, die zu gleichen Teilen Schmerz und Wärme durch Jean jagte, war emotionsgeladen und vielschichtig. „Ja, das werde ich“, erwiderte Jean, nachdem er seiner Stimme wieder trauen konnte und Louis schnaufte. „Wann?“ Die schier inquisitorische Frage überraschte Jean so sehr, dass er keine rechte Antwort fand. „Bald?“, antwortete er probeweise, doch das ließ Louis ihm nicht durchgehen. „Wie bald ist bald?“ Bevor Jean darauf antworten konnte, hörte er im Hintergrund Louis Vater. Ihren…Vater. „Nicht drängen, Lou, das ist unhöflich. Jean ist sehr beschäftigt und er kann nicht immer sagen, wann er Zeit hat.“ Louis grummelte. „Entschuldigung, Papa. Möchtest du auch mit Jean sprechen?“ „Ja gerne.“ Jean wurde nicht gefragt und so beschleunigte sich sein Herzschlag um ein Vielfaches. Er hörte, wie das Telefon übergeben wurde und sein Vater es in die Hand nahm. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Jean“, sagte er leise und Jean brauchte einen Augenblick lang, um die Worte zuzulassen und sie anzunehmen. „Dankesehr“, erwiderte er schließlich förmlich, als würde ihm ein Fremder gratulieren. Und war es nicht auch so? Neun lange Jahre lagen zwischen ihnen. Minuten voller Gewalt und Einsamkeit. „Ich wünsche dir alles erdenklich Gute für dein neues Lebensjahr.“ Die Worte schmerzten Jean, sie rissen sich in die Erinnerungen des letzten Jahrzehnts. „Das wird sich zeigen.“ „Ich hoffe das Beste für dich, mein Junge. Ich…wir haben uns erlaubt, dir in Geschenk zu schicken. Es müsste heute angekommen sein.“ Ein Geschenk. Jean schluckte trocken. Er wusste nicht, was er davon halten sollte und ob er es wirklich öffnen würde. Er atmete tief durch. „Danke. Euch Beiden. Ich war aber noch nicht zuhause. Ich weiß nicht, ob es da ist.“ Sein Vater gab ein zustimmendes Geräusch von sich. „Geht es dir sonst gut?“ „Ja.“ Jean wusste nicht, was er sonst dazu sagen sollte, insbesondere, wenn Louis zuhörte. „Es ist manchmal anstrengend. So auch heute“, entschied er sich deswegen für die halbe Wahrheit. „Unterstützt Jeremy dich?“ Jean schnaubte. „Mehr als ich es mir manchmal wünschen würde.“ „Oh?“ „Er denkt an vieles.“ „Aber es tut dir gut?“ „Ich denke schon.“ „Es würde mich freuen, wenn es so ist.“ Das Gespräch verstummte und schlussendlich verabschiedete Jean sich von Louis und François. Er legte auf und atmete tief durch, erleichtert und beschwert zugleich. Vielleicht war es doch kein so schlimmer Tag. Und jetzt, wo er diese beiden Telefonate hinter sich hatte, konnte er es doch auch mit Jeremy aufnehmen, oder? ~~**~~ Nervös tigerte Jeremy im Eingangsbereich ihres Stadions hin und her. Eigentlich hatte er schon lange gehen wollen. Zum dritten Mal hatte er nun schon seine Sporttasche in der Hand und tat einen Schritt in Richtung Tür, nur um sie dann wieder abzustellen und sich zurück zum Korridor zu drehen, in dem Jean telefonierte. Erst mit Kevin mit entsprechender Nichtbegeisterung, aber mit einer wachsenden Bereitschaft, mit dem anderen Jungen zu sprechen. Auch wenn sie sich anscheinend beleidigten, so hatte Jeremy doch Humor aus den Worten hören können und das schürte in ihm die Hoffnung auf eine mögliche, künftige Freundschaft. Das Gespräch mit Louis und seinem Vater war weitaus ruhiger gewesen und Jeremy war warm ums Herz geworden, als er hörte, wie Jean auf seine Familie reagierte. Es war in der Tat ein Paket angekommen, ein Riesending. Er hatte es auf Jeans Schreibtisch gelegt, ebenso wie sein eigenes, weitaus kleineres Geschenk. Die Stimme des anderen Jungen verstummte und Jeremy verharrte angespannt. Jean war den ganzen Tag nicht dagewesen, schon seit Jeremy wach geworden war nicht. Er hatte ihn gemieden und Jeremy wusste nur zu gut, warum. Weil er sein Kapitän war. Weil Jean von einem sadistischen Arschloch Gewalt angetan worden war. Das hatte ihn heute abwechselnd wütend und traurig gemacht. Das Training hingegen hatte ihm Hoffnung gegeben. Jean hatte mit ihm herumgespaßt. Er hatte ihn berührt. Das musste doch etwas heißen, oder? Oder? Jean erschien im Durchgang und erstarrte, als er Jeremy sah. Der blonde Junge schluckte und lächelte nervös. „Hi“, winkte er. „Ich…ähm…dachte, dass ich vielleicht auf dich warten sollte, weil keiner mehr da ist. Und ich weiß, dass du mich heute nicht sehen möchtest, weil ich dein Kapitän bin, also auch, aber vielleicht ja doch, ich meine, im Training hast du ja auch…und ich…“ Jeremy stoppte sein eigenes Brabbeln und sah mit fest zusammengepressten Lippen zu Jean, der mit einem Mal mit dunklem Blick auf ihn zukam, groß und bedrohlich. Jeremy fiepte erschrocken, blieb aber wie angewurzelt stehen, insbesondere jetzt, da er unnachgiebig an die muskulöse Brust des anderen Jungen gezogen und eisern gedrückt wurde. So eisern, dass ihm beinahe die Luft wegblieb. So eisern, dass er nur Jean spürte, roch, sah, dass dieser seine ganze Welt einnahm und seine Befürchtungen Lügen straften. „Du bist hier“, murmelte Jean und Jeremy schnaufte erstickt. Abrupt wurde er soweit losgelassen, dass er atmen konnte und grinsend sah Jeremy hoch. „Hallo du“, murmelte er und verlor sich in den grauen Augen, die ihn so emotionsgeladen musterten. Sie waren bildschön in dem noch vom Training geröteten Gesicht mit den feuchten, dunklen Haaren und den prominenten Wangenknochen. „Hallo zurück“, sagte Jean schlicht, machte aber keine Anstalten, etwas zu sagen oder ihn wegzuscheuchen. „Wie geht es dir?“, fragte Jeremy mit klopfendem Herzen und Jean brauchte etwas um zu antworten. „Es ist okay und jetzt ist es gut“, erwiderte er und zögerte einen Augenblick. „Es tut mir leid, dass ich heute nicht da war.“ Jeremy schüttelte wild den Kopf, kaum dass Jean die Worte ausgesprochen hatte. „Nein! Nicht entschuldigen, Jean! Du hattest jedes Recht, den Tag so zu verbringen, wie du dich damit wohlfühlst. Es ist dein Tag, dein Geburtstag und du bestimmst, was dir gut tut und was nicht. Du musst dich für gar nichts entschuldigen“, stellte er richtig, in der Hoffnung, dass seine Worte bei seinem Backliner Anklang fanden. Das taten sie, aber erst, nachdem Jeremy von grauen Augen schier seziert worden war. „Also bist du nicht wütend?“, fragte Jean kritisch nach und er schüttelte den Kopf. „Aber traurig?“, kam der andere Junge zielsicher zum eigentlich Kernpunkt und Jeremy schluckte. Natürlich war er traurig gewesen. Die Gründe dafür waren vielfältig und einer der harmloseren war gewesen, dass er Jean heute gerne einen wunderbaren Geburtstag bereitet hätte, angefangen beim Frühstück, über einen kleinen Kuchen nach dem Mittagessen und den üblichen Geburtstagsritus der Trojans. Er hätte Jean gerne sein Geschenk gegeben und ihn in die Arme genommen. „Ein bisschen“, schwächte Jeremy das bittere Gefühl in seinem Inneren ab und Jean musterte ihn stumm. „Das war nicht meine Absicht.