Die Farbe Grau von Cocos ================================================================================ Kapitel 32: Dornröschen ----------------------- Es wäre zu schön gewesen, wenn der Tag wenigstens mit so etwas wie Entspannung geendet hätte, befand Aya mit einem frustrierten, inneren Seufzen, als die Videokonferenz mit Manx und Perser zum wiederholten Mal durch eine von Schuldigs unangebrachten, zynischen Bemerkungen in Richtung seines eigenen Teamführers unterbrochen wurde. Mit kalter, stoischer Ruhe überging Crawford jede einzelne dieser Provokationen und fuhr fort, die durch Manx und Perser bereitgestellten Informationen auf Verbindungen zu prüfen. Omi und Naoe hatten ihre Ergebnisse bereits am Anfang vorgetragen. Dass der junge Schwarz ein nicht zu geringes, schlechtes Gewissen hatte, dass er den Tag über von Omi zum Spielen genötigt worden war, war unübersehbar gewesen. Omi hatte Aya auf seine Nachfrage hin von fehlender Effizienz und Effektivität berichtet, die er mit Freizeitaktivitäten ausgeglichen hatte und Aya hatte nichts dagegen sagen können. Auch Crawford hatte sich bei seinem Aufenthalt bei Schwarz dieser Ablenkung bedient und nicht nur eine Runde Schach mit ihm gespielt. Doch all das wurde zum Nebenkriegsschauplatz in Schuldigs Abrechnung mit seinem eigenen Anführer, auf die dieser anscheinend schon seit dem Zeitpunkt wartete, als Crawford Naoe aus seinem Haus vertrieben hatte. Seitdem hatte sich dieser Konflikt gesteigert und steuerte nun auf sein unrühmliches Ende zu, so hoffte Aya. Die Spannungen, die zwischen den beiden Männern herrschten, waren insbesondere heute Morgen schier greifbar, was nicht nur daran lag, dass Schuldig jede Gelegenheit nutzte, seinen Anführer zu provozieren. Crawford war schon seit dem Frühstück schlechter Laune und hatte sich mit starr zusammengepressten Lippen in seinem Arbeitszimmer verbarrikadiert. Aya kam diese Art der Wut bekannt vor und es weckte in ihm ungute Erinnerungen an das letzte Mal, als er selbst Empfänger ihrer Zerstörungswut geworden war. Doch das würde sich nicht noch einmal wiederholen, dessen war Aya sich sicher. Auch wenn er nicht genau wusste, woher er dieses Wissen nahm. „Insofern du nichts mehr zur Lösung des Problems beizutragen hast, entlasse ich dich aus der Besprechung“, drang Crawfords Rauswurf deutlich vorhersehbar durch seine Gedanken und war nicht nur für Aya befreiend. Auch Ken ließ erleichtert die Schultern sinken und rollte mit den Augen, während Omi sich starr auf die Dokumente vor sich konzentrierte. Seine Augen waren leicht geweitet und er zitterte so sehr, dass Aya unter dem Tisch nach dem Oberschenkel ihres Jüngsten griff und versichernd zudrückte. Während er hochsah, blieb er an Naoes ausdrucklosen Augen hängen, die sich nach dem Bruchteil einer Sekunde nach einem Seitenblick auf Omi wieder senkten. „Da kenne ich noch ein paar mehr Leute hier am Tisch. Sollen die gleich mit mir gehen?“, hielt der Telepath dagegen, anscheinend nicht im Mindesten davon beeindruckt, dass der Ton seines Anführers einem Eisberg glich, der sich unweigerlich auf Kollisionskurs mit ihm befand. „Ich sehe niemandem an diesem Tisch, der über die gleiche, mangelnde Konzentration verfügt wie du. Daher ist es angebracht, dass du diese Runde verlässt, dich deiner Aufgabe besinnst um endlich ein produktiver Teil dieser Einheit zu werden.“ Die Stille, die selbst am anderen Ende der Konferenzschaltung eintrat, war ohrenbetäubend. Aya maß das Crawford, der in diesem Moment all seine Aufmerksamkeit auf Schuldig gerichtet hatte. Die schmalen Lippen waren zu einer starren Linie zusammengepresst und die hellen Augen des Schwarz eiskalt und tödlicher als jemals zuvor in den letzten Wochen. Im krassen Gegensatz dazu lagen die beiden Hände des Mannes scheinbar entspannt auf dem glatt polierten Holz des Tisches und erlaubten Aya einen offenen Einblick in die vormals entzündeten Ringe um die Handgelenke, die anscheinend gut abheilten. Das, was Schuldig in den Gedanken seines Anführers las, schien ihn ganz und gar nicht zu erfreuen, so sehr, wie sich seine Mimik verfinsterte. Crawford lächelte bitterböse, doch das Lächeln erstarb keine Sekunde später. „Du möchtest, dass wir über Unzulänglichkeiten sprechen, oh großer Anführer?“, wechselte Schuldig auf das gesprochene Wort und sein Tonfall ließ Omi erneut zusammenzucken. „Dann tun wir doch genau das. Weiß dieses zusammengewürfelte Team, dass deine Visionen nicht zuverlässig arbeiten? Nicht?“ Schuldig sah mit einem herausfordernden Blick in die Runde und hob fragend die Augenbrauen. „Dann bitte, gerne geschehen.“ Zynisch nickte Schuldig und erhob sich abrupt. Laut polternd fiel sein Stuhl um, was dem Iren ein wenig erfreutes Zischen entlockte. „Weiß das frisch zusammengestellte Team, dass du deine Schilde senken musstest um mir so jederzeit Zugang zu deinen Gedanken zu gewährend, weil du unfähig bist, ihrer alleine Herr zu werden?“ Aya schluckte mühsam. Crawford war mittlerweile zur Salzsäule erstarrte und jeder einzelne Faden der noch existierenden Selbstbeherrschung franste ab diesem Moment so schnell aus, dass Aya die Katastrophe bereits in greifbarer Nähe spürte. Dass Crawford ebenso wenig über Schutz gegen den Telepathen verfügte, war ihm neu, doch der Ernst der Situation verbot ihm ganz klar, sich seiner Überraschung hinzugeben. Die latente Schadenfreude, die ebenfalls mitschwang, unterdrückte er mit aller Macht, denn auch diese hatte hier wahrlich keinen Platz gerade. „Du gehst jetzt besser“, wiederholte Crawford so ruhig, dass seine Stimme beinahe unhörbar war. Die Warnung war so eindeutig, dass selbst der Ire des Teams sich vollkommen still verhielt. Doch nicht so Schuldig, der ewig provozierende Telepath, der nicht wusste, wann er den Mund zu halten hatte. „Meine Dame, meine Herren, Sie haben hier einen gewöhnlichen Mann vor sich, dessen sonst so stabilitätsverwöhnte Gabe ihm hierbei sicherlich keine Hilfe mehr ist.“ Aya sah auf. „Es reicht, Schuldig“, sagte er kühl und maß den Telepathen herausfordernd, der ihm mit einem Lächeln begegnete. Glückwunsch, Aya, nun hast du seine Aufmerksamkeit, rollte er innerlich mit den Augen, als Schuldig sich nur auf ihn konzentrierte. „Sagt wer? Der Anführer von Weiß? Abyssinian? Oder doch nur Crawfords Stabilisator und Bückstück?“, höhnte er in den Raum, in dem man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Mit dem Begriff Stabilisator konnte Aya leben. Er hatte gelernt, das als Grund für seine Entführung zu akzeptieren. Mit Bückstück konnte er da weitaus weniger leben. Wütend erhob Aya sich, beinahe im gleichen Moment wie Crawford, dessen Gesicht bleich vor Wut war. „Du wirst jetzt-“, weiter kam das Orakel nicht, als Schuldig anscheinend seinen Geist in den seines Anführers zwang und ihn schmerzhaft wieder auf den Stuhl zurückschickte. „Seht ihr, das ist das große Orakel wert, beeinflussbar, reizbar, menschlich. Noch mehr Zuschauer, die Zeugen deiner Niederlage werden, Brad. Wie schön“, dehnte Schuldig jedes einzelne Wort voller Genuss und lachte amüsiert. Crawford saß währenddessen wie angewurzelt unweit vor ihm, das Gesicht eine Maske aus Hass. „Wäre schön, wenn du dich bewegen könntest, nicht wahr?“, ergoss sich reinster Spott über das Orakel, bevor er sich an Weiß wandte. Explizit nur an sie und Aya lief es eiskalt den Rücken hinunter. Er fragte sich, warum weder Farfarello noch Naoe eingriffen in den Konflikt, der hier zu eskalieren drohte. „Kleine Show gefällig. Also Brad, wie wä-“ Aya wusste nicht, was schlimmer war. Die verächtlichen, spöttischen Worte des Telepathen, die jedwede Achtung vor seinem Anführer entbehrten oder aber der Laut des Schreckens und der Pein, der die Worte abrupt abbrechen ließ. Das todbringende Lächeln auf den Lippen des Orakels war zurückgekehrt, als Schuldig sich abrupt zusammenkrümmte und seine gesunde Hand in seine rechte Schläfe krallte, dort an den Haaren riss, die Augen weit und unsehend. Worte, die keine waren, verließen plötzlich seine Lippen, Laute, die schlimmer waren als die eines gepeinigten Tieres. Schuldig begann unkontrolliert zu zucken und sackte schließlich zu Boden. Blut floss aus seiner Nase auf den Teppichboden und mit einem finalen, gurgelnden Laut brach er schließlich bewusstlos zusammen. In die darauffolgend einsetzende, schockierte Totenstille war es Naoe, der aufsprang und sich außergewöhnlich unbeherrscht zu Schuldig stürzte, den anderen Mann in seinen Armen barg. Aya schmerzte das Leid und das Unverständnis, das er in den Augen des jungen Telekineten sah. „Schuldig. Schuldig, komm zu dir, Schuldig, was ist mit dir?