Die Farbe Grau von Cocos ================================================================================ Kapitel 46: Der Abschied ------------------------ Mit gerunzelter Stirn sah Shuichi von seinen Unterlagen hoch. So ganz wollten sich ihm die Worte nicht erschließen, die ihm seine rechte Hand gerade überbracht hatte und das, obwohl er sich jede Störung verbeten hatte an diesem Morgen. Müde rieb sich Shuichi über seine Augen und lehnte sich zurück. „Manx, wenn das ein schlechter Scherz sein sollte“, begann er, doch sie unterbrach ihn mit einem angespannten, abgehackten Kopfschütteln, das von Missmut und Frust sprach. „Er steht unten und lässt sich auch nicht abwimmeln.“ „Heute Abend sind wir sowieso in dem Haus. Kann es nicht bis dann warten?“ „Anscheinend nicht, so wie er es sagt.“ Unwirsch verzog Shuichi seine Lippen und nickte dann knapp. Wenn das Orakel von Schwarz schon den Weg in die Höhle des Löwen suchte – bis vor wenigen Wochen noch undenkbar, ohne dass er sich selbst in Gefahr begeben hätte, gefangen genommen zu werden – dann hatte das mit Sicherheit seine Bewandtnis. Die Frage war eben nur, welche. Er sah Manx hinterher, wie sie die Tür hinter ihm schloss und ihn mit seinen Gedanken alleine ließ, die sich immer nur um das eine drehten. Er hatte den Mord an seinem Bruder in Auftrag gegeben und ausführen lassen. Erfolgreich. So verachtenswert Reiji auch geworden war, so sehr war er doch immer noch sein Bruder gewesen, den er bis zuletzt zum Guten hatte bekehren wollen. Sein großer Bruder, mit dem er an seinen Kindertagen immer durch den Garten ihrer Eltern getollt war und der ihn gegen die größeren Kinder aus ihrer Straße verteidigt hatte, zur Not mit Stöcken und Steinen. Wie aus dem lauten, aber loyalen Jungen ein solches Monstrum hatte werden können, entzog sich ihm immer noch und Shuichi blieb nichts Anderes, als das zu akzeptieren, was aus ihnen geworden war. Es blieb ihm nichts Anderes übrig, als die Asche seines Bruders entgegen zu nehmen und zu bestatten, wie es sich für ihre Familie gehörte. Sein Geld in eben die Stiftungen zu verteilen, die die Opfer von Gewalttaten unterstützten und seinen Ring zu zerschlagen. Eine Arbeit von Monaten, wenn nicht sogar Jahren. Shuichi hatte es sich erlaubt, die letzten Stunden und Tage um den Menschen zu trauern, der sein Bruder gewesen war, noch bevor ihn die Macht korrumpiert hatte. Und diese Trauer wurde nun von dem Mann durchbrochen, dessen Team ihn jahrelang von seinem Bruder ferngehalten hatte. Shuichi wusste nicht, was er davon halten sollte, als nun der Sohn der Dame des Hauses sein Büro betrat, in Begleitung von vier Wachen, die er nun mit einem Nicken wegschickte. Wenig erfreut hielt sich Manx im Hintergrund. Shuichi hob fragend seine Augenbraue. „Ich möchte gerne alleine mit Ihnen sprechen.“ Überraschung zog auch die zweite Augenbraue nach oben. „Ich habe vor meiner rechten Hand nichts zu verbergen“, erwiderte Shuichi und lehnte sich vor, lehnte die Arme auf seinen Schreibtisch. Er maß den Anführer von Schwarz, der sich in seiner gewohnt arroganten Art und Weise aufrecht hielt, obwohl seine Wunden sicherlich keine solche Haltung tolerierten. Ein Kämpfer war der Mann vor ihm, schon seit seiner Geburt gewesen. „Das schon.“ „Warum?“ „Inwieweit weiß sie über die Muse der Dame des Hauses Bescheid?“, fragte der Schwarz so neutral, als würde er über das Wetter und nicht über eines der bestgehütetsten Geheimnisse sprechen. Ein Schnauben verließ seine Lippen und er schüttelte den Kopf. „Manx, warten Sie bitte draußen“, sagte er schließlich. „Aber er…“, setzte sie an zu protestieren. Müde und zum großen Teil erbost über den Versuch des Mannes, ihn zu erpressen, schnitt er ihr das Wort ab. „Ich werde ja wohl noch mit einem Jungspund wie ihm hier fertig werden“, grollte er und nach einem Moment nickte sie, fügte sich seinem harschen Wunsch. Er würde sich später bei ihr dafür entschuldigen müssen, befand Shuichi. Nun aber hatte er ein ganz anderes Problem, um das es sich zu kümmern galt. „Also?“, fragte er knapp und deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Auch das wäre vor Wochen noch undenkbar gewesen. Ebenso wie die Ruhe, mit der Siobhans Sohn seine Einladung annahm und sich mit Bedacht niederließ. „Meine Mutter hat mir oft von dem Mann erzählt, der ihr geholfen hat, ihren Ältesten auf die Welt zu bringen.“ Shuichi nahm die Worte unbewegt zur Kenntnis. Es war nicht auszuschließen, dass der Hellseher immer noch ahnungslos war und dies alles nur ein Test. „Von dem Mann, der dem Kind den Beinamen Rodrick gegeben hat, weil es der einzige war, an den er sich erinnern konnte.“ „Ich möchte Sie bitten, meine Zeit nicht mit Ihren Familiengeschichten zu verschwenden. Ich habe meine eigenen zu betrauern.“ „Sie sind dieser Mann und mehr als das. Sie sind die Muse meiner Mutter, ein streng gehütetes Geheimnis, das sie mir erst vor ein paar Tagen verraten hat.“ Der Vertrag zwischen Siobhan und ihm war gewesen, schon seit sie das erste Mal mit dem Konzept der Muse auf ihn zugekommen war, dass sie es so weit wie möglich geheimhalten würden. Bis auf den Rat ihrer Organisationen wusste niemand, welche Verbindung sie zueinander pflegten. Niemals würde sich eben diese Verbindung in ihr tägliches Leben einmischen, in ihre Pflichten und Aufgaben. Entsprechend hatten sie auch Abmachungen im Fall einer Gefangennahme feindlicher Agenten getroffen. Sie würden die beiden Teams nicht mit der Absicht, einander zu töten, gegeneinander kämpfen lassen, dafür würden sie jedoch auch nicht eingreifen, wenn ein Team entsprechende Schwäche zeigte und sich als unwürdig für die gestellte Aufgabe erwies. Dass ausgerechnet ihr Sohn jetzt die Verbindung herstellte und öffentlich machte, dass er sich Abyssinians bemächtigt und dem Mann seinen Hass auf Schwarz genommen hatte, stimmte Shuichi nicht glücklich. Ganz und gar nicht. Langsam lehnte er sich zurück und legte die Arme auf die Lehnen seines Bürosessels. „Gibt es etwas Bestimmtes, das Sie mir damit sagen wollen?