Cursed von Lycc ================================================================================ Kapitel 25: Relakesch IV – Zwei Welten -------------------------------------- Schließlich war es soweit. Die Diebe konnten am Morgen beobachten, wie Lord Griefs und zwei seiner Leibwächter in seine Kutsche stiegen um die Stadt zu verlassen und wie von Nathaniël vorhergesagt, kamen sie auch am Abend nicht wieder. Geduldig warteten sie bis die Wache seine Runde von neuem begann, dann schlichen sie los. Reel kannte den Grundriss des Anwesens mittlerweile im Schlaf und führte die Zwillinge zielsicher zur Rückseite des Gebäudes. Wie jeden Abend lüftete die Magd die Küche und eröffnete den Dieben so einen Zugang. Die drei drückten sich eng an die Hauswand, bis wie verabredet das Glöckchen zu schellen begann. Nathaniël hielt sich perfekt an ihren Zeitplan. Nur wenige Sekunden später verließ die Magd die Küche, um zu erfahren was Lady Griefs für einen Wunsch hatte, und die Diebe nutzen ihre Chance. Reel stieg als erstes durch das Fenster – die Zwillinge folgten ihm sofort. Es war dunkel in der Küche. Die Magd hatte die Kerze, welche die einzige Lichtquelle dargestellt hatte, mit sich genommen und nun erleuchtete lediglich der Mond den Weg der Diebe notdürftig. Aber Reel hätte sich auch in völliger Dunkelheit hier zurecht gefunden und so führte er die Zwillinge problemlos zur Tür. Mit ruhigem Atem lauschte er an dieser und wartete bis die schweren Schritte des Wachen, welcher im Flur patrouillierte, die Küchentür passierten und dann hinter sich ließen. Mit einem leisen Knarren öffnete Reel die Tür und schlich lautlos den Flur hinunter in Richtung der Dienst-Treppen. Wie die meisten Anwesen verfügte auch das von Lord Greifs über mehrere Treppenaufgänge. Einen großen, pompösen für Besucher und mehrere kleine unauffällige für Bewohner und Bedienstete – und genau einen von diesen steuerte Reel nun an. Die Magd, welche Nathaniël zu sich gerufen hatte, würde den Aufgang wählen, welcher der Küche am nächsten war, also wählte Reel einen anderen aus. Geschickt umging er die Wachen und die wenigen Bediensteten, die am späten Abend noch durch die Gänge huschten und so erreichten sie ihre Zieletage ohne unangenehme Zwischenfälle. Dort angekommen bemerkte er schnell die Wache, welche speziell nur für die Bewachung von Lord Griefs Arbeitszimmer und Schlafgemach eingeteilt war. An ihm würden sie nicht ohne Weiteres vorbeikommen. Raven und Corvo warfen ihm einen fragenden Blick zu und auch Reel wurde langsam ungeduldig. Dann kam endlich das ersehnte Signal. Die Magd, welche Nathaniël zu sich gerufen hatte, stürmte panisch auf die Wache zu und berichtete von einen Eindringling, den sie und Lady Griefs angeblich so eben vom Fenster aus beobachten hatten. Sofort nahm dieser die Warnung ernst und folgte der aufgeregten Magd die Gang hinunter zur nächstgelegenen Treppe. Nun war Raven dran – routiniert holte sie ihre Werkzeuge hervor und machte sich am Türschloss zu schaffen. Einige atemlose Sekunden später schnappte es bereits auf und die drei Diebe betraten das dahinterliegende Zimmer. Gewissenhaft schloss Reel die Tür hinter ihnen. Nun begann der kritische Teil, denn Reel hatte keine Ahnung wo das Versteck sein könnte und auch Nathaniël hatte ihm dabei nicht weiterhelfen können, also hieß es nun: suchen. Sie teilten sich auf, tasteten die Wände und Möbel ab, schauten hinter jedes Gemälde und untersuchten jede verdächtige Bodenplatte – ohne Erfolg. „Bist du sicher, dass es hier ist?“ Raven wirkte unruhig und auch Reel wurde zunehmend nervös. „Ja. Es muss einfach hier sein.