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Fragments

von

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Scherben.

Alles voller Scherben.
 

Man sagt, es bringt Pech, einen Spiegel zu zerbrechen, sieben Jahre Unglück.

Alberner Aberglaube, spöttische Kommentare, doch selbst, wenn es wahr wäre… Inwiefern würde es einen Unterschied machen?
 

Die Scherben liegen auf dem Boden, hunderte funkelnder, scharfer Splitter, und der Spiegel ist weg, endlich fort! Und das ist gut.

Denn ich konnte es schon lange nicht mehr ertragen, mein Spiegelbild anzusehen.
 

Ich weiß nicht, ob ich meinen Anblick jemals gemocht habe, doch seit Wochen, wenn nicht Monaten, hat er mich einfach bloß noch angewidert. Nicht bloß dann, wenn wieder einmal blaue Flecke auf meinem Gesicht zu sehen waren, auch wenn es dann am Schlimmsten war.

Aber im Grunde war es doch alles. Das Gesamtbild. Wirklich alles, und nicht nur mein Aussehen, sondern mein Charakter, mein Verhalten, ich. Ich vermeide jeden Blick, so gut es mir möglich ist, und jetzt endlich ist der Spiegel fort.
 

Ich muss die Scherben wegräumen.

Wenn ich ungünstig stehe, dann sehe ich mich noch immer in ihnen, nicht bloß einmal, sondern unzählige Male, es ist wie ein Alptraum…
 

Das Glas fühlt sich kühl an in meiner Hand. Die Kanten sind scharf und glatt, wie ein Messer, wie eine Klinge… Ich muss schlucken.
 

Die Narben an meinen Armen sind noch nicht verheilt, aber auch nicht mehr ganz frisch; drei Tage lang habe ich es nun geschafft, diesem Drang zu widerstehen, und nun knie ich hier, auf dem Boden meines Zimmers, vor mir ein Haufen Scherben… Wie eine Metapher für mein Leben.
 

Ich bin froh, dass der Spiegel nun fort ist, doch eigentlich wäre ich so viel glücklicher, wenn ich es wäre, der nicht mehr hier wäre…

Wenn ich doch einfach gehen könnte.

Wenn es einen Ausweg gäbe.
 

Natürlich könnte ich gehen, theoretisch. Doch wohin?

Ich habe sonst nichts, nichts als diese drei-Zimmer-Wohnung, und ich habe niemanden… niemanden außer Derryl.
 

Alleine der Gedanke an ihn lässt mich zusammenzucken, die Scherben rutschen mir aus der Hand und fallen mit leisem Klirren zu Boden. Ein schneller Blick auf die Uhr… 15: 43 Uhr.

Noch eine knappe halbe Stunde, bis er nach Hause kommt.

Ich muss die Scherben wegräumen, unbedingt, natürlich wird ihm auffallen, dass der Spiegel fehlt, doch die Scherben zu sehen würde es noch viel schlimmer machen…
 

Ich kann ihm nicht erklären, warum ich es getan habe, denn er würde es nicht verstehen. Und noch viel weniger könnte ich ihm sagen, dass er einer der Gründe dafür war.
 

An das, was beim letzten Mal passiert ist, als ich etwas Derartiges ihm gegenüber geäußert hatte, kann ich mich nur zu genau erinnern.

Ich weiß noch, wie ich auf dem Sofa hockte, zitternd vor Panik und selbst nicht genau wissend, weshalb eigentlich; und ich erinnere mich, wie Derryl sich neben mich setzte und seine Hand auf meine Schulter legte… wie er mit dieser ruhigen, so unendlich mitfühlend wirkenden Stimme fragte: „Hey. Was ist denn los?“

So einfühlsam.

So falsch.

Ich weiß noch genau, was ich ihm antwortete. Wie ich flüsterte: „Bitte…Fass mich nicht an…“

Wie ich das Gefühl hatte, dass diese leichte Berührung purer Schmerz wäre.
 

Ein erneuter Blick auf die Uhr. 15: 47 Uhr. Noch so viele Scherben auf dem Boden…
 

Ich erinnere mich, wie er mich ansah. Verständnislos, als würde er nicht verstehen, was meine Worte zu bedeuten hatten. Seine Hand blieb auf meiner Schulter liegen.

