Die Farbe Grau von Cocos ================================================================================ Kapitel 48: Finis coronat opus ------------------------------ Nagi starrte auf die Tasse in seinen Händen, auf die warme Flüssigkeit dort, die ihn von innen heraus wärmen sollte. Es war ein langer Tag in einem ganzen Kühlareal gewesen, der ihn und den Rest trotz sommerlicher Außentemperaturen völlig unterkühlt zurückgelassen hatte und so war er mit einer Tasse an heißem Tee versorgt worden, dessen Geruch ihm nun die Tränen in die Augen trieb. Die blauen Augen, die ihn stumm und aufmerksam maßen, waren ihm egal, ebenso wie ihm Schuldigs hilfloses Schnauben egal war, das in seinen Gedanken wiederhallte und verebbte. Ein Monat war vergangen, seit sie ihm seinen Anführer genommen und ihn mit nach Österreich genommen hatte. Ein Monat, seit seine Bindung zu Crawford an der schieren Entfernung zwischen ihnen gerissen war und ihn fürchterlich leer und fürchterlich einsam zurückgelassen hatte. Ein Monat und noch immer konkurrierten Hass, Verzweiflung, Wut und Trauer miteinander und ließen ihn betäubt und antriebslos zurück. Natürlich, er erfüllte die ihm gestellten Aufgaben ohne zu zögern. Zusammen mit Schuldig und Jei tilgte er auch die letzten Spuren der Netzwerke von Lasgo und Takatori von der Welt, als hätte es die beiden Männer nie gegeben. Jei, der ohne eine Erklärung, wo er gewesen war und was er getan hatte, plötzlich nach einer Woche wieder in dem Krankenhausbett der Rosenkreuzklinik aufgetaucht war. Nichts war aus ihm herauszubekommen und alle Versuche Schuldigs, mehr als ein Schmunzeln oder nutzlose Einzeiler aus dem Iren herauszubekommen, schlugen fehl. Vermutlich war er auf der Suche nach irgendwelchen Märchen gewesen und dass er sich nach zwei Wochen selbst entließ, wunderte niemanden mehr. So waren sie nun zu dritt in ihrem großen, stillen Anwesen. Nicht, dass es Nagis Einsamkeit auch nur einen Deut besser machte, im Gegenteil. Mit jedem frei bleibenden Essensplatz, mit jedem Tag, an dem Crawfords verlassenes Büro Staub ansetzte oder mit jedem Kleidungsstück des Orakels, das sich im Haus befand, wurde sich Nagi bewusst, was er verloren hatte. Den inzwischen eingetroffenen Umschlag mit der Adoptionsurkunde hatte er immer noch nicht geöffnet. Er wollte nicht Teil einer solchen Familie sein. Er wollte ihr nicht in die Augen sehen oder mit ihr sprechen, in dem Wissen, dass sie ihren eigenen Sohn auf dem Gewissen hatte. Inzwischen hatte Schuldig als vorübergehender Anführer von Schwarz seine Befehle erhalten, die er via Videochat starr und reglos entgegengenommen hatte. Sie hatten zu gehorchen und wenn sie auch nur ein Anzeichen von Befehlsverweigerung zeigten, würden sie entsprechend abgeurteilt und bestraft werden. Was das bedeutete, wussten sie alle, also arbeiteten sie ohne Unterlass an der Eliminierung von Lasgos und Takatoris Gefolgsleuten, bis Schwarz ein neuer Anführer zugeteilt werden würde. Das hatte ihr Schlafpensum in den letzten Tagen und Wochen erheblich verringert. Wenn es allerdings nach Nagi gegangen wäre, hätte er am Liebsten gar nicht mehr geschlafen, denn dann würden ihn auch die Alpträume nicht mehr heimsuchen, die ihn Nacht um Nacht plagten und ihn schweißgebadet aufwachen ließen. Daran änderte auch die Therapeutin nichts, die er zwangsweise aufsuchen musste um mit ihr über das zu sprechen, was ihm passiert war. Sicherlich, die Empathin mochte sympathisch sein, sie mochte Geduld mit ihm haben und ihn nicht für das verurteilen, was er fühlte, doch Nagi hasste sie trotzdem, alleine aus dem Grund, dass sie eine Empathin war. Was für eine Freude würde diese doch haben, wenn sie ihn jetzt so erleben würde, in Tränen aufgelöst wegen eines Tees, der zufällig genau wie der roch, den Crawford ihm damals bei ihrem Kennenlernen gegeben hatte, in dem mittlerweile verbeulten, abgenutzten Thermobecher, den er für sich beansprucht hatte und den er in Crawfords Büro nahm, wann immer er die Gelegenheit dazu hatte, sich dort zu verkriechen und den schwindenden Geruch des Orakels in sich aufzunehmen. In der nutzlosen und bitteren Annahme, dass er dadurch immer noch eine Verbindung zu dem Mann hatte, dessen Erinnerungen und dessen ganzes Wesen nun erloschen waren. Nagi schwenkte den Tee und trank einen kostbaren Schluck, als die Tränen fielen. Die betretene Stille, die daraufhin einsetzte, war ihm herzlich egal. „Wir setzen die Besprechung in meinem Büro fort, Mastermind“, entschied die rothaarige Kritikeragentin und Nagi sah aus dem Augenwinkel, wie Schuldig nickte. Schweigend erhob sich der Telepath und folgte Manx aus dem Besprechungsraum heraus, in dem sie sich bis gerade eben noch befunden hatten. ~Ich bin gleich wieder da, Kleiner.~ Nagi nickte. Seit einem Monat fiel er Schuldig weitaus mehr als sonst zur Last und hinderte den Telepathen daran, nachts durch die Clubs zu tingeln. Schuldig sagte keinen Ton darüber und doch spürte Nagi die Unruhe, die den anderen Mann befallen hatte. Es fehlte ihm sicherlich, sich durch die Gedanken der anderen Menschen treiben zu lassen, während die Musik zu laut und zu basslastig durch den Club dröhnte. Ihm fehlten die Gedanken der anonymen Menschenmassen, die er nach seinem Belieben steuern konnte. Er würde Schuldig gleich darum bitten, dass er ihn alleine ließ und zumindest heute feiern ging, auch wenn seine erneuten Tränen keine guten Erfolgschancen dafür suggerierten. Nagi schluckte den bitteren Kloß seinen Hals hinunter und erschrak sich, als eine Taschentuchpackung über den Tisch schlitterte. Reflexartig hielt er sie mit Hilfe seiner Gabe auf und sah verspätet hoch, in die ruhigen, sorgsam neutral gehalten Gesichtszüge des jüngsten Weiß, der noch bei ihm geblieben war. Nagi fand noch nicht einmal die Kraft, das mit einem beißenden Kommentar zu versehen, so überließ er die Tasse ebenfalls seiner Telekinese und nahm sich eines der Taschentücher, um sich die Nase zu putzen, eine Eigenschaft, die er sich auf von Crawford abgeschaut hatte. Verschämt steckte er das Taschentuch schließlich in seine Hosentasche und widmete sich wieder seinem Tee, den er aus der Luft neben sich pflückte. „Die nächste Mission ist in drei Tagen“, eröffnete Tsukiyono ein Gespräch, das er eigentlich nicht führen wollte, das aber seine Einsamkeit vertrieb, auch wenn es in ihm das bittere Gefühl hinterließ, dass keine Gesellschaft, die er in Anspruch nehmen würde, jemals die von Crawford ersetzen könnte. Das hatte er so seiner Therapeutin auch mitgeteilt und war auf ruhiges Verständnis gestoßen. Natürlich. Nagi nickte verspätet und überlegte sich, ob er irgendetwas wissen oder fragen wollte. Früher hätte er die Gelegenheit genutzt, hatte es sogar getan, als der Weiß traumatisiert vor ihm gelegen hatte. Und nun? Er schluckte. Sein eigenes Interesse am Interesse des Anderen an ihm war so sehr unter seiner Schicht an Bitterkeit vergraben, dass es ihm schwerfiel, eigeninitiativ tätig zu werden. Schließlich fand er jedoch etwas, das er fragen konnte. „Bist zu zufrieden, die kreischenden Mädchen wieder zu haben?“, wollte er zusammenhanglos wissen, als er sich just an eine ihrer Unterhaltungen erinnert hatte, die sie in dem gemeinsamen Anwesen geführt hatten. Es lenkte ihn ab von dem Tee und den damit verknüpften, bitteren Gedankenfetzen. Überrascht zog Tsukiyono die Augenbrauen hoch und setzte sich langsam neben ihn, mit einem Stuhl Sicherheitsabstand zwischen ihnen beiden. Er nickte, dann seufzte er. „Vielleicht sehne ich mich doch nach Ruhe“, gestand der Weiß ein und Nagi schnaubte. „Du meinst, du weißt nicht, was du willst“, korrigierte er. „Vielleicht hätte ich ganz gerne einfach den Mittelweg. Das wäre ein guter Anfang.“ Nagi schwieg. Den Mittelweg hätte er auch gerne gehabt. Etwas, das ihm nicht seinen Adoptivvater nahm. Und da waren sie schon wieder, die Gedanken, die er hatte zurückschieben wollen. Er seufzte, als der Kloß in seinem Hals zu einem Brennen wurde, das seine Augen erreicht. „Hast du schon weiter gespielt?