“ Das war der Moment, in dem die arrogante Maske fiel und etwas Platz machte, das Shuichi nur schwer deuten konnte. Emotionalität, die er so von ihrem Sohn nicht erwartet hätte. Verzweifelte Hoffnung, wenn er sich nicht irrte. Doch einen Augenblick später war dieser Eindruck bereits Vergangenheit, als Crawford Unterlagen aus seiner Manteltasche hervorzog und ihm reichte. Shuichi studierte sie aufmerksam. Nichts davon überraschte ihn, er kannte die Namen und Zahlen. Ungehalten sah er auf, doch bevor er etwas sagen konnte, neigte Crawford den Kopf. „Die Dame des Hauses hat mir zu Beginn der sechs Wochen die Auflage erteilt, meine Schilde zu senken um so meinem Telepathen jederzeit Zugang zu meinen Gedanken zu gewähren. Diese Auflage habe ich im Rahmen der Mission verletzt und die Strafe dafür ist eine Neutralisierung meiner Person. Die Dame des Hauses kommt am heutigen Tag und ich werde noch heute Nacht mit ihr nach Österreich fliegen.“ Überrascht hob Shuichi den Kopf. Jetzt machte der kurze Ausbruch an Emotionen Sinn. Er runzelte die Stirn. Er hätte sagen können, dass es ihn froh stimmte, dass dieser ewige Stachel in seinem Fleisch, ein Mensch mit Fähigkeiten, die ihm von je her das Leben schwer gemacht hatte, nun sein Ende fand. Wären da nicht der Nutzen des Präkognitiven für seine Ziele gewesen. Wäre da nicht die Dame des Hauses gewesen. „Ich habe Sie als kleines Bündel Mensch in den Händen gehalten und schon damals hatten Sie Ihren eigenen Kopf“, schmunzelte er, wurde dann jedoch wieder ernst. „Das, was ich in den Augen Ihrer Mutter gesehen habe, war und ist vollkommene Liebe für Ihren Erstgeborenen.“ „Die Dame des Hauses hat eine Aufgabe. Sie handelt im Auftrag des Rates und dieser hat eine Entscheidung gefällt.“ „Das ist Verschwendung von Ressourcen.“ Crawford schnaubte. „Das ist der Versuch des amtierenden, präkognitiven Ratsmitgliedes, mich zu entsorgen.“ „Verrat am Kronprinzen?“ Unwirsch verzog Crawford die Lippen, eine Geste, die er eindeutig von seiner Mutter geerbt hatte. Hier sah man die Verwandtschaft zwischen den beiden so unterschiedlichen Menschen sehr deutlich. „Ich hege den Verdacht, dass er mit Ihrem Bruder, Lasgo und SZ gemeinsame Sache gemacht hat und nun die Zeugen beseitigen will.“ „Haben Sie diesen Verdacht dem Rat gegenüber bereits geäußert?“ „Das wäre Hochverrat.“ Shuichi machte deutlich, was er von dieser Argumentation hielt. „Wenn Sie sowieso todgeweiht sind, warum machen Sie sich darüber dann Gedanken?“ Crawford lächelte kalt und mit einem Mal begriff Shuichi, aus welchem Grund der Hellseher ihn aufgesucht hatte. „Er wird mit mir nicht aufhören. Die Nächste, die er versuchen wird loszuwerden, wird die Dame des Hauses sein.“ Shuichi wusste, was das auch für ihn bedeuten würde, nicht nur für Siobhan selbst. Er wusste um die Instabilität, die es mit sich bringen würde, wenn die Dame des Hauses keine Verbindungen mehr nach Japan hegte. Zumal ein verräterischer Ratsherr ein nicht zu unterschätzendes Risiko darstellte. Soviel zum Thema Ruhe. „Was genau wollen Sie jetzt von mir?“, fragte er und Crawford zog einen Zettel hervor, schob diesen über den Tisch. „Einen Gefallen.“ ~~**~~ Die zweite Runde Schlaf hatte ihnen allen gut getan, das sah Omi an den entspannten Gesichtern seines Teams, das sich nach und nach um den Esstisch versammelt hatte. Youjis Augenringe hatten sich in Wohlgefallen aufgelöst, Ken hatte den ganzen Tag schon überbordend gute Laune und selbst Aya war die Entspannung in Person. Sie hatten ihre Sachen bereits gepackt und warteten nur noch auf die Missionsnachbesprechung zusammen mit Schwarz, Perser und der Dame des Hauses, die gegen frühen Abend eintreffen würde. Omi hatte Essen für sie alle gekocht und die letzten Vorräte dafür aufgebraucht. Ein letztes Mal hatte er die geräumige Küche dafür genutzt und den weitläufigen Platz, den er zum Arbeiten hatte, genossen. Ab morgen würde das anderes sein. Sie konnten endlich zurückkehren und das alleine war ein Grund für zügellose Euphorie, befand Omi. Auch wenn es beengt und alt sein würde. Dass Schwarz ihre Euphorie nicht teilte, wurde ihm spätestens dann klar, als Naoe und Schuldig sich zwar zu ihnen gesellten, aber keinen Ton sagten. Omis Pendant sah aus, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen, seine Augen rot und die Wangen eingefallen. Schuldig hatte deutlich sichtbare, schlechte Laune, die keinen von ihnen dazu anspornte, das Wort an ihn zu richten. Er aß zwar, aber nicht viel, im Gegensatz zu dem Telekineten, der gar nichts zu sich nahm und mit leerem Blick auf die Tischplatte starrte. Irgendetwas stimmte nicht. Schuldig würde er nicht fragen, aber es juckte Omi in den Fingern, Naoe anzusprechen. Fünf Versuche brauchte er, um sich eine Strategie für eine Frage zurecht zu legen, dann räusperte er sich. „Schmeckt dir das Essen nicht?“, fragte er so neutral, wie es ihm möglich war, doch der Telekinet reagierte nicht. Omi war sich noch nicht einmal sicher, ob Naoe ihn überhaupt gehört hatte. „Naoe?“, schob er nach, als er sich sicher war, dass der Schwarz nicht reagierte und verspätet ruckte der Kopf nach oben. „Was?“ „Das Essen. Schmeckt es dir nicht?“ Prüfend sah er auf die Reaktion des Schwarz, der ihn anstarrte, als hätte er ihn keineswegs verstanden. Erst nach weiteren, schweigenden Sekunden besann er sich und schluckte schwer. „Ich habe keinen Hunger“, murmelte Naoe und Omi hörte verräterische Überreste von Tränen in der rauen Stimme des Schwarz. Sie passten zu den roten Augen und Omi fragte sich unwillkürlich, warum Naoe ihren Triumph nicht genoss. Obsolet wurden die Gedanken daran erst, als sich die Haustür öffnete und kurze Zeit später das Orakel selbst in der Küche stand. Omi spürte den Stimmungsumschwung beinahe körperlich, dazu musste er nicht sehen, wie Naoe elendig zusammenzuckte und Schuldig seinen Anführer mit einer noch nie dagewesenen, hilflosen Wut maß. Die hellen Augen des Orakels streiften erst Fujimiya, dann das Essen auf dem Tisch. Er zögerte kurz, dann ließ er sich langsam nieder. Viel langsamer noch trug er sich schließlich Essen auf und nahm es ebenso schweigend zu sich. Anscheinend kommunizierte er mental mit Schuldig, dessen Hände sich zu vor Anspannung weißen Fäusten ballten. „Nein, das mache ich nicht“, knurrte er in die angespannte Stille hinein und erhob sich. Wütend starrte er auf seinen Anführer hinunter, der es anscheinend nicht für nötig sah, auf den Ausbruch zu reagieren. Hatte Omi Wut oder zumindest Ruhe in den Augen des Orakels erwartet, so wurde er nun bitter enttäuscht. Er sah Schmerz auf dem Gesicht, insbesondere als Schuldig sich nun von ihm wegdrehte und in Richtung Wohnzimmer ging. Wieder trat Schweigen zwischen sie, das Omis Nackenhaare stehen ließ. In aller Seelenruhe aß Crawford zuende und sah dann in ihre Runde. „Heute Abend wird die Dame des Hauses hier eintreffen und zusammen mit Perser die noch ausstehende Missionsbesprechung leiten. Danach wird dieses Haus geräumt und alle Beteiligten werden wieder in die alten Stützpunkte zurückkehren.