Cursed von Lycc ================================================================================ Kapitel 10: Unfälle passieren ----------------------------- Aiden wandte sich dem Rollwagen zu. Mehrere tausend Bücher warteten darauf wieder an ihren rechtmäßigen Platz geräumt zu werden. Mit einem kurzen Seufzen nahm er das erste Buch zur Hand, begutachtete die Kennung auf dessen Rücken, sortierte es an seinen Platz im Regal und nahm das nächste Buch. Nach einiger Zeit hörte er wieder Reels Stimme. „Das werden langweilige 40 Stunden.“ „Tut mir ja schrecklich leid, dass meine Strafe nicht spannender ist“, gab Aiden bissig zurück und bemühte sich dabei möglichst leise zu sprechen. Sie waren hier nicht allein und es wurde schon genügend über seine „Selbstgespräche“ gelästert. Noch etwas wofür er auf den Dämon sauer sein konnte. Sowieso schien alles im Chaos zu versinken seit er da war und je mehr Aiden darüber nachdachte, desto wütender wurde er. Gedanklich noch mit seinem Ärger beschäftigt, nahm er das nächste Buch zur Hand – Oberstes Regalbrett, wie ihm die Kennung verriet. Er schob die Leiter in Position und kletterte hinauf. Oben angekommen streckte er den Arm aus um das Buch an seinen Platz zu stellen als er auf einmal spürte, wie sich die Leiter unter ihm bewegte. Schockiert musste er feststellen, dass sie langsam aber sicher zur Seite kippte und er es nicht mehr schaffte sich am Bücherregal festzuhalten. Aiden fiel – die Augen geschlossen in Erwartung des Aufpralls. Doch seine Landung war weitaus sanfter als er erwartet hatte. Als er die Augen öffnete, blickte er direkt in ein flammendes Rot. Reel hatte sich von ihm gelöst, ihn aufgefangen und hielt ihn nun wie eine Prinzessin in seinen Armen. Schnell ließ er Aidens Beine nach unten rutschen um mit der nun freien Hand die Leiter aufzuhalten, welche auf sie beide zuraste. Der andere Arm hielt nach wie vor Aidens Oberkörper und drückte ihn fest an seine Brust. Völlig perplex sah er zu seinem Dämon hoch. Schon wieder rettete er ihn. Und hatte Reel schon immer so gut gerochen? Was? Woran dachte er denn da? War das der Schock? Das Adrenalin? Ganz bestimmt! „Alles okay?“, holte Reel ihn wieder in die Wirklichkeit zurück. „Was? Ähm. Ja.“ Hastig richtete er sich auf und löste sich von Reel. Dieser schaute Aiden, der seinem Blick vehement auswich, einen Moment lang unschlüssig an. Bestimmend, aber nicht grob, griff er unter sein Kinn und zwang ihn so ihm in die Augen zu sehen. In diesem Moment hörte der Dämon Schritte auf sie zukommen und verschwand schnell im Körper seines Opfers. Frau Eden kam um die Ecke. „Alles in Ordnung? Ich dachte ich hätte etwas gehört.“ Aiden zwang sich zur Ruhe. „Alles okay. … Aber ich glaube mit der Leiter stimmt was nicht.“ Verwirrt betrachtete die Bibliothekarin die Leiter, welche nun am Boden lag. „Da ist ja unten eine Rolle abgebrochen. Hast du dir wehgetan?“ „Nein. Sie ähm... ist gebrochen, als ich auf die unterste Sprosse getreten bin“, log Aiden sie an und erntete einen erleichterten Blick von ihr. „Na, ein Glück. Du scheinst ja eine magische Anziehungskraft auf Unfälle zu haben. Und es wäre doch sehr wünschenswert, wenn sich in meiner Bibliothek niemand mehr als einen Papierschnitt zuzieht.“ Etwas skeptisch sah sie zwischen Aiden und der kaputten Rolle hin und her. „Ich hab sie nicht absichtlich kaputt gemacht, Frau Eden. Das müssen sie mir glauben.