„Bitte!“, flehte ich ihn an, und die Erinnerung daran lässt mich im Hier und jetzt erschaudern. „Fass mich nicht an, geh einfach weg und lass mich zufrieden!“ So verängstigt, so panisch.

Derryls stärker werdender Griff. Sein sich verfinsternder Blick, so voller Unverständnis für meine Bitte, für meinen Zustand…

Seine Worte. Kühl. Bedrohlich. Beängstigend. Was er sagte, weiß ich nicht mehr. Bloß noch, wie seine Stimme klang.

Und wie er mich nun mit der anderen Hand packte. Mich nach unten drückte, bis ich auf dem Sofa lag, wie ich versuchte, mich zu wehren, doch ohne Erfolg, wie er sich über mich beugte, immer näher kam…
 

Ich will nicht weiterdenken. Versuche, diese Erinnerungen zurückzuhalten, ganz hinten in meinem Gedächtnis, in Truhen mit Schlössern eingesperrt, für die es keine Schlüssel gibt. Nicht daran denken. Niemals.
 

Wenn ich heute daran denke, dass ich damals, als ich noch bei meinen Pflegeeltern lebte, der Meinung war, dass es nun nicht mehr schlimmer würde kommen können, würde ich am liebsten laut lachen. Es war nicht angenehm, aber doch besser als hier, denn es tat nicht so weh, zumindest nicht körperlich.

Natürlich war es verletzend, mir immer wieder anhören zu müssen, dass meine Depressionen, meine Schizophrenie, nichts weiter war als eine Phase. Dass ich mich zusammenreißen müsste. Dass alles gut werden würde, wenn ich einfach nur daran glaubte.

Nach dem Suizidversuch auf der Intensivstation zu erwachen und zu hören zu bekommen, wenn auch subtil, wie armselig diese Handlung doch gewesen sei.

Dass das Mobbing in der Schule zwar nicht angemessen sei, ich meine Mitschüler doch aber auch verstehen müsste. Dass ich doch einfach aufhören sollte, schwul zu sein.
 

Und nun würde ich so gerne zurück, denn es wäre besser als hierzubleiben, doch ist es nicht möglich, das haben meine Pflegeeltern mir damals unmissverständlich klargemacht…

„Wenn du das wirklich tust, dann brauchst du dich hier nie wieder blicken zu lassen!“
 

Damals glaubte ich, es wäre die bessere Entscheidung. Glaubte, dass es besser werden würde. Damals, als ich nur Derryls eine Seite kannte. Die freundliche, offene, hilfsbereite. Die alle so sehr an ihm mochten.

Ich hätte ihn durchschauen sollen, normalerweise gelingt mir so was sehr gut. Doch hat mich die Vergangenheit bereits mehrmals gelehrt, dass ich im Bezug auf einige wenige Personen blind bin.
 

Und nun bin ich hier. Es war meine Entscheidung, meine Schuld, und nun komme ich nicht mehr weg von hier. Selbst wenn ich wüsste, wohin ich gehen könnte, so habe ich das Gefühl, dass ich nicht die Kraft dafür aufbringen könnte.

Ob aus Angst, aufgrund der Depressionen, oder weshalb auch immer… ich kann es einfach nicht.

Und das ist es, was mich am allermeisten an mir selbst anwidert.
 

Eine weitere Hand voller Scherben landet in dem schwarzen Müllbeutel, der neben mir auf dem Boden liegt. Ich habe das grauenhafte Gefühl, dass all das nicht das Geringste bringt, dass es einfach nicht weniger wird, egal, wie viele Scherben ich wegwerfe, die Masse schrumpft einfach Nicht… eine Sisyphos-Aufgabe.
 

Mein Blick fällt auf eine längliche Scherbe, knapp 20 Zentimeter von mir entfernt. Größer als die meisten anderen, mit einer glatten und zwei zackigen Bruchkanten, im hellen Licht der Nachmittagssonne funkelnd und mich geradezu anlächelnd.

Instinktiv Strecke ich die Hand danach aus, gleichzeitig innerlich schreiend, gedanklich voller Wut versuchen, mich zurückzuhalten, doch halte sie nun bereits in der Hand.

Betrachte sie, drehe und wende sie.

Vielleicht 10 cm lang, vier Zentimeter breit, nach oben spitz zulaufend.

Eine spiegelnde Klinge.

Gott, ich will das Nicht!

