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Die Farbe Grau

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Disclaimer: alles nicht mir.

Eine kleine Warnung am Rand: insbesondere im letzten Abschnitt des Kapitels geht es etwas härter zu. Es rechtfertigt noch keine Gewalt-Warnung, aber wird durchaus thematisiert. Komplett anzeigen

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Ikarus

Das dumpfe Auftreffen von Fäusten auf das Leder eines Sandsackes hörte Aya, noch bevor er den Kellerraum betreten hatte. Ein rhythmisches Stakkato hallte durch den Flur und ließ ihn innehalten. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich nicht um den Amerikaner handelte, war gering. Farfarello befand sich oben in der Bibliothek und hatte sich mit dem Buch, das er just in dem Moment fertig geklebt hatte, in seine, wie es schien, Leseecke zurückgezogen. Aya hatte er unmissverständlich herauskomplimentiert und ihn somit dem deutschen Telepathen ausgeliefert, der fürchterlich singend durch das Haus gezogen war, anscheinend auf der Suche nach Naoe, der sich wie immer in den letzten Tagen in seinem Zimmer verkrochen hatte.
 

Auch wenn Aya musikalische Untermalung bevorzugte, war er vor den fremden, schiefen Worten und Tönen wie auch vor dem Pfeifen geflohen und hatte beschlossen, die von Crawford so charmant geforderte Fitness zu praktizieren. Dass er dabei gleich auf das Orakel treffen würde, hatte er nicht bedacht, was ihn unschlüssig vor der offenen Tür zum Fitnessraum stehen bleiben ließ. Aufmerksam ruhte sein Blick auf Crawford, der in dem Sandsack anscheinend ein lohnenswertes Ziel sah und regelrecht brutal auf ihn einprügelte.
 

Das Tanktop, was dieser trug, war nassgeschwitzt und Aya fragte sich, wie lange der Anführer von Schwarz wohl schon hier unten war und seine Muskeln trainierte. Denn dass dieser über eben jene verfügte, war nun unzweifelhaft… seltsamerweise unzweifelhafter als es bei Lasgo gewesen war und Aya runzelte die Stirn ob der Tatsache, wie sehr die äußeren Umstände seine Wahrnehmung des anderen Mannes doch beeinflusst hatten.

Crawford hatte nicht innerhalb von Wochen an Muskeln zugelegt. Den gleichen Körperbau hatte Aya schon bei Lasgo gesehen, viel unbedeckter und eindringlicher. Doch er hatte die tödliche und brutale Kraft, die in den Muskeln steckte, dort nicht so offen gesehen wie hier. Jeder Schlag, den Crawford tat, war dazu gedacht, einem Gegner das Leben aus dem Leib zu schlagen, präzise, zielgerichtet und entschlossen. Es gab noch nicht einmal eine Millisekunde des Zögerns, bevor die Faust auf das Leder traf.
 

Wieder und wieder und wieder. Aya wettete sein ganzes Vermögen darauf, dass der Sandsack in diesem Moment das Gesicht des Drogenhändlers trug.
 

Der Weiß folgte den Muskelsträngen in ihren Bewegungen. Der Stand des anderen Mannes passte sich automatisch an, ebenso wie die Drehung der Hüfte und der Schultern. Unter der legeren Hose zeichneten sich noch ganz andere Muskeln ab und Aya wandte den Blick ab, als er sich alleine bei dem Gedanken daran ertappte. Lieber kehrte er da zu den Hämatomen zurück, die unter dem Tanktop Crawfords hervorblitzten, und runzelte fragend die Stirn. Lasgo hatte ihm diese nicht zugefügt. Sie waren zu dunkel, als dass sie noch auf das Konto des Menschenhändlers gehen konnten. Ebenso passten die runden, roten Flecken zwischen ihnen nicht dazu, die er erst mit Verspätung als minimale Verbrennungen erkannte. Auch das hatte Lasgo nicht getan und Aya fragte sich, was in der Zwischenzeit wohl passiert sein mochte.
 

~Ist das deine kümmernde Seite, Fujimiya? Wie rührend.~

Aya zuckte zusammen und ärgerte sich keinen Moment später über sich selbst und über Schuldig, der seine Gedanken natürlich zum Anlass nehmen musste, sie zu kommentieren. Als hätte er nichts Besseres zu tun.

~Habe ich auch nicht, du Quell ewiger Frustration. Ich labe mich an deinem Unglück, das du mir so überbordend zur Verfügung stellst.~

Ja, das wusste Aya nur zu gut. Natürlich tat Schuldig das ausgiebig und ohne Gnade. Dort, wo es ihm passte und wo er konnte, kommentierte er Ayas Gedankengänge und ließ ihn eines ums andere Mal erkennen, dass er nicht mehr alleine war. Hatte Aya gedacht, dass das Ertragen dessen besser werden würde, so täuschte er sich. Mit jedem Eindringen wurde er unruhiger und ungehaltener, so als würde sich sein Geist gegen das Eindringen wehren. Er hoffte, das würde sich nicht noch weiter steigern. Oder Schuldig würde von ihm ablassen.

~Keine Chance, Weiß.~

Natürlich nicht.
 

„Gibt es einen Grund für dein Starren?“, durchschnitt die beneidenswert ruhige Stimme des Orakels seine Gedanken und Aya sah abrupt auf. Dunkel ruhte der Blick des Schwarz auf ihm, während er sich mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn wischte und vorsichtige Schlucke aus seiner mitgebrachten Flasche nahm, in der sich sicherlich alles, aber kein Wasser befand.

„Schuldig.“

Crawford schnaubte abfällig. „Es ist wenig zielführend, dass du dich von ihm derart ablenken lässt, Fujimiya.“

Wenig zielführend? Aya hob die Augenbraue ob der arroganten Feststellung. „Große Töne von dem Mann, der seine Schilde anscheinend noch nie aufgegeben hat.“

„Ich bin ja nicht lebensmüde, Schuldig Zutritt zu meinen Gedanken zu gewähren“, lachte Crawford und warf die Flasche wieder auf die nahegelegene Bank. „Mach dich warm, Fujimiya, ich will sehen, wie weit ich dich im Nahkampf gebrauchen kann.“
 

Aya wusste nicht so recht, was er von diesem allzu freundlichen Befehl halten sollte. Ein Kampf gegen Crawford? Nichts wäre ihm lieber, denn die Vorstellung, dem Amerikaner ein oder zwei oder gleich ein Dutzend Kinnhaken verpassen zu können, hatte wahrlich etwas für sich.

~Als wenn Ihr auch nur einen halben landen könntet, Eure Großkotzigkeit.~

~In Anbetracht der Tatsache, dass sich Crawford ansonsten nur traut, gefesselte Jungen zu schlagen, bin ich da guter Dinge.~

~Soll ich deine Bewegungsfreiheit ein wenig einschränken und dich im richtigen Moment lähmen, Weiß? Mache ich gerne, wenn du so weiter machst.~

Sich mit Crawford zu schlagen hatte definitiv seine guten Seiten, auch wenn Aya bereits jetzt ahnte, dass der Amerikaner ganz und gar nicht nachsichtig mit ihm sein würde. Sicherlich würde er mehr einstecken als er selbst austeilte. Doch ein paar wohlplatzierte Schläge…
 

Er löste sich aus seinen Gedanken und legte seine mitgebrachten Sachen auf die Bank, möglichst weit von denen des Schwarz entfernt. Crawford abgewandt dehnte und streckte er sich, wärmte seine Muskeln solange auf, bis er die Gefahr von Rissen und Zerrungen minimiert hatte.

Erst dann drehte er sich schweigend zu Crawford um, der ihn mit arrogantem Amüsement maß und ihm schon vor ihrem Kampf zu verstehen gab, wer von ihnen beiden als Sieger hieraus hervorkommen würde.
 

Wollten sie doch mal sehen.
 

Crawford deutete auf die Matte und Aya folgte dem Orakel. Das hier hatte er schon oft mit Ken und Youji, aber auch mit Omi praktiziert. Der Unterschied zu jetzt war ganz eindeutig, dass es ihm bei seinem Team nicht in den Fingern gejuckt hatte, seinen Opponenten zu töten.

„Regeln?“

„Keine“, erwiderte Crawford auf seine Frage und schlug zu.

Fast hätte Aya dem Schlag nicht ausweichen können. Fast hätte ihn dieser im Gesicht getroffen mit all seiner Wucht, wäre da nicht die verräterische Dunkelheit in den Augen des Orakels gewesen, die seine Absichten einen Bruchteil vor Ausführung angekündigt hatte. Ein schmutziges Training wollte Crawford also? Ohne Netz und doppelten Boden? Konnte er bekommen.
 

