Tatsächlich schwul von Maginisha ================================================================================ Kapitel 6: Paso Doble --------------------- Das Licht im Saal war gedämmt und der dunkle Parkettboden spiegelte die weißen Tischtücher und herbstlichen Blumenarrangements, die auf den kleinen Tischen rund um die Tanzfläche verteilt waren. Nick konnte vom Foyer aus erkennen, dass einige bereits besetzt waren, und er war sich sicher, dass sich die Reihen bald noch mehr füllen würden. Er lächelte der Dame an der Garderobe zu. „Nur den Mantel bitte.“ Sie reichte ihm einen Chip mit einer Nummer über die Theke. „Bitte sehr. Und nicht verlieren, sonst kann ich Ihnen die Sachen nachher nicht herausgeben.“ Nick nickte artig. „Keine Sorge, ich werde gut darauf aufpassen.“ Er steckte den Chip in die Hosentasche und betrat den Saal. Er war schon auf verschiedenen solcher Veranstaltungen gewesen. Mottopartys unter dem Banner von Schlager, 70er, 80er, 90er, ja sogar Swing und Rock'n Roll hatte es gegeben. Nachmittägliche Tanztees mit einem Publikum zwischen 14 und 24 oder alternativ ab 60 aufwärts. Latino-Festivals oder Abende, an denen nur die klassischen Standard-Tänze gespielt wurden. Nick war, was das anging, nicht wählerisch. Obwohl es natürlich Veranstaltungen gab, zu denen er lieber ging als zu anderen. Abende wie dieser gehörten dazu, wenn die Gäste in feiner Garderobe zum Tanzvergnügen kamen, statt sich den Abend vor dem Fernseher oder im Kino zu vertreiben. Nicks persönlicher Favorit war die Zeit gewesen, als die Kinofassung von 'The Great Gatsby' einen wahren Boom an Tanzpartys im Stil der 20er Jahre ausgelöst hatten. Dass er den Vornamen mit der Hauptfigur des Films teilte, hatte nur einen Teil der Faszination ausgemacht. Die Epoche, die man gemeinhin 'Die Goldenen Zwanziger' nannte, übte einen unheimlichen Reiz auf Nick aus. Die Musik, die Mode, der ganze Lebensstil waren etwas, das er sich wünschte, einmal hautnah mitzuerleben. Sein Wohnzimmer beherbergte daher eine ganz beachtliche Sammlung von DVDs und CDs sowie Bücher rund um das Goldene Zeitalter. Er erinnerte sich daran, dass Alexandra ihn so spöttisch 'Eintänzer' genannt hatte. Nick konnte sich durchaus vorstellen, dass er damals vielleicht tatsächlich einer dieser Herren gewesen wäre, die von Hotels und Tanzsälen dazu angestellt wurden, alleinstehende Damen zum Tanz aufzufordern, nachdem der Erste Weltkrieg einen eklatanten Mangel an männlichen Tanzpartnern verursacht hatte. Heutzutage hingegen war es eher so, dass die Herren der Schöpfung, sich einfach nicht so gern auf der Tanzfläche zeigen wollten. Was früher zum guten Ton gehört hatte, geriet mehr und mehr in Vergessenheit, auch wenn Fernsehsendungen wie 'Let's Dance' dem Ganzen nochmal einen gewissen Aufschwung gegeben hatten. Nick hingegen liebte die Herausforderung, sich dem wechselnden Takt der verschiedenen Tänze anzupassen und vor allem natürlich seiner Tanzdame einen schönen Abend zu bereiten.   Mit zielgerichteten Schritten ging er zum Kopfende des Saals, wo ihn Rainer, der Besitzer der Tanzschule Petzold, bereits erwartete. Über den Tischen schwebte ein klassischer Walzer. „Ah, Nick, schön dass du kommen konntest. Ich war schon drauf und dran, dich anzurufen, nachdem Robert und Martin beide für heute abgesagt hatten. Wir bräuchten auch noch jemand für den Fortgeschrittenen-Kurs am Donnerstag. Hättest du Zeit?