Voller Verzweiflung hole ich aus, will das verdammte Ding einfach in den Müllsack werfen; ich habe all meine Rasierklingen im Badezimmerschrank eingeschlossen und mein Taschenmesser weggeworfen, habe mich seit drei Tagen von scharfen Dingen ferngehalten, ich will das nicht mehr, ich will, dass es aufhört…
 

Ich schaffe es nicht, die Scherbe loszulassen. Meine Finger halten sie fest umklammert, so fest, dass die Kanten in meine Haut schneiden, meine Muskeln scheinen unwillig, mir zu gehorchen.

Zitternd lasse ich den Arm sinken. Betrachte erneut die Scherbe.

Meine Augen spiegeln sich darum, und sofort verspüre ich ein Gefühl der Übelkeit.

Der Bluterguss um mein linkes Auge ist verblasst, aber dennoch sichtbar, wenn auch teilweise vom Rahmen meiner Brille verdeckt, und sofort sind da wieder die Bilder; der Anblick von Derryl, der vor mir steht und mich anbrüllt, bevor er letztlich ausholt…

Und ich schreie.

Sowohl in der Erinnerung als auch in der Gegenwart.

Voller Verzweiflung kauere ich mich zusammen, zuckend und wimmernd, ich habe das Gefühl, explodieren zu müssen, so groß ist dieser Druck in mir, und ich kann nichts weiter tun, als zu schreien…

Es ist egal, niemand wird mich hören, denn niemand ist da. Ich bin allein.

Ich habe keine Ahnung, wie lange es dauert, bis ich letztlich verstummen. Einfach nur noch dahocke, während mir Tränen übers Gesicht laufen, blicklos ins Nichts starrend, und dabei noch immer die Scherbe in der Hand haltend…

Die Scherbe.

Diese gottverdammte Scherbe.

Ich verfluche sie, verfluche sie so sehr, und gleichzeitig fällt jeglicher Widerstand von mir ab. Alles von der Entschlossenheit, es nicht zu tun, damit aufzuhören, endlich davon wegzukommen, hat sich aufgelöst, ist einfach verschwunden. Was bleibt ist Leere.

Meine Hand zittert, als ich den Stoff meines Ärmels packe und ihn hochziehen. Mein Herz schlägt schneller und ich kann das Rauschen meines Blutes hören, beim Anblick meiner bereits so vernarbten Haut dreht sich mir der Magen um…

Drücke die glatte Kante der Scherbe an meinen Unterarm und ziehe.

Der Schmerz setzt mit leichter Verzögerung ein. Rotes Blut fließt aus dem Schnitt, doch schenke ich dem keine große Beachtung, setze bereits erneut an… irgendeine Last scheint mit einem Mal von mir abzufallen. Ich fühle mich erleichtert, fühle mich gut, nein… ich fühle mich frei. Als könne ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig atmen.

Es wird nicht lange andauern, dieses Gefühl, das hat mir die Erfahrung bereits nur allzu oft gezeigt. Es ist wie Rauchen, für den Augenblick vielleicht entspannend, doch im Grunde reichlich sinnlos. Aber Sinn und Unsinn, was heißt da schon. Ein paar Minuten lang atmen zu können, ein paar Minuten lang frei zu sein, das ist besser als nichts.
 

Als ich die Scherbe schließlich fallen lasse, lässt dieses Gefühl bereits nach. Nun überwiegt langsam der Schmerz, stark und unangenehm, und der Anblick der fünf frischen, blutenden Schnitte an meinem Unterarm – einer davon gefährlich nahe an meinen Pulsadern, wie mir nun auffällt – lässt in mir wieder dieses vertraute Gefühl der Leere aufsteigen.

Ich hatte wirklich gedacht, dass ich es durchhalte.
 

Der laute Knall einer Tür lässt mich heftig zusammenzucken, einen Moment lang scheint mein Herz stillzustehen. Hektisch werfe ich einen Blick auf die Uhr.

16: 03 Uhr.
 

…Das kann er noch nicht sein. Das ist zu früh…
 

Schritte, die durchs Treppenhaus Hallen. Eine Gangart, die mir nur zu gut vertraut ist.
 

Zu früh…warum so früh… warum heute…
 

Ich ziehe meinen Ärmel herunter, um die Narben zu verdecken, mit hastigen Bewegungen greife ich nach den restlichen Scherben, während die Schritte lauter werden, sich immer weiter nähern...

