Zum Inhalt der Seite

Die Farbe Grau

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Disclaimer: alles nicht mir, bis auf die Ideen zu dieser Geschichte.

Ansonsten: weiter geht's! Dieses Mal ein bunter Strauss aus Gewalt und anderen Dingen, die eventuell mit Emotionen verbunden sein könnten *hüstel* Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Post mortem

„Glaubst du wirklich, dass ich dich hiermit ungestraft davonkommen lasse, Bradley?“
 

Würde Crawford die Stimme des Mannes, den er immer noch an sich gepresst hielt, nicht hassen wie nichts Anderes auf der Welt, so würde er sich rein von der Lockung in den sanft ausgesprochenen Worten täuschen lassen, wenn er die offensichtliche Drohung, die mitschwang, außen vorließ.

So waren die Worte wie ein Kreischen, das sich in seine Nerven grub, an ihnen zerrte und seine eiserne Selbstbeherrschung zu kippen drohte. Der Geruch des Mannes drängte sich in seine Nase und Crawford verspürte den überschäumenden Drang, sich zu übergeben. Wieder und wieder und wieder. Mit dem Geruch kam die Erinnerung an den Geschmack des Mannes vor ihm in seinem Mund.
 

„Glaubst du wirklich, dass du lebend hier herauskommst?“, erwiderte er, als er seiner Stimme wieder genug vertraute um fest zu klingen und presste die Klinge an den Hals. „Ich glaube nicht, Lasgo.“

Crawford lächelte grimmig. Nein, der Name durfte ihm keine Angst machen, dass er durch Nennung einen bösen Geist beschwor. Jetzt gerade, in diesem Moment, durfte er nicht davor zurückscheuen, ebenso wenig wie er vor dem Mann zurückscheuen durfte, der seine persönliche Hölle war.
 

Beinahe schon war es ein Einfaches, alle anderen Männer und Frauen in dem Raum zu vergessen.
 

Das wohlwollende Schmunzeln des Menschenhändlers spürte er mehr als dass er es wirklich sah. „Du erinnerst dich, Bradley, an unser erstes Mal? Was habe ich es genossen, dir die Illusion zu lassen, dass ich dich nur foltern werde und dass du dich, bevor ich dich umbringe, aus der Situation herauskämpfen kannst. Ich habe jeden Schlag genossen, der dich davon überzeugt hat und der mich zu dem Moment geführt hat, in dem du begriffen hast, was ich eigentlich für dich geplant habe.“
 

Crawford ließ sich nicht lähmen. Er durfte es nicht, auch wenn die Erinnerung an eben jenen Augenblick ein ganz eigenes Ungeheuer war, das ihn heimsuchte, ob er nun schlief oder wach war. Der erste, wirkliche Kontrollverlust seines Lebens, der absolute Eingriff in seine Selbstbestimmung und seine körperliche Unantastbarkeit. Das Epitom seiner Hilflosigkeit.

In diesem Moment machte sich Crawford nichts vor. Er war durch Lasgo nachhaltig verändert worden, die Verletzungen seelischer Natur, die ihm zugefügt worden waren, würden ihn nicht zu dem Mann zurückkehren lassen, der er vorher gewesen war.
 

Der Gedanke daran, sich das nun endlich in aller schonungsloser Offenheit eingestehen zu können, war Labsal, mehr noch. Er befreite ihn von seiner Angst und seiner überstürzten Hast, auf den Mann vor sich reagieren zu müssen. Er ließ ihm die Freiheit zu agieren und Crawford kam nicht umhin, über diesen Gedanken zu lächeln.
 

„Jei“, sagte er, ohne seinen Blick von Lasgos Männern zu nehmen, die ihn genau im Visier hatten.

„Hellseher.“ Crawford hörte Vorfreude. Er musste nicht mehr sagen, der Ire wusste, was er von ihm wollte, eine Reminiszenz an alte Tage, die sie zu zweit auf Aufträgen verbracht hatten.

„Nagi.“ Der Junge würde ihn ebenso wenig enttäuschen, dessen war sich Crawford sicher und stieß Lasgo von sich, in dem Wissen, dass dieser ihn lebend wollte. Er setzte dem strauchelnden Mann nach und gab somit Jei Raum zum Angriff auf den Menschenhändler.
 

„Die Seite“, befahl Crawford seelenruhig und Jei stach mit seinem Dolch zu, noch bevor die erste Kugel auf ihn zukam. Lasgo schrie und es war Musik in seinen Ohren, vielmehr jedoch labte er sich an dem Gefühl ihrer Verbindung, das sie mit einem Mal erneut hatten, als die Gabe des Neutralisators von ihnen abfiel.
 

Nagi wusste, was er zu tun hatte, ebenso wie Schuldig, dessen mentales Lachen an seinen Schilden kratzte und ein einziges Mal in seinem Leben willkommen war. Die nächsten Schüsse, die sich lösten, wurden von der freigelassenen Telekinese seines Strategen aufgefangen und umgeleitet, ebenso wie die Waffen sich in chirurgischer Präzision aus den Händen der Söldner lösten, parallel zu Schuldigs Eingriff in ihre Gedanken.

Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis der PSI-Begabte vor ihm sich trotz seines Schmerzes fing, doch dieser minimale Zeitraum hatte gereicht, um ihnen einen Vorteil zu verschaffen. Icemans Team führte den Angriff präzise und tödlich aus, während Weiß den Flüchtenden den Weg in die vermeintliche Sicherheit abschnitt.
 

Das Geschrei und das Geräusch der zu Boden fallenden Körper waren Labsal in Crawfords Ohren und ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. Doch all das nahm er nur am Rand wahr, denn seine Konzentration lag auf dem Mann, der sich trotz seiner Verletzung aufgerafft hatte und nun selbst zur Waffe griff. Crawford ließ sich ein auf den Wettlauf mit der Zeit, als er Lasgo nachsetzte und den Streifschuss in Kauf nahm, der nun seinen linken Arm für den ersten Moment bewegungsunfähig machte.

Er biss die Zähne zusammen und schlug dem Anderen die Waffe aus der Hand.
 

Natürlich hatte er die Möglichkeit, den Drogenhändler mit seiner Schusswaffe zu töten, doch das wollte Crawford nicht. Er wollte ihn mit seinen bloßen Händen töten, ihn Stück für Stück auseinanderreißen, das, was er schon vor Wochen hätte tun sollen.

Crawford schlug zu und wurde pariert. Zweimal. Dreimal, bis er in der Deckung des Neutralisators eine Lücke fand, die ihm den benötigten Zugang verschaffen würde.

Drei Schläge bedurfte es, bis sein Gegner zurücktaumelte und sich die blutige Nase hielt. Einen weiteren, bis er einen Fehler in seinen Angriffen machte und Crawford ihn mit einer gezielten Faust in die Nierengegend zu Boden schickte.
 

Es gab soviel, was er Lasgo dabei an den Kopf werfen wollte, so vieles, was unter seiner Oberfläche brodelte, das er dem anderen Mann ins Gesicht spucken sollte. Doch Crawford schwieg, während er um die Vormachtstellung kämpfte und beinahe schon schmunzelte, als er feststellte, dass Lasgos Art zu kämpfen Fujimiyas Art gar nicht unähnlich war. Gewalttätiger, brutaler, sadistischer, aber er konnte sich mühelos auf die Bewegungsabläufe einstellen, Treffer ebenso selbstverständlich wie siegessicher einstecken. Das Messer in der Hand des anderen Mannes sah er und antizipierte es, auch wenn er nicht verhindern konnte, dass es ihn ebenso traf wie der Pfeil Tsukiyonos. Natürlich auch noch an der exakt gleichen Stelle und Crawford zischte ob des Schmerzes, der sich seine Seite entlangzog.
 

„Du warst nie in der Lage dazu, mich umzubringen“, spottete Lasgo und Crawford schlug ihm dafür ins Gesicht. Mit stummer Berechnung setzte er ihm nach und rang ihn zu Boden, die Hand mit dem Messer eisern auf den Boden pressend.