“ Verzweifelt suchten seine Augen den Raum ab und blieben an einem Bücherregal hängen. Irritiert trat er näher an dieses heran und begutachtete es genauer. Die Buchrücken waren allesamt fein-säuberlich beschriftet worden – nicht wenige in Latein, wie Reel nun bemerkte – aber eines stach dennoch heraus. 'Mercucio' prangte auf dem Rücken – das war der Name einer Geschichte die Nathaniël sehr mochte und mit der er Reel das Lesen beigebracht hatte. Lord Griefs war kein Freund von fiktiver Literatur, dass hatte Nathaniël ihm zweifelsfrei versichert. Er interessierte sich ausschließlich für 'Fachliteratur', was genau für ein 'Fach' das war, wusste allerdings niemand. Tatsache war, dass 'Mercucio' nicht in dieses Regal gehörte, weshalb Reel es nun vorsichtig hervorzog. Schnell bestätigte sich sein Verdacht als er versuchte es zu öffnen. Die Seiten waren penibel zusammengeklebt und nur der Buchdeckel ließ sich aufschlagen. Darunter kam ein Hohlraum hervor, welcher in die verleimten Seiten geschnitten worden war und in dem sich zwei Schlüssel befanden. Der eine war groß, golden und aufwendig verziert. Der zweite war sehr viel kleiner und unauffälliger. Er bestand aus Eisen und war bereits dunkel angelaufen, was vermuten ließ, dass er schon um einiges älter war. Auch war der Schlüsselbart sehr viel raffinierter verarbeitet als der des Goldenen. Reel zögerte nicht lang und nahm beide Schlüssel an sich. Corvo und Raven hatten bereits damit begonnen, die übrigen Bücher zu untersuchen und Corvo hob triumphierend einen Stapel aus dem oberen Regal herunter. Eine stabile Holzkiste war mit Buchrücken verkleidet und zwischen den anderen Büchern platziert worden. An der Rückseite hing ein massives Schloss, welches offensichtlich zu dem goldenen Schlüssel gehörte. Flink schloss Reel die Truhe auf und Corvo verstaute den Inhalt in dem Leinendeutel, welchen er eigens dafür mitgebracht hatte. Als er fertig war, warf er ihn sich über die Schulter und band ihn dort fest. Raven und Reel stellten inzwischen die Truhe und 'Mercucio' wieder an ihre Plätze. „Fertig. Verschwinden wir.“ Zustimmend nickten sie einander zu und liefen zur Tür zurück. Der Wache schien glücklicherweise noch immer mit dem angeblichen Eindringling beschäftigt zu sein und so verließen die Diebe den Raum unbehelligt. Raven schloss die Tür wieder ab und gemeinsam schlichen sie den Flur hinunter. Reel hörte Schritte und führte sie daher nicht in die Richtung aus der sie gekommen waren, sondern zu dem Treppenaufgang, welcher ihnen am nächsten war. Dort angekommen wollte er die erste Stufe nach unten betreten als eine Gestalt mit wehendem platinblondem Haar aus der obersten Etage zu ihm hinunter rannte. „Nicht“, ertönte ein warnendes Flüstern. Corvo zog sofort seinen Dolch und wollte ihren Zeugen zum Schweigen bringen bevor dieser Alarm schlagen konnte, doch Reel hielt ihn davon ab. Schützend stellte er sich vor Nathaniël und wehrte Corvos Angriff so lautlos wie möglich ab. „Hier lang.“ Nathaniël griff in den Ärmel von Reels Leinenhemd und zog ihn energisch mit sich. Im nächsten Moment hörten auch die drei Diebe wovor Nathaniël sie gewarnt hatte. Schwere Schritte stiegen schnell die Treppe zu ihnen hinauf und auch vom Flur aus konnten sie Wachen auf sich zukommen hören. Raven war noch völlig perplex, aber Corvo reagierte rechtzeitig, zog seine Schwester mit sich und folge Nathaniël und Reel die Treppe hinauf. Nathaniël lief barfuß voraus und öffnete schnell seine Zimmertür. Als Reel, Corvo und auch Raven diese passiert hatten, schloss er sie zügig und bedeutete den Dieben still zu sein. „Versteckt euch!“, flüsterte er ihnen zu, während er selbst mit schnellen Schritten zum Bett zurück huschte und ein paar mal unterdrückt husteten musste. Reel griff sich die Zwillinge und schob sie in Nathaniëls großen Kleiderschrank, in dem er sich selbst schon ein ums andere Mal versteckt hatte. Er selbst schlüpfte mit einer schnellen Bewegung unters Bett. Nur einen Wimpernschlag später klopfte es bestimmend an der Zimmertür. „Ja?