Beinahe schon vermeinte Aya das leise Klick zu hören, mit dem er eben jenen Hebel in seinem Kopf umlegte, der von Training auf Auftrag umschaltete. Die Welt um ihn herum verengte sich gänzlich auf seinen Gegner, stumm fixierte er ihn und die Bewegungen seiner Muskeln, die Aya kleine Hinweise darauf gaben, was Crawford als nächstes tun, wohin er schlagen würde. Sein Instinkt übernahm seine eigene Verteidigung, blockte, wich aus, wich zurück, taxierte und verwertete die erlangten Informationen für Ayas Strategie.
 

Natürlich hatte er schon mehr als einmal gegen Crawford gekämpft. Im Laufe der Jahre müssten es um die hundert Male gewesen sein, in denen sie sich geschlagen hatten, mal mehr, mal weniger erfolgreich. Und doch war es jetzt anders als die Male zuvor, auch wenn Aya nicht genau beziffern konnte, warum. Schließlich waren sie sich gleich nahe, sie blieben bei ihren gemeinsamen Abläufen und bei ihren jeweiligen Gewohnheiten. Sie schenkten sich rein gar nichts und doch war da weit mehr Emotion als vorher.
 

Omi war ein guter Katalysator, stellte Aya fest, aber kein guter Berater, als Crawfords Faust sich zum ersten Mal zielsicher in seinen Magen bohrte und ihn zusammengekrümmt zurücktaumeln ließ. Aya verzog das Gesicht vor Schmerz und fluchte unterdrückt, auch wenn er mitnichten die Zeit dafür hatte. Crawford setzte nach, bedrängte ihn und machte sich die momentanen Schwachstellen in seiner Verteidigung zunutze, während Aya sich mit Mühe auf sicheren Beinen hielt.

Erst, als er die Deckung des Amerikaners mit einem angetäuschten Schlag durchbrach und dessen Brustkorb in schmerzhaften Kontakt mit seinem Ellbogen brachte, hatte er sich etwas mehr Raum erkämpft.
 

Doch Crawford erholte sich schneller, als es ihm lieb war und sie gingen in die nächste Runde, durch die sie sich mittlerweile schwer atmend kämpften. Als Crawford ihn an seinen Haaren packte und daran zurückwarf, grollte Aya erbost.

„Das nennst du einen fairen Kampf, Arschloch?“, zischte er und blockte die darauffolgende Kombination aus Tritten und Schlägen mit sich schnell steigernder Wut.

„Ich wüsste nicht, dass deine oder meine Gegner fair spielen, Abyssinian. Hat man dir das bei Weiß nicht beigebracht?“
 

Aya antwortete nicht, sondern ging in den Angriff über, doch Crawford holte ihn mit einer gezielten und gekonnten Bewegung beinahe kinderleicht von den Füßen. Mit einem dumpfen Laut traf sein Rücken auf die Matte und für einen Moment sah Aya nur Sterne und vermisste seine Fähigkeit zu atmen sehr schmerzlich. Erst nach zwei Sekunden, in denen er sich instinktiv zur Seite gerollt hatte um einem weiteren Angriff zu entkommen, konnte er wieder Luft holen und seinen Rücken davon überzeugen, ihm weiterhin zu Diensten zu sein.

Aya revanchierte sich mit einer Beinkombination, die Crawford für einen Moment in die Knie zwang, aber unterm Strich wirkungsvoller hätte sein können.

„Kommst du mir jetzt mit einem ‚das ganze Leben ist unfair‘-Vortrag, Oracle?“, schnaufte Aya und wurde mit einem abwartenden Schnauben belohnt.

„Das Leben wartet eben nicht auf Prinzchen wie dich, Weiß“, wurde er reichlich sinnlos provoziert und Aya fühlte dunklen Humor in sich aufsteigen. Crawford wollte es schmutzig? Das sollte er bekommen.
 

Er kämpfte sich in die Höhe, lockte sie beide in Richtung der Bank und rollte sich bei dem nächsten Angriff ab. Im Hochkommen griff er sich seine Wasserflasche und öffnete den Drehverschluss, gleichzeitig ließ er Crawford so nahekommen, dass dieser in guter Reichweite war und schüttete dem Orakel das Wasser gezielt ins Gesicht mit Fokus auf den Mund.

Grinsend zog sich Aya zurück, als der Andere hustend und spuckend versucht, das ungeliebte Nass loszuwerden und seine Deckung für einen wichtigen Moment vollkommen aufgab.
 

Natürlich hätte Aya jetzt angreifen können, doch das wäre voreilig gewesen. Nein, wenn Crawford es unfair und dreckig haben wollte, so würde er dem Mann diesen Gefallen doch tun. Er würde es ihm schmutzig geben, ebenso widerwärtig, wie Crawford Omi behandelt hatte.

Langsam ließ er sich auf die richtige Entfernung zurückfallen, seine gesamte Muskulatur auf Angriff und Verteidigung programmiert.

„Wenn ich den Grund deiner Abneigung gegen Wasser erraten müsste, Oracle? Waterboarding. Eine unschöne Erfahrung, habe ich gehört. Zu ertrinken ohne wirklich zu ertrinken.“ Er griff an und nutzte die Lücken in der Verteidigung des ihn wütend musternden Orakels präzise eine nach der anderen aus. Schlag um Schlag, Tritt um Tritt trieb er ihn zurück an den anderen Rand der gepolsterten Fläche.

„Oder irre ich mich und ist es etwas Anderes? Hat er dich für jeden Schluck arbeiten lassen?“
 

Aya vermutete, dass es weniger seine Worte als eher die Betonung durch seine Stimme war, die Crawford von seiner arroganten Überlegenheit abkehren ließen und ihm eiskalte Mordlust schenkten. Beinahe schon vermeinte Aya zu hören, wie die eisernen Fesseln der Selbstbeherrschung zersprangen. Er konnte sich durchaus vorstellen, dass Crawford ihm mit seinen eigenen Zähnen die Kehle herausreißen würde, wenn Aya ihm die Gelegenheit dazu geben würde.
 

Was er nicht vorhatte.
 

Doch trotz seiner Wut, trotz der Unbeherrschtheit, gelang es Crawford, sie beide zu Boden zu werfen und ihren Kampf dort fortzutragen. Nicht, dass Aya etwas dagegen hatte, denn auch das hatte er so oft mit Ken trainiert, dass ihm die versteckten Winkelzüge des Bodenkampfes in Fleisch und Blut übergegangen waren und er keuchend, aber mit einem grimmigen Lächeln jeden Versuch des Orakels blockte, ihn unter seinem Körper zu begraben und seine Hände um seinen Hals zu legen. Was diesen nicht daran hinderte, ihn in einem unbedachten Moment bäuchlings auf den Boden zu pressen und Aya mit seinem eigenen Körper, der sich schwer auf ihn presste, dort gefangen zu halten. Eisern schlang sich der Arm des Amerikaners um seinen Hals und presste Aya daran an die Brust des Anderen.

Erstickt röchelte der Weiß und versuchte, sich von seinem Gegner zu lösen, doch mit wenig Erfolg. Eisern war Crawfords Griff, noch viel eiserner sein Bestreben, ihn genau da zu halten, wo er gerade war.

Einen Schritt von seinem frühzeitigen Ende entfernt.

Der Druck in seinem Kopf teilte ihm auf jeden Fall bereits unmissverständlich mit, dass es keine gute Idee wäre, noch länger in dieser Position zu verweilen und unwillkürlich fühlte sich Aya daran erinnert, wie Crawford ihn bei Lasgo beinahe zu Tode gewürgt hatte.
 

„Also ich weiß nicht, wie es euch beiden so geht, aber ich für meinen Teil bin mir gerade nicht sicher, was ihr beiden hier treibt. Versucht ihr euch umzubringen oder fickt ihr gerade miteinander?“
 

Aya blinzelte gegen den aufkommenden Schwindel an. Schuldigs Stimme, wenn er sich nicht irrte und die selbstgefällige, schadenfrohe Note in den hart akzentuierten Worten richtig interpretierte. Sex? Dass er nicht lachte. Das hier war meilenweit von allem entfernt, was er jemals als Sex bezeichnen würde.

Ein Gutes hatte Schuldig aber, auch wenn er den Teufel tun würde, das jemals zuzugeben. Crawford ließ von ihm ab und Aya konnte so zumindest wieder in Ansätzen richtig atmen. So schnell er konnte, drehte er sich aus der Reichweite des Amerikaners und versuchte, sich zumindest auf seine Knie emporzukämpfen.
 

