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Cursed

von

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Geteiltes Leid

Es war Samstag, daher klingelte kein Wecker. Als Aiden schließlich von allein wach wurde, brauchte er eine Weile um zu realisieren wo er war und was passiert war. Er lag auf Reels Brust und seine Finger waren in den schwarzen Stoff seines Oberteils gekrallt. Reel schien zu Aidens Überraschung ebenfalls eingeschlafen zu sein. Sein Kopf lehnte gegen Aidens und er konnte seinen gleichmäßigen Atem hören.

Aiden war peinlich berührt – ins besondere weil er nichts außer seinem Schlafshirt und einer Boxershort trug – aber andererseits genoss er Reels Zuwendung. Nach ihrem Streit und Reels distanziertem Verhalten hatte er dieses Maß an Fürsorge nicht von ihm erwartet.

Zaghaft löste Aiden seine Finger aus Reels Oberteil, der darauf unbewusst reagierte und seine Arme im Schlaf enger um ihn schlang. Nur zögerlich gab sich Aiden der Umarmung hin. Die ganze Situation war mehr als seltsam für ihn und er wusste nicht wie er damit umgehen sollte, also blieb er einfach liegen und lauschte Reels ruhigem Herzschlag.

Nach einiger Zeit wachte auch er auf. Sanft strich Reel Aiden die Haare aus der Stirn und sah ihn forschend an.

„Geht's dir besser, Sunshine?“ Aiden nickte schwach und wurde rot. Reel hingegen schien keinerlei Unbehagen ob dieser seltsamen Situation zu verspüren. Zögerlich befreite Aiden sich aus Reels Armen und wich seinem Blick aus, doch Reel hatte nicht vor ihn so einfach davon kommen zu lassen.

„Aiden...“ Dieser seufzte tief und begann zu erzählen.

„Tut mir leid. Ich hab einfach... Es ist alles so viel.“

„Wegen meiner Kontrollverluste?“ Reels Stimme klang ehrlich besorgt. Er wollte nicht Schuld an Aidens Zusammenbruch sein.

„Ja... Nein... Auch. Ach man, dass ist alles so schwer.“ Er schlug die Hände vor die Augen. Kurzerhand zog er die Nachricht aus der Schublade und reichte sie seinem Dämon.
 

Es handelte sich um den Ausdruck einer E-Mail, die mit der Bitte um Weiterleitung an die Schule geschickt worden war. „Im Auftrag: Phillip Moore?“

„Mein Vater“, gab Aiden unglücklich zur Erklärung ab. „Er kriegt es nicht mal hin die Nachricht selbst zu schreiben oder auch nur sich an meine Mail-Adresse zu erinnern. Oder anzurufen. Oder einen Brief zu schicken. Oder zumindest so zu tun, als wäre ich sein Sohn und nicht irgendeiner seiner Angestellten.“ Reel strich ihm tröstend über die Wange.

„Niemand kann sich seine Eltern aussuchen.“ Schnell überflog er die Nachricht. „Stimmt ja. Dein Vater zahlt das Schulgeld. Der Rektor hatte das erwähnt.“

„Und er wird das Schulgeld nur weiter zahlen, wenn ich dieses Jahr zu seiner Zufriedenheit – also mindestens mit einer 2,0 – abschneide. Meine Mutter kann das nicht allein bezahlen und ich müsste die Schule verlassen.“ Aidens Gesichtsausdruck wurde zunehmend unglücklicher.

„Du magst diese Schule doch eh nicht besonders“, warf Reel wenig mitfühlend ein, bereute es jedoch sogleich im Stillen.

„Schon. Aber ich mag Lukas. Und ich muss ja nur noch ein Jahr durchhalten. Außerdem verbessert es die Chancen an vielen Unis wenn man seinen Abschluss hier macht.

Und ganz abgesehen davon wird mein Vater seine Erwartungen auf Mellie projizieren, wenn ich sie nicht erfülle.“

„Mellie? Deine kleine Schwester, richtig?“ Wieder nickte Aiden.