“ Nathaniël bemühte sich so normal wie möglich zu klingen und das gelang ihm auch recht gut. „Lady Griefs? Darf ich eintreten?“ „Komm herein.“ Die Tür wurde geöffnet und zwei bewaffnete Wachen betraten den Raum. „Wir konnten keinen Eindringling ausfindig machen. Das Anwesen ist sicher, Lady Griefs. Aber wenn Ihr dennoch beunruhigt seid, kann ich einen meiner Männer vor Eurer Tür postieren.“ „Ich danke Euch für das Angebot, aber ich vertraue auf euer Urteil. Wenn Ihr der Meinung seid, dass kein Unbefugter das Anwesen betreten hat, dann glaube ich Euch und bin beruhigt.“ winkte Nathaniël höflich ab und musste erneut husten. „Geht es Euch gut? Soll ich Euren Arzt rufen lassen?“ Der Wache wirkte sichtlich besorgt. „Nein, alles in Ordnung. Nur ein leichter Anfall. Das geht gleich wieder vorbei.“ „Wie Ihr wünscht, Lady Griefs. Ich wünschte eine geruhsame Nacht.“ Mit diesen Worten verließen die beiden Bewaffneten das Zimmer und ihre Schritte entfernten sich wieder. Als sie vollständig verklungen waren, verließen die Diebe ihre Verstecke. Reel setzte sich sofort zu Nathaniël und erkundigte sich nach dessen Gesundheitszustand. „Geht's? Brauchst du deine Medizin?“ „Nein nein. Das ist bloß vom Rennen. Ist gleich wieder weg.“ Sorgenvoll betrachtete Reel seinen Liebsten, bevor er ihm sanft einige Haare aus dem Gesicht strich und seine Stirn an dessen lehnte. Nun traten auch die Zwillinge näher. Corvo schob seine Schwester hinter sich und hielt seinen Dolch in Nathaniëls Richtung – bereit ihn jederzeit einzusetzen. „Lady Griefs nehme ich an?“ Die Zwillinge behielten Nathaniël mit argwöhnischem Blick im Auge. Reel stellte sich schützend vor ihn und sah seine Geschwister flehend an. „Bitte, Corvo. Lass ihn in Ruhe. Er hat uns gerettet und wird uns nicht verraten.“ Nun schaltete sich auch Raven ein. „Reel, was habe ich dir über vorschnelles Vertrauen beigebracht?“ „Das hier ist was anderes. Wir kennen einander schon lange – seit knapp drei Monaten um genau zu sein.“ „Drei Monate? Also seit du das Anwesen beschattest. Darum hat das also so lange gedauert.“ Raven sah ihn scheltend und ein wenig enttäuscht an. Corvo ließ langsam seinen Dolch sinken und steckte ihn zurück in die Scheide. Er seufzte kurz, dann sah er Reel forschend an. „Kleiner... Mit einer verheirateten Frau zu schlafen ist die eine Sache, aber sich in eine zu verlieben eine ganz andere.“ „Bruderherz... Ich glaube nicht, dass wir hier eine Frau vor uns haben.“ Irritiert betrachteten die Zwillinge die angebliche Lady Griefs. „Ähm... Ich bin Nathaniël. Freut mich“, stellte dieser sich zögerlich vor und unterdrückte ein weiteres mal sein Husten. Corvo hatte die Information offensichtlich noch nicht so recht verarbeitet und sah ihn nur weiter verwundert an. Raven hingegen erfasste die Lage sofort. „Das erklärt, warum über 'Lady Griefs' so wenig bekannt ist und sie sich immer im Anwesen aufhält“, stellte sie trocken fest und nährte sich Nathaniël mit großem Interesse. Corvo entschied, dass von der zierlichen, platinblonden Gestalt keine ernsthafte Gefahr ausging und ließ seine Schwester gewähren. Reel stellte sich zu seinem Angel und nahm ermutigend dessen Hand. Nathaniël hatte Angst, aber er war auch aufgeregt. Er hatte sehr selten die Gelegenheit neue Leute kennenzulernen und er hatte sich schon lange gewünscht Reels Geschwister einmal persönlich zu treffen. Raven beschränkte sich darauf Nathaniël anzusehen, aber Corvo griff ihm plötzlich völlig unvermittelt an die Brust um das Gesagte auf seinen Wahrheitsgehalt zu prüfen. Nathaniël zog scharf die Luft ein und Reel schlug Corvos Hand sofort weg. „HEY! Was-“ „Corvo, lass gut sein“, würgte Raven ihn streng ab. „Tut mir leid. Mein Bruder ist immer ein wenig forsch. Nimm es ihm nicht übel.