“, flüsterte dieser wieder und wieder, betastete den leblosen Körper des Telepathen, suchte nach einem Puls und stöhnte erleichtert auf, als er tatsächlich einen fand und der Telepath nicht so tot war, wie er zunächst anscheinend angenommen hatte. „Was ist mit ihm?“, richtete er panisch an Crawford und stockte dann, als er sich des Blickes des Orakels bewusst wurde, der amüsiert lächelnd auf dem bewusstlosen Telepathen lag. Aus seiner Nase tropfte Blut. „Crawford?“, fragte Aya vorsichtig und der cognacfarbene Blick richtete sich auf ihn. Lange Zeit herrschte zum Zerreißen angespannte Stille in dem Raum, die niemand zu durchbrechen wagte. „Möchte mich noch jemand aus dieser illustren Runde herausfordern?“, fragte Crawford schließlich mit einer gefährlichen Ruhe und Nagi schüttelte panisch den Kopf. „Nein, Crawford, niemand möchte das. Bitte…sei nicht böse“, flehte der Junge mit rauer Stimme und zog die Schultern hoch wie in Erwartung eines Schlages, als die Augen seines Anführers dunkel und ausdruckslos auf ihm zum Ruhen kamen. Aya tauschte über den Bildschirm einen fragenden Blick mit Manx aus, deren Mimik düstere Wut verhieß. Sie hatten erwartet, dass es Spannungen geben würde. Sie hatten Probleme erwartet, doch eher zwischen den beiden Gruppierungen, aber nicht in diesem Maß innerhalb des Schwarz-Teams. Wortlos lagen die grünen Augen der Kritikeragentin auf dem jungen Telekineten, maßen ihn schweigend und Aya hätte gerne gewusst, was sie dachte. Das Flehen des Jungen durchdrang die Stille und anscheinend war es das, was den Amerikaner schlussendlich wieder zu sich brachte. Er blinzelte langsam, dann nahm er ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. „Prodigy.“ Naoes Augen ruckten zu seinem Anführer und in ihnen stand ganz deutlich Angst und Ungewissheit vor der Reaktion des Orakels. „Bringe Mastermind zusammen mit Jei hinauf in sein Bett. Sein Körper ist ohne Bewusstsein und wird es für die nächsten anderthalb Tage bleiben. Du wirst dich um ihn kümmern.“ „Crawford, was hast du getan?“, versuchte Naoe leise um eine Erklärung zu bitten, doch er wurde mit einer erhobenen Hand zum Schweigen gebracht. „Nicht jetzt, Nagi“, erwiderte Crawford mit Mühe ruhig. Es war tatsächlich ein minimales, vielversprechendes Lächeln, das auf den geschundenen Lippen lag. „Später.“ Aya ahnte, dass er seine Antworten auf das, was gerade geschehen war, noch um einiges später erhalten würde. Wenn überhaupt. Wiederholt fragte er sich, wie sie dem Problem Lasgo so Herr werden sollten. Oder wie Schwarz das Ende der sechs Wochen-Frist überleben sollten. Doch das sollte auf kurz oder lang nicht sein Problem sein. Wieso fühlte es sich dann nicht so an? ~~**~~ Anscheinend waren die Terrassenmöbel bequem, so lange, wie der Amerikaner sich bereits auf einen der Sessel niedergelassen hatte und mittlerweile in die mondbeschienene Dunkelheit starrte. Er hatte das Ende ihrer Besprechung nicht abgewartet und war nicht zum Abendessen erschienen, ganz zur wachsenden Unsicherheit des sowieso schon nervösen Telekineten, der unruhig und angespannt am Tisch gesessen und die Seite der Exekutorin nicht verlassen hatte, die wieder ihr sanftes, ureigenes Selbst zu sein schien, das mit dem Dämon von heute Nachmittag rein gar nichts mehr zu tun hatte. Trotzdem war das Essen schweigend gewesen, angespannt gar. Niemand hatte es gewagt, ein Wort zu sagen und kaum waren sie fertig, hatten sie auch schon den Tisch abgeräumt und den Essensbereich verlassen. Omi hatte sich erneut in Ayas Schlafzimmer zurückgezogen und Youji hatte es sich noch vor dem Fernseher bequem gemacht, während die Dame des Hauses sich ebenso in ihre Gemächer zurückgezogen hatte. Aya hörte ihren Assistenten, Thomas, im Hintergrund rumoren, während er selbst vom dunklen Wintergarten aus in die Nacht starrte und sich unschlüssig war, ob er das Orakel stören sollte oder nicht. ‚Ist er nicht attraktiv für Sie?‘, hatte die Rosenkreuzagentin ihn gefragt und jedes Mal, wenn Aya auf diese Frage zurückkam hatte er keine wirkliche Antwort darauf. Rein optisch konnte er die Frage sicherlich mit einem Ja beantworten. Crawford war durchtrainiert ohne bullig zu wirken. Das Gesicht war nicht unattraktiv. Über den Kleidungsstil konnte man sich streiten. Dennoch. Hätte er Crawford, der nicht Crawford gewesen wäre, in entsprechenden Bars oder auf der Straße getroffen, dann hätte er sicherlich zweimal hingesehen. Er hatte Crawford aber nicht auf der Straße getroffen und ihn als attraktiv befunden…ihn neutral kennengelernt, sondern ihn von Anfang an als Feind erlebt. Und so schwach er auch im Anwesen von Lasgo gewesen sein mochte, was seine Erregung in der Nähe des Orakels anging, so wenig konnte er nun, da er wieder bei seinem Team war, losgelöst von seiner Mission, verstehen, warum er sich damals zu solch einem Schritt hatte hinreißen lassen. Ihre Feindschaft verbot es ihm, sich auch nur vorzustellen, dem anderen Mann näher zu kommen. Niemals würde das gehen. Aya schnaubte innerlich. Und selbst wenn, für den unwahrscheinlichen Fall, dass er es in Betracht ziehen würde, wäre Crawford ganz sicherlich nicht interessiert. Wie auch? Selbst wenn er sich dem Schwarz nicht beinahe aufgezwungen hätte, wäre er es dann, wenn Lasgo ihm Selbiges angetan hätte? Anziehung war es demnach nicht…was also ließ ihn nun die Tür öffnen und auf die stille Terrasse zu seinem Nemesis und Gegner heraustreten, der – so wie es schien – die todbringende, alles vernichtende Aura seiner Mutter geerbt hatte, die Aya ganz klar zu verstehen gab, dass das Orakel keine Gesellschaft wünschte. Ken hatte ihn mehr als einmal stur genannt, mehr als einmal waren sie deswegen aneinander geraten. Und nun schützte ihn diese Sturheit vor dem ersten, warnenden Blick, als er neben Crawford zum Stehen kam und seinen Blick zum Mond hinaufschweifen ließ, der sich in der ruhigen See widerspiegelte. Lange Zeit sagte er nichts, sondern ließ Crawford Zeit, sich an seine Anwesenheit zu gewöhnen. Als der andere Mann ihn weder angriff noch hineinprügelte, wandte er sich ihm zu und warf einen langen Blick auf die durch ein Kerze erhellten Gesichtszüge. „Planst du, hier draußen zu schlafen?“, fragte Aya schließlich ruhig und zunächst nahm er an, dass Crawford ihn versunken in seinen eigenen Gedanken nicht gehört hatte. Dann jedoch regte sich das Orakel unendlich langsam und wandte ihm den Blick zu. Selbst im Kerzenschein sah der Mann erschöpft und müde aus, die Augenränder deutlich zu sehen. In der Hand hielt er ein blutiges Taschentuch und auch jetzt entkam die dunkle Flüssigkeit seiner Nase. Wie selbstverständlich fing er sie auf und wandte sich schließlich wieder ab. „Setz dich hin oder verschwinde.“ Aya hob die Augenbraue ob dieses allzu deutlichen, arroganten Befehls, aber es war der Anflug eines Lächelns, der ihn sich nun neben Crawford setzen ließ. „Was hast du mit Schuldig gemacht?“, fragte Aya schließlich, als dieser keine Anstalten machte, ein Gespräch zu beginnen. In die Stille hinein lauschte er dem Meer, das unweit von ihnen ruhig gegen das Ufer schwappte. „Ihn in seine Schranken gewiesen.“ Aya runzelte die Stirn. „Das bedeutet?“ „Dass dich das gar nichts angeht.“ Der kühle und abweisende Ton des Orakels sollte ihn eindeutig abschrecken. Pech für Crawford, dass Aya stur genug war um die ganze Situation hier als einen Auftrag zu sehen. Mit dem Fuß zog er sich einen der freien Stühle heran und überkreuzte seine Beine darauf. „In Anbetracht der Tatsache, dass du die Hälfte deines Teams mit etwas lahmgelegt hast, das sich meiner Kenntnis entzieht und diese Hälfte nicht in der Lage ist, an einer gemeinsamen Lösung zu arbeiten, geht es mich etwas an oder hast du den Vertrag bereits vergessen, der euch an Kritiker bindet?