“ Sich von nervös kichernden Sechzehnjährigen auf die Füße treten zu lassen, war zwar nicht gerade Nicks Lieblingsbeschäftigung, aber warum eigentlich nicht? Es war ja nicht so, dass er etwas Besseres vorhatte. „Na klar, du kannst auf mich zählen. Eröffnest du nachher mit Carola?“ „Ah, ich würde ja, aber mein Kreuzband ist immer noch nicht wieder ganz in Ordnung. Würdest du das übernehmen?“ „Kein Problem. Irgendwelche besonders einsamen Herzen heute?“ „Der rechte Flügel gehört quasi ganz dir. Die Grippewelle scheint dieses Jahr nur die tanzwilligen Männer zu erwischen.“ Nick ließ den Blick unauffällig über die Tische schweifen. Dort saßen zwei ältere Damen mit grauen Lockenfrisuren. Erfahrungsgemäß würden die beiden mit ein oder zwei Tänzen an diesem Abend zufrieden sein. Drei weitere Frauen mittleren Alters, von denen Nick eine schon von anderen Veranstaltungen kannte, saßen jeweils allein an einem Tisch. Sie würde er sicher öfter auffordern müssen. Eine vierte setzte sich gerade, erhielt jedoch kurz darauf Begleitung von einem Herrn im Anzug, der sich vermutlich um die Garderobe gekümmert hatte. Keine allzu große Gruppe, die er versorgen musste Vermutlich würde er dabei nicht in Schweiß kommen.   Das Licht im Saal wurde ähnlich wie bei einer Theaterpause zweimal abgedunkelt, bevor Rainer mit einem strahlenden Lächeln die Tanzfläche betrat. Er wartete ab, bis sich die letzten Gäste gesetzt hatten, bevor er seine Eröffnungsrede begann. „Meine Damen und Herren, ich darf Sie ganz herzlich hier bei unserer Tanzparty begrüßen. Wir wollen heute Abend Spaß haben und ordentlich das Tanzbein schwingen, wie man so schön sagt. Weil mein eigenes mich allerdings gerade ein wenig im Stich lässt, werde ich jetzt meine wunderbare Begleiterin Carola und unseren fleißigen Gastherren Nick auf die Tanzfläche bitten, um diese für uns zu eröffnen. Sie sind natürlich alle eingeladen, die beiden tatkräftig zu unterstützen. Er begann die Hände zusammenzuschlagen und die anwesenden Gäste fielen in den Applaus ein, während Nick Carola am ausgestreckten Arm auf die Tanzfläche führte. Er spürte den Boden unter den dünnen Rauledersohlen seiner glänzend polierten Tanzschuhe, sein schwarzer Anzug war ohne das geringste Staubkorn, das weiße Hemd faltenfrei gebügelt. Statt einer Krawatte zierte heute eine schwarze Fliege seinen Hals. Er lächelte, allerdings nicht so breit, wie es Turniertänzer bei einer Vorführung zu tun pflegten. Das hier war schließlich keine Show und er wollte hier keinen Eindruck schinden, sondern einfach nur eines: tanzen.   Als die ersten Takte, von „Hijo de la Luna“ durch den Raum klangen, konnte Nick sich ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen. Ein Wiener Walzer war nicht unbedingt die beste Wahl, um eine Tanzveranstaltung zu eröffnen, und auch wieder doch. Er erlaubte eine raumgreifende Einführung, die die anderen Paare dazu einlud, sich den ersten Tänzern auf der Fläche anzuschließen. Vermutlich würde Rainer das Lied irgendwo gegen Ende ausblenden und dann einen einfacheren Diskofox auflegen, aber für den Moment waren er und Carola allein mit sich und der Legende vom Mond. Renata hatte ihm den Text irgendwann mal übersetzt, als sie gehört hatte, dass er das Lied im Laden vor sich hingesummt hatte. Es handelte von einer Frau, die sich hilfesuchend an den Mond