Tatsächlich schwul von Maginisha ================================================================================ Kapitel 11: Scherbenlesen ------------------------- Nick fühlte sich furchtbar. Das lag nicht unbedingt an seiner körperlichen Verfassung, die trotz der Tatsache, dass er gestern eine ihm unbekannte Menge Alkohol konsumiert hatte, nicht unbedingt schlecht war. Es lag vielmehr an den bruchstückhaften Erinnerungen, die nach und nach aus dem Sumpf seines Unterbewusstseins wieder zum Vorschein kamen, dass er sich außer Stande sah, sich aus dem Bett zu erheben. Seit er vor einer guten Stunde aufgewacht war, versuchte er zu verstehen, was Javier dazu gebracht hatte, ihm … Es machte einfach keinen Sinn. Es war doch alles klar gewesen zwischen ihnen. Nick hatte ihm gesagt, dass da nichts laufen würde, und Javier hatte das augenscheinlich akzeptiert. Warum also dann diese Zudringlichkeit, die Nick – sehr zu Recht, wie er der Meinung war – als übergriffig empfand? Javier war vielleicht ein wenig locker, was den Umgang mit Sex anging, aber Nick schätzte ihn nicht als jemanden ein, der sich das, was er wollte, mit Gewalt beschaffte. Und die Cocktails hatte Nick immerhin freiwillig getrunken. Es hatte in seiner Verantwortung gelegen, sich da standhaft zu zeigen, auch wenn Javier ihm noch so gut zuredete. Aber Nick musste zugeben, dass es ihm schwerfiel, Javier etwas abzuschlagen. Er … mochte Javier. Er hatte ihn zumindest gemocht und je länger er darüber nachdachte, stellte er fest, dass er sich vielleicht nicht so ganz eindeutig verhalten hatte, was sein Nein anging. Er hatte mit Javier getanzt und … na ja, es hatte ihm schon irgendwie gefallen, dass sie sich dabei ein wenig näher gekommen waren. So gut, dass er es sogar zugelassen hatte, dass der andere ihn umarmte, ihn berührte, obwohl vorher am Abend mehr als Freundschaft zwischen ihnen mitgeschwungen hatte. Hatte Javier das irgendwie missverstanden? Nick wälzte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Nein, das war trotzdem keine Ausrede für das, was er getan hatte. Vielleicht, wenn Nick nüchterner gewesen wäre und Javier ihn gefragt hätte, dann hätte er eventuell … Er hielt den Gedanken an, spulte ihn zurück und ließ ihn nochmal mit halber Geschwindigkeit laufen, damit er ihn auch wirklich gut mitbekam. Hatte er gerade echt überlegt, mit Javier ins Bett zu gehen? Ihm wurde heiß bei dem Gedanken. Er war sich immer noch ziemlich sicher, dass er nicht auf Kerle stand, aber mit Javier … war es irgendwie etwas anderes. Warum auch immer. „Das kann nicht normal sein“, brummte er und versuchte sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass er irgendwann doch aufstehen und duschen musste. Während er noch mit seinem inneren Schweinehund kämpfte, der sich breit und brammig auf seiner Bettdecke niedergelassen hatte, hörte er draußen auf dem Hof ein Auto vorfahren. Das musste Alex sein, die aus Rom wiederkam. Nick atmete tief durch und schlug endlich die Decke zurück, um sich zu erheben. Er wollte seine Freundin gerne begrüßen und vorher wenigstens noch den übelsten Gestank runterwaschen, auch wenn Alex von ihrer Arbeit bestimmt Schlimmeres gewohnt war. Die Dusche klärte seinen Kopf noch etwas weiter und nachdem er sich die Zähne geputzt und einen halben Müsliriegel hinuntergeschlungen hatte, fand er, dass er sich wieder unter Leute wagen konnte. Er zog sich schnell etwas über, öffnete die Tür und wollte gerade an der gegenüberliegenden klopfen, als diese sich öffnete und Natascha vor ihm stand, die eine Tasche in der Hand trug. Die Tasche gehörte Alex. „Äh, hi“, sagte er. „Ihr seid wieder zurück, wie ich sehe. Wie war der Urlaub?