Die Farbe Grau von Cocos ================================================================================ Kapitel 31: Zitronenlimonade ---------------------------- Omi musste raus aus dem Haus, möglichst schnell raus, bevor es wieder einstürzte und ihn unter sich begrub. Er musste raus aus diesem Gebäude und weg von dem Fehler, den er gemacht hatte, als er zugestimmt hatte, mit Schwarz zusammenzuarbeiten. Aber was hatte er auch erwartet? Dass Schwarz sich von jetzt auf gleich änderten, wenn sie vor Augen geführt bekamen, dass auch sie machtlos gewesen waren? Hatte er sich tatsächlich dieser trügerischen Hoffnung hingegeben, als er Ja gesagt hatte zu dieser Zusammenarbeit? Omi strauchelte mehr als dass er ging in Richtung Wald, kam jedoch nicht weit, als ihm seine zusammengedrückte Kehle das Weiterlaufen verbat und ihn nach Luft japsend stehen bleiben und zu Boden gehen ließ. Die hoch am Himmel stehende Sonne brannte so sehr auf seinen Rücken, dass es ihn unwillkürlich schauderte. Fehler, es war ein Fehler, ein verdammter Fehler, schrie er innerlich. Sie sollten gehen, am Besten gleich heute noch. Schwarz brauchten ihre Hilfe nicht, sollten sie doch verrecken an ihrem Elend und an ihrer eigenen Hybris, die sie erst in diese Lage gebracht hatten. Schwarz hatte Weiß hier mit reingezogen, nicht umgekehrt, und sie bezahlten nun den Preis dafür. Eine zusammengedrückte Kehle für den Anfang. Wenn er sich die Vergangenheit betrachtete, wusste er, was noch kam. Omi erwartete keine Worte der Dankbarkeit, das sicherlich nicht. Aber er erwartete produktive Zusammenarbeit und Unversehrtheit. Er erwartete, nicht zu Tode gewürgt zu werden, wenn er versuchte, den anderen aus seiner Angst zu holen. Er starrte wütend in den Wald hinaus und hoffte, dass die sich sanft im Wind wiegenden Bäume und deren raschelnde Blätter ihm eine Antwort darauf geben konnten, was nun zu tun war und wie er sich denjenigen gegenüber verhalten sollte, die ihn gefoltert hatten. ~So als wärst du der Vernünftigste von allen.~ Omi fuhr herum, als er die Stimme hörte, doch da war niemand und verspätet fiel ihm auf, dass es Schuldig sein musste, dessen Telepathie in ihn eingedrungen war. Elendig zuckte er zusammen und presste die Hände auf die Schläfen, als wenn das Schuldig vertreiben könnte. ~Richtig, kleiner Weiß. Das kann mich ebenso wenig vertreiben wie alles andere, was du mir entgegen zu setzen hättest. Aber warte, ich mache es dir angenehmer~, säuselte eben jener Telepath und Omi hörte, wie sich weit hinter ihm die Haustür öffnete und wieder schloss. Unsicher sah er zu der sich ihm nähernden Gestalt und schauderte unwillkürlich. Schuldig ging nicht, er streunte wie ein Raubtier, das seine Beute in Augenschein genommen hatte. Omis Erinnerungen und die Gegenwart selbst flüsterten ihm das in aller Deutlichkeit ein und er drehte sich abrupt weg, als er nicht ertragen konnte, den gegnerischen Telepathen näher kommen zu sehen, der so mühelos seine Angst und Panik befeuerte. Bei Lasgo war die Kontaktaufnahme eine Herausforderung gewesen und selbst auf die Entfernung hatte er brachiale Angst gehabt. Aber da hatte er hatte auch ein Ziel gehabt und er wusste, dass der Telepath ihn gebrochen nicht gebrauchen konnte. Hier, im Anwesen, waren sie sich bisher nie alleine begegnet und sein Team war ebenso immer in der Nähe und damit eine trügerische Sicherheit gewesen. Jetzt, fernab vom Haus, alleine mit Schuldig, war das eine andere Sache und Omi zog die Knie an, krallte seine Hände in das ebenmäßige Gras des Rasens, als Schuldig ihn erreichte. Die Hand, die sich überraschend in seinen Haaren vergrub und seinen Kopf nach oben zog, ließ ihn schmerzerfüllt aufstöhnen, bevor er sich eines Besseren besann und seine Lippen eisern versiegelte. Schuldig liebte das Leid der Anderen. Er würde sich nur noch mehr daran ergötzen, wenn er ihm das gab, was er wollte. Die Hand blieb auch dort, als Schuldig um ihn herum kam und sich auf seine Augenhöhe begab. Blaue Augen brannten sich in die seinen und maßen ihn wortlos. „Was sollen deine Feinde denken, wenn du den Kopf immer einziehst oder senkst?“, fragte er mit gebleckten Zähnen. „Sollen sie dich etwa für ungefährlich oder unterwürfig halten? Also trage verdammt nochmal den Kopf oben, Takatori junior.“ Omi wusste nicht, auf was er zuerst reagieren sollte. Die laut ausgesprochenen Worte des Telepathen, die ihn geschockt zurückließen, weil er viel, aber das nicht erwartet hatte, oder aber sein wahrer Name aus dem Mund des Schwarz. „Ich habe Angst vor dir“, gab er schließlich mit Bitterkeit zu, was zu deutlich in seinen Gedanken stand und Schuldig ließ schlussendlich seine Haare los. Omi widerstand dem Drang, über seine schmerzende Kopfhaut zu reiben. „Wäre ich du, hätte ich das auch. Vor mir meine ich.“ Schuldig grinste und ließ sich vor ihm in den Schneidersitz nieder. Omi schauderte. Schuldig war ihm so nahe, dass er sein Aftershave roch, zu nah, als dass er sich nicht an ihre Begegnung im Keller von Schwarz erinnern würde, an die Stunden voller Verzweiflung und Ekel. Doch durch die Nähe hatte er ebenso einen Einblick auf die Verletzungen im Gesicht des Telepathen, auf die Sommersprossen, die dank Youji gebrochene Nase und die Hämatome…und er roch den Kaffee, den Schuldig vor kurzem getrunken haben musste. Anders als der Alkohol, den er damals gerochen hatte, anders als alles, was er in dem Keller zu sehen geglaubt hatte, waren das hier Zeichen der Menschlichkeit, nicht des Monstertums. Schuldig maß ihn lange Zeit schweigend, dann setzte er sich vor ihm auf den Boden und schlug die Beine im Schneidersitz unter, seine verletzte Schulter mit der gesunden Hand stützend. „Willst du wissen, warum?“ Omi benötigte einen Moment, um überhaupt den Mut aufzubringen, mit Schuldig zu sprechen. „Warum was?“, fragte er schließlich rau. „Warum ich deine Nervenbahnen so lange verdreht habe, bis du nicht mehr wusstest, ob meine nächste Berührung dir unbändigen Schmerz oder überschäumendes Glück bringt.“ Sein Magen übermittelte Omi deutlich, dass er noch nicht bereit war über dieses Thema zu sprechen, doch sein Verstand, sein rationales Denken wollte eine Erklärung für das Unaussprechliche. „Ja“, erwiderte sein Verstand schneller als sein Magen Nein schreien konnte schlicht und Omi machte sich auf das Schlimmste gefasst. Schuldig amüsierte sein innerer Konflikt sehr, das sah er deutlich. Doch nichts war so schlimm wie Schuldigs Lächeln zu dem Zeitpunkt, als er darauf aus gewesen war, ihn zu brechen. „Unter anderem weil du interessant genug dafür warst und stark genug um es zu überleben. Selbstverständlich natürlich auch, weil ich Spaß daran hatte.“ „Weil ich stark genug war?“, echote Omi und Schuldig rollte mit den Augen. „Was bist du, ein Papagei? Waren die Katzennamen doch wohl falsch gewählt?“ Wo Omi Angst haben sollte, war es nun Wut, die hochwallte und dem allgegenwärtigen und an seiner kaum vorhandenen Selbstbeherrschung fressenden Spott begegnete. „Fick dich, Schuldig!“ schleuderte er frustriert über dessen Verhalten seinem Gegenüber rüde Worte ins Gesicht und besagter Telepath grinste breit. „Nein, ich habe dich gefickt – mental - und das ist eines deiner momentanen, großen Probleme.