„Ich muss also gute Noten in den Prüfungen schreiben und ich krieg es einfach nicht hin. Ich hab dieses Schuljahr nicht besonders gut aufgepasst und jetzt muss ich eine ganze menge Stoff nachholen.

Vater scheint irgendwie mitbekommen zu haben, dass meine Noten schlechter geworden sind und nun erwartet er, dass ich das alles nur durch die Prüfungsnoten ausgleiche.“ Aidens Stimme begann zu brechen und Tränen stiegen ihm in die Augen. „Dafür brauche ich nahezu überall eine glatte Eins. Wie soll ich das denn schaffen?“ Reel ließ die Mail achtlos auf das Bett fallen und nahm Aiden wieder in den Arm.

„Ach, Sunshine.“ Nach ein paar Minuten beruhigte sich Aiden langsam wieder. Er sprach nie mit jemandem über die Probleme mit seinem Vater, aber bei Reel brauchte er gar nicht erst versuchen etwas zu verbergen. Er konnte seinen Dämon nicht anlügen und ausnahmsweise war er einmal dankbar dafür. Es fühlte sich befreiend an endlich offen über den Druck sprechen zu können unter dem er stand.

„Danke Reel“, murmelte er leise an dessen Schulter.

Nach einiger Zeit löste sich Aiden wieder von ihm. Seine Augen waren noch etwas geschwollen vom Weinen, aber er war so ruhig wie seit Tagen nicht mehr. Sich bei Reel auszuweinen, hatte eine schwere Last von ihm genommen – besonders, da er von seinem Dämon nicht so viel Verständnis erwartet hatte.

Etwas besser gelaunt zog er sich um und wollte sich an seinen Schreibtisch setzten um zu lernen, doch Reel hielt ihn fest bevor er seinen Drehstuhl erreichen konnte.

„Frühstück!“

„Aber Reel, ich...“

„Vergiss es! Du bist ein Wrack und du gehst jetzt frühstücken!“ Es war sinnlos mit Reel zu streiten, also ergab sich Aiden seinem Schicksal und zog seine Schuhe an.
 

Lukas war allem Anschein nach noch nicht aufgestanden. Zumindest war er im Speisesaal nirgends zu sehen und Aiden wusste, dass er ein Langschläfer war.

Der heute verhältnismäßig leise Speisesaal und die Tasse Tee halfen Aiden dabei seine Nerven zu beruhigen. Ohne viel Appetit knabberte er an seinem Brötchen und sah sich im Saal um. Die anderen Schüler betrachteten ihn noch immer mit Argwohn und ab und an konnte er die Anderen über ihn sprechen hören, doch das war momentan sein kleinstes Problem.

Die Ruhe, die Reel in seinem Inneren ausstrahlte, half Aiden all das zu ignorieren und sobald er mit dem Essen fertig war, ging er ohne Umwege in sein Zimmer zurück. Er wollte nicht noch mehr wertvolle Lern-Zeit verlieren.
 

Reel materialisierte sich neben ihm und betrachtete den Stapel an Büchern und Heftern auf dem Schreibtisch.

„Ganz schön viel für einen allein“, stellte Reel besorgt fest.

„Wem sagst du das?“ Ungefragt begann er damit die Hefter durchzusehen und einige herauszusuchen.

„Och Reel. Bring doch bitte meine Ordnung nicht durcheinander.“ Der Dämon begann schon wieder Aiden auf den Keks zu gehen.

„Deutsch, Englisch und Geschichte kann ich übernehmen. Latein kriege ich vielleicht auch noch hin. Beim Rest müssen wir mal gucken.“

„Was?“

„Ich kann deinen Körper übernehmen und in deinem Kopf mit dir sprechen. Folglich kriegt es niemand mit, wenn ich dir bei deinen Prüfungen helfe.“

„Aber... das ist doch... Meinst du wirklich du schaffst eine glatte Eins in den Prüfungen?“ Betrug war eigentlich absolut nicht Aidens Art, aber je länger er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm die Idee.