Er schlug weiter zu. „Du hast mich nicht gebrochen.“ Der nächste Schlag folgte und darauf wieder einer. Unzählige Male schlug er zu, immer wieder sein Credo auf den Lippen, das er herunterbetete wie eine Litanei der Stärke.
 

So vieles, was er sagen wollte und doch kam ihm nur das über die Lippen. Er war nicht gebrochen und selbst im Angesicht der Neutralisierung würde er nicht klein beigeben. Er würde frei ins Nichts gehen, nicht als Sklave seiner Ängste vor einem Mann, den er nun mit seinen Fäusten zu einem blutigen, unkenntlichen Brei schlagen würde.

Doch selbst jetzt noch lachte Lasgo. Blut spritzte von seinen Lippen, als er die ach so sanften Augen auf Crawford richtete.

„Glaubst du wirklich, dass es hiermit vorbei ist?“, röchelte er. „Glaubst du, dass ich der Einzige bin?“

Grinsend packte Crawford Lasgo am Kragen seines Hemdes und zog ihn daran hoch. „Ich weiß, dass du es nicht bist. Ich weiß um Leonard und seine Verbindungen zu dir, Takatori und SZ.“
 

Zum ersten Mal sah er so etwas wie bodenloses Erstaunen in den nun blutigen Zügen und Crawford lachte. „Was ist das für ein Gefühl, dass trotz eurer sorgfältigen Planung zum Schluss doch alles vernichtet wird, was ihr versucht habt zu errichten und dass Rosenkreuz siegreich aus dem Kampf gegen euch hervorgehen wird?“

Lasgo spuckte ihm blutigen Speichel ins Gesicht, der langsam und kitzelnd an Crawfords Wange hinunterfloss.

„Du wirst nicht siegreich sein, das wird er nicht zulassen! Er wird dich neutralisieren und damit wird dann eure verfluchte Sippe und ihr Einfluss auf die Organisation erlischen. Rosenkreuz ist dem Untergang geweiht und nichts hält die Alten auf, schon gar nicht du, Hure Babylons.“
 

Crawford hielt inne und betrachtete den Mann, der versucht hatte, ihn zu einer solchen zu machen. Stück für Stück prägte er sich das blutige und geschwollene Gesicht des Drogenhändlers ein, der unter ihm lag, wie in einem pervertierten Spiegel der Tage in seinem Areal. Dort hatte er unter dem Anderen gelegen, hilflos, verwundet in Körper und Geist.

In aller Seelenruhe stand er auf und hob das Messer, das in ihrem Kampf ein paar Meter weitergeschlittert war. Ebenso ruhig kam er zurück und beobachtete Lasgo dabei, wie dieser sich mühevoll aufrichtete. Crawford schnaubte und packte ihn an den Haaren, während er ihm die Klinge in den Hals stieß.
 

Schweigend sah er zu, wie der Körper hilflos zuckte, als er den Kampf verlor. Er beobachtete, wie die Hände nutzlos versuchten, das Messer zu ziehen, wie der Mann röchelte und nach Luft schnappte und doch keine bekam, weil er seine Luftröhre durchtrennt hatte. Er verfolgte den Weg des Blutes, das sich über den Marmor ausbreitete und ihn rutschig machte.

Sekunde um Sekunde wohnte Crawford dem Todeskampf seines Vergewaltigers bei und spürte, wie Ruhe ihn erfüllte, während unaufdringlich und versichernd im Hintergrund seine Visionen ihren Dienst aufnahmen.
 

Er gönnte sich noch ein paar letzte Sekunden des Anblicks, bevor er sich zu seinem Team und Weiß umdrehte, die ihn vorsichtig maßen. Keiner von ihnen wagte es, das Wort an ihn zu richten.
 

Crawford musste sich räuspern um überhaupt eine Stimme zu haben.
 

„SZ und Takatori versuchen, über die zweite Plattform zu fliehen. Sie starten in zwei getrennten Helikoptern. Wir gehen.“
 

Auch wenn Crawford noch stundenlang an der Seite des toten Mannes hätte verbringen können, um sich an dessen leblosen Augen zu laben und sich zu versichern, dass er es geschafft hatte. Dass er erfolgreich gewesen war und dass der andere Mann ihn nicht gebrochen hatte.
 

~~**~~
 

Als sie das Oberdeck erreichten, wurde es bereits hell und die absolute Schwärze der Nacht machte einem dunklen Grau Platz, das den nahenden Morgen ankündigte. Nagi wehte die aufgeschäumte Gischt des aufgewühlten Meeres ins Gesicht, als er sich in die von Oracle benannte Richtung drehte und den Helikopter der drei verrückten Alten abheben sah, der im Gegensatz zu Takatoris Helikopter bereits in der Luft war.
 

~Habe ich die Freigabe?~, richtete er über ihre interne Kommunikation an Crawford und dieser bestätigte knapp. Nagi atmete tief durch und hob seine Arme. Seine Gabe wartete nur darauf, dass er sie einsetzte, wie ein Tier, das er viel zu lange gefangen gehalten hatte. Es brach aus seinem Gefängnis aus, zunächst unkontrolliert, bis er sich soweit beherrschen konnte, die Telekinese zielgerichtet gegen den Helikopter zu richten. Ob sie bereits wussten, dass der Neutralisator tot war? Ob sie gerade vor Angst vergingen? Nagi wusste es nicht, aber er hoffte und gönnte es den Dreien von ganzem Herzen.
 

Solange er denken konnte, hatte Rosenkreuz mit SZ paktiert. Die Zusammenarbeit war stets darauf ausgerichtet gewesen, fruchtbar zu sein für beide Seiten. Sie hatten ihren Einfluss über die Welt vermehrt. Doch dann hatte SZ Experimente genehmigt, die selbst Jei ein angewidertes Stirnrunzeln abgerungen hatten. Sie hatten ihre fixen Ideen einer untergegangenen und neu auferstandenen Welt durchsetzen wollen. Spinnereien, nichts weiter. Dass sie es gewagt hatten, sich an Crawford und an ihm zu vergreifen, war hingegen unverzeihlich. Wieviel hatten sie ihnen gegeben, wie oft hatten sie für die Ziele dieser Organisation geblutet?

Einmal zu oft, als dass Nagi jetzt nicht voller Wut den Helikopter in der Luft stillhielt und ihn Stück für Stück auseinanderriss. Für Crawford. Für sich selbst.
 

Als wäre es Papier riss er das Metall aus der Konstruktion und ließ die Teile ins Meer fallen, solange, bis nur noch die drei Alten in der Luft schwebten, zu weit entfernt, als dass er einen Blick in ihre panischen Gesichter werfen konnte. Wohl aber spürte er durch seine Telekinese ihre verzweifelten Versuche, sich gegen den kommenden Tod zu wehren.
 

Nagi lächelte. Rache zu nehmen war noch nie so süß gewesen, so ließ er die drei Anführer von SZ vergehen. Und wer konnte schon von sich behaupten, von der Luft, die ihn umgab, in Stücke gerissen zu werden?
 

~~**~~
 


 

Jahrelang hatte Aya Takatori nachgejagt, hilflos angesichts der Verbindungen des Politikers zu Rosenkreuz und anderen Organisationen, die ihn schützten. Doch nun, hier auf dieser Insel, war der Mann ein Niemand mehr. Er hatte nur noch ein paar seiner Männer und auch diese waren Weiß hilflos ausgeliefert, als sie sie Stück für Stück abschlachteten auf ihrem Weg nach oben. Icemans Team und Schwarz folgten ihnen, doch die Jagd gehörte nur ihnen, niemandem sonst und sein Team obließ es Aya, den Mann zu stellen, der seine Familie auf dem Gewissen hatte.