“ Tsukiyono musste nicht fragen, was genau er meinte, schließlich hatten sie ihre gemeinsame Leidenschaft für Konsolenspiele entdeckt und Omi hatte bei einem ihrer letzten Kämpfe gegeneinander erwähnt, dass er das Spiel gerne zu Ende spielen wollte, welches Nagi nun im Sinn hatte. „Noch nicht. Mir fehlt der rechte Antrieb dazu.“ Die Antwort war nicht nur eine Antwort, erkannte Nagi mit den Sekunden, die danach verstrichen. Es war eine Offerte, eine Wegebnung, die er nur annehmen musste, wenn er wollte. „Warum?“, spielte er den Ball zurück in das Feld des Weiß und dieser lächelte. „Mir fehlt jemand, dessen Hintern ich versohlen kann.“ Als wenn. „Nimm Kudou.“ „Spielt keine Konsolenspiele.“ „Hidaka.“ „Fußball und Motorräder, sonst nichts.“ „Fujimiya.“ Tsukiyono prustete, als hätte er etwas besonders Amüsantes gesagt und Nagi fühlte, wie die schwere Bitterkeit Stück für Stück einer Normalität wich, die zwar immer noch schwer zu ertragen war, aber ihn nicht mehr in einen dunklen Abgrund blicken ließ. Aufmerksam maß er den Weiß, der nun in seinen eigenen Gedanken versunken war und anscheinend gedanklich etwas erwog, das ihm verborgen blieb. Erst, als er zu einem Ergebnis gekommen war, sah Tsukiyono wieder auf. „Ich habe eine Konsole zuhause“, sagte er schließlich und noch deutlicher hatte er die Einladung nicht aussprechen können. Trotzdem ließ es Nagi mit den Augen rollen. „Als wenn ich zu dir ins Koneko kommen würde“, schlug er sie aus, aus einem plötzlichen, unangenehm schüchternen Impuls heraus, dass er nicht das Haus des gegnerischen Teams betreten würde. Was an sich vollkommener Unsinn war, da sie zusammengelebt hatten und er darüber hinaus vorher schon im Zimmer des Weiß gewesen war. Was ihm eben jener jetzt auch mit hoch erhobener Augenbraue mitteilte. Nagi grollte. „Das war etwas Anderes!“ „Ja, feindlich motiviert.“ „Ich setze mich sicherlich nicht in euer Wohnzimmer auf die Couch, während die anderen mich anglotzen, als wäre ich ein Außerirdischer.“ Genau das würde nämlich passieren. Er fürchtete, dass die Feindseligkeit nicht wie sonst an ihm abperlen würde in seinem jetzigen Zustand. „Die Konsole steht in meinem Zimmer.“ Nagi wusste nicht, was er mehr hasste. Dass Tsukiyono jedes einzelne seiner Argumente nichtig machte oder dass er allen Ernstes mit dem Gedanken spielte, einen Schwarz bei sich zu haben. „Warum?“, fragte Nagi. Warum machte er das? Warum kümmerte es ihn überhaupt? Warum hielt er sich nicht fern von ihnen, jetzt, da sie nicht mehr zur Zusammenarbeit gezwungen waren? Nonchalant zuckte Tsukiyono mit den Schultern. „Warum nicht?“, erwiderte er in der gleichen Tonlage und erhob sich unter Nagis mentalen Verwünschungen. „Überlege es dir, ich bin heute Abend da. Ich lasse mein Fenster angelehnt, den Weg hinein kennst du ja.“ Nagi öffnete reichlich nutzlos den Mund und schloss ihn erst wieder, als der Weiß ebenfalls den Raum verlassen hatte. Das würde er nicht tun. Das konnte er nicht. Das wäre nicht gangbar, Schuldig würde das sicherlich niemals erlauben. ~Ha. Denkste. Geh spielen, Kleiner~, erhielt er keine Sekunde später die Erlaubnis von eben jenem und zeigte ihm einen mentalen Mittelfinger. ~Einer muss auf Jei aufpassen.~ ~Reden wir über den, der sich eine Woche lang irgendwo herumgetrieben hat ohne ein Blutbad anzurichten? Der kann sicherlich auch einen ganzen Abend alleine mit seinen langweiligen Märchenbüchern verbringen.~ ~Und du?~ ~Ich geh‘ raus~, erwiderte Schuldig wenig überraschend und Nagi seufzte. ~Ich überlege es mir~, entschied er schließlich. Dass Nagi zweieinhalb Stunden später vor dem wie versprochen geöffneten Fenster stand und es soweit aufzog, dass er das viel zu kleine Zimmer betreten konnte, hatte er seiner eigenen Unvernunft zu verdanken, die anscheinend beschlossen hatte, den Kampf gegen seine Verzweiflung aufzunehmen und wenigstens einen Abend lang in den Hintergrund zu schieben, was er verloren hatte. ~~**~~ Schuldig nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas teurem Fusel, stylisch serviert in einer der angesagtesten Locations in Tokyo mit brandneuem Konzept, das sicherlich noch nie dagewesen war und der aktuellen Mode entsprach. Und wie immer, wenn es um solche Bars ging, die, zumindest solange sie attraktiv für Besucher waren, etwas auf sich hielten, lag die Location über den Dächern von Tokyo. Das war mittlerweile schwierig, weil viele Dächer sehr hoch waren, aber anscheinend schafften es die hippen und modernen Barbesitzer immer wieder, Räumlichkeiten zu horrenden Preisen anzumieten und diese dann in noch horrenderen Preisen an die Kunden weiter zu geben. Nicht, dass er auch nur einen Yen zahlen würde, schließlich musste es ja auch Vorteile haben, wenn man Telepath war. Andererseits verursachte er durch sein Trinkverhalten nun auch nicht wirklich einen erheblichen, wirtschaftlichen Schaden. Meistens zumindest nicht. Heute vielleicht schon, denn heute hatte er sturmfrei. Was der Ire machte, interessierte ihn nicht, was Nagi machte, wusste er. Dass Nagi sich in guter Gesellschaft befand, wusste er auch. Zumindest in anständiger, die ihn nicht einfach so befummeln würde. Nicht, dass Nagi sich dessen nicht erwehren können würde. Aber man wusste ja nie und als Teamführer war er für seinen Telekineten verantwortlich. Nicht, dass er das wollte. Früher, ja. Früher hatte er sich danach gesehnt, sein eigenes Team zu führen und als er wütend auf Crawford gewesen war, hatte er sich nichts anderes gewünscht, als dass dieser nach Österreich fliegen und ihm Schwarz überlassen würde. Wie ironisch und bitter, wenn er bedachte, dass er sich nun nichts mehr als das Gegenteil wünschte. Schuldig nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas an irgendetwas, von dem er nicht einmal mehr genau wusste, was oder das Wievielte es war. Es brauchte einiges, bis seine Alkoholtoleranzschwelle sich meldete und ihm sagte, dass er langsam aufhören sollte zu trinken und heute Abend war er gut dabei, sie rekordverdächtig zu überschreiten. Vor zwei Wochen hatte Nagi wegen des Teegeruchs geweint, der ihn an Brad erinnerte. Er hatte in der Gegenwart der Kritikeragenten geweint, was so ungeheuerlich wie schlimm war. Es hatte Schuldig das Herz gebrochen, auch wenn er sich das mitnichten hatte ansehen lassen. Tag um Tag musste er stark sein für den Jungen und auch für Jei, der keine Schwäche seinerseits akzeptieren würde. Schuldig schnaubte. Er kämpfte jeden Tag mit Brads Verlust, mit der Leere in sich und dem bitteren Gefühl, von Rosenkreuz im Stich gelassen worden zu sein. Jeden Tag stellte er sich die Frage, ob sie etwas anders hätten machen können um all das zu verhindern. Jeden Tag fühlte er sich verloren im Angesicht seiner Verantwortung und der erdrückenden Last der verstärkten Kontrolle, unter der sie nun alle standen. Doch nicht heute Abend. Gerade heute Abend nicht nach der Nachricht, die über ihr internes Mailsystem vor zwei Stunden bei ihm eingetrudelt war. Hier und jetzt gab er vollständig und freiwillig die Kontrolle ab, in dem er Drink um Drink in sich hineinschüttete. Er hatte sich eine wohlversteckte Ecke ausgesucht, von der er aus die übrigen, anwesenden Hippster beobachten konnte, visuell und mental. Dass er an diesem Abend einen Bonus oben drauf bekam, hatte er einzig und alleine dem Schicksal zu verdanken, mutmaßte Schuldig, als er des ältesten Weiß ansichtig wurde, der sich aufgedonnert und aufgehübscht unter die Leute mischte und alles anflirtete, was bei drei nicht auf den Bäumen war. Da es hier keine Bäume gab, hatte er natürlich eine entsprechend große Auswahl und so war sein Weg lang und beschwerlich. Schuldig grinste, als Kudou nach einer Stunde mit einer Frau „kurz um die Ecke“ verschwand. Hinein in ein stilles Kämmerlein, ein kleiner, schneller Quickie zur Befriedigung seines Sexualtriebes. Kondom drüber, Schwanz rein, wieder raus, das Ganze von vorne, beiderseitiger Orgasmus, Kondom weg… und das Saubermachen und Wegpacken nicht vergessen. So kommentierte zumindest Schuldig innerlich den Softporno, den er durch die Augen, Gedanken und Emotionen der Frau