“ „Schon okay. Ich mag es nur nicht, wenn man mich anfasst“, erklärte Nathaniël unsicher und suchte Halt bei Reel, der sich schützend vor ihn stellte. „Kann ich verstehen“, versuchte Raven die Lage wieder zu beruhigen. Jetzt verstand auch Corvo endlich, was es für Nathaniël bedeuten musste mit Lord Griefs verheiratet und in diesem Anwesen eingesperrt zu sein. Erkenntnis machte sich in seinen grünen Augen breit und er gab ein leises „Tschuldige“ von sich. „Dann warst du es, der uns bei unserem Einbruch geholfen hat, oder?“ Nathaniël nickte. „Ich hab die Küchenmagd gerufen und behauptet, ich hätte draußen jemanden gesehen. Dann habe ich so lange auf sie eingeredet, bis sie geglaubt hat auch jemanden gesehen zu haben.“ „Außerdem hat er mir mit der Planung geholfen und mir alle Informationen besorgt, an die ich selbst nicht rangekommen bin“, ergänzte Reel stolz und drückte Nathaniël leicht an sich. Dieser schlang seine Arme um Reels Taille und kuschelte sich an ihn. Für ihn war es das erste Mal, dass jemand ihn beschützte und ihm gefiel dieses Gefühl. „Ach Reel. Mit dir ist wirklich nie etwas einfach.“ Corvo fand die ganze Situation inzwischen wohl recht amüsant. Er schien ihm nicht böse zu sein – Reel glaubte sogar fast ein wenig Stolz in seinen smaragdgrünen Augen zu erkennen – und da von Nathaniël keine Gefahr ausging, entspannte er sich so langsam. Raven hingegen hegte noch einen gewissen Argwohn ihm gegenüber. Sie fürchtete die Folgen, die Reels Beziehung zu Nathaniël mit sich bringen würde. Corvo hatte recht: sich in eine verheiratete Frau zu verlieben – egal ob sie nun wirklich eine Frau war oder nicht – war äußerst gefährlich. Besonders wenn es sich bei dem Ehemann um einen Adligen von Lord Griefs Format handelte. Er war mächtig und gefürchtet, sowohl unter den Adligen als auch unter dem gemeinen Volk. Gerüchte besagten sogar, dass er Beziehungen zu Magiern und Hexen pflegte. „Also los. Erzählt schon. Wie ist das mit euch beiden passiert?“ Raven lehnte sich gegen einen der Bettpfosten und Corvo setzte sich im Schneidersitz auf das untere Bettende. Auch Nathaniël kletterte zurück ins Bett und Reel gesellte sich sofort zu ihm, damit sein Angel sich wieder an ihn kuscheln konnte. Die Diebe blieben fast die ganze Nacht im Anwesen und sprachen mit Nathaniël. Erst kurz bevor die Sonne aufging, machten sie sich daran das Zimmer zu verlassen. Der Trubel, den ihr Einbruch verursacht hatte, hatte sich längst gelegt, also sollten sie unbehelligt aus dem Anwesen entkommen können. Reel verabschiedete sich mit einem letzten Kuss von seinem Liebsten, dann führte er die Zwillinge durch das Fenster, übers Dach und hinaus in die Freiheit. Im Krähennest wurden sie stürmisch begrüßt. Die jüngeren Gildenmitglieder hatten sie sehnsüchtigst erwartet und die Angst, ihre drei wichtigsten Diebe könnten erwischt worden sein, hatte sie zunehmend unruhiger werden lassen. Reel und die Zwillinge hatten entschieden niemandem von Nathaniël zu erzählen. Einen Informanten in den Reihen der Adligen zu haben, könnte nützlich sein und je weniger Personen davon wussten, umso sicherer war es für ihn und auch für Reel. Ravens Prioritäten hatten sich nach wie vor nicht geändert – die Sicherheit ihrer kleinen kaputten Familie stand an erster Stelle. Ihr Einbruch war ein voller Erfolg gewesen. Sie waren nicht gesehen worden und hatten das, was die Invi-Gilde wollte. Als Reel in seine Taschen griff, stießen seine Finger plötzlich auf etwas kleines, metallisches. Irritiert zog der den schwarzen Schlüssel, der nicht zu der Truhe gepasst hatte, aus der Tasche. Verwirrt betrachtete er das filigrane Stück