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Die Farbe Grau

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Disclaimer: alles nicht mir, bis auf die Ideen zu dieser Geschichte. ;)

Viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen

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Die Kathedrale im Meer

~Siobhan…hast du da deine Finger im Spiel?~

~Nein. Warum sollte ich?~

~Weil es zum Kotzen romantisch ist, was die da unten treiben.~

~Sind sie schon dabei? Ich habe schon länger nicht mehr nachgesehen.~

~Lügnerin.~
 

Die Schottin lächelte ihr feines, nettes Lächeln, das Schuldig mit jeder vergehenden Sekunde, die sie ihm ihre Aufmerksamkeit schenkte, einen größeren, eiskalten Schauer über den Rücken trieb. Unwillkürlich zog er die Schultern hoch und murrte, wandte sich von ihr ab, als sie weiter und weiter und weiter lächelte und er das Gefühl hatte, dass sie ihn gleich mit bloßen Zähnen zerfleischen würde.
 

~Dafür brauche ich doch keine Zähne, Mastermind…~

~Argh! Als wenn ich das nicht wüsste! Keine Notwendigkeit, mir das nochmal extra zu sagen.~

Amüsement geisterte durch seine Gedanken und riss hier und da an den Wänden seines Geistes. Erneut murrte Schuldig und kratzte sich unwillkürlich über die Schläfen.

~Ist es das, was du wolltest? Einen jungfräulich-biederen Schwiegersohn in spe, der dir nie kleine, süße Babyenkel schenken wird, die dich anstrahlen, während sie dich vollkotzen?~

~Abyssinian ist keine Jungfrau.~

~Schon wieder zu viel Information.~

~Für jemanden, der dem Herren dort unten mit Vergewaltigung gedroht hat, wohl eher nicht, meinst du nicht auch, Schuldig?~
 

Schuldig schauderte und beschloss, dass es das Beste sein würde, einfach das Thema in sicherere Gefilde zu wechseln.

~Soll ich die beiden Turteltauben nach oben rufen?~

~Die Störung wäre unwillkommen.~

~Du weißt so gut wie ich, dass ich seit meinem ersten Zusammentreffen mit diesem Polohemd tragenden Teenagersnob nicht willkommen war, weil du den Weg für mich verbaut hast, Telepathenmutter.~
 

Schuldig sollte meinen, dass er es lernte. Er sollte meinen, dass seine Telepathie ihm eben jene Intelligenz zur Verfügung stellte, die ihm durch dumme und unüberlegte Handlungen fehlte. Ihr feines Zucken um die Mundwinkel teilte ihm anderes mit und er verschränkte aus dem Fenster sehend die Arme. Ihr amüsiertes Lachen hallte laut durch die ohnehin schon geschäftige Küche und sie erntete dafür nicht nur einen fragenden Blick.
 

Schuldig schwieg grollend und angelte sich eine Scheibe selbstgebackenes Brot…eben jene, auf die Kudou gerade ein Auge geworfen hatte. Nicht, dass der Weiß sich das gefallen ließ und so rang er mit dem anderen Mann, den er gestern bis spät am Abend durch die kleine Stadt in der Nähe gescheucht hatte, um das Stück. Mit mäßigem Erfolg, da Kudou anscheinend keine Verbündeten kannte, wenn es um das Essen Siobhans ging. So sehr Schuldig der Abend des gestrigen Tages auch gefallen hatte – Kudou war überraschend angenehme Gesellschaft -, so wenig war nun geneigt, diesem den Triumph zu überlassen. Auch wenn er wenig Wahl hatte, wie es schien.
 

„Hat dir schonmal jemand gesagt, dass du gierig bist?“, fragte er missmutig und stopfte sich das kleine Stück Brot in den Mund, das ihm geblieben war. Kudou besaß doch tatsächlich die Dreistigkeit zu lächeln.

„Frag mal Omi.“
 

Ja genau, er würde Tsukiyono fragen, der zusammen mit Nagi, Jei, Hidaka, Siobhan, Thomas und Kudou hier am Tisch saß, zwar mutiger als noch vor zwei Wochen, aber dennoch peinlich darauf bedacht, ihm so oft es ging aus dem Weg zu gehen und ihm bloß nicht ohne Grund in die Augen zu sehen.

Besagter Taktiker hielt abrupt in seinem Essen inne. Fassungslos starrte er Kudou an, seine Gedanken ein wildes Durcheinander an Unwohlsein. Wie immer hatte der jüngste Weiß die Essenszeit dazu genutzt, in sich gekehrt und schweigend am Tisch zu sitzen, sich sowohl mental als auch körperlich von allen anderen hier abzuschotten. Dass er nun regelrecht dazu gezwungen wurde, während des Essens das Wort an Schuldig zu richten, verursachte Unruhe in ihm, die Tsukiyono größtenteils hatte ablegen können, wenn sie sich gerade nicht an diesem Tisch befanden oder er nicht alleine mit Brad und ihm war.
 

„Ich esse gerade“, rettete Tsukiyono sich schließlich murmelnd und tauchte seine Gabel in das riesige Stück Sheperd’s Pie, das auf seinem Teller thronte, nahm soviel in den Mund, dass er sich tatsächlich um eine Antwort drücken konnte. Doch nicht mit ihm. Vielsagend hob Schuldig die Augenbraue und stopfte sich eine Gabel gleichen Inhalts in den Mund. „Siehst du“, nuschelte er zugegebenermaßen undeutlich. „Das kann man auch kombinieren.“
 

„Meine Herren, ich muss doch wohl sehr bitten“, verhinderte Siobhan eine weitere Demonstration seiner diesbezüglichen, fragwürdigen Fähigkeiten und Schuldig zeigte ihr ungeniert den mentalen Mittelfinger. Ihre implizite Warnung ließ er aber nicht unbeachtet, sondern kümmerte sich nun selbst um sein Essen, das wie immer ausgezeichnet war. Nicht, dass es ihr eigener Sohn zu schätzen wusste, der mit Fujimiya am Strand wie in einer Liebesschnulze knutschte. Bah. Also wirklich. Eigentlich hatte es der Weiß nicht besser verdient, als hier in die Pfanne gehauen zu werden.
 

Und sein Anführer schonmal gar nicht. ~Ist schon blöd, dass dein Dad in spe vor dir zum Stich gekommen ist, was Weiß angeht~, richtete er an Nagi und der Telekinet sah fragend auf. Für einen so aufgeklärten Jungen war ihr Taktiker manchmal wirklich schwer von Begriff.

~Was meinst du?~

Schuldig grinste. ~Brad knutscht gerade mit Fujimiya unten am Strand. Möchtest du es sehen?~

Nagis Augen weiteten sich ungläubig. ~Nein! Aber was…? Schuldig… wie bitte?~

~Ach komm, das musst du sehen.~
 

Die Bilder, die er ihrem Telekineten zukommen ließ, ließen diesen so gewaltig zusammenzucken, dass Tsukiyono neben ihm alarmiert aufsah. Stumm verfolgte er die Küsse der beiden Männer, während sich seine bleichen Wangen tiefrot färbten, ganz zum Misstrauen des jungen Weiß. Wunderschön.

Schuldig lachte. ~Na, habe ich dir zuviel versprochen?~

Grollend trat Nagi ihn unter dem Tisch – mit Hilfe seiner Telekinese und nun war es an Schuldig, zusammen zu zucken.

~Warum verdammt nochmal tust du das?~, zischte Nagi. ~Das geht mich nichts an und dich auch nicht. Ich will das nicht sehen! Wir sind am Essen!~
 

Schuldig grinste und ließ sich in seinem Stuhl zurückfallen.

Wie gebannt starrte der jüngste Weiß auf Nagi, der sich unter der Musterung beinahe in Grund und Boden schämte und ihn so oft verfluchte, dass es für vier Leben reichte. Im Wechsel mit der Frage, wie Brad denn ausgerechnet mit Fujimiya anbändeln konnte.

Tsukiyono für seinen Teil war durchaus neugierig was ihre mentale Diskussion anging. Die Frage in Schuldigs Anwesenheit zu stellen, schloss er jedoch aus. Kudou kannte da weniger Zurückhaltung, wenn er sich die Gedanken des ältesten Weiß besah.

„Was gibt es?“, war es jedoch Hidaka, der schlussendlich die Frage aller Fragen stellte und Jei grollte, bevor Schuldig ausholen konnte, in epischer Breite zu erklären, was sich für bahnbrechende Neuigkeiten abspielten.

„Das willst du nicht wissen.“

Wie gut, dass der Ire das nicht zu entscheiden hatte.