Grimmige Zuversicht und Vorfreude erfüllten ihn, aber auch die diffuse Angst nach dem Danach, die er noch ganz weit nach hinten schob. Bisher war es der Wunsch nach seiner Rache an Takatori gewesen, der ihn angetrieben hatte. Nun war die Erfüllung des Wunsches in greifbarer Nähe, spätestens jetzt, als sich der Helikopter bereits in Sichtweite befand und die Motoren hochgefahren waren, bereit für den Startvorgang.
 

Aya setzte zu einem Sprint an. Dieses Mal würde Takatori ihm nicht entkommen. Die Wachen, die er mitgenommen hatte, hatten gegen sie und Schwarz nicht den Hauch einer Chance. Einer nach dem anderen fiel und wurde tödlich getroffen, bis zum Schluss nur noch der Mann übrig war, dessen Tod Aya über Jahre hinweg priorisiert hatte, vor allem Anderen.
 

Angstvoll lagen die dunklen Augen auf ihm und das spärliche Licht des aufkommenden Morgens tauchte sie alle in graue Trostlosigkeit. Die Waffe, die sich nun auf ihn richtete, machte Aya keine Angst. Naoe würde es zu verhindern wissen, dass die Kugel ihn traf. Oder Omi. Oder Youji. Vielleicht sogar Schuldig.

~Mal schauen. Wenn ich Lust habe.~

Aya widerstand dem Drang, mit den Augen zu rollen.

~Willst du ihn davonkommen lassen?~

~Den Panda? Niemals. Aber vielleicht möchte ich ihm selbst seinen Golfschläger bis zum Anschlag in den Arsch rammen.~

~Golfschläger?~

Schuldig erwiderte nichts, so widmete Aya seine Aufmerksamkeit dem Mann, der ihn anstarrte, als wäre er die Schlange, die sich dem Kaninchen näherte.
 

„Du hast meine Mutter und meinen Vater töten lassen. Meine Schwester liegt wegen dir im Koma“, schrie er ihm über das Rauschen des Meeres entgegen, während Takatori panisch und kopflos seine Waffe abfeuerte. Einmal und es tat sich nichts. Zweimal und es tat sich nichts. Naoe also, der nicht nur den anderen Helikopter zerrissen hatte, sondern sich nun auch noch auf ihn konzentrierte.
 

Beim dritten Mal hatte Aya ihn erreicht und stieß ihm sein Katana bis zum Anschlag in den Leib, von unten durch das Herz. Der wuchtige Mann sackte mit einem abgehackten, weinerlichen Laut zusammen und zog Aya mit sich, als er zu Boden fiel. Er ließ sich mitziehen, denn wie Crawford zuvor auch schon, wollte er jede einzelne Sekunde bis zum Tod des verhassten Mannes mitverfolgen.
 

Takatori kämpfte um jeden Atemzug. Es war, als würden weder er noch sein Körper sterben wollen, doch beide kämpften einen aussichtslosen Kampf. Es dauerte seine Zeit, sieben Minuten, bis die inneren Verletzungen den Todeskampf beendeten und einen leblosen Körper da ließen, der ihnen allen soviel Leid beschert hatte.

Aya starrte auf ihn hinunter und spürte, wie sich bodenlose Erleichterung ihren Weg durch seine professionelle Schicht an Sachlichkeit kämpfte.
 

Sie hatten es geschafft. Takatori war tot. Er war tatsächlich tot. Lasgo war tot. Sie hatten den Auftrag erfolgreich erfüllt.

Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht auf, das in kürzester Zeit zu einem befreiten Lachen wurde. Sie hatten es geschafft!
 

Aya drehte sich zu seinem Team und zu Schwarz um, gerade rechtzeitig um zu sehen, wie Schuldig Crawford am Kragen packte und zu sich zog. Noch bevor er jedoch seine Faust heben konnte, griff das Orakel danach und hielt sie eisern unten. Schweigend starrten die beiden Männer sich an, in einem Kampf gefangen, den sie auf ihrer ganz eigenen, mentalen Ebene führten.
 

~~**~~
 

Schuldig hatte für seinen Anführer gelitten. Er hatte sich mit Weiß zusammengetan um dessen wunden Arsch aus Lasgos Händen zu befreien. Er hatte die Zusammenarbeit mit Kritiker geschluckt und seine Wut auf das Orakel gleich mit. Er hatte gute Miene zum bösen Spiel gemacht und alles in seiner Macht Stehende getan, um seinen gottverdammten Anführer am Leben zu halten.

Und nun hatte Schuldig feststellen müssen, dass eben jener die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und seine Schilde hochgezogen hatte.
 

Seine verfluchten, verfickten Schilde.
 

Schuldig hätte vor verzweifeltem Frust schreien können und das nur Minuten nachdem triumphale Siegessicherheit seine Gedanken beherrscht hatte. Sie hatten sich Lasgo entledigt und SZ, nebenher auch Takatori gleich mit dazu. Sie waren erfolgreich gewesen und sein dummer Anführer hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als seinen persönlichen Erfolg dadurch zunichte zu machen, dass er den Befehlen der Dame des Hauses nicht folgte und sich somit der sicheren Neutralisierung auslieferte. Das hatte Crawford ebenso sicher gewusst wie er auch, schließlich kannte er die Regeln ihrer Organisation.
 

Der Moment seines Begreifens war auch der Moment gewesen, in dem er seine Faust zielsicher in Brads Gesicht hatte treiben wollen aus lauter Frust um die unendliche Dummheit des Orakels, das es eigentlich hatte besser wissen müssen, als sich willentlich und wissentlich dem Freitod zu überantworten.

Brad hinderte ihn daran und Schuldig hätte ihn dafür gleich doppelt schlagen können. Wie sollten sie denn ihren Sieg genießen, wenn ihr Anführer nicht mehr existierte?
 

~Du Scheißidiot! Warum hast du das getan? Warum, Brad, warum?~, zischte er mental und stieß auf nichts als Barrieren, die so fest saßen wie eh und je. Es schmerzte Schuldig mehr als dass er es wahrhaben wollte.

~Es war der Schlüssel um siegreich zu sein.~ Kühle, unbeteiligte Gedanken. Schuldig glaubte Brad die Intonation keine Sekunde lang.

~Du hast dich der Neutralisierung preisgegeben.~

~Das war notwendig.~

~WOFÜR?~

Brad ließ ihn los und trat einen Schritt zurück. ~Um euch alle zu retten. Deswegen hat sich die Vision nie geändert, weil es geschehen musste, damit wir siegreich sind.~

~Bullshit!~

~Durch meine Schilde hatte der Empath keinen Zugriff mehr auf mich. Jei und ich konnten ihn eliminieren, bevor er euch dazu bringt, euch umzubringen.~
 

So wenig wie Schuldig das glauben wollte, so sehr wusste er aber auch, dass Brad ihn nicht anlog. Nicht in dieser Angelegenheit.

~Scheiße!~
 

Schuldig drehte sich abrupt weg und starrte auf das aufgewühlte Meer und die Wellen, die sich an den massiven Säulen der Bohrinsel brachen. Er fuhr sich verzweifelt durch die Haare und zischte vor Schmerz. Natürlich hatte seine Schulter etwas abbekommen, ebenso wie seine Nase, dank Kudou und Hidaka. Doch das war ihm gerade jetzt willkommen, denn er brauchte ein Ventil. Er wollte Brad nicht gehen lassen. Er wollte sich nicht vorstellen müssen, ein neues Team zu haben, Nagi und auch Jei hinter sich zu lassen. Er konnte sich nicht vorstellen, einen neuen Anführer zu haben.
 

Er wollte Brad. Niemand Anderen.
 

Das graue, triste Licht des Morgens wurde heller und heller und brachte mehr Regen mit sich. Schuldig ignorierte, dass er bis auf die Knochen nass wurde, er ignorierte Nagis zaghafte, mentale Frage nach seinem Handeln. Es brauchte Minuten, bis er sich wieder so weit unter Kontrolle hatte, damit er zu den Anderen zurückkehren konnte, ohne sich telepathisch an einem der Weiß zu vergreifen, eben weil sie die einzig Lebenden auf der Insel waren, die nicht zu seinem Team gehörten.
 