Metalls. Reel hatte keine Ahnung, wozu der Schlüssel diente, aber er gab auch so ein ganz hübsches Schmuckstück – und vor allem eine gebührende Trophäe – ab, also fädelte er ihn auf ein altes Lederband und legte ihn sich um den Hals. Auch nach ihrem Einbruch besuchte Reel Nathaniël weiterhin fast jeden Abend. Dieser begann nun zum ersten mal in seinem Leben seine gesellschaftliche Position auszunutzen und belauschte regelmäßig Lord Griefs, dessen Gäste und die Angestellten des Anwesens. Mit den so gesammelten Informationen ermöglichte er den Dieben des Krähennests einige Einbrüche, deren Risiko ohne Insiderwissen viel zu hoch gewesen wäre. Reels Besuche waren Nathaniëls einzige Lichtblicke und schon bald lebte er nur noch für diese. „Sag mal Angel. Würde es jemand bemerken, wenn du morgen nicht in deinem Zimmer wärst?“ Nathaniël sah ihn irritiert an. „Ich habe morgen keinen Termin mit Doktor Luis und Lord Griefs ist noch bis mindestens Übermorgen auf Reisen. Also würde es eigentlich niemand bemerken. Was hast du denn vor?“ Reel schenkt ihm einen verschwörerischen Blick. „Ich will dich entführen. Also wenn du mich lässt. Deine Krankheit zwingt dich ja dazu bei Lord Greifs zu bleiben, aber das heißt doch nicht, dass ich dich nicht für die Dauer des morgigen Stadtfestes entführen kann, oder?“ Nathaniëls Miene hellte sich auf. Er durfte das Anwesen nicht ohne Lord Griefs verlassen und dieser hielt nicht viel von Stadtfesten. Nun hatte er die Gelegenheit dennoch auf eines zu gehen und es endlich einmal mit eigenen Augen zu sehen. Am darauffolgenden Tag lief Nathaniël aufgeregt im Zimmer auf und ab. Er konnte es kaum erwarten heute endlich das Anwesen verlassen zu können und einmal wie ein normaler Mensch das Stadtfest zu besuchen. Als Reel sich endlich durch das Fenster schwang, fiel Nathaniël ihm sofort um den Hals. Er hatte seinen geliebten Dieb unglaublich vermisst. Wie verabredet brachte Reel einen abgetragenen, mitternachtsblauen Kapuzenumhang, ein altes Leinenhemd und eine von Ravens dunkelgrauen Hosen mit. Zügig schlüpfte Nathaniël in die Hose und das etwas zu große Hemd, welches zu seiner Freude noch ein wenig nach Relakesch roch, dann ließ er sich von diesem den bodenlangen Umhang umlegen. Sanft strich er ihm die langen, platinblonden Haare zurück und verbarg sie gewissenhaft unter der weiten Kapuze. Reel konnte sein Lächeln nicht unterdrücken. Sein Angel war einfach wunderschön und er einfach viel zu verliebt in ihn. Ein aufforderndes Räuspern riss ihn aus seinen Gedanken. Corvo hockte auf der Fensterbank und wippte ungeduldig auf und ab. „Hallo Corvo“, begrüßte Nathaniël ihn mit einem unschuldigen Lächeln. Reel nahm ihn an die Hand und führte ihn zum Fenster. Nathaniëls Nervosität stieg. Bei Reel fühlte er sich immer sicher und geborgen, aber bei allen Anderen ließ schon allein der Gedanke an Körperkontakt Angst in ihm aufsteigen. Corvo hatte – seit einer Standpauke von seiner Schwester und drohenden Blicken von Reel – ein gewisses Verständnis dafür entwickelt und versuchte Nathaniël zu beruhigen. „Keine Angst. Ich werd' dich nicht unpassend anfassen oder dich fallen lassen.“ Nathaniël wurde ein wenig rot. Es war ihm sichtlich unangenehm, dass jeder wusste was sein Zusammenleben mit Lord Griefs mit sich brachte, aber andererseits hieß dass auch, dass er seine Schwäche nicht vor Reel oder den Zwillingen zu verbergen brauchte. Zögerlich nahm er Corvos dargebotene Hand und ließ sich mit Reels Hilfe von Corvo Huckepack nehmen. Nathaniël war sehr schmächtig und leicht, daher bereitet sein zusätzliches Gewicht Corvo nur wenig Probleme, während er über das Dach zur Rückwand des Anwesens und über die Fassade hinunter auf die Straße kletterte. Reel hätte es sich nicht zugetraut, seinen Liebsten