wandte, um den Mann ihrer Träume zu bekommen. Als die Frau später ein Kind gebar, war es jedoch nicht dunkel wie sie und der Zigeuner, in den sie sich verliebt hatte, sondern weiß wie das Fell eines Hermelins. Der Mann tötete daraufhin die Frau, weil er glaubte, dass sie ihn betrogen hatte, und brachte dem Mond das Kind zurück. Es wurde zum „Hijo de la Luna“, zum Sohn des Mondes. Wann immer der Mond nun voll am Himmel stand, so hieß es in dem Lied, ginge es dem Kind gut. Aber wenn es anfange zu weinen, dann nehme der Mond ab, um es in seiner Sichel zu wiegen, bis es nicht mehr traurig sei. Nick hob die Arme und die blonde Carola nahm ihre Position darin ein. Er streckte den Rücken durch, hob den Kopf und begann, sie im Takt der Musik ein paar Mal hin- und herzuschwingen, bevor er nach einer kurzen, nonverbalen Ansage in die ersten Drehungen eintauchte. Die Lichter um sie herum verschwammen zu unscharfen Streifen, während sie in perfekten halben Drehungen zum anderen Ende der Tanzfläche schwebten. Nick hielt sich nicht lange mit einem Zwischenspiel auf, wechselte die Richtung und erlaubte sich über die kurze Seite des Saals einige Linksdrehungen, bevor er Carola wieder über die andere Seite durch den Raum wirbelte. „Du bist ein alter Angeber“, flüsterte Carola mit einem verhaltenen Grinsen, als er sich entsprechend des Taktes endlich dazu hinreißen ließ, wieder in den einfachen Wiegeschritt zu verfallen. „Gar nicht“, gab er zurück und drehte sie zur Strafe ein wenig unerwartet unter seinem Arm durch, sodass sie jetzt nebeneinander tanzten. Die ersten Paare begaben sich auf das Parkett und begannen ebenfalls, sich im Takt der Musik zu wiegen. „Klar gibst du an.“ Carola lachte jetzt und Nick beschloss, dass es für den Anfang genug war. Er verbeugte sich vor ihr und führte sie zurück an den Rand, wo sie von Rainer in Empfang genommen wurde. Nick strebte indes der tanzerfahrenen Dame zu um sie mit einer Verbeugung aufzufordern. Sie reichte ihm ihre Hand und gemeinsam bestritten sie noch den Rest des Liedes, bis es, wie Nick vermutet hatte, tatsächlich ausgeblendet und durch einen einfacheren Rhythmus ersetzt wurde. Er wechselte die Haltung und bestritt die nächsten Tänze mit verschiedenen Partnerinnen. Dabei achtete er stets darauf, nicht zu lange bei einer Dame zu bleiben, sondern seine Aufmerksamkeit gleichmäßig zu verteilen.   Nick tanzte gerade mit einer der gesetzteren Damen einen Langsamen Walzer, als die Musikrichtung wechselte und eindeutig flottere Rhythmen aus den Lautsprechern drangen. „Oh“, sagte seine Tanzpartnerin und blieb stehen. „Ich fürchte, da muss ich passen. Meine Hüfte ist nicht für Samba geschaffen.“ Nick lächelte. „Ach, das kann ich mir gar nicht vorstellen. Sie hüpfen doch wie ein junges Reh. Aber vielleicht möchte mir ja Ihre Freundin Gesellschaft leisten?“ Er bot ihr seinen Arm an und führte sie zum Platz, der jedoch verwaist war. Von der Begleiterin der älteren Dame war nichts zu sehen. Nick verbeugte sich. „Ich werde später noch einmal vorbeikommen. Jetzt ruft mich die Pflicht.