“ „Alle, bis auf einen“, schaltete sich Schuldig ein, der anscheinend zurückgekehrt war und nun am Türrahmen lehnte. „Was meinst du?“, fragte Ken und Omi sah, wie Nagi in seinem Augenwinkel elendig zusammenzuckte und die Augen schloss. „Was Schuldig meint, ist, dass ich mit der Dame des Hauses nach Österreich zurückkehren werde.“ „Für wie lange?“, fragte Aya und Omi sah ihm stirnrunzelnd in das sorgsam neutral gehaltene Gesicht und die unauffällig auffällig entspannte Haltung. Die Art, wie Crawford ihn ansah, sprach ebenso gegen diese Nonchalanz wie Ayas Art, sich dem Orakel zuzuwenden. „Für immer.“ Schuldig schnaubte verächtlich. „Für den Rest deiner Zeit, das ist es doch, was du meinst“, korrigierte er und Omi begriff langsam, was das Problem war und wie gewaltig es war. „Hör auf, Schuldig“, flüsterte Naoe, bevor Aya und Crawford die Möglichkeit hatten zu antworten. „Hör einfach auf. Es ist schlimm genug, wie es ist. Mach es nicht noch schlimmer. Bitte.“ Das Elend, das sich durch die Worte zog, schmerzte Omi tief in sich. Es schlug seine Krallen in sein Mitleid und ließ ihn sprachlos zurück. Was in aller Welt war hier los? „Unser Anführer wird neutralisiert, das ist hier los!“, schrie Schuldig abrupt und Omi zuckte nun seinerseits zusammen. Instinktiv riss er seinen Arm hoch um seinen Kopf zu schützen und machte sich klein. Es waren Youjis Stimme und seine Hände, die ihn sanft davon abhielten, sich unter dem Tisch zu verkriechen. Erst nach ein paar Sekunden verstand er den Sinn der Worte und nicht nur die Lautstärke dahinter. Verstand, dass sich Schuldigs Wut nicht auf sich bezog, ebenso wenig auf seinen Anführer. Dass es noch nicht einmal Wut war, die den Telepathen hatte schreien lassen. Bittere Verzweiflung, das war es gewesen, die nun wie der Nachhall eines Donners zwischen ihnen im Raum stand. „Was?“ Die erstickte Frage kam aus Ayas Mund und Omi wollte das Entsetzen, das er auf dem Gesicht seines eigenen Anführers sah, nicht so ganz begreifen. Sie waren doch eine Zweckgemeinschaft. Nur eine Zweckgemeinschaft, an dessen Ende sie froh waren, dass es vorbei war. Oder? Wenn er Aya genauer betrachtete, dann sah er eben das nicht in den Augen seines Anführers, auch nicht in dessen Haltung. Oder in Crawfords Haltung, die von einem schlechten Gewissen sprach, das sich in diesem Moment nicht nur auf sein eigenes Team erstreckte. „Wieso? Wir waren doch erfolgreich. Wieso wirst du trotzdem neutralisiert?“ Omi erstarrte. Das war Sorge in dem tiefen Bariton von Ayas Stimme. Sorge. Um Crawford. „Ich habe meine Schilde hochgezogen um den Empathen zu töten.“ Nüchtern und sachlich gab das Orakel einen Abriss dessen, was ihm anscheinend den Tod bringen würde und Omi kam nicht umhin, den Mann in diesem Moment für dessen Ruhe zu bewundern, mit der er das Entsetzen und die Wut ertrug, ebenso wie die Gewissheit, dass er das nächste Jahr nicht erleben würde. „Warum?“ „Weil es notwendig war für den Erfolg des Auftrages.“ Wie schon bei Lasgo auch, ging Crawford mit seinem Leben um, als wäre es nachrangig und als wäre sein Auftrag oder das Wohlbefinden des Telekineten damals wichtiger als sein eigenes Leben. Immer mehr gewann Omi den Eindruck, dass Crawford ein grundloyaler Mensch war, auch wenn dessen Loyalitäten mit seinen eigenen sicherlich nicht in Einklang zu bringen waren. „Das hättest du mir sagen sollen“, begehrte Aya auf und Omi fragte sich, warum sein Anführer glaubte, ein Recht darauf zu haben. Beinahe schon wünschte er sich eine Antwort von Schuldig, doch dieser schwieg beharrlich, seit sie zurückgekehrt waren. Natürlich, hatte er es doch schon seitdem gewusst. Wut ließ Crawfords Mimik versteinern. „Was hätte das geändert, Fujimiya?“ „Ich…“ In ungewohnter Hilflosigkeit verstummte Aya und ließ sich in seinem Stuhl zurückfallen. Beinahe schon mürrisch verschränkte er die Arme. Crawford grollte. „Sag es mir, hätte es auch nur eine deiner Handlungen geändert? Oder ein einziges Wort?“ Omi hatte das Gefühl, dass die beiden Männer über etwas sprachen, das sich hier niemandem erschloss. Sie sprachen nicht über das alltägliche Miteinander. Schweigend schüttelte Aya den Kopf und Crawford schnaubte. „Es ist, wie es ist. Die Besprechung wird am frühen Abend stattfinden. Ich erwarte vollständige Teilnahme.“ Crawford erhob sich und räumte sein Geschirr in die Spülmaschine, bevor er sich umdrehte. Omi sah Crawford hinterher, als er an Schuldig vorbei den Raum verließ, der ihm wütend hinterherstarrte. Wie eine Statue saß Naoe am Tisch, den Blick gesenkt. Es kam ihm vor, als wäre er gerade Zeuge des Untergangs des gegnerischen Teams geworden. Wie oft hatte er sich genau den herbeigesehnt? Wie oft hatte er alles daran gesetzt, um Schwarz zu vernichten? Wie kam es da, dass er nun, in diesem Augenblick keine Freude empfand? Weder darüber, dass Crawford bald nicht mehr existieren würde noch darüber, dass Naoe und Schuldig augenscheinlich darunter litten. Das war hochgradig irritierend und unbefriedigend. ~Ach fick dich doch, Tsukiyono!~ Omi runzelte die Stirn. In jeder anderen Situation hätte er darüber geschmunzelt. Jetzt aber nicht. ~~**~~ Eine Art seltsame Ruhe hatte sich über ihn gelegt, während er die letzten Berichte anfertigte und sie in die entsprechenden Abteilungen von Rosenkreuz schickte. Gelassenheit mochte er es nicht nennen, dafür stand er zu sehr neben sich und beobachtete sein Tun wie aus weiter Ferne. Crawford hatte die starke Vermutung, dass er sich damit vor eben jenen Emotionen schützte, die ihn überfallen würden, je näher er seiner Neutralisierung kam. Ruhe war besser als Angst und Verzweiflung. Neben sich stehen besser als in sich gefangen sein. Dass es nun wieder einmal Fujimiya war, der seine Ruhe störte, als er ohne anzuklopfen den Raum betrat, war beinahe ironisch. Im Nachhinein konnte Crawford jedoch sagen, dass er nichts Anderes erwartet hatte. Selbst als sie noch nicht diese unselige Verbindung eingegangen waren, hatte sich Fujimiya mitnichten an seine Spielregeln gehalten. Vom ersten Moment an nicht. Auch jetzt noch gab Crawford nur mit einem Zähneknirschen zu, dass das einer der Punkte gewesen war, die den rothaarigen Mann für ihn so attraktiv gemacht hatten. Trotzdem hatte er keinen Bedarf an den Worten, die die Lippen des Weiß verlassen würden. Ja, er hatte sich für sein Team und für den Erfolg ihres Auftrages geopfert. Zurecht, wie ihm das Ergebnis bewiesen hatte. Es war seine Entscheidung gewesen, die er im vollen Bewusstsein der kommenden Konsequenzen getroffen hatte. Seine letzten Stunden in Anwesenheit der Menschen, die ihn die letzten Jahre auf die ein oder andere Art begleitet hatten, würde er nicht damit verbringen, sich Vorwürfe anzuhören. Crawford seufzte und fuhr sich über das Gesicht. „Spare mir die Moralpredigt, Fujimiya“, sagte er und hob die Augenbrauen, als sich die Lippen des Japaners ertappt schlossen. Eine Weile stand der andere Mann daraufhin unschlüssig am anderen Ende des Raumes und Crawford kam nicht umhin, sich über die anscheinend unsichtbare Mauer zwischen ihnen zu wundern, die Fujimiya davon abhielt, zu ihm zu kommen, nachdem sie die ganze letzte Nacht damit verbracht hatten, sich gegenseitig zu berühren und zu ertasten. „Ich hätte es gerne gewusst“, wiederholte der andere Mann schließlich, was ihn schon im Esszimmer beschäftigt hatte und Crawford schnaubte. „Und dann?