„Also, Hidaka, lass mich dir-“
 

„…sagen, dass du deinen Mund halten wirst“, vollendete eben jener knutschende Anführer seines eigenen Teams, während er die Küche betrat und Schuldig dunkel fixierte.

~Jetzt ist noch nicht der richtige Zeitpunkt dafür~, ergänzte Brad mental und Schuldig hob die Augenbraue. Ein schmutziges, kleines Geheimnis, also? Aufmerksam maß er das absolut nichtssagende Gesicht des Orakels, was so viel weniger preisgab als die Mimik Fujimiyas, der nach ihm den Raum betrat, die Wangen verräterisch gerötet, die Lippen lebendiger, als er sie jemals zuvor gesehen hatte.
 

Schuldig grinste, sagte jedoch nichts weiter dazu und beschloss, den Weiß dumm sterben zu lassen und sich an dessen nagender Neugier zu weiden, wäre auch ein guter Zeitvertreib während des Essens. Brad und Fujimiya setzten sich und Siobhan tischte auch ihnen mit einem bedeutungsschwangeren Lächeln das Essen auf. Es schmeckte Fujimiya nicht, wie es Brad seinem neuen Zeitvertreib auch schon zu verstehen gegeben hatte.
 

War schon praktisch, so ein hauseigener Hellseher, der wohl auch noch erstklassig im Küssen war.
 

Es war Jei, der die darauffolgende Stille schließlich durchbrach und – Schuldig war mehr als froh darum – nicht wieder mit einem seiner geliebten Disneylieder.

„Die Söhne haben ihre Arbeit beendet, es ist an der Zeit, Blut zu vergießen“, richtete er an sein Essen, bevor sein Blick langsam zu Nagi und Tsukiyono hochkroch, die es beide außerordentlich gut aushielten, nebeneinander zu sitzen. Schuldig war amüsiert, wie gleich sie in ihrem Schrecken waren, wenn auch aus gänzlich unterschiedlichen Gründen.
 

Amüsiert verfolgte Schuldig, wie viele positive Gedanken in ihrem Küken hervorsprudelten bei dem Wort „Sohn“. Apropos…

~Herzlichen Glückwunsch zu deinem Enkel, Siobhan. Man sollte meinen, dass dir vier Kinder eigentlich reichen würden.~

Die Telepathin schmunzelte und schenkte sich ein weiteres Glas Cider ein, den sie sich aus ihrer hauseigenen Brauerei mitgebracht hatte. War schon von Vorteil, wenn der eigene Gatte eine Vorliebe für das viel zu bittere Gesöff hatte und einen Ausgleich von seiner Professur brauchte.

~Nagi freut sich.~

~Das ist die Untertreibung des Jahres, meinst du nicht?~, hielt Schuldig dagegen und deutete auf die immer noch wild durcheinander laufenden, freudigen Gedanken ihres sonst so zurückhaltenden Telekineten, die sich nur um eins drehten: Brads Worte, die ihm so viel Hoffnung gaben, dass es beinahe schon eklig war.

~Es wird mir eine Freude sein, ihn zu verwöhnen.~

~Ja, Oma.~
 

Und da war sie schon wieder, seine große Klappe, die ihn galoppierend in Schwierigkeiten brachte. Dieses Mal ließ sie ihn nicht mit einem ihrer gruseligen Lächeln davonkommen und griff in seine Hirnwindungen, um ihm mit Schmerz und Übelkeit zu verstehen zu geben, dass seine große Klappe nur bedingt willkommen war, wenn er mit ihr sprach. Zischend beugte er sich über sein Essen und hob abwehrend die Hand. ~Schon gut, schon gut…ich nehme es zurück, es tut mir leid. Wirklich!~
 

Besser war es da, auf ein anderes Thema abzulenken, das ihr und damit ihm weniger Kopfschmerzen bereitete.

Fujimiya also.

Schuldig straffte sich und wandte sich dem Anführer von Weiß zu, der bereits nichts Gutes ahnte. Zurecht, mochte man meinen. „Wie war es am Strand?“, fragte Schuldig und ertrug den mörderischen Blick seines eigenen Anführers mit Leichtigkeit.

~Was? Das ist eine neutrale Frage~, grinste Schuldig und Brad grollte.

~Schuldig, ich warne dich.~

~Lass mir doch meinen Spaß, ich- ~
 

„Die Nervensäge ist noch ungeküsst.“
 

Schuldig blinzelte. Einmal. Zweimal. Er brauchte keine Sekunde um zu identifizieren, wer hier gerade nicht den Mund halten konnte und seine Klappe zu weit aufriss, ruhig und gelassen, als hätte er gerade das Wetter verkündet.

Wer die Nervensäge war, wusste zumindest Tsukiyono. Dass er ungeküsst war, nun auch dank des vorwitzigen Mannes, dem er noch heute sein verbliebenes Auge herausreißen würde, wenn er erst einmal mit dessen Zunge fertig war.
 

~Was wird das, Mondjunge?~, fragte Schuldig warnend, auch wenn seine Gabe an den Grenzen des Chaos scheiterte, die den Iren umgaben und abperlte wie Wasser an Öl.

„Jei“, warnte auch Brad, während er Fujimiya wortlos die Kartoffeln reichte, die dieser ebenso wortlos annahm – ohne hinzusehen – und sich auftat. Ob den übrigen Weiß auch auffiel, dass seine Lippen erstaunlich gerötet waren? Gut durchblutet von den Küssen, die die beiden Männer endlich ausgetauscht hatten.
 

„Ist er das?“ Ausgerechnet Kudou sprang auf den Zug auf, der Schuldig ins Verderben führen würde. Natürlich. Er hätte es sich auch denken können. Wer, wenn nicht Kudou, der Privatdetektiv, dessen Gedanken nun neugierig um die Bedeutung des Gesagten herumschwirrten, als wären sie Motten im Angesicht einer Lichtquelle? Tsukiyono würde es sich nicht trauen und Hidaka war es schlicht egal. Schuldig grollte.

Jei stand da auf einem ganz anderen Blatt. Abgrundtief böse war sein Lächeln, als er die Intensität seines verbliebenen Auges auf ihn alleine richtete.
 

„Dornröschen wartet auf der wahrer Liebe Kuss, der sie aus ihrer Starre befreit, aus dem jahrzehntelangen Schlaf, so unschuldig, unbelastet von den Freuden der Welt.“

Schuldig zischte. „Möchtest du nicht jemand anderen mit deiner krankhaften Märchenfixierung nerven?“, ließ er seine Frage mit einer eindeutigen Warnung ausklingen, nicht weiter zu gehen. Dieses Wissen hatte bei Weiß nichts zu suchen, ganz und gar nicht.
 

Bevor ihr hauseigener Irrer erneut ansetzen konnte, räusperte sich Brad laut und vernehmlich.

„Das Thema ist erschöpfend geklärt und hat hier am Tisch nichts zu suchen. Egal, in welcher Ausformung“, sprach ihr Orakel seine ganz eigene Warnung aus, richtete sie sowohl an Jei als auch an ihn und Schuldig schnaubte.

~Wie unser ehrenwerter Anführer es so möchte~, gab er zurück.

„Jei?“

Der vernarbte Mann nickte, ließ aber mit einem weiteren, gehässigen Blick auf ihn das Thema fallen und widmete sich seinem Essen, als hätte es diesen Zwischenfall nicht gegeben.
 

Erst beim Nachtisch, der Fujimiya anscheinend so gut schmeckte, dass er sich das zweite Mal nachnahm, fing er an zu summen. Schuldig atmete erleichtert auf, als es Arielle war, die ihm hier entgegenschallte. Damit konnte er mühelos leben.
 

Brad nicht so.
 

~~**~~
 

Manx konnte nicht genau beziffern, was es war, das die hier am Tisch herrschende Stimmung seltsam machte. Das stimmte sie unzufrieden, denn sie konnte ebensowenig sagen, ob es negativ oder positiv war, was sie unterbewusst wahrnahm.

Omi und der jüngste Schwarz saßen nebeneinander, was ihr zunächst eine erhobene Augenbraue abgerungen hatte. Dass Omi sich freiwillig neben einem Schwarz niederließ, hätte sie für unmöglich gehalten. Aber da waren sie und damit noch nicht genug. Wer glaubte, dass die Körpersprache die beiden nicht verraten würde, der war blind. Außerdem sah sie die Blicke, die Naoe hin und wieder zu Omi schweifen ließ, die sicherlich nicht von Feindschaft sprachen.
 

Sowas.
 