“ Schuldig entfachte mit seinen Worten nur weiter die Wut, wie sie seit Wochen nicht mehr da gewesen war. Sie mündete in Jähzorn und dem unabdingbaren Willen, dem Anderen weh zu tun, Blut hervorzubringen, das Reißen von Fleisch unter seinen Fingern. Ohne zu überlegen, schlug Omi Schuldig mit der Faust ins Gesicht. „Du kotzt mich an mit deiner Selbstverständlichkeit, mit der du anderen Schmerz zufügst…mit der der MIR Schmerz zufügst, als wäre die ganze Welt deine Spielwiese und dein persönlicher Folterkeller, wo du dir deinen Arsch pudern lässt und dich mal wie der Größte fühlen lassen kannst, weil dein Gegner dir weder in körperlicher noch übernatürlicher Kraft ebenbürtig ist“, schrie er ihm seine Wut und seine Gedanken entgegen, die seit der schicksalsträchtigen Nacht und den darauffolgenden Tagen in seinen Hirnwindungen gärten. „Warum hast du dich nicht an Lasgo vergriffen, der auch da war? Warum an mir? Warum?!“ Er keuchte, atmete schwer, als Panik ihm wieder alles zunichtemachte, was er sich gerade durch die Wut an Stärke aufgebaut hatte. Seine Augen weiteten sich, als er sich gewahr wurde, was er getan hatte, was er gesagt hatte. Wem er das getan und gesagt hatte. Schuldig drehte seinen Kopf nun langsam wieder zurück, die Wange rot von seinem Schlag, die Augen die eines Raubtieres gleich, das seine Beute ins Visier genommen hatte. Das würde Konsequenzen haben, dessen war Omi sich sicher und er war dumm genug gewesen, unbeherrschte Emotionen die Oberhand gewinnen zu lassen. Panisch schlug er eine Hand vor den Mund und starrte in die hypnotisierenden, blauen Augen, die die Quelle für so viele Alpträume waren. Schuldig betastete seinen Kiefer einen Moment lang nachdenklich und grinste dann teuflisch. „Im Gegensatz zu dir steht Lasgo zu seiner dunklen Seite. Er verneint sie nicht und schiebt noble Gründe vor, wie du es tust, wenn du Menschen umbringst, Frauen zu Witwen machst, Kinder zu Waisen, so wie du es immer von dir dachtest, bevor Lasgo dir dein hübsches kleines Geheimnis verraten hast. Das macht ihn langweilig, dich jedoch nicht. Weil du dir immer noch vormachst, für die Guten zu arbeiten, aber längst ahnst, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Der Moment, in dem dein bewusstes Denken am Boden liegt, weil du beinahe zerbrochen bist und nur noch Emotionen dein Handeln bestimmen, da findest du deinen Kern, dein Innerstes, die dunkle, jähzornige Seite in dir, die nicht besser sein möchte als das Schlechte, was du bekämpfst, sondern das auseinanderreißen möchte, was dich verletzt. Und das ist Salz in der Suppe eines Telepathen. Das ist die Schärfe, die allen anderen Gerichten fehlt. Die neue, unentdeckte Zutat, wenn du täglich immer wieder den gleichen gedanklichen Einheitsbrei menschlicher Gedanken und Ängste vorgesetzt bekommst.“ Omi lauschte den Worten des Telepathen und erhob sich ungelenk, abrupt. Stumm schüttelte er den Kopf. Nein, er wollte darauf nicht antworten, er wollte dieses Gespräch nicht führen. Schweigend drehte er sich weg und wollte weiter, zurück...irgendwohin weg von Schuldig, als dieser ihn telepathisch zurückhielt. ~Ich habe noch in dem Club in deinen Gedanken gesehen, dass du dich mit Lasgo vergnügt hast. Und das, nachdem insbesondere du unserem Team ordentlich in den Arsch getreten hast und ihr dazu noch unsere Schutzperson getötet habt. Ich war scheiße wütend. Und neben den ganzen anderen Gründen ist das mit einer der Hauptgründe, warum ich das getan habe, was ich dir angetan habe und warum ich es dabei auch noch genossen habe. Ich wollte Rache an Weiß und du hast die Sicherheit deines Blumenladens verlassen. Falsche Zeit, falscher Ort, geradezu klassisch.~ Wie erstarrt lauschte Omi Schuldigs mentaler Stimme, die nichts Anderes als Ernst ausdrückte. Er blinzelte und schlang die Arme um sich, um das Zittern unter Kontrolle zu bringen, das ihn befallen hatte. „Crawford hat mir einen ähnlichen Grund benannt“, erwiderte Omi schließlich und die Erinnerungen an das Gespräch mit dem Amerikaner lag präsent vor ihnen beiden, lebendiger als hätte sich Omi alleine daran erinnert. ~Drei Gefallen schuldet er dir? Kleiner, das macht deinen Arsch gleich noch wertvoller.~ Schuldig lachte und dieses Mal rubbelte sich Omi tatsächlich über den Kopf um das Kribbeln hinter seiner Schädeldecke zu neutralisieren, welches das Lachen hervorrief. „Ich hätte nicht mit ihm geschlafen, wenn ich gewusst hätte, wer er ist.“ ~Der Mann hat vermutlich auch nur mit dir geschlafen, weil du deiner Mutter ähnlich siehst.~ Der Gedanke war Omi auch schon gekommen, doch es noch einmal ausgerechnet von Schuldig gesagt zu bekommen, machte das Ganze überhaupt nicht besser. Übelkeit wallte in ihm hoch. „Wenn du mich ankotzt, schmeiß ich dich von der Klippe“, wechselte Schuldig wieder auf Worte anstelle von Gedanken und erhob sich aufstöhnend. „Hör zu, Kleiner, um die ganze Sache jetzt mal zum Abschluss zu bringen. Lasgo hat mit uns allen gespielt und uns allen in den Arsch getreten. Jedem auf seine eigene Art und Weise und sowohl wir als auch ihr seid davon betroffen. Unser Orakel mehr als jeder andere, aber grundsätzlich haben wir alle ein Interesse daran, das Arschloch abzuschlachten.“ Kurz pausierte Schuldig, ließ seinen Blick über die Wälder streifen. „Was ich dir angetan habe, ist geschehen. Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen und werde dir deine Erinnerungen daran auch nicht nehmen, falls du auf den dummen Gedanken kommen solltest. Ich werde mich, im Gegensatz zu unserem hochwohlgeborenen Orakel, auch nicht bei dir dafür entschuldigen und du wirst auch keinen Gefallen bei mir gut haben, damit das klar ist. Aber was ich dir versprechen werde, ist, dass es nicht noch einmal vorkommen wird. Wir brauchen dich lebend und denkend, gebrochen nützt du uns nichts. Das weiß auch Nagi, auch wenn er dich aus erlittenem Trauma, Wut, Angst und Hass an die nächste Wand presst und dir deinen hübschen kleinen Hals zudrückt.“ „Ihr braucht mich…“, echote Omi und Schuldig rollte erneut mit den Augen. „Papagei again?“ Omi erwiderte nichts darauf. Schweigend maß er Schuldig und es kostete ihn erhebliche Stärke, von der er nicht wirklich wusste, woher er diese nahm. Oder auch, woher er die Ruhe nahm, dem Telepathen so entgegen zu treten. „Deine Fähigkeiten als Taktiker und Analytiker sind…für einen unbegabten Menschen beachtlich. Dich nicht dafür einzusetzen, ein paar Informationen zu filtern, wäre dumm, das hat auch unser Orakel so schön erkannt. Und ja, wir brauchen dich und deine Verbindung zu Lasgo, vielmehr die Verbindung deiner Mutter zu ihm.“ Der junge Weiß lauschte Schuldigs Worten und schließlich zogen sich seine Lippen in einer harten Linie zusammen. „Wenn wir das alles hinter uns haben, wenn Lasgo tot ist und wir herausgefunden haben, wen von Kritiker er noch auf seine Seite gezogen hat, werde ich dich jagen und töten für das, was du mir angetan hast.