“ Er sah sich um, welche der Damen jetzt an der Reihe war, als er am Rand der Tanzfläche eine Frau bemerkte, die offensichtlich erst später gekommen war. Sie trug ein schwarzes, enganliegendes Abendkleid, die dunklen Haare waren zu einer aufwendigen Hochsteckfrisur zusammengefasst und an ihrem Arm glitzerte ein Armband aus funkelnden Strasssteinen, die, wenn sie echt gewesen wären, ein Vermögen gekostet hätten. Sie hatte eine schmale, schwarze Handtasche auf den Tisch gelegt, aus dem sie gerade einen Lippenstift herausnahm. Langsam zog sie die dunkelrote Linie nach und formte die vollen Lippen zu einem sinnlichen Schmollmund, bevor sie den Stift wieder in der Tasche verschwinden ließ. Als sie aufsah, trafen sich ihr und Nicks Blick. Sie hob fragend eine Augenbraue. Er lächelte und schob sich dann zwischen den Tischen hindurch auf sie zu. „Ich muss mich entschuldigen. Ihre Anwesenheit muss mir bisher entgangen sein.“ Sie lehnte sich ein wenig zurück und schlug die Beine übereinander. Er sah den langen Schlitz in ihrem Rock, der sich bis über die Mitte des Oberschenkel zog. Darunter kamen wohlgeformte, schlanke Beine zur Vorschein, die in einer hauchdünnen Seidenstrumpfhose steckten. Nein, halt. Er hatte sich geirrt. Gerade war der Rock noch ein Stückchen weiter nach oben gerutscht und entblößte so den Ansatz eines Spitzenrandes. Halterlose Strümpfe also. Nick riss seinen Blick los und sah, dass sie sich der Wirkung ihrer Bewegung durchaus bewusst war. „Ich bin gerade erst gekommen“, sagte sie und ließ den Blick über den Saal schweifen. „Ich hatte gehofft, hier einen Tanzpartner finden zu können. Aber wie es scheint sind alle Herren bereits vergeben.“ Sie sah Nick tief in die Augen. Er verhinderte gerade noch ein Schlucken. Die Frau wirkte nicht viel älter als Nick, aber die sehr, sehr feinen Falten um ihren Mund und die Augen herum verrieten, dass sie die 40 bestimmt schon überschritten hatte. Er verbot sich jegliche Spekulation darüber, warum und weshalb sie nun heute allein hierher gekommen war. Schließlich gehörte es zu seinen Aufgaben, genau solche Frauen zum Tanzen aufzufordern. Er schob seine Mundwinkel nach oben. „Nun, was die Sache mit dem Tanzen angeht, könnte ich mich zur Verfügung stellen. Ich bin Nick und Ihr heutiger Gastherr.“ Er reichte ihr seine Hand. Sie legte ihre darauf und wartete offensichtlich auf etwas. Er hob die Augenbrauen. „Wenn ich bitten dürfte?“ Sie erhob sich und verzog die roten Lippen zu einem Lächeln. „Mit dem größten Vergnügen. Ich hoffe, dir liegen lateinamerikanische Tänze?“ „Natürlich.“ Nick wies auf die Tanzfläche. „Wollen wir anfangen?“   Als sie das Parkett betraten, wechselte die Musik gerade zu einer langsameren Rumba. Wie Nick erwartet hatte, bewegte sich seine neue Partnerin höchst gekonnt. Sie tanzte genau mit der richtigen Mischung aus sinnlichem Hüftschwung und zackigen Bewegungen, die diesen Tanz ausmachten. Nach und nach baute Nick immer mehr Figuren ein, die inzwischen weit über das Niveau eines Anfänger- oder gar Fortgeschrittenenkurses hinaus gingen. „Sie tanzen gut“, sagte er und drehte sie unter seinem Arm hindurch. Sie lächelte und wischte mit einer gekonnten Drehung wieder an seine Seite. „Ich habe das mal semiprofessionell gemacht. Daher kenne ich Rainer. Wir haben uns früher öfter auf Turnieren getroffen. Ich bin über das Wochenende in der Stadt und dachte mir, ich schaue mal vorbei. Eigentlich komme ich aus Frankfurt.