„Brad wird dir deine Frage beantworten, wenn wir zurück sind“, sagte er ihrem noch ahnungslosen Jüngstem und ging an ihnen vorbei zu ihrem Hubschrauber, der sie wieder zurück zum Festland bringen würde.
 

~Du solltest dich schämen, dass du deinen Adoptivsohn alleine lässt. Dass du uns alleine lässt.~
 

Brad erwiderte nichts, das Gesicht sorgfältig ausdruckslos.
 

~~**~~
 

„Wir haben es geschafft.“
 

Omi grinste bis über beide Ohren, als Ken das in die Runde warf, was sie allesamt beschäftigte. Nach Jahren, Monaten, Wochen hatten sie es geschafft und hatten Takatori besiegt. Zum Schluss hatte er gar nichts gehabt. Er war nicht zum Premierminister gewählt worden, sein korruptes Netzwerk war zusammengebrochen und mit ihm Lasgo und SZ auch mit ihren unmenschlichen Experimenten. Der Spuk hatte ein Ende.

Ja, sie hatten es geschafft.
 

Aya lächelte und stieß mit seinem Team an, jeder von ihnen eine verdiente Flasche Bier in der Hand, ein Ritual nach jeder erfolgreich bestandenen Mission. Sie saßen im Wintergarten zusammen, ohne dass sich ein Schwarz zu ihnen gesetzt hätte. Ob es ein Ausfluss des erzwungenen Kampfes unter dem Einfluss des Empathen gegeneinander war oder ob es mit dem komischen Verhalten von Schuldig und Crawford war, wusste Aya nicht, aber in dem Moment war es ihm auch egal. Er schwelgte in einer konstanten Ruhe und Gelassenheit, die er schon lange nicht mehr gespürt hatte.
 

„Wir können bald ins Koneko zurück“, merkte Youji an und erntete damit die breite Zustimmung ihrer kleinen Gruppe.

„Endlich“, stöhnte Ken und Omi hob die Augenbraue.

„Also wenn ich die Wahl habe zwischen einem kleinen, nichtklimatisierten Haus in der Stadt und dieser Luxuvilla am Meer…“

Youji schnaubte. „Dann bleib doch hier und pass alleine auf das Haus auf. Aber denk ja nicht, dass ich deine Schichten im Blumenladen übernehmen werde.“
 

Nun stöhnten sie kollektiv auf.

„Keine Lust“, grollte Ken und Aya konnte ihm nur beipflichten. Alleine der Gedanke daran von der stillen Einsamkeit des Hauses wieder zurück ins laute Tokyo zurück zu kehren und sich den kreischenden und quietschenden Mädchen zu stellen, war unerträglich. Sie würden es ohne jede Frage tun, aber Aya hätte lieber noch mehr Zeit hier im Haus, als dass er in sein eigenes Zimmer zurückkehrte. Innerlich schnaubte er. Wer hätte das vor ein paar Wochen gedacht?

Aber wer hätte da auch gedacht, dass er einen Schwarz küssen würde. Crawford. Das Orakel, das die Mission bis auf wenige Verletzungen erfolgreich hinter sich gebracht hatte, die von dem Rosenkreuzteam versorgt worden waren, die ebenso wie die Ärzte und Schwestern von Kritiker während ihrer Abwesenheit in diesem Haus eingetroffen waren. Das Sorgenkind jedoch war Farfarello gewesen, der sich mit hasserfülltem Gesicht von Naoe auf das für ihn vorbereitete Bett hatte helfen lassen müssen.
 

Auch wenn er keinen Schmerz spürte, so waren die Verletzungen, die er sich zugezogen hatte, potenziell tödlich, wenn sie nicht versorgt werden würden. Dass es dem sonst so unbeteiligten Iren überhaupt nicht recht gewesen war, war eine Sache, die Schwarz unter sich ausmachen mussten und Aya war wirklich dankbar darum. Auch jetzt noch.
 

„Was für eine Zeit“, seufzte Omi und Youji nickte.

„Verrückt.“

„Das alle Male.“

„Auf uns!“ Sie stießen erneut an und Aya folgte mit einem minimalen Zögern. Eine leise Stimme in ihm flüsterte ihm zu, dass etwas nicht stimmte, dass es eine Dissonanz gab. Was genau es war, das konnte er nicht festmachen, aber das mochte auch an seiner Müdigkeit liegen, die an ihm zog und zerrte. Auch wenn es Mittag war, wurde es langsam Zeit, dass er ins Bett kam und schlief. Das galt nicht nur für ihn, wenn er sich sein Team näher betrachtete.
 

~~**~~
 

Crawford hatte sich, sobald das Haus zur Ruhe gefunden hatte, in ein Zimmer zurückgezogen und saß seitdem am Fenster, starrte hinaus auf das Meer, das sich im Laufe des Tages veränderte, während er seine Gedanken durch die Zeiten geschickt hat, immer auf der Suche nach neuen Erinnerungen an sein vergangenes Leben, die es noch einmal wert waren, durchlebt zu werden.

Im Laufe des Nachmittags hatten sich die Mediziner von Rosenkreuz und Kritiker zurückgezogen und das Haus in Stille zurückgelassen. Crawford kam es vor, als würde eben dieser Weggang auch sein Verblassen von dieser Welt einläuten, so still, wie die Mauern um ihn herum waren. Selbst das Rauschen des Meeres schien weiter weg zu sein, das soviel Leben versprach.
 

Seine Gabe zeigte ihm in einer selten dagewesenen Klarheit, was er von den nächsten Minuten und Stunden zu erwarten hatte. Alles wurde ihm dargelegt, als hätte es Lasgo niemals geschafft, die Präkognition aus dem Gleichgewicht zu bringen. So hätte es von Anfang an sein sollen.

Schweigend beobachtete er, wie die Sonne in Richtung Horizont wanderte und sein Zimmer in warmes Licht tauchte und der Schatten des Tischbeines seinen Sessel erreichte. Es war der Moment, in dem es an seiner Tür klopfte und auch derjenige, in dem er schwieg.
 

Dass ihm das nichts brachte, war ihm auch schon vorher klar, dazu hatte er keinen Blick in die Zukunft werfen müssen. Der Mann, der sich von seinem Schweigen nicht abhalten ließ, war für seine Sturheit bekannt und wenn Crawford es sich ehrlich eingestand, hatte Fujimiyas Sturheit dafür gesorgt, dass er bis hierhin überlebte und dass er selbst die Stärke gefunden hatte, sich gegen Lasgo zur Wehr zu setzen.

Das hielt ihn nicht davon ab, tief und nachdrücklich zu seufzen. Er weigerte sich aus Prinzip, sich nun umzudrehen, als der rothaarige Weiß den Raum betrat und ihn musterte. Crawford musste nicht hinsehen um zu wissen, dass sich Fujimiya noch in seinem Schlafanzug befand, ohne Oberteil natürlich. Und warum? Weil ihn sein Instinkt aus dem Schlaf getrieben hatte und nun unschlüssig im Zimmer stehen ließ. Fujimiya verstand nicht, was ihn hierhin gezogen hatte, Crawford aber sehr wohl und so ließ er seine Muse schmoren, auch wenn er selbst bereits dabei war, dem nachdrücklichen Ziehen an seinem Unterbewusstsein nachzugeben.
 

Letzten Endes musste er das nicht, denn Fujimiya schloss von ganz alleine die Tür hinter sich und trat langsam zu ihm. Schweigend sah er auf ihn hinunter und Crawford kam nicht umhin zu bemerken, dass er keine Angst hatte und sich auch nicht unwohl fühlte in der Gegenwart des Weiß.

„Er ist tot“, durchbrach Fujimiya schließlich ruhig die Stille und wurde von Crawford mit einem beinahe unhörbaren Schnauben belohnt.