sicher aus seinem Zimmer zu entführen, daher hatte er Corvo um Hilfe bitten müssen. Dieser hatte Reel diesen Gefallen gern getan, obwohl Raven noch immer Bedenken hatte Nathaniël mit in die Innenstadt zu nehmen. In einer Seitengasse außerhalb des Blickfelds der Wachen verabschiedete Corvo sich vorerst und ließ die beiden Verliebten allein. Das lag nicht zwingend an seinem Feingefühl, sondern eher an seinem Unwillen im Schritttempo durch die Gassen zu schleichen. Nathaniël war ungeübt, unerfahren, schwächlich und hatte eine schlechte Kondition – in seinem Tempo den ganzen Weg zum Treffpunkt zu laufen, wäre für den ungeduldigen Corvo die reinste Folter gewesen. Daher huschte er nun mit flinken Schritten über die Dächer davon und ließ Reel und dessen Engelchen allein in der dunklen Gasse zurück. Gewissenhaft richtete Reel den mitternachtsblauen Umhang und ging sicher, dass keine der verräterischen, platinblonden Strähnen hervorlugte. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, doch in der Gasse umgeben von windschiefen Gebäuden und brüchigen Dachüberständen kam so gut wie kein Tageslicht an. Reels Augen waren das Halbdunkel der Stadt gewohnt, daher konnte er Nathaniëls Nervosität auch im staub-grauen Schatten der Häuser problemlos erkennen. Ermutigend nahm er ihn an die Hand und drückte sie sanft. „Es wird alles gut gehen. Ich pass auf dich auf, versprochen.“ Dankbar erwiderte er den Druck und schenkte Reel ein verlegenes Lächeln. „Danke, Relakesch.“ Kurz schlang er die Arme um ihn und zog den Geruch des jungen Diebes tief ein. Reel drückte flüchtig seine Lippen auf Nathaniëls Stirn, dann lief er mit ihm an der Hand durch das Labyrinth aus kopfsteingepflasterten Straßen und engen, schmutzigen Gassen. Für Nathaniël war das alles unglaublich aufregend. Er hatte die Stadt sein Leben lang nur durch die Fenster seines Zimmers oder die der Kutsche sehen können, aber nun stand er hier – in bürgerlicher Kleidung, Schlamm an den Schuhen und die Person, die er liebte an seiner Hand. Zum ersten Mal fühlte er sich wirklich als Teil der Welt und nicht nur als unbeteiligter Beobachter. Einige Straßen vom Marktplatz entfernt trafen sie wieder auf die restlichen Diebe des Krähennests. Die Jüngeren von ihnen beäugten Nathaniël mit Neugier und Misstrauen, was sich jedoch schnell verflüchtigte, da er von Reel begleitet wurde und auch die Zwillinge offenkundig keinerlei Probleme mit dessen Anwesenheit zu haben schienen. Raven bedachte Reel mit einem vielsagenden Blick, dann bedeutete sie den Dieben ihr zu folgen und setzte sich mit flinken Schritten in Bewegung. Reel nahm Nathaniël an die Hand, nickte ihm aufmunternd zu und zog ihn zügig mit sich. Reel kannte den Weg nur zu gut, dennoch versuchte er mit seinem Liebsten an der Hand mit den anderen Schritt zu halten. Er wollte Nathaniël nicht das Gefühl geben, dieser würde ihn einschränken oder ausbremsen, aber zeitgleich wollt er ihn auch nicht überfordern. Endlich blieben die Kapuzengestalten vor ihnen stehen und Raven raunte ihnen einige letzte Anweisungen zu. Schnell verteilten sich die Diebe und verschwanden zwischen den vielen Leibern der Festbesucher. Die Zwillinge warfen Reel und Nathaniël einen letzten prüfenden Blick zu und verschwanden dann ebenfalls. „Heute Abend treffen wir uns wieder mit den anderen. Bis dahin hast du mich ganz für dich allein“, erklärt Reel mit einem frechen Grinsen und schenkte ihm einen flüchtigen Kuss bevor er ihn mit sich durch die Menschenmenge zog. Nathaniël erlebte eine wahre Reizüberflutung. All die Gerüche und Klänge. Etliche Menschen liefen und riefen durcheinander, Kinder wuselten zwischen den Beinen der Erwachsenen umher, Marktschreier versuchten ihre Ware an den Mann zu bringen und junge Frauen und