“ Nick legte ihr die Hand auf den Rücken und beugte sie leicht zurück, nur um sie dann wieder an sich zu ziehen. Der Blick, den sie ihm dabei zuwarf, fuhr ihm direkt unter die Haut. Sie stand jetzt ein wenig näher, als die offene Tanzposition, die sie ausgewählt hatten, eigentlich erlaubte und ihre linke Hand rutschte an seiner Seite entlang ein Stück in Richtung seiner Taille. Zum Glück endete die Musik in diesem Augenblick, sodass er sich aus der Tanzhaltung löste und gemeinsam mit den anderen Paaren kurz applaudierte. Sie musterte ihn sichtbar und ein feines Lächeln umspielte ihre Lippen. Nick spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Ein Fanfarenstoß rettete ihn davor, etwas sagen zu müssen. Der nächste Tanz begann. Sie legte den Kopf schief und lauschte. Ihr Lächeln wurde breiter. „Ah, ein Paso Doble. Und, Nick? Bist du bereit den Stier bei den Hörnern zu packen?“ Er war sich bewusst, dass das eine Anspielung war. Seine Gedanken überschlugen sich. Die Wahrscheinlichkeit, dass er diese Frau irgendwann wiedersah, gingen gegen Null. Genau das war es wohl auch, was sie suchte. Ein unterhaltsamer Abend, an die sich eine ebenso unterhaltsame Nacht anschloss. Unverbindlich und diskret für beide Seiten. Im Grunde ein einmaliges Angebot, das sich so mancher sicherlich nicht entgehen lassen würde. Nick zögerte trotzdem. „Ich … würde gerne diesen Tanz mit Ihnen tanzen“, sagte er schließlich und öffnete seine Arme zur geforderten Tanzhaltung. Sie lächelte und trat in seine Arme. „Keine Hektik, du kannst es dir ja noch überlegen. Aber zunächst einmal tanzen wir.“ Und das taten sie.   Der Paso Doble war einer der schwierigsten Tänze, die in der Tanzschule unterrichtet wurden. Er enthielt zwar nur eine Reihe nicht allzu komplizierter Schrittfolgen, erforderte aber zusätzlich eine andere Tanzhaltung als die anderen, lateinamerikanischen Tänze. Nick hielt den Kopf oben, spannte den Rücken und die Oberschenkel an und schob gleichzeitig seinen Unterkörper nach vorn. Dadurch verlagerte sich sein Schwerpunkt nach hinten und gab ihm eine stolze, fast schon arrogante Haltung. Diese war jedoch beabsichtigt, denn beim Paso Doble stellte der Tänzer einen spanischen Stierkämpfer dar, während seine Partnerin zur Muleta, dem berühmten, roten Tuch, wurde. Die immer noch namenlose Frau verstand es vortrefflich, diese Rolle auszufüllen. Sie ließ sich von Nick herumwirbeln, als besäße sie selbst kein Gewicht, doch wann immer sich ihre Blicke trafen, war es, als hätte man flüssiges Feuer in seine Adern gegossen. Er vergaß die Gesellschaft um sich herum, vergaß, dass er eigentlich noch andere Tanzpartnerinnen hatte, vergaß, dass das hier nur eine ganz gewöhnliche Tanzveranstaltung im Saal eines bereits leicht in die Jahre gekommenen Hotels war. In diesem Augenblick war Nick der Torero, dessen Leben vom vortrefflichen Gebrauch seiner einzigen Ablenkung gegen den übermächtigen Stier abhing. Wie im Stierkampf hielt er seine Partnerin größtenteils auf Abstand, doch immer, wenn sich ihre Körper einander näherten, glaubte er den Gluthauch der Arena zu spüren. Die Sonne, die ihm im Nacken brannte, das Raunen der Menge, wenn wieder ein Angriff ins Leere gegangen war. Es war ein Tanz auf Leben und Tod. Als das Lied ausklang und eine Zwischenmusik eine Pause ankündigte, stand Nick schwer atmend auf der Tanzfläche. Seine Partnerin lächelte verschmitzt. „Eine gelungene Vorstellung. Wobei ich glaube, dass ich nicht die Einzige bin, die das zu schätzen wusste.“ Nick runzelte fragend die Stirn. „Ich verstehe nicht recht …?