Erschütternde Erkenntnisse von Varlet ================================================================================ Kapitel 4: Aller Anfang ist schwer ---------------------------------- Shuichi setzte seinen Plan in die Tat um. Er hielt sich zurück und fiel nicht auf. Seinen ersten Monat nutzte er um sich mit seinem ehemaligen Heimatland wieder vertraut zu machen. Die japanische Mentalität war anders als die der New Yorker. Während seiner Zeit in den Staaten hatte er einige Traditionen abgelegt, an die er nun wieder erinnert wurde. Ein großer Unterschied waren die Umgangsformen der Japaner. So wurden Schuhe vor dem Betreten einer Wohnung – egal ob es sich dabei um die eigene oder um eine fremde Wohnung handelte – eines Tempels oder eines Restaurants ausgezogen und Hausschuhe angezogen. Dabei achteten die Eigentümer oder die Mieter der Wohnung auf ausreichende Fußbekleidung. Zum anderen lagen den Japanern ihre Mitmenschen sehr am Herzen. Die Straßen wurden frei von Müll gehalten und der Straßenverkehr wurde strengstens beachtet. Dass jemand bei einer roten Ampel über die Straße lief, kam nur sehr selten vor. Außerdem ließen die Japaner ihre Mitmenschen erst aus Bussen und Zügen aussteigen, ehe sie selbst einstiegen. Bei einer Erkältung oder einer anderen Krankheit wurden Atemschutzmasken getragen und persönliche Befindlichkeiten nach hinten gestellt. Auch wenn man unangekündigten Besuch bekam, blieb man stets höfflich und lud die Person ins Wohnzimmer ein. Sofort wurden Getränke wie Tee, Wasser oder Kaffee sowie Kleinigkeiten zum Naschen aufgetischt. Die Arbeitszeiten der Japaner lagen bei rund 12 Stunden pro Tag und wenig Urlaubstagen. Die Kinder lernten oder machten ihre Hausaufgaben bis spät in den Abend, ehe sich ihr Rhythmus am nächsten Tag wiederholte. Aber es gab auch Schattenseiten. Einige Japaner lebten diese offen aus, andere im Geheimen. Das Vorhandensein bestimmter Etablissements war oftmals als offenes Geheimnis bekannt gewesen. Im vergangenen Monat hatte Akai beide Seiten von Tokyo kennen gelernt. Sein Leben fand nahezu am Abend und in der Nacht statt, weil er die Männer in Schwarz so einschätze. Er besuchte regelmäßig verschiedene Bars und führte Gespräch mit Gästen und den Barkeepern. Wann immer es ging, ließ er unterschwellig Kommentare zum japanischen Schul- und Verteidigungssystem fallen. Manchmal diskutierte er mit einigen anderen Männern und nahm an der einen oder anderen Schlägerei teil. Sollten die Männer in Schwarz auf ihn aufmerksam werden, wüssten sie, dass er nicht zimperlich war. Dass bisher noch niemand mit ihm Kontakt getreten war, musste kein schlechtes Zeichen sein. Eine Organisation, die seine Mitglieder wahllos auswählte, war nicht vertrauenswürdig. Mit den ganzen Hintergrundprüfungen und Observationen würde es sowieso noch eine Weile dauern. Nur wurde er bislang nicht beobachtet. Als das größte Problem stellte sich allerdings das FBI heraus. Er hatte von Anfang an mit offenen Karten gespielt und sein geplantes Vorgehen anhand eines Zeitstrahls vorgestellt. Zudem hatte er mit seinen Vorgesetzten ausgemacht, dass es regelmäßige Berichte und unter Umständen persönliche Gespräche geben würde. Damit hatte er ein tägliches oder wöchentliches Update nahezu ausgeschlossen. Allerdings schien es James Black anders verstanden zu haben. Direkt nach seiner Ankunft musste er diese telefonisch bestätigen. Eine Woche später wollte das FBI den aktuellen Ermittlungsstand wissen. Dass er nicht viel zu berichten hatte, freute seine Vorgesetzten nicht. In der