„Hast du eine Ahnung, wie viele Opfer ich schon verschlissen habe? Ich lebe schon ziemlich lange und bin eine ganze Menge rum gekommen. Ich lese viel und war die letzten Wochen während jeder einzelnen Unterrichtsstunde in deinem Körper. Mit etwas Übung und Lernen krieg ich das schon hin. Mach dir keine Sorgen, Sunshine.“ Reel nahm den gesamten Stapel an Heftern und legte sie auf dem Boden aus.

Deutsch, Englisch, Latein und Geschichte schob er gleich auf seine Seite.

Aiden kniete sich gegenüber von ihm auf den Boden und begann ebenfalls durch die Hefter zu sehen. Mathe, Biologie und die Wirtschaftswissenschaften nahm er auf seine Seite – für diese Fächer hatte er bereits am meisten gelernt.

„Okay, deine Sportprüfung kann ich auch machen. Und Musik...“ Aiden unterbrach ihn.

„Musik kriege ich allein hin.“ Die Art und Weise wie er das sagte und dabei weg sah, machte Reel stutzig.

„Musik ist also dein Ding?“ Aiden wich seinem Blick aus. „Hey! Aiden! Sieh mich an. Hör auf zu versuchen etwas vor mir zu verstecken. Das schaffst du eh nicht. Also: Raus damit!“

„Tut mir leid. Das ist an dieser Schule zur Gewohnheit geworden. Ich... ja, Musik ist irgendwie mein Ding.“

„Und was genau heißt 'irgendwie' bei dir?“ Reel mochte es absolut nicht, wenn Aiden nicht ehrlich zu ihm war und so klang bei ihm nun unwillkürlich ein passiv-aggressiver Unterton durch.

„Ich... hab mal ein bisschen Klavier gespielt“, gab Aiden kleinlaut zu und über Reels Augen huschte freudige Überraschung.

„Warum spielst du nicht mehr?“

„Um es mit den Worten meines Vaters zu sagen: Auf ein paar Tasten herum zu klimpern, wird mir mit meiner Karriere nicht weiterhelfen.“ Reel wirkte fast schon wütend als er antwortete.

„Aber darum geht es doch gar nicht. Musik, Kunst, Tanzen – das macht man nicht für den Erfolg sondern zum Spaß. Klar gibt’s da ein paar Ausnahmen, aber die sind jetzt egal. Du hast doch gern gespielt, oder?“ Aiden war überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Reel dem so viel Bedeutung beimessen würde.

„Ja, schon. Aber... ich war nie besonders gut.“

„Ist doch egal. Hörst du mir nicht zu, Sunshine? Für den Spaß, nicht für den Erfolg. Du musst unbedingt mal für mich spielen!“

„Aber...“

„Kein 'Aber'. Hier ist der Deal. Wir schaffen all deine Prüfungen und dafür spielst du anschließend für mich ein Stück auf dem Klavier.“ Aiden überlegte kurz.

„Wenn wir es nicht schaffen, dann spiele ich auch nicht. Und wenn wir es doch schaffen, dann spiele ich nur wenn niemand anderes das mitbekommt.“

„Deal!“ Zu Aidens Überraschung schien das Reels Motivation stark zu steigern. Dass der Dämon eine Schwäche fürs Zeichnen hatte, wusste Aiden bereits, aber dass das gleiche auch für Musik galt war ihm neu. Als Aiden sich für den Ball fertig gemacht hatte war ihm Reels Wissen übers Tanzen aufgefallen, aber er hatte sich dabei nichts weiter gedacht.

Reel übernahm den Großteil des Lernstoffs für die Fächer Geschichte, Deutsch, Englisch, Latein und auch für Sozialkunde. Bei allen anderen Fächern versuchte er so viel wie möglich zu verstehen, um Aiden im Zweifelsfall auch dabei weiterhelfen zu können.

Aiden richtete sich mit neuer Motivation am Schreibtisch ein und Reel machte es sich mit einigen Fachbüchern und Heftern auf dem Bett bequem.
 

„Hast du zufällig ein Gummiband oder so was?“, kam es nach nur wenigen Minuten von Reel. Aiden war etwas irritiert, begann aber in seinen Schreibtischschubladen zu kramen, wobei ihm Reels Zeichenbuch ins Auge fiel. Schnell schob er die Schublade wieder zu und suchte weiter bis er endlich fündig wurde.