“ „Das weiß ich.“ „Ich würde jetzt gerne mit ins Apartment kommen.“ Der einfache Satz zauberte Jeremy ein Strahlen auf das Gesicht und er nickte begeistert. „Es ist dein Zuhause, Jean. Jederzeit! Möchtest du, dass ich uns Abendessen zubereite?“ Zögernd nickte Jean und Jeremy hauchte ihm einen kaum merkbaren Kuss auf die Wange. „Lasagne?“ Jeans Augen leuchteten auf, auch wenn seine Gesichtsmuskulatur keinen Hinweis darauf gab, dass er sich darüber in besonderem Maße freute. Vielleicht, irgendwann würde er das offen können, doch jetzt begnügte Jeremy sich mit diesem minimalen Erfolg. „Gerne“, erwiderte Jean schließlich vorsichtig und Jeremy grinste. ~~**~~ Jean rieb sich verstohlen den Bauch und beobachtete seinen Kapitän, Mitbewohner und…bewunderten Menschen dabei, wie er ächzend die Überreste des reichlichen Essens wegräumte. Er selbst durfte nicht helfen, streng verboten durch Jeremy. Er war das Geburtstagskind, er würde verwöhnt werden, das hatte ihm der blonde Junge mitgeteilt und ihn, seit sie hierhin gekommen waren, von vorne bis hinten bedient hatte, jeden Einspruch von Seiten Jean rigoros ignorierend. Das Essen war lecker gewesen, viel zu lecker und Jean hatte unvernünftigerweise mehr gegessen, als sein Magen vertrug. Auch das war ein Überbleibsel aus seiner Zeit in Evermore, denn Riko hatte ihm selten Essen zugestanden an diesem Tag. Nun war er damit beschäftigt das Gegessene zu verdauen und die Stimmung des Apartments auf sich wirken zu lassen. Jeremy hatte Kerzen angezündet und Musik angemacht. Das tat er selten und es gefiel Jean jedes Mal wieder. Die Geschenke standen auf dem Wohnzimmertisch und warteten noch darauf, ausgepackt zu werden. So er sich denn endlich bewegen durfte. „Kakao für dich?“, fragte Jeremy in seine Gedanken hinein und Jean nickte. Sie hatten seit einiger Zeit einen dunklen Kakao, der nicht ganz so süß war. Er mochte ihn sehr gerne und trank mehr davon, als es für ihn gut war. Natürlich hatte Jeremy das mitbekommen und natürlich bot er ihm einen heißen Kakao viel zu oft an. Ebenso oft, wie Jean annahm. Wie auch jetzt. Als Jeremy ihm die Tasse in die Hand drückte, durfte er aufstehen und zusammen mit seinem Kapitän zu ihrer Couch gehen. Die weichen Kissen unter seinem Hintern taten gut und Jean zog seine Beine zu sich. Er drehte sich zu Jeremy, der ihn sacht musterte. „Du hast noch Geschenke.“ Jean brummte. „Ich sehe es.“ „Sie sind verpackt.“ „Auch das sehe ich.“ „Ich wäre neugierig.“ „Das glaube ich dir.“ „Sehr neugierig.“ Jean hob die Augenbraue. Er wandte sich ab von den leuchtenden, blauen Augen und strich über das mit der Post gekommene, bunte Paket sowie die kleineren Päckchen von Rhemann und Jeremy. Natürlich war er neugierig, aber er scheute sich auch. Immer noch war es schwer für ihn, Geschenke als die seinen anzunehmen. Immer noch staunte er, dass er eigene erhielt. „Sie sind so hübsch.“ „So wie du.“ Überrascht sah Jean zu Jeremy, der ihn mit großen Augen und roten Wangen anstarrte, anscheinend über sich selbst erschrocken. Jean hielt das Zucken in seinem Mundwinkel nur kurz aus, dann lächelte er. „Du bist unmöglich“, sagte er dann, nicht ohne einen liebvollen Unterton und nahm einen Verlegenheitsschluck aus seiner Tasse. Kopfschüttelnd griff er zu Jeremys Geschenk, das er sacht in seinem Schoß platzierte. Er war etwas schwerer und klapperte leicht. Nachdenklich strich Jean über das farbenfrohe Geschenkpapier, das vor kleinen Monstern nur so strotzte. Es war viel zu schade um zerstört zu werden, also knibbelte er es vorsichtig auf. Er wurde besser darin, das kostbare Papier unzerstört zu lassen und so konnte er das Quadrat aufklappen und den grünen Karton herausnehmen, der in der Mitte thronte. Langsam öffnete er ihn und hielt fragend ein pastellgrünes Wesen mit stummeligen Ärmchen, zwei Punkten als Augen und einer gebogenen Linie als Mund in den Händen. Es war rund und schwer und Jean war absolut nicht sicher, was es war. Hilfesuchend sah er zu Jeremy. „Vielen Dank, das ist…besonders“, suchte er vergeblich nach den richtigen Worten und gab es dann auf so zu tun, als wüsste er, was es war. „Was ist das?“ Jeremy lachte. „Das ist ein Nachtlichtgespenst. Es leuchtet nachts, wenn man es anmacht. Dazu musst du ihm auf den Kopf stupsen.“ Jean tat wie ihm geheißen und das Gespenst machte sehr eindringlich „Buuh!“, als es aufleuchtete. Fasziniert und auch etwas gerührt drehte Jean das kleine Ding in seinen Fingern und betrachtete es von allen Seiten. „Es leuchtet.“ „Im Dunkeln.“ „Es spricht.“ „Nur beim An- und Ausmachen.“ Spielerisch stupste Jean Jeremy auf den Kopf und wurde mit einem empörten „BUUH!“ belohnt. Er schnaubte amüsiert und hauchte dem blonden Jungen einen Kuss auf die schmollenden Lippen. „Vielen Dank, Jeremy. Es freut mich sehr. Ich mag es sehr gerne“, gab er zu und stellte den rundbäuchigen Geist auf den Wohnzimmertisch. Jeremys Hand stahl sich auf seine und drückte sie leicht. „Sehr gerne. Aber du hast noch andere Geschenke.“ Die leichtfüßige Ungeduld seines Kapitäns war deutlich zu hören und Jean hob die Augenbraue. Er sah auf die unruhigen Finger des blonden Jungen und griff seufzend zu dem Geschenk ihres Coaches. Er öffnete es ebenso vorsichtig und entpackte sich selbst in seiner Trojanuniform als Wackelkopf. Zumindest glaubte Jean, dass er es war, mit seiner Nummer sieben und den sichtlich dunklen, braunen Haaren. Fragend sah er zu Jeremy, der nicht ganz so überrascht war, wie Jean es vermutet hätte. „Einen Wackeltrojan bekommt jeder von uns zum ersten Geburtstag, den wir zusammen feiern“, erläuterte er sein Nicht-Erstaunen und Jean warf einen Blick in Richtung Schlafzimmer. Jeremy hatte auch einen…eine kleine, unscheinbare Statue inmitten des Chaos seines Schreibtisches. Jean hatte sie nie aktiv wahrgenommen, nun aber gab es Sinn. Lächelnd strich er über seinen Kopf aus Vinyl und brachte ihn zum Wackeln. „Es ist eine tolle Idee und ein schönes Geschenk“, murmelte er und platzierte sich neben den Geist. Er nahm Rhemanns Umschlag auf und öffnete auch diesen. Es war ein Exites-Gutschein, der viel zu hoch und zu teuer war. Jean schnaufte und strich liebevoll über das dicke Papier. Blieb nur noch ein Geschenk. Das Größte aus der Runde und dasjenige, was Jean am Meisten beunruhigte. „Das ist von deinem Vater, oder?“, hakte Jeremy leise nach und Jean nickte. „Ich habe mit ihm telefoniert.“ „Geht es dir gut damit?“ Jean überlegte einen Moment und bejahte dann nonverbal. „Es war nicht so schlimm wie ich dachte. Louis hat ein schiefes Geburtstagslied gesungen. Aber die Erinnerungen sind da…“ Vorsichtig sah er hoch und das Verständnis auf Jeremys Gesicht war mehr als Balsam für sein aufgewühltes Inneres. „Wenn du darüber sprechen willst, bin ich jederzeit für dich da.