“ Natascha musterte ihn mit einem eigenartigen Blick. Nick überlegte, ob er vielleicht irgendwo noch Zahnpasta kleben hatte, als sie sich umsah, einen Schritt vortrat und die Tür schloss. Sie atmete tief durch. „Hör zu, Nick, mich geht das Ganze im Grunde genommen ja nichts an, aber Alex ist echt sauer auf dich. Ich glaube nicht, dass sie jetzt gerade mit dir reden möchte.“ „Alex ist … sauer auf mich?“ Nicks Magen hatte offensichtlich doch etwas gegen sein karges Frühstück einzuwenden und fing an, sich in unangenehme, kleine Knoten zu legen. „Warum denn?“ Bitte nicht … bitte, bitte nicht. Javier hatte doch nicht … „Javier hat ihr heute früh eine ziemlich aufgebrachte SMS geschickt. Es ging darum, dass du … gar nicht schwul bist.“ Nick brachte es nicht einmal fertig zu blinzeln. Er war vollkommen erstarrt. „Alex hat gesagt, dass sie dich auf jeden Fall fragen will, was es damit auf sich hat, aber momentan fühlt sie sich nicht imstande, das zu tun, ohne dir eine reinzuhauen. Ich denke, du solltest ihren Wunsch akzeptieren und dich erst mal eine Weile von ihr fernhalten. Ich habe ihr angeboten, dass sie so lange zu mir kommen kann.“ „Aber ...“ Nicks Kopf war wie leergefegt. Alexandra war eine feste Größe in seinem Leben. Zwar war meist sie es gewesen, die sich bei ihm ausgeheult hatte, aber gerade jetzt, wo er mal ihren Rat gebraucht hätte, wollte sie nichts mit ihm zu tun haben? „Was …?“ Er räusperte sich. Seine Stimmbänder versagten ihm gerade etwas den Dienst. „Was hat Javier denn geschrieben?“ Vielleicht konnte er sich so wenigstens ein Bild vom Ausmaß der Katastrophe machen. „Er hat geschrieben, dass du ...“ Sie machte eine kurze Pause und überlegte anscheinend, ob sie das wirklich wiederholen sollte. Nick wurde kalt. „Dass du dir auf Alex einen runterholst.“ „Was? Aber das ist nicht wahr!“ Nick spürte ein Stechen in seinen Augen. „Ich habe niemals … doch nicht auf Alex.“ „Also stimmt es?“ „Was?“ „Dass du nicht schwul bist.“ Natascha sah ihn fragend an. Nick wusste nicht so recht, was er darauf antworten sollte. Momentan wusste er gar nichts mehr. Das Stechen in seinen Augen wurde stärker. In diesem Moment ging die Tür hinter Natascha auf und Alex trat heraus. Als sie Nick entdeckte, wurde ihr Blick hart und ihr Gesicht zu einer Maske der Abweisung. „Ich habe alles“, sagte sie zu Natascha und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Dann ging sie an Nick vorbei, als wäre er nichts als leere Luft. Er wollte die Hand heben, sie festhalten, ihr alles erklären, aber Natascha hielt ihn auf. „Lass sie in Ruhe, Nick. Sie braucht Zeit, um das alles zu verarbeiten.“ Natascha schüttelte noch einmal langsam den Kopf. „Sie hat dir wirklich vertraut.“ Nick sah Alexandra und Natascha nach, die ins Auto stiegen und losfuhren, und wartete vergeblich darauf, dass sich Alexandra noch einmal nach ihm umsah. Aber da war nichts. Nur eine kalte, meterhohe Wand aus Eis, die sie um sich gezogen und Nick ausgesperrt hatte. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit konnte er sich vom Anblick der leeren Einfahrt losreißen. Er wankte irgendwie nach drinnen und schloss die Tür hinter sich. Anschließend schleppte er sich wieder ins Schlafzimmer, zog sich die Decke über den Kopf und fiel in einen unruhigen, von wirren Träumen unterbrochenen Schlaf.         Am nächsten Morgen war Nick wie zerschlagen. Er hatte es zwar geschafft, den Sonntag größtenteils zu verschlafen, dafür aber die halbe Nacht lang wachgelegen und gegrübelt. Am liebsten hätte er Javier angerufen, aber das ging nicht. Er hatte seine Nummer immer noch nicht und Renatas Nummer aus dem Telefonbuch herauszusuchen, traute er sich nicht. Zumal nachts um halb drei vermutlich nicht die richtige Uhrzeit war, um bei ihr anzuklingeln und zu fragen, ob er Javier sprechen konnte. Der Gedanke an Renata warf wiederum die Frage auf, ob Javier auch ihr von Nicks Geständnis erzählt hatte.Was das anging, hatte Nick nicht die geringste Ahnung, was im Bereich des Möglichen lag. Nach dem, was er Javier an den Kopf geworfen hatte, war dieser vermutlich höchst gekränkt gewesen und Nick hätte viel dafür gegeben, wenn er die bösen Worte hätte zurücknehmen können. In dem Moment war er einfach zu überrascht gewesen und da war so viel mit hochgekommen, was er zu lange verdrängt hatte. Insgeheim hoffte er, dass Javier ihm vielleicht verzeihen konnte und sie … keine Ahnung. Freunde werden konnten. Obwohl Nick, wie es aussah, nicht so der beste Freund war, den man haben konnte. Er hatte überlegt, ob er Alex eine Nachricht schicken sollte, aber dann hatte er sich auf seine Finger gesetzt und das Handy sehr, sehr weit weggelegt. Diese Angelegenheit war nichts, was sich durch eine einfache, elektronische Nachricht wieder aus der Welt schaffen lassen würde. Wenn ihm das überhaupt gelang. Irgendwann kurz bevor der Wecker geklingelt hatte, war er dann noch einmal eingeschlafen, nur um mit dem ersten Piepen zu wünschen, dass er doch bitte noch weiterschlafen konnte. Aber es half ja nichts. Er musste zur Arbeit, obwohl er einen ganz kleinen Moment erwog, sich einfach krankzumelden. Aber das würde das Problem nur aufschieben und falls Renata tatsächlich etwas von der Sache wusste, würde sie ohnehin Lunte riechen, dass seine Krankheit nur vorgeschoben war. Also erhob er sich, wankte ins Bad und stand viel zu lange unter dem warmen Wasserstrahl der Dusche, sodass er sich zum Schluss beeilen musste, um noch pünktlich im „El Corpiño“ anzukommen.   Normalerweise war Nick immer der Erste, der den Laden betrat, aber heute war die Vordertür bereits offen, als er aufschließen wollte. Mit einem unguten Gefühl trat er ein. Es brannte nur das Licht in der Teeküche und für einen Augenblick hatte er die Hoffnung, dass Lisa vielleicht vor ihm gekommen war, als ihm einfiel, dass sie heute Geburtstag hatte und daher angekündigt hatte, dass sie erst etwas später kommen würde, damit ihr Freund sie noch zum Frühstück ausführen konnte. Das ließ nur einen Schluss zu: Renata war bereits im Laden und das versprach nichts Gutes. Mit einem Stein im Magen ging er langsam zwischen den Kleiderständern in Richtung Büro. Unter der Tür war ein Lichtschein zu sehen. Nicks Herz klopfte ihm bis zum Hals, aber er nahm all seinen Mut zusammen, trat auf die erste Stufe und klopfte an. „Herein“, klang es dumpf von drinnen und Nick griff mit zitternden Fingern nach der Klinke. Renata saß hinter ihrem Schreibtisch … und sie war nicht allein. Neben ihr stand Javier und sah blass und unglücklich aus. „Guten Morgen“, sagte Nick und hatte plötzlich das Gefühl, zu viele Arme und Beine zu besitzen. Die Hoffnung, dass vielleicht doch alles nicht so schlimm werden würde, verflüchtigte sich in dem Moment, als Renata auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch wies. „Wenn Sie sich vielleicht einen Augenblick setzen würden, Herr Kaufmann.