Reel kam zu ihm, nahm das Gummiband entgegen und begann sich seine Haare nach hinten zu streichen. Die langen Haare des Dämons schienen ihm beim Lernen ins Gesicht zu fallen, daher band er sie nun zurück. Das ermöglichte Aiden einen freieren Blick auf das hübsche Gesicht seines dämonischen Mitbewohners, welches bisher immer zum Teil von den schwarzen Strähnen verdeckt gewesen war.

Es war ungewohnt Reel mit einem Zopf zu sehen, aber er stand ihm erstaunlich gut. Plötzlich erregte ein kurzes, metallisches Aufblitzen Aidens Aufmerksamkeit.

„Du trägst einen Ohrring?“ Sofort verfinsterte sich Reels Gesicht und Aiden wusste, dass er schon wieder ein Tabuthema erwischt hatte.

„Schon gut, schon gut. Geht mich ja auch gar nichts an“, ruderte er daher schnell zurück. Kurz berührte Reel den dezenten Silberschmuck, bevor er die Augen niederschlug und Aiden flüchtig über den Kopf strich.

„Richtige Antwort, Sunshine.“ Reel hatte den kleinen Internatsschüler wirklich gern, aber bei bestimmten Themen konnte er einfach nicht anders als aus der Haut zu fahren und daher war er auch mehr als erleichtert, dass Aiden von allein aufhörte nachzufragen.

Mit gebundenen Haaren ließ er sich aufs Bett fallen und nahm das Lehrbuch wieder auf.
 

So verbrachten sie die nächsten Tage über Büchern und Heftern, bis Reel irgendwann während des Lernens aufstand und zum Schreibtisch hinüber ging.

Sanft legte er Aiden von hinten eine Hand auf die Stirn.

„Reel. Was...?“

„Dachte ich's mir doch. Du hast Fieber.“

„Nein. Ich darf nicht krank werden. Ich muss heute noch mindestens 4 Seiten für Bio durcharbeiten und ...“

„Es bringt überhaupt nichts wenn du das verschleppst. Glaubst du, ich merke das nicht? Du hast doch schon seit mindestens zwei Tagen Kopfschmerzen, oder?“

„Und Schwindelgefühl“, gab Aiden kleinlaut zu. Reel seufzte und drehte den Stuhl zu sich um. Aiden versuchte sich wieder zurück zu drehen.

„Nein, ich muss noch...“ Doch Reel drehte ihn bestimmend wieder zu sich und nahm den kleineren Aiden kurzerhand einfach auf den Arm. Seine Proteste ignorierend trug er ihn zum Bett rüber.

„Ich kann selber laufen.“

„Weiß ich. Machst du aber offensichtlich nicht. Du bleibst jetzt gefälligst im Bett und lässt das mit dem Lernen für heute bleiben. Ein Abend Pause wird dich schon nicht umbringen.“

„Stimmt. Das ist ja deine Aufgabe“, gab Aiden mit einem frechen Grinsen zurück und Reel musste unweigerlich schmunzeln.

„Deinen Humor hast du noch, also ist es noch nicht kritisch.“ Aiden gab sich geschlagen und machte es sich im Bett gemütlich. Reel räumte die Bücher und Hefter aus diesem heraus, stellte ihm seine Wasserflasche auf den Nachtschrank und setzt sich anschließend auf die Bettkante. Erneut fühlte er Aidens Stirn und bestätigte noch einmal seine These.

„Dich darf ich wirklich nicht aus den Augen lassen.“ Aiden sah ihn aus müden Augen an und schlief kurz darauf auch schon ein.
 

Noch eine Weile nachdem er eingeschlafen war, strich Reel ihm über die Haare. Wieder betrachtete er konzentriert das Gesicht seines Lieblingsspielzeugs und war überrascht darüber, wie stark er – und die ganze Situation – ihn doch an jemand ganz anderen erinnerte. Und diese Erinnerung tat unglaublich weh.