“ Jean wusste das sehr zu schätzen, wirklich. „Dafür bin ich dir sehr dankbar…allerdings glaube ich nicht, dass ich es heute möchte“, gab er zögernd zu. Jeremy hatte damit überhaupt kein Problem. „Wann immer du möchtest, Jean.“ Für ein paar Augenblicke hielt er inne, dann griff er sich nach einem tiefen Atemzug das Paket und befreite es mit zitternden Händen von seiner Transportverpackung und schließlich von dem Geschenkpapier. Es schien ihm, als riss er mit den Klebestreifen auch sein Innerstes auf und entblößte das, was darunter lag. So wie er den Stapel an zusammengebunden Briefen entblößte. Erst von seinem Vater, dann von Louis und seinem Vater… geschrieben an einen Sohn, der sie nicht freiwillig verlassen hatte. So wie er die riesige Filmesammlung entblößte, die sich unter dem bunten Papier befand. Er wusste erst nicht, was es war, bevor er die Form und die Verpackung erkannte, mit der man Blu-rays transportierte. Die Hüllen waren bunt und die dutzenden Filme einte alle eine Sache. Sie waren Disneyfilme und wenn er dem Pappschuber glaubte, so waren es alle. Von Anbeginn bis jetzt. Jean blinzelte und merkte erst, wie stark er zitterte, als ihm das Geschenkpapier aus der Hand glitt. Jeremy sagte etwas, doch Jean konnte den Worten nicht folgen. Hier stand seine halbe Kindheit, gepresst auf dünne Scheiben, die die Filme wiedergeben würden. Es war das schlimmste und schönste Geschenk gleichzeitig, das sein Vater ihm hatte machen können und Jean blinzelte ohne Erfolg gegen das Brennen in seinen Augen an. Seine Kehle war wie zugeschnürt und sein Rachen brannte ungewohnt vor aufkommenden Tränen. „Hey, Jean, alles in Ordnung?“, murmelte Jeremy an seiner Seite und er schüttelte den Kopf. Nein, in diesem Moment war nichts in Ordnung und alles im Chaos. „Es ist schrecklich und schön zugleich“, presste er hervor und die ersten Tränen fielen. Unwirsch wischte Jean sie weg, doch die Welt vor seinen Augen verschwamm immer und immer wieder. Vorsichtig legte Jeremy die Arme um seine Körpermitte und Jean schmiegte sich an ihn, barg seinen Kopf an der Schulter des anderen Jungen. Er weinte um die vergangenen Jahre, konnte gar nicht anders. Er weinte um das, was mal sein Glück gewesen war und ihm entrissen worden war. Er weinte auch um das, was ihm neu geschenkt worden war, das Glück, das er nun hier hatte. Was er sich niemals erträumt hätte. So sehr es ihn auch schmerzte, so heilsam war es und er begriff, dass es Teil des Verarbeitungsprozesses seiner Vergangenheit war, den er nicht umgehen konnte und durfte. Jean war daher mehr als dankbar für Jeremys Anwesenheit, seine Geduld und Nachsicht. Auch für die Sanftheit, die er ihm zeigte. „Ich mache dein Shirt ganz nass“, murmelte Jean, als er die Kraft fand zu sprechen und Jeremys Brustkorb hob sich unter der Bewegung seines Schnaubens. „Es könnte mir gerade nicht egaler sein“, erwiderte er und drückte Jean etwas enger an sich. „Es ist mir wichtig, dass ich dich unterstützen kann.“ Jean brummte und hob den Kopf soweit, dass er den nassen Fleck auf Jeremys T-Shirt küssen konnte. Er wischte sich die restlichen Tränenspuren von den Wangen und sah hoch, in die blauen, aufmerksamen Augen. „Vielen Dank für alles, Jeremy“, sagte er ehrlich und zauberte damit ein Lächeln auf die schmalen Lippen des blonden Jungen. „Sehr gerne, Jean.“ Die Hände, die ihm über den Rücken strichen, waren sanft und wenig verletzend, Balsam für seine Erinnerungen an die vergangenen Jahre. Er wusste seit Monaten, dass nicht jeder so war wie Riko, doch das Begreifen setzte erst jetzt ein, langsam und allmählich. Sowohl das geistige als auch körperliche Begreifen, was es ihm möglich machen würde, Jeremy auf Dauer so nahe zu sein wie jetzt. Dass er sich auf Dauer so vertrauensvoll in die Umarmung des anderen Jungen fallen lassen konnte, wie er es jetzt tat. „Ich möchte dich gerne ausführen“, murmelte Jean den aberwitzigen Gedanken, der ihm auf der Zunge lag und Jeremy wog nachdenklich den Kopf hin und her. „Ein richtiges Date?“, fragte er und zögernd bejahte Jean das. „Essen gehen in deinem Lieblingsrestaurant, durch die Stadt spazieren und danach vielleicht…“ Er verstummte schüchtern und sah zur Seite. Seine Wangen wurden warm, was nie ein gutes Zeichen war. Ebensowenig wie der überraschte Oh-Laut, der aus Jeremys Mund entkam, als wäre es etwas Neues. Jean grummelte unsicher. „Das war nur ein Vorschlag.“ Die Hand auf seiner Wange, die zart und sacht seinen Kiefer entlangfuhr und ihm leicht gegen die Nase schnipste, ließ ihn aufsehen. „Jederzeit gerne, du französischer Verführer“, strahlte Jeremy glücksselig und Jean kam nicht umhin, mit den Augen zu rollen. Als wenn. ~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 67: Erste Male ---------------------- Jean grollte, während sich seine Finger in den gelben Stoff des Hoodies vor ihm gruben und diesen eisern festhielten. Er grollte lauter, als erneut und unvernünftig daran geruckt wurde und stemmte seine nackten Füße in Erwartung weiteren Widerstands in den Boden. „Ich habe gesagt, dass es okay ist“, grimmte er und der Junge am anderen Ende des Hoodies gab einen Laut irgendwo zwischen Verzweiflung und Ertapptheit von sich. Mit Recht, befand Jean, schließlich hatte der Übeltäter sich aus ihrem Apartment schleichen wollen. Hinterrücks. Angefangen hatte es damit, dass Logan ihm gegenüber angemerkt hatte, dass sie sich früher öfter zum Film schauen in ihrem Apartment getroffen hatten. Auf Jeans Frage hin, warum sie das nicht mehr taten, hatte er Übeltäter nur verschämt lächelnd mit den Schultern gezuckt und gemurmelt, dass er keinen Film schauen würde, wenn Jean Angst davor hatte. Obwohl Jean ihm daraufhin gesagt hatte, dass es okay war, wenn er hierblieb und die Anderen zu ihnen kamen, hatte sein unvernünftiger Kapitän natürlich nichts Besseres zu tun, als sich davonschleichen zu wollen. Aber nicht mit ihm. Fast hätte Knox es geschafft, wenn da nicht die verdächtige Stille gewesen wäre, die Jean aus seinem Essay gerissen hatte. Das leise Prickeln, dass etwas nicht stimmte. In Evermore wäre es Gefahr gewesen. Hier? Er rümpfte die Nase. Hier war es ein sich davonstehlender Striker im Kapitänsrang, der versuchte, sich dem Videoabend in ihrem Apartment zu entziehen, weil Jean gesagt hatte, dass er währenddessen im Schlafzimmer sein würde. Es war vollkommen okay für ihn, nicht jedoch für den Jungen, der zunächst versucht hatte, den Abend abzusagen, dann versucht hatte, mit Jean zu diskutieren, dass sie auch etwas Anderes machen konnten. Als auch das nichts gefruchtet hatte, waren sie hier gelandet. Jean hatte ihn gerade noch so am Stoff seiner Kapuze erwischt und hielt ihn nun daran unnachgiebig fest, sorgsam darauf bedacht, den anderen Jungen nicht zu würgen. „Jeremy Knox, du kommst