Doch das war nicht das Abstruseste, das ihr Bauchgefühl ihr meldete. Dass Aya und der Anführer von Schwarz an den entferntesten Punkten des Tisches saßen und mit Bedacht vermieden, sich anzusehen, war hochinteressant. Dass die anderen Männer am Tisch hier überhaupt kein Problem damit zu haben schienen, ebenso, denn das bedeutete, dass es keine Spannungen zwischen den beiden Anführern gab. Crawford wiederum ließ Perser nicht aus seinen Augen und runzelte so nachdenklich die Stirn, dass es Manx in den Fingern juckte zu fragen, welche Informationen er in der Zukunft des älteren Mannes gesehen hatte. Unwirsch und teilweise kritisch verzogen sich seine Lippen, bevor er wieder zu seiner ausgesuchten, kühlen Neutralität zurückkehrte.
 

Seltsam.
 

Youji und Schuldig bereiteten ihr da mehr Kopfschmerzen, wenn sie ehrlich war. Die beiden kommunizierten nicht nur telepathisch miteinander. Die kurzen Schlagabtausche, die seit ihrer Ankunft zwischen den beiden Männern hin- und herflogen, waren bestenfalls amüsant, auch wenn keiner der beiden wirklich ein Gespür dafür zu haben schien, was die geneigten oder weniger geneigten Zuhörer hören wollten.
 

Spannend.
 

Die einzigen, die normal waren, waren Ken, der riesenhafte Assistent der Dame des Hauses, der dem ganzen Treiben wie ein Fels in der Brandung beiwohnte, und der gespenstisch ruhige Ire des gegnerischen Teams, der ihren Haaren ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte. Manx seufzte innerlich und trank einen Schluck Kaffee, den sie bitter benötigte. Sie hatten die verbliebenen Agenten in Sicherheit bringen können. Es waren weitere Safehouses kompromittiert und Kritikerliegenschaften zerstört worden, aber der Kernbereich war stabil geblieben und hatte sich ausgeweitet. Das waren zwar die ersten, guten Nachrichten seitdem ihr Krankenhaus dem Erdboden gleichgemacht worden war, aber es bedeutete nicht, dass sie mehr Schlaf als in den letzten Tagen bekam. Im Gegenteil.
 

Ein Gutes hatte ihr Schlafmangel jedoch gehabt. Sie hatten eine valide Spur von Lasgo und Takatori, die es ihnen ermöglichen würde, sich beider Männer zu entledigen und das darauffolgende Machtvakuum in Tokyo zu nutzen, um die etablierten, kriminellen Strukturen der Geschäftsmänner zu zerstören und einen gewaltigen Schritt in Richtung Frieden zu machen. Die Information, die ihnen zugespielt worden war, hatte ihren Ursprung in einer unkonventionellen Quelle, die überprüft werden musste und wer konnte das besser, als ein Telepath?
 

~Dass du endlich meinen Wert anerkennst, Rote, verzückt mich an diesem wunderschönen Sommertag.~ Wenn man vom rothaarigen Teufel sprach.

~Stets zu Diensten, Erika.~

Manx rollte mit den Augen. „Bevor wir beginnen. Gibt es etwas, das ich wissen muss?“, fragte sie gerade hinaus in die Runde und nahm sich nach und nach jeden Einzelnen der Anwesenden vor. Nicht, dass sie eine ehrliche Antwort bekommen würde, zumindest nicht direkt. Schon gar nicht von Schwarz.

~Ach, sag nicht sowas. Ich könnte dich mit allen Informationen versorgen, du musst nur bitte bitte sagen. Ganz lieb.~

Manx hob die Augenbraue. So sehr sie auch hinter Persers Vertrag mit Rosenkreuz stand, so wenig schätzte sie die Details dessen. Zum Beispiel Schuldig.
 

„Es gibt nichts“, erwiderte Abyssinian schließlich und kurz war sie versucht, ihm direkt ins Gesicht zu sagen, dass er log – bemüht, ihr vorzugaukeln, dass er die Wahrheit sagte…schlecht und durchschaubar wie immer. Sie seufzte.

„Für nichts ist der Wunsch, etwas zu verbergen in deinen Augen, ziemlich groß“, entschied sie sich ihrerseits für die Wahrheit. Ihr Lächeln hatte nichts Amüsiertes, nichts Frohes, als sie sich ihren Unterlagen zuwandte. Sowohl sie als auch Aya wussten, dass es kein Abwenden vom Thema war, sondern ein Verschieben auf später. Dass es für den Anführer von Weiß nicht angenehm werden würde, wussten sie ebenfalls beide, genau deswegen wollte Aya auch ansetzen, sich zu rechtfertigen. Mit einer unwirschen Handbewegung würgte Manx ihn ab.
 

„Später, Abyssinian. Wir haben eine Information erhalten, deren Validierung an oberster Stelle steht. Takatori Reijis Gärtner ist auf uns zugekommen mit Informationen über den vermeintlichen Aufenthalt des Mannes und einem Termin, der nach jetzigem Stand durch Lasgo und Takatori besucht werden wird. Nach unseren Recherchen stimmen die Eckpunkte, es geht aber darum, festzustellen, welche Absicht dahintersteckt. Die Person, die ihr befragen sollt, befindet sich in Tokyo unter Beobachtung unserer Agenten.“
 

Oracle runzelte die Stirn, anscheinend unzufrieden darüber, dass er diesen Umstand nicht vorausgesehen hatte. Manx holte ein Bild aus den Akten hervor und schob es Omi über den Tisch herüber.

„Kennst du ihn? Erinnerst du dich?“

Die blauen Augen des Jungen maßen das Foto kritisch und weiteten sich in dem Moment, in dem Bombay den Mann auf ihnen wiedererkannte und nickte.

„Das war unser Gärtner.“

„Er ist es anscheinend immer noch und hat sich nun entschlossen, sich mit Informationen an Perser zu wenden.“

„Warum jetzt?“, fragte Omi stirnrunzelnd und es war Schuldig, der sich nach einer bedeutungsschwangeren Stille mit einem Grinsen zurücklehnte und die Hände hinter dem Kopf verschränkte.
 

„Weil wir nicht mehr da sind“, hatte der Schwarz doch tatsächlich die Dreistigkeit, mit einer solchen Arroganz auf die gestellte Frage zu antworten, dass Manx mit Mühe ihren Kugelschreiber nicht entzweibrach.

Omi reagierte um Längen gelassener, ein Einfluss der gemeinsamen Zeit, die die beiden Männer miteinander verbracht hatten, mutmaßte Manx. Sie tippte auf Abstumpfung. „Was bedeutet das?“

Wie es schien, war die höchste Stufe eines unangenehmen Lächelns noch lange nicht erreicht. „Das bedeutet, dass wir das Personal unserer jetzigen Zielperson bis zu unserem Verschwinden unter einer allumfassenden Kontrolle gehalten haben. Wir haben jeden Schritt überwacht, telepathisch, finanziell, organisatorisch und notwendige Maßnahmen ergriffen, falls jemand illoyal zum Panda geworden ist.“ Schuldig winkte ab. „Ihr habt ja keine Ahnung, wie schwierig es ist, gutes Personal zu finden und zu halten. Schlimm.“
 

Das bittere Entsetzen und die Bestürzung, die sie in den Gesichtern ihres eigenen Teams sah, konnte sie zwar nachvollziehen, Masterminds Worte überraschten sie aber in keinem Fall. Exakt das hätte sie von Schwarz erwartet.
 

„Das ist widerlich.“ Ken, wie immer mit seinem Herz auf der Zunge.

„Sagt derjenige, der durch seine Organisation kontrolliert und in dem Moment beseitigt wird, wenn er sich von ihr abwendet. Frag mal euren Anführer, in welchem Dilemma er sich befunden hat, als unser geschätztes Orakel ihn dem Zugriff von Kritiker entzogen hat.“ Schuldig lehnte sich nach vorne und verschränkte die Arme vor sich auf dem Tisch. Er fixierte sie und dunkel starrte Manx zurück.

„Alle Anzeichen standen darauf, dass Abyssinian Kritiker verraten hat. Die Entscheidung würde ich mit diesen Informationen so immer wieder treffen.“

Schuldig grinste. „Da habt ihr’s. Wir, Kritiker, Rosenkreuz. Alles ein Einheitsbrei, was die Treue seiner Untergebenen angeht. Alleinig ihr habt euch der romantisierten Vorstellung ergeben, dass ihr mit den Guten für das Gute kämpft.“

So gerne Manx dem Schwarz eine Kugel durch den Kopf gejagt hätte, so wenig konnte sie bestreiten, was der Mann sagte. Abtrünnige Agenten wurden liquidiert, darüber gab es keinen Zweifel, hatte es nie gegeben, seit der Gründung ihrer Organisation.
 