Schließlich schüttelte Reel seine melancholischen Gedanken ab, bewaffnete sich wieder mit dem Geschichtshefter und ließ sich mit dem Rücken gegen das Bett auf den Boden sinken.
 

Die nächsten Abende zwang Reel Aiden immer wieder dazu früher mit dem Lernen aufzuhören als dieser es gern gehabt hätte. Jedoch sah er ein, dass es seiner Gesundheit gut tat, also ließ er Reel´s doch recht eigenwillige Fürsorge über sich ergehen.

Auch diesen Abend blieb er davon nicht verschont und musste sein Biobuch verfrüht zur Seite legen. Nachdem er frisch geduscht das Bad verlassen hatte, richtete er sich im Bett ein und griff nach seiner Handheld-Konsole. Sein Blick wanderte zu seinem Dämon hinüber, der noch auf dem Schreibtisch saß, und nach kurzem Zögern legte er die PS Vita an ihren Platz auf dem Nachtschrank zurück.

„Kannst du mir bitte die schwarze Tasche geben, die neben dir steht?“ Reel tat was Aiden von ihm wollte und dieser holte einen alten Lenovo Laptop aus der Tasche und klappte ihn auf. Nachdem dieser mit der Soundkulisse eines startenden Düsenjets hochgefahren war, loggte Aiden sich bei Netflix ein.

Lukas hatte ihm einen Nutzer auf seinem Account eingerichtet und ihm auch die Zugangsdaten für sein Prime-Konto gegeben, aber Aiden nutze diese Möglichkeiten seit Reel da war nur selten. Er hatte sich bisher immer unwohl dabei gefühlt irgendwas zu schauen während sein Dämon daneben saß, aber jetzt hatte er einfach Lust sich von einer Serie berieseln zu lassen.

Reel beobachtete die Szene eine Weile, bis Aiden seinen Blick bemerkte und ein Stück weit zur Seite rutschte um ihm Platz zu machen. Dieser nahm das nonverbale Angebot an und machte es sich ebenfalls im Bett gemütlich.

Aiden ließ ihn eine Serie auswählen und angelte sich in der Zwischenzeit eine Tüte Gummibärchen aus seinem Vorrat. Er war heute gut mit dem Lernen vorangekommen und wollte sich ein bisschen dafür belohnen. Reel schien denselben Gedanken gehabt zu haben. Ungefragt mopste er ihm einige der Gummitiere, umfasste anschließend Aiden von hinten und stützte sein Kinn auf dessen Schulter. Aiden wusste noch immer nicht so recht, was er mit der plötzlichen Zutraulichkeit des Dämons anfangen sollte, also tat er einfach so als wäre nichts passiert und startete die Folge.
 

Irgendwann siegte jedoch seine Neugier.

„Warum bist du eigentlich in letzter Zeit so... anhänglich?“

„Stört es dich?“, stellte Reel die Gegenfrage mit einem amüsierten Unterton und kuschelte sich provokant noch näher an ihn. Aiden überlegte eine Weile.

„Es ist ungewohnt.“ Reel lachte leiste auf bevor er antwortete.

„Du kannst mir das nicht verübeln. Dich will ich mal sehen, wenn du mehrere Jahrhunderte nur von Leuten umgeben bist, die du hasst und die dich hassen.“ Reels Stimme glitt während seiner Worte ungewollt vom Provokanten ins Traurige und Aiden überkamen plötzlich Schuldgefühle. „Entschuldige“, gab er kleinlaut von sich. Reel verstärkte als Antwort nur seinen Griff um Aidens Taille und wandte sich wieder dem Bildschirm des Laptops zu, doch Aidens Gedanken kreisten noch weiterhin um das eben Gesagte.

Reel hatte ihm noch immer nicht verraten wie lange genau er schon lebte, aber selbst wenn er 'nur' von einigen hundert Jahren ausging, musste der Dämon mittlerweile ziemlich vereinsamt sein. Die einzigen Leute mit denen er sprechen konnte waren seine Opfer und die waren logischerweise alles andere als begeistert von Reels Anwesenheit.

Das alles erklärte seine eigenwilligen Umgangsformen und sein ungewöhnliches Verhalten zumindest teilweise.