“ Wieder herrschte Stille zwischen ihnen, dann beugte sich Crawford nach vorne und stützte seine Stirn auf die Handballen. Er stöhnte leise auf. Noch mehr Blut tropfte aus seiner Nase und kurz krallte sich eine der Hände in die schwarzen Haare, während die andere das Taschentuch auf die Nase presste. Noch bevor er sich bewusst werden konnte, was er da tat, hatte Aya eine Hand auf Crawfords Oberarm gelegt und ließ den anderen Mann damit brachial zusammenzucken. Zu dem leisen Aufstöhnen kam ein Laut, den Aya nicht ganz als Angst bezeichnen würde, als Crawford vor ihm zurückwich. Langsam ging Aya wieder auf Abstand. „Benötigst du Hilfe?“ Der andere Mann schüttelte kaum merklich den Kopf und sah dann langsam auf, ließ sich zurück an die Lehne gleiten und legte den Kopf aufseufzend in den Nacken, was Aya brutal an ihre erste Begegnung bei Lasgo erinnerte. Auch dort hatte Crawford seinen Kopf zurückgelegt, den Blick an die Decke gerichtet. Er hatte es damals für eine Geste der Verzweiflung gehalten. Nun aber wurde ihm bewusst, dass es durchaus auch andere Interpretationsmöglichkeiten geben mochte. „Schuldig wird morgen wieder aufwachen, er wird keine körperlichen Schäden davontragen und so mein Plan Erfolg hat, wird es einen solchen Zwischenfall wie den heutigen nicht mehr geben.“ „Das klingt nicht sonderlich optimistisch.“ „Die Zeit wird es zeigen.“ „Du bist auch immer gut für einen Glückskeksspruch, oder?“ Crawford ließ seinen Kopf zur Seite fallen und taxierte den Weiß schweigend, die rechte Augenbraue fragend erhoben. „Ich wusste gar nicht, dass Schuldig so sehr auf dich abgefärbt hat.“ Aya schnaubte belustigt. „Vielleicht habe ich auch einfach Recht, wie wäre es damit?“ Crawford drehte seinen Kopf wieder weg und schloss erneut die Augen. Aya beobachtete ihn ungeniert und kam nicht umhin, ihre Frage erneut in seinen Gedanken hin und her zu wälzen. „Deine Mutter hat mich aufgesucht“, sagte er schließlich und Crawford schnaubte. „Das ist mir bekannt.“ „Weißt du auch, was sie mich gefragt hat?“ „Ja.“ Aya legte den Kopf schief. „Mehr hast du dazu nicht zu sagen?“, fragte er ungläubig, nicht begreifen könnend, dass Crawford die intimen Fragen seiner Mutter einfach so akzeptierte. „Sie ist die Pest, willst du das hören?“ „Auch, ja.“ „Telepathin eben.“ „Ich kenne mich mit euren Gaben nicht aus und habe da nur Schuldig als Vergleich. Da musst du schon konkreter werden.“ „Sie mischt sich in Dinge ein, die sie nichts angehen. Und anstelle sie zu ignorieren, trägst du ihre Gedanken weiter – an mich zum Beispiel - und tust damit genau das, was sie will. Glückwunsch Fujimiya, du lässt dich von ihr benutzen.“ Spott tränkte die Worte des Schwarz, aber auch noch etwas Anderes und Aya benötigte einen Moment lang um genau das zu identifizieren. Latente Verzweiflung schlug sich ihm hier entgegen und Aya wusste sofort, was ihn an ihr so irritierte. Es war die Verzweiflung eines Kindes über die Eigenarten seiner Eltern, mit denen er nicht einverstanden war. Es war die Resignation eines Kindes über die Sturheit der Eltern, wenn es zu Themen kam, die sie nichts angingen. Man blieb immer das Kind seiner Eltern, egal, wie alt und wie abgrundtief böse man eigentlich war. Aya hielt inne und sein trockener Mund bereitete ihm mit einem Mal Probleme mit dem Schlucken. Es machte Crawford menschlich und das auf eine Art und Weise wie ihn das Leid des Anderen niemals hätte menschlich machen können. „Du bleibst immer das Ki-“, begann Aya seine Gedanken zu veräußern, wurde jedoch durch ein dunkles Grollen unterbrochen. „Halt den Mund, Fujimiya.“ „Aber ich habe Recht.“ „Das macht deine Worte nicht weniger widerlich. Und du wirst jetzt nicht sagen, was dir auf der Zunge liegt.“ Aya hatte gerade angesetzt und klappte nun seinen Mund mit einem kleinen Lächeln wieder zu. Er schwieg tatsächlich für einen Moment lang und ließ sich vom Anblick der Sterne in fremde Galaxien entführen. In Tokyo sah er die Sterne selten so hell und so zahlreich, dafür war die Stadt einfach zu lichtverschmutzt. Umso mehr genoss er es gerade hier und jetzt, auch wenn die Gesellschaft eine bessere hätte sein können. Auch er legte den Kopf zurück und verschränkte die Arme locker vor seiner Brust. „Es könnte gut gehen“, richtete er schließlich an das Universum. „Was?“ „Die Zusammenarbeit zwischen Weiß und Schwarz um Lasgo zu töten.“ Crawford schnaubte nur. „Dein Optimismus ist mehr als irritierend, Abyssinian.“ „Hast du etwas Anderes gesehen?“ „Nein.“ „Also, dann kannst du es noch gar nicht sagen.“ Das Lächeln auf Crawfords Lippen war im besten Fall als kühl amüsiert zu bezeichnen. Die scharfe Note, die es hatte, ausgenommen. „Jetzt klingst du wie sie, Fujimiya.“ Aya verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Eine sehr saure Zitrone. Vielleicht auch zwei. Oder ein ganzes Dutzend. Stille trat zwischen sie, nur durchbrochen von dem Zirpen der Zikaden im nahegelegenen Wald und Aya fühlte sich an die Nacht erinnert, die sie zusammen im Haus seiner Eltern verbracht hatten. Für einen Augenblick lang erlaubte er es sich, diese Erinnerungen zu genießen. Für einen Augenblick lang erlaubte er es sich ebenso, das hier zu genießen. Zumindest solange, bis eine Bewegung aus seinem Augenwinkel seine Aufmerksamkeit zu sich zog und er sich mit dem eindringlichen Blick des Orakels konfrontiert sah, der seinen Kopf schief gelegt hatte und ihn stumm musterte. „Du wurdest beeinflusst“, sagte Crawford schließlich und Aya hob fragend die Augenbraue. „Wobei?“ „In der Wohnung, als du versucht hast, dich mir aufzuzwingen.“ Die zarte Entspannung, die er gewagt hatte, war mit einem Mal verschwunden. Aya schluckte mühsam und beobachtete jede kleine Regung in dem Gesicht des Orakels, das ihn ausgesucht neutral musterte. Dann erst fanden die Worte des anderen Mannes Gehör in ihm und überrascht hob er den Kopf. „Was meinst du?“, fragte er vorsichtig nach und sah Crawfords Fingern dabei zu, wie sie mit dem Taschentuch spielten. „Anscheinend hat es in dem Moment auf dich eine Art empathischen Einfluss gegeben, der dich dazu gebracht hat, das zu tun, was du getan hast.“ Seltsamerweise war es Hoffnung, die Aya als Erstes in sich fühlte, als er auch wirklich begriff, was Crawford gerade erläutert hatte. Bodenlose Erleichterung folgte. Er war kein Monster, das nun auch noch den letzten Funken an Menschlichkeit verloren hatte. Er war kein Vergewaltiger, der seinen niederen Trieben folgte. Seine Gefühle, das Bedauern und das schlechte Gewissen, das Unverständnis, sie alle waren real. Das war nicht er gewesen. „Wie? Warum? Wer?“, presste Aya hervor drehte sich in seinem Stuhl um. „Wer es war, wissen wir nicht. Ein unregistrierter Empath, der uns nicht bekannt ist, vermuten wir. Er hat anscheinend bereits vorhandene Emotionen genutzt um sie derart zu verdrehen, dass du getan hast, was du meintest tun zu müssen. Erst deine Schwester, die ein starker Katalysator für dich ist, konnte dich aus seinem Bann lösen. Warum das so geschehen ist, das gilt es herauszufinden.“ Schmerz lauerte hinter dem letzten Satz und Aya schluckte. Instinktiv langte er über den Tisch und hielt inne, als sowohl er als auch Crawford erkannten, was er gerade vorhatte. Sie beide starrten auf das corpus delicti, die zwischen ihnen schwebte und vertrödelten endlose unsinnige Sekunden damit. Dieses Mal zuckte Crawford nicht zusammen und es war Amüsement, das in den hellen Augen vorrangig präsent war. Er sagte nichts, sondern beobachtete lediglich den Zentimeterabstand zwischen der Hand und seinem eigenen Arm. Wenn Aya sich nicht täuschte, dann war da kein Hass zu lesen in diesem Moment, auch keine Wut. Nachdenkliches Amüsement, ja. Er blinzelte überrascht, als Crawford schließlich seinen Arm packte und flach auf den Tisch drückte. Für Sekunden hielt er ihn dort, dann ließ er ihn los. Leise schnaubte der Schwarz und wandte seinen Blick dann erneut zum Mond, während Aya nachdenklich auf seinen Arm starrte. Kalt und klamm hatte sich Hand des Orakels angefühlt, obwohl es warm war. ~~**~~ Die grauen, unsicheren Augen sahen zu Crawford hoch, als er das Schlafzimmer des Telepathen betrat. Für die ersten, schweigenden Sekunden ließ Crawford seinen Blick durch das Zimmer schweifen und die dahinter liegende Natur, die sie von der Außenwelt abschirmte. Das geräumige Zimmer war puristisch eingerichtet, während die Rundumfensterverglasung auf der einen Seite einen Blick auf die Bucht erlaubte, auf der anderen die grüne Sattheit des Waldes offenbarte. Die Kunst an den Wänden war dezent, ihm persönlich gefiel sie nicht, sie traf aber, wenn er sich nicht irrte, genau den Geschmack des Telepathen. „Wie geht es ihm?