“ Seine Worte waren noch nicht einmal eine Drohung, als solche hatte er sie auch nicht ausgesprochen. Sie waren vielmehr ein Versprechen an den Telepathen, ein Ziel an sich selbst, an dem er arbeiten würde. Aus eben jenem zog er die Kraft weiter zu machen und diesem Mann in die Augen zu sehen. Die Angst zumindest soweit in den Hintergrund zu schieben, dass er seine Aufgabe erfüllen konnte, die ihm Perser... sein richtiger Vater… gestellt hatte. Omi schloss für einen Moment seine Augen und ließ die Erinnerungen an seine Rettung damals an sich vorbeiziehen. Seinen Schutzengel hatte er Perser damals genannt. Nun wusste er, warum er ausgerechnet durch Shuichi Takatori gerettet worden war. „Komm und versuch’s. Ich werde da sein und dein Scheitern beklatschen“, grinste Schuldig in die dunklen Erinnerungen und Omi straffte sich. Er hob die Augenbraue und maß den Telepathen mit einem kleinen, gemeinen Lächeln, das er sich von Youji abgeschaut hatte. „Wenn du bis dahin wieder beide Hände zum Klatschen hast. Ich wette dagegen, so wie du Crawford provozierst. An seiner Stelle würde ich dir alles brechen, was du nicht zum Leben brauchst.“ Das brachte Schuldig tatsächlich doch zum überraschten Lachen. „Und du willst allen Ernstes behaupten, dass du keine dunkle Seite in dir hast, Takatori junior?“ Omi ließ sich nicht dazu herab zu antworten, sondern ging zurück ins Haus und die Wut, die in ihm schwelte auf Schwarz und Schuldig im Speziellen, war sein Schutzschild für das, was kommen mochte. ~~**~~ Als er die Kellertür erneut öffnete und den weißen, kalten Raum betrat, hatte er erwartet, dass Naoe an seinem Rechner saß, unterkühlt und arrogant wie immer. Den jüngsten Schwarz unter dem Schreibtisch zu finden, mit seinen Knien an die Brust gezogen und mit starrem Blick auf den Eingang, darauf war er nicht vorbereitet gewesen und so stand er im ersten Moment wie vom Donner gerührt in der Tür und fragte sich, ob er gerade wirklich Zeuge dessen wurde, was seine Augen ihm Glauben machen wollten. Stille begrüßte ihn und wollte auch nicht weichen, als er Naoe in das abgewandte Gesicht starrte. Geradezu beängstigend war sie angesichts der Tatsache, dass der Schwarz sich so verhielt, wie Omi ihn noch nie gesehen hatte und eisige Gänsehaut kroch Omi über die Unterarme. Er wusste nicht, was schlimmer war. Die Gabe des Telekineten, wenn sie einmal mehr auf ihn wirkte, oder das, was Schuldig so lapidar als Trauma bezeichnet hatte. Omi runzelte die Stirn und dieses Mal ließ er die Frage zu, was dem Anderen passiert war in der Gefangenschaft. Er fragte sich, wie Lasgo ihn dazu bekommen hatte, seinen Ziehvater zu foltern und dabei auch noch Freude zu empfinden, welche Mittel er angewandt hatte um den Jungen soweit zu treiben. Er fragte sich, wie weit sich Naoe daran erinnerte und wie sehr darunter litt, seinen Anführer gefoltert zu haben. Aber war es nicht natürlich? Wenn er Aya angetan hätte, was Naoe Crawford angetan hatte, dann… Er schnaubte innerlich. So wie Crawford bereit gewesen war, sein Leben für den Telekineten zu opfern, war es vermutlich andersherum genauso. Wie ähnlich waren sie sich doch, in ihrer Loyalität und Angst und in ihren schlechten Erinnerungen an Ereignisse, die sie traumatisiert hatten. Doch konnte es sich Omi leisten, Mitleid zu haben? Jetzt, hier, im Angesicht der Schwarz, wo er Stärke demonstrieren musste? Er wollte es nicht, schon gar nicht dem Telekineten gegenüber. Sich für das Kommende stählend, trat er in den Raum und setzte sich an den Platz, den er so ruckartig verlassen hatte. Interessant, wieviel sein Gespräch mit dem Telepathen und das Verhalten des Telekineten doch ausmachten, wenn es um seine Angst und seine Fähigkeit, den Menschen hinter dem Monster zu sehen, ging. Wenn Omi geglaubt hatte, dass der Telekinet sich dazu bequemte, sich wieder auf seinen Platz zu setzen, dann täuschte er sich gründlichst. Im Gegenteil. Der Schwarz blieb ihm verborgen unter dem Schreibtisch und nach einer Viertelstunde wurde es Omi schließlich zu bunt. Sie waren hier, weil sie einen Auftrag hatten. Auch ihm schmeckte dieser Keller nicht, auch ihm fehlte das Tageslicht, doch er würde keine unsinnige Zeit damit vertrödeln, die Arbeit von zweien alleine zu machen oder einem erneuten Ausbruch beizuwohnen. Mit Bedacht löste er seine Hände von der Tastatur und legte sie in seinen Schoß. Nachdenklich starrte er den Bildschirm an und überlegte, ob das, was er vorhatte, mit seinem Tod oder einer nennenswerten Verletzung enden würde. Er kam zu dem Schluss, dass er so oder so keine Wahl hatte, so hoffte er, und erhob sich nach einem letzten, kurzen Zögern. Wortlos überbrückte er die kurze Distanz zu dem Schreibtisch des Anderen und packte Naoes Oberarm, zog den Telekineten daran unter dem verkabelten Tisch hervor, schleifte den viel zu leichten Schwarz über die kalten Fliesen. Die grauen, erschrockenen Augen harmonierten gut mit seiner eigenen Verwunderung über den Umstand, dass Naoe so mit sich umspringen ließ. Genugtuung war es im ersten Moment, die er darüber fühlte, im Zweiten jedoch war es etwas, das sich verdächtig nach Mitleid anfühlte. Wenn er es genau nahm, hatte der Schwarz ihm in all ihren Zusammentreffen der letzten Zeit nie wirklich etwas getan, die Tortur der Heilung außen vorgelassen, für deren Schrecken Omi immer noch keine passenden Worte, dafür aber umso schlimmere Alpträume fand. Er ließ sich Zeit, seinem Gegenüber in die Augen zu starren und den Telekineten stumm herauszufordern, erneut seine Kraft auf ihn wirken zu lassen. Er ließ sich Zeit, während er darüber nachdachte, wie sehr sich doch das Kräftegleichgewicht zwischen ihnen verschoben hatte und dass er eben diesen Umstand ebenso wenig favorisierte wie die sonstige Überlegenheit des Schwarz. „In diesem Zustand bist du zu nichts zu gebrauchen, Naoe“, richtete er in kühler, objektiver Analyse an sein Gegenüber, dessen Adamsapfel gequält auf und ab hüpfte, als er schluckte. Omi stellte fest, dass er die Verzweiflung des Anderen ebenso sehr hasste wie dessen Überheblichkeit und dass er sich das garantiert nicht antun würde. „In diesem Zustand können wir vernünftige Ergebnisse vergessen.“ Omi schnaubte abwertend und zog an dem gefangenen Arm, als der Schwarz immer noch schwieg. „Hoch mit dir.“ Wenig überraschend weigerte sich Naoe, seinem kalten Befehl Folge zu leisten und ruckte an seinem gefangenen Arm. Ohne Erfolg, jetzt, da er es ohne Zuhilfenahme seiner Gabe versuchte. Ein Eingeständnis an sein vorheriges Handeln? Omi vermutete es. „Lass mich“, entkam es tonlos den schmalen Lippen und Omi hob die Augenbraue. „Ich denke nicht dran.“ „Wieso?“, fragte Naoe rau. Ja, das war in der Tat eine gute Frage. Wieso kümmerte er sich und ließ Schwarz nicht einfach Schwarz sein, mit all ihren Problemen, die sie auf die finale Katastrophe zusteuern ließen? Das würde viele seiner Probleme vielleicht endgültig lösen Doch Omi wusste bereits jetzt, dass sich ebenso viele Probleme dadurch auch nicht lösen ließen. Seine Alpträume, wenn er an das Offensichtlichste dachte. „Dein Handeln in diesem Moment ist weder effizient noch effektiv und trägt nichts dazu bei, die Zielperson in der nächsten Zeit aufzuspüren und zu eliminieren. Die Frage nach den Hinderungsgründen ist dabei überflüssig, da sowohl du als auch ich wissen, wo dein Problem liegt.