zweiten Woche hatte er seinem Arbeitgeber klar gemacht, dass der dauerhafte Kontakt zum FBI – auch wenn er über eine sichere Nummer und Leitung lief – nur Probleme mit sich bringen würde. Letzten Endes verständigten sie sich auf monatliche Aktualisierungen des Ermittlungsstandes. Parallel musste er sich auch noch um die erste Kontaktaufnahme zu seiner Cousine kümmern. Er hatte Akemi beobachtet und kannte ihren ungefähren Tagesablauf. Einmal die Woche ging sie morgens in das Schwimmbad ihres Fitnessstudios und schwamm ihre Bahnen. An einem anderen Tag lief sie morgens ihre fünf Kilometer-Runde. Da sie gerade ihr Studium abgeschlossen und frisch in einer Bankfiliale angefangen hatte, achtete sie sehr auf Pünktlichkeit und arbeitete oft noch nach Feierabend. Ihre Abendplanung war dementsprechend nicht vorhanden. Was Akai allerdings am meisten störte, war die Tatsache, dass sie an manchen Wochenenden wie vom Erdboden verschluckt war. Er konnte nie sagen, ob sie am Samstag oder schon am Freitag verschwand. Eines aber war sicher: Er konnte ihre Spuren nie nachverfolgen. Und dann gab es auch wieder die Wochenenden, wo sie ihre Wohnung nur zum Einkaufen verließ und sich sonst einigelte. Viele Freunde schien sie nicht zu haben. Dass irgendwas nicht stimmte, war dem jungen FBI Agenten bereits aufgefallen. Die schwarz gekleideten Männer, die Akemi ebenfalls beobachteten, taten ihr übriges. Allerdings arbeiteten sie stümperhaft, da auch Akemi ihre Anwesenheit bemerkt hatte und sich entsprechend verhielt. An der Existenz der Männer in Schwarz bestand kein Zweifel mehr. Aber handelte es sich auch um die gleiche Gruppierung, die Agent Starling und seine Familie auf dem Gewissen hatte? Eines war ihm von Anfang an klar gewesen. Er arbeitete an etwas Großem und auch wenn es ihm leid tat, Akemi war der Schlüssel zu ihren Machenschaften. Shuichi schloss seinen Spind und legte sich das Band mit dem Schlüssel um das Handgelenk. Er betrat den Duschraum und ließ das Wasser auf sich niederprasseln, ehe er in die Schwimmhalle ging. Akai warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr. Akemi würde in frühestens 30 Minuten in die Halle kommen, so wie sie es immer tat. Shuichi sprang in das Wasser und schwamm ein paar Bahnen. Hin und her. Nach einer halben Stunde hievte er sich am Beckenrand nach oben und sah in das überraschte Gesicht von Akemi. Ihre Reaktion war nicht ungewöhnlich, immerhin traf sie sonst zu dieser Uhrzeit niemanden im Schwimmbad. Das war auch der Grund, warum sie morgens überhaupt herkam. Einfach nur Ruhe haben. Vor allen Menschen. Shuichi nickte ihr zur Begrüßung zu, ehe er das Schwimmbad durch die Herrenumkleide verließ. Er öffnete seinen Spind und begann sich abzutrocknen. Er schmunzelte. Alles lief nach Plan. Akai zog sich an und trocknete seine Haare. Er musste nur noch ausharren, bis Akemi mit ihrem Morgenprogramm fertig war. Akai schnappte sich seine Sporttasche und ging nach oben in den Fitnessbereich, wo er sich an die Bar setzte und einen Smoothie zu sich nahm. Eine halbe Stunde später machte er sich auf den Weg Richtung Ausgang. Er zog sein Handy aus der Hosentasche und tippte auf dem Display herum. Als er gegen eine Person stieß, ließ er das Handy absichtlich fallen. Erschrocken zuckte Akemi zusammen. „Tut mir leid, das wollte ich nicht“, sagte sie sofort und hob das Handy auf. „Ich war in Gedanken und…“ Sie stockte. Shuichi griff nach seinem Telefon. „Sie können nichts dafür“, begann er. „Ich hab nicht auf meine Umgebung geachtet.“ Er musterte sie. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ Akemi nickte. Sie hatte sich wieder gefangen. „Bitte entschuldigen Sie“, kam es erneut von ihr. „Sie waren doch vorhin auch im Schwimmbad.“ Akai nickte. „Manchmal brauch ich ein paar ruhige Bahnen, ehe ich hier oben mit meinem Programm beginne. Sie scheinen es wohl ähnlich zu machen. Ich hoffe aber, ich habe Sie dort unten nicht zu sehr erschreckt.“ Sofort schüttelte die junge Frau den Kopf. „Nein nein…so war das nicht“, entgegnete sie. „Ich hatte mich nur gewundert, jemanden im Wasser vorzufinden. Wie Sie schon sagten, dort unten ist es zu dieser Uhrzeit immer ruhig. Ich bin es einfach zu sehr gewöhnt, im Schwimmbad alleine zu sein.“ Akemi sah auf ihre Armbanduhr. „Oh, es tut mir leid, ich muss jetzt wirklich los.“ „Aber natürlich“, gab der Agent von sich. „Darf ich Sie als Entschuldigung zu einem Kaffee einladen?“ Akemi zögerte. Sie sah sich um. Danach blickte sie wieder den Agenten an. „Eigentlich hab ich Sie angerempelt und müsste Sie einladen…“, murmelte sie. „Wie wäre es um 13 Uhr im Café Poirot?“ „Gerne.“ Akemi saß nervös im Café und starrte regelmäßig auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Hatten ihn die Männer in Schwarz überprüft, abgefangen und umgebracht? Die Organisation hatte aus ihrer Anwesenheit nie einen Hehl gemacht. Sie zeigten sich immer dann, wenn sich Akemi in Sicherheit wähnte. Sie ließen sie regelmäßig wissen, wer am längeren Hebel saß. Spurte sie nicht, bedrohten sie das Leben ihrer jüngeren Schwester. Vor einigen Jahren hatte sich Akemi für ein Leben in der Organisation und ein Arbeiten für diese entschieden. Insgeheim ging es ihr aber darum, ihre Schwester zu befreien und ihr ein eigenes Leben zu ermöglichen. Während sie selbst ganz normal aufwuchs, wurde Shiho frühzeitig ins Ausland gebracht und besuchte dort die renommiertesten Schulen und die Universität. Die Organisation hatte früh das Potential ihrer Schwester erkannt und da ihre Eltern Ärzte waren, war es nicht ungewöhnlich, dass auch Shiho in die Wissenschaft gedrängt wurde. Shiho glaubte zwar, dass sie ihr Leben liebte und selbst Entscheidungen treffen konnte, aber die Wahrheit sah ganz anders aus. Die Organisation schwebte über ihnen wie ein Damokles Schwert. Dabei wollte Akemi doch nur eines: Shiho sollte ihr eigenes Leben leben. Was mit ihr selbst war, war egal. Zwar hatte Akemi ihr eigenes Leben bekommen, aber es fühlte sich nicht als solches an. Sie war unvollständig und musste auf jede Handlung achten. Jeder Mensch mit dem sie sich gut verstand und der für die Organisation ein Risiko darstellte, wurde nach und nach aus ihrem Leben eliminiert. Die Organisation ging dabei sehr behutsam vor. Akemi hatte eines gelernt: Jeder, der in der Organisation etwas zu sagen hatte, trug Schwarz. Sie nannte sie zwar insgeheim die Männer in Schwarz, aber sie kannte auch weibliche Mitglieder. Und mit denen war nicht zu spaßen… „Bitte entschuldigen Sie die Verspätung.“ Shuichi setzte sich ihr gegenüber. Akemi sah nach oben. Sie musste sofort lächeln. „Das macht doch nichts. Ich bin auch noch nicht so lange hier“, antwortete sie. Shuichi nahm die Karte und sah rein. „Können Sie etwas empfehlen?“ „Das kommt auf Ihren Geschmack an“, fing sie an. „Der Kaffee und die Sandwiches sind sehr gut.“ Shuichi legte die Karte zur Seite. „Eines muss ich noch Fragen“, sagte er. „Verraten Sie mir Ihren Namen?“ Die junge Frau schmunzelte. „Akemi. Akemi Miyano.“ „Dai Moroboshi“, stellte sich der Agent vor. „Freut mich, Akemi Miyano.“ „Und gehen Sie oft in das Fitnessstudio?