Und nun hing eben dieser Rachedämon auf Aidens Schulter und kuschelte sich an ihn. 'Ich schätzte damit werde ich dann jetzt wohl leben müssen', akzeptierte er die Folgen von Reels Sympathien für ihn und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Serie zu.

Nach einigen Folgen schloss Aiden den Laptop und ging sich die Zähne putzen. Reel richtete sich währenddessen wieder am unteren Ende des Bettes ein und steckte seine Nase brav in das Lateinbuch. Aiden störte es mittlerweile nicht mehr, wenn Reel auf seinem Bett saß während er schlief, und selbst wenn dem so gewesen wäre, hätte der Dämon sich davon sowieso nicht beirren lassen. Egal wie gut die beiden sich inzwischen verstanden, er sah Aiden nach wie vor als sein Eigentum an und so verhielt er sich ihm gegenüber auch.
 

Aiden war schon längst eingeschlafen, als der Vollmond das Zimmer in fahles Licht tauchte und Reel zum Fenster zog. Er legte das Buch wieder aus der Hand und setzte sich auf die Fensterbank um den Sternenhimmel zu betrachten. Keine einzige Wolke versperrte ihm den Blick und er genoss die Aussicht, die ihn so sehr an seine Vergangenheit erinnerte.

Melancholisch ließ er seine Stirn gegen die kühle Scheibe sinken und betrachtete den Mond und die Sterne. Ohne es zu merken glitt er in einen unruhigen Schlaf und fand sich erneut in einem Traum wieder.
 

Erneut sah er die zierliche Kapuzengestalt vor sich und erneut sank diese auf die Knie ohne das Reel etwas dagegen tun konnte. Blut floss unaufhaltsam aus dem Mundwinkel und einer Wunde in der Brust der zerbrechlichen Gestalt. Verzweifelt sank Reel in sich zusammen und weinte über dem leblosen Körper.

Plötzlich spürte er eine zaghafte Berührung und hörte eine leise Stimme, die ihn rief. Reel weigerte sich auf sie zu hören, doch die Hand auf seiner Schulter ließ nicht von ihm ab und auch die Stimme verstummte nicht.

Schließlich drehte er sich doch mit einer schwungvollen Bewegung um und sah direkt in Aidens braune Augen. Sie waren unnatürlich weit aufgerissen und auch aus Aidens Mundwinkel begann nun langsam Blut zu laufen. Reel sah an dem Jungen hinunter und stellte mit Entsetzten fest, dass seine eigene Hand ein Messer hielt, dessen Klinge nun tief in Aidens Brust steckte. Schnell färbte Blut den Boden um ihn herum tiefrot und auch Aidens Körper sank nun leblos in sich zusammen.
 

Aiden wachte auf, was genau ihn geweckt hatte konnte er allerdings nicht sagen. Verschlafen sah er sich um und wurde schnell auf Reels Silhouette aufmerksam, die sich dunkel gegen das einfallende Mondlicht am Fenster abzeichnete. Zu Aidens Überraschung flackerte der Schattenumhang aufgeregt und auch Reel selbst zuckte immer wieder unruhig.

„Reel?“ Keine Reaktion. Aiden verließ sein Bett und ging zögerlich auf seinen Dämon zu, der allem Anschein nach auf der Fensterbank eingeschlafen war. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und seine Hände zu Fäusten geballt – Reel hatte einen Albtraum, das konnte Aiden im hellen Licht des Vollmonds problemlos erkennen. Vorsichtig umfasste er seine Schulter und versuchte ihn durch sanftes Rütteln zu wecken. „Reel? Reel!“

Plötzlich wurden die roten Augen aufgerissen und Aiden grob am Kragen seines T-Shirts gepackt, doch Reel bemerkte schnell, dass er nicht mehr schlief und fiel Aiden nun vollkommen unvermittelt um den Hals.

Eine ganze Weile drückte er den perplexen Aiden fest an sich und dieser konnte Reels rasenden Herzschlag gegen seine Brust hämmern spüren. Beruhigend strich er ihm über den Rücken und wartete geduldig bis sein Dämon langsam wieder zur Ruhe kam.