“ Sie deutete hinter Nick. Er drehte sich um und erstarrte. Am Rand der Tanzfläche stand Javier. Er war gegen eine der Säulen gelehnt, die die hölzerne Decke abstützten, und sah genau in Nicks Richtung. In seiner Aufmachung wirkte er etwa so passend wie ein streunender Kater auf einer Ausstellung für Rassekatzen. Oder Hunde, wenn Nick Rainers Gesichtsausdruck richtig deutete. Der Besitzer der Tanzschule hatte den Jungen entdeckt und steuerte mit nicht gerade freundlicher Miene genau auf ihn zu. Nick überlegte nicht lange. Er entschuldigte sich eilig bei seiner Tanzpartnerin und ließ sie ganz entgegen der Etikette auf der Tanzfläche stehen, um Rainer abzufangen. „Hey, keinen Stress. Ich kümmere mich um ihn.“ Rainer ruckte mit dem Kopf in Javiers Richtung. „Kennst du den etwa?“ Nick zog ein wenig die Schultern hoch. „Kollege von der Arbeit. Soll nicht wieder vorkommen.“ Der Tanzschulenbesitzer nickte knapp und Nick wirbelte herum. Mit langen Schritten ging er auf Javier zu, nahm diesen ohne eine Begrüßung am Arm und schob ihn ins Foyer. Erst dort drehte er ihn zu sich herum. „Was willst du hier?“ Javier zog spöttisch eine Augenbraue nach oben. „Ich wusste ja nicht, dass das hier eine geschlossene Gesellschaft ist.“ „Ist es nicht.“ Nick wusste eigentlich selbst nicht, warum ihn Javiers Erscheinen so aufregte. „Aber hier herrscht heute Dresscode, den du garantiert nicht erfüllst.“ Er wies auf Javiers Jeans, die statt der gemäßigten Version von heute Vormittag wieder dem vollkommen zerschlissenen Modell von ihrem ersten Zusammentreffen gewichen war. Javier schob die Hände in die Hosentaschen. Ob er eigentlich wusste, dass er die Jeans dabei verboten tief schob? „Wollte mal gucken, was du so machst.“ „Das wusstest du doch schon. Ich tanze.“ Nick kam sich irgendwie albern vor. Hier im Foyer war es merklich kühler und ihm wurde bewusst, dass er geschwitzt hatte. Der abgetretene, grüne Teppich hatte definitiv schon bessere Zeiten gesehen und auf der dunklen Holzvertäfelung schien eine Patina zu liegen, die selbst die beste Möbelpolitur nicht mehr ganz entfernen konnte. Immerhin hatte Rainer heute die überzähligen Stühle wegräumen lassen, die sonst den Gang verstopften, wenn die jüngeren Tanzschüler hier auf den Beginn der Stunde warteten. In der Luft lag ein leichter Rauchgeruch. Vermutlich hatte die Garderobiere, die jetzt durch Abwesenheit glänzte, heimlich eine geraucht. „Ja, hab ich gesehen.“ Javier grinste breit. „War gar nicht schlecht. Wie hieß der letzte Tanz.“ „Das war ein Paso Doble.“ Nick zögerte kurz und fügte dann hinzu: „Ein spanischer Tanz übrigens.“ Javiers Mundwinkel zuckten. „Ich kann ja nicht tanzen. Maximal Matratzen-Tango. Wenn du den mal versuchen möchtest?“ Er wackelte mit den Augenbrauen und Nick konnte nicht anders, als zu lachen. Er schüttelte leicht den Kopf. „Du gibst nicht auf, oder?“ Javier zuckte mit den Schultern. „Du hast nur gesagt, ich soll nicht im Geschäft mit dir flirten. Wir sind nicht im Geschäft.“ Er trat einen Schritt näher und hob die Hand. Bevor Nick reagieren konnte, hatte er Nicks Fliege ergriffen und sie ein wenig zurecht gerückt. „Hast du eigentlich auch noch was anderes im Schrank als dieses Pinguindress?“ Nick rollte mit den Augen. „Also mit zerrupften Jeans kann ich nicht dienen, falls du das meinst.“ Er sah auf die Uhr. „Hör zu, ich muss wieder rein. Wäre besser, wenn du jetzt verschwindest.