“ „So schätze ich dich auch nicht ein. Du hast wohl wirklich einfach nur Pech. Wobei du ja immer glimpflich davon zu kommen scheinst. Also quasi Glück im Unglück.“ Das Lächeln, welches sie ihm schenkte, war ehrlich und aufmunternd. „Du hast ja ganz schön was geschafft heute“, stellte sie mit einem Blick auf das nun schon ganz gut gefüllte Regal anerkennend fest. „Ich werde den Hausmeister bitten, morgen früh eine neue Rolle anzubringen. Du solltest für heute erst einmal Schluss machen. In einer halben Stunde gibt es sowieso Abendessen.“ Gedankenverloren ging Aiden durch die Flure zum Speisesaal. Ihm schwirrte der Kopf und es fiel ihm schwer seine Gedanken zu sortieren. Schon wieder passierte ihm so ein seltsamer „Unfall“ und was war das nur für ein komisches Gefühl, das er eben bei Reel hatte? Was auch immer es war, Aiden wusste nicht was er damit anfangen sollte. Wahrscheinlich spielte der Dämon nur wieder Spielchen mit ihm. Bevor er es so recht bemerkte, stand er vor dem Speisesaal. „Fertig für heute?“, holte ihn Lukas' Stimme in die Realität zurück. „Hm? Ähm... ja. Für heute bin ich fertig.“ Sie aßen an ihrem üblichen Stammplatz und Aiden versuchte weiterhin die Blicke und das Getuschel der Anderen zu ignorieren – mit mäßigem Erfolg. Anscheinend begann es bereits die Runde zu machen, dass Aiden erneut in einen Zwischenfall verwickelt gewesen war. Wie zur Hölle war es möglich, dass die halbe Schule bereits jetzt wusste, dass in der Bibliothek etwas geschehen war mit dem er etwas zu tun hatte? „Kommst du mit auf mein Zimmer zum zocken?“ Lukas tat weiterhin so, als würde er nichts von all dem mitbekommen und es gab Aiden das Gefühl zumindest einen kleinen Teil seines Lebens noch halbwegs unter Kontrolle zu haben. „Nein. Ich bin ziemlich fertig. Ich schätze ich bin einfach nicht dafür geschaffen stundenlang Bücher hin und her zu schleppen.“ Lukas lachte leise. „Tja, du bist und bleibst halt einfach ein Lauch.“ Nach dem Essen zog sich Aiden schnellstmöglich in sein Zimmer zurück. Zum Einen war er wirklich erschöpft von seiner Arbeit in der Bibliothek und zum Anderen fürchtete er, Reel könnte auf dumme Gedanken kommen, wenn er ihn noch länger nicht raus ließ. Er spürte bereits seit zwei Stunden, wie der Dämon zunehmend ungeduldiger und unruhiger wurde. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und sofort löste sich schwarzer Nebel von seinem Körper. „Endlich!“ Reel streckte sich und wanderte einige Runden durch den Raum. „So lange war das jetzt auch wieder nicht“, versuchte Aiden es zu relativieren. „Du bist ja auch nicht derjenige, der sich nicht frei bewegen kann und die ganze Zeit still sein muss.“ „Wo du das mit dem 'still sein' ja so ernst nimmst“, kam es von Aiden mit einem genervten Unterton, der Reel gar nicht gefiel. „HEY! Pass auf was du sagst. So leicht wie dir hab ich es bisher kaum jemandem gemacht. Du hast verdammt nochmal eine Menge Glück, dass ich dich so gut leiden kann. Normalerweise würde ich meinem Spielzeug so ein Benehmen nicht einfach so durchgehen lassen.“ Reels Blick war hart und Aiden bereute seinen Unterton sofort. Klar ging ihm der Dämon gehörig auf den Keks, aber recht hatte er trotzdem. Es musste ziemlich langweilig für ihn sein, wenn Aiden im Unterricht, beim Essen oder bei der Strafarbeit war. In seinem Zimmer konnte Reel sich frei bewegen und sich die Zeit vertreiben, aber außerhalb dieser vier Wände war er gezwungen sich in Aidens Körper zu verbergen. „Schon gut. Ich weiß. Tut mir leid“, gab Aiden nach. „Und danke, dass du mich in der Bibliothek gerettet hast. Schon wieder.