gerade miterlebt hatte. Zugegeben, Kudou roch ziemlich gut und seine Hüftarbeit konnte sich auch spüren lassen. Die Gedanken des Weiß an sich waren bedauerlicherweise eher langweilig. Die Frau war Mittel zum Zweck, nicht mehr. Er behandelte sie gut und respektierte sie, aber sonst war da nichts, was Schuldig lange bei ihm bleiben ließ. Er seufzte. Schneller, als es ihm lieb war, war das Spektakel vorbei und er widmete sich den sonstigen Dramen, die sich in einem solchen Etablissement für gewöhnlich vor ihm auftaten. Eifersuchtsdramen, Einsamkeitsdramen, Liebesdramen, Drogendramen, Berufsängstedramen, Widerwilligkeitsdramen… allesamt wunderschön. Diejenigen, die schlichtes pures Glück verstreuten, mied er. Das war ätzend, heute noch mehr als sonst. So trank und trank er, bis sein Kopf sich angenehm wattiert anfühlte und er das Gefühl hatte, dass ihn der wummernde Bass der Jazz-Dubsteb-Club-House-Kakophonie in andere Höhen trieb und ihn in eine weit entrückte Trance versetzte. Hier und jetzt spürte er die Leichtigkeit, nach der er sich so sehr gesehnt hatte und glücklich grinste Schuldig. Hier war die Welt noch in Ordnung, hier konnte er sich einbilden, dass er nicht einen großen, stabilen Teil seines Lebens verloren hatte. Und dass er nicht in drei Wochen einen neuen Anführer erhalten würde, wie es die zuständige Abteilung bei Rosenkreuz ihm heute Nachmittag mitgeteilt hatte. Die Arschlöcher. Zwei Monate hatten sie nur gebraucht, um ihren vielversprechendsten Präkognitiven zu ersetzen. Läppische zwei Monate, nachdem sie ihn neutralisiert hatten. Schuldig schnaubte. Die Anweisungen, die mit der neuen Bestellung einhergingen, waren eindeutig gewesen. Bedingungsloser Gehorsam zum Wohl ihrer Organisation, ein detailliertes und ausführliches Berichtswesen und regelmäßige Meetings mit den entsprechenden, fachlichen Abteilungen im Mutterhaus in Wien. Und keine verschleiernden Eskapaden mehr. Wer kommen würde, darüber hatten sie sich nicht ausgelassen, nur dass sie denjenigen oder diejenige erkennen würden. Wie auch nicht, mit ihm als Telepathen im Team? Schuldig schnaubte und stürzte sich den Rest seines Getränkes den Rachen hinunter. Er hätte sich mehr Brennen gewünscht, mehr Schmerz, der damit einherging, wurde jedoch bitter enttäuscht. Allerdings sorgte der Alkohol auch langsam dafür, dass er die Kontrolle über seine Gabe verlor und das war ein letzter Akt der Rebellion, den er sich gönnte. Natürlich würde ihr neuer Anführer sie pedantisch kontrollieren. Noch pedantischer als der Alte. Kudou hatte sich nun einem Mann zugewandt und Schuldig fragte sich allen Ernstes, wie viele Bettpartner der Weiß sich pro Woche genehmigte. Dass er sich in der gleichen Ecke befand wie vorher, war da nur ein ironisches Detail der absoluten Austauschbarkeit mehr. Der Mann hatte sich vor ihm auf die Knie begeben und schien einen Heidenspaß daran zu haben, sich Kudous Schwanz so tief in den Rachen zu stecken, dass er beinahe daran würgte. Für einen Moment ließ sich Schuldig von der Lust treiben, bevor ihm unwillkommene Erinnerungen aus Brads Gedanken überkamen, die sich für immer in seine gebrannt hatten; an einen Schwanz aus Glas und schlussendlich auch aus Fleisch und Blut, der sich so tief in seinen Rachen gesteckt hatte, dass es ihn beinahe erstickt hatte. Schneller als es ihm lieb war, hatte sich Schuldig aus den Gedanken des Mannes verabschiedet und würgte erstickt. Hustend beugte er sich über den Tisch und schloss frustriert die Augen, was nichts brachte, da hinter seinen Augenlidern die Bilder tanzten, die er aus Brad Gedanken entnommen hatte. Tränen des längst vergangenen Schmerzes quollen auf und wütend blinzelte Schuldig sie weg. Es waren nicht seine Tränen gewesen, ebenso wenig wie es sein Rachen war, der sich angefühlt hatte, als würde er unter dem erzwungenen Druck nachgeben und reißen. Wider besseren Wissens sandte Schuldig seine Gabe aus um nach Brad zu suchen und langte, wie so oft in der letzten Zeit ins Nichts. Natürlich. Brad war schon lange nicht mehr in Tokyo, geschweige denn in Japan und selbst wenn er in seiner Nähe wäre, würde er die Ansammlung an Zellen nicht mit bewussten Gedanken erreichen. Nach dem jetzigen Stand lebten neutralisierte PSI noch zehn Jahre, bevor der Körper aufgab, der über keinen Geist verfügte, der ihn antrieb. Schuldig musste schon etwas länger auf den Boden vor sich starren, befand er, als er mit einem Mal ein paar teure Anzugschuhe vor sich sah, die er im ersten Moment für Brads hielt. Abrupt ruckte sein Blick hoch und begegnete bekannten Augen, die jedoch nicht zu seinem Anführer gehörten. Das an sich war eine Enttäuschung, die er sich nicht eingestehen wollte und so grollte er unerfreut. „Verpiss dich“, fuhr er den Mann an, dessen intimste Gedanken er vor Minuten…Stunden… besucht hatte. Er hatte keine Lust auf die Sorge, die er in den Augen des Weiß las und die sich auch in dessen kruden Hirngängen wiederfand. Er hatte keine Lust, dass dieser ihn auf Dinge ansprach, die er selbst nicht veräußern konnte, weil sie ihm immer noch die Kehle zuschnürten. Es reichte, wenn einer von ihnen beiden in Gegenwart von Kritiker heulte und das musste nicht zwangsläufig er sein. Als wenn Kudou auch nur einmal tun würde, was man ihm sagte. „Was machst du hier?“, fragte der Weiß, im Versuch, eine Unterhaltung zu führen. Schuldig rollte mit den Augen, was nicht wirklich eine gute Idee war angesichts der Tatsache, dass sein Sichtfeld sowieso schon waberte und nun ernsthaft ins Schwanken geriet. „Spaß haben“, grollte er entsprechend verschwommen, was anscheinend eine Einladung war, dass sich derjenige, der gerade seinen Schwanz gelutscht bekommen hatte, neben ihm niederließ und ihn aufmerksam musterte. „Das sieht nicht so aus.“ Scheiß aufmerksamer Privatdetektiv. „Ich ficke mich schließlich auch nicht durch den Club.“ Ups. Hatte er so nicht sagen wollen, er und sein loses Mundwerk. Der Weiß brauchte nicht auch noch die Bestätigung, dass er wirklich ein Interesse an seinen Tätigkeiten zeigte. Tatsächlich hatte Kudou den Anstand, ihm genau das nicht mit Worten aufzudrängen, sehr wohl aber mit Gedanken. Doch die konnte Schuldig wunderbar ausblenden. „Du bist betrunken.“ „Ach?“ Schuldig musste die Augen schließen, als er das Gefühl hatte, dass sich die Welt immer schneller drehte. Aufstöhnend ließ er sich zurückfallen und presste einen Unterarm auf seine Augen. „Soll ich dir ein Taxi rufen?“ Was war Kudou? Seine sicherlich schon lange tote Mutter? Das konnte er auch noch alleine. „Geh weg“, wiederholte er, dieses Mal jedoch mit weitaus weniger Gift in der Stimme. Nicht, weil er es nicht wollte, oh nein. „Soll ich Naoe anrufen?“ „Der ist nicht da, hat ein Date oder wie man das heutzutage so nennt.“ Mit Tsukiyono mal wieder. Das dritte Mal nun. Mal sehen, was ihr neuer Anführer zu dieser Art Verbindung sagte. Vermutlich nichts Positives. Aber gut…nicht sein Bier. Auch nichts Kudous. „Farfarello?“ „Vielleicht, wenn ich mir die Seiten eines ollen Märchenbuches auf den Körper klebe.“ Schuldig lachte. Mal sehen, wie ihr neuer Anführer mit dem Iren fertig wurde. „Na komm, ich nehme dich mit.“ Schuldig hatte nicht die Muße und auch nicht die Kraft, Kudou ungläubig in die Augen zu sehen, also blieb er genau da, wo er jetzt war. Dass das den sturen Bock nicht interessierte, erkannte er spätestens jetzt, als dieser seine Hände tatsächlich in den Kuhlen zwischen Armen und Körper vergrub und ihn hochziehen wollte. ~Was tust du da?~, zischte Schuldig mangels möglicher, verbaler Artikulation. Wie ein nasser Sack hing er im Griff des Weiß, der ihn tatsächlich auf die Füße brachte und sich seinen Arm um die Schultern legte. „Hast du schon bezahlt?“, fragte er und Schuldig grollte verneinend. ~Habe nichts getrunken.~ „Ist klar. Der Tisch sagt mir das etwas Anderes.“ „Zahle nie. Hab keine Clubkarte.“ Natürlich brauchte es noch ein paar Momente, bis Kudou kapierte, was er meinte und dann herzhaft lachte. ~Na dann bring uns hier mal schön telepathisch raus, du zechprellender Telepath.