Als sie endlich alle weg sind, sicher verstaut im schwarzen Plastik, springe ich auf und renne zum Kleiderschrank, reiße die Tür auf und werfe den Beutel hinein.

Im selben Moment, in dem ich die Schranktür wieder schließe, höre ich den Schlüssel in der Wohnungstür.

Werfe einen Blick auf meine Hände. Ein wenig Blut klebt daran, schnell greife ich nach einem Taschentuch und mache mich daran, es so gut wie eben möglich zu entfernen.

„Bin Zuhause!“, hallt es zeitgleich durch den Flur.
 

Ich lasse die Hände sinken. Verstaue das blutverschmierte Taschentuch in meiner Jacke, gehe auf meine Zimmertür zu, dabei ein fröhliches Lächeln aufsetzend.
 

Alles ist in Ordnung. Alles ist gut. Bloß nichts anmerken lassen.
 

„Hey!“, erwidere ich die Begrüßung, als ich in den Flur trete, und bin selbst beeindruckt davon, wie unbeschwert meine Stimme klingt. Als wäre nicht das Geringste vorgefallen.
 

Derryl erwidert mein Lächeln, hält mir dann eine Tüte hin mit den Worten: „Ich hab Nudelboxen vom Asiaimbiss geholt. Bringst du die schon mal in die Küche? Ich bin gleich da!“

Ich nicke und greife nach der Tüte, gehe dann an Derryl vorbei, und kaum habe ich ihm den Rücken zugekehrt, verschwindet das Lächeln aus meinem Gesicht.

Ich hasse es so sehr, wenn er so unglaublich nett ist.

Denn jedes mal, wenn dem so ist, überkommt mich das übermächtige Gefühl, dass ich einfach bloß übertreibe. Dass Derryl doch ein super Typ ist, dass ich mich nicht so anstellen soll, dass diese andere Seite von ihm doch gar nicht so schlimm ist… denn die meiste Zeit über ist er doch nett.

Er hat mich bei sich wohnen lassen, als ich vollkommen am Ende war. Er hat sich um mich gekümmert, als ich sonst niemanden hatte, er ist die einzige Person, die ich habe, ich weiß nicht, wo ich ohne ihn wäre… ob ich noch am Leben wäre… oder ob der nächste Suizidversuch, den ich bereits im Kopf hatte, kurz bevor ich endlich weggekommen war von meiner Pflegefamilie, nicht erfolgreicher gewesen wäre.

Und obwohl ich im Grunde weiß, dass das einfach nicht wichtig sein kann, dass es falsch ist, überkommt mich wieder einmal das Gefühl, dass all die Dinge, die ich als so grauenhaft erachte; die Beleidigungen, das Anschreien, die Schläge, die Dinge, die ich eigentlich nicht tun will, in Relation gar nicht so dramatisch sind.

Dass ich Derryl trotzdem einfach unglaublich gern habe.

Ich denke nicht mehr an die frischen Schnitte, während ich die Tüte auf den Küchentisch stelle und die Nudelboxen herausnehme. Stelle sie auf die Platte, setze mich dann, den Blick zur Tür gerichtet und wieder lächelnd… mich einfach freuen auf das gemeinsame Essen. Keinen Gedanken mehr an den Müllsack in meinem Schrank verschwendend, an all die Scherben.

An den zerbrochenen Spiegel.
 

„Wie war dein Tag?“, fragt Derryl, als er schließlich in die Küche kommt und sich neben mich setzt, zu nah für meinen Geschmack, doch ich sage nichts. Zucke lediglich mit den Schultern. „Na ja. Ganz okay, würde ich sagen. Nicht besonders ereignisreich.“

Wirklich eine Lüge? Ich bin mir nicht sicher.

Derryl lacht, versucht dabei, mit den beigelegten Stäbchen ein paar Nudeln zu greifen zu kriegen, wie jedes mal ein ausgesprochen amüsanter Anblick. „Bist du grade erst aufgewacht oder Was?“, hakt er scherzhaft nach, und ich lache ebenfalls und erwidere grinsend: „Was, ich? Wie kommst du denn darauf?“

Welch Fassade. Welch Maskerade.

Wie glücklich wäre ich, wenn ich endlich wieder einmal richtig schlafen könnte; mehr als drei, vier Stunden pro Nacht, und ohne Alpträume oder panisches Aufschrecken. Einfach wieder einmal eine Nacht durchschlafen.