“, wollte sie von ihm wissen. „Nicht so oft wie ich sollte. Das Schwimmbad nutze ich noch seltener. Dafür laufe ich hin und wieder draußen und ich trainiere regelmäßig meine Fähigkeiten in Jeet Kune Do.“ „Sie machen Kampfsport?“ „Eigentlich handelt es sich dabei um Selbstverteidigung. Aber im Zweifel kann man das Gelernte auch anwenden um zu kämpfen.“ „Was darf ich Ihnen bringen?“ Der Kellner sah die Beiden an. „Einen Kaffee“, antwortete Akai. Er sah zu Akemi. „Und Sie?“ „Für mich auch.“ Der Kellner verschwand wieder. „Wie kamen Sie zu Jeet Kune Do?“, wollte Akemi wissen. „Ich fing in meiner Jugend damit an“, erzählte der Agent. „Als Waisenkind musste ich schon früh lernen mich zu verteidigen. Und als ich von den Selbstverteidigungsstreitkräften angeworben wurde, konnte ich diese Kampfkunst noch besser trainieren.“ Akemi sah ihn überrascht an. „Oh.“ „Mhm? Alles in Ordnung?“, fragte Akai. „Ich bin kein Schläger, falls Sie das glauben. Ich lass mich einfach nur nicht so schnell unterzukriegen.“ „Nein nein“, sie hob beschwichtigend die Hände. „Das wollte ich damit nicht aussagen. Ich war nur überrascht.“ Was für eine Ironie. Kaum lernte sie jemanden abseits der Organisation kennen und es war jemand, der scheinbar ganz gut in diese hineinpasste. Oder arbeitete er bereits für sie? „Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?“ Akai ließ sichtlich den Kopf hängen. „Mit der Frage hab ich nicht gerechnet“, gestand er. „Ich mach das, was gerade anfällt. Irgendwie habe ich bisher nichts gefunden, wo ich es länger ausgehalten habe. Aktuell fahre ich für eine kleine Supermarkt-Kette Bestellungen aus. Und Sie?“ „Ich arbeite für eine Bank“, antwortete Akemi. „Aber Sie sollten mir dazu keine Fragen stellen. Mein Studium ist gerade einmal ein paar Wochen her und die Stelle habe ich über einen Bekannten bekommen. Jetzt muss ich mich beweisen und alle Abläufe verinnerlichen.“ Shuichi nickte verstehend. „So, Ihre beiden Kaffees.“ Der Kellner stellte die Tassen auf den Tisch. „Kann ich sonst noch etwas bringen?“ „Nein, danke“, kam es zeitgleich von Beiden. Akemi musste daraufhin kichern. Vermouth lag in ihrer Badewanne und nahm einen Schluck aus ihrem Weinglas. Die letzten Tage hatte sie mit Dreharbeiten ihres neuen Films verbracht. Jetzt konnte sie endlich wieder ausspannen und sich anderen Tätigkeiten widmen. Vermouth schloss die Augen und ließ sich langsam nach unten in das Wasser gleiten. Als ihr Handy anfing zu klingeln, seufzte sie auf und richtete sich wieder richtig auf. Sie griff nach dem Handy, welches auf der kleinen Ablage neben der Wanne lag und nahm das Gespräch entgegen. „Ja?“ „Es ist bald wieder so weit.“ Die Schauspielerin verdrehte die Augen. „Ich weiß“, begann sie. Sie musste nicht jedes Jahr daran erinnert werden. „Ich verlass mich auf dich, Vermouth.“ „Natürlich. Wie jedes Jahr“, antwortete sie. Das Gespräch wurde beendet und Vermouth seufzte erneut auf. Es war das gleiche Spiel wie in den letzten Jahren. James Black hatte die Suche nach Jodie offiziell abgeschlossen, setzte allerdings zweimal im Jahr erneut dabei an. Er ging alle Unterlagen und Hinweise ein weiteres Mal durch und suchte neue Spuren. Zu Jodies Geburtstag und zum Todestag ihrer Eltern, welcher gleichzeitig der Tag ihres Verschwindens war, war Vermouth für die Ablenkung zuständig. Sie spielte verschiedene Rollen und führte das FBI an der Nase herum. Und bald würde es wieder soweit sein. Vermouth wusste genau, was sie dieses Mal tun würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)