“ Javier schob das Kinn vor. „Und wenn ich nicht gehe?“ Nick seufzte innerlich. „Dann wird Rainer dich vermutlich rauswerfen lassen. Immerhin hat er hier Hausrecht.“ „Ich gehe, wenn du mal mit mir ausgehst.“ Nick hätte sich beinahe verschluckt. „Soll das jetzt eine Erpressung werden?“ Javier grinste und schob die Jeans noch weiter nach unten. Nick erwartete fast, dass sie gleich von seinen Hüften rutschte. „Wenn du so willst: Ja. Es ist eine Erpressung.“ Nick überlegte. Er hatte so gar keine Lust mit Javier auszugehen. Allerdings hatte er noch weniger Lust, Renata erklären zu müssen, warum sie ihren Neffen von der örtlichen Polizeiwache abholen musste. Noch dazu, wenn er das hätte verhindern können. Er seufzte. „Also schön. Ich gehe mit dir aus.“ „Ins Flamingo?“ Javiers dunkle Augen blitzten auf. Nick schloss die Augen und fragte sich, welche Gottheit er wohl verärgert hatte, um dieses Schicksal zu verdienen. Aber es half ja nichts. „Meinetwegen auch ins Flamingo.“ Javier schien zufrieden mit seiner Ausbeute. Er nahm die Hände wieder aus den Hosentaschen, strich noch einmal über das Revers von Nicks Jackett und zwinkerte ihm dann zu. „Alles klar, dann nächsten Samstag im Flamingo. Man sieht sich, Nickyboy.“ Nick wollte noch etwas erwidern, aber Javier hatte sich schon herumgedreht und strebte dem Ausgang zu. Wenn Nick sich nicht allzu sehr täuschte, ließ er dabei ein wenig mehr Hüftschwung walten, als eigentlich notwendig war. Nick schüttelte den Kopf und seufzte noch einmal, bevor er sich ebenfalls herumdrehte und wieder zurückging.   Drinnen empfing ihn die überhitzte Luft des Tanzsaals. Ihm war nicht bewusst gewesen, wie warm es hier drinnen war. Die Tanzpause war inzwischen vorbei und die Paare legten gerade mal wieder einen beliebten Diskofox aufs Parkett. Nick sah sich um und entdeckte seine vorherige Tanzpartnerin an ihrem Platz. In der Hand hielt sie ein Getränk. Ein Glas dunkler Rotwein, den sie sinnierend im Glas kreisen ließ. Als Nick sich näherte, sah sie auf und schmunzelte. „Ah, da ist mein kleiner Matador ja wieder. Obwohl es mir so vorkam, als hätte der Torrero bereits mit dem Stier angebandelt.“ Sie nippte an ihrem Wein. „Dein Freund?“ Nick wollte das schon verneinen, als ihm auffiel, das diese Erklärung vermutlich die kultivierteste Form wäre, ihre unausgesprochene Einladung abzulehnen. Er lächelte entschuldigend. „Ja … ich … Tut mir leid, dass ich Sie vorhin so auf der Tanzfläche habe stehen lassen.“ Die Dame schüttelte den Kopf. „Kein Problem, ich bin schon ein großes Mädchen. Wenn du mir den nächsten Tango reservierst, ist alles vergessen.“ Nick versicherte, dass er das natürlich tun würde, bevor er beinahe fluchtartig den Tisch verließ. Er forderte eine der grauen Eminenzen zu einem Slow Fox auf, aber er war nicht so recht bei der Sache. Die Gedanken schwirrten in seinem Kopf herum wie bunte Vögel. Die graugelockte Dame betrachtete ihn nachdenklich. „Na na, wer wird den den Kopf so hängen lassen.“ „Was?“ Nick schreckte hoch. „Oh, entschuldigen Sie, ich war in Gedanken.“ Sie lachte nur. „Ach mein Junge, als ich so alt war wie du, hatte ich auch so meine Sorgen. Aber die Liebe und das Singen lassen sich beide nicht erzwingen.“ Nick seufzte. „Da haben Sie wohl recht.“ Und er drehte sie noch einmal schwungvoll, bevor er sie zurück zu ihrem Platz führte.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)