„Was willst du?“, fragte Crawford und pures Eis glitt an der Oberfläche seiner Stimme, eine deutliche Warnung, es nicht zu übertreiben. Wie Aya auch verstand Schuldig anscheinend, dass dieser Moment ungeeignet war für weitere Späße dieser Art und faul grinste der Deutsche.

„Takatori will dich sehen. Jetzt sofort. Der Panda hat Sehnsucht.“

Aya konnte nicht verhindern, dass sich alles in ihm bei der Nennung des verhassten Namens zusammenzog. Ekel kroch in ihm hoch und er war über sich selbst angewidert, dass er sich überhaupt in diese Lage gebracht hatte, für den Mann arbeiten zu müssen, der seine Familie auf dem Gewissen hatte. Er hatte diese Dummheit zu verantworten, niemand anderes. Hätte er Crawford bei Lasgo einfach den Flammen überlassen, dann wäre das Ganze hier nicht passiert.

~Natürlich nicht. Gute Taten zahlen sich eben nicht aus, Weiß.~

So sehr Aya auch darüber fluchte. Schuldig hatte Recht.
 

„Schuldig, sei doch so gut und schule unseren Gast auf die Zusammenarbeit mit deiner Gabe während ich weg bin. Ich werde keine Friktionen zwischen euch bei unserem nächsten Auftrag dulden.“

Ayas Blick bohrte sich abgrundtief böse in den des Orakels. Natürlich war das die Rache für gerade, denn natürlich wusste Crawford um seine Aversion Schuldigs Gabe gegenüber. Dies hier war nichts Anderes als eine Geste der Dominanz. Natürlich würde Crawford das letzte Wort haben. Natürlich würde er die Zügel nicht aus der Hand geben.
 

~~**~~
 

Omi trat einen Schritt zurück und fluchte unterdrückt, noch bevor er das allzu bezeichnende Geräusch wackelnden Betons auf Holz hörte und er es in seinem Rücken wackeln spürte. Ruckartig drehte er sich um und hinderte die schwere Skulptur im Flur von Birmans kleiner Wohnung daran, auf den Boden zu fallen, zu zerschellen, die Nachbarn auf sie aufmerksam zu machen und die Agenten zu alarmieren, an denen Youji und er sich unten im Schutz der Nacht vorbeigeschlichen hatten.

Eisern hielt er das potthässliche Ding umklammert, das mit Mühe als moderne Kunst zu bezeichnen war und Omi war irgendwie dankbar darum, dass er in der Dunkelheit der Nacht nicht erkennen konnte, welche Farbe die Skulptur hatte.
 

Ein leises Lachen hinter ihm ließ ihn grollen – ebenso leise, verstand sich.

„Du möchtest es spannend machen, oder?“, flüsterte Youji und Omi verzog das Gesicht in der Dunkelheit.

„Kann ich wirklich drauf verzichten, Balinese“, murmelte er. „Hast du etwas gefunden?“

Youji schüttelte den Kopf. „Nichts. Keine kompromittierenden Unterlagen, keine Fotos, keine ausgedruckten Kontoauszüge, nichts. Sie hat ihre Arbeit noch nicht einmal mit nach Hause genommen. Hast du die Kopie ihrer Festplatte angefertigt?“

Omi grunzte bejahend, während er vorsichtig die Statue wieder an ihren angestammten Platz stellte und einen letzten, angewiderten Blick auf das Ding warf, bevor er sich Youji zuwandte.

„Ja, habe ich. Aber die fehlenden Informationen bedeuten nur, dass wir nicht wissen, wonach wir suchen sollen. Und wo wir suchen sollen.“

„Meinst du, sie hat noch ein verstecktes Büro?“

„Mit Sicherheit.“

Youji brummte frustriert.
 

Omi hatte mit Einlösung von ein paar Gefallen die Adressen von Birman und Manx erhalten und im Schutz der Dunkelheit hatten sie sich aufgemacht um in Birmans Wohnung einzubrechen. Vorbei an den Wache schiebenden, gelangweilten Kritikeragenten, hatten sie dank Youjis Vorliebe für schwer zu knackende Schlösser problemlos Zutritt zu der Wohnung erhalten und waren auch nach einer Stunde intensiver Suche auf nichts gestoßen.

Rein gar nichts.

Die Wohnung sah aus, als würde hier eine vollkommen normale, biedere Frau leben, deren langweiliges Leben sich nicht nur an den nichtssagenden Postern an der Wand widerspiegelte, sondern auch an den beinahe penibel geordneten Tassen und Schalen in ihrer minimalistischen Küche.
 

„Komm, lass uns gehen, Ken wartet sicherlich schon auf uns.“ Sie hatten ihren Freund im Unklaren darüber gelassen, wo sie hingegangen waren. Besser, er wusste von nichts, wenn sie hierbei erwischt wurden. Ken war vieles, aber kein guter Lügner und so konnte er ihren ganzen Plan mithilfe eines einzigen Gesichtsausdrucks oder eines unbedacht dahingesagten Kommentars zunichte machen. Das konnten sie sich erst leisten, wenn sie genug Informationen hatten, wer alles an dem Verrat beteiligt war.

Omi seufzte. Es tat ihm in der Seele weh, seinen Freund zu belügen und ihn mit halbgaren Wahrheiten abzuspeisen, aber es ging nicht anders.
 

Noch nicht.
 

Youji schnaubte neben ihm. „Wer stellt sich eigentlich so etwas Potthässliches in die Wohnung?“

Omi zuckte gequält mit den Schultern. „Gib sie ihr für das, was sie Aya angetan hat, zu fressen, wenn sie wieder genesen ist.“
 

~~**~~
 

Die Wunden verheilten gut.
 

Auch wenn Crawford sich dessen bereits bewusst war, war es doch eine willkommene Erleichterung, dies auch noch einmal von Doktor Martinez bestätigt bekommen zu haben. Er wäre noch ein paar Tage auf spezielle Kost angewiesen, aber danach würden keine weiteren Schäden zurückbleiben.

Und dennoch war er dem anderen Mann nicht unkritisiert entkommen. Natürlich hatte der Arzt erkannt, dass er zu wenig Flüssigkeit zu sich nahm. Natürlich hatte er ihn in seiner höflichen Art gescholten. Und natürlich hatte Crawford das abgetan, auch wenn das, was Fujimiya ihm gestern so schadenfroh an den Kopf geworfen hatte, immer noch in seinen Gedanken schwelte. Er hatte keine Angst vor Wasser. Er mied es. Aus guten Gründen. Aber, da hatte Fujimiya Recht, er konnte es nicht ewig meiden, das war unter seiner Würde. Es war ein Schwachpunkt.
 

Genau das war auch der Grund, warum er mit angenehm gedämpfter Musik in Richtung seines Gartenhauses fuhr. Zeit, sich dem zu stellen, was ihm immer noch an schlimmen Tagen Ekel, an besseren ein ungutes Gefühl bereitete. Er konnte es sich nicht leisten, dass er erneut so die Beherrschung verlor, wie er sie bei Fujimiya verloren hatte, nur weil dieser gemeint hatte, ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen zu können.

Crawford machte sich nichts vor, beinahe hätte Fujimiya damit auch Erfolg gehabt. Wenn Schuldig nicht gewesen wäre, hätte er den Weiß umgebracht für dessen Worte, die er selbst provoziert hatte. Er brauchte Disziplin und Ordnung und wo konnte er damit erfolgreicher sein als in der Ruhe seines Gartens und in der Prüfung seines Schwimmbades.
 

Eine Stunde später schloss er das geräumige Haus auf und steckte den Schlüssel in die Hosentasche. Einen Moment lang hielt er inne und sog den vertrauten Geruch seines Gartenhauses ein, der ihn so manches Mal beruhigt und entspannt hatte. So auch heute. Langsam trat er ein und ging in die erste Etage, wo sich seine Wechselkleidung befand. Mit Bedacht zog Crawford seine Anzugjacke aus, löste die Krawatte, das Hemd und die Hose, streifte sich schließlich alte, abgenutzte Kleidung über, die er für die Gartenarbeit hier aufbewahrte. Der nahende Sommer brachte auch die Pflanzen und Gräser zum Wachsen und Blühen und er hatte seinen Garten lange genug vernachlässigt. Das hatte Vorrang vor seinem Versuch, sich dem Wasser anzunähern.
 

Crawford atmete tief durch. Ein Vorteil an Pflanzen war, dass sie keine Widerworte gaben und wenn, dann höchstens in einem äußerst angenehmen, da stillen Prozesses des Welkwerdens. Hier gab es keinen Krieg zwischen Jei und Schuldig, es gab keinen Weiß, der das Gleichgewicht seines Teams aus den Fugen brachte mit seiner Anwesenheit. Es gab Takatori nicht, dessen Machthunger immer größer wurde, je näher er der Wahl kam.
 