“ „Dann wäre es anders gewesen.“ Crawford schloss die Fenster des Berichtsprogramms und sperrte seinen Computer. Langsam ließ er sich gegen die Lehne zurückfallen und bohrte seinen Blick in die Unsicherheit des Weiß. „Wie anders denn genau?“, hakte er nach, unnachgiebig und bitter. Es schien, als würde ihm die Antwort erhebliche Probleme bereiten, so wie Fujimiya seine Unterlippe malträtierte und den Wald hinter Crawford um Rat fragte. Als die ausdrucksstarken Augen schließlich zu ihm zurückkehrten, sah er die Sturheit dahinter. „Ich hätte es mehr zu schätzen gewusst.“ Zweifelnd hob Crawford die Augenbraue. „Du hast es nicht geschätzt? Da hatte ich einen anderen Eindruck.“ „Doch. Aber noch mehr.“ Crawford fragte sich allen Ernstes, wie bei dem, was sie geteilt hatten, noch ein Mehr dringewesen wäre. Vielleicht mochte Fujimiya ja Kräfte haben, von denen sie alle nichts gewusst hatten, er für seinen Teil war aber hochgradig zufrieden, aber eben auch hochgradig erschöpft nach ihrem Stelldichein gewesen. So erschöpft, dass er es hatte dulden können, neben einem anderen Mann einzuschlafen. „Es gibt einfachere Arten, mich umzubringen als mit einvernehmlichen Geschlechtsverkehr“, erwiderte er entsprechend spöttisch und wurde mit einem tiefen Grollen belohnt. „Das meine ich nicht.“ „Sondern?“ „Unverbindlich bedeutet nicht einmalig!“ Ohne sein Zutun weiteten sich Crawfords Augen und ein überraschter Laut verließ seine Lippen. Das war Fujimiyas Problem? Amüsiert schüttelte er den Kopf und erhob sich. Er vergrub seine Hände in den Taschen seiner Hose und kam zu dem Mann, dessen Augen ihn maßen, als würde er gleich losschlagen. „Du willst mehr? Ist es das? Das lässt sich arrangieren. Noch habe ich ein paar Stunden“, erwiderte Crawford mit gutmütigem Humor in der Stimme, der aber nicht wirklich Anklang fand. „Das meine ich nicht!“, grollte der Weiß unerfreut. „Morgen, in einer Woche, mal hier, mal da. Das meine ich.“ Etwas längerfristig Unverbindliches also. Entgegen aller Wahrscheinlichkeiten hatte der Weiß Gefallen am Spiel mit dem Feuer gefunden, das sie beide unweigerlich in Probleme stürzen würde, sollte er noch länger als diese paar Stunden in Japan verweilen. Es wäre unverantwortlich, ihrer beider Vergnügen solange zu treiben, bis es zu einer unweigerlichen Katastrophe kommen würde. Und die Vielfalt der Katastrophen wäre groß. Was, wenn ihr Vertrag endete und sie schlussendlich den Befehl erhielten, Perser und Kritiker zu vernichten? Was, wenn Tsukiyono davon Wind bekam, was sie trieben und es zu einem Bruch zwischen Fujimiya und seinem Team kam? Was, wenn seine Muse nicht durch Rosenkreuz akzeptiert werden würde? „Das steht nicht zur Debatte“, beschloss Crawford für alle die kommenden Katastrophen und wurde mit einem Kopfschütteln belohnt. „Ich wünschte aber, es wäre so. Gibt es wirklich nichts, was man tun kann? Rein gar nichts?“ „Ergibst du dich gerade der romantisierten Vorstellung, dass ich mich irgendwie aus dem Todesurteil winde, das meine eigene Organisation über mich verhängt hat, hier in Japan bleibe und ein glückliches Leben bis ans Ende meiner dann noch zahlreichen Tage lebe, umgeben von meinem Team und von dir?“ Wenn er die Wut auf dem Gesicht des Weiß einmal außen vor ließ, sah Crawford genau das. Er sah Hoffnung, dass es genau dafür noch eine Möglichkeit gab. Augenrollend über so viel Naivität wandte er sich ab und ging zum Fenster. Er konnte nicht verstehen, wie man sich einer solchen Utopie hingeben konnte, die nichts Anderes als war als unnötiges Wunschdenken und Zeitverschwendung. Nachdenklich verlor sich Crawfords Blick in der Natur, die sie umgab. Es dauerte nicht lange, dann hatte er Besuch und spürte die Anwesenheit seiner Muse an seiner Seite. Aus der Erfahrung der letzten Nacht heraus wussten sie beide, dass es keine kluge Idee war, wenn Fujimiya ihn von hinten umarmte, so begnügte sich der Mann neben ihm damit, Schulter an Schulter mit ihm zu stehen und seine Präsenz nach und nach wirken zu lassen, solange, bis Crawford nachgiebiger wurde, weniger angespannt. „Ich will nicht, dass du gehst“, sagte Fujimiya leise und ruhig, den Blick nach draußen gewandt. Crawford tat es ihm nach ein paar Sekunden gleich. „Ich ebenso wenig“, gab er schließlich zu und ließ den Schmerz zu, der seine Worte begleitete. Den verbitterten, hilflosen Schmerz des Verrates, den seine eigene Organisation an ihm verübte. ~~**~~ „Kevin?“ Der junge Empath brummte nichtssagend, während er sich nun schon zum dritten Mal versuchte, auf seine Aufgabe zu konzentrieren und die Medikamente ordentlich zu sortieren, die sie am heutigen Morgen erhalten hatten und die ein einziges Chaos waren. Er hoffte insgeheim, dass die Störung vorbeigehen würde und dass der Stationsarzt jemand anderen fand, den er triezen konnte. So zum Beispiel Miriam oder Virginie, die beide vorne in der Zentrale saßen. Leider hoffte er zuviel und keine Minute später stand Amidou im Türrahmen und erwartete seine volle Aufmerksamkeit. Seufzend drehte Kevin sich zu dem afrikanischen Empathen um und hob fragend die Augenbraue. „Hast du deinen Patienten nach unten geschickt?“ Er runzelte mit der Stirn. „Nein, da war er gestern schon. Die nächsten Untersuchungen sollen erst heute Mittag stattfinden, genau genommen“, er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „in anderthalb Stunden.“ Irgendetwas stimmte an seiner Auskunft nicht, das sah er deutlich und er fragte sich, ob er einen Termin verschlafen hatte. Eigentlich nicht, hatte er doch heute Morgen noch den Tagesplan kontrolliert. „Wo ist er dann?