„Du hast ihn getötet. Er kann sich nicht mehr an dir vergreifen.“ Seine Hände ballten sich ohne sein Zutun zu Fäusten. Konnte er nicht? Warum streckte Lasgo dann immer noch in Form von Leonard seine gierigen Finger nach ihm aus, auf dass er neben dem anderen Mann in der Hölle schmorte?
 

Langsam, so dass Crawford sehen konnte, dass er sich in Bewegung setzte, hob Fujimiya seine Hand, in der Absicht, sie auf seinen Unterarm zu legen. Crawford fing sie ab, bevor sie ihr Ziel erreichen konnte und betrachtete gedankenverloren die Finger des Weiß. Erst, als er die Kraft fand, hochzusehen, begegneten sich ihre Blicke.

„Crawford, was ist?“, fragte Fujimiya und zuckte zurück, als er sich abrupt erhob und ihn an sich zog, als er sich nicht mehr gegen seinen Instinkt wehren konnte und wollte. Der Geruch des Japaners flutete seine Sinne und schrie geradezu nach Sicherheit, die Fujimiya ihm auf seinem letzten Weg dann doch nicht gewähren konnte. So oft hatte der Weiß ihn vor dem Rand des Todes gerettet, so oft hatte er ihn alleine durch seine Sturheit zurückgeholt.
 

Doch dieses Mal würde ihm das nicht gelingen und Crawford würde es auch nicht ansprechen. Dieser Sonnenuntergang, dieser augenblickliche Frieden gehörte ihm, nur ihm. Er würde sich ein letztes Mal nehmen, was ihm dann für den Rest seines Lebens verweigert werden würde. Er würde er sein, wie er vorher gewesen war, ohne Angst, ohne Ekel, nur er selbst. Und auch die Erinnerung würde er mit sich nehmen ins Vergessen.
 

Es dauerte seine Zeit, bis Fujimiya begriff, was er von ihm wollte und ebenso langsam wie sacht erwiderte er die Umarmung, ließ sie erst nach und nach intimer werden, tiefer, eindringlicher. Crawford schloss die Augen und bettete seine Wange an die des Weiß, suchte die Nähe, bis es schier nur noch eine weitere Steigerung geben würde. Auch er hatte sein Oberteil nach dem Duschen nicht mehr angezogen und so spürte er die überwältigende Nähe seiner Muse. Fujimiya strich ihm vorsichtig über die nackte Haut des Rückens, als hätte er Angst, ihn zu verschrecken. Doch Crawford lag es fern, sich verschrecken zu lassen. Es war das letzte Mal, das er derart intimen Kontakt für sich in Anspruch nehmen durfte, also hatte all das zurück zu stehen, was ihm in den schlaflosen Nächten an der potenziellen Nähe eines anderen Mannes Angst gemacht hatte.
 

Fujimiyas Atem strich über seine Haut und eine Gänsehaut breitete sich über seine Arme und seinen Rücken aus. Crawford gestattete es sich, die Augen zu öffnen und zu genießen, was er sah. Die untergehende Sonne tauchte sie beide und sein Zimmer in ein warmes Rot. Das verglühende Licht des Tages schimmerte auf der stillen See und passte in seiner Ruhe so gar nicht zu dem schnellen Herzschlag des Weiß.

„Nervös?“, ließ Crawford Fujimiya nicht die Gnade zuteil werden, damit davonzukommen. Das tiefe, dunkle Schnauben ließ ihn lächeln.

„Als wenn. Du?“

„Ich weiß ja, was kommt.“

Natürlich war die Arroganz eines Hellsehers hier unwillkommen. Natürlich zeigte Fujimiya ihm das deutlich, indem er ihn gegen die Glasfront presste, die Augen eine einzige, leidenschaftliche Herausforderung. Crawford ließ sich herausfordern, nahm den Fehdehandschuh an, gerne sogar. Er mochte den Anblick des Weiß im Licht der untergehenden Sonne, stellte er fest. Generell mochte er den Anblick, der sich ihm bot und so sog Crawford alles in sich auf, dessen er habhaft werden konnte.
 

Fujimiyas Augen richteten sich auf seine Lippen und Sanftheit kroch über sein Gesicht, die nichts Gutes verhieß. „Du bist keine Hure.“

Fragend hob Crawford die Augenbraue. Laut ausgesprochen machte es den Satz auch nicht besser als in seiner Vision, befand er.

„Er hat immer versucht, dich darauf zu reduzieren und dich damit zu erniedrigen. Und letzten Endes hast du ihn genau damit besiegt.“

„Indem ich zu dem geworden bin, was er mir unterstellt hat?“

Fujimiya atmete schwer aus. Dass er nicht mit den Augen rollte, war seiner legendären Selbstbeherrschung zuzuschreiben, vermutete Crawford. „Indem du ihn mit dem geschlagen hast, was er niemals von dir erwartet hätte.“
 

Schnaubend lehnte er seinen Kopf an das Fensterglas. „Du meinst den Kuss.“

Fujimiya nickte und sacht berührte er seine Lippen. Crawford war versucht, ihm in den vorwitzigen Finger zu beißen.

„Du hast seine Erwartung genommen und verdreht und damit hast du eben die Stärke bewiesen, die er dir nie zugeschrieben hätte.“

„Komplimente sind nicht deins, oder?“

„Ich hätte sie dir nie abgeschrieben.“

Crawford fragte sich schon, wie sie auf dieses Thema gekommen waren und warum Fujimiya ausgerechnet darauf kam. „Wie meinen?“

Das Lächeln auf den Lippen des Weiß war viel zu sanft, als dass es in Crawford nicht alle Alarmglocken schrillen ließ.
 

„Du bist stark.“

„Und?“

„Du warst es zu keinem Zeitpunkt nicht.“

„Und?“

„Trotzdem hat er es geschafft, dich aus der Bahn zu werfen. Er hat es geschafft, dir Angst zu machen und dich in ein Ungleichgewicht zu stürzen.“

Crawford grollte missbilligend. „Fujimiya, ich habe keine Ahnung, worauf du hinausw-“

„Trotzdem warst du stark“, unterbrach der Weiß ihn mit dem gleichen Lächeln auf den Lippen, das Crawford sich langsam fragen ließ, ob der Japaner Drogen konsumiert hatte.

„Bist es immer noch. Allerdings ist es nicht das, was mich zu dir hingezogen fühlen lässt.“

Na so etwas. Da kamen sie also zu dem Kern des Ganzen. „Sondern was?“, knurrte er ungnädig.

„Deine Menschlichkeit, die sich durch das alles gezeigt hat.“
 

Er blinzelte überrascht. Menschlichkeit? Er? Doch war es wirklich so abwegig oder war das, was Fujimiya meinte das, was er als Schwäche bezeichnete? In seinen unpenetrierbaren Mauern hatte eben jener Lücken gefunden, weil Crawford keine andere Wahl gehabt hatte, als sie ihm zu zeigen. Er war auf Hilfe angewiesen gewesen und hatte sich somit Schwäche eingestehen müssen. Nichtwissen. Hilflosigkeit. Er hatte Fehlentscheidungen getroffen und Schuld auf sich geladen.

Wenn er Fujimiya fragte, Menschlichkeit.

„Du sagst also, dass mich mein Versagen attraktiv macht?“, fragte Crawford mit hoch erhobenen Augenbrauen nach, um noch einmal ganz sicher zu sein und Fujimiyas Lächeln weitete sich zu einem Grinsen aus.