Hier gab es nur ihn.
 

Drei Stunden lang machte er sich daran, seinen Garten für den Sommer herzurichten und sich um seine Blumen zu kümmern, bevor Crawford sich ächzend erhob und einen Blick über die nun geordneten und freigeschnittenen Pflanzen warf. Er war tatsächlich zufrieden und genoss die Ruhe um sich herum, die er mit seinen eigenen Händen erschaffen und fortentwickelt hatte.
 

Mit erhobener Augenbraue sah Crawford an sich hinunter und stellte fest, dass er voller Dreck war. Er schnaubte amüsiert. Wenn Schuldig ihn jemals so sähe, dann würde er die nächsten Wochen keine Ruhe vor dem Spott des Telepathen haben. Aber so würde er garantiert nicht nach Hause fahren und seinem Team unter die Augen treten.

So notwendig die Gartenarbeit auch gewesen war, so sehr hatte er sich damit vor seinem Plan, schwimmen zu gehen, gedrückt. Eine Liderlichkeit, die Crawford sich nicht länger durchgehen ließ, jetzt, da er fertig war.
 

Zielstrebig zog er sich aus und duschte sich kurz ab, bevor er sich eine seiner schwarzen, simplen Badehosen überstreifte. Langsam ging er zu dem Schwimmbecken und blieb am Rand stehen. Es war nur Wasser. Es war sein Schwimmbecken, dass er noch vor Wochen regemäßig genutzt hatte. Es war nicht sein Feind und er war stärker als seine schlechten Erinnerungen an das, was Lasgo getan hatte um ihn zum Gehorsam zu zwingen.

Crawford atmete tief ein und stieg langsam ins angenehm temperierte Nass. Schritt um Schritt tat er die Treppenstufen hinunter und ließ sich Zeit, sich an die Menge wie auch an das Gefühl des ihn umgebenden Wassers zu gewöhnen. Eigentlich amüsant, wie wenige Probleme er im Gegensatz hierzu mit dem Duschen hatte.
 

Drei Schritte, bis er gänzlich im Wasser stand und die Augen schloss. Mit Mühe hielt er seinen Herzschlag ruhig. Mit Mühe hielt er die Erinnerungen in Schach. Tief atmete Crawford ein und ebenso tief wieder aus, ein stetiger, beruhigender Rhythmus, der ihm zeigen sollte, dass alles in Ordnung war. Das hier war Wasser, aber es war warm und es erstickte ihn nicht. Er konnte frei atmen und er entschied selbst, wohin er ging und was er jetzt tat. Seine Hände waren frei sich zu bewegen und das nutzte er auch aus, als er sich vorsichtig nach vorne gleiten ließ und den ersten Zug tat. Dann einen zweiten. Einen dritten. Eine ganze Bahn schließlich.

Seine zweite Bahn führte Crawford in die Mitte des Beckens, in der er nicht mehr stehen konnte. Um seine Angst vollkommen loszuwerden, musste er tauchen. Er musste begreifen, dass über ihm zusammenschlagendes Wasser nichts Gefährliches war.
 

Langsam tauchte er unter, tief hinein in das Wasser. Brachial schnell schlug sein Herz, doch er zwang sich eisern, dort zu bleiben, wo er war. Das Wasser konnte ihm nichts anhaben. Er war stärker als die Summe seiner Erinnerungen.

Solange er konnte, blieb er unter Wasser und gab sich erst dann Auftrieb, als seine Lungen ihm deutlich zu verstehen gaben, dass er rein körperlich Luft holen musste. Triumphierend tauchte Crawford auf und ließ seinen Kopf nach hinten fallen.
 

Da war keine Panik gewesen, Angst ja. Aber er hatte sie bezwungen, so wie er alles bezwungen hatte, was sich ihm in den Weg stellte. Langsam schwamm Crawford wieder zum Rand und lehnte sich für einen Moment lang an den Rand, betrachtete gedankenversunken die Mitte des Beckens, bevor er es schlussendlich verließ. Mit neuerlicher, innerer Ruhe trocknete er sich ab und zog sich wieder an. Es war, als hätte sich ein Knoten gelöst, der ihn in den letzten Wochen angespannt gehalten hatte. Crawford strich sich seine Haare zurück und setzte sich seine Brille auf.
 

Wenn er seinen Blick in die Zukunft schweifen ließ, dann zeigte ihm diese sinnlose Provokationen zwischen Schuldig und Fujimiya. Darauf hatte er offen gestanden wenig Lust in, also beschloss er, sich dem Ort zu widmen, der ihm mit Sicherheit gute Laune verschaffte.
 

Hatte er bei seiner ersten Ankunft in Tokyo noch gedacht, dass es hier in Japan keinen guten Kaffee geben würde, so war er spätestens nach Eröffnung der kleinen Kaffeebar am südlichen Ende Shinjukus vor sieben Jahren eines Besseren belehrt worden. Wenn es einen Ort gab, den er regelmäßig wie ein Uhrwerk und so oft es ging besuchte, dann war es die schummrige, etwas heruntergekommene Kaffebar, mit deren Besitzer er mehr als einmal geschlafen hatte, bevor dieser die Möglichkeit genutzt hatte, die Liebe seines Lebens im Ausland zu ehelichen.

Japaner und ihre Sitten. Crawford musste schmunzeln. In seinem Heimatland war es unvorstellbar, jemanden, mit dem man sein Leben verbringen wollte, zu adoptieren und nicht zu ehelichen, insbesondere in den letzten Jahren, da auch die Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren legalisiert worden war. Gleichberechtigung bedeutete das noch lange nicht, aber das konnte ihm egal sein. Er würde niemals einem anderen Menschen so nahe sein, um diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Liebe war sinnloser Schnickschnack und eine Schwachstelle sondergleichen.

Crawford schmunzelte. Fast hatte er das Gefühl, ihre Stimme hören zu können und ihre Augen zu sehen, die ihn für eben diese Worte schalten.
 

Als er die Bar betrat, umfing ihn eben jenes Aroma, das ihn seine Aufgabe hier in Japan abstreifen ließ. Hier war er nicht der Anführer von Schwarz, hier war er ein langjähriger Besucher, der den Kaffee genoss und desöfteren auf jemanden traf, der ihm zusagte. Unverbindlich traf er sich hier mit Einheimischen und Geschäftsreisenden und verbrachte mit ihnen Nächte fernab von seinem Team, insbesondere fernab von seinem neugierigen Telepathen, denn auch dafür schätzte er die Bar. Wenn sich Schuldig zuhause befand, lag sie außerhalb seines Radius.
 

Crawford nickte Arata zu, der heute Schicht hatte und setzte sich mit dem Blick zum Fenster hinaus an den noch freien Tisch. Draußen zog das hektische Tokyoter Leben an ihm vorbei und fand seine Verlangsamung in dem wohlriechenden Milchkaffee, der nun seinen Weg an seine Seite fand.

„Bitteschön“, murmelte eine warme Stimme und Crawford nickte. Mit dem Hauch eines Lächelns warf er einen Seitenblick zu dem Mann, der ihm seinen Kaffee gebracht hatte.

Er blieb an amüsierten grauen Augen hängen, die ihn mit einer solch falschen Wärme musterten, wie es nur ein Mann auf dieser Welt konnte.
 

Lasgo.
 

Laut schabend kratzte sein Stuhl über das Holz des Bodens, als Crawford instinktiv zurückwich. Die Anwesenheit des Mannes hier, direkt neben ihm, so nahe, dass dieser nur seine Hand ausstreckten musste um ihn zu berühren, war eine ungeheuerliche, unbegreifliche Unmöglichkeit. Es durfte nicht sein. Wieso hatte er es nicht vorhergesehen? Wieso war ihm der Mann nicht aufgefallen? Er hätte es vorhersehen müssen! Er hätte gewarnt sein müssen.

Crawford schluckte schwer gegen seinen rasenden Herzschlag an. Lasgo war hier, in seinem Refugium, seinem Rückzugsort. Er entweihte diesen Ort mit seiner Anwesenheit, doch das war sicherlich sein geringstes Problem. Er war alleine hier, ohne sein Team, wieder einmal. Weder Arata noch einer der anderen Gäste war hier eine große Hilfe, eher eine Belastung, wenn es zu einer Schießerei kam. Crawford war versucht, einen Blick auf seine Umgebung zu richten, doch er konnte seine Augen nicht von Lasgo abwenden. Er durfte es nicht.
 

Der Blick, der auf ihn gerichtet war mit all seinem grausamen Sadismus, teilte ihm mit, dass er besser sitzen blieb, auch jetzt noch, als der Menschenhändler sich einen Stuhl nahm und sich zu ihm setzte, als wäre es das Normalste von der Welt.

