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Force of Nature

von

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Der Stein im Magen

Es gesagt zu bekommen und selbst am eigenen Leib zu erfahren, waren, wie Jeremy nun bitter erkannte, zwei unterschiedliche Dinge.

Er hatte seinen persönlichen Schatten, der sich einen nackenhaarsträubenden Meter hinter ihm befand und es nicht einsah, neben ihm oder gar vor ihm zu gehen. Die Fragen, die Jeremy Jean direkt stellte, wurden beantwortet, alle weiteren Versuche, Smalltalk zu betreiben rigoros ignoriert. Bei ihrer Rundtour durch das Haus war das weniger ein Problem gewesen als nun, da sie beide zum nächstgelegenen, größeren Supermarkt gefahren waren und sie zusammen einkaufen mussten.
 

Jean ließ ihn nicht aus seiner Aufmerksamkeit und Jeremy machte das noch nervöser als vorher. Wenn sich sein Schatten wenigstens darüber auslassen würde, was er gerne zu essen und zu trinken hätte, könnte er ja noch damit leben. Aber dass er auf eine Mauer des Schweigens traf, die noch schwerer zu durchbrechen war als jede Verteidigungslinie, die die Ravens jemals aufgebaut hatten in ihren Spielen gegen seine Mannschaft, das war frustrierend.
 

Jeremy seufzte. Nicht zum ersten Mal, seit sie den Laden betreten hatten.
 

Sie standen in der Abteilung für Obst und Gemüse und da war nur stumme Verneinung auf dem durch die Kapuze halb verborgenen Gesicht zu sehen.

„Also“, machte er eher sich selbst Mut als es wirklich dazu diente, Jeans Aufmerksamkeit zu bekommen. „Hast du einen Wunsch für das heutige Abendessen?“

Die ablehnende Körpersprache des Anderen und das stumme Kopfschütteln sollten ihn vermutlich davon abhalten, weitere Fragen zu stellen, doch da hatte der Wirt, in diesem Fall Jean, die Rechnung nun wirklich ohne Jeremy gemacht.
 

„Gibt es etwas, das du gar nicht magst?“

„Nein.“

Jeremy grinste. „Möchtest du dich dann überraschen lassen, was ich für uns zaubere?“

Da war sie wieder, die Unsicherheit, die er auch auf dem Flughafen gesehen hatte und er fragte sich, ob es an seiner spielerischen Tonlage oder an seiner Frage selbst lag.

„Du kochst selbst?“, überraschte Jean anscheinend sich selbst gleich mit und Jeremy kam in den Genuss des Anblicks der ihn messenden, grauen Augen, die so gar nicht wussten, wie sie mit dieser Information umzugehen hatten. Er wunderte sich dennoch über die Frage, hatte er Jean doch noch vor ein paar Stunden nichts Anderes erzählt, als dass sie selbst kochen mussten.

„Bleibt mir ja nichts Anderes übrig, es sei denn, ich würde Tiefkühlpizzen in den Ofen schieben. Wie gesagt, an den Wochenenden ist die Kantine zu. Kannst du kochen?“, fragte er aus einer plötzlichen Eingebung heraus.

„Nein“, presste Jean heraus und der Groschen fiel. Langsam und viel zu spät, aber er fiel.
 

Der Speiseplan. Die Kontrolle in Evermore. Die mehr als zurückhaltenden Antworten.
 

„Hast du schonmal vor einem Herd gestanden?“

Jean runzelte die Stirn. „Im Haus der Krankenschwester.“

„Und so richtig gekocht oder beim Kochen geholfen?“

„Weder noch.“

Ein überraschter Laut verließ Jeremy. „Aber du weißt, was dir schmeckt?“

Da war sie wieder, die neutrale Ausdruckslosigkeit. „Ich habe keine Präferenzen.“

„Ach komm, jeder Mensch hat Präferenzen. Süß, sauer, salzig, scharf, fettig?“

„Nein.“

„Dein Lieblingseis?“

„Nein.“

„Kuchen?“

„Nein.“

„Pizzasorte?“
 

Schweigen.
 