sofort zurück“, sagte er streng, etwas, das vor Monaten noch undenkbar gewesen wäre. Auch jetzt noch zog sich sein Magen erschrocken und schmerzhaft zusammen und sein erster Instinkt war es, zurück zu weichen. Doch über diesen anfänglichen Impuls setzte Jean sich hinweg und blieb bei seinem spielerischen Necken und Aufhalten, hatte er doch beobachtet, dass Jeremy diese Seite an ihm sehr mochte. Nicht nur das, manchmal sah Jean in Jeremys Augen nicht nur Freude, wenn er streng war. Dort war auch Lust. Hatte Jean erwartet, dass er Angst vor eben dieser Emotion haben würde, so täuschte er sich. In Evermore hatte sich dieser Ausdruck auf den Gesichtern seiner Vergewaltiger in seine Erinnerungen gebrannt. Auch jetzt noch träumte er von der Lust auf ihren Gesichtern. Aber Jeremy war anders. Jeremy betrachtete ihn nicht, als wäre er Beute. Er nutzte seine Lust nicht als Waffe, sondern sie war ein Teil von ihm. Etwas, das ihn nicht diktierte. Jean war froh darum, auch wenn er sich fragte, wie Jeremy wohl aussehen würde, wenn er das mit ihm machte, was die beiden Männer in dem Video miteinander taten. Wie sehr konnte er ihm wohl die vielen Geräusche entlocken, die ihren Weg zu Jeans Unterleib fanden? Eine Bewegung ließ Jean aus seinen Gedanken auftauchen und Jeremy drehte sich zu ihm um, soweit es Jeans Hand in seiner Kapuze eben zuließ. Seine blauen Augen blitzten und Jean sah jetzt schon, dass sein Kapitän etwas ausheckte. „Was es auch ist, nein“, grollte Jean und legte seine Hände um die Hüften des anderen Jungen. „Jean, aber ich…“ Bestimmt zog er Jeremy zu sich zurück in ihr Apartment und wollte schon die Tür zuwerfen, als Logan und Val hinter Jeremy auftauchten und sie beide fragend musterten. Der Geruch frisch gefärbter Haare drängte sich Jean entgegen und einen Augenblick lang warf dieser ihn zurück nach Evermore, hin zu Neil. Doch Val war nicht Neil, sie hatte keine Verzweiflung in ihren Augen. Sie weinte nicht vor Schmerz. Sie schrie nicht, während er ihre Wunden versorgte. „Stören wir?“, grinste Val anstelle dessen und Jean rollte mit den Augen. „Nicht im Geringsten, kommt rein“, erwiderte er und stülpte seinem Kapitän die Kapuze über den Kopf, bevor dieser etwas sagen konnte. „Es findet hier statt“, raunte er Jeremy ins Ohr und schob ihn sanft in Richtung Couch. „Hinsetzen.“ Groß und rund waren sie, die Augen, die zu ihm hochsahen. „Du musst das nicht tun, Jean, wirklich nicht“, startete Jeremy einen letzten Versuch, den Jean mit dem Schweigefinger auf den schmalen Lippen beendete. „Was willst du trinken?“, fragte er anstelle dessen und Jeremy zog die Nase kraus. „Du wirst uns hier nicht bedienen, soweit kommt es noch“, grollte er nun auch noch und Jean würdigte das keiner Antwort. Und ob er das tun würde, er hatte auch schon etwas Bestimmtes im Sinn. Anstelle dessen bedeutete er Logan und Val, sich zu Jeremy zu setzen und ließ gleich auch noch Ellie und Ajeet hinein, die gerade im Türrahmen erschienen. „Hey“, lächelte der Hüne von einem Torwart und winkte ihm. Ellie gab ihm einen Kuss auf die Wange. Sie hatte irgendwann damit angefangen, als Jean ihr nicht schnell genug aus dem Weg gegangen war. Seitdem hörte sie nicht mehr auf damit und er war sich bis jetzt noch nicht sicher, ob er wirklich so konsterniert darüber war wie am Anfang. Es fühlte sich schön an. Irgendwie. Bestimmt schloss Jean hinter ihnen die Tür und kam wieder ins Wohnzimmer. Mit Verachtung sah Jean auf den Tisch, auf dem sich die ungesunden Mitbringsel stapelten und wütend stierte er Logan nieder, der seine viel zu süßen und viel zu zuckerhaltigen Brownies von ihrem Papier befreite. „Das ist ungesund“, grimmte Jean. Logan sah zu ihm und zog provokativ langsam die Sprühdose mit Schlagsahne aus der mitgebrachten Tasche. Er stellte sie mit bedeutungsschwanger erhobener Augenbraue auf den Tisch und lächelte dunkel. „Schonmal über eine Zukunft als Fitness-Guru nachgedacht, Moreau? Würde dir ausgezeichnet stehen.“ Jean hatte keine Ahnung, was ein Fitness-Guru war, aber wenn es aus dem Mund des Defensive Dealers kam, dann konnte es nichts Gutes sein, egal, wie sehr Val darüber kicherte. „Das wäre was, die armen Leute“, fiel sie ein und vernichtend starrte Jean ihr in die Augen. „Mit dir fange ich an“, drohte er spielerisch und hoffte, dass es nichts Schlimmes war. Anscheinend schon, wenn er ihr theatralisches Zurückfallen auf die Couch richtig interpretierte. „Du wärst ein ausgezeichneter, gnadenloser Guru“, lachte Jeremy und erhob sich. Jean folgte ihm in die Küche und zog die Gemüsesticks mit Joghurtdip aus dem Kühlschrank, die er heute Nachmittag vorbereitet hatte. „Hier, etwas Gesundes“, sagte er bedeutungsschwanger und Jeremy nahm den Teller mit einem dankbaren Lächeln entgegen. Er hauchte einen Kuss auf die andere Wange und ließ Jeans Gesicht damit doppelt prickeln. „Du bist ein wunderbarer Mensch, Jean“, murmelte er und Jeans Bauchgegend kribbelte vor Wärme. „Geh Fernsehen gucken“, sagte er anstelle den Worten, die ihm auf der Zunge lagen und Jeremy lachte. Dieses Mal erhielt Jean einen Kuss auf die Lippen und zog sich schließlich in das Schlafzimmer zurück. ~~**~~ Es dauerte keine halbe Stunde, da konnte Jean sich nicht mehr auf seinen Essay konzentrieren. Die Trojans auf der anderen Seite der Tür lachten, neckten und beleidigten sich und er sah eines ums andere Mal auf um ihnen zu lauschen. Am Anfang war es unterbewusste Angst gewesen, dass sie kommen und ihn holen würden. Unbegründet, aber präsent. Schneller, als er es sich erträumt hatte, war sie abgeklungen und hatte Neugier zurückgelassen. Neugier und Sehnsucht, sich nicht außen vor zu fühlen und sich nicht selbst zu isolieren. Stückchenweise hatte Jean diesem Gefühl nachgegeben. Hatte gelauscht. War zur Tür gegangen und hatte dort gelauscht. Hatte durch das Schlüsselloch gespinxt. Dreimal hatte er seine Hand auf die Klinke gelegt und sie wieder zu sich gezogen. Sein Herz raste, als er hinter der Tür stand und seine Erinnerungen ihn anschrien, dass es keine gute Idee war. Es klopfte wild in seiner Brust und einen Augenblick lang erschwerte ihm seine Angst das Atmen. Doch keiner von ihnen war wie die Ravens. Sie würden ihm nicht wehtun. Das sagte er sich immer wieder. Bevor er es sich anders überlegen konnte, öffnete Jean schließlich die Tür. Dass er sie vermutlich eher aufriss, sah er an den erschrockenen Gesichtern der Anwesenden, die ihn anstarrten, als wäre er der Tod persönlich. Jeremy griff hastig zur Fernbedienung und stoppte das Video. „Jean, alles okay?“, fragte er und Jean nickte abgehackt. Nun, da er im Raum stand, wusste er nicht, was er tun sollte. Die Couch war belegt, der Platz davor auch. Einzig der Hocker war frei und den holte er sich nach kurzer Überlegung mit zittrigen Händen. Beinahe schon trotzig setzte er sich in entsprechender Entfernung zu seinem Team auf die unbequeme Sitzfläche und presste den Kiefer aufeinander. „Was?