“ Naoe schnaubte verächtlich, argumentierte jedoch nicht dagegen. „Deswegen werden wir jetzt nach oben gehen.“ Die grauen Augen konnten noch viel weiter werden. „Nein, Crawford hat…“ „…dir sicherlich nicht gesagt, dass du dich unter dem Schreibtisch verstecken und nicht mehr hervorkommen sollst, wenn dieser Raum ohne seine Fenster und mit seinem grellen Licht dir zuviel wird.“ Das Zusammenzucken, das selbst in dem gefangenen Arm spürbar war, gab Omi Recht mit seiner Annahme. „Du kommst jetzt mit nach oben und wir machen Pause und zwar solange, bis du in der Lage bist, hierhin zurück zu kehren.“ „Nein! Ich kann das nicht. Es sind nur sechs Wochen.“ Das Flehen, welches in der sonst so emotionslosen Stimme mitschwang, berührte Omi wider Willen und besseren Wissens. Trotzdem ließ er sich von seinem Vorhaben nicht abbringen. „Deine Hobbys?“, fragte er gerade so, als hätte Naoe rein gar nichts gesagt und wurde zunächst mit überraschtem Schweigen belohnt. Omi fragte sich ernsthaft, ob der Schwarz neben der Erfüllung seiner Aufträge überhaupt Freizeit hatte oder ob er nur dieses Leben kannte. So sehr, wie dieser nach einer Antwort suchte, die ihm offensichtliches Unbehagen bereitete, war dem wohl nicht der Fall und Omi hob die Augenbraue. „Deine Hobbys, Naoe“, wiederholte er, ungeduldiger dieses Mal. Erneut schluckte der Schwarz, während seine Halsschlagader unter dem heftig pochenden Herzschlag unter der blassen Haut hervortrat. „Das spielt keine Rolle. Das geht dich nichts…“ Weiter kam Naoe nicht, als Omi ihn angrollte. „Interessiert mich nicht, Naoe. Deine verdammten Hobbys, Naoe!“ Omi hatte nicht geglaubt, dass er mit ihrer absurden Diskussion um die Freizeitaktivitäten des Telekineten Erfolg hatte. Im Leben hätte er damit gerechnet, dass dieser ihm eine Antwort geben oder auch nur zulassen würde, dass dieser sich unter Druck setzen ließ. Doch Naoe schluckte exakt dreimal, bevor er den Mund aufmachte und abfällig schnaubte. „Deine Netzaktivitäten beobachten.“ Omi erwiderte den kalten Blick ungläubig. „Verarschen kann ich mich alleine, Naoe, und insbesondere brauche ich das nicht, wenn du letzten Endes auf meine Mithilfe angewiesen bist. Also. Konsolenspiele?“, hakte er nach und ertappt sah der Schwarz zur Seite. Natürlich. Hätte er sich auch vorher denken können. Aber gut. Das war doch schonmal etwas. „Dann werden wir jetzt genau das tun. Nach oben, los.“ „Ich werde nicht…“ „Nach oben.“ „Der Auftrag…“ „Wie willst du deinen Auftrag erfüllen, wenn deine Kraft das ganze Gebäude einstürzen lässt und es dieses Mal tatsächlich schaffst, deinen Anführer umzubringen?“ Das brachte ihm Hass ein, unbändigen, hilflosen Hass, dem Omi zumindest äußerlich ruhig und gelassen begegnete. „Ab nach oben mit dir, Naoe. Wir machen Pause, danach sehen wir, ob du es schaffst. Wenn nicht, machen wir weiter Pause.“ „Wir haben nur sechs Wochen Zeit um-“ Omi runzelte sturmgeweiht die Stirn und bohrte seinen Blick in die grauen Augen des gegnerischen Taktikers. Er sah viel darin, allen voran Verzweiflung und Angst hinter der Fassade der Gleichgültigkeit. Wenn er ehrlich war, hatte er nicht gedacht, dass Naoe zu solchen Emotionen fähig war und es machte ihn jetzt beinahe ebenso unsicher und hilflos wie zu dem Zeitpunkt, als der Schwarz sich Zutritt zu seinem Zimmer verschafft hatte um sich seine Kleidung zurück zu holen. Damals hatte sich auch noch Angst unter seine Emotionen gemischt, die war nun dankbarerweise hinter der Wut zurückgeblieben und ließ ihn klar und logisch handeln. Auch wenn es weder logisch war, den Schwarz zu berühren, ihn nach seinen Hobbys zu fragen und den Entschluss zu fassen mit ihm zu spielen, so war es doch logisch, dass Omi Ruhe und Produktivität in einen dysfunktionalen Teil eines Gefüges brachte. Gefüge. Er runzelte die Stirn. Gefüge war ein schönes Wort für das, was sie hier vor sich hatten. Es war logisch, dass er die Rolle des Stabilisators übernahm, wenn der Erfolg der Mission gefährdet war. Mit grimmiger Entschlossenheit wartete er, bis sich Naoe seinem stummen Willen fügte. Sollte Crawford doch kommen. Sollte er doch unter Beweis stellen, dass er ach so friedlich war und versuchen, den Telekineten mit Gewalt wieder in den Keller zu zwingen, den Omi nun auf die Couch dirigierte und ihm einen Controller in die Hand drückte. Beinahe augenblicklich ließ er sich vom grellen, warmen Tageslicht, das ihn flutete und ihm nicht den Eindruck vermittelte, unter Tonnen von Schutt und Asche begraben zu sein, beruhigen. Naoe sah zwar noch lange nicht so aus, als würde er seinem Beispiel folgen wollen, aber sie standen ja auch noch ganz am Anfang. Wollten sie doch mal sehen. ~~**~~ Youji wusste nicht genau, warum er immer noch in dem Durchgang außerhalb des Blickfeldes der beiden jüngsten Anwesenden verharrte und ihnen dabei zusah, wie sie auf dem überlebensgroßen Fernseher irgendwelche Spiele spielten, deren Sinn Youji verborgen blieb. Wenn er es sich ehrlich eingestand, war seine Sorge in diesem Moment nicht bei Omi, der mit grimmiger Entschlossenheit vor dem Fernseher saß und trotz seiner jahrelangen Erfahrung einen wirklichen harten Kampf auszufechten hatte. Sie war bei dem jüngsten Schwarz, der bleich und verschlossen neben Omi saß und auf dessen Befehl geradezu gehorsam den Controller bediente, als wäre er eine Marionette. Eine schlecht gelaunte Marionette, die Omi pointiert ignorierte, aber eine Marionette. Das führte Youji zum Einen zu der Frage, warum Naoe ihrem Jüngsten gehorchte, zum Anderen war es ihm aber auch schleierhaft, was Omi mit seiner Initiative bezweckte. Fragen wollte er weder den Einen noch den Anderen, also blieb er im Verborgenen stehen und machte sich sein eigenes Bild. Zumindest solange, bis die Tür vom Büro des Nicht-Amerikaners aufging und dieser den Flur betrat. Mit stummer Verachtung kam Crawford zu ihm und Youji kam nicht umhin, sich ein weiteres Mal über die legere Kleidung des Schwarzanführers zu wundern, die dieser anscheinend hier und jetzt seinen Anzügen vorzog. Wäre da nicht der vernichtende Gesichtsausdruck in seinen Augen gewesen oder die abweisende Haltung ihm gegenüber hätte Youji tatsächlich an so etwas wie Heimeligkeit geglaubt, auch wenn er sich sicher war, dass Crawford sicherlich viel von seiner Mutter geerbt hatte, aber nicht die Fähigkeit, ein Zuhause zu erschaffen. Wenn alleine schon die simple Geste des Cornpops auf den Tisch Stellens wie eine Drohung aussah, dann wollte Youji nicht wirklich wissen, wie es im Hause Schwarz zuging. Besagter Despot hielt neben ihm inne, als auch er einen Blick ins Wohnzimmer warf und anscheinend nicht vorhergesehen hatte, welches Bild ihn dort erwarten würde. Das verschaffte Youji nur latente Befriedigung und er hielt das Orakel in dem Moment zurück, in dem dieser sich mit einem Stirnrunzeln an die beiden Spielenden wenden wollte. Dass die Hand, die er auf den Oberarm des Schwarz legte, mit einem unmerklichen Zusammenzucken quittiert wurde, darauf war Youji allerdings nicht vorbereitet gewesen. Stumm maß er Crawford, bevor er knapp in die Richtung der Küche nickte, in der sich momentan niemand befand. Und tatsächlich geschah das Undenkbare. Auch wenn er gemustert wurde wie eine lästige Fliege, so folgte Crawford seinem Wink. Was war das doch für ein Fortschritt zu ihrem letzten Treffen, befand Youji selbstironisch. Die Mission. Ihr Gespräch. Die Entführung von Omi und Aya direkt darauf. „Was kann ich für dich tun, Kudou?