Jeremy grollte und sank leidend in sich zusammen, die Hände in Richtung des Backliners ausgestreckt, der ihm allen Ernstes weismachen wollte, dass er nichts für die wirklich guten Seiten des Lebens übrig und schon gar keine Präferenzen hatte.

Ernsthaft?“, betonte er latent weinerlich die letzte Silbe und sah zu Jean hoch, der, groß und breitschultrig, wie er nun einmal war, ihn um beinahe einen Kopf überragte. „Mach mich nicht fertig, das kann nicht sein!“ Jeremy befand, dass es an der Zeit war, seine Geheimwaffe einzusetzen und schulte seinen Gesichtsausdruck auf große Augen und einen traurig verzogenen Mund. „Los, sag schon, was gefällt dir?“

„Ruhe“, entkam es Jean genervt und ungefiltert und Jeremy begriff, hier nun die zweite, ehrliche und höchst spontane Emotion vor sich zu haben. Innerlich grinste er über die Antwort und beglückwünschte sich, den anderen Jungen aus seiner Reserve gelockt zu haben, zumal die Antwort durchaus etwas von bissigem Humor hatte.
 

Und er schätzte Humor. Sehr. Jeremy straffte sich und hob die Augenbraue.

„Hrmpf. Okay. Pass auf, ich schlage dir einen Deal vor. Ich höre auf, dich zu nerven, koche uns etwas Leckeres und dafür suchst du dir ein Kissen, eine Decke, Bettbezüge, Laken und Toilettenartikel aus. Wie wäre es?“
 

Dass Jean nicht überzeugt von der Logik des Deals war, konnte er deutlich sehen. Dass der Junge abwog, ob sich die Vorteile mit den Nachteilen die Waagschale hielten, ebenso.

„Ich habe kein Geld. Ich kann es auch in nächster Zukunft nicht zurückerstatten“, erwiderte er schließlich so leise, dass Jeremy Mühe hatte, die genuschelten Worte zu verstehen. Als er es tat, brach ihm das Mitleid, was ihn brachial und ungebremst überkam, beinahe das Herz.

„Oh Gott, Jean. Du musst doch nichts von dem hier bezahlen. Der Coach schenkt dir die Grundausstattung, schließlich gehörst du jetzt zum Team. Sobald dein Stipendienkram durch ist, wirst du deine eigenen Sachen bezahlen, aber solange, wie die Verwaltung noch mit Schneckentempo arbeitet, sind alle deine Ausgaben seine Ausgaben. Mach dir da keinen Kopf drum! Es ist für alles gesorgt, wirklich.“
 

Jean schien seine Worte durch jede Analyse zu jagen, zu der sein Hirn fähig war. Kritisch runzelte sich die Stirn unter der Kapuze und Jeremy wartete geduldig, bis sein Gegenüber zu einem Ergebnis kam. „Will er etwas als Gegenleistung dafür?“, fragte Jean schließlich.

Der seltsame Unterton in der Frage hielt ihn davon ab, dem mit bissigem Humor zu begegnen, wie er es bei Alvarez oder Laila getan hätte. Etwas an der Frage kam ihm mehr als komisch vor und so zuckte er mehr hilflos als alles andere mit den Schultern.

„Nein? Er sorgt sich um seine Spieler, das ist alles. Und er weiß, dass es sicherlich nicht einfach für dich ist, abrupt mitten im Studium die Uni zu wechseln. Deswegen möchte er es dir etwas einfacher machen. Mach dir deinen Kopf darum.“

So bemüht, wie er war, mit seinen Worten Ruhe und Gelassenheit zu schaffen, so wenig konnte Jean augenscheinlich mit ihnen anfangen. Zumindest deutete Jeremy den leicht schief gelegten Kopf als stumme Frage.
 