“ „In seinem Zimmer, wenn ich raten müsste.“ „Und wenn nicht?“ Kevin grollte. Er hasste Amidous Humor, wirklich. „Ich gehe nachgucken“, grimmte er und drängte sich an seinem Kollegen vorbei in das Zimmer ihres Schützlings. „Herr Jei?“, rief er in Ermangelung eines Nachnamens, doch niemand antwortete ihm. Wie auch, stellte er fest, denn das Zimmer war leer. Ebenso wie das angrenzende Bad. Von dem irischen Berserker fehlte jede Spur und verwirrt trat Kevin wieder aus dem Zimmer heraus. Amidou war ihm gefolgt und sah ihn nun zweifelnd an, als er mit den Schultern zuckte. „Vor einer Stunde war er noch da“, versicherte er und der Arzt seufzte schwer. „Er sollte sich noch nicht bewegen.“ „Ach?“ „Wo ist er dann?“ „Ich habe keine Ahnung. Frustriert stöhnte Amidou auf. „Suchmeldung?“ Leidvoll verzog Kevin das Gesicht. „Suchmeldung.“ „Und wenn wir ihn nicht finden?“ „Dann rufst du das Orakel an.“ „Ich?!“ „Du hast ihn verloren. Also ja.“ Lieber würde Kevin sein Leben lang Medikamente einsortieren und Nachtschichten schieben, als dass er auch nur eine Sekunde lang mit dem Orakel telefonierte und diesem mitteilte, dass er eines seiner Teammitglieder verloren hatte. Er würde so ziemlich alles lieber machen als das. Aber Weisung war Weisung und Amidou nutzte hier sein Vorrecht, ihm diese zu erteilen, schamlos zu seinem eigenen Vorteil aus. Grummelnd machte Kevin sich auf die Suche und betete zu allem, was ihn erhören würde, dass der Ire sich hier irgendwo im Gebäude herumtrieb. Eine Stunde später erkannte er mit wachsendem Entsetzen, dass er kein Glück haben würde und mit rasendem Herzschlag griff er zum Hörer. ~~**~~ „Wenn Sie in der Lage und willens sind, mein bettlägeriges, verletztes Teammitglied zu verlieren, dann werden Sie ebenso in der Lage dazu sein, es wieder zu finden und das in einer annehmbaren Zeitspanne. Bis heute Abend will ich ein Ergebnis.“ Mit missmutigem Blick legte Brad auf und warf das Handy auf den Küchentisch. Neben ihm stand ein Glas Limonade, das er anscheinend hatte trinken wollen, bevor ihr Krankenhaus ihn kontaktiert und ihm anscheinend mitgeteilt hatte, dass ihr hauseigener Ire sich der Fürsorge der Rosenkreuzärzte entzogen hatte. Wenn er bessere Laune gehabt hätte, hätte Schuldig darüber gelacht. Sowohl über das Unwohlsein des entsprechenden, medizinischen Personals als auch über den Ärger, den es bei Brad verursachte, dass der Mondjunge schon wieder verschwunden war. So erinnerte ihn das Gespräch, das sein Anführer führte, nur daran, dass es eines der letzten sein würde und dass der schottische Bastard bald nicht mehr da sein würde um ihn mit seinem Verhalten auf die Palme zu treiben. „Warum tust du dir das noch an?“, fragte er zweifelnd und Brad sah hoch. Anscheinend wusste er zunächst nichts aus Schuldigs mühevoll ruhiger Frage zu machen, zumindest bis er einen Schluck aus seinem Glas genommen hatte. „Es ist meine Aufgabe.“ „Ab morgen nicht mehr.“ Schuldig hatte nicht derart bitterböse klingen wollen, dennoch zuckte Brad unwillkürlich zusammen. Dann fing er sich und nickte mit einem Lächeln, das jedweder Fröhlichkeit entbehrte. „Dann sollte ich es heute noch auskosten.“ Nein, sollte er nicht, befand Schuldig. Er sollte sich um sein Team kümmern und zulassen, dass das Team sich um ihn kümmerte. „Ich möchte keinen neuen Anführer, Brad. Ich möchte dich behalten“, gestand er sich und vor allen Dingen Brad ein und sah, wie seine Worte anscheinend einen sehr wunden Punkt in dem anderen Mann trafen. Auch wenn ihm die Gedanken des Orakels nicht mehr offenstanden, so hatte er gerade eben doch einen guten Einblick in dessen ungewöhnlich offene Mimik. „Dein Wunsch ist nicht im Einklang mit den Befehlen des Rates.“ ~Ein Rat, der sich von einem Verräter beeinflussen lässt.~ ~Hör auf, so zu denken. Es ist immer noch unsere Organisation, deren Grundfesten zum Schutz aller PSI dienen sollen.~ Schuldig schnaubte, ließ das Thema aber fallen. Natürlich würde Rosenkreuz insbesondere ihn und Nagi nun engmaschig beobachten und ihnen einen Anführer vorsetzen, der ihnen vermutlich keinerlei Freiheiten lassen würde. Alleine schon um Nagis Willen hatte er sich zurück zu nehmen. „Wann trifft sie hier ein?“, fragte er anstelle dessen und Brad sah auf seine Uhr. „In drei Stunden.“ „Dann haben wir noch Zeit.“ „Wofür?“ Der Telepath rollte mit den Augen. „Als wenn du das nicht vorhergesehen hättest.“ Hatte Brad selbstverständlich und so seufzte er schicksalsergeben. Schuldig zwang sich zu einem Lächeln, das er nicht wirklich fühlte und deutete auf den Weg zur Terrasse. „Los, raus mit dir. Wir warten auf dich.“ Es war, als müsste Brad wirklich überlegen, ob er ihm, vor allen Dingen aber Nagi, den Wunsch wirklich erfüllte. Er zögerte, drehte sich zum Tresen, zögerte erneut und straffte dann die Schultern. Schuldig trieb ihn schier nach draußen auf die im Schatten der schwächeren Nachmittagssonne liegenden Terrasse und wartete, bis er sich tatsächlich hingesetzt hatte. Nagi wartete schon und maß seinen Adoptivvater nun vorsichtig. Seine Gabe spielte nervös mit den Gläsern auf dem Tisch und beruhigte sich erst, als Brad sich gesetzt hatte. Schuldig griff unter den Tisch und holte die Whiskyflasche hervor. „Her mit den Gläsern“, sagte er zu Nagi, der sie wortlos über den Tisch schob. Schuldig befüllte sie bis zu einem rationalen, noch verträglichen Maß an Inhalt und schob sie zu Brad und Nagi zurück. Es war zwar nicht der Urlaub und das Ferienhaus von damals, aber es reichte, um zumindest in ihrem Jüngsten Erinnerungen an den schönen Moment hervorzurufen und auch Brad selbst schien einen Moment lang in den guten Momenten ihres damaligen Urlaubs versunken zu sein. „Erinnert ihr euch noch an den Hokkaidoauftrag?