“, grollte er, als sie immer noch schwiegen und ihn anstarrten als käme er von einem anderen Stern. „Du schaust mit?“, traute Jeremy sich schließlich und Jean hasste den latenten Unglauben in seiner Frage, die Unsicherheit, die da mitschwang. „Ja“, entkam es Jean gepresst und er verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Kennst du den Film?“, fragte Ellie und Jean schüttelte den Kopf, dankbar um die Überleitung, die die peinliche Stille überbrückte. Er starrte auf den Boden, weil er ihr Mitleid nicht sehen wollte. Die fragenden Blicke. Wieso sollte er den Film auch kennen? Er kannte fast gar nichts und das, was er kannte, hatte er beinahe vergessen. „Nein.“ „Es ist ein Tanzfilm aus den Achtzigern. Sehr geistlos, aber Kult. Wir schauen ihn regelmäßig.“ Jeans Augen huschten nach oben und er sah, dass es ernst gemeint war. Sie sahen sich einen Tanzfilm an. Das erklärte die Musik, die er gehört hatte. „Okay.“ „Cool für dich?“ Jean nickte und wagte es, Jeremys Blick zu erwidern. Das, was er darin sah, war ein breites Potpourri aus Emotionen, die Jean wie nichts durchdrangen und ihn mit Chaos ausfüllten. Da war soviel Positives, das er zu zerbersten glaubte. Sein Kapitän lächelte so liebevoll, dass es Jean als Antwort trotz seiner Nervosität in den Mundwinkeln zuckte. „Möchtest du lieber auf die Couch?“, fragte er und Jean schüttelte den Kopf. Nein, wollte er nicht. Der Hocker stand abseits und von hier aus konnte er schnell aus der Wohnung, wenn es notwendig sein würde. Nicht, dass dem der Fall wäre, aber er wollte sich einen Fluchtweg lassen. „Es ist okay so.“ Herausfordernd hob Jean seine Augen und sah von Jeremy aus zu den anderen Trojans. Knapp deutete er auf den Fernseher. „Wolltet ihr nicht schauen?“, fragte er ungehalten und es war Logan, der mit einem vielsagenden Augenbrauenwackeln den Film weiterlaufen ließ. Die Figuren bewegten sich, sprachen miteinander, agierten miteinander, doch das, worauf Jean sich in den ersten Minuten konzentrierte, waren die Hintergrundgeräusche und das Verhalten seines Teams. Angespannt saß er auf seinem Hocker, während ihm der Rücken von seiner verkrampften Haltung wehtat. Seine Augen huschten zwischen den Trojans und dem Bildschirm hin und her und erst nach weiteren langen und quälenden Minuten schaffte er es, sich zum Großteil auf den Film zu konzentrieren, dem nicht wirklich schwer zu folgen war. Ganz und gar nicht. So etwas sah sein Team? Das war…unsinnig und unlogisch. Es war kitschig und steif. Aber die Anwesenden schienen es zu mögen, ihnen gefiel es und Jean gewöhnte sich das Zusammenzucken nach dem dritten Seufzen und glücklichen Aufstöhnen ab. Dazu war er viel zu irritiert von der Handlung oder vielmehr des Nichtvorhandenseins derer. Die Tanzszenen waren aber schön und die Musik vermittelte ihm ein Gefühl von Heimeligkeit. Es dauerte vielleicht nur eine Stunde, aber es war der erste Film, den er mit seinem Team gesehen hatte. Er war nervös, immer noch, und seine Hände waren klamm vor Angst, doch er hatte es durchgestanden. Er war nicht gestorben, hatte keine Gewalt erlebt. Stolz ballte sich in Jeans Magen und strömte eine Zufriedenheit und Wärme aus, die ihresgleichen suchte. Er hatte es geschafft. Er hatte seine Angst überwunden. Ob er Lust hatte, weitere Filme zu schauen, wusste Jean nicht. Solche wie diesen sicherlich nicht, aber vielleicht andere. Die Disneyfilme, die ihm sein Vater geschenkt hatte, vielleicht. Aber das stand in den Sternen. Jetzt erst einmal feierte er für sich diesen kleinen Erfolg, mitten im Trubel seines Teams. Die Hand, die sich in seine stahl, gehörte unzweifelhaft Jeremy und Jean sah auf die schmalen Finger hinunter. Sacht umfasste er sie und sah hoch. Der blonde Junge kniete vor ihm und aufmerksam musterte er Jean, während Val und Ellie hinter ihnen zu singen begannen. „Alles okay bei dir?“, fragte Jeremy und Jean nickte. Er zog die Hand des Jungen zu sich, der den Grundstein eben hierfür gelegt hatte und hauchte einen Kuss auf die rauen Fingerknöchel. „Sucht euch ein Zimmer!“, spöttelte Val und Jean hob den Blick „Dreh dich um und guck aus dem Fenster“, gab er grollend zurück. „Wenn’s denn geputzt wäre!“ Das war es in der Tat nicht. ~~**~~ Jean hatte den heutigen Tag minutiös geplant. Er hatte unter der Hand mit Alvarez gesprochen, er hatte Renee in einer ruhigen Minute erwischt und Andrew in einer weniger ruhigen. Er hatte im Internet recherchiert, immer darauf bedacht, dass Jeremy von all dem nichts mitbekam und nur wusste, dass er sich den heutigen Tag freihalten sollte. Die Vorbereitungen waren abgeschlossen und im Augenblick gab es für Jean nichts Anderes als warten. Er befand, dass das das Schlimmste war, auch wenn es keinen Grund gab, nervös zu sein. Seine Beraterin hatte ihn angerufen, sein Auto war da. Um ihn in Empfang zu nehmen, wurde er selbstverständlich abgeholt. Aber nicht nur er. Jeremy würde mitkommen und Jean würde ihn zu einem Date ausführen, so wie er es versprochen hatte. Einem richtigen Date, für das er auch schon seinen Rucksack gepackt hatte nach Alvarez‘ Anweisungen. Beladen und schwer stand er in der Ecke des Flures und wartete wie Jean auch darauf, dass es Zeit war, ihr Apartment zu verlassen. Jean warf einen Blick auf Jeremy, der entspannt und unwissend die letzten Reste seines Mittagessens vernichtete und ihm hin und wieder fragende Blicke zuwarf. Vermutlich war Jean nicht halb so heimlich, wie er dachte und er rollte innerlich mit den Augen. Vermutlich konnte sein aufmerksamer Kapitän die Nervösität an seinem ganzen Körper ablesen. Jeremy merkte, dass er angestarrt wurde und sah hoch. Er schmunzelte mittlerweile mehr amüsiert als besorgt und erhob sich von dem Barstuhl, auf dem er gesessen hatte. „Ich nehme an, du sagst mir immer noch nicht, was heute passiert?“, fragte er und Jean grollte. „Nein. Lass dich überraschen.“ Wie oft er diese Antwort in den letzten drei Tagen gegeben hatte, wusste er nicht, aber er wurde nicht müde, sie auch weiterhin zu geben. „Außerdem müssen wir gleich los.“ Das stimmte tatsächlich und Jean war mehr als dankbar, aber auch aufgeregt. Jeremy lächelte und seine Augen strahlten dabei. Trotz seinem wiederholten Nachbohren liebte Jeremy nach eigener Aussage Überraschungen mehr als alles andere. „Also Schuhe anziehen?