„Willst du etwas als Gegenleistung dafür?“

Jeremy seufzte. „Nein, Jean. Wobei… doch. Ja, doch, ich möchte eine. Ich möchte, dass du dir das bequemste Kissen und die kuscheligste Decke und Bettwäsche aussuchst, die du finden kannst. Und ich möchte, dass du mir sagst, wenn dir etwas, was ich gekocht habe, nicht schmeckt und warum es dir nicht schmeckt. Das ist die Gegenleistung, die ich gerne hätte.“
 

Jean sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren und zum großen Teil ähnelte dieser Blick dem, als sein neues Teammitglied auf das Puzzle von Day gestarrt hatte. Vollkommen unverständige, kaum verhohlene Fassungslosigkeit. Er grinste und streckte seine Hand aus. Vorsichtig und langsam dieses Mal, er hatte ja schließlich gelernt.

„Deal?“

Es dauerte etwas, bis die visuelle Sezierung seiner Geste und die anschließende Analyse seiner Motive zu einem Ergebnis gekommen waren und Jean seine rechte Hand hob, die er mit sturmgeweihter, gerunzelter Stirn in seine gleiten ließ, immer dazu bereit, sie sofort zurück zu ziehen. Hauchzart drückte Jeremy die ihm dargebotenen, immer noch bandagierten Finger und lächelte sein bestes, versichernstes Lächeln.
 

Nur langsam löste er seine Hand und nickte zurück zum Supermarkt. „Zu den Kissen und Decken?“ Jean drehte sich zu dem Fingerzeig und wenn Jeremy sich nicht sehr getäuscht hatte, dann hatte der Andere tatsächlich mit den Augen gerollt.
 

~~**~~
 

Die Sonne, die ihre ersten, zaghaften Strahlen durch das kleine Badezimmerfenster warf, leuchtete in einem so warmen Rot, wie es Jean noch nie gesehen hatte. Für einen Moment lang genoss er den surrealen Frieden dieses Augenblickes und erlaubte sich, sich vorzustellen, wie es wohl gewesen wäre, wenn er solche Sonnenaufgänge täglich hätte genießen können. Wäre er dann ein anderer Mensch als der, der er jetzt war, geworden? Wie wäre er wohl geworden, wenn nicht jedes gute Gefühl aus ihm herausgeprügelt, gefoltert und vergewaltigt worden wäre? Hätte er Freunde gehabt, einen Menschen, den er liebte? Würde er dann in Marseille leben, zur Universität gehen, überhaupt Exy spielen?
 

Jean wusste es nicht und das Hoffnung verheißende, frische Morgenlicht wich einer tiefen Hoffnungslosigkeit, die ihm deutlich machte, dass er nichts davon je haben würde. Daran änderte auch die augenscheinliche Freundlichkeit seines neuen Kapitäns nicht, der ihm Essen gekocht hatte. Der ihm Dinge geschenkt hatte, die Jean niemals hatte annehmen wollen. Er hatte sich nicht weigern können, ohne unfreundlich zu werden. Das wiederum konnte er sich nicht leisten, nicht Knox gegenüber. Also hatte er stumm daneben gestanden, während Knox Sache um Sache in den Wagen geladen hatte, die ihm seinen Aufenthalt hier angenehmer machen sollte.
 

Als wenn.
 

Während er die Sachen ausgepackt und eingeräumt hatte, hatte Knox für sie beide gekocht und ihm schlussendlich etwas vorgesetzt hatte, das an Kalorien nicht zu überbieten gewesen war. Jeans Magen hatte sich in erschrockener Erwartung dessen noch vor dem ersten Bissen zusammengekrampft, aber irgendwie hatte er den Teller, der ihm vorgesetzt worden war, Gabel um Gabel aufgegessen. Auch wenn er sich nicht mehr ganz daran erinnern konnte, wie er den Berg an Nudeln, Käse, paniertem Fleisch, Mozzarella und Parmesan hatte bewältigen können, den Knox ihm vorgesetzt hatte.

Das lief allem zuwider, was er jemals in Evermore zu sich genommen hatte und Jean schluckte auch jetzt noch beim Gedanken daran, wie es immer mehr und mehr im Mund geworden war.
 