“, fragte Crawford und deutete auf die stille Gestalt auf dem Bett. Nagi warf einen kurzen Blick auf Schuldig und schüttelte dann den Kopf. „Unverändert. Wie du gesagt hast.“ „So sollte es auch sein.“ Ein Tag war vergangen und in Crawfords Schädel tobte es, kratzte es die inneren Seiten seines bewussten Denkens wund, versuchte es wieder und wieder auszubrechen. Nicht es, berichtigte Crawford sich. Er. Er selbst hatte seit einem Tag nicht mehr geschlafen, sondern meditiert um seine eiserne Selbstkontrolle aufrechterhalten zu können. Seine Gedanken waren auf die Arbeit fokussiert gewesen, auch wenn er sich kaum an die Schaubilder erinnerte, die er durchgegangen war. Das Nasenbluten war über die letzten Stunden schlimmer geworden. Der Schwindel, der ihn zu Anfang nur sporadisch befallen hatte, zerrte nun zusätzlich an seiner sowieso nicht guten Gesundheit. Der Geist eines Präkognitiven war schlicht nicht dazu gedacht, den eines Telepathen aufzunehmen und schon gar nicht dazu, ihn gefangen zu halten. Anderthalb Tage waren eine lange Zeit, die absolute Schmerzgrenze, die ein Hellseher je erreichen konnte ohne dass es auch für ihn wahrscheinlich tödlich enden würde. „Was ist mit ihm?“, wagte Nagi ein zweites Mal die Frage, die ihm vor einem Tag nicht beantwortet worden war und Crawford ließ sich auf den Sessel nieder, der neben dem Bett stand. Es fiel ihm schwer, sich aufrecht zu erhalten, wenn sein Körper sich nach Schlaf und nach Ruhe sehnte. „Was weißt du über die sogenannte Telepathenfalle?“, fragte er schließlich, rieb sich dabei die Schläfen und der junge Telekinet überlegte einen Moment. „Nicht viel, Schuldig erzählte mal etwas von einer urbanen Legende und dass es dazu dient, Telepathen zu vernichten. Ich habe Siobhan danach gefragt und sie hat nur gelächelt und gemeint, dass es aufsässige Kinder ängstigen würde und brave nichts zu befürchten hätten.“ Nagi runzelte die Stirn und begegnete vorsichtig Crawfords Blick. Er kam sich dumm vor, dieses Halbwissen und diese Gerüchte mit dem Orakel zu teilen, doch er wusste es besser, als gar nicht zu antworten. Doch anscheinend stimmte die Antwort seinen Anführer zufrieden, zumindest sah er keine Missbilligung in den Zügen des Mannes. „Schuldig befindet sich momentan hier“, ergänzte Crawford und tippte sich an die Schläfe. Verständnislos runzelte Nagi die Stirn. „Er ist in meinen Gedanken gefangen, genauer gesagt in einem gedanklichen Abgrund, den ich mit meinen Erinnerungen und den damit verbundenen Emotionen erschaffen habe: eben jene Falle. Sie dient Präkognitiven dazu, einen eindringenden Geist abzuwehren und wenn nötig zu zerstören, damit die eigene Gabe nicht kompromittiert wird.“ Und sie entblößte das Allerdunkelste, jede noch so schreckliche und intime Erinnerung vor eben jenem, so der Fallensteller es denn wollte und nicht noch positive Gedanken hinzufügte. Doch das würde er Nagi nicht mitteilen. Schuldig würde das ganz sicher für ihn übernehmen. Diese Falle war nicht dazu gedacht, den Gefangenen überleben zu lassen, sondern ihn, nach Stunden und Tagen der Qualen und Schwächung des Körpers wie eine Fliege zu zerquetschen. Schuldig war stark, aber nicht stark genug um sich der Flut an Eindrücken zu erwehren, die Crawford seit einem Tag auf ihn niederwalzen ließ und die er dank Crawford so erlebte, als würden sie ihm passieren. Mitleid hatte Crawford mit Schuldig nicht. Der Telepath hatte die Grenze überschritten, als er ihn vor allen Anwesenden beeinflusst hatte und Crawford hatte zu dem schärfstmöglichen Mittel gegriffen, das ihm zur Bestrafung zur Verfügung stand. Die Situation war eskaliert und er hatte die Kontrolle zurückgewonnen, indem er Schuldig alles durchleben ließ, was er in den letzten Wochen durchlebt hatte. Alles. Jede Vergewaltigung. Jede Gewalteinwirkung. Jeder Alptraum, jeder dunkle Gedanke sucht den Telepathen heim und drang erbarmungslos in ihn ein. Drei Stunden lang hatte er Schuldig nur das sehen lassen, bevor er beschlossen hatte, seine Wut zugunsten seiner Rationalität zurücktreten zu lassen und die rettenden, positiven Gedanken hinzuzugeben. Wenn Schuldig immer noch meinte, seinen Status als Anführer zu untergraben, würde Crawford es solange wiederholen, wie es notwendig war um den Deutschen zum Gehorsam zu zwingen und sein Team nicht der Neutralisierung preiszugeben. „Warum?“, holte Nagi ihn wispernd aus seinen Gedanken und Crawford seufzte lautlos. „Weil er es herausgefordert hat. Sein Gehorsam ist immanent wichtig für das Fortbestehen von Schwarz. Sein stetiges Bemühen, Weiß zu zeigen, dass wir keine geschlossene Einheit sind, ist unentschuldbar und das werde ich nicht weiter tolerieren.“ Schüchtern nickte der Telekinet. „Ich verstehe“, erwiderte er mit einem Blick auf Schuldig, dessen Ruhe erneut täuschte. „Wirst du ihn bald freilassen?“ „Gleich nach unserem Gespräch. Ich möchte dabei nicht gestört werden, Nagi. Von niemandem. Egal, was du hörst, hast du mich verstanden?“ Wieder bejahte der Telekinet und Crawford brummte zustimmend, nickte dann zur Tür. Nagi verstand und erhob sich, folgte dem wortlosen Befehl. Die Hand bereits auf der Klinke hielt er jedoch inne. „Wie steht es um deine Verletzungen? Sind sie…“, begann er, wurde sich dann jedoch unschlüssig, wie er weitersprechen sollte. Crawford sah auf, direkt in die Schuld des Jungen hinein, der auf Geheiß ihrer Zielperson für eben jene verantwortlich war. Der ebenso beeinflusst worden war. Eine Information, die er mit Nagi noch besprechen musste. Doch nicht hier und nicht jetzt. Nicht, wenn Schuldig sich seinen Weg aus seinem Gedanken kratzte. „Sie heilen gut.“ Was nicht gelogen war. Sie heilten tatsächlich schnell und ohne sich zu entzünden, dennoch bereiteten besonders die tieferen Schnitte ihm erhebliche Probleme in der Bewegung. Doch das würde der Nagi nicht sagen. Mit gesenktem Blick öffnete dieser die Tür und nun war es Crawford, der ihn zurückhielt. „Ich sorge dafür, dass wir erfolgreich sind. Ich lasse nicht zu, dass Rosenkreuz unser Team neutralisiert.“ Die Hoffnung in den Augen des Jungen begleitete Crawford, als er sich zu Schuldig zurückdrehte. Hinter ihm schloss sich vorsichtig die Tür und ließ sich schließlich zögernd auf dem Bett nieder, das durch den schlafenden Telepathen in Beschlag genommen worden war. Fast sah Schuldig friedlich aus, entspannt und ruhig, wenn da nicht die bleiche Gesichtsfarbe gewesen wäre. Oder aber die trockenen Lippen. Unwirsch verzog das Orakel die Lippen und seufzte. Die Frage, wie sie hierhin gekommen waren, musste er sich nicht stellen. Die Frage, wie sie ab diesem Zeitpunkt ihren Weg gemeinsam gehen würden, dahingehend schon, jetzt, wo sich der vorsichtige Respekt, den sie sich entgegengebracht hatten, etwas gewichen war, das ihren Anfängen bei Rosenkreuz verdächtig ähnlich war. Crawford verneinte sein Handeln nicht mehr, seine Fehler, die er gemacht hatte zu Lasten seines Teams. Aber er würde nicht, unter keinen Umständen, dulden, dass Schuldig ihn weiterhin als seinen Spielball nutzte. Auf vieles, was in der unmittelbaren Zukunft passieren würde, hatte seine Gabe ihm eine Antwort gegeben, auf einiges aber nicht. Auf den Papierkorb, den er benötigte, wenn er Schuldig nun aus seinen Fängen ließ, schon. Noch während Crawford danach griff, rutschte