„Kudou, das ist nicht der richtige Zeitpunkt, das Gesicht meines Telepathen mittels eines Faustschlages zu verschönern.“ Die eiskalte Warnung des Orakels schnitt die Luft als wäre sie ein Katana, das einen Seidenschal zertrennte. „Wir verlieren uns in unwichtigen Details, deren Klärung wir zu einem geeigneten Zeitpunkt vornehmen können. Fakt ist, dass das Hauspersonal nicht mehr unter Schuldigs Kontrolle steht und somit über Informationen verfügt, die uns helfen könnten und diese auch weitergeben.“

„Warum kommt ihr erst jetzt damit?“ Eine berechtigte Frage seitens des ältesten Weiß, wie Manx fand. Das hätte vieles vereinfacht.

„Weil die Erinnerungen des Personals an solche Ereignisse bis zu dem Zeitpunkt regelmäßig gelöscht worden sind. Seit wir uns jedoch zurückgezogen aus dem Schutz Takatori Reijis, ist aber anscheinend etwas geschehen, was den Gärtner dazu veranlasst hat, sich an seinen Bruder zu wenden. Gehe ich recht in dieser Annahme?“
 

Der Unterton in Crawfords Stimme ließ Manx aufhorchen. Schon wieder implizierte er etwas, das ihr verborgen blieb. Perser schien das nicht zu stören, im Gegenteil. In der Gelassenheit seiner Reaktion erkannte sie, dass er bereits damit gerechnet hatte.

„Vor dem Eingriff durch Rosenkreuz in die Geschicke unseres Landes war er ein treuer und loyaler Angestellter meiner Schwägerin gewesen“, bestätigte Shuichi Takatori.

Der Anführer von Schwarz nickte. „Ist es erwünscht, dass wir persönlichen Kontakt aufnehmen?“
 

Manx schürzte die Lippen und nahm einen weiteren Schluck kalten Kaffees – auch keine Seltenheit in den letzten Tagen und bei der Hitze gar nicht mal so schlimm. „Das halte ich für ungünstig. Schwarz ist dem Gärtner durchaus bekannt. Er wird unkooperativer sein, wenn ihr euch gleich zu erkennen gebt.“

„Seine Kooperation ist nicht notwendig.“ Manx war wieder einmal überrascht von Berserkers ruhiger und logischer Art, seine Meinung anzubringen. Immer noch erwartete sie anderes und immer noch wurde sie Mal um Mal enttäuscht. Wobei sie sich nicht sicher war, ob es wirklich Enttäuschung war, die sie fühlte. Enttäuschung ihrer Erwartungen, ja.
 

„Er wird nicht körperlich angegangen“, mischte sich Perser ruhig, aber bestimmt in das Gespräch ein. Die Reaktion des Iren war dabei aber nicht in Ansätzen so interessant wie die des Orakels selbst. Zu gleichen Teilen kritisch und nachdenklich bohrten sich die stechenden Augen in das Profil des älteren Mannes an ihrer Seite und Manx nahm sich Zeit, ihrerseits den Schwarz zu analysieren.

Feindseligkeit fand sie nicht, im Gegenteil. Er schien sich über etwas nicht wirklich im Klaren zu sein und sich den Konsequenzen jetzt erst bewusst zu werden.

„Du denkst an Bombay“, lenkte er schließlich von ihrer Beobachtung ab, brachte sie weg von den Fragen, die sie hatte.

Manx nickte. „Exakt.“

Omi verlor keine Zeit, dem zuzustimmen, während sein missbilligender Blick auf den beiden ältesten Schwarz ruhte. „Ich werde es tun. Die Details?“
 

~~**~~
 

Es regnete in Strömen.
 

Nicht, dass es Omi missfiel, ganz im Gegenteil, er liebte den warmen Sommerregen, der auf den Asphalt prasselte und die ganze Welt mitten im Sommer in ein graues, nebliges Dickicht tunkte. Er liebte die hohe Luftfeuchtigkeit, die damit einherging, fast ebenso sehr, wie er sich an dem frischen Geruch der Pflanzen im Regen labte. Noch war es kein Monsun, der sie heimsuchte und noch gab es auch keinen Sturm, der den Regen begleitete und die Straßen überflutete, so war es angenehm und verleitete ihn dazu, für einen oder zwei Augenblicke seine Gedanken abschweifen zu lassen, während sie auf den geeigneten Moment warteten, den alten Mann abzupassen, der sich in sein Haus zurückgezogen hatte, weil er nicht einsah, in irgendeinem anderen Haus als seiner Geburtsstätte zu sterben. Wenn sein alter Arbeitgeber ihn denn finden sollte.
 

Was er Manx mit der gebührenden Sturheit seines Alters wohl mitgeteilt hatte. Ihr und Perser selbst, kurz nachdem er seine Informationen bereitgestellt hatte. Omi wusste schon immer, dass Gärtner die bestinformiertesten Menschen auf dem Planeten waren, denn wer achtete denn schon auf die Männer und Frauen, die täglich für Ordnung im Garten sorgten und die Blumen pflegten?
 

~Wir selbstverständlich.~
 

Omi rollte mit den Augen. Als wäre die Kröte, dass Schwarz, im Speziellen Schuldig, das Personal in Takatoris Haushalt jahrelang mental beeinflusst und kontrolliert hatte, nicht schon genug zu schlucken gewesen und eine weitere Belastung in ihrem fragilen Miteinander, das jederzeit kippen konnte. Natürlich ließ es Schuldig sich nicht nehmen, darauf herumzureiten.

Es wäre ja auch zu schön, wenn er einfach mal versuchen durfte, normal mit Schwarz zusammen zu arbeiten.

~Dafür stehen dir die restlichen Dreiviertel meines Teams zur Verfügung.~

~Die wiegen deine mangelnde Bereitschaft auf?~

Man sollte meinen, dass Omi an das Lachen unter seiner Schädeldecke gewöhnt war. Dem war nicht der Fall, wie er nun erkannte und aufstöhnend rollte er mit den Augen.
 

„Warum genau habt ihr noch einmal gleich den Vertrag mit Rosenkreuz unterschrieben?“, fragte er Manx, die neben ihm saß und deren Lächeln nichts Angenehmes hatte.

„Weil du zugestimmt hast. Du erinnerst dich?“

Omi grollte. „Ja, das tue ich.“ Die darauf entstehende Stille nutzten sie für ein schmutziges Blickduell, aus dem sich Manx zuerst löste, indem sie ihm einen Regenschirm entgegenhielt.

„Wir sollten gehen.“
 

In der Tat, das sollten sie. Manx und er, die dem alten Mann seine Geheimnisse entlockten, während Schuldig seine Gedanken beobachtete und weitergab, was der Gärtner gesehen und gehört hatte. Omi war nicht wohl dabei, der Telepath hatte schon genug in fremden Gedanken geschnüffelt und sie gelöscht, als dass er nun noch das Recht hatte, es ein weiteres Mal zu tun. Doch das war unsinnig, sie benötigten die Informationen.

~Schön, dass du das gleich selbst einsiehst, du weißer Ritter.~

~Hast du eigentlich keinen Turm, in dem dich einschließen kannst, ungeküsste Prinzessin?~, gab Omi zurück, bevor er sich nun darauf konzentrierte, die Straße unbeschadet zu überqueren, Schuldigs Murmeln nicht mehr als Hintergrundgeräusch.
 

Die Gegend hier gehörte zu den ruhigeren Stadtteilen Tokyos, doch das Haus stand an einer unübersichtlichen Ecke. Über der hohen Mauer rankten Bäume und Sträucher und gaben einen kleinen Vorgeschmack auf das, was sie im Inneren des Hofes hinter der massiven Holztür erwarten würde, die weder einen Türknauf noch eine Klingel auswies und sich dennoch wie von Geisterhand öffnete.

Naoes Werk, ebenso wie der Telekinet dafür verantwortlich war, dass es im gesamten Block keinen Strom gab, der die Verkehrskameras füttern konnte. Schuldig sorgte währenddessen dafür, dass sie von keiner der zufällig vorbeikommenden Personen gesehen wurden. Dennoch war Omi mehr als vorsichtig. Sie kamen dem Politiker und damit seinem hauseigenen Menschenhändler so nah wie nie zuvor und er hatte keinen Bedarf daran, erneut entführt zu werden.
 