“, fragte Schuldig um das Schweigen zu durchbrechen und es war Brad, der amüsiert schnaubte. Keine ihrer Missionen hatte sie so sehr auf Trab gehalten wie die Jagd nach einem läppischen USB-Stick. Beinahe alles war schief gelaufen, angefangen von einer Flugverspätung, die alles nach hinten verschoben und Brads Gabe an den Rand der Verzweiflung getrieben hatte. Ganz zu schweigen von Jei, der zu ihrer aller Leid eine Bibliothek entdeckt hatte, die er partout nicht mehr hatte verlassen wollen, Auftrag hin oder her. Die Haut an Brads Arm wurde sichtbar eingedrückt unter der Wucht von Nagis Gabe, die sich an seinen Anführer klammerte. Weder er noch das Orakel sagten etwas dazu, anstelle dessen schwelgten sie weiter in Anekdoten ihrer weniger gut gelaufenen Aufträge. ~~**~~ Crawfords Hände waren bemerkenswert ruhig, als er sich seine Krawatte umlegte und band. Er rückte sie zurecht und griff zu seinem Jackett, das er mit gewohnter Erfahrung anzog. Als auch dieses perfekt saß, setzte er seine Brille auf und verließ sein Schlafzimmer, stieg langsam die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Seine Tasche, die er nach der Missionsbesprechung benötigen würde, stand bereits an der Garderobe, mit dem Nötigsten gepackt. Als sich die Tür öffnete, hatte er die letzte Treppenstufe gerade hinter sich gelassen und verbeugte sich nun im Angesicht der Dame des Hauses, die in vollem Ornat das Haus betrat und vor ihn trat. Er konzentrierte sich auf den Saum ihres Mantels und wartete, dass sie ihn mit ihrer Gabe und ihrem Blick durchdrang. Beides lastete bleiern und schwer auf ihm. „Ich grüße die Dame des Hauses“, richtete er zuerst das Wort an sie, mit weitaus sicherer Stimme als er sie vor Wochen im Krankenhaus gehabt hatte. Sie entlohnte das nach langen zwei Minuten, als sie ihm mit ihrer behandschuhten Hand zu verstehen gab, dass er sich zu erheben hatte. Crawford richtete sich langsam auf und behielt seine Augen auf Höhe ihres Kragens. Wenigstens dieses Protokoll würde er einhalten, wenn schon nicht alles andere. „Oracle, ich grüße dich.“ Neutral war ihre Stimme, emotionslos, wie sie zu sein hatte. Er nickte und wartete auf ihre nächsten Wünsche, die er bereits vorhergesehen hatte. „Ich wünsche, Schwarz, Weiß und Perser zu sehen. Danach werde ich mit Schwarz alleine sprechen.“ Er neigte den Kopf. „Sehr wohl.“ Sie trat vor und er folgte ihr und ihrem Assistenten hinein in den Wintergarten, in dem die restlichen Personen bereits warteten. Nagi und Schuldig erhoben sich nun ebenfalls und verbeugten sich vor der Exekutorin. Weiß blieb sitzen, waren jedoch zu Salzsäulen erstarrt. Ihr Wirken? Sicherlich. Ihr ging es um Schwarz, Weiß war ein Nebeneffekt. Nicht jedoch ihre Muse, dessen Blick sie nun einfing und erwiderte. „Perser.“ Er erhob sich, kam um den Tisch herum und schüttelte ihr die Hand. „Thanatos.“ „Setzen wir uns.“ Gemeinschaftlich nahmen sie Platz, sie und Perser am Kopf des Tisches. Thomas reichte der Dame des Hauses einen Ausdruck des dezidierten Berichtes, den Crawford der entsprechenden Informationszentrale geschickt hatte und bedeutete ihm, anzufangen. Mechanisch spulte Crawford den Ablauf der Mission hinunter. Zeitabschnitt um Zeitabschnitt rezitierte er und gab die Details wieder, von denen er wusste, dass sie wichtig waren. Er sparte nicht aus, was er getan hatte und aus welchem Grund. Ebensowenig sparte er aus, wie fruchtbar die Zusammenarbeit von Schwarz und Weiß zur Vernichtung von SZ, Lasgo und Takatori gewesen war. Zum Schluss legte er eine Prognose vor, wie sich die Vernichtung von Takatoris Netzwerk über Japan hinweg gestalten würde und was nötig wäre um das Land von seinen Spuren zu säubern. Zum Schluss seines Berichtes sah er hoch, direkt in ihre Augen und hielt der emotionslosen Ausdruckslosigkeit dort Stand, die wenig mit seiner Mutter zu tun hatte. Es waren die Augen seines Henkers, das Letztes, was er schlussendlich sehen würde. Nur an Perser sah er überhaupt, dass sie mit dem Anführer von Kritiker in mentalem Kontakt stand und sich mit ihm über das weitere Vertragswerk austauschte. Ein minimales Nicken beendete die Verhandlung und der Anführer von Kritiker legte mit Bedacht die Hände aufeinander. „Bis auf weiteres wird Schwarz vertraglich mit Kritiker verbunden bleiben und mithilfe des vorhandenen Fachwissens für eine effektive und effiziente Unterstützung bei der Vernichtung der kriminellen Strukturen sorgen. Zu gegebener Zeit, aber spätestens nach drei Monaten werden die Verhandlungen erneut geführt. Der Anführer von Schwarz wird nach dieser Besprechung zusammen mit mir in das Hauptquartier zurückkehren und die kommissarische Leitung über das entsprechende Team wird bis auf Weiteres auf Mastermind übergehen.“ Sie nickte und klappte die Akte zusammen. „Gibt es Anmerkungen?“, fragte sie und sah in die Runde. Es war eine rein rhetorische Frage, denn niemand widersprach der Dame des Hauses. Und diejenigen, die auch nur den Gedanken daran hegten – so wie Hidaka gerade – brachte sie mithilfe eines eisigen Blickes zum Schweigen. „Schwarz wird noch heute Abend in das vorherig bezogene Haus zurückkehren, während Weiß ab morgen früh den Betrieb des Blumenladens aufnimmt“, setzte Perser an ihrer Statt fort. Alles würde seinen gewohnten Gang gehen, auch ohne ihn. Und irgendwann, so hoffte Crawford, würde Nagi ein eigenständiges Leben ohne Groll oder Trauer führen. Wenn es unbedingt sein musste, konnte er das auch mithilfe des Weiß tun, den er im Grunde seines Herzens begehrte. Schuldig würde das tolerieren, das wusste er jetzt schon. Lediglich der junge Weiß würde erkennen müssen, dass die Feindseligkeit, die Nagi ihm insbesondere in den kommenden Wochen entgegenbringen würde, nichts weiter war als ein Ausdruck der verzweifelten Trauer. Der gegnerische Taktiker war nicht dumm und so hatte Crawford noch Hoffnungen, dass er einen maßgeblichen Teil zu Nagis Stärkung und Glück beitragen würde. Er mochte den Gedanken, lenkte er ihn doch davon ab, was kommen würde; der Sitz in der Maschine nach Wien, First Class, Direktflug. „Ich danke Ihnen Perser, aber vor allen Dingen auch Ihnen, Weiß, für Ihre Bereitschaft der Zusammenarbeit und hoffe, diese auch in Zukunft so fruchtbar gestalten zu können. Wenn Sie nun so gut wären, uns zu verlassen, damit wir die letzten Vorkehrungen zur eigenen Abreise treffen können?“ Das war es also. So einfach löste die Dame des Hauses ihren Verbund auf, so einfach schickte sie Weiß und insbesondere auch seine Muse weg, ohne die Möglichkeit, sich noch einmal verabschieden zu können. Crawford wusste zwar nicht genau, was er noch hätte machen wollen, was er nicht bisher nicht schon getan oder gesagt hatte, aber etwas zog an ihm und er befürchtete, dass es bereits der Wunsch war, Fujimiya nicht einfach so ziehen zu lassen. Mit Mühe sah er nun hoch und dem anderen Mann in die für einen Moment brach liegende, offene Mimik, die Trauer, die hinter der sorgsam ausgewählten Ruhe lag. Die Hand des Japaners zuckte und schließlich wandte er sich an die Dame des Hauses. „Er hat uns allen das Leben gerettet und dadurch die Mission zu einem Erfolg gemacht. Was ist da schon ein nicht befolgter Befehl gegen?