“ Nicht Nick, nein, er war wieder Herr Kaufmann so wie am Tag seines Bewerbungsgesprächs, an dem er mit einem unschuldigen Lächeln versichert hatte, dass er schwul war und die Kundinnen nichts vor ihm zu befürchten hatten. Diese Seifenblase war nun offensichtlich geplatzt. „Ich glaube, ich bleibe lieber stehen“, antwortete er und bemühte sich, das Beben, das seinen Körper erfasst hatte, nicht auch in seiner Stimme bemerkbar werden zu lassen. Es gelang ihm nicht besonders gut. „Sie wissen vielleicht, worum es geht?“ Renata musterte ihn mit einem Gesichtsausdruck, den er bisher nur einmal bei ihr erlebt hatte. Damals hatte er eine Ladendiebin auf frischer Tat geschnappt und als er die junge Frau zu seiner Chefin gebracht hatte, hatte Renata genauso ausgesehen. „Nein.“ Es war eine Lüge und sie wusste das vermutlich, aber er wollte hören, was ihm zur Last gelegt wurde. Sie runzelte die Stirn. „Als ich Sie hier eingestellt habe, geschah das auf der Grundlage Ihrer Versicherung, dass Sie homosexuell sind. Ich habe hier immerhin ein Geschäft für Damenunterwäsche und muss für die Unversehrtheit der Intimsphäre meiner Kundinnen Sicherheit tragen. Nun wurde mir zugetragen, dass diese Angabe Ihrerseits nicht der Wahrheit entsprach. Ist das korrekt?“ Nicks Blick glitt zu Javier. Der sah ihn nicht an, sondern musterte stattdessen irgendetwas auf dem Schreibtisch seiner Tante. Es zog Nick das Herz zusammen. Er hätte so gerne mit ihm geredet, ihm erklärt, was da Samstagnacht passiert war, aber das hier war jetzt weder die Zeit noch der Ort dafür. Jetzt musste er sich erst einmal vor seiner Arbeitgeberin verantworten. Trotzdem wählte er seine Worte sorgfältig. „Ich hatte bisher noch keine homosexuelle Beziehung.“ Noch bevor Renata ihn unterbrechen konnte, sprach er schnell weiter. „Aber ich versichere, dass ich nie die Absicht hatte, jemandem zu schaden. Ich habe mich den Kundinnen stets nur auf professioneller Ebene genähert. Ich … ich meine, es gibt doch auch jede Menge Ärzte oder männliche Krankenpfleger. Denen wird doch auch nicht gleich unterstellt, dass sie ein sexuelles Interesse an ihren Patienten haben. Warum wird mir das jetzt vorgeworfen?“ Renata seufzte. Anscheinend hatte auch sie diese Gedankengänge bereits gehabt. Sie sah ihn mit traurigen Augen an. „Das ist richtig und das ist es auch nicht, was ich Ihnen zur Last lege. Es geht darum, dass Sie sich die Anstellung unter der Vorspiegelung falscher Tatsachen erschlichen haben.“ Sie seufzte noch einmal. „Du hast mich angelogen, Nick. Das ist es, was mich zu diesem Schritt bringt.“ Sie reichte ihm ein Schriftstück. Nick musste es nicht lesen, um zu wissen, dass es sich um seine Kündigung handelte. Darin würde sicherlich irgendetwas von „Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses“ stehen, mit der Renata das Recht auf ihrer Seite hatte, ihn mit sofortiger Wirkung zu feuern. Es war vorbei. Er würde seine Sachen packen und das „El Corpiño“ für immer verlassen müssen. Seine Kehle wurde eng. „Kann ich … kann ich nochmal kurz mit Javier reden, bevor ich gehe?