Doch das kann ich Derryl schlecht sagen. Er würde es nicht verstehen, genau, wie er so vieles nicht versteht. Also setze ich die Konversation locker fort, erzähle kurz von der Facharbeit für die Uni, an der ich schreibe – in Wahrheit habe ich noch nicht einmal angefangen, obgleich nächste Woche Abgabe ist – und Derryll hört mir zu, auch wenn er nicht den Eindruck macht, als fände er es interessant. Doch das spielt keine Rolle. Es tut gut, einfach so zu reden… und wenn man redet, können weniger Fragen gestellt werden.

Irgendwann geht Deryl zum Kühlschrank und holt eine Flasche Bacardi und Sprite heraus, stellt sie zusammen mit zwei Gläsern auf den Tisch. „Ich brauch das jetzt.“, erläutert er dabei, während er die Bacardiflasche öffnet und eine gute Menge in beide Gläser kippt. „Arbeit war schon wieder so Was von stressig!“

Ich erwidere nichts. Blicke einfach unsicher auf die Gläser, die Deryl nun mit Sprite auffüllt, unsicher, was ich sagen, was ich tun soll…

Selbstverletzung war die eine Sache, von der ich wegkommen wollte. Alkohol die andere.

Ich trinke zu viel in letzter Zeit, viel zu viel, es fühlt sich einfach viel zu gut an, betrunken zu sein. Es ist erleichternd, befreiend, ganz ähnlich, wie die Selbstverletzung, und ich kenne mich gut genug, um zu wissen, wie knapp ich diesbezüglich vor einer Abhängigkeit stehe.

Doch was soll ich sagen, er würde es nicht verstehen, und die Stimmung ist gerade so angenehm, das kann ich nicht aufs Spiel setzen. Nicht heute. Das ertrage ich nicht. Also greife ich nach den Glas, das Derryl zu mir herüberschiebt, wir stoßen an und ich trinke.

Es ist wirklich viel Bacardi. Ungefähr 50: 50, doch der Geschmack ist nicht unangenehm …

„Was hast du da?“

Mit einem Mal klingt Derryls Stimme nicht mehr freundlich. Es ist derselbe Tonfall wie jedes mal, wenn er wütend ist, und ich verschlucken mich und muss husten, wobei mein Blick auf meinen Arm fällt…

Der Ärmel meiner Jacke ist beim Anheben des Gläser herabgerutscht, hat den Blick freigegeben auf meinen Unterarm, und damit auf die dunkelroten Striemen auf der bleichen Haut.

Derryl starrt darauf, und mit jeder Sekunde wird sein Blick finsterer.

Ich habe das plötzliche Bedürfnis, mich zu übergeben. Schnell lasse ich meinen Arm sinken, will den Ärmel wieder herunterziehen, doch Deryl ist schneller. Packt mich am Handgelenk und zerrt mich zu sich, meinen erschrockenen Aufschrei dabei vollkommen ignorierend.

„Was. Ist. Das?“, wiederholt er, dabei nach jedem einzelnen Wort eine bedeutungsvolle Pause einlegen.

Ich antworte nicht. Kann es nicht. Versuche einfach, mich loszureißen, doch der einzige Effekt, den dieses Unterfangen mit sich bringt, ist, dass sein Griff noch fester wird.

Und plötzlich schreit er.

„Du sollst mir antworten, verdamme Scheiße! Oder bist du taub?“

„N…nein…Derryl…“ Ich will weg. Einfach nur weg. Raus aus der Küche, raus aus dieser Wohnung, raus aus diesem Haus, weg von Derryl. So weit wie nur irgendmöglich.

„Was, Derryl?“, schreit er mich an, packt mich mit seiner freien Hand an den Haaren und zerrt mich näher zu sein. Schmerz durchzuckt mich, ich schlage nach ihm, und kurz habe ich die Hoffnung, dass es wirkt, doch dann ist da wieder seine aggressive Stimme, doch nun nicht mehr laut, sondern kaum mehr als ein Flüstern… und das empfinde ich als noch viel, viel bedrohlicher.