“, fragte eben jener Mann triefend lakonisch und lehnte sich an die Anrichte der Küchenzeile. Weit genug von ihm entfernt mit dem Rücken zur Wand, bemerkte Youji. Auch die Hände des Orakels waren weit davon entfernt, entspannt zu sein. „Lass die beiden in Ruhe.“ Fragend hob sich eine Augenbraue und Crawford verzog seine Lippen zu einem bitterbösen Lächeln. „Das letzte Mal, als ich nachgesehen habe, war ich noch der Anführer von Schwarz. Wenn du den Posten haben möchtest, musst du, so befürchte ich, an Schuldig vorbei, der bereits seit Jahren erfolglos darauf giert. Insofern es dir möglich sein sollte, meinem Leben ein Ende zu setzen.“ Youji beschloss, die unsinnige und unnötige Provokation zu übergehen. Hier ging es um etwas Wichtigeres. „Omi hat ihn anscheinend dahin gesetzt und das wird er nicht aus einer Laune heraus getan haben.“ „Mich interessieren die Gründe Bombays nicht.“ Youji lächelte schmal. Das war also das Orakel, das Aya gerettet hatte. Wie so oft fragte er sich, aus welchem Grund das geschehen war. Crawford war alles andere als ein rettenswerter Mensch, befand Youji. ~Habe ich ihn auch schon gefragt. Also Fujimiya. Eine richtige Antwort konnte er mir darauf nicht geben.~ Schuldig wieder, als hätte er nichts Anderes zu tun, als in seinen Gedanken zu hängen und jeden einzelnen Strang zu verfolgen. ~So viele sind das nicht, das ist also eine recht kurzweilige Geschichte.~ Youji kehrte schnaubend zurück in die Gegenwart. „Vielleicht interessiert es dich aber, wie dein Telekinet aussieht. Ich zumindest sehe eine Verbindung zwischen beidem.“ Crawford würdigte das keiner Antwort, sondern drehte sich halb zur Spüle und nahm eine der Tassen, die dort standen, um sie unter den Vollautomaten zu stellen und diesen laut tönend eine Tasse schwarzes Gold produzieren zu lassen. Youji nahm sich die Zeit und nutzte die Gelegenheit, den Mann genauer in Augenschein zu nehmen, der Omi an den Rand des Todes geprügelt hatte. Natürlich wallte Hass in ihm hoch, eisiger, brennender Hass, wie immer, wenn er an die abgehackten und panischen Worte ihres Taktikers dachte, mit denen er ihnen erzählt hatte, was geschehen war. Wenn er an die Alpträume dachte, die Omi schreiend hatten aufwachen lassen die letzten Tage und Wochen. „Warum?“, stellte er zwischen sie und Crawford drehte sich langsam zurück. „Warum was?“ „Warum sollte ich dich nicht bis zur Unkenntlichkeit verprügeln für das, was du Omi und Aya angetan hast?“ „Vermutlich, weil ich dir vorher jeden Knochen in deinem Körper brechen würde“, mutmaßte Crawford und nahm einen tiefen Schluck. Youji sah, wie dabei minimal seine Hand zitterte. Schweigend wartete er auf eine richtige Antwort, die natürlich nicht kam. „Wieso hast du das getan?“ „Was von all dem?“ „Omi fast zu Tode geprügelt. Aya entführt und ihn für dich arbeiten lassen?“ „Weil ich eine falsche Entscheidung zu Lasten einer falschen Person getroffen habe. Und weil du es mir so flehentlich angetragen hast, deinen Anführer doch vor Birman zu schützen.“ Insbesondere der letzte Satz glitt problemlos in die Süffisanz ab, die Youji so sehr an dem Schwarz hasste, auch wenn er sich davon nicht täuschen ließ. Crawford schien ihm nicht der Mann zu sein, der sich Schwächen eingestand und doch gab er zu, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Er hätte alles sagen können, doch er hatte sich ausgerechnet dafür entschieden. Das machte die Wut, die Youji empfand, nicht kleiner, aber es milderte erstaunlicherweise den Hass. „Und Aya? Hast du ihn ebenso gefoltert wie Omi auch?“ Das Orakel würdigte seine Frage zunächst keinerlei Antwort, sondern starrte nur nachdenklich aus dem Küchenfenster. Erst, als Youji ebenfalls einen Blick hinauswagte, sah er, was oder vielmehr wer die Aufmerksamkeit des Orakels hatte einfangen können. Überrascht hob er die Augenbrauen und kam nun ungeniert neben Crawford, dem es augenscheinlich überhaupt nicht passte, was dort draußen, außerhalb seiner Hörreichweite, geschah. Abrupt löste sich der Schwarz von dem Anblick und brachte mit einem Schritt Abstand zwischen sie beide. Schweigend leerte er seine Kaffeetasse, dann wandte er sich erneut an Youji. „Frag ihn selbst.“ „Weiß er denn noch, was du ihm angetan hast?“, fragte Youji und konnte das dunkle Lächeln nicht verbergen. „Oder hast du ihm durch Schuldig seine Erinnerungen löschen lassen?“ Spannend, wie schnell er Wut in den Augen des Schotten aufflammen sah. „Ich habe nichts dergleichen getan“, machte sich eben diese auch in den gepressten Worten bemerkbar und Youji hob die Augenbraue. Crawford verneinte seine Frage gerade mit dem Bisschen Zuviel an Vehemenz, als dass es unauffällig gewesen wäre. „Weil er dich stabilisiert“, stellte Youji fest, ohne es wirklich als Frage zu formulieren. Einen anderen Grund konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. „So hat jeder seine Bestimmung“, winkte Crawford kühl ab. Youji hob überrascht die Augenbraue und ließ den Satz des Schwarz auch in seinen Gedanken verklingen, bevor er überhaupt zu einer Antwort ansetzte. „Bestimmung, ja? Ist es das, was dich an ihn bindet?“, fragte er und sah in den hellbraunen Augen keine Sekunde später dämmernde Erkenntnis, die ihm bereits jetzt den noch frühen Tag versüßte. Mit einem letzten Blick auf den Schwarz verließ er die Küche und machte sich daran, den Fitnessraum zu erkunden, der ihnen durch die Rosenkreuzagentin angepriesen worden war. ~~**~~ So Aya denn gedacht hatte, dass es ihm mittlerweile zur Gewohnheit werden würde, dass er sich in der Gegenwart der Schwarz befand, so sehr hatte er sich letzten Endes getäuscht. Die Spannung, die bereits nach dem Aufstehen zwischen den beiden Teams geherrscht hatte, war nicht zu vergleichen gewesen mit der Anspannung, die er alleine in der Anwesenheit der Schwarz empfunden hatte. Mochte es die Verantwortung für sein Team sein oder aber die veränderten Umstände, denen sie alle unterworfen worden waren durch die Entscheidung Persers, beides zog und zerrte an ihm, gepaart mit den dunklen Erinnerungen und Gedanken an die letzte Zeit. Und so hatte er das getan, was ihm in der Vergangenheit immer geholfen hatte, seine aufgewühlten Gedanken zu beruhigen und zu ordnen. Er hatte mit seinem Katana die Weite außerhalb des Hauses gesucht und nun Stunden damit verbracht, seine Übungen wieder und wieder und wieder durchzugehen, bis er durch ihre präzise Eintönigkeit Ruhe erlangte. Konzentration auf das Wesentliche außerhalb der Schwarz und Weiß. Wie immer halfen sie ihm, zu sich und seiner innersten Mitte zu finden, um dort die stoische Ruhe zu kultivieren, die ihm selbst über seinen Hass auf Takatori hinweggeholfen hatte. Über die Alpträume, die ihn manchmal plagten. Über die Zweifel, ob seine Schwester jemals wieder aufwachen würde und die Zweifel, ob er den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Youji hatte ihn einmal gefragt, warum er sich ausgerechnet das Schwert ausgesucht hatte um zu töten. Warum keine Schusswaffe, warum so etwas Schwieriges aber gleichzeitig auch Blutiges? Damals hatte Aya mit den Schultern gezuckt und hatte es auf den Kendounterricht aus seiner Kindheit und Schulzeit geschoben, den er erhalten hatte, als seine Eltern noch lebten. Doch das war nur ein Teil der Wahrheit und der weitaus größere Teil beschäftigte sich damit, dass er es genoss, seine Klinge in das weiche, nachgiebige Fleisch seiner Zielpersonen zu bohren, vorbei an den Knochen präzise genau an die richtige Stelle. Es war für ihn eine raue, ursprüngliche Art zu töten, eine Kunst, die er beherrschte und die ihm Ruhe und Befriedigung vermittelte. Aya atmete tief durch und senkte das Katana, als er mit der letzten Übung fertig war. Mit sich und der Welt im Einklang wischte er sich den Schweiß von der Stirn und atmete tief durch. Gerade jetzt war er nur er selbst. Ohne Hass, ohne Zorn, ohne Verwirrung oder Verzweiflung und Zweifel. Nur er. „Fujimiya-san.