Nicht nur deswegen lag er die Nacht über wach. Die stillen, schwarzen Stunden der Nacht verbrachte er damit, mit dem Rücken am Kopf des Bettes lehnend unter seiner Decke zu sitzen und abwechselnd Knox und den nächtlichen Himmel zu beobachten. Anscheinend konnte der gesprächige Kapitän der Trojans auch im Schlaf nicht stillhalten, so sehr, wie er sich alle paar Minuten umdrehte, sein Kissen knautschte, dabei unverständliches Zeug murmelte, dann seufzte und wieder wie tot schlief.
 

Nachdem er Jean damit beim ersten Mal einen Mordsschrecken eingejagt hatte, gewöhnte er sich beim vierten Mal an das Prozedere und ließ sich von dem immer wiederkehrenden Rhythmus einlullen. Davon und von den Sternen, die unbeirrt und langsam ihre Bahn und ihn in ihren Bann zogen.
 

Jetzt hatte Knox sich also noch nicht über ihn hergemacht. Das änderte aber nichts an den Kondomen, die Jean am Nachmittag gesehen hatte, als er seine Sachen ins Badezimmer geräumt hatte. Direkt oben auf dessen Anrichte im Badezimmer lagen sie, omnipräsent und eindeutig. Jean kannte das. Riko hatte die Spieler, die er in sein Bett geschickt hatte, ebenfalls damit ausgestattet. Immer, wenn es soweit war, hatten sie in dem Badezimmer in Evermore gelegen, das er auch genutzt hatte. Sie sollten ihn nicht unbrauchbar machen mit eventuellen Krankheiten. Wofür sollten sie also sonst sein?
 

Als sich der Raum von angenehmen Schwarz in ein sachtes Grau färbte, stand Jean auf und begab sich ins Bad, um wenigstens eine Tür zwischen sich und Knox zu haben, die er abschließen konnte. Nicht, dass er sie nicht sofort öffnen würde, wenn der Andere es ihm befehlen würde, doch es war gut zu wissen, dass er noch die Möglichkeit dazu hatte, sie geschlossen zu halten.
 

Jean ließ seinen Blick über die gekauften Toilettenartikel schweifen, die nun anscheinend allesamt ihm gehörten, weil er sie sich ausgesucht hatte. Weniger danach, ob ihm der Geruch passte, sondern eher danach, dass nichts, aber auch gar nichts Schwarzes an ihnen zu finden war. Jetzt, da Riko tot war, wollte er nicht mehr an die Gepflogenheiten von Evermore gebunden sein. Für die letzten Wochen wollte er die Farben um sich haben, die er gerne hatte – wenn es ihm denn erlaubt war. Anscheinend schon, denn das Duschgel hatte ein tiefes Blau, das dem seines Pullovers ähnelte. Knox hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt und ihm nur eines seiner breiten Lächeln geschenkt, als er seine Wahl in den Wagen gelegt hatte. Das Shampoo war hellblau, die Zahnpasta weiß und türkis, selbst die Sonnencreme hatte grün und blau zu gleichen Anteilen auf ihrer Verpackung.
 

Sonnencreme.
 

Er hatte einen Moment lang gebraucht um zu verstehen, was auf der Tube stand, die Knox ihm mit einem gewichtigen Nicken in die Hand gedrückt hatte. In seinen ganzen Jahren in Evermore hatte er das nicht gebraucht. Nun schien es das Wichtigste zu sein und ohne diese Tube wäre er hier in Südkalifornien anscheinend aufgeschmissen. Glaubte er dem Jungen, dessen Augen zu verdächtig über seine Kapuze, den Pullover und das, wie Jean selbst wusste, blasse Gesicht gehuscht waren.
 

Sonnencreme bedeutete, dass Knox ihn nicht im Keller einsperren würde, der für alle zugänglich unter diesem Haus lag und anscheinend ein Sammelsurium aus Waschkeller, Hobbykeller, Fahrradkeller, Ablagekeller und Partykeller war. Sonnencreme bedeutete, dass sich seine Welt nicht auf dieses bunte, chaotische Apartment und das Exystadion beschränken würde, sondern anscheinend auch auf die brennende Mittagshitze draußen und überfüllte Supermärkte, deren fragwürdige Musik ihm auch jetzt noch in den Ohren brannte.
 