“ Renata sah ihn mitleidig an. „Das kann ich nicht entscheiden. Du wirst es ihn selbst fragen müssen.“ Nick versuchte, Javiers Blick einzufangen, aber der starrte weiter in eine andere Richtung. „Javier … Jay?“ Die Nennung seines Spitznamens ließ Javier endlich aufblicken. In seinen Augen lag ein Ausdruck, der Nick das Herz abschnürte. „Ich … wollte dir nur sagen, dass es mir leidtut. Was ich zu dir gesagt habe, es war … gemein und unfair. Ich möchte mich dafür entschuldigen.“ Javier antwortete nicht. Er sah Nick nur an, bevor er den Kopf wieder senkte. Keine Erwiderung, kein Nicken oder sonst ein Zeichen, dass er Nick verziehen hatte. Gar nichts. Nick schloss für einen Augenblick die Augen, bevor er sich wieder Renata zuwandte. „Ich werde noch meine Sachen holen. Ich … es tut mir leid.“ Er drehte sich um und ging langsam aus dem Büro. In der Teeküche räumte er im Schneckentempo seine wenigen Habseligkeiten zusammen in der Hoffnung, dass Javier vielleicht doch noch kommen und mit ihm reden würde. Aber er kam nicht. Schließlich war alles zusammengepackt und Nick verließ den Laden, als die ersten Kundinnen ihn betraten. Eine der Frauen sprach ihn an und war sehr irritiert, als er sie nur knapp grüßte, bevor er an ihr vorbeiging. Er konnte hören, wie sie Renata fragte, was hier los sei. „Herr Kaufmann arbeitet ab heute nicht mehr hier.“ Dann schloss sich die Tür und Nick stand allein draußen in der Kälte. Er hätte am liebsten geheult. Aber er riss sich zusammen, zog den Kopf zwischen die Schultern und ging mit schnellen Schritten in Richtung seines Zuhauses, das ihm als letzte Zuflucht geblieben war. Als er dort ankam, legte er nur noch Schuhe und Mantel ab, bevor er sich wieder in sein Bett verzog. Wenn er Glück hatte, würde sich ja vielleicht der Boden darunter irgendwann auftun und ihn verschlucken. Vermissen würde ihn sicherlich niemand.       Javier war gerade dabei, einige BHs wieder auf Bügel zu ziehen, als sich die Ladentür mit einem lauten Klingeln öffnete und Lisa hereinstürmte. „Er hat mich gefragt!“, schrie sie und strahlte von einem Ohr zum anderen. „Michael hat mir endlich einen Antrag gemacht. Und ich hab Ja gesagt!“ Javier lächelte ein wenig. "Das ist toll. Ich freu mich für dich.“ Lisa wirkte wie ein Frühlingssturm mitten im Herbst mit roten Wangen und strahlenden Augen. In Javier hingegen hatte bereits der Winter Einzug gehalten. Wenn er an Nicks Gesichtsausdruck dachte, als der heute Morgen ins Büro gekommen war, wurde ihm fast schlecht. „Wo ist Nick?“ Lisa sah sich suchend um. „Ist er im Büro?“ Javier schüttelte den Kopf. Es kratzte in seinem Hals. „Nick ist ...weg. Meine Tante hat ihn heute Morgen entlassen.“ „Was?“ Lisas Augen wurden groß. „Aber was …? Warum?“ „Nick hat … er hat gelogen, als er sich hier beworben hat.“ „Gelogen?“ Lisa schüttelte entschieden den Kopf. „Aber doch nicht Nick. Ich meine, was sollte er denn zu verbergen haben? Nick ist der anständigste Mensch, den ich kenne.“ Javier zuckte nur mit den Schultern. Er hatte keine Lust, die Geschichte zu erzählen. Das konnte jemand anderes machen. Jemand, der nicht darin involviert war. Jemand, dem das Ganze nicht so wehtat. Irgendjemand nur nicht er. Er dachte an die Nachricht, die Alexandra ihm gestern Morgen geschickt hatte.   Spinnst du?Nick ist auf jeden Fall schwul. Ich hab ihn noch nie mit einer Frau gesehen.   