~ Schuldig gab sich größte Mühe, auch wenn das dem Angestellten des Clubs, ihm und Kudou unnötige Kopfschmerzen bereitete. Zu mehr war er aber gerade nicht mehr in der Lage und so ließ er sich mitschleifen, was an sich eigentlich eine schöne Sache war, befand er. Die Kraft, sich selbst aufrecht zu erhalten, hatte er nicht mehr und so gab es jemanden an seiner Seite, auf den er sich stützen konnte. Kudou würde ihn nicht umbringen und er wusste auch um die Notwendigkeit ihrer Geheimhaltung, also konnte er sich darauf verlassen, dass er irgendwo ankam, wo er sich hinlegen und schlafen konnte. Was es doch für ein Fortschritt war. Vor einem Jahr wäre er genau für diese Sorglosigkeit in einem der Labore in Korea gelandet. Mit Sicherheit. Und nun… nun würde er mitgehen und schlafen, bis all der ihn taub machende Alkohol verschwand und nur noch Bitterkeit und Verlust zurücklassen würde. Sie fuhren irgendwohin, dann liefen sie wieder, auch wenn, so hatte Schuldig das Gefühl, das nur von kurzer Dauer war, bevor ihn die Wärme eines Hauses erschlug und er dazu genötigt wurde, sich auf irgendeine, weiche Unterlage zu setzen, die durchgesessen war und muffig roch. Blinzelnd sah er sich um und tauchte kurz in Kudous Gedanken ab, um eine Orientierung zu gewinnen, wo er sich befand. Das Ergebnis dessen hätte ihn in all seiner Ironie auflachen lassen müssen, tat es aber nicht. Er war müde und hier konnte er bleiben. Das reichte fürs Erste. Noch während er sich ein ebenso muffiges Kissen griff, legte ihm der Weiß anscheinend eine Decke über den Körper. Sicher war er sich da aber nicht mehr, während ihn der Schlaf seines Bewusstseins beraubte und jedwede Worte von Kudou schluckte. Dass sich die Tür öffnete, während er am nächsten Morgen in gleißender Helligkeit mit zusammengekniffenen Augen in dem mühsam gefundenen Badezimmer stand und den Inhalt seiner Blase in die Toilettenschüssel entleerte, und einen erschrockenen Tsukiyono entblößte, barg ebenfalls eine gewisse Art der Ironie. Insbesondere auch gerade deswegen, da das Entsetzen des Weiß, einen Schwarz mit heruntergelassener Hose in seinem Badezimmer zu haben, doch reichlich bigott war angesichts der Tatsache, dass der andere Schwarz, den er sich freiwillig ins Haus geholt hatte, vor fünf Stunden eben jenes verlassen hatte. Unter den wild durcheinander laufenden Gedanken des Taktikers spülte er die gesammelten Alkoholreste des gestrigen Abends hinunter, zog sich ächzend seine Hose wieder hoch und wusch sich in aller Seelenruhe die Hände. Als sich die Gedanken zu einer zusammenhängenden Frage formulierten, stand er bereits schon vor Tsukiyono, der mit weit aufgerissenen Augen zu ihm hochsah. „Was tust du hier?“, entkam es ihm reichlich perplex und Schuldig starrte auf ihn hinunter. ~Pinkeln.~ Tsukiyono zuckte zusammen, als hätte er noch nie telepathischen Kontakt gehabt und Schuldig nutzte die Gelegenheit um an Tsukiyono vorbei zu treten und das enge, lebensgefährliche Ding, was die Japaner Treppe nannten, wieder hinunter und raus zu gehen in den Frühherbst, der erstaunlich kühl war. Während er die Gelegenheit nutzte und zumindest ein paar Häuserblöcke spazieren ging, begleitete Schuldig die Frage des jüngsten Weiß, ob er das wirklich gerade geträumt hatte, weil er sich viel zu oft in der letzten Zeit mit Naoe abgegeben hatte. ~Nö. Ich war da. Soll ich es dir nochmal zeigen?~, gab sich Schuldig entsprechend hilfreich, auch wenn das überhaupt nicht gewürdigt wurde. Pft. Er lief bis zu Brads altem Café und ließ sich von dem Besitzer einen Kaffee machen, bevor er Nagi weckte und dem Jungen seinen Standort mitteilte, damit dieser ihn abholen konnte. ~~**~~ Aya hatte das Gefühl, dass der Tag nicht mehr abstruser werden konnte. Schuldig in ihrem Badezimmer war auf der Hitliste ganz weit oben gewesen, eigentlich nur noch getoppt von Schuldigs Couchsurfing, das dieser anscheinend auf Youjis Zutun hin betrieben hatte. Die Erklärung, die ihr Ältester dafür hatte, dass er ausgerechnet den Telepathen in ihr Haus geholt hatte, war zwar abenteuerlich, aber leider glaubhaft. Schuldig hatte an einem sicheren Platz seinen Rausch ausschlafen sollen. Besser das, als wenn der völlig weggetretene Telepath in seinem Suff jemanden auf ihn, seine Organisation oder seine Tätigkeit aufmerksam machte. Aus einem objektiven Standpunkt heraus war es also logisch. Das Mitleid, was er mit Omi empfand, stand da allerdings auf einem anderen Blatt. Ausgerechnet ihr Jüngster hatte natürlich dem Telepathen begegnen müssen. Aya war zunächst von einem schlechten Traum ausgegangen, als Omi bei ihm am Bett gestanden und ihn aufgeweckt hatte, das Gesicht bleich und die Augen groß. ‚Schuldig ist in unserem Badezimmer‘ hatte bei Aya zunächst ein beruhigendes Lächeln ausgelöst, in dem Glauben, dass das sicherlich nicht der Realität entsprechen konnte. Sacht hatte er nach der Hand seines Freundes greifen wollen, was dieser mit einem Grollen abgewehrt hatte. Es hatte doch etwas gebraucht, bis Aya Omi das geglaubt hatte und erst nach Youjis erklärender Erläuterung hatte sich das Mysterium des couchsurfenden Telepathen aufgeklärt. Dass seitdem das Verhältnis zwischen Omi und Youji ein wenig angespannt war, hatte Aya nicht wirklich überrascht. Als Manx nachmittags zu ihnen kam, erkannte Aya jedoch, dass der Tag wirklich noch abstruser werden konnte. „Urlaub?“, fragte er ungläubig und ihr wenig erfreuter Blick teilte ihm mit, dass sie ihr generöses Angebot sicherlich nicht noch einmal wiederholen würde, wenn noch jemand von ihnen ungläubig, dumm oder anscheinend plötzlich taub nachfragte. Aya räusperte sich und sah auf den Stapel an Blättern vor sich, den jeder von ihnen erhalten hatte. Eine Gehaltserhöhung und zwei Monate Urlaub ab morgen. Nun war er es, der sich fragte, ob er noch träumte, doch anscheinend war das alles nur zu real und hinter der unerfreuten Miene ihrer Koordinatorin schimmerte so etwas wie kurze, knappe Zuneigung, redete sich Aya zumindest ein. „Die letzten Monate waren stressig und harsch. Ihr seid über euch hinausgewachsen und habt eure Aufgaben zu unserer vollsten Zufriedenheit erfüllt, mehr als das. Ihr habt Japan die Chance auf einen Frieden gegeben, der vorher nicht möglich gewesen wäre. Dafür möchten wir euch danken und euch die Möglichkeit geben, zur Ruhe zu kommen und das Geschehene passieren zu lassen. Zudem möchte sich Perser erkenntlich zeigen, indem er die Vergütung für eure Dienste um fünfzehn Prozent erhöht.“ Aya freute sich über Kens Strahlen, Youjis Grinsen und Omis erleichtertes Schmunzeln. Er freute sich über die freie Zeit, die sie nun zur Verfügung hatten und über das Mehr an Geld, das er nicht wirklich brauchte. Er wusste nicht genau warum, aber das verstärkte die Trostlosigkeit, die ihn seit ihrer Rückkehr zum Koneko fest im Griff hielt, nur noch. Takatori war besiegt, so fehlte sein Motor. Die Missionen der letzten Wochen, die sie durch ganz Tokyo geschickt hatten, forderten ihn zwar, waren aber derart inhaltslos, dass er sich fragte, ob er jemals wieder den Antrieb haben würde, das Böse von der Welt zu tilgen. Selbst mit mehr Blutgeld. Sie unternahmen mehr miteinander als vorher, saßen abends oft zusammen, sahen einen Film oder unterhielten sich. Sie waren enger und vertrauter, mehr Team als vorher. Trotzdem schien Aya etwas zu fehlen und an jenen Morgen, in denen er aufwachte und die Traumbilder von Crawford sich in den Sonnenstrahlen verloren, wusste er auch, was es war. Vielmehr wer. Er vermisste den trockenen, bösen Humor des Orakels, er vermisste dessen Präsenz in seiner Nähe und wenn er es sich ehrlich eingestand dann vermisste er auch die Intimität zwischen ihnen beiden. Vielleicht waren zwei Monate Urlaub gut um endlich zur Ruhe zu kommen und sich nicht jeden Tag zu fragen, was sie hätten anders machen können. Er seufzte innerlich und begegnete Manx Blick, der wissend auf ihm lag. Viel zu wissend nach seinem Geschmack. Keine Sekunde lang nahm er an, dass Persers rechte Hand nicht wusste, dass da mehr gewesen war zwischen Crawford und ihm. Sie schwieg