~Rate mal, wer da noch viel weniger Interesse dran hat. Ich gebe dir einen Tipp. Hat schwarze Haare, sieht in die Zukunft und hat eine Vorliebe für Anzüge.~

Eines musste Omi Schuldig lassen, damit hatte er Recht, auch wenn es leicht war, das zu vergessen, so wenig, wie man es dem Anführer von Schwarz anmerkte, was Lasgo ihm angetan hatte.

Stirnrunzelnd ging er durch den verwilderten Garten, der so gar nichts mit den gepflegten Anlagen zu tun hatte, an die Omi sich erinnerte.

~Die augenscheinliche Unordnung hat ihren Sinn und ist so gewollt~, widersprach ihre nun offene Verbindung ihm und er hob überrascht die Augenbrauen, als er die Stimme des Orakels identifizieren konnte. Nicht nur die Tatsache, dass Crawford überhaupt etwas gesagt hatte, irritierte ihn, nein, auch die Art, wie er es von sich gegeben hatte.

~Wusste unser edler Anführer bis gerade eben auch noch nicht~, mischte sich Schuldig süffisant ein und das Grollen, das nun über die Verbindung dran, war zu tief, als dass es nicht von Crawford stammen konnte.
 

Omi beschloss, dass er den darauf entstehenden Machtkampf im um die Ecke geparkten Wagen lieber nicht beobachten wollen würde und konzentrierte sich auf Manx, die bereits an die verwitterte Tür des kleinen Hauses geklopft hatte, das inmitten des Gartens stand und über und über mit Efeu berankt war.

Es brauchte etwas Zeit, viel Gerumpel von innen und einen herzlichen Fluch, bis sich die Tür öffnete und gerade jener bucklige, alte Mann in der Tür stand, an den Omi sich nur zu gut erinnerte, auch wenn er ihm damals bereits genauso bucklig und alt erschienen war, wie er heute vor Manx und ihm stand.
 

Die aufmerksamen Augen jedoch konnte das Alter nicht trüben. Scharf musterten sie erst Manx, dann ihn und dann schnaubte Sato Yoshiro abwertend.

„Ein Mädchen und ein Kind… schon wieder. Ich habe doch alles gesagt. Was gibt’s denn noch?“

Omi hob die Augenbraue und sah Manx fragend an, deren Miene zu neutral und höflich war. „Ich möchte, dass sie meinem Begleiter noch einmal erzählen, was sie Takatori Reiji erzählt haben.“

„Wozu?“

„Weil sich mein Begleiter darum kümmern wird.“

Das brachte ihm eine eindringliche Musterung ein, der er stumm und unbewegt standhielt und die ihn sich unweigerlich wie auf dem Schwiegersohnprüfstand fühlen ließ.

~Keine Sorge, das wirst du nur bei Crawford sein.~

~Schuldig!~ Dieses Mal war es die Stimme von Naoe, empört und wütend, die ihm zeigte, dass Schuldig anscheinend nicht nur für die normalen Menschen in seiner Umgebung die Pest sein konnte.
 

„Wer ist er überhaupt?“, fragte Sato misstrauisch und Omi warf einen kurzen Blick auf Manx. Sie hatten darüber gesprochen, mehrfach. Sie waren übereingekommen, dass es das Beste sein würde und zum besten Ergebnis führen würde. Tief einatmend schluckte er und lächelte dann, deutete eine höfliche Verbeugung an.

„Mein Name ist Takatori Mamoru und Sie kennen mich von früher, Sato-sama.“

Der mürrische Zug um den Mund des alten Mannes wich nach und nach der puren, ungläubigen Überraschung. Abrupt schlug er die Hand vor den Mund und trat einen Schritt näher, dann noch einen und maß Omi von oben bis unten.

„Unmöglich. Mamoru-kun ist tot.“

Das war wahr, wenngleich auf eine gänzlich andere Art und Weise.
 

„Takatori Shuichi hat mich gerettet und bei sich aufgenommen“, kürzte er die schmerzvolle Vergangenheit auf das herunter, was wesentlich war und wartete, dass Sato ihm Glauben schenkte. Ein schwieriges Unterfangen, aber eines, dem er bereit war sich zu stellen.

„Lieblingsblume?“, fragte der Gärtner schließlich und Omi schmunzelte.

„Weiße Anemone.“

„Falsch. Es war weißer Mohn.“

Er hob die Augenbraue. „Im Leben nicht. Die fand ich unhübsch mit der gelben Färbung.“
 

Das stimmte den alten Mann vor ihm zufrieden und es war tatsächlich sowas wie ein Lächeln, das die faltigen Züge freundlicher machte.

„Der kleine Takatori lebt noch. Dass ich das noch erleben darf, meine Güte. Was aus so einem lieben, netten Jungen werden kann…“
 

Das knappe Nicken Satos übersah Omi beinahe, nur Manx‘ Hand auf seinem Oberarm deutete an, dass er ihr hineinfolgen sollte in das Haus, das klassisch japanisch eingerichtet war. An jeder Wand befand sich mindestens ein übervolles Bücherregal und dort, wo sich die Holzbretter nicht schon unter ihrer seitendicken Pracht bogen, lagen die Wälzer auf dem Boden, auf dem niedrigen Tisch, auf den Stühlen und auf den sonstigen Schränken.

Der einzige Gegenstand, der nicht Ablageort war, war ein großer Sessel, auf dem sich eine schwarze Katze eingerollt hatte, die unter dem Schein einer westlich anmutenden Stehlampe schlief und es noch nicht einmal für nötig hielt, aufzuwachen, als sie den Raum betraten.
 

Omi wartete vergeblich darauf, dass sie sich setzen durften.
 

Mit verschränkten Armen positionierte Sato sich vor seiner Terrassentür, hinter der der Regen auf die Pflanzen in seinem Garten prasselte, und schnaubte ungeduldig.

„Takatori und dieser andere, der ihn so oft besucht hat in letzter Zeit, der Ausländer, sie haben darüber gesprochen, dass sie sich in einer Kathedrale im Meer treffen mit komischen Menschen, die sich von den Fesseln ihres Daseins lösen wollen. Sie sprachen davon, als wären die irgendetwas Besonderes und als wäre das alles schon vorherbestimmt. Komischer Esotherikkram, wenn man mich fragt.“

„Haben sie gesagt, wo sich diese Kathedrale befindet und wann sie sich treffen?“

Sato zuckte mit den gebeugten Schultern. „Im Meer irgendwo vor der Küste Japans. Sie sagten, dass die Reise drei Stunden dauern wird. Anscheinend gehört die aber dem Fremden, so wie er darüber geredet hat. Wenn ich richtig zurückrechne, müssten sie sich Freitag nächster Woche dort treffen, zumindest sagte das Takatori.“
 

Schuldig schnalzte über ihre mentale Verbindung anerkennend mit der Zunge. ~Er hat’s wirklich so gehört. Der Ausländer, den er meint, ist unzweifelhaft Lasgo. Es geht doch nichts über ein bisschen Rassismus im Sommerregen.~

~Hast du eine Ahnung, wo die Kathedrale sein könnte?~, fragte Aya und Nagi gab einen mentalen Laut der Zustimmung von sich.

~In den Akten über die Areale, in denen unsere Zielperson operiert, war auch etwas von einer Ölbohrinsel die Rede, die er als Tarnung für seine Drogengeschäfte nutzt.~

~Das würde passen~, erwiderte Omi. ~Aber was meint er mit diesen Fesseln des Daseins?~

Die darauffolgende, drückende Stille verhieß nichts Gutes.
 

Das ~Wir sprechen später darüber.~ des Anführers von Schwarz ebenso nicht.
 

~~**~~
 

„Meine Schwester?“
 

Schock und bodenlose Wut ließen Ayas Stimme zu einem rauen Krächzen verkommen, mit dem er die anwesenden Schwarz, Manx, die Exekutorin und ihren Assistenten maß, die ihn allesamt mit einer hassenswerten Ruhe betrachteten.

Sein eigenes Team war ebenso still, doch in ihren Gesichtern las er Schock und Ablehnung über das, was Crawford ihm gerade eben mit ruhiger, emotionsloser Stimme mitgeteilt hatte.
 

Die Partnerorganisation von Rosenkreuz hatte es sich also zum Ziel gemacht, durch die Beschwörung eines Dämons die Unsterblichkeit zu erlangen. Das an sich war hanebüchener Unsinn. Es gab weder Dämonen noch Unsterblichkeit. Das war aber nicht das eigentlich Erschreckende und Widerwärtige daran. Für den Dämon waren sie auf der Suche nach einem Gefäß gewesen und unter anderem seine Schwester war von SZ dazu auserkoren waren, eben jenes zu sein zu können. Rosenkreuz hätten das im Ernstfall mitgetragen, weil ihnen seine Schwester egal war, auch wenn sie ebensowenig an Dämonen glaubten wie Aya auch.
 