„Reel, was ist denn los?“ Doch er schüttelte nur stumm den Kopf ohne Aiden loszulassen. Unschlüssig blieb Aiden mit dem vollkommen fertigen Reel mitten im Zimmer stehen. Reel würde ihm nichts sagen, also entschied er sich einfach dazu ihn vorsichtig mit sich zu ziehen und aufs Bett zu setzten.
 

Nach einigen weiteren Minuten fing sich Reel endlich wieder. Noch immer etwas unruhig gab er Aiden frei und sah ihn mit einem Blick an, den Aiden nicht zu deuten wusste.

„Geht´s wieder?“ Reel seufzte leise.

„Passt schon. Tut mir leid, dass ich dich geweckt hab. Schlaf weiter.“ Reel wollte aufstehen, doch Aiden hielt ihn fest. Sein Dämon sah so fertig aus, dass Aiden ihn jetzt einfach nicht allein lassen wollte.

„Bleib hier.“

„Willst du das wirklich?“ Aiden hatte noch keine Gelegenheit gehabt ihm zu antworten, da bekam er schon die Quittung für seine Aufforderung. Reel hatte es bereits geschafft die Folgen seines Albtraums zu überspielen und wieder sein diebisches Grinsen aufzusetzen. Bevor Aiden reagieren konnte, wurde er von Reel rücklings aufs Bett gedrückt.

Die roten Augen und vor allem die gefährlich scharfen Reißzähne waren ihm bedrohlich nah, doch Aiden kämpfte seine Angst zurück. Er kannte Reel mittlerweile gut genug um zu wissen, dass er ihm etwas vorspielte und er weigerte sich ihm das dieses Mal durchgehen zu lassen.

Reel machte das immer wenn er etwas vor Aiden verbergen wollte, doch dieses Mal würde Aiden seiner Angst nicht nachgeben.

Entschieden nickte er und antwortete mit bemüht fester Stimme: „Ja! Bleib hier! Ich mach mir Sorgen um dich!“ Auf Reels offensichtliche Überraschung folgte ein leises Seufzen und anschließend ließ er sich schwer auf Aiden sinken.

„Ich verstehe dich einfach nicht“, nuschelte er leise in dessen Halsbeuge.

Erleichterung breitete sich in Aiden aus. Er war sich zwar sicher Reels Fassade einigermaßen durchschaut zu haben, aber seine Reaktion hatte er nicht voraussagen können.
 

Nach einigen Minuten rutschte sein Dämon wieder von ihm runter und ließ sich stattdessen neben ihm ins Kopfkissen sinken. Kurz sah Aiden ihn irritiert an.

„Das hast du dir jetzt selbst zuzuschreiben, Sunshine“, grinste Reel ihm entgegen und Aiden sah ein, dass er für den Rest der Nacht wohl sein Bett teilen musste. Mit einem schwachen Seufzen legte er sich zu Reel und schlüpfte wieder unter die Bettdecke.

„Du bist wirklich seltsam“, kam es leise von Reel. Seine Augen schienen im Mondlicht ganz leicht zu glühen.

'Wunderschön', dachte Aiden ganz unwillkürlich, doch über seine Lippen kam lediglich ein sarkastisches: „Du bist ja auch nicht gerade normal“, und entlockte Reel damit ein leises Lachen.

„Auch wieder wahr.“ Reel kuschelte sich ins Kissen und schloss die Augen, aber Aiden betrachtete noch eine Weile das hübsche Gesicht des Dämons neben ihm.

Seine Züge waren definiert und seine Haut unnatürlich blass – schon fast weiß oder eher gräulich. Seine langen schwarzen Wimpern und schmalen Lippen verliehen ihm eine nahezu androgyne Schönheit, die Aiden immer wieder faszinierte.

Irgendwann fielen aber auch ihm endlich die Augen zu und er sank in einen ruhigen Schlaf.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Rentierchan
2019-09-18T17:56:39+00:00 18.09.2019 19:56
Gefunden und für total toll befunden 😍
Antwort von:  Lycc
18.09.2019 22:12
Nawwww. Danke dir. ^~^


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