“, wagte er es tatsächlich, das Wort an die oberste Exekutorin zu richten und sie zu kritisieren. Ruhig erwiderte sie den Blick des Mannes, der unweit neben ihr stand. „Mangelnde Disziplin.“ Seit frühester Kindheit hatte sie ihm eingebläut, dass Selbstdisziplin und Gehorsam ihrer Organisation gegenüber die wichtigsten Grundpfeiler für seinen Erfolg innerhalb von Rosenkreuz sein würden. Sie hatte ihm wieder und wieder gezeigt, was die Konsequenzen einer Befehlsverweigerung waren. Im vollen Bewusstsein was ihn erwarten würde, hatte er es getan und ebenso offenen Auges würde er ihr nun nach Österreich folgen. „Lass es gut sein, Fujimiya“, sagte Crawford, bevor der rothaarige Mann dagegen aufbegehren konnte. „Geh.“ Es war ein kurzes Lebewohl und eines, das Fujimiya zögern ließ. Das Räuspern Persers holte ihn jedoch aus seiner Starre und er folgte seinem eigenen Anführer, der Befehlsverweigerung ähnlich ahndete, wie sie alle wussten. Im Hintergrund griffen sich die Weiß ihre Sachen und wurden von einem eigens bereitgestellten Fahrzeug zurück nach Tokyo gebracht. Wie aus weiter Ferne hörte Crawford Hidaka schlechte Scherze machen, was dieser, wie er mittlerweile wusste, tat, um den Jüngsten ihres Teams aufzumuntern. Warum das notwendig sein sollte, erschloss sich Crawford nicht. Tsukiyono sollte froh sein, dass er neutralisiert wurde und auf seinem Grab tanzen. Es gab für ihn keinen Grund zur Trauer. Schweigend wandte sich Crawford an die Dame des Hauses. Im Augenwinkel sah er, dass Nagi zitterte, den Blick starr auf die Tischplatte gerichtet. Schuldig gab sich größte Mühe, einer Salzsäule Konkurrenz zu machen. Sie griff in ihre Tasche und erfüllte die Zukunft, die er nicht hatte verhindern können, als sie ihm sein Ticket überreichte und er dort genau das vorfand, was seine Vision ihm bereits vor Wochen mitgeteilt hatte. Fensterplatz 3A, Destination Wien. „Du wirst mich noch heute Nacht begleiten. Morgen wirst du dich zum Urteil des Rates stellen.“ Crawford nickte schweigend, weil er seiner Stimme nicht vertraute. Jeder Funken an Hoffnung, den er bis hierhin gehabt haben möchte, erlosch mit einem Mal und ließ für den Bruchteil eines Augenblickes blinde Verzweiflung in ihm, die es unsinnigerweise attraktiv machten, aufzuspringen und zu fliehen. Doch er selbst zerquetschte diese naive Denkweise, bevor sie ihn wirklich einnehmen konnte. Er war sein Leben lang nicht vor dem Urteil seiner Organisation geflohen, also würde er es jetzt auch nicht tun. Er erhob sich und mit ihm Schuldig und Nagi, die Dame des Hauses und Thomas. „Ihr habt zehn Minuten um euch voneinander zu verabschieden“, sagte sie und drehte sich um, verließ ebenso den Raum und, wie er nun hörte, das Haus, immer in Begleitung ihres Assistenten. Crawfords Blick schweifte zu Schuldig, dessen Augen verdächtig rot waren. „Scheiße, Brad. Nein. Nein“, presste er hervor und mit zwei Schritten war er bei Crawford und umfasste dessen Kopf mit seinen Händen. Stumm hielt das Orakel still und ließ zu, dass Schuldig die Stirn an seine eigene presste. Crawford schloss die Augen und hörte das unterdrückte Schluchzen, spürte die Tränen, die nicht die Seinen waren. „Sag mir, was ich tun kann. Sag mir, was ich tun soll. Ich will das nicht. Ich kann das nicht. Nicht ohne dich, du schottischer Bastard.“ Crawford schluckte gegen die Enge in seinem eigenen Hals an und spiegelte schließlich Schuldigs Geste. Sacht hielt er den anderen Mann an dessen Hinterkopf. „Du kannst und du wirst. Du hattest schon immer die Fähigkeit dazu.“ „Schamloser Lügner.“ „Beweise es mir.“ Schuldig verstummte und für Minuten waren es nur die leisen, ungewohnten Schluchzer, die den Raum zwischen ihnen mit Leben füllten. Es dauerte, bis Crawford sich von ihm löste und ihm ein letztes Mal in die blauen Augen sah. „Misch Kudou nicht zu sehr auf“, schmunzelte er und Schuldig schnaubte. „Los, Nagi wartet auf dich.“ Das tat sein Taktiker. Sein Adoptivsohn. Der Junge, den er von der Straße aufgelesen hatte. Einsam und mit bebenden Schultern stand er unweit von ihm und Crawford kam zu ihm. Schweigend zog er ihn an sich und ließ die Trauer des Jungen wie Dolche auf ihn wirken, die sich tief in sein Innerstes bohrten. „Es ist eine gute Familie. Sie werden dich akzeptieren und dich lieben, Nagi. Sei ihnen nicht böse, dass die Dame des Hauses den Befehl des Rates ausgeführt hat. Unserer Organisation ebenso nicht. Wir haben Regeln und diese gilt es einzuhalten. Sie dienen zu unser aller Zusammenleben.“ „Ich will sie ohne dich nicht“, wisperte Nagi gepeinigt und Crawford seufzte. „Du wirst meinen Vater mögen.“ Der Junge schüttelte den Kopf und barg seine Stirn an seiner Brust, wie er es in der Vergangenheit nun schon so oft getan hatte. „Geh bitte nicht.“ „Ich muss.“ Hoffnungsvoll sah der Telekinet hoch, in seinen Augen ein Widerstand, den Crawford da nicht sehen wollte. „Ich kann sie aufhalten.“ „Das wirst du aber nicht tun. Sie erfüllt nur ihre Aufgabe.“ Nagi verstummte und es waren Tränen, die die perfekte Ordnung seines Anzuges durcheinanderbrachten. Was ihn sonst verärgert hätte, trug Crawford nun als Andenken bei sich, als eine Erinnerung an die Menschen, die ihm etwas bedeuteten. Mit einem letzten Kuss auf den zitternden Schopf des Telekineten löste er sich von ihm und trat einen Schritt zurück. „Wenn Jei zu euch zurückkehrt, dann sagt ihm, dass ich noch ungelesene Märchenbücher für ihn in meinem Büro habe. Sie sind vor Wochen aus Sumatra angekommen“, sagte er an niemanden Bestimmten und wandte sich ab. Wenn er noch eine Sekunde länger bei seinem Team verbrachte, dann würde er Nagi erlauben, die Dame des Hauses festzusetzen, nur um sich dem idealisierten Gedanken einer Flucht hinzugeben. Oder dem utopischen Gedanken, mit ihr darüber zu diskutieren und siegreich daraus hervorzugehen. Nichts davon tat er, als er nun seine Tasche griff und das Haus verließ, das ihm soviel gebracht und gezeigt hatte. Thomas streckte ihm die Hand entgegen und nahm sein spärliches Gepäck in Empfang. Während der ältere Mann vorne einstieg, ließ sich Crawford auf die Rücksitzbank nieder, die schwere und erdrückende Präsenz der Dame des Hauses direkt neben sich bewusst. Die Dunkelheit, die sie zum Flughafen begleitete, war ihm wie eine Erinnerung an die Flucht mit Fujimiya weg von Lasgo. Er fühlte sich ebenso fürchterlich wie zu dem Zeitpunkt. Ebenso hilflos. Doch damals hatte er wenigstens Hoffnung gehabt. ~~**~~ Crawford kannte das Prozedere einer Neutralisierung zur Genüge. Es war ihm verboten, die