“ Seine ruhigen Gedanken teilten ihm mit, was er über die Person wissen musste, so lauschte er der weiblichen Stimme, die sanft und dennoch akzentschwer seinen Namen aussprach. Sie befand sich hinter ihm und so neigte er den Kopf leicht über seine Schulter. „Crawford-san“, entgegnete er und amüsierte sich einen Moment lang selbst über die höfliche Anrede, die er ihrem Sohn vom ersten ihrer Zusammentreffen an nicht zugestanden hatte. Doch bei ihr war etwas Anderes. „Ich möchte Sie etwas fragen, Fujimiya-san. Darf ich?“ Selbstverständlich verdiente sie den Respekt, den er ihr entgegenbrachte. Schweigend nickte Aya und lauschte ihren näherkommenden Schritten auf dem Gras. Ungleich Schuldigs aufdringlicher Art ließ sie nie erkennen, dass sie eine Telepathin war. Sie bevorzugte mündliche Kommunikation über das gedankliche Wort. Sie spottete nicht, so wie es der Deutsche tat. Das Amüsement über die Gedanken der Anderen war jedoch in beiden Augenpaaren gleich. Aya vermutet, dass es an ihrer Gabe lag, die ihr selbst die Gedanken der Menschen öffnete, die sich die Meisten nicht eingestanden. Sie trat neben ihn und sah auf das Meer unterhalb der Klippen hinab, dessen Rauschen selbst hierher drang. „Wann haben Sie aufgehört, ihn zu hassen?“ Die Frage erwischte ihn auf kaltem Fuß und überrascht maß er die kleinere Frau, deren Züge er beinahe als freundlich und warm bezeichnen würde, wenn er sie nicht schon anders gesehen hätte. Neben ihm stand die Frau, die ihren eigenen Sohn hinrichten würde, wenn er nicht den Vorstellungen ihrer Organisation entsprach. Sie war alles andere als harmlos, warm und freundlich. Aya blinzelte verspätet. Er wusste, wen sie meinte. Wie konnte es auch anders sein? „Habe ich das?“, stellte er die kühle Gegenfrage und eine erhobene Augenbraue begegnete seiner allzu offensichtlichen Lüge. „Ist es Hass, der Sie ihn hat retten lassen beim ersten Mal? Ist es Hass, der Sie ihm hat Kaffee mitbringen lassen in dem Krankenhaus Ihrer Organisation? Ist es Hass, der Sie sich sorgen lässt?“ Aya schüttelte den Kopf, wollte verneinen, doch die Hand auf seinem Oberarm hielt ihn davon ab. Fragend sah er auf die zierlichen Finger hinunter, ließ seinen Blick dann zu ihren ernsten Augen gleiten. „Sie müssen mich nicht anlügen wie all die Anderen.“ Überrascht zuckte Aya. Der ungewohnte Körperkontakt wurde ihm um ein Vielfaches bewusst und er entzog ihr seinen Arm, sich mit einem Mal unwohl fühlend mit der Berührung. Warum konnte sie es nicht bei dem belassen, was es war: eine Zusammenarbeit zwischen gegnerischen Gruppen zum Zweck, einen gemeinsamen Feind zu vernichten. Warum musste sie es auf die persönliche Ebene ziehen? „Weil es sich schon lange nicht mehr auf einer reinen Arbeitsebene befindet und es niemals nur unpersönlich war.“ Die Erkenntnis dessen, laut und so schrecklich neutral ausgesprochen, ließ Aya seine Augen abwenden. Das Meer war eine willkommene Abwechslung und locker verschränkte er seine Arme vor der Brust, das Katana immer noch in beruhigendem Griff. Wie als ob die Rosenkreuzagentin die hart erarbeitete Entspannung einfach so beiseite geschoben hätte, schwelten Emotionen tausendfach in ihm. Wut und Hass auf Crawford, weil er das hatte, was er ihm genommen hatte: eine Familie, liebevoll und besorgt. Unsicherheit, weil er ein Gespräch führte, was er niemals gedacht hatte, führen zu müssen und alleine der Gedanke daran vollkommen absurd schien. Angst, weil es sie war, die das Gespräch mit ihm führte und weil sie die Mutter desjenigen war, an dem er sich beinahe ebenso ausgelassen hätte wie Lasgo auch, wenn er nicht zur Besinnung gekommen wäre. Er fühlte Irritation, weil er nicht wusste, wohin sie wollte mit diesem Gespräch. Aya atmete tief ein und straffte sich. Er wandte sich nun doch ihr zu und sah ihr ernst in die Augen. „Schuldig hat gelogen. Ich bin in keiner Beziehung mit Ihrem Sohn verbunden.“ ~Ist er nicht attraktiv für Sie?~ Überrascht zuckte Aya zusammen, als ihre Gabe in ihn drang und sich soviel anders anfühlte als Schuldigs Telepathie. Sanfter, flüssiger, einvernehmlicher, wenn er es so beschreiben wollte. Erst dann wurde er sich ihrer Frage bewusst und stolperte gedanklich über das, was sie implizierte. Aya grollte angesichts des reinen Gedankens daran. ~Wir sind Feinde.~ ~Das Eine schließt das Andere nicht aus, wie sie durch Ihr Handeln bei Lasgo bewiesen haben. Dort war er attraktiv genug, dass sie versucht haben, sich ihm aufzuzwingen.~ Die Sanftheit ihrer Gedanken konnte keinen einzigen Moment darüber hinwegtäuschen, dass sie ihn jede Sekunde für sein schändliches Tun in der Luft zerreißen würde. Aya wich das Blut aus den Wangen und er vermochte nichts Anderes zu tun, als sich dieser Frau zu offenbaren, die bis in sein verdorbenes Innerstes schauen konnte und das in diesem Moment auch sicherlich tat. Sie würde sehen, was er schändlicher und unverständlicher Weise getan hatte. Sie würde miterleben, was er zu ihrem Sohn gesagt hatte. Er war doch nicht besser als Lasgo gewesen und so stellte sich Aya unweigerlich die Frage, ob er nicht genauso Schuld daran hatte, sollte Crawford am Ende der sechs Wochen versagen, die ihm als Frist gestellt worden waren. Wie selbstverständlich es ihnen berichtet worden war, was Rosenkreuz mit ihren Agenten zu tun gedachte, die nicht in der Lage waren, ihre Aufgaben zu erledigen. Unwillkürlich fragte Aya sich, wie Kritiker mit solch einem Fall umgingen, doch hatte er nicht bereits ein Beispiel dessen auf der Hand? Omi, der die beste, medizinische Versorgung erhalten hatte. ~Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist~, erwiderte er ehrlich und schluckte schwer. In ihren Augen war jegliche Wärme verschwunden und so musste er tatsächlich den Blick abwenden, weil er es nicht mehr ertrug, ihr ins Gesicht zu sehen. Das brachte nichts, rein gar nichts, denn ihre Gabe wurde mit jeder Sekunde erdrückender und zerstörerischer, wie sie subtil auf ihn wirkte. Dann fiel sie abrupt von ihm ab und ihren Lippen entwich ein Laut der Überraschung. Zu seinem Entsetzen runzelte sie die Stirn und richtete für einen Augenblick ihren Blick in die Ferne, bevor sie zu ihm zurückkehrte. ~Sie sind sehr anständig, Fujimiya-san~, erwiderte sie gänzlich ohne Ironie, dafür so kryptisch, dass es alleine deswegen Aya kalt den Rücken hinunterlief. Woher kam dieser plötzliche Umschwung? Denn anständig, war nicht das Wort, das er jemals für sein Verhalten bei Lasgo wählen würde. Ganz und gar nicht. ~Worauf wollen Sie hinaus?