Trotz Renees Warnung vor dem Neuen, was ihn erwarten würde, hatte Jean nicht einmal im Ansatz begriffen, was es wirklich bedeuten würde. Nun, nach nur einem Tag, lag der Geschmack der Veränderung schal und bitter auf seiner Zunge und ließ ihn sich einsamer fühlen als jemals zuvor. Gewalt und Erniedrigung waren Dinge, die ihn über die letzten Jahre hinweg begleitet hatten, doch sie waren ihm vertraut gewesen und eine kleine Stimme in ihm wünschte sich beides und die kalte, gewalttätige Sicherheit von Evermore zurück, in der er sich zurechtgefunden hatte und in deren Nachwehen er immer ein Zuhause in sich selbst gefunden hatte.
 

Hier stand er vor einem Nichts, einem Berg an Eindrücken von Menschen und Orten, die er noch nie gesehen hatte und deren Leben an ihm vorbeizogen, ohne dass sie ihn auch nur ansahen oder ihn bemerkten, wie er außerhalb stand und ihnen zusah. Irgendwann einmal, vor Jahren, hatte er den Wunsch gehabt, mit ihnen ein Leben zu leben, Teil von etwas zu sein und nun? Sah er von außen zu und begriff jedes Mal aufs Neue wieder, dass er überhaupt keine Rolle spielte. Er war unsichtbar, unnütz und ungewollt. Im schlimmsten Fall eine Last, die es abzufrühstücken galt.
 

Das an sich war nichts Neues für ihn. Sein Herr und Riko hatten ihm das immer und immer wieder eingebläut, solange, bis er es verstanden und verinnerlicht hatte. Doch seine Nichtexistenz in Evermore war etwas Anderes als seine Nichtexistenz hier. In Evermore hatte er die Welt nicht vor Augen gehabt, wie sie für andere war. Hier hatte ein kurzer Besuch im Supermarkt gereicht um ihm zu verdeutlichen, was ein wirkliches Leben ausmachte, das ihm nicht erlaubt war.

Jean schob den Gedanken beiseite. Zwei Monate noch, dann wäre es vorbei. Dann würde die Welt sich weiterdrehen, ohne ihn und alles wäre gut. Bis dahin…
 

Langsam zog er sein Handy hervor und starrte auf die letzte Nachricht von Renee, die er noch nicht beantwortet hatte. ~Schlaf gut~, hieß es dort, gespickt mit Smileys, deren Bedeutung Jean Stück für Stück von Renee gelernt hatte.

Leise öffnete er das Fenster des Badezimmers und hielt die Kamera in Richtung Sonnenaufgang, machte ein Foto, das der realen Vorlage nicht im Geringsten gerecht wurde. Für ein ~Guten Morgen.~ reichte es aber alle Male.

Die Antwort kam so schnell, als hätte Renee nur darauf gewartet, dass er ihr schrieb.

~Wie geht es dir?~

Jean brauchte etwas länger. ~Ich habe das Gefühl, dass mir ein Stein im Magen liegt~, schilderte er das, was zwar nur ein Teil der Wahrheit war, aber ihrem Wunsch nach seinem persönlichen Empfinden entsprechen würde.

~Wovon?~

~Knox‘ Essen.~

~Was gab es?~

~Gift.~
 

Die Smileys, die sie ihm schickte, kannte er bereits zur Genüge. Anscheinend war das, was er manchmal schrieb, amüsant und unterhaltsam, auch wenn er es wirklich ernst meinte. Dieses Essen war Gift für seinen Körper und seine Sportlerdiät gewesen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass er die letzten Monate nicht trainiert hatte. Auf lange Sicht gesehen würde es dadurch Probleme mit dem Vertrag geben, den Josten mit dem Hauptzweig der Moriyamas ausgehandelt hatte. Wenn er aus einer Mannschaft flog, weil er nicht mehr in der Lage war, seine Position gut zu bekleiden, dann würden sie sich seiner entledigen, dessen war er sich sicher. Ein mahnendes Beispiel für alle, die aus der Reihe tanzen würden.
 