“ Reel ließ sich mit einem Seufzer aufs Bett sinken. Warum fiel es ihm so schwer, wütend auf den brünetten Internatsschüler zu sein? Warum konnte er bei ihm einfach nicht konsequent bleiben? „Schon gut, Sunshine. Wie gesagt: Du bist mein Lieblings-Spielzeug und ich will nicht, dass du kaputt gehst bevor ich das Interesse an dir verliere.“ Nun war Aiden dran zu seufzen. „Natürlich.“ „Aber mal ganz abgesehen davon: Es ist schon etwas ungewöhnlich wie oft ich mein Eigentum beschützen muss.“ Ein ernster und besorgter Ausdruck trat auf Reels Gesicht. „In letzter Zeit hatte ich tatsächlich auffällig viel Pech.“ Aiden griff sich seinen Drehstuhl und setzte sich in gewohnter Manier rittlings mit der Rückenlehne nach vorn darauf. Allerdings rückte er den Stuhl zuvor näher ans Bett. Er verstand den Dämon zwar nicht wirklich, aber er hatte mittlerweile auch keine Angst mehr vor ihm. Solange er ihn nicht provozierte hatte er gute Chancen, dass Reel ihm nichts antat. „Das ist schon etwas mehr als nur Pech. Scheint fast so, als hätte es da jemand auf dich abgesehen.“ „Warum sollte es jemand auf mich abgesehen haben?“ Aiden hatte zwar heimlich die selbe Vermutung gehabt, aber er hatte sie für absurd gehalten. „Vielleicht aus dem gleichen Grund, warum jemand dich mit einem Rachedämon verflucht hat, der dich töten sollte.“ „Danke, dass du dass nicht tust.“ „NOCH nicht.“ Reel zeigte ihm wieder seine Reißzähne in einem bösen aber verspielten Lächeln, welche Aiden noch immer einen Schauer über den Rücken jagten. „Sieht so aus, als wäre wer-auch-immer-dich-verflucht-hat ziemlich sauer, dass ich dich noch nicht getötet habe und nimmt das Ganze jetzt selbst in die Hand.“ „Du glaubst also, dass jemand all das tut, nur um mich umzubringen? Aber warum?“ Reel seufzte erneut. „Die Frage haben wir doch schon mal diskutiert. Ich habe keine Ahnung und ich weiß auch nicht wer mich gerufen und dich mit mir verflucht hat.“ Aiden wurde hellhörig. „Sag mal, Reel. Also das ganze Dämon-rufen und Leute-verfluchen. Wie funktioniert das eigentlich? Und wer tut so etwas?“ Reel ließ sich nach hinten aufs Bett fallen – und stieß sich dabei prompt den Kopf an der Zimmerwand. „Aua.“ Ein weiterer tiefer Seufzer entfuhr seiner Kehle, während Aiden ein Lachen unterdrückte. „Das ist eigentlich gar nicht mal so kompliziert. Mit der richtigen Vorbereitung und den richtigen Zutaten kann selbst ein Anfänger einen Rachedämon auf jemanden ansetzten.“ Aiden war mehr als verwirrt. „Was für Vorbereitung? Und was meinst du mit Anfänger?“ Reel schien ganz offensichtlich viel mehr zu wissen als er sagte. Der Dämon schwieg, doch Aiden wollte ihn nicht so leicht davonkommen lassen. „Reel.“ Ungeduldig stand Aiden von seinem Stuhl auf und ging zum Bett rüber. Er wollte Reel in die Augen sehen können, doch so wie der Dämon jetzt auf dem Bett lag konnte er das von seinem Platz aus einfach nicht. Kurzentschlossen ließ er sich neben Reel aufs Bett sinken und sah ihn von der Seite aus an. Das Schwarz seiner Kleidung und seiner Haare bildete einen starken Kontrast zu den himmelblauen Bettbezügen. Die roten Augen wichen Aiden eine kurze Zeit lang aus, kehrten aber schließlich zu ihm zurück. „Schon gut, Sunshine. Sieh mich nicht so an.