„Wunderschön. Genauso habe ich es mir vorgestellt, dich zu überraschen“, schmunzelte Lasgo und Crawford konnte nicht anders, als in seiner Schreckstarre zu verharren. Nichts konnte er tun, noch nicht einmal den nutzlosen Versuch unternehmen, aus der Bar zu fliehen. Wie festgekettet war er auf seinem Stuhl in dem Etablissement, in dem er sich bisher vollkommen sicher gefühlt hatte. Wie trügerisch konnte eine Hoffnung sein?

Was sollte er auch tun? Kämpfen schloss sich momentan aus. Crawford wusste, was geschehen würde, wenn er unüberlegt kämpfte und verlor. Was die Belohnung war, hatte der andere Mann brutal bewiesen. Er hatte ihm jeden Widerstand ausgetrieben, den Crawford anfänglich zu bieten hatte. Jeden, einzelnen, nutzlosen Widerstand hatte er gebrochen.
 

Crawford schluckte schwer. Wieder waren es Angst und schlechte Erinnerungen, die ihm im Weg standen, rationale Entscheidungen zu fällen. Und nun hatte er keinen Fujimiya, der seinen umherirrenden Gedanken so etwas wie Struktur gab. Er war alleine und er war nicht in der Lage zu denken, eine Entscheidung zu fällen oder einen Plan zu schmieden, wie er dem Mann entkam, der ihn sicherlich wieder mitnehmen und dort weitermachen würde, wo er aufgehört hatte.
 

„Angst steht dir sehr gut, Bradley“, verätzte die sanfte, leise Stimme des Sadisten seine Gehörgänge. Crawford war dankbar darum, denn mit der verbalen Demütigung kam die Wut und mit der Wut kam zumindest ein Bruchteil an Rationalität zurück. Genug, damit er sich ein Stück weit weg von dem anderen Mann bringen konnte. Mit einem zu lauten und zu auffälligen Schaben schob er seinen Stuhl erneut ein Stück weg von diesem Monster, aber es brachte Abstand zwischen ihn und Lasgo. Er befand sich damit immer noch in der Reichweite des Drogenhändlers, aber es war ein Anfang.
 

Mehr blieb ihm momentan nicht, dank seiner exzellenten, tumben Wahl außerhalb der Reichweite seines Telepathen. Einzig sein Handy hatte er in der Hosentasche und eine seiner Hände griff wie nach einem Rettungsanker danach. Noch betätigte er die entsprechenden Tasten nicht, auch wenn alles in ihm danach gierte, Schuldig hier und jetzt zu rufen, damit dieser sein Team in Bewegung setzte…
 

Das nie und nimmer rechtzeitig kommen würde, wenn Lasgo von der Bewegung und dem marginalen Plan Wind bekam und sofort eingriff. Und wieder hatte er es nicht vorhergesehen. Wieder war er blind in die Situation gelaufen, trotz Fujimiyas Nähe, trotz den anderen Visionen, die ihm so zuverlässig die Zukunft zeigten. Das war eine Katastrophe und noch dazu eine, die er nicht erklären konnte. Schuldigs Worte kamen ihm in den Sinn, ungebeten und in ihrer voraussagenden Wahrheit zu bitter, als dass er sich jetzt nicht an ihnen verschlucken würde. Rosenkreuz‘ Analysten hätten ihm bei seinem Problem weiterhelfen können, doch er musste es ja vor ihnen verheimlichen. Die Früchte seiner Dummheit erntete er gerade jetzt in diesem Moment.
 

„Entspann dich, Bradley. Lass uns zusammen einen Kaffee trinken. Arata, wärest du so lieb?“

Während der Barista etwas erwiderte, was Crawford über das Rauschen in seinen Ohren hinweg nicht verstand, lehnte sich Lasgo mit einem Lächeln zurück, das Crawford das Blut in den Adern gefrieren ließ.

„Nein.“ Das gepresste, hasserfüllte Nein war wenig rational, stellte Crawford fest, als würde er neben sich stehen und sich selbst beobachten. Aber alleine der Gedanke, weiter in der Nähe dieses Mannes zu verbleiben oder ihm zu gehorchen, löste einen derartigen Ekel in ihm aus, dass es ihn nur so schüttelte.

„Nein?“, wiederholte Lasgo und kam ihm nach, verringerte erneut den Abstand zu ihm, während seine Hand ihren Weg zu Crawfords Oberschenkel fand. Instinkt zuckte das Orakel vor der Berührung weg. Nicht noch einmal. Er hatte sich geschworen, dass Lasgo ihn nicht noch einmal zu fassen bekam. Dass er nicht noch einmal Hand an ihn legte.

Der ältere Mann musterte ihn schweigend.
 

Auch das kannte Crawford schon. Lasgo hatte sich mehr als einmal die Zeit dazu genommen, ihn anzuschauen und sich an dem zu weiden, was er getan hatte. Insbesondere hatte er das gerne getan, wenn er ihn zum unwilligen, erzwungenen Höhepunkt getrieben hatte. Gerade dann konnte er Crawford nicht seine intimste und erniedrigendste Niederlage lassen, ohne dass er ihm auch noch den letzten Rückzugsort nehmen musste. Crawford fragte sich in einem Anflug aus bitterer Selbstironie, warum er sich eigentlich die Mühe gemacht hatte, das Alles hinter sich zu lassen, wenn alleine der Anblick des Mannes alles hervorwühlte, was er in sich vergraben musste um weiterhin funktionieren zu können.
 

„Wie hast du diesen Ort hier gefunden?“, verlangte Crawford nach den wesentlichen Informationen. Informationen waren Macht, Informationen waren Stärke, seine Gabe war ohne Informationen nichts. Doch was waren Informationen ohne das Wissen um die Zukunft?

„Das war nicht allzu schwer, aber ich möchte dich nicht mit diesem unnützen Wissen belasten“, zuckte Lasgo mit den Schultern und Crawfords Gedanken rasten um die Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. So viele gab es nicht. Allen voran stand, dass er sich in die Akten ihrer Organisation gehackt hatte. Unmöglich. Die Dame des Hauses hätte ihn in der Luft zerfetzt oder jemanden ihres Teams geschickt. Dann musste es also er selbst gewesen sein, der unvorsichtig genug gewesen war. Er hätte nicht immer die gleiche Kaffeebar nutzen sollen. Er hätte wechseln sollen, ein Phantom bleiben sollen.

Das hier war gefährlich gewesen und das wurde ihm nun zum Verhängnis.
 

In dem Moment, in dem Arata Lasgo seinen geforderten Kaffee hinstellte, wischte Crawford über seinen Bildschirm und rief blind die Kontaktdaten auf. Zumindest hoffte er das, denn seine Gabe schwieg immer noch beharrlich.

„Was willst du hier?“, fragte er weiter, um sich mehr Zeit zu erkaufen, die Lasgo davon abhalten würde, ihn mit sich zu nehmen und er wurde für einen langen Moment ignoriert. Geradeso, als hätte er alle Zeit der Welt, rührte Lasgo sich Zucker in seinen Kaffee und trank einen ersten, genussvollen Schluck.

„Ich wollte dich sehen. Ich habe gehört, dass du dich gut erholt hast von unseren gemeinsamen Abenteuern und zu neuer Stärke gefunden hast. Sogar den Weiß und seine Schwester hast du zu dir geholt in einem wirklich perfiden Schachzug. Hätte ich vorher gewusst, dass ihr so eng miteinander seid, hätte ich das in meinem Distrikt ganz anders gehandhabt, glaube mir das.“ Das tiefe Seufzen und die allzu sanften Worte verursachten Crawford eine Gänsehaut vor Ekel. Der Mann war alles andere als sanft, denn trotz seiner Tonlage waren die Worte eisern und zerstörerisch, seine Gesten noch viel mehr.
 

„Ich will dich aber nicht sehen“, presste Crawford unnötig hervor, denn sein Wille war hier nicht ausschlaggebend, das sagte ihm nicht zuletzt das gönnerhafte Zurücklehnen des Drogenhändlers.

„Schade. Ich hatte sehr gehofft, dass wir uns wie gesittete Geschäftspartner, Verzeihung, ehemalige Geschäftspartner, unterhalten können. Du weiß schon, wir ficken miteinander, danach reden wir miteinander, wie normale Menschen.“

Ein Grollen entkam Crawfords Kehle, bevor er auch nur die Chance hatte, es in die Untiefen seines unbeherrschten Zorns zu verbannen. Alle Kraft, die er aufzubieten hatte, verbrauchte er gerade, um sich nicht den Weg nach draußen frei zu kämpfen, wo ihn schon die Leibwächter des Menschenhändlers erwarteten. Zumindest erkannte er den Vernarbten auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig.
 