„Das lässt du auf der Stelle sein, oder ich brech dir den verschlissenen Arm!“, zischt er, und ohne eigentlich zu wollen erstarre ich auf der Stelle. Einige Sekunden lang herrscht Stille. Dann, wie automatisiert, und soweit Derryls Griff in meinen Haaren es zulässt, nicke ich. „Okay, okay.“ Meine Stimme zittert, klingt, als würde sie jeden Augenblick abbrechen. „Jetzt lass mich bitte los! Das tut weh…“

„Oh, das tut weh?“ Und jetzt schreit er wieder. Ich befürchte, gleich taub zu werden, doch Derryl scheint diesbezüglich keinerlei Bedenken zu haben, oder aber es ist ihm egal; in gleichbleibender Lautstärke fährt er fort: „Das stört dich also, ja? Aber deine Arme zerschneidet du freiwillig! Was ist kaputt bei dir? Bin ich dir nicht gut genug oder Was?“

„…Was…was hat das damit zu tun?“ Trotz meiner heftigen Panik schaffe ich es dieses Mal, meine Stimme einigermaßen ruhig klingen zu lassen, auch, wenn die Frage rein rhetorischer Natur ist. Ich weiß genau, was er meint. Weiß ganz genau, dass er meine Situation nicht im Geringsten versteht. Er ist der Meinung, dass der Umstand, jemanden zu haben, der mir wichtig ist, ausreichen sollte, nicht mehr depressiv zu sein…er kapiert es einfach nicht.

„Du bist so ein undankbares Arschloch!“, faucht er mich an und bestätigt damit meine Annahme mehr als eindeutig. „Ich kann dich auch einfach rausschmeißen, wenn dir das hier nicht passt!“

„Derryl…“

„Wie würde dir das gefallen, hä? Ich lass dich hier wohnen, ich kaufe dir Essen, und was machst du?“

„Aua! Hör auf…“

„Du hockst hier rum und ritzt dich, um noch mehr Mitleid zu kriegen! Du bist so was von armselig! Kein Wunder, dass deine Pflegeeltern dich nicht mehr wollten! Ein Wunder, dass dich überhaupt jemand genommen hat!“

Jetzt wünsche ich mir, ich wäre wirklich taub geworden von seinem Geschrei. Ich will seine Worte nicht hören; es tut weh, viel schlimmer noch als sein Griff, er soll einfach aufhören!

Denn er spricht genau das aus, was ich mir selbst so oft denke. Weshalb ich mich so sehr hasse. Er soll aufhören, er soll mich in Ruhe lassen…

„Bin ich dir nicht gut genug? Na los, sag schon!“

„Hör…“ Ich muss husten, mein Hals fühlt sich unglaublich trocken an. „Hör auf! Bitte. Derryl, das…das hat nichts mit dir zu tun!“ Lüge. Lüge. „Ich bin dir unendlich dankbar, für alles! Aber… wenn das alles wäre, was nötig ist, um Depressionen zu heilen, dann… dann wäre das echt toll! Aber…das ist nun einmal nicht so!“

„…Verstehe.“ Einen Augenblick lang wird Derryls Blick leer. Es macht den Eindruck, als würde er direkt durch mich hindurch blicken, und kurz überlege ich, ob ich nun die Chance habe, mich loszureißen, doch bevor ich irgendetwas tun kann, blickt Derryl mir wieder direkt in die Augen. Lässt meine Haare los, und einen Augenblick lang will ich erleichtert aufatmen… bis er mir mit der nun freien Hand sanft die Haare aus dem Gesicht streicht.

Und sofort wird das Gefühl von Panik und Übelkeit noch um einiges stärker, während sich gleichzeitig mein gesamter Körper verkrampft.

„Ist schon gut, Schatz.“, säuselt er, und ich möchte ihn anschreien; er soll weggehen, sich verpissen, mich einfach zufrieden lassen! Doch so sehr ich es auch versuche, ich bringe keinen einzigen Laut heraus.

„Ich wollte dich nicht anschreien! Alles gut…“ Seine Stimme ist voller Mitleid; es widert mich so sehr an! „Keine Sorge, ich mach das wieder gut.“

Einen Scheiß tut er.

Ich weiß, was er will, und er soll einfach weggehen, ich habe keine Lust mehr auf dieses ganze gottverdammte Psychospiel! Ich will weg, vollkommen gleich, wohin, und wenn ich mich vor den nächsten Zug werfe, alles ist besser als das!