dazu, hatte ihn jedoch auch noch nicht von Weiß abgezogen, also schien es für sie noch nicht so wichtig zu sein, dass sie handeln musste. Er konnte damit leben und, wie es ihm eine bittere Stimme mitteilte, würde es sich auch nie wieder ergeben. Schuldig würde er noch nicht einmal mit der Kneifzange anfassen und Telekinet war ihm bei weitem zu jung. Über den Iren des Teams wollte er noch nicht einmal nachdenken. „Ihr habt euch die Auszeit wirklich verdient und braucht sie auch“, wiederholte Manx uncharakteristisch sanft und fixierte im Speziellen Omi und ihn. Aya nickte bestätigend und ließ seine Gedanken schweifen. Er würde sich den Abstand nehmen und zum Haus seiner Eltern fahren. Aya kam ein Gedanke, der ihn schnauben ließ, als er sich an den Anblick des Orakels erinnerte, wie er dort auf der Veranda saß, neben sich eine Tasse billigen Kaffees und eine aufgerissene Packung an Fast Food, die Aya an einer Tankstelle für ihn gekauft hatte. Nach allem, was bei Lasgo passiert war, war das ein Moment des Friedens und der Stärke gewesen, den er immer noch glasklar vor sich hatte. Ebenso glasklar, wie Crawfords Blick auf seinen Garten und seine spöttischen Kommentare zu dem verwahrlosten Zustand Wochen später. Posthum würde er es dem Orakel zeigen, dass er doch in der Lage war, den Urwald, der aus dem Garten seiner Eltern entstanden war, zu bezwingen und etwas Ordentliches daraus zu machen. ~~**~~ Schuldig mochte Flughäfen per se schon nicht, weil er das Fliegen verabscheute und die überfüllten, hohen Hallen ihm immer wieder wie ein pervertiertes Vorspiel zu einem weitaus schlimmeren Hauptgang vorkamen. Die Menschenmassen um ihn herum forderten seine Gabe genauso heraus wie ein Besuch in Tokyos Mitte und das machte es schwer, über Stunden die Kontrolle zu behalten. Dass sie natürlich schon Stunden vor der Ankunft ihres neuen Anführers am Flughafen verbrachten, war unumgänglich und notwendig, falls dieser früher kam. Ihn stehen zu lassen, würde drakonische Strafen nach sich ziehen und darauf hatte Schuldig wirklich keine Lust. Der Tag hatte schon mit der schlaflosen Nacht scheiße begonnen. Der Morgen war scheiße gewesen, weil niemand von ihnen die rechte Lust gefunden hatte, Frühstück zu machen. Die Fahrt hierhin war scheiße gewesen, ein Stau nach dem anderen. Der Weg zum Ankunftsbereich war scheiße gewesen und nun warteten sie hier. Nagi war in sein Handy vertieft und mit einem kurzen Blick auf den Bildschirm erkannte Schuldig, dass er gerade nach einem neuen Konsolenspiel suchte, dass er mit dem Weiß spielen konnte in der Hoffnung, dass sein neuer Teamführer es ihm nicht verbieten würde. Jeis Gedanken waren das übliche Chaos. Schuldig runzelte die Stirn, als er sich zu erinnern versuchte, wann der vernarbte Mann das letzte Mal den Mund aufgemacht hatte. Es musste vor einer Woche gewesen sein. Beinahe schon hatte er erwartet, dass sich der Ire am heutigen Tag verpisst hätte, doch nein, anscheinend war er neugierig genug, sich seinen neuen Anführer anzusehen. Schuldig selbst war schlecht vor Wut. Ihre Organisation hatte es nicht für nötig gehalten, ihn darüber zu informieren, wer Brad nachfolgen würde. Lediglich die Flugdaten hatten sie ihm geschickt, ohne Namen und Akte. Sie würden den neuen Anführer erkennen. Natürlich. Ein erster Test. Fick den Test, grollte Schuldig innerlich und bohrte seinen Blick auf die schwarze Anzeigetafel mit dem regenbogenfarbenen Schriftzug der ankommenden Flieger. Der aus Wien stand bereits dort und rutschte mit unaufhaltsamer Finalität nach links, bis er schließlich als gelandet angezeigt wurde und Schuldigs Puls um ein Vielfaches höher trieb. Als er den Blick auf die kunstvoll arrangierten, mannshohen Blumen nicht mehr ertrug, die ihn sowieso nur an Brads Faible für Pflanzen erinnerten, bohrte er ihn in das blankpolierte, grauweiße Linoleum. ~Schuldig.~ Fragend sah er ihren Jüngsten an, der seinen Kopf knapp nach vorne ruckte. Direkt auf Thomas, wie Schuldig nun sah, der mit einem Jungen durch die Türen trat, der Schuldig wohl bekannt vorkam. Er hatte ihn in Brads Gedanken gesehen, den Jungen, den blonden Engel mit dem Lächeln. Den Puppenspieler. Das war der gottverdammte Puppenspieler, dem er hier gegenüberstand und der anscheinend nun sein neuer Anführer wurde. Ihr neuer Anführer. Rosenkreuz setzte ihnen ein verficktes Blag vor, das seinen Anführer neutralisiert hatte. So gut konnten Schuldigs Barrieren gar nicht sein, dass er nun den Hass zurückhielt, der sich seinen Weg in ihm hochfraß, während er Thomas und das Arschlochkind näherkommen sah. Immer und immer näher, bis sie schließlich vor ihnen standen und die überhebliche, kalte Mimik des blonden Teufels ihm unerträglich schien. Wortlos starrte Schuldig auf den Jungen hinunter, bevor er sich besann, es Nagi gleichtat und den Kopf neigte. Unbewegt und arrogant beobachtete der Puppenspieler sein Tun und schnaubte schließlich unhörbar. „Das ist also der Rest von Schwarz, Thomas. Ich hoffe doch sehr, dass es noch Verbesserungspotenzial gibt“, sagte er ohne den Assistenten der Dame des Hauses anzusehen und trat vor. „Schuldig, Naoe, mein Name ist Jean. Rosenkreuz hat mich damit beauftragt, das Team zu neuer Größe zu führen, nachdem es vorher Friktionen und Liderlichkeiten gegeben hat.“ Verachtung tränkte die mit heller Stimme ausgesprochenen Worte und Schuldig ballte die Hände in seinen Hosentaschen zu schmerzhaften Fäusten. Wie alt war das Blag? Vierzehn? Was qualifizierte einen arroganten Bengel dazu, sein Team zu führen? Nichts, befand er, verbeugte sich aber noch tiefer. „Unsere Auftraggeber wünschen, dass die zukünftigen Missionen zu ihrer bestmöglichen Zufriedenheit erledigt werden.“ Das war früher auch der Fall gewesen, du dummes Kind, schleuderte er dem Jungen entgegen, der ihn mit unverhohlener Herabsetzung musterte. Brad könnte es um Längen besser als du, wenn du ihn nicht seines bewussten Denkens beraubt hättest. Schuldig schluckte gegen den Hass an, der seinen Mageninhalt nach oben schicken wollte. „Sehr wohl“, presste er hervor und der Junge schnaubte. „Und dazu gehört auch…“ „…dass du auf deinen Rücken aufpasst, Mastermind. Kaum bin ich nicht anwesend, schon wirst du nachlässig.“ Schuldig blinzelte ob der anderen Stimme, die sicherlich nicht dem Puppenspieler gehörte, aber dennoch dessen Satz beendet hatte. Sie war hinter ihm erklungen und war tiefer, erwachsener. Leichtes Amüsement tränkte die Worte, die leicht genug ausgesprochen worden waren, um ein Scherz zu sein. Ein wirklich wirklich wirklich schlechter Scherz. Doch das war es nicht, was Schuldig hochschießen und herumfahren ließ. Nein. Er kannte diese Stimme schon seit Jahren, er hatte sie gehasst, gefürchtet, geliebt, vermisst, er hatte gelacht, geflucht, verflucht…alles hatte er aufgrund dieser Stimme. Um Worte und Gedanken verlegen blinzelte er und konzentrierte sich erst einmal auf das Äußerliche. Dunkelblauer Dreiteiler mit Weste und hellblauer Krawatte, natürlich perfekt und faltenfrei, als hätte er nicht einen Tag lang im Flugzeug gesessen. Die Haare waren geordnet, nichts war durcheinander, dafür gab es umso mehr Urlaubsbräune und die Brille war neu. Die Hände in den Hosentaschen aber nicht. Die cognacfarbenen Hosenschuhe passten eins zu eins zum Gürtel und fanden sich ebenfalls in den Augen wieder. Das gottverdammte Lächeln auf den schmalen Lippen hatte er vor Monaten das letzte Mal gesehen. Vor zwei Monaten, einer Woche und einem Tag. ~…Brad…?~, fragte Schuldig in Gedanken, weil er seine Stimmbänder partout nicht davon überzeugen konnte, ihm zu gehorchen. Ein Trost war, dass es Nagi genauso ging, der wie eine Salzsäule an seiner Seite stand und das Orakel von Schwarz, Bradley Crawford, Präkognitiver und Kronprinz, stumm musterte. „Ja?“, erwiderte eben jener fragend und die Belustigung in dessen Augen war weit davon entfernt, einer leblosen Marionette zu gleichen. Weit. „Brad?“, krächzte Schuldig noch einmal und trat einen Schritt auf seinen Anführer zu, der seine Augenbraue in einer eindeutigen Aufforderung hob. „Du… bist nicht…neutralisiert?