Das, was ihm auf der Zunge lag, schluckte er herunter. Zwar gab es hier in diesem Raum keinen Grund, seine Sexualität zu verstecken, doch er würde dem überschäumenden Drang, Lasgo die Wahrheit ins Gesicht zu spucken, nicht nachgeben.

„Wir haben nicht miteinander gefickt“, zischte er. „Du hast dich…“ Er atmete tief durch, disziplinierte sich selbst. Die Hand, die sich nun auf seine Wange legte, schlug er dennoch weg und wählte währenddessen Schuldigs Nummer. Er konnte nur hoffen, dass der Telepath schnell begriff, was passierte.

„Sag es, Bradley. Was habe ich? Sprich es aus.“
 

Nein!
 

Nein, er konnte nicht, denn wenn er es verbalisierte, wurde es zur Realität und es konnte nicht real sein. Es durfte nicht real sein, denn er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte, wenn er sich vollumfänglich eingestand, dass der Mann vor ihm jede erdenkliche Art angewandt hatte um ihn zu brechen und beinahe erfolgreich damit gewesen war.
 

„Du hast mich nicht gebrochen“, erwiderte er anstelle dessen und ballte seine Hände zu Fäusten. Spätestens jetzt war Schuldig in der Leitung und hörte mit, oder eben auch nicht. Vielleicht hatte er sich ja entschlossen, aus reiner Nickeligkeit nicht ans Telefon zu gehen, wie er es schon oft getan hatte. Was für ein wunderbarer Zeitpunkt das doch wäre. „Das hast du dort nicht geschafft und das wirst du auch jetzt nicht schaffen.“

Lasgo schmunzelte und widmete sich wieder seinem Kaffee. Nachdenklich ließ er seinen Blick nach außen schweifen und legte den Kopf schief.

„Ich möchte dir widersprechen, Bradley. Ich habe dich gebrochen und weißt du auch, warum? Du hast dir von mir schließlich ohne Gegenwehr und freiwillig den Schwanz so tief in den Rachen stecken lassen, wie du es nur bewerkstelligen konntest. Du hast dich von mir mehr als einmal zum Höhepunkt treiben lassen. Und du hast es genossen, dein Dasein auf den Knien zu fristen, darauf wartend, dass ich mich um dich kümmere. All das vermisst du jetzt, denn du irrst blind durch die Welt in der Annahme, dominant sein zu müssen und bist doch nichts weiter als ein erzogener Hund, der auf sein Herrchen wartet. Du bist gebrochen. Du nennst es nur anders. Sag mir, wie ist es mit den Alpträumen? Halten sie dich immer noch die Nacht über wach und lassen dich sich nach Abyssinian sehnen, der dich vermeintlich vor mir schützt? Sind es Gerüche, Geschmäcker und Geräusche, die dich an mich erinnern? Was ist mit deinem Team? Ängstigen sie dich? Machen sie dich wütend? Verheimlichst du das, was dir passiert ist? Versuchst du sie zu dominieren in dem verzweifelten Wunsch, die Kontrolle zurück zu erlangen, die du schon lange verloren hast?“
 

Nein. Nein nein nein. Nichts davon stimmte. Nichts davon war wahr. Das waren nur Worte. Doch sie trafen, jedes einzelne wie eine Speerspitze. Sie zerrissen seine letzten Reste an Disziplin und Ordnung und machten ihn zu dem Tier, das Lasgo aus ihm versucht hatte zu machen. Grollend schoss er hoch und packte den Drogenhändler am Kragen. Er riss ihn hoch und hatte bereits die Faust zum Schlag erhoben, als sich die Waffe des Mannes unnachgiebig in seine Flanke presste. Wild starrte Crawford in die grauen, nunmehr harten Augen des Mannes vor ihm.
 

Und der Rest der Gäste blieb sitzen, als würde sie das gar nicht kümmern. Arata blieb hinter dem Tresen stehen, als gäbe es sie gerade nicht.
 

Was zur Hölle passierte hier?
 

„Siehst du, und die Wahrheit darüber macht dich hilflos und aus der Hilflosigkeit wird Wut geboren. Aber ich bin nicht hier, um mich mit dir zu schlagen, Bradley.“

Crawford grollte. Seine Haut brannte an den Stellen, an denen seine Finger in Kontakt mit der Kleidung des anderen Mannes kamen, doch er konnte nicht loslassen. Im Gegenteil. Er wollte ihn hier und jetzt umbringen für das, was er getan hatte. Ihm angetan hatte.

„Ich werde nicht ohne Gegenwehr mitkommen, Arschloch“, zischte er und Lasgo lächelte sein unbeeindrucktes, nachsichtiges, widerliches Lächeln.

„Ich muss dich enttäuschen, Bradley. Ich bin nicht hier um dich mitzunehmen. Ich bin hier, um dir etwas zu geben.“ Langsam griff er in seine Jackentasche und zog etwas hervor, das Crawford mühelos als CD erkannte. „Ich habe etwas für dich, was dich interessieren dürfte. Oder Takatori. Oder Rosenkreuz. Suche es dir aus, mein Schöner.“
 

Crawford schluckte mühevoll und gegen seinen Willen breitete sich Hoffnung in ihm aus. Er musste sich seinen Weg nicht freikämpfen mit der mäßigen Aussicht auf Erfolg?

„Lass mich los, Bradley.“

Die ruhige, befehlsgewohnte Stimme durchdrang seine Gedanken und schleuderte ihn zurück zu den Tagen in der Gewalt des Menschenhändlers. Er kannte diese spezielle Stimmfärbung, derer sich Lasgo bedient hatte, nachdem er ihm deutlich gemacht hatte, dass er es nicht wünschte, gebissen zu werden. Dass er Crawfords Ungehorsam nicht mehr tolerieren würde. Es hatte ihm Stunden der Qual eingebracht, alleine mit sich, seinen Schmerzen und dem Gefühl, jederzeit an dem großen Schwanz aus Glas in seinem Rachen zu ersticken, der unnachgiebig dort hineingezwungen worden war.
 

Crawford gehorchte wie eben jener Hund, den man dressiert hatte und das machte ihn mehr als der stolze und überlegene Ausdruck in den Augen Lasgos wütend.

„Brav. Ich wusste doch, dass auch du noch formbar bist.“

Der Drogenhändler trat einen Schritt zurück, dann noch einen, die Waffe immer noch auf Crawford gerichtet.

„Schau dir die Dateien an, Bradley und entscheide, an wen ich sie letzten Endes schicken soll. Zu gegebener Zeit melde ich mich bei dir.“
 

Mit einem Lächeln, das das Orakel ihm am Liebsten aus dem Gesicht geschnitten hätte, verabschiedete er sich und verließ das Café. Crawford sah betäubt zu, wie er von seinen Männern zu einem Auto geleitet wurde, einstieg und davon fuhr und beinahe im gleichen Moment wieder Leben in den gespenstisch stillen Raum kam.

Doch davon nahm Crawford kaum Notiz, als er sich die CD griff und überstürzt den Laden verließ. Er musste weg hier. Er konnte hier nicht eine Sekunde länger bleiben. Er musste zu ihrem Anwesen und sein Team informieren.

Zittrig holte er sein Handy hervor und sah, dass sein Anruf auf die Mailbox seines Telepathen weitergeleitet worden war.
 

Schuldig hatte den Anruf nicht entgegengenommen. Schon wieder nicht.
 

~~**~~
 

Crawford wusste nicht, wie er nach Hause gekommen war. Er wusste nicht, welchen Weg er genommen hatte oder wie er in seinem Zustand in der Lage gewesen war, den Wagen zu fahren.

Wie in Trance hatte er ihre Garage verlassen und war in sein Arbeitszimmer gegangen.

Anfangs hatte sein gesamter Körper so gezittert, dass er nicht in der Lage gewesen war, etwas Anderes zu tun als in seinem Stuhl zu sitzen und den Schock zu ertragen, den das Auftauchen des Drogenhändlers in ihm ausgelöst hatte. Wie hatte Lasgo ihn abpassen können? Wie hatte er ihn so leicht ausfindig machen können? War er überhaupt noch sicher hier?
 

Was, wenn Lasgo diese Adresse schon längst kannte?
 