“, hibbelte er und Jean nickte, innerlich seufzend. Hoffentlich klappte alles. Hoffentlich war er in der Lage dazu. Die letzten Tage waren gut gewesen und er hatte wenig Alpträume gehabt. Er fand sich zu Jeremy hingezogen und konnte sich nach wie vor vorstellen, weiter zu gehen als bisher. Aber vielleicht wollte Jeremy nicht? Jean würde es wissen, wenn er fragte, das hatte Andrew ihm eingebläut. Einmal mehr, als dass es notwendig war. Zustimmung war wichtig, darüber offen zu sprechen auch. Ja, mittlerweile wusste Jean es. Auch er zog seine Schuhe an und gemeinsam verließen sie ihr Apartment, hin zu ihrem Parkplatz, wo bereits der Chauffeurdienst wartete. Warum es ein solches Angebot gab, wusste Jean zwar immer noch nicht, aber er nahm ihn an diesem Tag dankend an, konnte er doch so in Ruhe seinen Plan durchführen. „Spritztour, wie cool!“, grinste Jeremy neben ihm, mit einer Frage am Ende des Satzes und Jean atmete tief durch. Er war unwissend und hoffentlich blieb das auch so, bis sie das Autohaus erreicht hatten. Hoffentlich sah man ihm seine Aufregung nicht an. „Guten Tag die Herren“, grüßte ihr Fahrer sie und Jean nickte stumm, begab sich zu Jeremy auf die opulente Rücksitzbank. Die Fahrt dorthin war ihm beim ersten Mal nicht so lange vorgekommen. ~~**~~ Als Dyani ihn begrüßte, war der Junge neben ihm schon weniger nichtsahnend als vorher, dafür hatte er nun hektische, rote Flecken in seinem Gesicht und seine Augen hörten nicht auf, groß und rund zu sein und von Jeans Beraterin zu Jean zu huschen. „Wie geht es Ihnen, sind Sie aufgeregt?“, fragte Dyani Jean und er nickte. Nun, da sie hier waren und er sein erstes Auto quasi in Griffweite hatte, war sein Puls hochgeschnellt und er konnte seine krummen Finger kaum stilhalten. „Sehr“, gestand er ein und sie lächelte beruhigend. Zu ihm, zu Jeremy, zu ihrem Computer, an dem sie die letzten Formalitäten mit Jean durchging um den Besitzübertritt einzuleiten. „Wollen wir?“, fragte sie und Jean nickte. Er sah zu Jeremy, der anscheinend gar nicht fassen konnte, was geschah und bot ihm seine Hand an. „Hier sitzen bleiben wird es nicht besser machen“, sagte er in einem Anflug trockenen, verzweifelten Humors und sein Kapitän rollte mit den Augen. „Haha“, stöhnte er verzweifelt auf und Jean gestattete sich ein kleines Lächeln. Gemeinsam folgten sie nach draußen und da stand er, sein Wagen. Kupferroter Lack, passendes Leder, Flügeltüren, Sportausstattung. Jean schauderte es vor Stolz und spätestens, als er den elektronischen Schlüssel für sein Fahrzeug erhielt, war es um ihn geschehen. „Ist er zu Ihrer Zufriedenheit?“, fragte Dyani und Jean nickte ihr mit brennenden Wangen zu. Es war wundervoll, besser als er es sich vorgestellt hatte. Es war großartig und wunderschön. Er war wundervoll. Jean verliebte sich mit jeder Sekunde mehr in sein Auto, das nur ihm gehörte. Das er fahren würde. Als Jeremy und er einstiegen und das erste Mal der Motor unter seinen Händen zum Leben erwachte, wusste Jean, dass das hier sein Wagen war. Etwas, das perfekt zu ihm passte. Dyani entließ sie und er fuhr vorsichtig vom Hof, seinen schweigenden und staunenden Kapitän neben sich, der gar nicht genug von den Eindrücken bekommen konnte, die auf ihn einströmten. „Das ist deiner“, sagte er so verwundert, als wäre er nicht dabei gewesen, als Jean den Kaufvertrag unterschrieben hatte. „Ja“, erwiderte Jean ebenso verwundert, als hätte er ihn nicht schon vor Monaten unterschrieben. „Und nun, Jeremy Knox, Kapitän der USC Trojans, entführe ich dich zu einem Überraschungstag“, lächelte er dunkel und das Entführungsopfer war ganz und gar überhaupt nicht erschrocken über seine heimlich und heimtückisch geplante Tat. ~~**~~ Mit offenem Verdeck zu fahren, war…unbeschreiblich. An der Küste entlang zu fahren, den Fahrtwind in den Haaren, das Geräusch des Sportwagens unter sich, vor sich, hinter sich, war…eines der schönsten Erlebnisse, die Jean jemals gehabt hatte. Er hatte eine Gänsehaut und diese kam nicht nur davon, dass sich sein neues Auto, sein Sportwagen anfühlte, als würde er in seinem eigenen, persönlichen Flugzeug sitzen. Er genoss diese Freiheit, die er früher niemals nicht für möglich gehalten hatte. In einem Auto sitzen und selbst fahren? Unmöglich. Mit einem anderen Jungen, seinem Freund, hier sitzen? Ebenfalls vollkommen unmöglich. Er hatte gedacht, dass er in Evermore sterben würde und beinahe wäre das auch der Fall gewesen. Beinahe. Und nun hatte ihn die Sonne Südkaliforniens so vollkommen durchdrungen, dass Jean beinahe überquoll vor Glück und Leichtigkeit. Es war etwas nie Dagewesenes, etwas, das er so in seinem Leben noch nie gespürt hatte. Schuld, nicht zuletzt, war auch der blonde Junge, der glücklich grinsend neben ihm saß und dessen halblange Haare wild im Wind wehten. Auch das war etwas Neues für Jean. Seine tiefen, wunderbaren Gefühle für den Kapitän der USC Trojans, die ihn nicht unglücklich, sondern zufrieden und aufgeregt machten. Und heute auch nervös, hoffte er doch, das alles so klappte, wie geplant. „Wohin entführst du mich?“, fragte Jeremy zum bestimmt zehnten Mal und Jean rollte mit den Augen. Als wenn die Antwort jetzt eine andere wäre. „Wir cruisen“, erwiderte er. Das Wort hatte er von Alvarez gelernt. Cruisen – ohne Ziel in der Gegend herum zu fahren und Landschaft zu gucken. Das Fahren genießen. Je nach Wagen mochte Jean das lieber oder eben auch nicht, jetzt gerade? War es wunderbar. „Wohin?“ „Zum Ziel.“ „Wo ist das?“ „In Amerika.“ Ein schmollender Laut drang an Jeans Ohren und er konnte sich ein verliebtes Lächeln nicht verkneifen. ~~**~~ „Hast du die Augen zu?“ „Jaa.“ Kritisch musterte Jean seinen Kapitän, der ungeduldig hin und her wippend neben ihm stand und bei dem Jean den Verdacht hatte, dass er immer dann, wenn er nicht hinsah, linste. Zuzutrauen wäre es Jeremy und es wäre auch nicht so, als hätte Jean das nicht schon erlebt. Von Jeremy bei anderen. Immer mal wieder. „Wirklich?“, fragte er streng und der blonde Junge zog die Schultern hoch. Er maulte und blies schließlich wie ein Ballon überschüssige Luft aus. „Echt, versprochen!“ Jean ließ es durchgehen und seufzte. Er besah sich sein Arrangement und richtete noch die letzten beiden Schalen, bevor er zu Jeremy trat und seine Hand sacht in die schwielige des anderen Jungen schob. „Oh.“ Jeremy grinste, immer noch mit geschlossenen Augen und folgte blond Jeans Zug. „Einen Schritt nach vorne, jetzt noch einen“, lotste er seinen Kapitän und bedeutete ihm schließlich mit beiden Händen auf seinen Oberarmen, stehen zu bleiben. „Jetzt kannst du die Augen aufmachen“, gab er den Startschuss und kaum waren seine Worte verklungen, huschten Jeremys blaue Augen wild hin und her, die schmalen Lippen zu einem runden, staunenden O verzogen. Nun doch ein wenig nervös beobachtete Jean das Mienenspiel seines Kapitäns. War es gut, was er getan hatte? War es ausreichend? Freute Jeremy sich? War es zu kitschig? War es zu aufdringlich? Vielleicht wollte er ja gar nicht und Jean… „Ist das wunderschön“, komplimentierte eben jener Jeans von Kerzen umsäumte, große Picknickdecke, auf der kleine Schälchen mit gesundem und ungesundem Essen verteilt hatte. Alles, was in seinen Rucksack gepasst hatte, hatte er mitgenommen…einschließlich Kondomen. Die waren jedoch noch gut versteckt und Jean war viel zu nervös jetzt schon um auch nur einen Ton darüber zu sagen. „Wunderwunderschön“, wiederholte Jeremy und drehte sich zu ihm. Er grinste bis über beide Ohren und trat langsam an Jean heran. Sich auf die Zehenspitzen stellend hauchte er ihm einen Kuss auf die Wange und Jeans Lippen verzog ein nervöses Lächeln. „Gefällt es dir?