Dame des Hauses oder ihren Assistenten anzusprechen. Wenn er nicht freiwillig folgen würde, würde sie ihn unter ihre völlige Kontrolle stellen, bis sie in dem Österreicher Institut angekommen waren. Folgte er so wie jetzt freiwillig, wurde er in Ruhe gelassen, durfte sich selbst bewegen und die Umgebung in sich aufnehmen, ohne dass ihm Eindrücke vorenthalten wurden. Lediglich Thomas war eine schwere Präsenz in seinem Rücken, immer darauf bedacht, ihn an einer Flucht zu hindern, wenn die Dame des Hauses abgelenkt war. Als wenn. Er ließ die Menschen auf dem Flughafen an sich vorbeiziehen, ebenso wie die wenigen Gäste der First-Class-Lounge. Schweigend stieg er in den Flieger, der ihn nach Wien bringen würde und bezog seinen Sitzbereich, den er die nächsten zwölf Stunden sein Eigen nennen durfte. Crawford könnte in seinen Gedanken pedantisch alles aufzählen, was er nun zum letzten Mal machen würde, doch er ließ es. Er wollte diese zwölf Stunden nicht daran erinnert werden, was ihm bevorstand, er wollte nur noch einmal ganz normal leben. So bestellte er ein Menü, in dem Wissen, dass er keinen Hunger hatte und nur einen Bruchteil dessen schaffen würde. Er bestellte sich Limonade und Whisky dazu, er nutzte das Unterhaltungsprogramm, er versuchte zu schlafen, auch wenn das nicht wirklich von Erfolg gekrönt war. Er träumte sogar in den wenigen Stunden, die er Schlaf bekam. Es war ein schöner Traum, wusste er im Nachhinein, auch wenn er sich nicht mehr daran erinnerte, was es gewesen war. Und so lief die Zeit davon, brachte ihn schlussendlich im Sonnenaufgang nach Wien, der alles, was die Sonnenstrahlen erreichen konnten, in ein feuriges, frisches Rot tunkte. Es würde warm werden in dieser traditionsträchtigen Stadt, die er vor zwei Jahren das letzte Mal gesehen hatte. Weniger schwül, eher trocken sommerlich und die Wiener würden aus den Kaffeehäusern nach draußen drängen. Die Stadt würde zum seichten Leben erwachen, so gänzlich anders als Tokyo. Verschieden, aber doch ähnlich charmant. Fujimiya hätte es sicherlich hier gefallen. Crawford lächelte, als der Gedanke ungebeten und überraschend kam, aber nicht unwillkommen war. Alleine die Vorstellung, dass der Tokyoter völlig verloren in diesem Dorf stand, denn nichts Anderes musste Wien für den Japaner sein, war äußerst amüsant, so ließ er sich von ihr treiben, während er auf sein Gepäck wartete und schlussendlich von Thomas zu der wartenden Limousine begleitet wurde, die Dame des Hauses vor ihnen, die Haare zu einem strengen Dutt hochgesteckt. Er stieg in den geräumigen Wagen und als er an sich heruntersah, bemerkte er, dass seine Hände zitterten und sich klamm anfühlten. Erst dann wurde ihm bewusst, dass es die Dame des Hauses sein musste, die die negativen Emotionen von ihm fernhielt und nur noch Ruhe übrig ließ. Sicherlich nicht aus Nächstenliebe, sondern aus reinem Pragmatismus, dass er ihr nicht schon am Flughafen Probleme bereitete. Die Umgebung zog an ihm vorbei, als sich der Wagen in Bewegung setzte und sie nach Osten in den Nationalpark Donau-Auen brachte, in dem Rosenkreuz ein weitläufiges, verstecktes Areal besaß, auf dem ihre Schule und die medizinischen Einrichtungen errichtet worden waren. Es war der Hauptsitz des Rates, im Gegensatz zu den alten, historischen Gebäuden in der Wiener Innenstadt. Wie im Flug verging die Zeit, bis sie auf den Schotterweg zu dem Areal abbogen und das Haupthaus in gelbem Sandstein mit dem zinnoberroten Dach vor ihm auftauchte. Die kunstvoll gestalteten Figuren auf dem Dach erzählten eine Märchensprache, die Jei immer wieder fasziniert hatte und gerade jetzt, in diesem Moment versuchte Crawford, sich daran zu erinnern, was der Ire ihm mit rauer Stimme über die steinernen Zeugen einer nie dagewesenen Vergangenheit erzählt hatte. Er musste sich von ihrem Anblick lösen, als er ausstieg und Thomas ihm bedeutete, dass er der Dame des Hauses zu folgen hatte. Crawford setzte sich in Bewegung und leise knirschte der Kies unter seinen Schuhen. Er hatte Recht behalten, es war warm, aber nicht unangenehm heiß. Er folgte ihr in die kühle, marmorne Eingangshalle, in der zu diesem Zeitpunkt noch kein Betrieb herrschte. Genaugenommen war sie leer bis auf den Jungen, der sein Puppenspieler sein würde und Crawford erkannte, was er in seiner Vision gesehen hatte. Die Zukunft war also da. Er hätte Angst haben sollen, hätte sich unwohl fühlen sollen, doch da war immer noch nichts, was an sich beängstigender war als die Emotionen selbst. Der Junge, ein blondes, unschuldig aussehendes Ding, wippte auf der Stelle, die Hände hinter seinem Rücken verschränkt. Große, begeisterte Augen maßen ihn schier gierig und dass der Puppenspieler ihn nicht anfiel, als er in seine Nähe kam, schien einzig an der Gegenwart der Dame des Hauses zu liegen. „Herr Crawford!“ Der Junge grinste von einem Ohr bis zum Anderen und Crawford hasste ihn in diesem Moment wie nichts Anderes auf der Welt. Das brachte das Grinsen zum Erliegen und er erkannte, dass der Kleine ein Empath war. Ein gottverdammter Empath. Das half dem Hass gar nicht, im Gegenteil. Wütend starrte er auf den PSI hinunter und betrachtete die ihm nun zögerlich entgegengestreckte Hand mit Abscheu. Er wusste, dass er einschlagen sollte. Er wusste, dass es von ihm erwartet wurde. Doch er sträubte sich, solange es ging. Solange, bis das Räuspern der Dame des Hauses ihm unmissverständlich zu verstehen gab, dass er zu gehorchen hatte. Jetzt und für den Rest seines kümmerlichen Lebens. Crawford schlug ein und im ersten Moment war da nichts. Nur der zarte Händedruck eines Jungen. Doch dann kamen sie mit einem Mal. Sämtliche Emotionen, die die Welt schon einmal gesehen haben mochte, strömten auf ihn ein. Unsicherheit. Angst. Begeisterung. Liebe. Stolz. Trauer. Hass. Ungeduld. Freude. Scham. Überraschung. Neid. Reue. Vertrauen. Sympathie. Strenge. Misstrauen. Verwirrung. Es waren zu viele, als dass Crawford sie nacheinander benennen konnte und so zogen ihn all die Gefühle des Empathen mit in die Tiefe, sicherlich begünstigt durch seinen Schlafmangel, seine Weigerung, richtig zu essen und den Stress, den die Dame des Hauses bisher von ihm ferngehalten hatte, der nun auch auf ihn einbrach. Er ging auf die Knie, sich nur am Rande des erschrockenen „Herr Crawford?!“ bewusst, als alles um ihn herum schwarz wurde, noch bevor sein Kopf auf den Boden auftraf und die Welt in allumfassende Dunkelheit tauchte. ~~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)