Crawford starrte blind auf die Wand ihm gegenüber. Er musste wissen, was auf dieser CD war. Er musste Vorkehrungen treffen. Er musste ernsthaft in Betracht ziehen, Rosenkreuz zu informieren. Langsam hob er die zittrigen Hände und hielt sie sich vor Augen. Vollkommen naiv und blind war er in eine Situation gestolpert, die ihn nur mit dem Willen des Drogenhändlers hatte unversehrt entkommen lassen. Wenn dieser es darauf angelegt hätte, hätte er vermutlich jetzt schon dessen Schwanz im Hintern anstelle in seinem Arbeitszimmer zu sitzen.
 

Zwei Versuche benötigte er um die CD in den Leser seines gesicherten Laptops zu stecken und die Dateien aufzurufen, die sich darauf befanden. Es waren Videodateien und Crawford schwante Übles. Er ahnte, was sich auf ihnen befand und alles in ihm weigerte sich, verkrampfte sich, den letzten Schritt zu tun. Doch er musste wissen, womit ihm gedroht wurde. Seine Hand zitterte, als er auf die erste Datei klickte und er wurde keine Sekunde später in das geworfen, was Lasgo ihm angetan hatte. Er sah sich selbst aus dem Blickwinkel einer gnadenlosen Kamera, die alle Unzulänglichkeiten aufzeichnete, die er aufzubieten gehabt hatte. Er hörte sich selbst in klarer Lautstärke, wie er – wie von Lasgo befohlen – seine Lust herausstöhnte, als würde er wirklich wollen, was dort geschah. Übelkeit schoss bis in seine Speiseröhre hoch und Crawford hatte das Gefühl, sich gleich hier und jetzt übergeben zu müssen.
 

Er hatte es zwar geahnt, aber es zu sehen, stand auf einem anderen Blatt und eine Datei war schlimmer als die Nächste. Drei Videos hielt er durch, bevor er abrupt die Wiedergabe beendete und sich angewidert von seinem Schreibtisch abstieß. Er floh aus dem Stuhl, als könne er damit den Videos entkommen, und strauchelte in die Küche, die gnädigerweise leer war. Er brauchte dringend Normalität, er brauchte Selbstverständlichkeit, er brauchte das Gefühl von Sicherheit, das seinen Erinnerungen entgegenstand, die ihn überrollten, als wäre es erst gestern gewesen, dass Lasgo ihn wieder und wieder vergewaltigt und sich einen Spaß daraus gemacht hatte, ihm seine eigene, schändliche Lust vor Augen zu führen.
 

Hektisch atmend stützte sich Crawford auf der Anrichte ab. Auch dieser Raum brachte ihm keine Erleichterung, nur Angst und schlechte Erinnerungen und mit ihnen ungebändigten Zorn, so dermaßen in die Ecke getrieben zu werden. Lasgo hatte gesagt, dass er wählen sollte. Takatori oder Rosenkreuz. Er erpresste ihn mit seiner eigenen Schwäche und Crawford war machtlos dagegen.
 

„Crawford, kann ich dir helfen…?“
 

Jemand berührte ihn, es war nicht mehr als ein vorsichtiger Händedruck auf seinem Oberarm, doch sein Körper programmierte sich auf Abwehr. Nichts Anderes kannte Crawford mehr, als dass er diese Berührung ahnden musste, mit Gewalt beantworten musste. Was bildeten sie sich eigentlich ein? Niemand hatte das Recht, ihn zu berühren, ihn anzufassen und ihn zu unterwerfen. Niemand! Er würde sich nicht von Lasgo anfassen lassen!

Er drehte sich zu der Quelle der ekelhaften Folter, holte im gleichen Moment aus und schlug mit der ihm zur Verfügung stehenden Kraft zu. Bedauerlicherweise unterband das Zittern in ihm den größtmöglichen Schaden, den er anrichten konnte, so musste er sich damit begnügen, dass sein Schlag den Angreifer nur mit einem überraschten Laut zur Seite taumeln ließ.
 

Es hatte Nagi getroffen, der sich nun mit ungläubig geweiteten Augen seine Nase und Wange hielt, aus der bereits jetzt schon Blut tropfte. Dabei war Crawford doch noch lange nicht fertig, war er doch willens genug, den Jungen für seine Taten hier und jetzt in der Luft zu zerreißen.

„Crawford…was?“, schlängelte sich die vorsichtige Frage des Telekineten zu ihm und machte Crawford noch wütender. Zischend packte er Nagi am Kragen seines Pullovers und zog ihn zu sich.
 

„Was fällt dir ein?“, knurrte er abgrundtief böse. „Was glaubst du eigentlich, wer du bist, dass du es wagst, mich anzufassen? Was glaubst du eigentlich, wer dir auch nur das Recht gegeben hat in meine Nähe zu treten und dich in dieser Art zu äußern?“ Es tat gut, seiner Hilflosigkeit und seiner Wut eine Bahn zu geben, eine Richtung, in die beide laufen konnten. Sie schwelten nun nicht mehr ohne Ziel in ihm, nein, sie hatten nun ein. Endlich eine Richtung und kein Chaos. Crawford grollte.

Große, graue Augen starrten ihn an und warfen ihn zurück zu Lasgo, wie dieser es gewagt hatte, sich ihm aufzuzwingen, ihm aufzulauern. Die gleichen, verdammten, grauen Augen.

Wieder schlug Crawford zu und stieß die Augen von sich, labte sich an dem Laut des Entsetzens, das die blutigen Lippen verließ. So hatte sich Lasgo anzuhören, nicht anders. Genau so.
 

Das hätte er Lasgo in dem Café antun sollen.
 

„Verschwinde“, zischte er und ballte seine Hände zu Fäusten. Er kam näher und die Augen wichen vor ihm zurück. Endlich. Endlich wichen sie vor ihm zurück. Endlich war diese boshafte Überlegenheit in ihnen verschwunden, die sich in ihn gebrannt hatte.

„Crawford…ich verstehe nicht. Bitte…“, wisperte Nagi und Crawford fegte voller Wut einer der nahestehenden Tassen von der Anrichte.

„Ich will, dass du verschwindest. Raus aus meinem Haus, du widerliches Stück Dreck! Du hast hier nichts verloren!“, schrie Crawford, war sich selbst aber nicht sicher, wen er hier eigentlich anschrie: sich selbst, seine Schwäche, seine eigene Unzulänglichkeit, Nagi oder Lasgo selbst. Es war nur wichtig, dass er schrie und dass er seiner Wut eine Bahn brach um sie kanalisieren zu können.
 

Da provozierte ihn die unsichtbare Hand, die sich vorsichtig, beinahe tastend um sein Handgelenk legte und zudrückte, nur umso mehr.

Seine Augen bohrten sich in seine verzweifelten, grauen Gegenstücke und wieder war es nur Lasgo, den er hier sah, der sich nun mit Nagi vermischte. Crawford wollte verletzen, so wie der Mann ihn mit seinen Worten verletzt hatte, so griff er instinktiv zu den Schwachstellen, die er nur allzu gut kannte und die ebenso leicht zu bedienen waren.

„Deine Bindung kannst du dir in den Hintern schieben“, streifte er sich das Gefühl der ihn umfassenden Hand ab und labte sich an den entsetzten Augen, aus denen langsam aber sicher das Unverständnis wich und einer allumfassenden Erschütterung Platz machte.
 

„Raus. Hier“, setzte er noch einmal nach und schlussendlich wurde seinem Befehl Folge geleistet.

Zögerlich verbeugte sich der Telekinet und Crawford sah, wie Tränen auf den Boden tropften, Wie schwach das doch war… fast ebenso schwach wie es war, sich von einem Mann ficken zu lassen, der nur ein normaler Mensch war.

„Sehr wohl, Crawford-sama.“ Leise Worte, dann taumelte der Junge aus ihrer Küche. Unpassend leise dazu schloss er die Tür hinter sich und Crawford atmete tief durch.
 

Schwach war das. Alles hier. Doch Schwäche würde es nicht mehr geben, Schwäche hatte ihn erst hierhin gebracht. Tief atmete er durch und schob diese weit zurück in die Untiefen seiner Gedanken. Schwäche hatte ihn auch Fujimiya Freiheiten zugestehen lassen, die dieser nicht verdient hatte. Oder sie hatte ihn Schuldig näher an ihn herangelassen, als es sich ziemte. Doch das war vorbei.

Das wütende Pochen in seinem Kopf rauschte in seinen Ohren, als er sich auf den Weg in die Bibliothek machte, wo er den Weiß wusste.
 

Wortlos riss er die Tür auf und labte sich an den erschrockenen, violetten Augen, die ihn stumm maßen und die anscheinend etwas auf seinem Gesicht sahen, das sie vorsichtig werden ließen. „Mitkommen“, klirrte das Eis nicht einmal mehr nur unter der Oberfläche und vorsichtig gehorchte Fujimiya, auch dann noch, als er mit ihm in den Keller ging.