~, fragte er stirnrunzelnd. ~Darauf, dass Sie es nicht ausgenutzt haben und es nicht ausnutzen werden.~ Als wenn diese Erklärung es besser machen würde. Ihre Gedanken waren keine Vermutung, auch keine Frage. Sie waren eine reine Feststellung von Tatsachen, gewürzt mit einer ordentlichen Drohung, die sacht unter den einfachen Worten mitschwang. Aya runzelte die Stirn. Sie antwortete ihm nicht, sondern wandte sich wieder zum Meer. „Es ist schön hier, mir gefällt es. Dieser Ort bringt Ruhe mit sich.“ Sein Instinkt riet Aya eindringlich davon ab, noch einmal zu dem Thema zurück zu kehren, also fügte der sich dem abrupten Umschwung. Eigentlich konnte er sich glücklich schätzen, dass sie ihn nicht dafür umbrachte, was er ihrem Sohn angetan hatte. „Ruhe vor dem Sturm“, erwiderte er anstelle dessen gepresst und die Rosenkreuzagentin nickte. Beinahe schon gutmütig ließ sie zu, dass der Wind ihre ungebändigten Locken durcheinanderbrachte. „In der Tat. Aber jeder Anwesende hier braucht diesen Moment des Verschnaufens und des Gewöhnens.“ Damit hatte sie gar nicht mal Unrecht. Sie alle waren von den letzten Wochen gezeichnet und erschüttert worden. Nichts, was geschehen war, ließ sich von heute auf morgen verarbeiten und vergessen. Wenn überhaupt. Vermutlich würde es immer ein Schatten über ihnen sein, der auf ihnen lastete. Was ihn gedanklich zu dem Mann brachte, der das alles zu verantworten hatte. „Wie wahrscheinlich ist es, dass Lasgo erneut entkommen wird?“ „So wahrscheinlich, wie Sie es wahrscheinlich werden lassen“, erwiderte sie kryptisch und ihre grauen Augen lächelten amüsiert, so als würde es hier nicht um ihren Sohn und die Dinge gehen, die ihm angetan worden waren. Hatte sie keinen Blick in seine Gedanken geworfen und gesehen, was Lasgo mit ihm gemacht hatte? War es ihr egal? Aya runzelte die Stirn und plötzliche Wut wallte in ihm auf. „Macht Ihnen das gar nichts aus? Sie haben Kinder. Eine Familie. Er ist Ihr Sohn. Trotzdem verurteilen Sie ihn zum Tod, weil er aufgrund von Geschehnissen, die er nicht beeinflussen konnte, die ihm aufgezwungen wurden und an denen er nicht Schuld ist, nicht klar denken kann. Wissen Sie Ihre Familie so wenig zu schätzen, dass Sie ihm das antun werden?“ Immer und immer lauter war er geworden, verzweifelter, unverständiger. Die Erinnerung an seine eigene Familie brannte sich in sein Blickfeld, Aya, seine Mutter, sein Vater. Sie alle waren ihm genommen worden von heute auf morgen wegen den dunklen Machenschaften eines korrupten Politikers, der nichts anderes als die eigene Habgier vor Augen hatte. Sein Leben war zerstört worden und er würde alles geben um seine Familie wieder zu sehen und das Gefühl einer Familie wieder zu spüren. Und sie trat das Ideal einer Familie mit Füßen. Dabei war es Aya egal, ob sie die Mutter seines Feindes war. Sie hatte eine Familie und diese zerstörte sie gerade. Dass es nicht das Klügste war, einer Auftragsmörderin, denn nichts Anderes war sie letzten Endes, Vorwürfe zu machen und vor Augen zu halten, dass sie ihre Familie dadurch zerstören würde, dass sie ihren Sohn tötete, wurde Aya erst mit einem Blick in ihre Augen bewusst, die ihn lächelnd und zu sanft musterten. Nichts in ihrem Gesicht deutete darauf hin, dass sie losschlagen wollte, nichts deutete auf die Wut hin, die sie ihm gegenüber empfinden musste. Trotzdem war es ein unangenehmes Prickeln, das sich langsam aber stetig Ayas Wirbelsäule hinauffraß und ihn trotz des warmen Wetters schaudern ließ. Die Hand, welche sein Katana hielt, zitterte unter der Anstrengung der Anspannung. Das Gefühl verging auch nicht, als ihre Finger schweigend über die in Brand gesetzte Haut seiner Wange strichen. Im Gegenteil. „Ich bedauere Ihren Verlust, Fujimiya-san. Ihre Eltern waren wundervolle Eltern, die Sie zu einem starken und loyalen Mann erzogen haben, der klare Prioritäten und ein nobles Ehrgefühl hat. Ihre Schwester ist ein wundervolles Mädchen und wenn sie ihre Augen aufschlägt, wird sie all die Mühe wert gewesen sein, die Sie in sie investiert haben.“ Erstarrt musterte Aya die kleinere Frau. Das war nicht das, was er erwartet hatte. Ganz und gar nicht. Hass, Wut, Schmerz, Zorn, das hatte er erwartet. Er hatte erwartet, dass sie ihn auseinanderriss mit ihren Fähigkeiten. Doch aufmunternde Worte…nein. Niemals hätte er das. Dieses Mal war es die Rückseite ihrer Hand, die über seine Wange strich. „Meine Familie ist mein Ein und Alles, Fujimiya-san. Ich liebe sie abgöttisch. Und dennoch habe ich eine Aufgabe und diese verlangt es, dass ich jener zum Wohl unserer Organisation gerecht werde.“ Sie ließ ihre Worte auch in seine Gedanken einsickern und er hielt ihren Blick, der immer noch zu ruhig war, als dass sich sein Instinkt oder aber das unangenehme Prickeln seine Wirbelsäule entlang beruhigte. Liebevoll schweifte ihr Blick über sein Gesicht und für einen Moment lang überlagerte das Gesicht seiner Mutter das der Telepathin. „Bereiten Sie dem Erbe Ihrer Eltern keine Schande, Fujimiya-san und beweisen Sie Verstand. Zweifeln Sie mich nie wieder an, wenn es um meine Familie geht. Mit keinem Wort.“ Aya schluckte trocken und wagte es nicht, sich zu bewegen. Selbst dann nicht, als ihre warmen Finger ihm eine der verschwitzten Strähnen aus dem Gesicht strichen. Sein Herz raste und seine Atmung ging schnell, so stark wallte Angst vor ihr in ihm hoch. Er sah nun, was ihm die ganze Zeit Angst bereitet hatte: es war die untrügliche und unerschütterliche Härte hinter ihrer Sanftheit gewesen, die nur darauf lauerte, einen Fehler zu bestrafen. „Habe ich Ihr Wort, dass Sie das Erbe Ihrer Eltern nicht mit Füßen treten?“ Er hätte wütend sein sollen, dass sie seine Eltern mit ins Spiel brachte, obwohl ihre Organisation für ihren Tod mitverantwortlich war. Doch er hatte keinen Mut für diesen Zorn und diesen Hass. Nur mit Mühe nickte er. Mit einem leichten, beschwingten Lächeln nahm sie das zur Kenntnis und wandte sich ab. „Sie dürfen gehen“, nickte sie in Richtung Haus und er gehorchte ohne zu zögern, ohne zu diskutieren, froh, dass er dieser Frau entkam. Frau…Exekutorin, Dämon in Menschengestalt. ~~**~~ Seitdem er alt genug war, gegen sie aufzubegehren, waren es immer stumme Blickduelle, mit denen sie ihre leichten Zwistigkeiten ausgetragen hatten. Ohne Frage hatte sie in seiner Kindheit die Meisten für sich entschieden, wenn er ehrlich zu sich war, sogar alle, doch seitdem er erwachsen geworden war, insbesondere, seit er Rosenkreuz‘ Akademie zum ersten Mal betreten hatte, war es jedes Mal ein knapper Sieg oder eine knappe Niederlage gewesen. So auch jetzt, auch wenn sie noch nicht so weit waren, von dem einen oder dem anderen sprechen zu können. Herausfordernd maß sie ihn und mit kühler Sturheit erwiderte er ihren Blick, das Glas Limonade, das sie ihm mitgebracht hatte, damit er es trinken konnte, ignorierend. „Es wird dir gut tun.