“ Langsam setzt er sich wieder auf und sah tief in das treue Braun von Aidens Augen. „Ein mächtiger Magier braucht nichts weiter dazu, aber jeder andere würde einige Dinge benötigen. Deinen Geburtsnamen, Geburtsdatum, eine Haarsträhne und etwas Blut – nicht nur einige Tropfen, sondern schon einige Milliliter. Dazu noch das Wissen um das Ritual und zumindest ein klein wenig magisches Talent. Das Ritual mit dem man mich rufen kann, gehört zu den simpelsten und wenig riskanten. Dabei wird die betreffende Person mit einem zufälligen Rachedämon verflucht, der den Umständen entspricht.“ Das war etwas viel für Aiden. Reel sah es in seinen Augen und erklärte ihm alles noch einmal langsam. „Es gibt also Magier.“ „Ja. Hexen und Zauberer.“ Reel spuckte die Worte nahezu aus. „Also will eine Hexe oder ein Zauberer meinen Tod und hat sich dafür wahrscheinlich meinen Namen, Geburtsdatum, Haare und Blut besorgt. Gruselig. Und du bist aus einem Pool von allen existierenden Rachedämonen zufällig für mich ausgewählt worden?“ „Nicht so ganz von allen Rachedämonen. Die meisten kämen für dich nicht in Frage, da du für sie nicht die passenden Umstände hergibst.“ Aiden gab sich wirklich Mühe, aber es fiel ihm schwer plötzlich an Dinge zu glauben, die er sein Laben lang für Fiktion gehalten hatte. Natürlich lebte er jetzt schon seit einiger Zeit mit einem Dämon, aber das war eine ganz andere Sache. „Was für Umstände?“ „Es gibt verschiedene Unterarten von Rachedämonen. Zum Beispiel Erinnyen – sie können ausschließlich auf Kriminelle angesetzt werden und töten ihre Opfer indem sie diese langsam in den Wahnsinn treiben. Oder Onryōs, die prinzipiell auf jeden angesetzt, aber durch ein Ritual geläutert und damit von ihrem Opfer abgebracht werden können.“ „Und was sind die Umstände um mit dir verflucht zu werden?“ Reel seufzte. „Es gibt keine. Darum bin ich auch relativ 'beliebt' bei der Wahl des Dämons. Ich töte alles und jeden. Keine Bedingungen. Keine Ausnahmen.“ Reel sah Aiden eindringlich an. Zur Hölle nochmal, waren seine Augen schön. Trauer fand ihren Weg auf Reels Gesicht. „Der einzige Nachteil, mit dem der Beschwörer leben muss, ist meine Eigensinnigkeit. Viele Dämonen lassen sich lenken, haben feste Routinen und Vorgehensweisen, oder richten sich sogar nach den Wünschen ihres Beschwörers. Aber ich nicht. Ich töte wie und wann ich will.“ „Das habe ich bemerkt.“ Aiden schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Reel? Danke, dass du mich noch nicht getötet hast.“ Der Dämon musste lachten und ließ sich wieder nach hinten aufs Bett fallen – dieses mal bedacht darauf, sich nicht den Kopf an der Wand anzuschlagen. „Kein Problem, Sunshine. Ich hab ja schließlich auch was davon.“ Einen kurzen Moment lang betrachtete Aiden das verschlungene Muster, welches Reels lange Haare auf der Bettdecke bildeten. Es faszinierte Aiden auf eine seltsamen Art und Weise. Schließlich ließ auch er sich nach hinten aufs Bett fallen. „Warum brauchst du keine besonderen Umstände? Warum tötest du bedingungslos jeden?“ Reel stieß einen tiefen Seufzer aus. Er schien heute mehr zu seufzen als zu reden. „Willst du das wirklich wissen?“ Aiden drehte seinen Kopf zu seinem Dämon und dieser tat es ihm gleich. Ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter von einander entfernt und Aiden konnte Reels gleichmäßigen Atem auf seiner Haut spüren. „Ich hasse einfach die ganze Welt. Meine Rachegelüste sind so stark, dass ich kein spezifisches Ziel brauche.