er hoch zu Schuldigs Oberkörper und löste die Barriere in seinen Gedanken, die den Telepathen gefangen hielt. Wie erwartet flüchtete der Geist des anderen Mannes schier vor ihm und verankerte sich mit allem, was ihm zur Verfügung stand. Weit waren die Augen, als sie aufflogen. Schuldig schnappte nach Luft und keuchte, als ob er ertrinken würde und sah sich wild um, während seine Hände ebenso ungestüm um sich schlugen, bevor sie sich in dem Bettlaken festkrallten, dass ihm ein schlichter, aber wirkungsvoller Anker war in seinen Bemühungen, wieder Fuß zu fassen in der Realität und nicht in den Gedanken, in denen er eingesperrt gewesen war, was Crawford Zeit gab, seinen eigenen, abebbenden Kopfschmerz unter Kontrolle zu bringen. Direkt nach Schuldigs Eingriff vor den Augen von Weiß hatte Crawford beschlossen, Schuldig ausschließlich in seinen negativen Erinnerungen gefangen zu halten und ihn in die Schleife aus Erinnerungen an seine Zeit bei Lasgo zu stecken. Drei Stunden hatte er genau das getan, bevor er seine Rationalität der Wut vorzog und die Schleifen ebenso auf positive Erinnerungen erweitert hatte. Nicht, dass ihm Schuldig dafür danken würde, aber darum ging es auch gar nicht. Er wollte den Telepathen nicht brechen, er wollte ihm eine Lektion erteilen. Er wollte ihm zeigen, dass es Grenzen gab in Schuldigs Möglichkeiten. Der letzte Tag hatte Crawford bewusst werden lassen, dass Lasgo soviel mehr zerstört hatte als nur seine Würde, seine körperliche Unversehrtheit und Teile seiner Seele. Crawford war sich bewusst, dass er selbst nach den Geschehnissen sein Team beschädigt hatte, ob irreparabel, das würde sich zeigen. Er war es, der die zart aufkommenden Bande zwischen Schuldig und sich zerstört hatte in seinem Bestreben, stark zu sein. In seiner Verzweiflung, seiner Angst und seinem Willen zu ignorieren, was passiert war. Er hatte sein Team weggestoßen, als sie versucht hatten, ihm zu helfen und ihn zu unterstützen, weil er niemals auf den Gedanken gekommen wäre, dass sie überhaupt in Erwägung ziehen würden, eine solche Verbindung zu ihm aufgebaut zu haben. Er war also Lasgos willige Marionette gewesen, was die Zerstörung von Schwarz anging. Als die blauen Augen sich hell vor Hass, Angst, Zorn und Verzweiflung auf ihn richteten, wusste er, dass Schuldig ihn erkannte und dass er nun endgültig mit seinen Gedanken angekommen war. Das wusste auch der Magen des Telepathen, als dieser sich aus dem Bett lehnte und sich in den bereitgestellten Mülleimer übergab, während Crawford ihm die Strähnen beiseite hielt. Schweigend wartete er darauf, bis Schuldig nur noch trocken würgte, dann stellte er den Eimer zur Seite und wischte ihm mit einem Taschentuch den Mund ab. Zittrig ließ sich der Telepath die Behandlung gefallen, bis ihm bewusst wurde, wer dort vor ihm saß. Zischend wich er vor Crawford zurück, der nun ruhig die Hände in den Schoß legte. Er könnte Schuldig daran hindern, dass dieser auf seiner Flucht vor ihm aus dem Bett fiel, er könnte ihn warnen, doch beides hätte in diesem Moment keinen großen Erfolg. Schuldig musste seine eigenen Entscheidungen treffen und das tat er nun. Ungelenk und wenig elegant fiel er aus dem Bett und suchte sich die am weitesten entfernte Ecke des Raumes um Abstand zu gewinnen. Kurz darauf waren es die Schreie des Telepathen, gepeinigt wie die eines weidwunden Tieres, die den weitläufigen Raum und Crawfords Ohren durchdrangen. Schuldig schrie Erinnerungen und Eindrücke aus sich heraus, die nicht die Seinen waren. Er schrie alles heraus, was Crawford ihn hatte sehen, miterleben lassen in einer vierundzwanzigstündigen Dauerschleife. Er schrie den Alptraum an Erinnerungen heraus, in dem er gefangen war ohne die Hoffnung, dass Crawford ihn da herausholen würde, bevor er verrückt wurde. Oder gar, dass er sich selbst befreien konnte. „Du…du dreckiger Bastard! Du verfluchtes Arschloch! Ich…ich…bringe dich um, du Scheißkerl, du verdammter…dreckiger….“, schluchzte Schuldig nach Luft schnappend und schlug mit dem Hinterkopf gegen die hinter ihm liegende Wand. Wieder und wieder und wieder, bis Crawford ihn davon abhielt, dass er seine verwundete Schulter noch mehr belastete, als er es ohnehin schon tat. Vorsichtig, aber streng presste er ihn gegen diese und ließ zu, dass Schuldig nun nach ihm und seinen Händen schlug. Crawford ließ ihn gewähren und gönnte ihm den Erfolg dreier Treffer, bis er ihn losließ. Keinen Moment später und Schuldig hielt erneut inne, als eine neue Welle der Erinnerungen seinen Körper erschütterte. Unbewusst zuckte er zurück vor dem menschlichen Kontakt, den menschlichen Berührungen, die Crawford so sehr an Lasgo erinnerten und ihm aufzeigten, dass aus Sanftheit innerhalb von Sekundenbruchteilen Demütigung werden konnte. Schweigend verharrte das Orakel und beobachtete die Manifestation seiner Emotionen. Schuldig war das, was in ihm tobte und was er selbst nicht bändigen konnte. So versuchte Crawford es gar nicht erst bei Schuldig, sondern zog sich zurück, ließ sich nun ebenso auf den Boden gleiten und setzte sich unweit von ihm auf die harten Dielen, lehnte eingedenk der Schnitte auf seinem Körper an die Wand. Es vergingen Minuten, in denen er Schuldig seinen Empfindungen überließ. Die Minuten türmten sich zu einer halben Stunde. Aus der Halben wurde eine Ganze. Crawfords Geduld zahlte sich aus, als in der zweiten Stunde die erdrückende, alles überwältigende Angst vor den Erinnerungen abflachte und Schuldig in der Lage war, klare Gedanken zu fassen. Wortlos starrte er zunächst Crawford in die Augen und fesselte dessen Blick mit seinen eigenen, blauen mit Wut und Zorn. Dann stand in dem bleichen, ausgezehrten Gesicht die deutliche Forderung nach einer Erklärung und nicht zuletzt nach Rache. Auch das hatte Crawford vorausgesehen. Verständlich war es. Ruhig erwiderte er den Blick des Telepathen, der kraftlos in der anderen Ecke des Zimmers an der Wand hockte und die Beine zu sich gezogen hatte. Langsam zog auch Crawford ein Bein an, legte seinen Arm darauf. „Ich konnte nicht zulassen, dass du mich weiter beeinflusst“, eröffnete das Orakel das Gespräch, dessen Ausgang er nicht vollständig kannte. „Ich sollte dich töten für das, was du mir angetan hast, Arschloch“, presste Schuldig kaum hörbar hervor, die Lippen zittrig, die Hände, mit denen er nun bebend erst über die roten Bartstoppeln fuhr und schließlich seine verfilzten Strähnen zurückstrich. „Wäre ich nicht dein Anführer, dann solltest du das wohl“, stimmte Crawford ruhig zu und sah, dass er Schuldig damit durchaus überraschte. „Ich sollte dir hier und jetzt dein Gehirn rösten, Orakel“, versuchte dieser sich eher an einer leeren Drohung als an etwas wirklich Ernstzunehmendem. „Du wirst dort landen, wo ich dich gerade hergeholt habe, wenn du das versuchst“, begegnete Crawford der Drohung mit ruhigen, unumstößlichen Tatsachen. „Ich hätte es dir gerne erspart, doch ich kam nicht umhin, meine Position von dir einzufordern, Schuldig. Noch bin ich der Anführer. Noch ist es meine Verantwortung, dieses Team seiner alten Stärke zuzuführen.“ Schuldig schnaubte bitter. „Aber du warst derjenige, der dieses Team erst geschwächt hat, du verfluchtes Orakel! Du und deine scheiß Ignoranz uns gegenüber, deine scheiß Wut auf Lasgo, die du an uns ausgelassen hast!“ Crawford schluckte. „Damit hast du Recht, Schuldig“, erwiderte er und die Worte kamen bitter über seine Lippen. Schuldig ignorierte es geflissentlich. „Wir waren es nicht, die dich vergewaltigt haben. Er war es. Nur er! Und doch hast du uns dafür leiden lassen! Du hast Nagi weggetrieben, als der Junge dir helfen wollte. Du hast mich weggetrieben, als ich dir helfen wollte. Niemandem von uns hast du etwas gesagt, niemanden von uns hast du ins Vertrauen gezogen, dafür aber den verfluchten Weiß, der nicht zu uns gehört, der ein Feind ist, der dich genauso scheiße behandelt hat wie Lasgo auch!“ Überrascht weiteten sich Crawfords Augen. Dass sein Verhalten fehlerhaft war, wusste er bereits. Dass Schuldig aber tatsächlich ein Problem mit dem Weiß hatte, damit hatte er nicht gerechnet. Ruhig atmete er ein. „Ich bevorzuge den Weiß nicht, Schuldig. Ich ziehe ihn euch nicht vor.