“ „Nein.“ Noch ein Schritt. „Du…bist du…?“ „Ja.“ Noch einer. „Du bist wieder da?“ „Ja.“ Ein weiterer Schritt. „Als unser Anführer…?“ Brads Lächeln war noch nie so ehrlich, so willkommen heißend und offen gewesen wie jetzt, zu diesem Zeitpunkt. Er nahm seine Hände aus den Taschen und Schuldig deutete das als Zeichen dafür, dass er den anderen Mann in seine Arme zerren konnte. „Als euer Anführer, das Orakel von Schwarz“, bestätigte Brad und Schuldig presste ihn so eng an sich, dass aber auch gar nichts zwischen sie passte. So rein gar nichts. Schuldig konnte nicht anders als den Rücken des Mannes vor ihm zu betatschen, dann den Nacken, die Haare, die Schultern, die Oberarme, selbst das Gesicht war vor seinen Händen nicht sicher, als er sich davon überzeugte, dass Brad Crawford echt war, vor ihm stand, ihn anlächelte und es tatsächlich wahr war. Und doch war es nicht seine alleinige Aufgabe und sein ausschließliches Recht. Nagi stand immer noch dort, wo er vorher auch gestanden hatte, das Gesicht schlohweiß, die Wangen feucht von den stummen Tränen, die er hier vergoss. „Komm her, Kleiner“, lockte Schuldig ihn und es brauchte vier Schritte, bis Nagi sich mit einem Aufheulen Crawford in die Arme warf und Schuldig ihn mit einer neuerlichen Umarmung an seinen Adoptivvater drückte, ein Umarmungsknäuel bildend. „Du bist zurück“, wisperte Nagi beinahe unhörbar zwischen seinen Schluchzern. „Du bist wieder da, du bist zurück! Du bist nicht neutralisiert, du bist wieder da! Du bist zurück!“ In einer Tour, immer und immer wieder und gemeinsam zerstörten sie mit Leichtigkeit die perfekte Ordnung von Crawfords Kleidung. „Du präkognitiver Scheißkerl, du!“, fluchte Schuldig, als er die Worte und die Kraft dazu fand und Brad lachte amüsiert. „Klingt nach mir.“ Eine Hand, die eindeutig seinem Anführer gehörte, umfasste seine Wange, während Brad Nagis Schopf küsste und die Schluchzer ihres Kleinen sich an seiner Weste brachen. Schuldig blendete alle Anderen aus, die an ihm vorbeiströmten und Menschen in Empfang nahmen. Er fixierte sich lediglich auf Brad, auf Nagi, auf ihr Team, das wieder vollständig war. Eine Ewigkeit genoss er die Nähe der beiden, genoss die schwere Anwesenheit von Jeis Gedanken neben ihnen, der das ganze Spektakel in gleichen Teilen mit Wohlwollen wie auch mit Abstand betrachtete. Wie lange sie hier standen, wusste er nicht. Was Thomas und der Puppenspieler hier machten, ebenfalls nicht. Noch war es egal. Erst, als Brad sich mit einem Seufzen aufrichtete, Nagi die Strähnen aus den Augen strich und ihm zunickte, schenkte er dem Puppenspieler, der unweit von ihnen stand, überhaupt wieder Beachtung. Das junge Gesicht strahlte sie alle breit grinsend an und Schuldig hob die Augenbrauen, als der Rotzlöffel unruhig von einem Fuß auf den anderen trat und Brad dabei mit einem nach Zustimmung heischendem Blick ansah. „Habe ich das richtig gemacht, Crawford-chan?“, fragte er mit vor Freude geröteten Wangen und Schuldig glaubte, nicht richtig zu hören. Ungläubig weiteten sich seine Augen und er hob fragend seine Augenbrauen. Sehr langsam drehte er seinen Kopf zu Crawford-chan und wiederholte stumm die vertraute Anrede. Nagi war da nicht besser, nur starrte er den Jungen an, als hätte dieser den Verstand verloren. Selbst Thomas räusperte sich. Mit jeder Sekunde des Schweigens kroch mehr Unsicherheit über das gerötete Gesicht und hilfesuchend wanderten die grünen Augen des Jungen schließlich umher. „Ich…ähm… war das falsch….?“, fragte er und schneller als Schuldig den Emotionswechsel nachvollziehen konnte, stand Verzweiflung auf dem nun knallroten Gesicht. Nervös knetete der Junge seine Lippe zwischen den Zähnen, bis Brad seufzte. „Crawford-san“, korrigierte er und Thomas räusperte sich erneut. Tadelnd ruhte sein Blick auf dem Orakel. „Crawford-sama, Jean. Chan ist die Anrede für jemanden sehr Vertrautes“, korrigierte der blonde Hüne seinen Anführer und Schuldig musterte den ernsten Hünen stirnrunzelnd. Die Finalität, mit der dieser die Anrede korrigiert hatte, sprach schon wieder von etwas, das ihm entging. Doch das hob sich Schuldig für später auf. Lieber genoss er gerade das sich Winden des PSI vor ihnen. „EstutmirleidestutmirleidestutmirleidichbitteumVerzeihungohmeinGott!“, kam es wie aus der Pistole geschossen aus dem Mund des Jungen und er verbeugte sich so tief, dass sich Schuldig unweigerlich fragte, ob er wirklich plante, aus dem Stand mit der Stirn den Boden zu berühren. Reichlich perplex starrten er und Nagi das Schauspiel an und ebenso fragend sahen sie Brad an. „Erhebe dich, Jean“, erlöste dieser den Jungen schließlich aus dieser Haltung und warf einen Blick in ihre nun vollständige Runde. „Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich habe Hunger. Gehen wir etwas essen.“ Schuldig fragte sich, was passieren würde, wenn er Brad dafür einen dicken, fetten Kuss auf die Wange drückte. Generös, wie er war, beantwortete Brad ihm diese Frage natürlich auch, verfluchter Hellseher, der er war. Mit einem Lächeln, das mühelos einem Hai glich, trat er einen Schritt aus seinem Radius heraus. „Ich setze dich auf Diät, solltest du das auch nur in Erwägung ziehen.“ Verfluchter Hellseher. Wie sehr hatte er ihn vermisst. ~~**~~ Aya fragte sich schon, ob er wirklich bei Sinnen gewesen war, als er sich dazu entschieden hatte, den Garten seiner Eltern in einen respektablen Zustand zu bringen. So im Nachhinein war er sich doch sicher, dass die Wehmut und der Drang, es Crawford posthum recht zu machen, das hier nicht rechtfertigte. Unerfreut grollte er und strich sich mit den erdbewehrten Handschuhen die ihn kitzelnden Strähnen aus der Stirn. Es war warm, immer noch und die Sonne brachten einen goldenen Herbst mit sich, der die Pflanzen in ein wunderbares Farbenmeer aus Rot, Orange und Gelb tauchte. Er hatte sich durch die Hälfte des Gartens durchgearbeitet und dazu nur eine Woche gebraucht. Eine ganze Woche, nachdem er die ersten beiden Wochen, die er hier verbracht hatte, dazu genutzt hatte, ausgiebig und lange zu lesen und das Haus selbst auf Vordermann zu bringen. Dann erst hatte er sich auf den Garten gestürzt und bereute dies nun mit jedem Dorn, der ihm in garstiger Freude die Haut aufschlitzte. Deswegen war er Florist und kein Landschaftsgärtner, verdammt nochmal. Zumal ihm sein Rücken vom stundenlangen Bücken mehr wehtat als nach einer Nacht Verbrecherjagd. Gegen seinen Willen musste Aya schmunzeln und er hielt inne. Ihm wurde bewusst, dass es die einzigen Sorgen waren, die er momentan hatte. Seine Schwester wurde gut versorgt und befand sich in kompetenten Händen. Seinem Team ging es gut, soweit er das von den spärlichen Malen, in denen er das Handy anschaltete und seine Nachrichten durchschaute, mitbekommen hatte. Ken tourte mit seiner Maschine gerade durch Amerika und war der fleißigste Nachrichtenschreiber und Bilderschicker unter ihnen. Youji schickte hier und da eine Nachricht aus Macau, wo er sich die Zeit mit Strandurlaub und Glücksspiel vertrieb und so entspannt aussah wie schon lange nicht mehr. Omi hatte es dahingehend nach Island verschlagen und er war ebenso wie Aya nur sporadisch online. Er vermisste sie alle, stellte Aya fest, auch wenn er die Zeit ohne sie genoss. Er freute sich darauf sie wiederzusehen, doch jetzt freute er sich erst einmal darauf, den ganzen Hecken und Sträuchern den Garaus zu machen, die ihm den Kampf angesagt hatten. Wenn er sein Katana nicht so lieben würde, hätte er sich in den vergangenen Tagen schon sehr oft und sehr ausgiebig einfach schreiend im Kreis gedreht. Nun ja. Aya zog an dem widerspenstigen, unnachgiebigen Strauch, dessen Wurzeln sich anscheinend so tief in die Erde gegraben hatten, dass sie vermutlich bis zur anderen Seite des Globus reichten. Dieses Mal gaben sie ein Stückchen nach, dann noch eines und dann saß er mit einem Mal auf seinem Hintern, als der komplette Strauch auf einmal die Segel strich und aus der Erde glitt. Wie eine Fontäne regnete die aufgewirbelte Erde auf ihn herab, während er die bunten