„Wer ist dir denn über die Leber gelaufen?“, provozierte auch dieser Mann ihn unnötig, wie Lasgo auch. Natürlich, schließlich hatte Fujimiya ebenso versucht, sich ihm aufzuzwingen.

„Halt den Mund, Weiß“, grollte er und nickte in Richtung Farfarellos ehemaliger Zelle. „Rein mit dir.“

Seine Visionen zeigten ihm den Widerstand des Mannes, bevor dieser versuchte, Widerstand zu leisten und auch nur einen einzigen Schlag auszuführen und Crawford parierte alle Versuche, sich gegen ihn zu stemmen, mit einem überheblichen Grinsen. Natürlich ließ er es sich nicht nehmen, den Weiß eben hierfür zu bestrafen. Zwei Schläge ins Gesicht und einen in die Magengrube brauchte es, damit der feindliche Agent sich seinem Willen fügte.
 

Laut schlug die Gittertür hinter ihm zu.
 

„Die Nachsicht dir gegenüber war ein Fehler, den ich nun als erledigt betrachte. Du hast deine Aufgabe hier und die wirst du erfüllen. Darüber hinaus wirst du deine Zeit hier unten verbringen, wie es sich für einen Kritikeragenten gehört, Weiß“, spie er dem Mann, der sich hustend auf dem Boden der Zelle krümmte entgegen und löschte das Licht. Verächtlich schnaubend verließ er den Keller und schlug die Tür hinter sich zu. Wäre das auch erledigt.
 

Schwer atmend blieb er im Flur stehen und spürte so etwas wie Ruhe in sich einkehren. Seine Wut hatte ihr Ventil gefunden und nun wurde er mit jeder Sekunde, die verstrich, ruhiger, disziplinierter und weniger zittrig.

Die Kontrolle, die ihm noch vor Stunden entglitten war, kehrte zurück und bereitete den Weg für die zu treffenden, rationalen Entscheidungen. Crawford stieß sich von der Wand ab, an der er lehnte und ging nach oben.
 

~~**~~
 

Nagi konnte nicht atmen vor lauter verzweifelter Panik in seinem Inneren, mit der er versuchte, so weit wie möglich von ihrem Haus wegzukommen. Er rannte, solange seine Lungen die Flucht möglich machten und kam bis zu dem Park am Rand ihres Wohnviertels, in dem Crawford das erste Mal mit ihm spazieren gegangen war. Weit genug würde es nicht sein, doch er hatte noch keinen Plan, wie er von hier wegkam. Ob er von hier wegkam und wo er sich hinwenden sollte, jetzt, da Crawford ihn aus dem Haus geworfen hatte.

Schluchzend hielt er inne und setzte sich vorsichtig auf eine der Parkbänke, die im Schatten der Dunkelheit lagen. Er schrie stumm, während er sich vor körperlichen und emotionalen Schmerzen krümmte, die seinen Körper unbrauchbar machten.
 

Er war schuld. An allem. Er wusste ganz genau, was er falsch gemacht hatte. Er hatte Crawford trotz dessen eindeutiger Warnung gefragt, ob er ihm helfen sollte, als er an der Küchenanrichte lehnte. Er hatte versagt und die Befehle seines Anführers nicht befolgt, er war wiederholt ungehorsam gewesen und dafür war er bestraft worden. Zurecht, hielt sich Nagi vor Augen, auch wenn die Rationalität dieses Wortes den tobenden Schmerz in seinem Inneren nicht besser machte. Er hatte jeden Schlag, jedes böse Wort verdient, das ihm entgegengeschleudert worden war.

Er hatte verdient, dass der Hellseher ihre Bindung zurückgewiesen hatte, auch wenn es Nagi das Herz zerrissen hatte, die Ablehnung des Anderen wie einen Messerstich zu spüren. Er hatte die Schläge verdient, ebenso wie die Worte, die auf ihn niedergeprasselt waren für seinen impertinenten Ungehorsam. Er war schuld.
 

Das tat der unbändigen Trauer und Verzweiflung, so den Unmut seines Anführers auf sich gezogen zu haben, keinen Abbruch. Er war zu nichts zu gebrauchen, er war nichts mehr als das unfähige Straßenkind, das Crawford zu sich geholt hatte. Undiszipliniert und ungehorsam. Kein Wunder, dass Crawford so jemanden wie ihn nicht als Sohn haben wollte.

Zitternd verbarg er sein Gesicht in seinen Händen. Nun, da Rosenkreuz einen Anspruch auf ihn erhoben hatte, würde er nicht auf die Straße zurückkehren. Er würde nach Österreich fliegen, sobald er genug Geld zusammen bekommen hatte, um sich dort dem Urteil des Rates zu stellen, der ihn für seine Unfähigkeit zur Verantwortung ziehen würde.
 

Ihn neutralisieren würde.
 

Wenn der Rat ihn nicht schon vorher holen kommen würde. Die Tränen, die seine Wangen hinunterliefen, brannten in seinen aufgesprungenen Lippen und sein Brustkorb senkte sich unter den gewaltigen Schluchzern, die Nagi erschütterten.

Darüber spürte er beinahe nicht den sachten Stich in seinem Nacken, der sich zu seinem Entsetzen beim Herausziehen als ein Pfeil herausstellte.

Tumb starrte er das kleine Werkzeug in den Fingern an, das ihm so sehr wie einer von Bombays Darts erschien, dass er befürchtete, Feindkontakt mit Weiß zu haben. Doch der Mann, der sich nun neben ihn setzte und ihn sanft anlächelte, während seine Gedanken unfokussiert und sein Körper bleischwer wurden, gehörte nicht zu Weiß.
 

Er kannte das Gesicht gut genug, denn er hatte es gestern…war es gestern?...noch recherchiert. Er hatte sich seine Akte aufgerufen und sich in seinem Hass auf den Mann gesuhlt, der nun neben ihm saß und ihm zärtlich über die tränennassen Wangen strich. Er wollte ihn von sich wegstoßen, doch auch seine Gabe gehorchte ihm nicht mehr. Müde blinzelte er, bleierne Schwere ließ ihn zur Seite sacken, direkt in die warmen, nachgiebigen Arme des älteren Mannes.

„Komm zu mir, Nagi. Komm her, alles wird gut werden“, murmelten ihn die Worte des Mannes, der seinen Anführer vergewaltigt hatte, in die erlösende Bewusstlosigkeit.
 


 

~~~~~~~

Fortsetzung folgt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Sodele. Vielleicht ein kleines Nachwort an dieser Stelle: es tut mir leid. Es tut mir tatsächlich wirklich leid und ich hatte selbst Schmerzen dabei, als ich es überarbeitet habe. Die Szene existierte schon in der alten Version und sie ist Grundlage für einen der Hauptplotstränge, die noch folgen werden, der schlussendlich gut wird (denkt dran, Happy End-Garantie!). Das bedeutet aber nicht, dass ich nicht hin und her überlegt habe, ob ich sie rausschmeißen soll, mich letzten Endes dagegen entschieden habe. Um es mit Oscar Wildes Worten zu sagen: Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende.

Faule Tomaten stelle ich natürlich gerne bereit. Ächäm.

Mit dem nächsten Teil endet im Übrigen das, was ich von der damaligen Version überarbeitet habe (ja, soweit hatte ich tatsächlich alles zusammen) und dann kommt das, was ich vorletztes Jahr begonnen habe zu schreiben. Wuhuu. o.O Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Meggal
2019-02-07T18:11:06+00:00 07.02.2019 19:11
ehm... Ich kann mich nicht zwischen Tomatensalat und faulen Tomaten entscheiden... ich geh mal eben in die Küche und hole mir mein Soulfood (Kartoffeln mit Rosenkohl). Das brauche ich jetzt unbedingt!

Ich weiß gerade nicht, wie ich die Woche bis nächsten Donnerstag durchstehen soll! Das war... ja... eine Geisterbahnfahrt, nur, dass man durchläuft. So!
Ja... entschuldige mich bitte, ich muss mich mal fangen gehen.

Lieben Gruß (ich bin froh, dass es dir auch weh tut, dann bin ich wenigstens nicht allein damit).
Antwort von:  Cocos
07.02.2019 20:25
Rosenkohl und Kartoffeln als Soulfood *__* Boah, gut.

Ja, und ich kann mich gar nicht oft genug für die Geisterbahnfahrt entschuldigen. Wenn es nicht soviel (aka alles) was danach folgt, beeinflussen würde, hätte ich es auch rausgenommen. Jetzt kämpfen wir uns da gemeinsam durch.
Nimm die faulen Tomaten, das ist befriedigender. ;)

Liebe Grüße zurück und nein, du bist da nicht allein!


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