„Ich sage, dass du durch deine Menschlichkeit ein soviel stärkerer und gefestigter Mann bist und das macht dich ebenso wie dein Aussehen attraktiv.“
 

Mit welcher Selbstverständlichkeit Fujimiya ihn lobte, irritierte und erstaunte Crawford nun doch und schweigend starrte er auf den kleineren Mann herunter. In dem Moment war es noch nicht einmal wirklich als Geste der Einschüchterung gedacht – nicht, dass Fujimiya sich jemals lange von ihm hatte einschüchtern lassen. Einmal, ja und dieses Mal verursachte auch jetzt noch ein schlechtes Gewissen. Vielleicht ließ Crawford genau das jetzt auch weich werden, zumindest nachgiebiger, als er es eigentlich beabsichtigt hatte, kurz bevor er Fujimiyas Gesicht sacht umfasste und zu einem sanften, federleichten Kuss heranzog.
 

Es war so ganz anders als ihre vorherigen Küsse, denn Crawford erlaubte sich diese Zärtlichkeit bewusst. Er musste keine Angst mehr davor haben, nicht, wenn seine Neutralisierung in greifbarer Nähe war. Er konnte sich diese Schwäche erlauben, ohne dass sie ihm zu einem Nachteil gereichen würde, also kostete er Sekunde für Sekunde aus, die sie hier standen und sich nahe waren. Mehr noch. Jeden Millimeter der Haut, den er mit seinen Fingern erreichen konnte, genoss er. Das Gesicht des Japaners, seinen Hals, die Schlüsselbeine, seine Arme, der Oberkörper, all das, was Fujimiya auf ihn reagieren ließ, als würden sie das schon eine Ewigkeit tun.
 

Eine ganze, halbe Ewigkeit mit einem Ende, das unweigerlich näherrückte. Doch nicht hier, nicht jetzt. Noch hatte er Zeit und diese würde er nutzen und sich Erfahrungen schaffen, die nicht lange Erinnerungen bleiben würden. Er würde ein letztes Mal genießen, was Lasgo ihm verdorben hatte.

Crawford horchte in sich und folgte den widerstreitenden Emotionen, die in ihm schwelten. Er wollte Fujimiya, wollte mit ihm richtige, vollkommene Lust erfahren, die nichts mit Erniedrigung und Schmerz zu tun hatte, sondern mit Gegenseitigkeit und Gleichberechtigung. Seine Disziplin verbot ihm, sich so weit gehen zu lassen. Sein Trauma, das ihn begleitete, flüsterte ihm Angst genau davor ein.
 

Seine Lust gewann.
 

„Ich will dir nahe sein“, raunte er gegen die verführerischen Lippen und löste sich gerade lang genug von Fujimiya, dass dieser ihm mit einem vorfreudigen Lächeln eben jenen Wunsch bejahen konnte.

„Darf ich dich berühren?“

Die Frage aller Fragen. Durfte Fujimiya? Nach all dem, was Lasgo ihm angetan und ihn ohne seine Zustimmung berührt hatte? Nachdem auch Fujimiya sich unter dem Einfluss des Empathen ihm beinahe aufgezwungen hätte? Es brauchte seine Zeit, bis Crawford ruhig nickte. „Du wirst aufhören, wenn ich es dir sage.“ In seinen eigenen Ohren klang der Satz komisch und hölzern, doch Fujmiya hatte damit anscheinend kein Problem. Er nickte ernst.

„Jederzeit, Crawford. Ich werde nichts gegen deinen Willen machen.“

Das Versprechen, so von Herzen, wie es kam, ließ ihn grollen und knurren, um bloß das wohlige Gefühl in sich loszuwerden, das sich ausbreitete wie ein Buschfeuer. Er hätte es belächeln sollen. Konnte er aber nicht, dafür verursachte es viel zu viel Ruhe und Sicherheit in ihm.
 

Crawford sah vorbei an dem anderen Mann in Richtung Bett. Es war ein Wagnis, sich mit einem anderen Mann in den Laken zu wälzen, nachdem Lasgo ihm jede Freude daran auf einem Bett ausgetrieben hatte. Doch wer war er, davor Angst zu haben?

„Wie wäre es?“, deutete er auf die noch jungfräuliche Matratze und Fujimiya grinste.

„Ist es nicht müßig zu fragen, wenn du es sowieso schon vorgesehen hast, du Hellseher-Paradoxon?“

Seufzend rollte Crawford mit den Augen. „Was muss ich tun, damit du einfach den Mund hältst?“, fragte er mit maliziösem Unterton, zischte aber, als Fujimiya seine Zähne in die bloße Haut seines Oberkörpers vergrub, geradewegs in die Brustmuskulatur, die sich überrascht anspannte.

„Es für mich attraktiv machen.“
 

Er wusste genau, was Fujimiya damit meinte. Er wusste auch genau, wie er den Weiß dazu bringen konnte, sich unter und neben ihm zu winden, ihm seine Hüften entgegen zu strecken in dem wortlosen Flehen nach mehr. Er wusste, was er tun musste, ebenso wie ihm bekannt war, dass auch er sich dem Einfluss des Anderen nicht entziehen können würde. Sie würden soviel teilen, ihre Lust, ihre Leidenschaft, eine Nähe, die er lange nicht mehr gespürt hatte. Fujimiya und er würden eine Einheit sein und sie würden nicht nur einen Orgasmus miteinander teilen, bevor sie befriedigt und gesättigt aneinandergeschmiegt einschlafen würden.

Unterm Strich war es die geschützte Blase eines Lebens, das in seiner Vergänglichkeit heute Abend einfach überhaupt keine Rolle spielte.
 

Spielerisch packte er den Weiß und drehte ihn um, schubste ihn in Richtung Bett, während er ihm den Bruchteil einer Sekunde später folgte.
 

„Um was wetten wir, dass mir das gelingt?“
 

Natürlich war es müßig, mit einem Hellseher zu wetten und so erfüllte sich die Zukunft, wie er sie in der Vergangenheit vorhergesehen hatte. Sie fanden ihren Weg auf das Bett, auch wenn es dank ihm länger dauerte. Der erste Kontakt mit der Matratze verursachte genau die Erinnerungen, die er befürchtet hatte, doch es war Fujimiyas „Crawford.“, das ihn aus eben jenen zurückzog wie ein Rettungsanker. Er wurde sich bewusst, dass es nicht Lasgo war, der neben ihm lag und ihn ansah, sondern der Weiß, den er sich freiwillig hierhin geholt hatte. Es waren dessen Finger, die sich über sein schnell schlagendes Herz legten und dessen Lippen, die sich daneben auf die Haut pressten.
 

Sich in Anwesenheit eines anderen Mannes auszuziehen, stellte sich als genauso schwierig heraus wie der Kontakt der vorsichtigen Finger mit seinem Unterleib. Doch Crawford ließ sein Unwohlsein nicht seine Gedanken beherrschen und so legte er seine Hand über Fujimiyas und kontrollierte, führte und lenkte dessen Tun. Bei sich selbst, schließlich dann auch bei dem Mann, dessen zurückhaltende, sich nicht aufdrängende Lust ihn weder ängstigte noch ihm Übelkeit verschaffte. Im Gegenteil. Er fand Gefallen an den halb geöffneten Lippen und der Röte auf den blassen Wangen, ebenso wie den Lauten, die seine Administrationen untermalten, aber auch an den Fingern, die so versiert waren in ihrem Tun.
 

Und so erlebte Crawford seinen ersten Orgasmus seit Lasgo ihn dazu gezwungen hatte, mit einer überraschenden Überwältigung, die ihn keuchend und für einen Moment Sterne sehend zurückließ, während er versuchte, in den Nachwogen seiner Lust zu seinem bewussten Denken zurückzufinden.
 

Ein glücklicherweise mühevolles Unterfangen.
 

~~**~~
 

Schuldig gönnte es seinem Anführer.
 

Er gönnte ihm all das, was er gerade durch Fujimiyas Gedanken und Augen sah und spürte. Das, was ein Stockwerk über ihm passierte, war ein verzweifelter Befreiungsschlag vor der Exekution und einer Henkersmahlzeit, die noch nicht einmal etwas von ihrem Glück wusste. Der rothaarige Weiß genoss ebenso sehr wie sein eigener Noch-Anführer, was sie dort teilten und sein Unterbewusstsein hatte sich bereits damit abgefunden, dass es da eine Verbindung gab, die solche Zusammenkünfte einfacher machen würde.
 