Blätter und Äste auf seinem Schoß, seiner Hose, seinem Shirt, in seinem Shirt, seiner Hose und seinen Haaren und auch in seinem Mund hatte. Prustend und spuckend hustete Aya und fluchte wortgewaltig, während er den Strauch von sich warf und aufstand. Bereits jetzt schon juckte alles in seiner Hose und erbost schüttelte er seine Haare aus. Schluss für heute. Es reichte! Grollend drehte sich Aya um und erstarrte noch in der Bewegung, als er auf der Treppe zum Garten jemanden sitzen sah, der da vorher nicht gesessen hatte, der da überhaupt nicht sitzen konnte, weil er alleine war. Zunächst erschreckte ihn die reine Anwesenheit eines Menschen, dann war es die Tatsache, dass man sich an ihn anschleichen konnte, die ihn zusammenzucken und instinktiv zurückweichen ließ, bevor sein Gehirn ihm einen Namen vorschlug, der nicht sein konnte. Einen Namen, den es seit über zwei Monaten nicht mehr geben sollte. Einen Mann, dessen amüsiertes Lächeln es seit ebendem Zeitraum nicht mehr geben sollte und doch war es hier. Er war hier, der Totgeglaubte. Saß da auf den Stufen, in schwarzen Sneakern, dunkelblauer Jeans und weißem Shirt, das er an den Unterarmen hochgekrempelt hatte. Seine ordentlich getrimmten Haare hatte er zurückgestrichen und die hellen, stechenden Augen ohne Brille maßen Aya aufmerksam. Aya selbst blinzelte. Einmal. Zweimal. Er wagte es nicht, sich zu bewegen, aus der plötzlichen, irrationalen Angst heraus, dass Crawford nur ein Trugbild war, das verschwinden würde, wenn er sich aus seiner jetzigen Position herausbewegte. Musste er auch gar nicht, stellte Aya fest, als sich das hoffentlich Nicht-Trugbild des Anführers von Schwarz erhob und zu ihm kam. Schritt um Schritt kam er näher und Ayas Herz schlug mit jedem dieser Schritte schneller, bis Crawford vor ihm stand und er seinen Herzschlag bis in seinen Hals spürte. Mühevoll schluckte er und das Lächeln des Orakels gewann an Intensität. „Gartenarbeit steht dir, Fujimiya“, sagte die Stimme mit gerade dem Hauch von Spott, der seine Nächte heimgesucht hatte und der soviel besser war als in seinen Träumen. Mit großen Augen sah Aya auf die Lippen, die sich bewegten. Das war doch ein Traum, oder? Wurde Crawford gelenkt? War das das, was man eine Neutralisierung nannte? „Auch wenn ich sagen muss, dass das eins zu null an den Strauch geht“, fuhr der Schwarz fort und Aya öffnete zumindest schon einmal den Mund. Dass dort nichts Gescheites herauskommen würde, wusste er auch vorher. Erst, als Crawford die Hand hob, um den Dreck von seiner Wange zu streichen, konnte er sich aus seiner Starre lösen. „Wie?“, krächzte Aya und sein Blick huschte über das Gesicht des anderen Mannes, das so gesund und braungebrannt war, wie er es noch nie gesehen hatte. Es huschte über den Halsansatz, über die Arme, die keine Verletzungen mehr aufwiesen. Es huschte über die gesunde Haltung, die von einer entspannten Selbstsicherheit sprach, die er sich seit Lasgos schändlichem Tun für Crawford gewünscht hatte. Schließlich fixierte er sich wieder auf die hellbraunen Augen, die ihn aufmerksam maßen. Aya spürte die Nähe des anderen Mannes körperlich wie auch auf einer Ebene, die er nicht genau benennen konnte und das vermittelte ihm eine Zufriedenheit, die ihm bisher gefehlt hatte. „Die Neutralisierung wurde aufgehoben, als Perser Beweise vorbrachte, die mich ent- und Leonard belasteten.“ „Perser?“ „Ich habe ihm, bevor ich gefahren bin, Dokumente überreicht, mit deren Hilfe er in der Zukunft Leonard hätte zu Fall bringen sollen. Er hat sich allerdings entschlossen, diese schneller zu nutzen, als ich es gedacht hatte und kam, während der Rat dabei war, das Urteil zu fällen.“ Beinahe schon hilflos war Aya der Freude gegenüber, die seinen gesamten Körper durchzog. Definitiv hilflos konnte er das erleichterte Grinsen auf seinem Gesicht nicht abstellen, das sich wie eine unaufhaltsame Woge seine Bahn brach und einen Laut zutage förderte, der nicht ganz Schluchzen, aber auch kein reines Lachen war. „Perser also.“ Crawford nickte und schnaubte. „Hat dir das Leben gerettet.“ Ein weiteres Nicken. „Warum bist du dann erst jetzt hier?“ Vielsagend hob Crawford die Augenbrauen und sah an ihm vorbei zu dem erlegten Gebüsch, wie es Aya vermutete. Genau konnte er es nicht sagen, denn er starrte Crawford wie ein Ertrinkender, wie ein Süchtiger, in das Gesicht. In ihrer Welt gab es keine Happy Ends. Ihre Welt kannte den unausweichlichen Tod, der sie gnadenlos ereilte, das hatte Aya in den letzten Jahren wieder und wieder erlebt. Dass er nun eines Besseren belehrt wurde, verstörte ihn mehr als dass er es zugeben wollte und eine kleine Stimme in ihm flüsterte ihm ein, dass er kein solches Happy End verdient hatte. Er zerquetschte diese mit all seiner Kraft. Er wollte es. So sehr. „Aufoktroyierter Urlaub zur Traumabekämpfung“, erwiderte Crawford mit einem ernsten Zug um die Mundwinkel und ließ erst danach den Busch aus seinem Blickfeld. Sacht berührte Aya die Wange seines Gegenübers und strich über die glatte Haut dort. Das brachte ihm auch die Aufmerksamkeit des Orakels zurück, der sich nach kurzem Zögern in seine Hand schmiegte, so wie er es am Ende ihrer gemeinsamen Nacht getan hatte. „Und jetzt bist du zurück?“ „Vollständig.“ „Als Anführer von Schwarz?“ „Auch.“ „Als was noch?“ Crawford lächelte schweigend und überwand die Distanz zwischen ihnen mit einem kleinen, aber wichtigen Schritt. Ich bin dreckig, wollte Aya sagen, kam aber nicht dazu. Ich bin voller Erde, auch, doch er wurde daran gehindert. Du wirst dich schmutzig machen, doch Crawford gab ihm keine Gelegenheit, als er mit seinen Lippen jedweden Protest beendete, der von Ayas Lippen kommen wollte, und den rothaarigen Mann mit einer besitzergreifenden Hand an seinem Hinterkopf zu sich zog. Das, was sanft begann, wurde mit der endlosen Zeit, die sie hier verbrachten, leidenschaftlicher und enger, verzweifelt gar, als müsste auch Crawford sich Ayas Anwesenheit und Zustimmung versichern. Aya hielt das Gesicht des Mannes in beiden Händen, während er sich an ihn gepresst hatte. Crawford hielt ihn umschlungen, als würde er verschwinden, wenn sie nur zuviel Abstand voneinander hielten. Schließlich seufzte das Orakel und löste sich soweit von ihm, dass er seine Stirn an Ayas betten konnte. Sacht strich sein Atem über die empfindsamen Lippen. „Fujimiya?“ Bei Crawfords ungewöhnlich leiser Stimme rann ihm ein Schauer über den Rücken, der sich in seiner Magengrube manifestierte. Etwas an dem Ton stimmte nicht. Es war eine Unsicherheit, die er sonst nur in Momenten gehört hatte, in denen Crawford ihm verstört gegenübergestanden hatte. „Was ist?“, fragte er mit einer Ruhe, die er nicht wirklich fühlte. „Ich will das nicht“, kam der Schwall kalten Wassers und Aya zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Abrupt wollte er sich von Crawford lösen, doch dieser hielt ihn mit seinen Händen unnachgiebig fest. „Ich will keine sporadischen Treffen…“ Aya schluckte schwer und verharrte schweigend. „…ich will etwas Festes zwischen uns. Etwas Dauerhaftes und Verbindliches“, schloss er und ein zweites Mal innerhalb kürzester Zeit kam alles in Aya zum Erliegen. Er wagte es nicht zu atmen. Er wagte es nicht, sich zu bewegen. Er wagte es nicht, seine Augen von dem Mann zu nehmen, dessen eigene immer noch geschlossen waren und der, so begriff es Aya nun, die Antwort nicht kannte. Das Orakel hatte seine Antwort nicht vorausgesehen oder sie nicht voraussehen wollen und wartete nun auf den Moment, in dem Aya ihm die Antwort gab, die all das hier mit einem Wimpernschlag zerstören oder zu etwas ausbauen konnte, das ihnen beiden Stabilität jenseits der sporadischen Treffen brachte. Die Frage aller Fragen war, was er wollte. Das Orakel, so nah wie jetzt, näher noch, auf einer stabilen, verlässlichen Basis? Regelmäßige Treffen, ein Bekenntnis zueinander auch vor den Augen ihrer Organisationen? Vor den Augen ihrer Teams? Wollte er die Gesellschaft Crawfords in einem alltäglichen Umfeld? Konnte er sich vorstellen, mit dem anderen Mann Dinge zu tun, die er mit den Männern getan hatte, die er auf Dates kennengelernt hatte? Konnte er sich emotional, mental und körperlich auf den Mann vor sich einlassen und das Gleiche von ihm fordern? „Omi wird es nicht gutheißen“, verließ es überraschend seinen Mund, bevor er sich davon abhalten konnte. Das wurde mit Schweigen belohnt, an dessen Ende ein Stirnrunzeln stand. Aya begriff, dass Crawford wohl seine Gabe für eine Antwort konsultiert hatte. „Es wird Arbeit werden, aber er wird es akzeptieren.