„Jetzt entspann dich doch mal!“ Er klingt wie vorhin, als er mich fragte, ob ich bis eben geschlafen hätte, albern und verspielt; und das macht es noch so viel schlimmer. Für ihn ist es ein Spiel. Er nimmt sich, was er will, wenn nötig mit Gewalt. Und ich bin sein Spielzeug.

Unfähig, mich zu wehren. Nicht in der Lage, ihm irgend etwas entgegenzusetzen.

Ich habe es versucht, einige Male, und jedes Mal habe ich es am Ende nur noch schlimmer gemacht… schmerzhafter.

Gott, ich will das einfach nicht mehr.

Derryl lässt mein Handgelenk los, doch bemerke ich es kaum. Ich blicke an ihm vorbei, merkend, wie sich Tränen in meinen Augen sammeln…

Warum. Warum bin ich nicht einfach gegangen. Jede Mal aufs Neue diese Frage.

Derryl drückt mich an sich, streicht mir mit der anderen Hand über die Wange, und ich stehe einfach bloß da, warte ab, hoffe, dass es einfach schnell vorbei ist.

Als Derryls Gesicht beginnt, sich meinem zu nähern, schließe ich die Augen. Das ist das einzige, was ich tun kann. Nichts weiter. Einen Augenblick lang ist da bloß Dunkelheit und Stille.

Dann höre ich ihn mit sanfter, und gleichzeitig entschlossener Stimme flüstern: „Ich liebe dich!“
 

Und ich wünschte, die Schnitte mit der Spiegelscherbe wären die letzten gewesen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Drachenprinz
2019-12-03T22:49:00+00:00 03.12.2019 23:49
Hab mir diesen OS jetzt mal durchgelesen, und wow... das ist schon ziemlich heftig alles! °-° Der Arme kommt ja echt vom Regen in die Traufe... xD'' Wirklich kein Wunder, dass er so kaputt ist, ganz ehrlich! Was er da alles erlebt hat, ist ja auch wirklich kaum auszuhalten. ;-; Das, was ich bisher wusste, fand ich ja schon echt mehr als schlimm und schon ausreichend, um seinen Zustand zu erklären, aber mit dem Hintergrundwissen aus diesem OS jetzt auch noch ist es echt erstaunlich und beeindruckend, dass er überhaupt noch durchhält und versucht, irgendwie klarzukommen. Alter, dieser Derryl... Solche Leute sind echt die Schlimmsten, die nach außen so supernett und höflich und liebenswert wirken, und in Wahrheit sind es dann solche Arschlöcher! D: Erst diese Verständnislosigkeit und Brutalität und dann plötzlich wieder diese sanfte Stimme, mit der er einfach "Ich liebe dich" sagt... kotz! Derryl sollte über das Wort 'Liebe' mal wirklich nachdenken und auf die Idee kommen, dass da auch Verständnis und Einfühlsamkeit (echte, keine gespielte!) dazugehören. Und Respekt. Dieser Umgang kommt mir wirklich alles andere als respektvoll vor, und es tut mir sooo leid... ;___; Aber die Ansicht der Pflegeeltern ist ja echt auch sowas von fürn Arsch. xD'
Auf jeden Fall wieder Respekt an dich, dass du das alles mit so schönen, passenden Worten beschrieben und diese realistisch-düstere Atmosphäre erschaffen hast, auch wenn es schon eine Weile her ist, dass du das geschrieben hast! Ich mag den OS echt gerne und ich möchte diesen gewissen Mega-Woobie einfach nur trösten!!
Antwort von:  ReptarCrane
04.12.2019 07:12
Hello!
Jaaa...Ja. Ich hatte beim erneuten durchlesen gestern auch echt Hassgefühle x'D
Hach ja :'D Derryl is schon... Ja. Wie gesagt, sympatisch wahrscheinlich nich x'D freut mich aber auf jeden Fall sehr, dass ich das alles anscheinend gut rübergebracht habe und dass du den oS magst! Jaaa es wird irgendwie nicht besser x'D
Antwort von:  Drachenprinz
04.12.2019 12:04
Kann ich verstehen, dass du selber da Hassgefühle hattest, solche Leute lösen grundsätzlich sowas in mir aus, egal, ob echt oder fiktiv. x'D Ach Mann, es ist aber auch echt schlimm, wenn man dauernd an die falschen Leute gerät. D:


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