Er hatte geschnaubt und getippt:   Aber mit einem Mann? Glaub mir, ich bin mir vollkommen sicher.   Daraufhin war eine Weile gar nichts gekommen, bis Alex schließlich geschrieben hatte: Wir kommen auf dem Rückweg vom Flughafen bei dir vorbei.   An die Szene, wie er Nicks bester Freundin auseinandergesetzt hatte, dass Nick im betrunkenen Zustand mit ihm rumgemacht, ihn dabei für Alexandra gehalten und ihn dann mit einer üblen Beschimpfung hinausexpediert hatte, erinnerte sich Javier nicht gern. Alexandra war daraufhin vollkommen aufgelöst gewesen und hatte von Natascha beruhigt werden müssen. Javier war erst in diesem Moment wirklich klargeworden, was er damit eigentlich alles angerichtet hatte, als er im Brast diese dämliche Nachricht verfasst und abgeschickt hatte. Er hätte es zu gerne drauf geschoben, dass auch er angetrunken gewesen war, doch er wusste, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Und das war ja noch nicht mal alles. Damit, dass er seiner Tante davon berichtet hatte, hatte er die Sache vom privaten in Nicks berufliches Umfeld getragen. Er hatte in dem Moment einfach vergessen, dass sie eben nicht nur ein Familienmitglied sondern auch Nicks Chefin war. Er hatte doch nur … er hatte sich nicht immer wieder vorhalten lassen wollen, wie toll Nick und wie armselig er daneben war. Aber sie hatten Recht. Sie hatten alle Recht. Er war eben doch armselig und hatte sie alle enttäuscht. Seine Eltern, seine Tante, seine Freunde … und Nick. Wenn er die Klappe gehalten hätte, hätten sie das ja vielleicht noch klären können, aber so? Warum hatte Nick das nur gemacht? Warum hatte er Javier glauben lassen, dass er schwul war? Warum hatte er das allen anderen erzählt? Javier verstand es nicht und es ging ihm die ganze Zeit im Kopf herum, während er versuchte so zu tun, als würde er arbeiten.   In der Mittagspause verkroch er sich ins Lager, setzte sich auf einen umgedrehten Putzeimer und zog sein Handy heraus. Er hatte keine Nachrichten und erwartete auch keine. Mit hängendem Kopf starrte er auf die leere Zeile seiner Suchmaschine. Was sollte er da eingeben? „Schwul und Liebeskummer“ oder „Wie krieg ich ihn rum in zehn Tagen“ oder „Was mache ich, wenn ich mich wie ein Arschloch verhalten habe“? Er schloss die Augen und ließ den Kopf gegen das Regal in seinem Rücken sinken. Das konnte es doch jetzt irgendwie nicht gewesen sein. Da musste doch irgendwie einen Weg raus führen. Aber wie? Er öffnete die Augen wieder und sah auf das immer noch leere Feld. Wie von selbst begannen seine Finger auf einmal, etwas zu schreiben. Er folgte dem ersten Link, scrollte nach unten und begann zu lesen.   In meinen jüngeren und verletzlicheren Jahren hat mein Vater mir einen Rat gegeben, der mir seither nicht mehr aus dem Kopf geht. „Jedes Mal, wenn du glaubst, jemand kritisieren zu müssen“, sagte er, „dann erinnere dich daran, dass nicht alle Menschen auf der Welt solche Privilegien wie du gehabt haben.“*   Er las und las und je mehr er las, desto mehr bekam er das Gefühl, dass irgendwo zwischen den Zeilen die Antwort stecken musste. Irgendwo in dieser Geschichte, die er einst so gehasst und dessen Flair Nick so begeistert hatte, musste es einen Hinweis geben, wie er das wieder gutmachen konnte, was er angerichtet hatte. Und wenn es Tage dauern würde. Er würde ihn finden. Irgendwann.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)