“ „Mit Sicherheit.“ „Willst du dich auch setzen?“ „Ich dachte, du fragst nie!“ Aufgeregt ließ sich Jeremy auf der Decke nieder, den Blick in Richtung Ozean gewandt, der seine ruhigen Wellen in einem gleichmäßigen Rauschen an den Strand unweit von ihnen schickte. Hinten am Horizont ging die Sonne in roten, sachten Tönen unter und tauchte den warmen Tag in einen heraufziehenden Sommerabend. Jean folgte Jeremy wesentlich langsamer und setzte sich neben ihn. Aufgeregt fingerte er an dem Rand der Decke und sah vorsichtig zu Jeremy, dessen schönes Gesicht von der Abendsonne erhellt wurde. „Es ist toll, mit dir hier zu sitzen, Jean“, sagte Jeremy schließlich ruhiger, als Jean es anhand seiner Mimik geglaubt hätte. „Es ist toll, dass wir beide hier sind, zusammen, dass du…hier bist.“ Zu seinem Horror sah Jean, wie sich ein leichter Tränenfilm in Jeremys Augen bildete. Er wollte keine Trauer in seinem Kapitän hervorrufen, nicht jetzt, nicht hier. Er wollte, dass dies ein schöner Abend wurde. „Jeremy, es tut mir leid, ich…“, begann er hilflos, doch da war wieder dieser eine Finger, der sich auf seine Lippen legte. „Nicht entschuldigen, Jean. Bitte nicht. Du bist hier. Wir sind hier. Und das ist so schön, dass ich weinen muss. Nicht deine Schuld. Eigentlich ist es überhaupt keine Schuld, sondern so etwas Wunderbares, das es tief in mir drin zieht.“ Jean nickte beflissentlich und seine Lippen wurden wieder freigegeben. „Es war eine gute Entscheidung zu bleiben“, sagte er leise und sie beide wussten genau, was er meinte. Jeremy lehnte seinen Kopf an Jeans Schulter und wenn er die punktuelle Feuchtigkeit spürte, die von Jeremys Augen auf sein Shirt tropfte, dann schwieg er darüber und nahm seinen Kapitän liebevoll in den Arm. Seinen hungrigen Kapitän, wie es sich herausstellte, als dieser wie ein ausgehungertes Vogelküken hochsah und den Mund aufsperrte. Erst nach ein paar Sekunden begriff Jean, was er zu tun hatte und schnaubte. Er griff zu einer der gesunden Apfelspalten und steckte sie Jeremy zwischen die wartenden Lippen. „Das ist gesund!“, beschwerte sich dieser mit vollem Mund und Jean hob die Augenbraue. „Das ist schlecht, weil…?“ „Ich habe auch ungesundes Zeug gesehen!“ Soviel zu seinem Plan, Jeremy langsam an eine andere Ernährung heranzuführen… Jean hob bedeutungsschwanger einen der süßen Schokoladensticks hoch und Jeremy haschte mit den Lippen danach. Schneller als Jean gucken konnte, war er weg und das hungrige Vogelküken wollte mehr. Wer war Jean, das zu verweigern? ~~**~~ Es war dunkel, als sie im Schein der sacht flackernden Kerzen nebeneinander auf der Decke lagen und gemeinsam in die Sterne sahen. Schulter an Schulter, die Hände eng miteinander verschränkt. „Ich hätte nicht gedacht, das hier einmal erleben zu dürfen“, sagte Jean. „Mit dir. Am Strand. Unter freiem Himmel. Ich hätte nicht gedacht, dass es ein Team gibt, die so sind…wie ihr.“ „Wir.“ Mit gerümpfter Nase drehte Jean Jeremy den Kopf zu und küsste die verführerische Nasenspitze. „Na gut, wir.“ „Du Trojans-Backliner, du.“ „Du Kapitän, du.“ Jeremy lachte. „Ist das ein Lob oder eine Beleidigung?“ „Kommt auf die Tageszeit drauf an.“ „Ach?“ Jeremys Lippen haschten nach seinen und Jean ließ sich durch den Kuss ablenken, der so viel Verschiedenes in ihm regte. Die Aufregung, die sich über die letzten Stunden, die sie hier verbracht, gegessen und geredet hatten, gelegt hatte, kam nun wieder hoch. Schmerzhaft schnell nahm sein Herz Fahrt auf. Als sie sich soweit voneinander lösten, dass sie beide wieder Luft bekamen, bettete Jean seine Stirn an Jeremys und seufzte. „Ich würde dich gerne berühren“, flüsterte er und beinahe ging es in dem Rauschen der dunklen Wellen unter. Jeremy nickte schweigend und hob seine Hand. Sacht kraulten die Finger über Jeans Wange. „Jederzeit gerne, Jean.“ Jeremy würde ihn nicht ohne seine ausdrückliche Zustimmung berühren, das wusste Jean. Es machte die Sache nun aber nur schwieriger, da er ja wollte, dass sie sich beide berührten. Auf die romantische Art, wie es auch andere taten. Jean dachte an Layla und Alvarez. Sie fragten gar nicht, sie berührten sich einfach. Logan und Val auch. Also war es normal, das einfach zu tun. Aber es kam Jean komisch vor, Jeremy nun einfach so anzufassen. Das war auch nicht der Sinn der Sache. Er räusperte sich. „Ich würde dich gerne so berühren, wie man sich berührt, wenn man Sex hat“, drückte er ungelenk aus und verzog das Gesicht. „Und ich würde mich freuen, wenn du mich ebenfalls so berührst.“ Da hatte er es, seinen gestelzten Wunsch nach Intimität. Jeremy blinzelte und selbst im Dunkeln erkannte Jean, dass der andere Junge rot wurde. Wunderbar. Jean schluckte. Vielleicht wollte Jeremy gar nicht? „Oh.“ Ja, das war wohl ein Oh wert. Jeremy setzte sich auf und Jean sah ihn mit großen Augen an. „Möchtest du mit mir schlafen?“, fragte der blonde Junge sanft und Jean spürte heiße Röte und brachiale Nervösität in sich hochsteigen. Er nickte mit seiner Unterlippe zwischen den Zähnen. „Hier…?“, hakte Jeremy sanft nach und Jean schluckte. „Nur wenn du auch willst und Lust hast und…ich…also…“ Er verhaspelte sich und verbot sich das Reden. Das war ja unerträglich. Jean starrte auf seine verschränkten, krummen Hände, die nun durch Jeremys bedeckt wurden. „Ich will, Jean. Ja, ich will. Aber nur das, was du willst und wozu du bereit bist.“ Jeremy hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und Jean nahm das zum Anlass, ihm schamlos seine Lippen anzubieten. Er atmete zitternd ein, als Jeremy fragend ihren Kuss vertiefte. Ja, tausendmal ja, erwiderte Jean stumm und vergrub eine Hand in Jeremys blonden, offenen Haaren, die so zerzaust und weich von ihrer Fahrt und ihrem Abend am Strand waren. Jean spürte, wie Jeremy grinste und ihn mit sich auf die Decke zog, auf sich drauf. Wie so oft war sein Kapitän und Freund bedacht auf Jeans Bedürfnisse und Ängste und antizipierte das, was Jean gut tat. „Wie macht man das nun?“, fragte er, als sie sich kurz voneinander lösten, die Lippen feucht und geschwollen, ein wenig außer Atem. Jeremy lächelte sanft. „Wenn du die Klamotten ausziehen möchtest, dann wäre das ein guter Anfang. Wenn nicht, ist das auch okay. Wenn du mich berühren möchtest, dann kannst du das über oder unter meiner Kleidung tun, wie du es magst. Wenn ich dich berühren darf, dann musst du mir auch sagen, ob es über oder unter deiner Kleidung sein soll.