Wenn er doch nur ahnen würde, was hinter Brads plötzlichem Emotionsüberschuss steckte.
 

Für einen kurzen Moment war Schuldig versucht, dem schweigsamen Orakel die Tour zu vermasseln und dem Anführer von Weiß zu stecken, dass die Dame des Hauses seinen neuen Gespielen schneller als er gucken konnte mit nach Österreich nehmen würde um ihm zu einem sabbernden Gefäß für die Ziele von Rosenkreuz zu machen. Doch er beherrschte sich. Brad hatte sich für sein Team geopfert, wer war er, dass er das Opfer nun auch noch beschmutzte, indem er den Mann in seiner letzten leidenschaftlichen Nacht einsam zurückließ.
 

Schuldig grollte und überprüfte, ob die mentale Tarnung, die er für die beiden Lovebirds im Obergeschoss aufrecht hielt, immer noch saß. Tat sie. Keiner der anwesenden Weiß und auch Nagi ahnten nicht, was dort oben vor sich ging, genau wie sie nichts Komisches daran fanden, dass ihre Anführer nicht da waren.

Das war sein Abschiedsgeschenk an Brad. Frustriert schloss Schuldig die Augen und presste die Handballen auf die Lider. Der Schmerz half ihm, die überwältigende Trauer dessen zu bekämpfen. Der und Kudou, der sich nun zu ihm begab und sich ungefragt neben ihm niederließ.
 

~Ich kann mich nicht daran erinnern, dich hierhin eingeladen zu haben~, ätzte er mental und Kudou schnaubte amüsiert.

„Das hat nichts mit dir zu tun. Ich möchte eine rauchen.“

~Das kannst du nicht woanders als auf der gleichen Terrasse, auf der ich sitze?~

„Nö.“

~Geh doch einfach jemand anderen umbringen~, erwiderte Schuldig recht lahm, wie er selbst befand und wurde mit einem wissenden, leichten Lächeln abseits der sonstigen Fröhlichkeit belohnt.

„Habe ich zur Genüge getan die letzten Tage über. Nun möchte ich einfach den Frieden genießen.“

Schuldig schnaubte verächtlich. ~Wo ich bin, ist sicherlich kein Frieden.~

„Vielleicht kann ich dem nachhelfen?“ Leise schabend schob sich eine Flasche Bier zu ihm und Schuldig sah mit Verachtung hoch, die sich in Bruchteilen in Erstaunen umwandelte, als er erkannte, dass es seine bevorzugte Sorte war und dass es genau aus dem Grund hier stand. Der verfluchte Privatdetektiv hatte also aufgepasst.
 

„Das, was der Empath uns aufgezwungen hat…“, begann der Weiß und Schuldig schnaubte. Er griff zu der Flasche und nahm einen großen Schluck, der ihn besser beruhigte, als er es zugeben wollte.

„…ist Vergangenheit. Das, was er gemacht hat, war nichts Anderes als ein Scheißspiel, nichts, worüber man reden müsste.“

„Ich habe dich angegriffen, in der Absicht, dich zu töten.“

„Wie Nagi und Tsukiyono, Hidaka und der Mondjunge, ich und du, Fujimiya und ich. Ein glücklicher Pulk voller Hass und Waffen. Das ist Geschichte, wie gesagt.“

Kudou ließ sich natürlich nicht davon beirren. Wie denn auch sonst? Die geborene Nervensäge hatte schließlich einen Ruf zu verlieren. Der tiefe Schluck aus der Flasche machte das zwar nicht besser, aber zum Teil erträglicher.

„Irgendwann werden wir uns als Gegner wieder gegenüberstehen. Aber selbst dann würde ich nicht so reagieren, wie ich gestern Nacht reagiert habe.“
 

Schuldig ließ den Kopf zur Seite fallen und starrte Kudou in die reuevollen Augen. „Ob du nun versuchst, mich schweigend umzubringen oder ob du mir dabei Obszönitäten an den Kopf wirfst, kommt beides auf das Gleiche hinaus. Du wirst verlieren. Also mache dir keine Gedanken um Worte und Taten. Der Empath hat genau damit gespielt. Er wollte einen Keil in die Verbindung treiben. Nichts weiter. Kein Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben, Kudou.“
 

Langsam sickerten seine Worte in die Gedanken des Weiß ein und Schuldig seufzte innerlich. Er wagte einen mentalen Abstecher nach oben und stellte fest, dass die beiden Männer nach einer kurzen Verschnaufpause und Getränken in die nächste Runde gingen. Augenrollend klinkte er sich aus.
 

Wie Teenager. Gottverdammte Teenager.
 

~~**~~
 

Der entspannende Zauber der vergangenen Nacht, die er mit seiner Muse verbracht hatte, war zwar nicht verflogen, aber im frischen Morgenlicht des neuen Tages kam Crawford nicht umhin zu begreifen, was es für ihn bedeuten würde, wenn die Dame des Hauses heute Abend eintreffen und ihm das Flugticket nach Wien überreichen würde.
 

Crawford fühlte sich am ganzen Körper entspannt und angenehm befriedigt, kein Wunder, hatten Fujimiya und er doch die Nacht dazu genutzt, ihrer beider Körper gegenseitig zu erkunden und Millimeter für Millimeter zu katalogisieren. Wie Crawford es gehofft hatte, hatten sich die Erinnerungen an Lasgo schließlich zurückgehalten und so war er in der Lage gewesen, das, was Fujimiya und er geteilt hatten, schlussendlich zu genießen. Crawford schmunzelte, als er sich an das grollende, frustrierte Fluchen erinnerte, das Musik in seinen Ohren gewesen war, während er sie beide zu langsam zum Höhepunkt gebracht hatte. Oder an das Zischen, als er seine Zähne in die Halsbeuge des Japaners gegraben hatte. Das hilflose Stöhnen, als Crawford es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die erogenen Zonen des Japaners zu finden.
 

Seine eigenen Orgasmen waren überraschend intensiv gewesen, womit er nicht wirklich gerechnet hatte. Dass sie ihm keine Heilung brachten, hatte er auch nicht erwartet, wie denn auch? Nur weil er einen Abend lang bereit dazu war, sich zu einem anderen Mann ins Bett zu legen und weil es das letzte Mal sein würde, hieß das nicht, dass ihn in der Nacht darauf nicht eben jener Mann in seinen Träumen verfolgt hätte, den er vor einem Tag erst getötet hatte. Natürlich nicht, dafür saß das Trauma zu tief und es war noch nicht einmal ein Bruchteil der Zeit vergangen, die er wahrscheinlich benötigen würde, um an Körper und Geist zu heilen.
 

Mit einem unterdrückten Stöhnen richtete sich Crawford auf. Er verzog schmerzerfüllt sein Gesicht und presste die Hand auf seine Seite, auf die Wunde, die ihm unter anderem Tsukiyono zugefügt hatte. In all der Leidenschaft der gestrigen Nacht war sie erneut in Mitleidenschaft gezogen worden. Ein Ärgernis, aber es war die Mühe wert gewesen. Der Schmerz, den er spürte, war ein guter Schmerz.

Sein Blick fiel auf Fujimiya, der ihm zugewandt lag und leise schnarchte, mehr mit sich und der Welt im Reinen, als er es jemals von dem Weiß erwartet hätte. Crawford runzelte die Stirn. Nein, so ganz stimmte das nicht. Nachdem Schuldig die Barrieren des Weiß durchbrochen hatte, war der Japaner so gelassen gewesen wie niemals zuvor.
 

Retrospektiv war das Verhalten des Weiß amüsant gewesen. Auch wenn er das niemals zugeben würde.
 