“ „Ich habe keinen Durst.“ „Das ist gelogen.“ War es tatsächlich, aber es hatte seine Gründe. „Es ist kein Wasser.“ Als wenn sie ihn darauf noch aufmerksam machen musste. Natürlich war es kein Wasser, das roch er bis hierhin. Doch es war schon an guten Tagen schwierig, etwas Kaltes zu sich zu nehmen und gerade hatte er keinen guten Tag, wenn er es sich offen eingestand. Phantomschmerz strahlte von seiner Kehrseite aus in seinen Rücken, auch wenn Crawford wusste, dass es nicht sein konnte. Sein Körper hatte andere Baustellen, aber das sicherlich nicht mehr. Das machte ihn wütend und gereizt und so hatte er sich bewusst in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, insbesondere auch deswegen, um Nagi vor seinem ungerechten Zorn zu schützen, der ihn befallen hatte, als der Junge sich auch nach drei Stunden immer noch nicht wieder in den Keller begab. Es war ungerecht und unangebracht und er ahnte, warum Tsukiyono zu diesem Mittel gegriffen hatte. Er sah die Entspannung, die die Schultern des Telekineten endlich sinken ließ. Er sah die zur Ruhe kommenden Gesichtszüge, die nicht mehr darauf konzentriert waren, jedwedes Missfallen, das von ihm selbst kommen könnte, vorherzusagen, sondern die entspannt und doch angestrengt auf dem Bildschirm lagen, auf dem der Weiß und Nagi sich gerade prügelten. So hatte er die Einsamkeit gewählt. Bis seine Mutter kam. Und selbstverständlich ließ sie sich nicht vertreiben, im Gegenteil. „Probier sie, sie wird dir schmecken.“ „Du hast sie gemacht, ich muss sie nicht probieren um zu wissen, dass sie mir schmecken wird.“ „Ich habe eine neue Zutat hineingetan.“ „Dein Erfindergeist beeindruckt mich eins ums andere Mal.“ Wortlos hob sie die Augenbraue und wieder begaben sie sich in ein stummes Blickduell. Beinahe schon war er sicher, dieses Mal zu gewinnen, als sie sich auf der Kante seines Schreibtisches niederließ und der Ausdruck in ihren Augen nichts Gutes verhieß. Viel zu sanft war er. ~Er hat es nicht aus eigenem Antrieb getan.~ Crawford ließ sich von ihren Gedanken in den seinen ablenken und runzelte die Stirn. ~Wer?~ ~Ran Fujimiya. Er hat nicht aus freien Stücken versucht, sich dir aufzuzwingen.~ Stille trat zwischen sie und dieses Mal beschränkte sie sich nicht nur auf das gesprochene Wort. Jeder einzelne Gedanke in Crawford kam zu einem abrupten Halt, bevor er auch nur in der Lage war, den Sinn ihrer Worte zu verarbeiten. Als es ihm schlussendlich möglich war, blieb ihm nichts Anderes übrig, als ihr verständnislos in die Augen zu starren. Kopfschmerzen begannen hinter seiner Stirn zu pochen, als würde sich ein neuer Migräneschub ankündigen. Kopfschmerzen, die auf den Möglichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten beruhten, die ihre Aussage mit sich brachten. ~Wie meinst du das?~, gab er dem Unverständnis eine Stimme und sie lächelte grimmig. ~Ich habe die PSI-Spuren in den Gedanken des Weiß gefunden. Beinahe unsichtbar, aber bei genauerem Hinsehen durchaus zu erkennen. Ich habe es bei den Gedanken gefunden, die sich damit beschäftigen, was er dir angetan hätte, wenn du ihn nicht aufgehalten hättest und es scheint so, als hätte es zu diesem Zeitpunkt eine kurzfristige Beeinflussung gegeben, die exakt dann abgefallen ist, als er sich seiner Schwester besonnen hat, die für ihn ein starker, emotionaler Katalysator ist.~ Schweigend starrte Crawford seine Mutter an. Dass es sein konnte, wusste er nur zu gut. Ein Empath wäre mühelos dazu in der Lage, eine solche Beeinflussung vorzunehmen und sie zu verwischen, wenn er denn nur mächtig genug wäre. Dass es so gewesen sein könnte, brach Erinnerungen und vor allen Dingen Emotionen in ihm auf, die er vergraben geglaubt hatte. Fujimiya, der von sich selbst behauptete, dass er nicht gewusst habe, was in ihm vorgegangen sei. Fujimiya, dessen Bedauern und schlechtes Gewissen wie ein Neonreklameschild über seinem Kopf gehangen hatte. Fujimiya, dessen Bestrebungen, seinen Fehler wieder gut zu machen, sie beide zu dem Haus seiner Eltern geführt hatten. Ein Teil von ihm – eben jener, der Fujimiya als seinen Stabilisator benötigte – hatte die Entschuldigung schon längst akzeptiert. Nun zu hören, dass der Weiß tatsächlich unschuldig war, weil er beeinflusst worden war, war auf der einen Seite beruhigend. Auf der anderen Seite aber ließ es Crawford einen kalten Schauer über den Rücken gleiten. „In dem Café, in dem Lasgo mir aufgelauert hat, haben die restlichen Gäste keinerlei Reaktion gezeigt. So als wäre es normal gewesen, was dort passiert.“ Siobhan nickte grimmig. „Du solltest den Barista überprüfen lassen sowie die anderen Gäste, wenn du sicher gehen willst. Ich möchte wetten, dass ihr ähnliche Spuren finden werdet.“ Crawford schluckte. Er wollte die Frage nicht stellen, aber er musste. Er wollte nicht hoffen, nur damit diese zerstört wurde. "Nagi?", fragte er schlicht und wieder verlor sich ihr Blick in ihrer Gabe. Die Sekunden, bis die grauen Augen zu ihm zurückkehrten, waren schier endlos. Sie nickte stumm und Crawford wusste nicht, ob es nur Erleichterung war, die er fühlte, sondern auch bodenlose Wut auf ihre Zielperson. „Wer, Siobhan?“ Sie schüttelte den Kopf. „Es gibt nach Kenntnisstand unseres Ordens keinen unregistrierten Empathen.“ „Das bedeutet, wir haben Verräter in den eigenen Reihen?“ „Das ist zu überprüfen.“ „Die Kritikeragentin? Wurde sie auch beeinflusst?“ „Das herauszufinden wird meine Aufgabe sein.“ Crawford verfiel wieder in nachdenkliches Schweigen. Seine Gedanken fassten sich schneller, als er die halbgaren Pläne, die sein Hirn für ihn bereitstellte, ordnen konnte. Das waren keine guten Neuigkeiten, ganz und gar nicht. Und dennoch war ein Teil von ihm froh, dass es diese Neuigkeiten gab. Er konnte diesen zwar nicht genau beziffern, aber er vermutete, dass es eben jener war, der Fujimiya drei Tage in seinem Bett hatte schlafen lassen. Der mit dem Japaner Schach gespielt hatte. Der ihn sich hatte aus dem Wald heraustrauen lassen. Derjenige, der in Nagi doch unterbewusst seinen Ziehsohn sah. Instinkt, geboren aus etwas, das Schuldig ihm so amüsiert an den Kopf geworfen hatte. „Du solltest es ihnen sagen“, holte Siobhan seine Gedanken wieder zurück in die Gegenwart und Crawford sah zu ihr auf. Ihre Augen waren ernst und langsam nickte sie. „Sie haben die Wahrheit verdient.“ Ja, das hatten beide, Nagi und Fujimiya, so bitter es auch wahr, das zuzugeben. „Und Nagi solltest du ebenfalls sagen, warum du ihn geschlagen hast. Dass es Lasgo war, der dich in deiner Cafébar so aus dem Gleichgewicht gebracht hat, dass du deine Unbeherrschtheit an ihm ausgelassen hast.“ Grimmig löste Crawford seinen Blick von ihr und griff zu dem verdammten Limonadenglas. Er warf einen vernichtenden Blick auf die trübe Flüssigkeit darin und nahm einen vorsichtigen Schluck. Er war anders als gedacht und die Koriandernote tat der Zitronenlimonade wirklich gut. Darüber hinaus war es auch immer noch besser, als sich um Fujimiya und Nagi Gedanken zu machen. Tausendmal besser. ~~~~~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)