“ Dass Schuldig ihm das nicht glaubte, war offensichtlich. Wütend schüttelte der Telepath den Kopf. „Und du… so bemüht in deinem Streben, Stärke zu zeigen, hast du alles zerstört, was uns ausgemacht hat! Du hast unsere Bindungen zerstört. Du hast Nagis Vertrauen in dich zerstört, seine Bindung an dich! Du hast Schwarz zerstört!“ „Ich weiß, Schuldig.“ „Wir wollten dir helfen. Wir wollten, dass du wieder auf die Beine kommst! Wir wollten, dass das verschwindet, was dich an den Rand der Verzweiflung und deiner Selbstbeherrschung gebracht hat, weil du uns Angst gemacht hast mit der Geschwindigkeit, in der du auseinandergebrochen bist. Nichts Anderes wollten wir. Wir wollten helfen.“ Keinen Augenblick lang hatten sich Schuldigs Augen von seinen gelöst, als er ihm die Worte ins Gesicht spie, die voller Verzweiflung und lang unterdrückter Wahrheiten waren. Es schmerzte das Orakel mehr als dass er es zugeben wollte, doch wenn er Erfolg haben wollte, wenn er sein Team wirklich retten wollte, dann war Schuldig der Schlüssel hierzu. Schuldig und ihre gemeinsame Verbindung. „Denkst du, dass es meine Schuld ist, dass er es getan hat?“, fragte Crawford auf den ersten Blick ohne Verbindung zu Schuldigs Worten und der Telepath hielt tatsächlich inne. Nicht nur in seinen Worten, sein ganzer Körper kam zu einem abrupten Halt. „Nein. Nein! Nein, verdammt!“, brach es schließlich aus ihm heraus und Crawford nickte langsam, den Blick auf den Boden gerichtet, weil er Schuldig nicht mehr ins Gesicht sehen konnte. Ehrlichkeit war bitter. „Ich denke es aber. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich zu schwach war, ihn abzuwehren. Dass ich zu unvorsichtig, zu arrogant war, blind auf meine Visionen zu vertrauen. Ich denke, dass ich ihn nicht stark genug bekämpft habe, um ihn daran zu hindern, als es soweit war.“ Schuldig starrte ihn mit geweiteten Augen an, als er in den Worten des Orakels eben genau das wiederfand, was ihm die Gedanken des Anderen die letzten vierundzwanzig Stunden über wieder und wieder aufgezwungen hatten. Er wollte ansetzen zu protestieren, doch Crawford schüttelte den Kopf. „Aus diesem Gedanken heraus wurde der Wunsch geboren, wieder stark zu sein und so habe ich euch von mir gestoßen. Ich wollte eure Hilfe nicht, weil ich selbst die Schuld an meinem Zustand trage. Der einfachste Weg in dem Moment war Gehorsam, doch weder du noch Nagi waren da noch bereit, diesen Weg einzuschlagen, aus Sorge. Was dann passiert ist, weißt du.“ Dieses Mal ließ Schuldig sich nicht unterbrechen. Wütend begehrte er auf, ebenso wütend grollte er. „Du bist nicht schuld. Nicht daran. Nicht an dem, was er dir aufgezwungen hat“, widersprach der Telepath vehement. „Du bist nicht schuld an seinen Taten oder an den Ereignissen, die dazu geführt haben.“ Crawford erwiderte nichts, hob aber den Blick und wieder maßen sie sich für lange Augenblicke nur schweigend. Der Anblick des bleichen Mannes mit den ausgesprungenen Lippen und den tiefen Augenringen wurde einen Moment lang überlagert von der Erinnerung des verdreckten, verfilzten Jungen, den er bei dessen Ankunft bei Rosenkreuz gesehen hatte. Wenn Schuldig es gerade in seinen Gedanken sah, dann gab er es nicht zu erkennen. „Ich möchte nicht wieder zu unseren Rangkämpfen zurück, Schuldig. Ich möchte meine ganze Kraft darauf richten, Schwarz vor den Krallen des Rates zu retten. Dafür brauche ich dich und Nagi und Jei. Besonders dich. Ohne dich geht es nicht. Ohne deine Kooperation ebenso wenig.“ Schuldig starrte ihn an und langsam war es Wut, die wieder in die scharf konturierten Züge zurückkehrte. Crawford ahnte, dass sich diese Wut auf ihn bezog und er ahnte, dass Schuldigs Antwort Nein sein würde. „Du vergleichst mich mit ihm. Ständig. Immer. Du denkst, ich vergewaltige dich genauso wie er auch. Du hast es gedacht, noch bevor du mich das erste Mal gespürt hast.“ Verzweiflung schimmerte hinter der zynischen Wut und Crawford ahnte mit einem Mal, dass es nicht Zufriedenheit gewesen war, mit der Schuldig vor ein paar Tagen diese Gedanken verfolgt hatte, sondern Unglauben. Stummer, wütender Unglaube über den ungeheuerlichen Vergleich. „Wie kann ich mit dir zusammenarbeiten, wenn du mir nicht vertraust?“ Crawford gestattete sich ein leises Schnauben. „Ich habe keine guten Erfahrungen damit, Telepathen in meine Gedanken zu lassen. Und dann kommst du, dringst in meine Gedanken ein und beeinflusst mich und meine Schmerzimpulse, steuerst mich vor den stümperhaften Weiß, als wäre ich eines unserer Opfer. Der Vergleich lag nahe.“ Frustration machte sich auf den Zügen des Deutschen breit und Schuldig grollte erbost. „Mit dem Unterschied, dass ich dir nie wirklich schaden wollte! Du solltest lernen, du solltest erkennen, aber du solltest verdammt nochmal nicht glauben, dass ich so weit gehen würde. Du solltest endlich wieder Vertrauen haben, dass nicht jeder…!“ Crawford ließ den Kopf an die Wand zurückfallen und schüttelte ihn ungläubig. „Deine Methoden sind scheiße, Schuldig.“ „Dein Verhalten ist auch scheiße.“ Wie interessant doch die Decke sein konnte, vor allen Dingen die nicht vorhandenen Kerben, die Crawford wie auch in den fünf Tagen im Keller nicht als Ausrede nutzen konnte, sich aus der Realität zu stehlen in den einsamen, kalten Stunden, in denen darauf gewartet hatte, dass irgendetwas passierte. Oder dass er starb. „Als du mich in deiner Dreckstelepathenfalle eingesperrt hast, du widerlicher Hurensohn…“, holte ihn Schuldig aus seinen Gedanken und ließ ihn innerlich schmunzeln. „…habe ich alles erlebt. Alles, an das du dich erinnerst. Ich habe es aus deiner Perspektive heraus erlebt, was der Scheißkerl mit dir gemacht hat und wie du dich dabei gefühlt hast. Dank dir war ich du. Ich habe gefühlt, was du gefühlt hast. Psychisch, emotional und physisch. Mir brennt der Hintern jetzt noch. Und mein Rücken. Und meine Schultern fühlen sich an, als hätte jemand ihnen glühend heiße Stäbe hineingestochen.“ Crawford schmunzelte kurz, auch wenn dort nichts Amüsantes zu finden war. Die Erinnerung an eben jene Empfindungen trieb ihm Schauer des Unwohlseins über den Rücken. „Das mag an deiner lädierten Schulter liegen.“ Schuldig fauchte. „Klugscheißerisches Arschloch! Was ich damit sagen will, Dreckskerl, ist Folgendes: niemals, nie in diesem Leben würde ich dir so etwas antun. Und du solltest mich besser kennen, als anzunehmen, dass ich dir ernsthaft schaden wollen würde oder dass ich mich zu den gleichen Methoden hinreißen lassen würde wie Lasgo.“ Crawford schmunzelte kurz. „Fujimiya hast du genau damit gedroht.“ „Das war Taktik“, grollte Schuldig. „Ich denke in letzter Zeit nicht rational genug um das zu erkennen, Schuldig.“ Es war ein harter Weg, sich diese Tatsache einzugestehen. Viel schwieriger war es, diese dann auch noch auszusprechen. Es überraschte Schuldig, das sah Crawford. „Das solltest du aber, Crawford. Ich bin der Irrationale unseres Teams, nicht du.“ Ein schmerzliches Lächeln lag auf den Lippen des Orakels und lange Zeit erwiderte er nichts auf die deutlichen Worte des Telepathen. Wieder und wieder schob er seine Empfindungen hin und her und die Bedeutung, die sie für ihn und sein Team hatten. Er analysierte und kam doch zu keinem Ergebnis, wie er es am Besten formulieren sollte. Der Gedanke, dass er keine Schwäche zeigen konnte und durfte, war dabei am Präsentesten und Crawford hatte sehr wohl noch vor Augen, was passiert war, als er Schuldig zum ersten Mal eben jene offenbart hatte. Er hatte diese Offenheit mit Schmerz gebüßt und unwillkürlich fragte er sich, ob es noch einmal so sein würde. Er fragte sich trotz aller Offenheit, ob er Schuldig wirklich vertrauen konnte. „Ich weiß nicht, wie“, stellte er schließlich in den Raum, auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner mit sich und seinem Misstrauen Schuldig gegenüber. Verständnislos musterte der Deutsche ihn. „Was weißt du nicht?“ Crawford überlegte einen Moment lang, bevor er resigniert schluckte. „Wie ich damit umgehen soll.