“ Seine grausamen Worte und der sanfte Ton in dem er sie aussprach waren so gegensätzlich, dass Aiden unweigerlich in eine Art Bann gezogen wurde, wodurch er einige Momente brauchte ehe er deren Bedeutung so recht verstand. Die roten Augen wenige Zentimeter vor ihm wirkten gebrochen. Trauer und Wut mischten sich in den lodernden Flammen. „Warum?“ Aidens Stimme klang leise und sanft. Reel brach den Blickkontakt ab und atmete lautstark aus. „An der Stelle solltest du aufhören.“ „Hm?“ Reel drehte sich wieder zu ihm und sprach mit weicher Stimme weiter. „Wenn du weiter nachfragst, muss ich wütend werden und ich liege grade so bequem. Also belass' es bitte einfach hierbei. Okay, Sunshine?“ „Okay.“ Aiden war etwas enttäuscht, dass Reel ihm nicht antworten wollte. Andererseits hatte sich der Dämon ihm weitaus mehr geöffnet als er es angenommen hatte. Momentan waren fast alle Mauern zwischen ihnen verschwunden. Er konnte ihn über ihre Verbindung deutlich spüren und Aiden genoss das sehr. Noch mehr freute ihn nur, dass es Reel ganz ähnlich zu gehen schien. Er wollte den Moment nicht zerstören, daher hielt er Aiden davon ab weitere Fragen zu stellen. Schweigend lagen sie beide auf dem Bett. Reels Schatten bewegte sich ruhig – wie eine Flamme in Zeitlupe tanzte er über das Hellblau des Bettbezugs. Aiden war nahezu hypnotisiert. Reel seinerseits genoss die Nähe seines Lieblingsspielzeugs. Seine Sinne waren weitaus schärfer als die eines Menschen und jetzt grade nutzte er sie um Aidens Geruch, seinen Herzschlag, seinen Atem und sogar seine aktuelle Gefühlslage wahrzunehmen und sicher in seinem Geist abzuspeichern. Erinnerungen waren das einzige, was Reel behalten konnte. Also sammelte und pflegte er sie gewissenhaft. Wie lange war es her seit er das letzte mal so entspannt und ruhig war? Wie lange hatte er sich nicht mehr erlaubt, jemanden so nah an sich heran zu lassen? Reel konnte es nicht mehr leugnen. Aiden weckte in ihm etwas, von dem er gedachte hatte, es für immer in sich weggeschlossen zu haben. Immer wieder wurde Aidens Gesicht vor Reels geistigem Auge von einem anderen überlagert. Manchmal erschienen ihm Aidens Augen nicht braun sondern blau. Manchmal wirkte es als wären seine Haare plötzlich viel länger und heller als sonst. Und Manchmal glaubte Reel ein schmaleres, blasseres Gesicht vor sich zu sehen. Aber das immer nur für einen kurzen Augenblick, dann verschwand die Illusion. Doch das Bedürfnis ihn zu beschützen blieb. Schließlich musste Aiden den Moment doch zerstören. Mit einem tiefen Seufzer setzte er sich auf. Reel tat es ihm gleich und schenke ihm einen unergründlichen Blick. „Ich... ich werd' duschen gehen.“ Aiden zog sein Schlafzeug unter der Bettdecke hervor und ging ins Bad. Die Magie des Augenblicks verflog. Als er das Badezimmer wieder verließ, saß Reel noch immer auf dem Bett. Er hatte sich mit einem Buch und seinen Zeichenutensilien am Fußende eingerichtet. Den Rücken gegen die Wand gelehnt, die Beine angewinkelt und sein Sketchbook im Schoß saß er da. Aiden versuchte gar nicht erst sein Schmunzeln zu unterdrücken. Er legte seine Sachen zur Seite und ging zum Bett, dann krabbelte er unter die Decke und kuschelte sich ins Kissen. Mit einem Lächeln auf den Lippen betrachtete er die ungewöhnlich schöne Schattengestalt am anderen Ende seines Bettes. „Gute Nacht, Reel.“ Der Angesprochene sah von seiner Zeichnung auf und zu ihm hinüber. „Gute Nacht, Sunshine.