Wutentbrannt wandte er sich an Crawford, dem Mann, den er am gestrigen Tag geküsst hatte und der ihn nun mit ruhiger Gewissheit um seine kommenden Worte ansah.

„Hast du sie deswegen entführt? Um sie SZ um Fraß vorwerfen zu können?“, fragte Aya scharf und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Der Stuhl, von dem er gerade aufgesprungen war, lag umgekippt hinter ihm.

„Nein. Die Entführung deiner Schwester zu dem Zeitpunkt hatte eine andere Zielsetzung“, erwiderte Crawford so ruhig, dass Aya ihm am Liebsten ins Gesicht geschlagen hätte dafür.

„Aber du hättest es getan, wenn es notwendig gewesen wäre? Im Auftrag deiner Organisation ein wehrloses, komatöses Mädchen zu entführen?“

„Spätestens mit dem Dämon in sich wäre sie weder komatös noch wehrlos gewesen“, warf Schuldig mit einem Lächeln ein und Ayas gesamte Wut richtete sich mit einem Mal auf den Telepathen.

„Ein Wort mehr, Arschloch…“, zischte er warnend und ließ den Telepathen sehen, dass er es durchaus ernst meinte. Wie konnte Schuldig es wagen, sich auch noch darüber lustig zu machen?
 

„Komm her und trau dich doch“, grinste der Schwarz und Aya setzte sich abrupt in Bewegung. Was der Telepath wollte, konnte er bekommen. Er hörte, dass Youji hinter ihm aufstand um ihn aufzuhalten, doch Crawford war schneller. Eisern hielt er ihn von Schuldig fern. Zischend starrte Aya auf die Hand, die seinen Oberarm umfasste und ihn daran hinderte, dem anderen Mann sein Lächeln ein für alle Mal auszutreiben.

„Halte den Mund, Schuldig“, warnte das Orakel über ihn hinweg mit eisiger Kälte in der Stimme und Aya ruckte an seinem gefangenen Arm. Er kam keinen Zentimeter weit, so starr war Crawfords Griff.
 

Schmale Lippen verzogen sich für einen Moment unwillig, bevor das Gesicht des Orakels so etwas wie eine sanfte Ruhe gewann, die, so schien es Aya, nur für ihn sichtbar war und die er so nie geglaubt hatte, in den sonst so strengen Zügen zu sehen. „Ich hätte es getan, ebenso wie ich dich umgebracht hätte. Ebenso, wie du mich umgebracht hättest. Und nicht zuletzt, wie wir alle uns hier gegenseitig umgebracht hätten, wären die Dinge nicht so geschehen, wie sie geschehen wären. Das bringt der Begriff Feind mit sich und das weißt du auch, Fujimiya, wenn du die Gedanken einmal von deiner Schwester löst und dir eine gewisse Objektivität gestattest.“

„Wir können uns wehren, meine Schwester nicht“, grollte er und wieder unternahm er den reichlich fruchtlosen Versuch, sich loszumachen.
 

Der Anführer von Schwarz seufzte unmerklich. „Schwarz waren nie die Guten in dieser Gleichung, das weißt du, das weiß dein Team. Es sollte hier niemanden überraschen, dass wir der Entführung einer Unbeteiligten und, so man möchte, Unschuldigen, neutral gegenüberstehen.“

Für einen Moment verloren die Augen des Orakels ihren Fokus und schließlich grollte Crawford missgelaunt. Er fuhr Youji über den Mund, noch bevor dieser auch nur den Mund aufmachen konnte, wie es Aya aus dem Augenwinkel heraus erkannte.

„Wollen wir hier wirklich die alte Diskussion um das Gut und Böse dieser Welt führen? Ernsthaft?“

Der Schwarz drehte sich zum Tisch zurück, ohne Aya aus seinem Griff zu lassen und mittlerweile gewann er den Eindruck, dass Crawford sich an ihm festhielt, auch wenn das absurd war.
 

„Willst du etwa behaupten, dass ihr für die gute Sache streitet?“, fragte Ken und verschränkte mit einem wütenden Schnauben die Arme, während Omi und Manx der vermutlich längst überfälligen Diskussion mit versteinerter Miene und unbewegt beiwohnten. Wie sehr sie sich doch ähnelten in der nonverbalen Warnung, das Thema nicht weiter zu verfolgen, weil es Wichtigeres gab. Weil es die Mission gab. Doch Aya dachte nicht daran, seinen Zorn gerade jetzt hinten an zu stellen. Ebensowenig Ken. Ebensowenig Youji.
 

Die gute Sache? Es gibt keine rein gute Sache, Hidaka. Und wenn es sie gäbe, dann würdet ihr mit eurer Vorgehensweise sicherlich nicht dafür streiten. Ihr mordet, ohne den Befehl zu hinterfragen, ohne das Gesetz zu beachten, ohne euch zur Verantwortung ziehen zu lassen, ohne denjenigen, die ihr ermordet, die Möglichkeit zu einer Verteidigung zu geben. Das entspricht weder demokratischen Grundprinzipien noch ist es gut. Auch eure Organisation hat Interessen, die ihr als böse bezeichnen würdet, wie sonst würde sie uns, die wir das nachweislich ja sind mit dem, was wir getan haben, unter Vertrag nehmen? Eure Organisation ist pragmatisch und das ist es, was die Welt am Laufen hält, und nicht, dass jemand gut ist. Letzteres ist naives Wunschdenken, nicht viel mehr.“
 

Kens Lippen klappten sich nutzlos auf und wieder zu, während seine Gesichtsfarbe von kalkweiß auf rot wechselte. Er schüttelte den Kopf, bereits jetzt das verneinend, was Crawford gesagt hatte. Eben jener schnaubte abwertend und wandte sich mit einem dunklen Lächeln an Manx. Spätestens jetzt war sich Aya sicher, dass die Finger des Orakels auf seinem Arm Hämatome hinterlassen würden, so starr wie er umfasst wurde.
 

„Wo hättest du mich hinbringen lassen, wenn Fujimiya sich tatsächlich dafür entschieden hätte, mich an Kritiker auszuliefern? China oder Nordkorea?“, richtete der Schwarz an Manx und lieferte sich mit der Agentin ein stummes Blickduell, das klar und deutlich machte, dass sie nicht verneinen musste, was er sowieso schon wusste.

„Nordkorea“, bestätigte sie zähneknirschend und lehnte sich mit gewittriger Miene zurück, ganz zum Entsetzen Kens, der sie geschockt anstarrte.

„Und wärest du so gütig, die anwesenden Herren hier aufzuklären, was genau Kritiker dort mit jemandem wie mir getan hätten? Abyssinian benannte es bei unserem ersten, unfreiwilligen Zusammentreffen lapidar als „das Übliche“. Erläutere doch bitte, was das Übliche ist.“
 

Aya spürte Hitze in seinen Wangen hochsteigen. So und nicht anders hatte er es ausgedrückt, in der Annahme, dass das, was Kritiker tat, rechtens war. Und war es das nicht auch, um sich einen Vorteil gegen eine feindliche Gruppierung zu verschaffen?

„Zu welchem Zweck, Oracle?“, fragte Manx und das klirrende Eis, das unterhalb der Ruhe in ihrer Stimme floss, war zumindest Weiß eine deutliche Warnung. „Gibt es momentan nichts Wichtigeres als über theoretische Fragen zu diskutieren, die weder zu etwas führen noch einer Zusammenarbeit zuträglich sind?“

„Frage das dein eigenes Team.“

„Welches von beiden? Weiß oder Schwarz?“, lächelte Manx ihr unangenehmes Lächeln und Aya hob die Augenbraue. Crawford war nicht im Mindesten davon beeindruckt, natürlich nicht, nur seine Finger deuteten an, was er von der Verzögerungstaktik hielt. Nichts, rein gar nichts, bis hin schlussendlich zum Knochenbruch, wenn es so weiterging.
 

Missmutig starrte Aya den Anführer von Schwarz an und ruckte an seinem Arm. „Du kannst mich loslassen, ich gehe schon nicht auf Schuldig los“, kam er zum eigentlichen Grund des Körperkontaktes zurück und wurde mit hellen, wenig erfreuten Augen belohnt, die für einen Augenblick zu lang auf ihrer beider Verbindung ruhten, bevor Crawford so schnell und so unauffällig wie möglich seine Hand zurückzog.
 