“ Er erwartete, dass Schuldig sich dieses Eingeständnis zu Nutze machte und dass er ihm wieder vor Augen führte, wie schwach er war. Doch der Telepath zeigte keine Regung. Lediglich die blauen Iriden maßen ihn durchdringend und prüfend. „Ich weiß es auch nicht“, erwiderte dieser schließlich. „Aber wir finden einen Weg. Wie immer gemeinsam.“ Crawford wunderte sich, wie aus dem sonst so gesprächigen Mund des Telepathen so wenige Worte so zuversichtlich klingen konnten. Nicht, dass er diese Zuversicht teilte, doch er würde versuchen, sich den Anschein zu geben, damit sein Team erstarken würde. Für den Anfang sollte es reichen. Vielleicht würde es dann irgendwann Gewohnheit werden. Gewohnheit würde irgendwann Wahrheit werden. Und vielleicht würde die Erinnerung um die Geschehnisse irgendwann einmal ganz verschwinden. Crawford gestattete sich für einen Augenblick lang die Vorstellung, dass sie auch noch Jahre nach dieser Katastrophe zusammen ihren Aufgaben nachgehen würden. Dass sie immer noch eng zusammenarbeiten würden. Es war eine schöne Vorstellung, insbesondere angesichts des drohenden Ultimatums. „Scheiße, Brad, ich hab‘ Hunger!“, beendete Schuldig seine Tagträume und irritiert sah Crawford auf den Telepathen, der sich schwankend in die Höhe kämpfte. Aus einem instinktiven Impuls heraus erhob er sich ebenso, weil es ihn unsicher machte, dass er saß, während der andere Mann stand, auch wenn im ersten Moment sein drohte zu zerbersten drohte. Kurz stolperte er und gestattete es sich aber, erschöpft die Augen zu schließen und sich ganz darauf zu konzentrieren, den Schmerz zu bekämpfen. Es brauchte seine Zeit, dann ebbte er tatsächlich ab und er konnte sich wieder auf die Umgebung konzentrieren, damit auch auf Schuldig, der vor ihm stand und ihn ausdruckslos musterte. „Du hast mich nicht berichtigt“, stellte der Telepath ruhig in den Raum und Crawford begriff, auf was Schuldig anspielte. Er hielt inne und maß sein Gegenüber lange schweigend, bevor er nickte. „Also, Orakel“, sicherte sich Schuldig ein weiteres Mal seine Aufmerksamkeit und Crawford kam nicht umhin, sich über die Nutzung seines Codenamens zu wundern, als auch schon Schuldigs Faust mit seiner Wange kollidierte, seinen Kopf schmerzhaft zur Seite rucken ließ und die Kakophonie des Schmerzes sich um ein Vielfaches steigerte. Überrascht taumelte er und hielt sich aufstöhnend die Wange, bewegte vorsichtig das Kiefergelenk um zu sehen, ob etwas gebrochen war. Eine Hand schob sich in sein eingeschränktes Sichtfeld, ausgestreckt, als hätte sie ihm gerade keinen Kinnhaken verpasst. „Wie sagt man so schön? Freunde. Aber der war für deine Telepathenfallenscheiße, die du mit mir abgezogen hast.“ Crawford lächelte und selbst das tat weh. Das würde seinem Gesicht wieder ein wunderbares Hämatom bescheren. Die Fragen in den Augen der Anderen sah er jetzt schon, auch ohne Hellsicht. Er nahm es Schuldig jedoch nicht übel und ein Teil von ihm konnte dem auch nur zustimmen. Sich aufrichtend begegnete er der Aufmerksamkeit des Telepathen mit spöttischem Amüsement. „Du schlägst zu wie Tsukiyono.“ Schuldigs Augenbraue hob sich. „Wenn ich deine Erinnerungen dazu richtig interpretiere, hat das ordentlich wehgetan.“ Ein Schnauben antwortete dem Deutschen. „Der Junge ist mutiger als gedacht.“ „Ich hätte nicht gedacht, dass er die Eier dazu hätte, mit mir Kontakt aufzunehmen, nachdem, was ich mit ihm und seinen Hirnwindungen gemacht habe.“ „Er hat die Kaltschnäuzigkeit der Takatoris.“ Schuldig schnalzte mit der Zunge. „Kaum vorstellbar, dass er mal so fett und bärtig wird wie sein Onkel.“ „Wird er nicht.“ Schuldig hob die Augenbraue. „Du hast die Zukunft Tsukiyonos bereits gesehen?“ Crawford nickte, doch sein Blick teilte Schuldigs bereits mit, dass er darüber hinaus nichts mehr sagen würde. Anstelle dessen griff er zu dessen Hand und schlug ein. ~~**~~ Hellsehergehabe…als wäre es Schuldig nicht über die Jahre schon gewohnt. Er seufzte tief. Er hätte sich die Antwort auf die Frage, wie es mit Tsukiyono ausgehen würde, auch aus den Gedanken seines Anführers holen können, doch er tat es nicht. Dieses eine Mal nicht. Ekelhaft schmeckte er, dieser Anstand. Schuldig besah sich seinen Anführer schweigend, unterzog ihn einer ausführlichen und kritischen Musterung. Erst jetzt machte er sich die tiefen, dunklen Augenringe bewusst, die eingefallenen Wangen, die blasse Gesichtshaut. Die himmelschreiende Erschöpfung in den gezeichneten Gesichtszügen. „Du siehst scheiße aus“, merkte er schließlich an und Crawford hob fragend die Augenbraue, anscheinend nicht sicher, worauf Schuldig hinauswollte. „Wann hast du das letzte Mal geschlafen?“ Crawford zuckte mit den Schultern. „Vorgestern.“ Schuldig seufzte tief und überwand die letzte Distanz, die zwischen ihnen lag. Er legte den Kopf schief und verzog mit Unbill die Lippen. Die Idee, die in ihm aufkeimte, war keinen Moment später Realität für das Orakel, als dieser eine Vision von seinem Vorhaben hatte. „Nein, Schuldig“, verweigerte Crawford sich und sein Gesicht verzog sich unwillig. Unweigerlich trat das Orakel einen Schritt zurück, dann einen zweiten, als wenn seine Gabe nicht weiter reichen würde als bis zu der Zimmertür. „Ich denke schon.“ Noch ein Schritt, als hätte Crawford wirklich Hoffnung. „Schuldig, du wirst nicht…“ Und ob Schuldig würde. Sanft griff er in die Gedanken seines Anführers und suchte das Areal, das für die bewussten Gedanken zuständig war. Ohne viel Federlesens unterbrach er den Strom, der Crawford mit mentaler Energie und Stärke versorgte und schickte das Orakel in den bislang vermiedenen Tiefschlaf, der ihn für die nächste Zeit – Schuldig programmierte ihn auf vierzehn Stunden Schlaf – außer Gefecht setzen würde. Ächzend fing er die leblose Gestalt des Amerikaners auf und schaffte dessen erschlafften Körper mit Mühe auf sein Bett. Brad war schwerer als gedacht und das nach fünf Tagen Nahrungsentzug und Gewalteinwirkung durch dieses verfluchte Arschloch von einem Menschenhändler. „Ich setz dich ab morgen auf Diät, darauf kannst du dich verlassen, du moppeliges Orakel“, grunzte er und deckte seinen Anführer vorsorglich zu. Als er in Richtung Tür strebte, war ihm deutlich schummrig und einen Moment lang hielt er sich an der Wand fest, bevor er den Rest seines Plans in Angriff nehmen konnte. Vor der Tür lauerte Nagi und sah nun ängstlich auf, als Schuldig in den Flur hinaustrat und sein nächstes Opfer ins Visier nahm. Schräg lächelte er und deutete in Richtung Bett. „Unser Sorgenkind schläft jetzt für die nächsten vierzehn Stunden friedlich seinen Dornröschenschlaf und ich habe Hunger. Verzieh dich aufs Bett, Kleiner. Du bist dran mit aufpassen.“ Große, graue Augen starrten ihn an, als wäre er vom Mond und machten langsam der Angst Platz, die dahinter lauerte. Die Gedanken des Jungen liefen wild durcheinander, angefangen von der Frage, was mit seinem Anführer passiert war, über die Unsicherheit, ob die beiden Männer ihren Konflikt beigelegt hatten über die brachiale Angst, etwas gegen den Willen des Orakels zu tun und sich zu diesem ins Bett zu legen. „Ich kann mich nicht zu ihm legen“, entschied sich Nagi schlussendlich für das, was ihn am Meisten plagte und Schuldig hob spöttisch die Augenbraue. „Du hast zwei Füße, zwei Beine und dumm bist du auch nicht. Was sollte dich hindern?“ Der Telekinet zog den Kopf zwischen die Schultern. „Er hasst mich.“ „Bullshit.“ „Und er hat Angst vor mir.“ „Sollte er auch, dann schlägt er dich das nächste Mal nicht.“ „Schuldig…“, flehte Nagi um Verständnis, traf jedoch auch wie Brad zuvor schon auf die Schuldig angeborene Sturheit. „Auf’s Bett mit dir, Kleiner. Er braucht jetzt Schutz, so bewusstlos wie er ist und so viele Weiß hier herumschwirren, die er unvorsichtigerweise angelockt hat. Ich werde jetzt die Küche plündern gehen, denn ich habe Kohldampf wie sonst was und davon wirst du mich nicht länger abhalten. Klar, Kleiner?