“ „Reel?“ „Hm?“ „Warum nennst du mich manchmal 'Sunshine'?“ Reel lachte leise auf. „Du hast lange durchgehalten ohne zu fragen.“ Nun musste auch Aiden lachen. „Du hast also schon darauf gewartet?“ „Es ist eine Anspielung auf deinen Namen“, erklärte Reel. „'Aiden' ist eine Verniedlichung des Namens Aodh und geht auf einen Sonnengott aus der keltischen Mythologie zurück.“ Aiden war erneut beeindruckt von Reels unglaublichen Allgemeinwissen. „Das wusste ich gar nicht.“ „Tja, Bildungsauftrag erfüllt würde ich sagen.“ Mit einem Zwinkern ergänzte er: „Träum´ was schönes, Sonnenscheinchen.“ Reel verbrachte die nächsten Stunden damit den schlafenden Aiden zu beobachten. Immer wieder verglich er ihn mit seiner Zeichnung. Er suchte Parallelen und Ähnlichkeiten und wurde in einigen Punkten fündig, aber nicht in genügend um seinen Beschützerinstinkt zu rechtfertigen. Mit einem tiefen Seufzer riss er seinen Blick von dem brünetten Jungen los und wandte sich wieder seiner Zeichnung zu. Sanft strich er über das Papier und ein trauriges Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Ich dachte ich hätte das hinter mir gelassen, aber ich sehe Aiden an und vermisse dich.“ Bitterkeit brach seine Stimme und leise fiel eine einzelne Träne auf das Papier. Als Aiden die Augen wieder öffnete, saß Reel noch immer am anderen Ende des Bettes – nun mit dem Roman in der Hand und dem Sketchbook neben sich. „Guten Morgen, Sunshine“, begrüßte ihn der Dämon mit einem sanften Lächeln. „Morgen.“ Aiden machte seinen Wecker aus und ließ sich wieder zurück ins Kissen sinken. „Na na na. Time to rise and shine.“ Spielerisch zog Reel die Bettdecke nach unten und erntete ein leises Grummeln. „Schon gut. Schon gut.“ Widerwillig rollte sich Aiden aus dem Bett und wanderte verschlafen ins Badezimmer. Reels offener Umgang mit ihm freute ihn. Endlich glaubte er dem Dämon näher gekommen zu sein und ihn etwas besser zu verstehen. Gut gelaunt verließ er das Bad und packte seinen Rucksack für den heutigen Unterricht. Ein Blick auf die Uhr ermahnte ihn zur Eile und so zog er zügig seine Schuhe an und warf sich seine Jacke über. „Handy“, kam es beiläufig von Reel. Schnellen Schrittes ging Aiden zum Nachtschrank und griff nach seinem Handy. Dabei fiel sein Blick auf das Lederband mit Silberperlen. Nach kurzem Zögern steckte er es entschlossen in seine Hosentasche. Ein leises Seufzen von Reel ließ ihn wissen, dass auch der Dämon das Band bemerkt hatte und Aiden versuchte sich zu rechtfertigen. „Ich weiß. Aber es ist trotzdem ein Geschenk von Mara und wenn ich es schon nicht tragen kann, dann will ich es wenigstens dabei haben.“ „Ich sag doch gar nichts.“ Reel war offensichtlich nicht begeistert, aber überraschender Weise schien er dieses mal nicht das Bedürfnis zu haben sich mit ihm zu streiten oder er hielt sich Aiden zuliebe zurück und dieser rechnete ihm das hoch an. Mit einem dankbaren Lächeln auf den Lippen ging er zu Reel und hielt ihm seinen Arm hin. Dieser legte sein Buch aufs Bett und richtete sich auf. Sanft schob er den dargebotenen Arm zur Seite und berührte stattdessen ganz nonchalant Aidens Wange. Nachdem Reel sich vollständig aufgelöst hatte, fuhr auch Aiden flüchtig mit den Fingern über seine Wange. Es klopfte an seiner Tür und von draußen konnte er Lukas' Stimme hören. Energisch schüttelte Aiden den Kopf und machte sich auf den Weg. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)