~Du bist früh wach.~

~Ich habe nicht geschlafen. Warum bist du schon wach?~

~Ich gehe gleich joggen. Schöner Sonnenaufgang im Übrigen. Ich bin ein bisschen neidisch.~

Neidisch? Auf ihn? Jean runzelte die Stirn. Renee hatte sicherlich viel schönere Sonnenaufgänge als er erlebt.

~Ich würde auch gerne wieder laufen gehen.~

~Wie geht es deinen Verletzungen?~

Jean rollte mit den Augen. Natürlich fragte sie das. Sie und die Krankenschwester hatten ihn dazu verdammt, seine Verletzungen auszukurieren, bis sie komplett verheilt waren. Jeder Einspruch seinerseits, der den beiden erklärt hatte, dass er auch mit Verletzungen in der Lage war, sich zu bewegen und seine Konstitution aufrecht zu erhalten, war abgeschmettert worden.
 

~Sie verheilen~, schickte er ihr mit einem genervten Smiley, auf den er erst einmal ein Lachen zurückbekam.

~Klappt es mit den Pflastern?~

~Ja.~ Auch wenn Jean über ungelegte Eier sprach, war das keine Lüge. Es hatte zu klappen, auch bei Rückenpflastern. Irgendwie würde er sie wechseln können müssen ohne dass Knox davon Wind bekam.
 

~Dann nichts wie raus mit dir. Wirf Jeremy aus dem Bett und erkunde mit ihm die Gegend.~

Sie neckte ihn, das wusste er. Niemals im Leben würde er eine derartige Unverschämtheit wagen. Oder auch nur daran denken, dass er alleine das Apartment verlassen würde. Seit seine Eltern ihn in dieser Hölle gelassen hatten, war er nie alleine gewesen. Immer zu zweit, immer in Paaren. Das, was er am Meisten hasste, konnte er am Wenigsten außer Acht lassen, das hatte ihm die Zeit bei den Foxes deutlich gezeigt.
 

Alleine sein war seinem Hirn ein Graus, wie ein pawlowscher Reflex hatte er das Unwohlsein in sich aufgezogen. So war er gleichzeitig dankbar für und angewidert von der Gegenwart des Trojans im anderen Raum, zu gleichen Teilen wie er auch angewidert von sich selbst war, dass er diese Hilfe benötigte.

Renee wusste darum, hatte er ihr doch nach seinem zweiten Fluchtversuch in einem Anflug von selbstzerstörerischer Ehrlichkeit alles erzählt, was geschehen war. Ob er sie damit hatte verschrecken wollen? Sicherlich. Ihr Vertrauen und ihre Hoffnung in ihn zerstören, damit sie ihn aus lauter Hass und Wut gehen ließ, weil sie sich vor ihm ekelte.

Das Gegenteil war der Fall gewesen und Jean hatte die nächsten Stunden wie ein kleiner Junge weinend in ihren Armen verbracht, zusammengerollt so gut es ging, das eine Mal schutzlos vor möglichen Angriffen, die nicht kamen.
 

Die im Haus der Krankenschwester nie gekommen waren. Selbst durch Josten oder Minyard nicht, so sehr er es auch verdient gehabt hätte.
 

~Das frühe Aufstehen tut dir nicht gut, deine Vorschläge sind unrealistisch~, schrieb er zurück und wurde mit einem Kusssmiley belohnt, der ihn schnauben ließ.

~Soll ich ihn anrufen?~, fragte das Monster vor dem anderen Gerät diabolisch grinsend und Jean beeilte sich mit einer Antwort, panisch darauf lauschend, ob das Handy des Kapitäns tatsächlich klingelte und Renee ihre Drohung wahrmachte.