Mädchen führten ihre elegantesten Tanzschritte vor. Nathaniëls blaue Augen leuchteten vor Aufregung und kindlicher Freude und Reel konnte sich an diesem Anblick nicht sattsehen. Nathaniël hatte diese Art von Musik bisher immer nur aus der Ferne von seinem Fenster aus hören können und er hatte sich immer gefragt, wie man dazu wohl tanzte. Er war anfangs ein wenig verwirrt, da er bisher nur die biederen Tänze der Adligen kannte. Wie gebannt verfolgten seine blauen Augen die wehenden Röcke der Tänzerinnen und schnellen Schritte ihrer Tanzpartner. Reel bemerkte Nathaniëls Faszination und blieb mit ihm neben der Tanzfläche stehen. Die Musiker stimmten soeben ein neues Stück an und mit ausladenden Bewegungen sausten nun nur noch die jungen Frauen über den Steinboden, während die Umstehenden im Takt der Musik mit den Füßen stampften und in die Hände klatschten. Ganz unbewusst fing Nathaniëls Fuß an zu wippen und ein Blick zu Reel eröffnete ihm, dass auch dieser sich von der Musik hatte anstecken lassen. Rhythmisch trommelten seine Finger an seiner Hüfte und sein ganzer Körper wippte unauffällig zum Klang der Musik. Am liebsten hätte Reel mitgetanzt, aber dieses Stück war den jungen Frauen und Mädchen vorbehalten und Reel wollte sich keinen Ärger einhandeln solange er Nathaniël bei sich hatte. Er hatte schon mehr als genug damit zu tun, seinen Liebsten vor ungewolltem Körperkontakt mit anderen Festbesuchern zu schützen. Der Marktplatz war brechend voll und so passierte es schnell, dass man einander anrempelte oder anstieß, also legte Reel einen Arm um seinen Liebsten und stellte sicher, dass niemand ihn anfasste. Sie verbrachten den ganzen Nachmittag gemeinsam und Reel zeigte ihm alles, was das Stadtfest zu bieten hatte. Als die Sonne allmählich unterging, wurden Fackeln auf dem ganzen Marktplatz entzündet, die alles in ein warmes, schummeriges Licht tauchten. Für Reel war dies das Signal, sich wieder mit den anderen Dieben zu treffen. Sanft zog der Nathaniël mit sich durch die weniger stark besuchten Gassen um den Marktplatz herum. Je weiter sie gingen, umso weniger Menschen begegneten ihnen und umso deutlicher konnte Nathaniël Musik und lautes Gelächter aus einer Gasse vor ihnen hören. Sie bogen in eine breite Sackgasse ein und nun konnte Nathaniël den Ursprung des Gelächters auch sehen. Knapp zwei Dutzend junger Männer und Frauen tummelten sich um ein Feuer. In dessen flackerndem Licht machte Nathaniël die Zwillinge aus und auch einige andere der schmuddelig gekleideten Feiernden, glaubte er als Krähendiebe identifizieren zu können. Behutsam zog Reel seinem Angel die Kapuze ein wenig tiefer ins Gesicht und schob ihn schützend hinter sich, bevor sie sich dem regen Treiben nährten. Lautstark wurde Reel empfangen, während Nathaniël nur flüchtige Blicke zugeworfen wurden. Sofort hielt jemand dem schwarzhaarigen Dieb einen Tonkrug hin, den Reel mit einem dankenden Nicken annahm und Nathaniël weiter an den anderen vorbeizog. Endlich erreichten sie die Zwillinge und setzten sich neben sie auf den staubigen Boden, ihre Umhänge als Unterlage nutzend. Reel roch vorsichtig an seinem Krug, verzog kurz das Gesicht und reichte ihn dann wortlos an Raven weiter, die diesen begeistert annahm und in einem Zug leerte. Auf Nathaniëls verwirrten Blick hin erklärte er nur knapp: „Ich trinke keinen Alkohol.“ „Willst du mal probieren?