Crawford erhob sich mühevoll aus dem Bett und ging ins Bad, in dem Wissen, dass Fujimiya noch weitere drei Stunden schlafen würde. Genug Zeit für ihn zu duschen und das zu tun, wovor er sich schon seit dem gestrigen Tag drückte.

Er kannte die Reaktion seines Taktikers bereits, die auf seine Worte folgen würde. Das machte es aber nicht besser, im Gegenteil. Jede Minute, die er dem Gespräch mit Nagi näher kam, drohte sein Schädel ein weniger mehr damit, einfach zu zerspringen.
 

Daran änderte auch eine Dusche nichts. Daran änderte auch der Tausch seiner formlosen Kleidung gegen die formelle Anzughose, des Shirts gegen ein Hemd nichts. Die Krawatte blieb vorerst da, wo er sie abgelegt hatte und so begab er sich lautlos aus seinem Zimmer heraus, die Tür hinter sich schließend.
 

Crawford erlaubte sich noch eine weitere Minute des unnötigen Zögerns, bevor er an die Tür des Telekineten klopfte. Insgeheim war er über das Rumpeln erleichtert, das ihm noch eine Sekunde mehr verschaffte, bevor Nagi „Herein!“ rief und er die Tür öffnete.
 

Crawford trat ein und maß das gemeinsame Zimmer von Nagi und Schuldig mit erhobener Augenbraue. Wie als hätte man mit einem Lineal eine Linie durch den Raum gezogen, war dieser auf der einen Seite vollkommen chaotisch und die andere strotzte nur so vor Ordnung. Es fiel ihm nicht schwer, den Besitzer der jeweiligen Seite zu benennen und trotz seinem unterbewussten Unwohlsein diesbezüglich schmunzelte er.
 

Nagi selbst sah aus, als wäre er gerade aufgestanden und duschen gegangen. Die Haare standen ihm noch von dem hastig übergeworfenen Shirt zu Berge und Crawford musste unwillkürlich lächeln. Sekunde um Sekunde prägte er sich das Bild des Jungen ein, der mit von der Dusche geröteten Wangen vor ihm stand und ihn mit großen Augen ansah.

Schweigend ging Crawford zu der Sitzgruppe am Fenster und ließ sich vorsichtig auf seinen der Sessel nieder.
 

Nagi folgte ihm langsam und setzte sich dann ebenfalls. Aufmerksam ruhten die grauen Augen auf ihm, auch wenn hinter der ruhigen Fassade bereits eben jener scharfe Verstand arbeitete, den Nagi den Namen „Wunderkind“ eingebracht hatte.

„Warum hat Schuldig dich am Kragen gepackt?“, kam eben jener gleich zum eigentlichen Thema, direkt wie er selten gewesen war. Crawford schätzte das.

„Du erinnerst dich, dass gemäß Auflage der Dame des Hauses ich für die Dauer der sechs Wochen meine Schilde zu senken habe um so Schuldig jederzeit Zutritt zu meinen Gedanken zu gewähren?“

Nagi nickte schweigend.

„Ich habe diese Auflage vorgestern Nacht verletzt, als ich meine Schilde hochgezogen habe, um den Empathen auszusperren.“
 

Crawford musste Nagi nicht erläutern, was es bedeutete, eine Weisung zu missachten. Er musste ihm die Konsequenzen auch nicht erklären. Vielleicht war aber genau das das Schreckliche, als er nun vis-á-vis eben jenen Moment miterlebte, in dem Nagi den vollen Umfang seines Handelns begriff und sich Entsetzen wie ein Mantel über das junge Gesicht legte, das innerhalb von Sekunden jedwede Farbe verlor.

Es war das stumme Entsetzen, das Nagi bewegungslos machte, was Crawford tief in sein Herz traf.
 

Ebenso wie es schließlich stummen Tränen waren, die die unbewegten Wangen hinunterflossen, als würde eine Statue weinen. Ohne Unterlass quollen sie aus den Augen, während Nagi ihm gegenübersaß, ihn anstarrte und es nicht wagte, sich zu bewegen. Selbst ihre Bindung zueinander ruhte in diesem Moment.

„Ich musste es tun, um euch mit Jei zusammen davor zu bewahren, dass ihr euch unter seinem Einfluss umbringt.“ Sachlich war die Erläuterung sicherlich nicht notwendig, dennoch verlangte es Crawford danach, Nagi nicht einfach so abzuspeisen. Der Junge hatte mehr verdient. Soviel mehr, als was er ihm noch geben konnte.
 

Schlussendlich war es ein Wispern, das Nagis Bewegungslosigkeit beendete. „Nein“, flüsterte er immer wieder. „Nein. Wir waren doch erfolgreich. Das darf nicht sein. Nein, bitte nicht…nein…“
 

Es war, als wäre ein Damm gebrochen, als das erste Schluchzen den Körper des Jungen erschütterte und die Bahn brach für viele andere, die folgten, mit ihnen schmerzhafte Laute. Hatte Crawford gedacht, dass er immun war gegen menschliches Leid, hatte er gedacht, dass er damit umgehen konnte, so brach ihm Nagis Leid nun das Herz. Wortlos erhob er sich und kam zu seinem Taktiker, seinem Adoptivsohn, der ihn ohne ihn anzusehen in seine Arme schloss und sich schluchzend an seiner Brust versteckte. Crawford zögerte keine Sekunde lang und zog ihn eng an sich.
 

„Du darfst nicht gehen. Wir müssen sie davon überzeugen, dass es das Beste so war, dass es sein musste. Siobhan wird doch zuhören. Sie wird dich doch nicht einfach…“

Der verzweifelte Protest ließ Crawford mühevoll schlucken. „Siobhan sicherlich nicht, Nagi. Aber die Dame des Hauses wird es. Es ist ihre Aufgabe, die Einhaltung der Regeln zu überwachen.“

Nein!“

„Es tut mir leid“, murmelte der Anführer von Schwarz und schloss die Augen. Der Schmerz in seinem Inneren war fürchterlich, noch viel schlimmer jedoch war das Wissen um das Leid, das er dem Jungen mit seinem Handeln zugefügt hatte und für das es keine Wiedergutmachung geben konnte. Er konnte nur hoffen, dass Nagi seinen Weg finden würde, mit einem neuen Teamführer, einer neuen Aufgabe, in ihrer Organisation. Er hoffte, dass Schuldig genug Verstand besaß, den Jungen davon abzubringen, in irgendeiner Form Rache zu nehmen und dass der Telepath in seine Rolle als Anführer hineinwachsen würde, solange kein Ersatz für ihn gefunden worden war. Er hoffte, dass sie solange an Perser angegliedert blieben, bis sich das Team neu gefunden hatte.
 

Crawford öffnete abrupt seine Augen, als eine Vision vor seinem inneren Auge zuckte, die mit gravierenden Kopfschmerzen verursachte.
 

~~~~~~~~~~~~

Wird fortgesetzt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Über Kommentare und co. freue ich mich natürlich.

Ich denke, dass es jetzt noch ca. fünf Teile geben wird. Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Meggal
2019-11-18T16:36:42+00:00 18.11.2019 17:36
Wow. Also... ja. hm. Eine Achterbahn der Gefühle. Schön, dass die Kiste mit Lasgo und Takatori zu ist und die Szene mit Brad und Aya war auch sehr schön und Schuldigs Gefühle über Brads Entscheidung... Schön, dass sie sich am Ende so zusammengerauft haben, Nicht schön, dass es - wie es aussieht - erstmal nicht gut ausgeht.

Ich bin gespannt, was der Cliffhanger bringt!

*Spekulatius und heißen Kakao hinstell*
Antwort von:  Cocos
28.11.2019 22:15
Ja. Die Achterbahn. *hüstel* Die ist leider noch nicht vorbei. ;)
Ob es gut ausgeht, das weiß der Hellseher (schlechter Wortwitz, ich weiiiiiß). Wir schauen mal!

Lebkuchen, die Dame? Ich hätte auch noch Eierpunsch! Und den neuen Teil, der gleich on kommt.


Zurück