“ „Was, wenn wir wieder gegeneinander antreten?“ „Rosenkreuz wird nicht erwarten, dass ich gegen meine Muse vorgehe.“ „Was, wenn meine Organisation gegen diese Verbindung vorgeht?“ „Das wird Perser nicht erlauben, weil er eine Verbindung zu meiner Mutter hat.“ Aya seufzte lautlos. „Was, wenn du ein schamloser Bettdeckendieb bist?“ Crawford sah abrupt hoch und latenter Unglauben tränkte den scharfen Verstand, der erst jetzt begriff, dass er Opfer eines – zugegebenermaßen – schlechten Scherzes geworden war. Aya war erstaunt, gleichzeitig jedoch durchaus stolz auf diesen Sieg und lächelte in das aufkommende Grollen. „Wer sagt, dass ich dir auf dem Bett Platz zum Schlafen lasse?“ „Ich glaube, das werden wir dann wohl näher ausdiskutieren müssen“, erwiderte Aya und erst langsam sickerte die Bedeutung dessen in Crawfords Bewusstsein ein. „Werden wir das…?“, hakte er noch einmal nach und Aya spürte das Bedürfnis nach Bestätigung mehr als dass er es auf dem Gesicht des Orakels sah. Deutlich und ernst nickte er und fuhr Crawford mit seinen erdschmutzigen Fingern über die Wange. „Ja“, erwiderte er dann schlicht, jedoch so vielschichtig, dass es ihm beinahe die Stimme nahm. Er sagte ja zu dem anderen Mann. Ja zu dem Weg, den sie gemeinsam gehen konnten. Ja zu der Stabilität und der Verbindlichkeit. Ja zu einer Nähe, die weit über das hinausgehen würde, was er in den letzten Monaten mit einem seiner Dates geteilt hatte. Er sagte ja zu den Schwierigkeiten, die er bereit sein würde zu meistern und ja zu den Unwägbarkeiten, die auf sie warteten. Er sagte ja zu einer spannenden, gemeinsamen Zukunft mit Herausforderungen und einem Ziel. Er sagte ja und das Lächeln, was Crawford ihm schenkte, war zum ersten Mal so sanft, dass es Aya alleine schon vom Zusehen schmerzte in seiner Ernsthaftigkeit. Noch bevor er etwas unsinnig Romantisches darauf sagen konnte, rumpelte es im Haus und ein leiser Fluch in einer Sprache, die er nicht verstand, drang zu ihm. Alarmiert sah Aya zu Crawford, dessen Mimik keine Besorgnis zeigte, ganz im Gegenteil. Augenrollende Resignation zeigte Aya an, dass er sich keine Sorgen zu machen hatte, auch wenn ihm immer noch die Nackenhaare zu Berge standen. Laut seufzend drehte sich Crawford zum Haus. „Nicht die Grüne. Nimm die Rote“, rief er dem Unbekannten entgegen und Aya sah ihn überrascht an. Die grüne Tasse war die seiner Mutter gewesen. „Du erinnerst dich?“, fragte er mit Unglauben in der Stimme und Crawford drehte ihm halb den Kopf zu, sodass er mühelos seine hochgezogene Augenbraue sehen konnte, die ihm andeutete, dass es eine dumme Frage gewesen war. Selbstverständlich. „Es ist die Tasse deiner Mutter“, präzisierte das Orakel keinen Moment später und fragend legte Aya den Kopf schief. „Woher weißt du das?“ Crawford lächelte vielsagend. „Ich habe Schuldig nach dem Grund suchen lassen.“ Der rothaarige Japaner schnaubte, enthielt sich aber wohlweislich einer Replik. Lieber starrte er da auf den Jungen, der zwei Tassen – eine rot, die andere gelb – mühevoll auf die Terrasse und von dort aus zu ihnen in den Garten bugsierte. Mit zitternden Händen reichte er ihnen beiden jeweils eine und Aya kam nicht umhin zu bemerken, wie offen bewundernd Crawford angestarrt wurde. Dass der Junge, der vielleicht dreizehn sein mochte, ihm kein Loblied sang, war auch schon alles. Bevor der Blick des Jungen auf ihn fallen konnte, verbeugte sich dieser so tief, dass Aya erst dachte, dass er etwas vom Boden aufheben wollte. Fragend sah er Crawford an, der anscheinend vollkommen in seiner Tasse schwarzen, starken Gebräus versunken war und ihn pointiert ignorierte. „Mein Name ist Jean“, teilte ihm der Junge in hinreißend akzentuierten Japanisch mit. „Ich freue mich über die Ehre, das allmächtige Orakel von Schwarz für die nächsten Monate bei der Erfüllung seiner Aufgaben unterstützen zu dürfen.“ Allmächtig? Aya hob fragend die Augenbraue und nun hielt es besagtes Orakel doch für richtig, ihn anzusehen. Da war Belustigung. Viel davon. Zuviel, als dass nicht noch etwas kommen würde. „Guten Tag, Jean“, erwiderte er neutral und der Junge erhob sich. Ruckartig streckte er ihm die Hand entgegen und Ayas Instinkte wollten im ersten Moment danach ausschlagen und sich verteidigen, bevor er sah, dass es lediglich die Hand des Teenagers war, die sich zwischen ihnen befand. „Ich freue mich, dich kennen zu lernen, Aya-chan“, erwiderte der Junge und der rothaarige Weiß kam nicht umhin, ihn perplex anzustarren. Nicht nur, dass ihn die plötzliche Formlosigkeit überraschte, nein. Die Vertrautheit des Ganzen war etwas, mit dem er so überhaupt nicht gerechnet hatte. Crawfords bedeutungsschwangeres Räuspern entlockte dem Jungen einen hohen Laut des Erschreckens und mit rasant rot werdenden Wangen verbeugte er sich erneut. „Oh mein Gott, natürlich nicht. Es tut mir leid. Wirklich! Bitte entschuldigen Sie, Fujimiya-SAN“, brüllte er das Namenssuffix geradezu heraus. Nervös knetete er seine Hände, bis Aya sein Amüsement soweit verbergen konnte um den Jungen nicht noch mehr zu beschämen und ihm bedeutete, sich zu erheben. „Wie wäre es, wenn du zurück ins Haus gehst und dort auf uns wartest, Jean?“, kam Crawford zum Jungen zuhilfe, der mit wehenden Strähnen nickte und sich geradezu zurück in das Haus flüchtete. Etwas ratlos starrte Aya ihm hinterher. „Du schuldest mir eine Erklärung“, sagte er zu Crawford, ohne diesen anzusehen. Ein Schnauben teilte ihm mit, wieviel das Orakel von eben jener Schuld hielt. „Er ist ein Empath. Rosenkreuz hat ihn mir an die Seite gestellt, damit er einen Blick auf meine Emotionen wirft.“ Überrascht drehte Aya sich zur Seite. Ernst maß er sein Gegenüber. Das, was Crawford beschönigte, hatte einen Unterton, den er schwer deuten konnte. Leicht widerwillig, wenn er raten müsste. „Er ist dein Aufpasser.“ „Ohne Weisungsbefugnis, es sei denn, ich werde instabil.“ „Er ist ein Kind.“ Crawford schüttelte den Kopf. „Er ist mächtig und versiert in dem, was er tut.“ „Was macht er, wenn du instabil werden solltest?“ „Es Rosenkreuz melden und mich drängen, meinen Therapeuten aufzusuchen.“ „Therapeuten?“ „Eine weitere Auflage.“ „Der arme Therapeut“, spaßte Aya, doch in seinem Tonfall ließ er durchscheinen, dass er sehr froh war um diese Möglichkeit der professionellen Unterstützung für Crawford bei der Bewältigung seines Traumas. Vermutlich war es genau der Unterton, der ihn davor rettete, einen Schlag auf den Hinterkopf zu bekommen. So begnügte sich Crawford lediglich damit, dass er selbstironisch und ergeben gequält nickte. „Wir werden sehen“, erwiderte er schließlich und Aya erkannte, dass mehr Wahrheit in diesem Satz lag, als es augenscheinlich der Fall war. Lächelnd wandte er sich zum Haus, in dem das empathische Frühwarnsystem auf sie wartete. „Kommst du?“ „Wenn es sein muss.“ „Crawford…“, tadelte Aya und besagter Mann trat neben ihm. „Ja, Aya?“, fragte dieser mit einer Unschuld in der Stimme, die Aya ihm keine Sekunde lang abnahm. Wie auch, wenn er damit beschäftigt war, dem Klang seines angenommenen Vornamens aus dem Mund des Schotten zu lauschen. Doch wer war er, dass er dem nicht folgen würde? Dass er es nicht kontern konnte. Aya setzte sich in Bewegung. „Glaubst du an ein Happy End, Bradley?“, fragte er und der neben ihm gehende Mann sah überrascht zu ihm. Er schwieg, bis sie die Terrasse betraten und er stehen blieb. Mit einer Mischung aus Ernst und liebevoller Zuneigung maß er Aya. „Ich glaube an die Zukunft, die wir beide erschaffen werden.“ ~~~~~~~~~~~ Ende. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)