“, meldete sich nun Raven zu Wort, die es irgendwie geschafft hatte schon wieder einen vollen Krug in der Hand zu halten. Zögerlich nahm Nathaniël das dargebotene Getränk an und nippte daran. Sein Gesicht hellte sich auf und er nahm einen großen Schluck, bevor Raven sich wieder einschaltete und den Krug wieder an sich nahm. „Nah nah nah. Nicht so gierig. Das Zeug macht böse Kopfschmerzen“, warnte Raven mit einem verschmitzten Lächeln und trank anschließend den restlichen Met selbst aus. Verlegen leckte sich Nathaniël über die schmalen Lippen, an denen noch immer ein wenig von dem süßen Honigwein klebte. Die lodernden Flammen des Feuers wärmten sein Gesicht und die ausgelassene Stimmung der feiernden Diebe steckte ihn an. Sobald Reel ihm den Arm um die Schultern gelegt und Raven ihm ihren Krug angeboten hatte, gehörte er ganz einfach dazu. Niemand sah ihn komisch an und alle akzeptierten ihn als Teil ihrer Gruppe. Die Anderen banden ihn in ihre Gespräche ein und immer wieder wurden ihm Met und verschiedene Speisen angeboten, die fröhlich von Hand zu Hand wanderten. Reel bedeutete ihm irgendwann, mit dem Met kürzer zu treten und tatsächlich fühlte sich Nathaniël irgendwie benebelt. Als er versuchte aufzustehen, verlor er sofort das Gleichgewicht und Reel musste ihn festhalten, was ihm ein kurzes Lachen entlockte. Nathaniël schenkte ihm einen dankbaren Kuss und kicherte verlegen. Plötzlich rief jemand laut Reels Namen und dieser fuhr mit dem Kopf herum. Die Diebe mit ihren improvisierten Instrumenten stimmten eine wilde, von der Fidel dominierte Melodie an und die gesamte Gruppe warf Reel wissende Blicke zu. Corvo klopfte ihm auffordernd auf die Schulter und raunte ihm „Mach schon. Ich pass' auf dein Engelchen auf“, zu, während er subtil auf Nathaniël deutete. Reel schenkte ihm ein dankbares Lächeln und ließ sich von Raven schwungvoll auf die Beine ziehen. Und in diesem Moment legten die Instrumentalisten erst richtig los. Sie spielten wie Besessene und die Tänzer standen ihnen dahingehend in nichts nach. Allen voran Reel wirbelten diese um das Feuer und schienen die hektische Musik mit ihren leichtfüßigen Bewegungen nahezu herauszufordern. Nathaniëls Augen folgten Reels eleganten Schritten wie in Trance, während die anderen Umstehenden sie lautstark anheizten. Nathaniël wusste nicht, ob er einen Tanz oder einen Kampf vor sich sah. Die Musiker und Tänzer schienen darum zu wetteifern, wer schneller der Musik folgen konnte und so steigerten sie das Tempo mehr und mehr. Mühelos und mit nahezu weiblicher Eleganz hielt Reel mit jeder Temposteigerung Schritt und selbst als Raven aus dem Takt und schließlich auch aus dem Gleichgewicht geriet, tanze Reel vollkommen frei weiter bis sich die Instrumentalisten geschlagen geben mussten und mit einem lauten Finale das Stück beendeten. Der Jubel der Umstehenden schwoll erneut an und Reel erhielt anerkennende Blicke und Applaus, bevor er und Raven sich wieder zu Nathaniël und Corvo setzten. Beide atmeten schwer, aber ein glückliches Grinsen lag auf ihren Lippen. „Ich wusste ja gar nicht, dass du auch so tanzen kannst“, lobte Nathaniël mit vom Alkohol geröteten Wangen. „Das war doch noch gar nichts“, rief Raven beschwipst dazwischen. „Normalerweise wirbelt er stundenlang so durch die Gegend und treibt bei jeder Gelegenheit die Musiker und Barden in den Wahnsinn.“ Nathaniël schluckte schwer. Ihm war vollkommen bewusst, dass er der Grund dafür war, dass Reel heute aufs Tanzen verzichtet hatte. Dieser erfasste Nathaniëls Gedanken sofort und schlang beruhigend die Arme um ihn. „Mach dir keine Gedanken. Tanzen kann ich immer. Aber mit dir Zeit zu verbringen ist etwas besonderes und mir viel wichtiger.“ Sanft berührte er Nathaniëls schmale Lippen mit seinen eigenen und schmiegte sich an ihn. Ein amüsiertes Grölen ertönte von einigen Dieben, welches jedoch schnell in allgemeines Feiern überging. Dankbar kuschelte Nathaniël sich an Reel und genoss dessen Zuneigung. Ihm gefiel es, von den Anderen als gleichberechtigt angesehen zu werden, aber noch mehr gefiel ihm sein Sonderstatus bei Reel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)