„Gehe ich recht in der Annahme, Manx-san, dass Sie die üblichen Tests durchgeführt hätten?“, mischte sich nun auch noch die Exekutorin von Rosenkreuz ein. Sie lächelte charmant, doch Aya glaubte keine Sekunde an die Harmlosigkeit, die sie hier zeigte.

„Selbstverständlich“, erwiderte Persers rechte Hand mit einem knappen Nicken und die beiden Frauen maßen sich wie Raubtiere, die sich um die Beute stritten.
 

Aya gefiel das ebensowenig wie Crawford, dessen freie Hände sich zu Fäusten ballten, die seine Knöchel weiß hervortreten ließen.

„Nach der Feststellung der Identität, hätten Sie mit der Abnahme diverser Körperflüssigkeiten und Gewebeproben begonnen. Darauf folgend MRT, CT, EEG, EKG, Belastungstests in mehreren Testabschnitten und unter unterschiedlichen Testbedingungen, so zum Beispiel unter mehrtägigem Schlafmangel oder unter Zugabe von Adrenalin. So die Ergebnisse dieser Untersuchungen nicht zufriedenstellend gewesen wären, hätten sie sehr wahrscheinlich einen neurochirurgischen Eingriff vorgenommen um weitere Tests durchzuführen. Liege ich da richtig?“

„Das ist korrekt.“ Wenn Aya gedacht hatte, dass er den Funken eines schlechten Gewissens in den kurzen Worten hören würde, dann irrte er sich gewaltig. Da war kein Bedauern oder Scham. Da war Geschäftsmäßigkeit, kalte, objektive Geschäftsmäßigkeit und er war trotz allem froh, Crawford dem nicht ausgeliefert zu haben.
 

Insbesondere, weil er vermutlich nie erfahren hätte, was Kritiker mit dem ohnehin schon traumatisierten Mann getan hätten.
 

„Dann seien wir doch froh, dass sich alles so entwickelt hat, wie es sich entwickelt hat und dass sich niemand, sei es weder Ihre Schwester, Fujimiya-san, noch mein Sohn auf Operationstischen befinden und Opfer von Handlungen geworden sind oder im Begriff sind zu werden, die wir eventuell in der Zukunft bereut hätten.“

Aya schnaubte. „Es ist vieles geschehen, was zu bereuen wäre.“

Sie nickte beschwichtigend, aber auch versöhnlich. „Ich möchte ungerne vom eigentlichen Thema ablenken meine Herren, Manx-san. Aber der Rat verlangt meine Anwesenheit in Österreich und so werde ich morgen abreisen und am Ende der sechs-Wochen-Frist wiederkehren. Ich nehme an, dass sich keiner der hier anwesenden Herren in diesem Zeitraum in feindlicher Absicht nähern wird, insbesondere vor dem Hintergrund des geschlossenen Vertrages, dessen Einhaltung oberste Priorität hat.“
 

Ihre Augen ruhten insbesondere auf ihrem Sohn, der sichtbar unerfreut war über diese Neuigkeiten. Wut stand ihm offen ins Gesicht geschrieben und ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verließ den Wintergarten. Die zuknallende Tür seines Arbeitszimmers entlockte zumindest Naoe ein Zusammenzucken und eine sorgenvoll geschürzte Unterlippe.
 

~~**~~
 

Da hatten sie nun endlich eine handfeste Spur, die sie zum Ziel führen würde und seine Mutter wurde nach Österreich zurückberufen. Crawford schnaubte verächtlich. Was für ein günstiger Zufall für jemanden, der ihm schaden wollte. Dass er nicht lachte.

Was blieb ihm da noch anderes übrig, als sich an den Strohhalm zu klammern, der sich ihnen in Form einer Ölbohrinsel offenbart hatte, auf der sich die verrückten Alten von SZ zusammen mit Takatori und ihrer Zielperson befanden. Bislang hatte ihm seine Gabe nur Fetzen der Zukunft gezeigt, die sich mit einem potenziellen Angriff auf die Insel beschäftigten. Fetzen von Schusswechseln, die definitiv mit Takatoris Männern geführt werden würden.
 

Jeder Tag, an dem er dem vom Rat gestellten Ultimatum näherkam, wurde er in solchen Momenten frustrierter über den Umstand, dass seine Gabe trotz Anwesenheit Fujimiyas, trotz ihrer Nähe immer noch nicht so wünschenswert zuverlässig arbeitete, wie er es gewohnt war. In solchen Momenten kam in ihm der Verdacht auf, dass es vielleicht nie wieder so nahezu perfekt sein würde, wie vor…
 

Crawford hielt inne, sein Shirt in der Hand, als mit der Sorge auch dunkle Erinnerungen kamen an die Momente, die er in der Gewalt des Menschenhändlers verbracht hatte. Getriggert durch seine eigene Unfähigkeit, die Präkognition unter seine Kontrolle zu zwingen, wie auch durch die Worte seiner Mutter, was das Vorgehen von Kritiker betraf. Nur durch Fujimiyas Entgegenkommen war er eben jenem entkommen und die Dankbarkeit, die er auch heute noch darüber empfand, war mit kalter Bitterkeit unterlegt.
 

Noch eine weitere Entwürdigung hätte er nicht verkraften können.
 

Das wurde ihm selbst jetzt klar, Wochen später in der Sicherheit seines Teams, aber in der Unsicherheit der eigenen Zukunft. In diesem Moment vermischte sich die Vergangenheit mit der Gegenwart und er fragte sich, wie er am gestrigen Tag und die Zeit davor überhaupt in Erwägung hatte ziehen können, sich dem Weiß in körperlicher Absicht zu nähern. Gerade jetzt fragte er sich, wie er die Küsse überhaupt hatte genießen können. Ertragen können.
 

Wie könnte er überhaupt weitergehen als das? Wie könnte er mit seiner Muse schlafen? Sich ihm nochmals nackt präsentieren, so wie er es schon bei Lasgo gezwungen gewesen war? Das war…
 

Als wenn dieser sein Unwohlsein gerochen hätte, betrat nun exakt jener Japaner sein Zimmer, in das er sich zurückgezogen hatte vor den vorsichtigen Versuchen beider Teams, sich nach dem letzten Gespräch auf eine gemeinsame Basis zu bringen.

Crawford sah den neutralen Ausdruck des anderen Mannes in seinem Spiegel und er brachte noch nicht einmal die Kraft auf, den Weiß mit Worten aus seinem Zimmer zu werfen. Wie angewurzelt stand er hier und wartete darauf, dass der Weiß das Thema seiner Schwester erneut zwischen ihnen beiden aufbrachte. Als wäre es das Wichtigste, was mit dem unwichtigen Mädchen geschah, das zufällig am falschen Ort zur richtigen Zeit gewesen war um das Interesse von drei verrückten, alten Spinnern zu wecken.
 

„Ist sie noch in Gefahr?“, fragte Fujimiya schlicht und kam langsam um ihn herum. Schritt für Schritt näherte er sich ihm und entfernte sich von ihrem Blickkontakt durch den Spiegel, bis sie sich direkt in die Augen sehen konnten. Ruhig wurde er gemessen, ebenso bedacht war Fujimiya anscheinend darauf, ihm nur die Augen zu sehen.

„Vielleicht.“

Eigentlich hatte er lügen wollen, weil es die einfachere Möglichkeit war. Ein Nein hätte Fujimiya keine Sorgen bereitet, hätte aber nicht den Tatsachen entsprochen, wenn es tatsächlich eine verräterische Verbindung zwischen Ratsherr Leonard und Takatori gab. Durch seine Mutter wusste der Rat, wo sich Fujimiyas Schwester befand, entsprechend einfach würde es schlussendlich sein, das Mädchen zu entführen und im zweifelhaften Vorhaben, sie zu einem Gefäß zu machen, umzubringen.
 

„Was kann ich tun?“

Crawford zuckte mit den Schultern. „Nicht viel mehr, als jetzt schon getan wurde. Sie wird bewacht. Ob du nun ebenfalls dort anwesend bist, falls SZ-Söldner die Sicherheitskräfte von Kritiker töten oder nicht, macht keinen Unterschied. Bevor du fragst, sie zu verlegen wird ihnen da ebenso wenig nutzen, denn es gibt Informationswege, die schneller sind, als wir beide es uns vorstellen können.“ Bitterkeit färbte seine Worte.

„Hast du etwas diesbezüglich vorausgesehen?“

Crawford ließ seinen Blick probeweise in die Zukunft schweifen und wie als wenn seine Gabe niemals einer Störung unterworfen gewesen wäre, zeigte sie ihm, was Fujimiya wissen wollte.
 