“ Damit konnte Jean arbeiten und er zog sich langsam, vorsichtig sein Shirt aus. Jeremy hatte ihn schon so oft ohne gesehen, da war es im kerzenbeschienen Dunkeln mit Sicherheit keine Neuerung, was er hier tat. Und dennoch war es besonders. Das hier war besonders und Jeans Wangen wurden mehr als heiß, als Jeremy seinem Beispiel nun folgte. So lagen sie sich schlussendlich gegenüber, ihre Hände auf ihren Herzen. „Darf ich?“, fragte Jean und Jeremy nickte mit einem sachten Lächeln voller Liebe. „Immer.“ Einen Moment noch zögerte Jean, dann schickte er seine Finger auf eine scheue Reise, auf Wanderschaft, ließ sie über Jeremys Brustkorb gleiten, über seine harten Brustwarzen, über die wunderschönen Muskeln, die ihr Sport mit sich brachte. Über die weiche Haut. „Du bist wunderschön“, murmelte Jean und Jeremy kicherte. „Schau dir den an, der das sagt“, erwiderte er und leckte sich über die Lippen. „Darf ich…dich auch berühren?“ Jean nickte und spürte sorgfältig Jeremys Fingern nach, die so viel Schlimmes und Schönes in ihm anstellten. Sein Kapitän elektrisierte ihn, er brach ihn auf, er erdete ihn mit seiner Berührung. Es war das Schönste und gleichzeitig auch das Schlimmste, was Jean in der letzten Zeit gespürt hatte. Es verwirrte ihn und er liebte diese Verwirrung. Durch und durch. Jean beugte sich Jeremy entgegen und seufzte glücklich, als dessen Finger sich seinem Hosenbund näherten, dann jedoch innehielten. Fragend sah Jeremy hoch und Jean folgte mit seinen eigenen Fingern. „Ist das okay für dich?“ Jean glaubte, dass es das war und er schluckte. Das letzte Mal, als er sich nackt einem anderen Jungen gegenüber befunden hatte, war das nicht freiwillig gewesen. Er war dazu gezwungen worden und ihm waren Schmerzen zugefügt worden. Doch das hier war anders. Das hier tat er freiwillig. Aber wusste das sein Körper auch? Jean testete sich selbst, als er nun mit trockenem Mund dabei zusah, wie Jeremy sich seine Shorts und Boxer Briefs von den Hüften zog, langsam genug, dass Jean schauen konnte. Dass er sich sicher sein konnte, wie er darüber dachte, Jeremy nun erneut vollkommen nackt zu sehen. Halb erregt, ihm körperlich nah. Jean schluckte, mehrfach, und schob dann seine Hände unter den Bund seiner eigenen Hose. Langsam, Stück für Stück, zog er sie hinunter, entblößte sich freiwillig. Zeigte sich verletzlich, schutzlos, ohne Barriere zwischen sich und einem anderen Jungen, der ihn begehrte. Es war kein anderer Junge, hielt sich Jean vor Augen, sondern Jeremy. Der Mensch, für den er sich entschieden hatte. Freiwillig. Jeans Herz schlug bis zum Hals, er Jeremy in die Augen starrte und seinen Augen dann erlaubte, nach unten zu gleiten. Kurz nur, als hätte er nicht das Recht dazu. Als würde Jeremy über ihn herfallen, wenn er es täte. Er sah, dass Jeremy bereits angetan war von ihrer Intimität und Jean sog ruckartig die Luft ein. Wie wäre es, einander zu berühren? „Willst du mich anfassen?“, fragte Jeremy, als hätte er seine Gedanken gelesen und mit plötzlich trockenem Mund nickte Jean. Ja, er wollte. „Willst du das auch bei mir?“ „Wenn du es möchtest.“ Irgendwie schon. Aber… „Hörst du auf, wenn es nicht geht?“, fragte er nach, brauchte er die Versicherung und Jeremy nickte sanft. „Jederzeit. Du entscheidest, was du willst und was nicht, Jean.“ Er erwiderte nichts mit Worten, sondern ließ seine Hände sprechen, seine Finger, die sich Nähe suchend auf Jeremys Haut legten. Die von seinem Oberkörper über seine Hüften tasteten, von dort nach unten, scheu und fragend. Die weiche Textur Jeremys ähnelte Jeans sehr und er war überrascht, wie sich der Schwanz eines Anderen in seiner Hand anfühlte. Wie sich Jeremy in seiner Hand anfühlte. Es war erregend, schön und beängstigend zugleich, zu spüren, wie Jeremy hart wurde und wie sehr auch Jean von der Lust ergriffen wurde, die sich in seinem Unterleib, seinem Rückenmark, seinem ganzen Körper manifestierte. „Geht es dir gut, Jean?“, fragte der blonde Junge und Jean nickte mit trockenem Mund. „Ich staune“, erwiderte er ehrlich und lächelte. Glück stahl sich in seine hochgezogenen Lippen und ließ Tränen in seinen Augen hochsteigen. Ein feiner Film war es, der ihm einen Moment lang Jeremys Anblick erschwerte. „Du bist so schön. Du bist so unglaublich“, murmelte Jean und stahl sich einen kleinen Kuss. Jeremy lächelte, das spürte Jean und er schnaubte, als seinem Kapitän ein unwillkürliches Stöhnen entwich. „Darf ich dich auch berühren?“, wisperte er und Jean nickte mit wild klopfendem Herzen. Vorsichtig, scheu gar, streiften die schwieligen Finger des anderen Jungen zuerst über seine Hüftknochen, dann über seine Behaarung, bevor sie hauchzart und jederzeit bereit, sich zurück zu ziehen, sich um seinen Schaft legten und Jean so gewaltig zusammenzucken ließen, als hätte Jeremy ihn verbrannt. Mit großen Augen starrte dieser zu ihm hoch. „Es tut mir leid, Jean, ich…“, begann er und wollte seine Hand schon zurückziehen, als Jean sie eisern hielt. „Nein. Nein…warte. Es war nur ein Reflex. Mir gefällt deine Hand auf mir. Wirklich.“ Beinahe schon bittend war sein Ton und Jeremy schluckte. „Okay?“ Jean lächelte. „Sehr okay.“ „Okay. Sehr okay.“ „Jeremy Knox.“ „Ja, Jean Moreau?“ „Hör auf, Papageien nachzuahmen.“ „Mach ich nicht.“ Jean erstickte jeden Widerstand erneut mit einem Kuss und bewegte seine Hand probeweise, ganz zu Jeremys offensichtlicher Erregung. Motiviert erwiderte der blonde Junge die Aufmerksamkeit und gemeinsam berührten sie sich, fassten sich an, bedachten ihre Körper mit zärtlicher Aufmerksamkeit. Immer wieder zuckte in Jean die Angst hoch, die geboren worden war durch fünf Vergewaltigungen. Immer wieder wollte sie ihm weismachen, dass Jeremy vielleicht, eventuell nicht aufhören würde, wenn er nein sagte. Doch Jean war stärker als die Angst und konzentrierte sich auf alles Positive, alles Wunderschöne, alles Tolle an dem Jungen neben ihm, an dem Rauschen der Wellen unweit von ihnen, an dem sachten Kerzenschein in ihrer menschenleeren, einsamen Bucht. Er konzentrierte sich auf die Gegenwart und die Zukunft und darauf, dass er wieder er sein durfte, sein konnte, dass er ein Mensch war, kein Gegenstand. Ein Mensch, der Lust empfand, zum ersten Mal in seinem Leben mit einem anderen Menschen, einem Menschen, den er sich freiwillig ausgesucht hatte. Ein Mensch, der seinem Orgasmus näher und näher kam, immer unaufhaltsamer und drängender. Ein Mensch, der sich fallen ließ und Jeremy die Chance gab, sich ebenso fallen zu lassen, ganz tief in ihrer beider Verbundenheit hinein. ~~~~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)