~Nein! Bitte nicht!~

~Aber nur, weil du es bist~, kam beinahe augenblicklich die Erlösung und Jean schnaubte. Mit einem erleichterten Aufseufzen lehnte er sich an die kühle Wand. Auch jetzt schon war die Raumtemperatur eigentlich zu warm, als dass er seinen Pullover anbehalten sollte. Das würde im Laufe des Tages nicht besser werden, sicherlich nicht und er hatte nur ein langärmliges Shirt dabei, das die Verbände und Pflaster verdecken würde. Wenn er sich beeilte, würde er sich umziehen und duschen können, bevor Knox wach wurde.

~Geh joggen~, beendete er mit einem naserümpfenden Smiley ihr Gespräch und erhielt dafür einen Mittelfinger und ein Herz…und natürlich ihr Victoryzeichen.
 

Jean rollte mit den Augen und drehte leise den Schlüssel im Schloss um. Ebenso vorsichtig öffnete er die Tür und spähte in das ruhige Schlafzimmer. Knox hatte sich ihm wieder zugedreht und schlief nun mit aus dem Bett hängenden Arm, dessen Finger unbewusst zuckten. In jahrelanger Übung schlich Jean an ihm vorbei zu seinem Schrank und öffnete die Tür. Seine wenigen Sachen hatte er sorgsam gefaltet und übereinandergestapelt, sodass er sie ohne Probleme und schnell aus dem Schrank nehmen konnte, wenn er sie brauchte. So wie jetzt. Ein Griff zum Shirt, ein Griff zur Unterwäsche und einer zur Hose, dann den Schrank wieder zu, umdrehen und sich mit einem wachen Knox konfrontiert sehen.
 

Er zuckte so gewaltig zusammen, dass er beinahe eben jene Beute wieder fallengelassen hätte.
 

Dass er den anderen Jungen nicht gehört hatte, lag schlicht und ergreifend daran, dass dieser sich kein Stück bewegt hatte, seine Augen aber offen waren. Hellwach, geradezu, als er sich nun aufsetzte und weniger lautlos gähnte.

„Ist es schon so spät…? Aber draußen ist es doch noch halb dunkel…?“, murmelte die schlaftrunkene Stimme seines Kapitäns, der sich die Augen rieb und aus dem Fenster stierte, bevor er Jean wieder in den Fokus seiner Aufmerksamkeit rückte. Jean selbst fand sich nicht in der Lage dazu, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen, insbesondere auch, weil seine Gedanken ihm nun hilfreich, wie sie waren, zuflüsterten, dass er weder die Kapuze noch die dünne Beanie trug, die ebenfalls ein Geschenk Renees war, und man seine Haare in ihrer vollen Pracht sehen konnte.
 

Der vollen, ausgerissenen, zerstörten Pracht.
 

Knox‘ Blick sagte ihm nichts Anderes in diesem Moment, als er wach genug wurde zu begreifen, dass das, was sein Hirn ihm mitteilte, tatsächlich auch so war.
 

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Fortsetzung folgt.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Lyndis
2020-01-21T20:55:27+00:00 21.01.2020 21:55
Mir ist das beim Lesen der Bücher nie aufgefallen, aber jetzt wo ich so darüber nachdenke... ich dachte immer, dass Andrew Kevin nicht von der Seite gewichen ist, weil er ihn beschützen wollte... war wahrscheinlich auch so, aber... was wenn ein großer Teil davon auch deshalb war, weil Kevin das gerade am Anfang brauchte? Ist Kevin in dem Buch je lange alleine? Überhaupt allein? Ich glaub nicht.... aber ist ja auch logisch, oder? Seltsam, dass einem so simple zusammenhänge manchmal nicht auffallen.

Bin jetzt aber erst einmal gespannt, was Jeremy zu den Verletzungen sagt^^
Antwort von:  Cocos
21.01.2020 22:11
Kevin ist in den Büchern meine ich selten bis gar nicht alleine und du könntest durchaus Recht haben. Ich habe auch nie darüber nachgedacht, aber unter Andrews stoischer Schicht gibt es ja schon jemanden, der sich sorgt und der pragmatisch ist. Ich glaube, ganz sicher wird er Kevin aus dem Grund nicht alleine gelassen haben... o__O. Wohoo.

Was Jeremy angeht... nun, er muss sich erstmal finden. :D


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