„Sie ist nicht in Gefahr und wird friedlich weiterschlafen, während wir die Bohrinsel in Schutt und Asche legen.“

Fujimiya hob die Augenbrauen. „Sie werden sie in Ruhe lassen?“

Wieder war die Zukunft eindeutig. „Ja. Sie wird unbehelligt bleiben.“

Stille trat zwischen sie, die Crawford die Gelegenheit gab, zu seiner Kommode zu gehen, das Oberteil dort abzulegen und sich dort einen Whisky einzuschenken. Nach kurzer Überlegung wandte er sich an Fujimiya und hielt fragend die Flasche hoch. Nach dessem Nicken füllte er auch das zweite Glas und reichte es dem Mann, der ihn immer noch ruhig musterte.
 

Crawford ging an Fujimiya vorbei zu der kleinen Sesselgruppe und ließ sich darauf nieder, das kühle Leder eine Wohltat für seinen bloßen Rücken. Fujimiya ließ sich ihm auf die Polster gleiten und war eben die unaufdringlich ruhige Präsenz, die er nicht von ihm erwartet hatte.

Spannend war auch, wie sich die Antwort auf die Frage, ob er Fujimiya jemals nahe sein konnte, verschob, sobald dieser den Raum betrat und die dunklen Erinnerungen wegwischte, als wären sie nichts.
 

„Ich wusste nicht, dass sie das machen würden“, beendete der Weiß die erholsame Stille und Crawford nahm einen Schluck des rauchigen, starken Whiskys. Ohne Probleme glaubte er ihm das.

„Ich würde deiner Schwester nichts tun“, hielt er dagegen und so hatten sie jeder das, was zwischen ihnen im Raum stand, ausgesprochen, so schien es ihm. Zumindest sagte ihm das die subtile Anspannung, die sich langsam zwischen ihnen beiden auflöste.

„Deine Verletzungen sind schnell geheilt“, ließ Fujimiya erkennen, dass er nicht nur seinen Augen Aufmerksamkeit geschenkt hatte und Crawford schnaubte.

„Einer der vielen Vorteile eines PSI.“

„Hat es auch Nachteile?“
 

Gleich ins neugierige Eingemachte, natürlich. Die aufmerksamen Augen des Weiß warteten – noch – geduldig auf eine Antwort. Was sich ändern würde, wenn er sich noch mehr Zeit mit einer Antwort ließe. Crawford seufzte.

„Kopfschmerzen“, erwiderte er schließlich lapidar.

„Jetzt gerade auch?“

Vor Wochen hätte Crawford diese Frage niemandem ehrlich beantwortet, weder seinem Team und schon gar nicht einem Nicht-PSI. Vor Wochen wäre er aber auch nicht wiederholt auf die Hilfe von Personen aus seinem Umfeld angewiesen gewesen. Vor Wochen hatte er noch nicht einmal geahnt, unter welchen Umständen er seine Muse kennenlernen würde.

Nun aber nickte er, wenn auch mit einem derartigen Zähneknirschen, dass Fujimiya es natürlich hören musste. Nicht, dass der Weiß das zu erkennen gab, als er sich erhob und einen Schritt auf ihn zutrat.
 

Während ihres erzwungenen Zusammenlebens vor ein paar Wochen hatte sich Crawford genau dadurch bedroht gefühlt und nun verfolgte er aufmerksam die stumme Suche des Japaners um Zustimmung. Überrascht hielt er inne, als ihm die Zukunft mitteilte, was Fujimiya vorhatte und er fragte sich, ob er sich wirklich dafür hatte entscheiden sollen, ehrlich zu sein.
 

Ob er in Zukunft einfach lügen sollte, wenn ihm solche Fragen gestellt wurden.
 

Noch während Crawford über die Möglichkeiten eines solchen Verhaltens sinnierte, legten sich die Finger des Weiß wie vorhergesehen auf seine Schläfen, unsicher, innehaltend, um Erlaubnis bittend. Stumm erteilte er eben diese, indem er seine Augen schloss und das Glas auf seinem Oberschenkel ruhen ließ.

So sehr es ihn auch juckte, jede Bewegung des Weiß zu beobachten, so wenig konnte er die über ihm thronende, direkte Nähe des Weiß ertragen, wohl aber dessen Geruch, der ihm Vertrautheit und Sicherheit vermittelte. Also blieb er hier sitzen, lauschte dem Rascheln der Kleidung und dem Wispern von Fingern, die erst über seine Haut, dann durch seine Haare strichen, in wohltuenden, entspannenden Kreisen, die nach und nach den Druck hinter seinen Schläfen und unter seiner Schädeldecke vertrieben.
 

„Gut so?“, murmelte Fujimiya und Crawford brummte zustimmend, aus Ermangelung einer klugen Antwort, die dafür sorgen würde, dass er sich nicht noch weiter dem vor ihm stehenden Mann näherte, dessen Finger ihm eine Gänsehaut beschert hatten, die sich über seinen gesamten Rücken erstreckte.
 

Lieber hob er nun seinerseits die Hand und strich entschuldigend mit seinen Fingern blind über die Hämatome, die er vor Stunden auf dem Arm des Weiß hinterlassen hatte.
 

~~~~~

Fortsetzung folgt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Kommentare, Kritik und Lob sind mir natürlich immer herzlich willkommen. :) Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Gadreel
2019-10-16T07:28:51+00:00 16.10.2019 09:28
Und weiter geht's! :D

Also ich muss ja zugeben, dass ich Siobhan wirklich mag... natürlich ist sie eine knallharte Frau, die geschäftliches und privates strikt trennt, aber dennoch kann ich meine Sympathie ihr gegenüber nicht verbergen. Vielleicht, weil sie eine völlig widersprüchliche Person ist xD
Mein Siobhan-Fähnchen wurde sehr hoch geschwenkt, als sie Schuldig in seine Schranken gewiesen hat - vor ihr hat sogar er ein wenig Angst :))

Das Kapitel war mal wieder super! Bei der Szene mit Manx musste ich sogar lachen - sie kommt ihnen langsam auf die Schliche... aber beim "Mondjungen" und dem "ungeküsst" konnte ich mich dann nicht mehr halten XD alle gegen Schuldig, jawohl!! :D

Am meisten hat mir natürlich die letzte Szene gefallen... Kurz vor Schluss dachte ich schon: "Schade, dieses Mal kam kaum Zweisamkeit von Aya und Brad vor..." und dann hattest du mich doch noch überrascht. Auch wenn es keine wilde Knutscherei war, so hatten mich die Gesten der beiden fast zum Quietschen gebracht. Dennoch hoffe ich, dass wir auch mit einer heißen Szene mal belohnt werden :P

Es war wieder sehr toll zu lesen und ich freue mich auf die Fortsetzung. Sehr sogar!!

Und an alle Mitleser, hopp, jetzt tippt endlich mal einen Kommentar! Muss ja nicht unbedingt meine Länge haben xD

Ich freue mich noch mehr lesen zu dürfen ^^

Bis bald :D
Antwort von:  Cocos
17.10.2019 00:54
Dito. :D

Erstmal vielen Dank dir für deinen Kommentar. :)

Siobhan mag ich auch sehr (merkt man gar nicht, oder?). Auf ihre Weise ist sie zwar für Crawford genau so eine Pest wie Schuldig auch, aber sie hat den eindeutigen Vorteil, dass sie eben jenem durchaus auch mal einen Schlag in den sprichtwörtlichen Nacken gibt, wenn er ihr zu aufmüpfig wird.
Ganz davon abgesehen, dass sie sich mit einem präkognitiven Sohn herumschlagen muss, der sich in ihren Augen viel zu spießig entwickelt hat.
Von daher, ich schwenke mit!

Schuldig verdient es aber auch und schreit danach, da einen drauf zu bekommen. Als hätte er es nicht ahnen können, bei den Provokationen in Richtung Jei.

Was die Nähe der Beiden angeht, so habe ich mir vorgenommen, sie sich langsam aber stetig annähern zu lassen. Aya weiß ja auch nicht so ganz, wie weit er mit Crawford gehen darf, weil er keine Grenzen überschreiten möchte, die dem anderen Mann Unwohlsein bringen. Daher wird es in jedem Teil etwas geben, sicherlich auch durchaus mehr und sicherlich auch eine heiße Szene. Wann.... tjaaa. :D Geduld!

Ich freu mich, dass es dir gefallen hat :) Mehr gibt es seit ein paar Minuten und ich wünsche dir viel Freude damit!

Bis bald. ;)



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