“ Nagi warf einen zögerlichen Blick in ihr Schlafzimmer und Schuldig gab ihm einen körperlichen wie auch mentalen Schubs in die richtige Richtung. Mit sich selbst zufrieden ging Schuldig langsam nach unten. Beinahe unsicher hielt er sich am Treppengeländer fest und strebte den Blicken der anwesenden Weiß zum Trotz in die Küche, in der das Riesenbaby von einem Assistenten schon wieder versuchte, dem Chaos Herr zu werden, das Siobhan hinterlassen hatte. Als er seiner gewahr wurde, nickte er und deutete stumm auf den Kühlschrank, den Schuldig keine Minute später plünderte und sich mit seiner Beute auf die Terrasse verzog, unwissentlich den Platz seines Anführers einnehmend. Erst als er sich durch sein zweites Schnitzel gearbeitet hatte, wurde er sich des rauchenden Mannes in der Dunkelheit am anderen Ende der Terrasse bewusst, der nun amüsiert lachte. „Stunk machen macht hungrig, kann das?“, amüsierte sich Kudou und Schuldig grollte. „Was willst du, Weiß?“, fragte er mit vollem Mund und schob sich die kalten Bratkartoffeln in den Mund. „Ich? Gar nichts. Du bist gerade in mein Sanctuarium eingedrungen und schmatzt nun vor dich hin in meine bisher wundervolle Stille hinein.“ „Sanctuarium“, äffte Schuldig den anderen Mann nach, dachte aber im Traum nicht daran, sich dadurch schuldig zu fühlen. „Letztes Mal, als ich nachgeschaut habe, war das ein Unterschlupf von Rosenkreuz. Du kannst froh sein, dass du hier überhaupt atmen darfst.“ Wieder war es ein Lachen, das ihm antwortete und das ihn nicht in Ansätzen ernst nahm. Schuldig ließ das erst einmal unkommentiert und aß weiter, bis er die drei Schnitzel und das gefühlte halbe Kilo Bratkartoffeln hinuntergeschlungen hatte. Zufrieden lehnte er sich schließlich zurück und rieb sich den Bauch, lauschte für einen Moment lang dem Rauschen der Bäume zu seiner Linken und dem Rauschen des Meeres zu seiner Rechten, bevor ihm die Stille auf die Nerven ging. Schnaubend erhob er sich und stakste auf Kudou zu. Er rupfte diesem die gerade angezündete Zigarette aus dem Mund und grinste in die Bestürzung des Weiß hinein, ging dann mit seiner Beute zu seinem Platz zurück. „Besitz kennst du auch nicht, oder?“, war es wohlverdiente Entrüstung, die sich Schuldig entgegentrug und er grinste. „Was? Du isst unser Essen, trinkst unsere Getränke und beschwerst dich über eine verlorene Zigarette? Pussy.“ „Für wen arbeitet ihr gleich nochmal, Sleeping Beauty.“ „Das ist Jeis Spruch, Copy Cat.“ „Oh, ein Katzenwitz. Habe ich ja noch nie gehört, Schuruderiku“, verunstaltete Kudou Schuldigs Codenamen in bestem Japanisch-Deutsch und ließ den Telepathen wider besseren Wissens unwillkürlich zusammenzucken. „Lern Deutsch, Arschloch“, grollte er milde und nahm einen tiefen Zug von der Zigarette, bließ den Rauch in die Freiheit hinaus. „Französisch kann ich besser“, erwiderte Kudou grinsend und Schuldig verzog das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse. „Deine angeblichen Sexkünste und deine Avancen kannst du getrost bei dir lassen, ich habe kein Interesse.“ Der Weiß steckte sich eine neue Zigarette an und inhalierte den Rauch für ein paar Augenblicke stumm in die Luft. Den Blick auf den Wald gerichtet, schüttelte er schließlich den Kopf. „Und du glaubst, dass ich an dir Interesse hätte? Warum sollte ich das?“, fragte er seltsam ruhig und ohne Spott. Schuldig horchte auf, irritiert durch den Ton des Anderen. „Du bist bis ins Mark verdorben, deine Gedanken und deine Seele sind hässlich und beschmutzt von dem, was du tust. Vielleicht bist du attraktiv, wenn all die Hämatome und das Pflaster auf deiner Nase verschwunden sind, aber körperliche Anziehungskraft macht das hier“, Kudou deutete auf sein Herz, „…und das hier“, er tippte sich mit dem Mittelfinger an die Schläfe, „…nicht wett.“ Für einen irrwitzigen Moment begehrten die Erinnerungen in ihm auf, die er an die Gräueltaten hatte, die Brad zugefügt worden waren. Ich bin schuld an dem, was er mir angetan hat, geisterte es durch seine Gedanken, bevor er eben jene abschütteln und sich auf seine eigenen besinnen konnte, anstelle immer noch in denen seines Anführers zu wandeln. Die ebenso wenig davon erfreut waren, was der Weiß ihm gerade gesagt hatte. „Dir ist schon klar, dass ich dir so sehr das Hirn verdrehen kann, dass du genau das Gegenteil denkst?“, spottete er mit einer deutlich zu hörenden Warnung, das Thema sein zu lassen und sich nicht mit einem schlechtgelaunten Telepathen zu streiten. Kudou ließ sich von ihm jedoch nicht einschüchtern, war zu dumm, diese Warnung zu erkennen. „Und dann würdest du eine Lüge leben, immer in dem Wissen, dass dich niemand wegen dir begehrt und liebt, sondern ausschließlich wegen des Zwangs, den du der Person auferlegt hast.“ Kudou nahm Schuldigs Unglauben über eben jene Dummheit für schweigende Zustimmung, so schien es, so wie er nun fortfuhr. Wie zur Hölle kam der Weiß gerade jetzt auf dieses Thema? „Ist das der Grund, warum du Omi mit Lust und Schmerz gefoltert hast? Weil dir dabei einer abgeht, dass jemand endlich mal Lust empfindet, auch wenn sie nur auferzwungen ist. Wer würde sich denn schon freiwillig mit dir abgeben?“ So ruhig die Stimme des Weiß auch war, der Vorwurf darin war immens. Spott wäre leichter zu händeln gewesen, stellte Schuldig von sich selbst überrascht fest und schrieb das den doppelten Erinnerungen und Empfindungen zu, die in ihm schwelten. Es sollte ihm nichts ausmachen, nein, es machte ihm definitiv nichts aus. Er hatte Spaß dabei gehabt und er bereute nicht. Was also verletzte ihn an Kudous Worten? Er seufzte tief, was nicht mehr war als ein Überbrücken der Zeit, die er für eine Antwort brauchte. Als er sie hatte, erhob er sich und streunte zu dem Weiß, der bei so vielen Dingen sein Spiegelbild war, angefangen bei seinem Stil, sich zu kleiden, über seine nonchalante Art, über gewisse Dinge hinweg zu gehen oder zu flirten. Ruhig sah dieser zu ihm hoch, als er ihm auch diese Zigarette aus dem Mund pflückte und einen tiefen Zug nahm. Lächelnd blies er Kudou den Rauch ins Gesicht, was dieser mit wachsender Missbilligung zur Kenntnis nahm. „Wer weiß. Wenn all das hier vorbei ist, Kudou, komme ich dich holen und dann ficke ich dich, bis du blutest. Und während du blutest und ich dir deinen kleinen, weißen Arsch aufreiße, werde ich dir in deinen Gedanken vorgaukeln, dass du es willst, nie etwas Anderes gewollt hast und nie etwas Anderes wollen wirst. Du wirst mich um mehr anbetteln, solange, bis dein Körper nicht mehr kann und dich in den gnädigen Tod schickt.“ Ein breites Lächeln lag auf seinen Lippen, als er Kudou ein weiteres Mal Rauch ins Gesicht blies und sich an dessen ernstem und wütendem Gesichtsausdruck festhielt, an den durcheinanderlaufenden Gedanken, die nichts von der Ruhe von vorher hatten. Weg war die Überlegenheit des Weiß. Weg war die Verletztheit, die er selbst empfand. Er war wieder on top, er war der Herr des Spiels, so musste das sein. Schuldig drehte sich um und wollte hineingehen, als ihn Kudous ruhige, beinahe schon kühle Stimme innehalten ließ. „Das ist eine leere Drohung. Denn wenn, hättest du dich schon längst auf diese Weise an Omi vergriffen. Hast du aber nicht. Von all den Arten, einen Feind zu foltern, hast du dich für die am wenigsten Körperliche entschieden.“ Schuldig grinste und warf einen Blick über seine Schulter zurück in die Dunkelheit. Er kannte die Antwort darauf. Sein Team kannte sie. Er hatte aber nicht vor, sie vor Weiß auszubreiten, so schwieg er und drehte sich weg, direkt zu dem Iren, der schweigend im Türrahmen stand und anscheinend alles mitgehört hatte. Schuldig schnaubte abfällig. ~Was willst du, Mondjunge?~, fragte er, stieß jedoch auf chaotische, wenig zusammenhängende Gedanken. Ganz im Gegensatz dazu lächelte der vernarbte Mann und konzentrierte sich auf den Weiß, der ihn unsicher musterte. „Hund die bellen, beißen nicht“, sagte Jei an Kudou gewandt und zeigte Schuldig sein widerlichstes Lächeln. „Und manche Hunde wissen gar nicht, wie man beißt“, setzte er nach. "Fickt euch doch alle beide", grollte Schuldig und hob den Mittelfinger. Das zweifache Lachen hinter ihm ignorierte er stur. ~~~~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)