SternenStolz von Runataurina ================================================================================ Kapitel 1: Unfreiwillig ----------------------- Dunkle Wolken hingen schwer am Himmel und sie spiegelten so ungefähr die innere Stimmung der immer noch jung aussehenden Frau mit den weißblonden Haaren wider. Lilane zählte 30 Sommer und dennoch wirkte sie wie eine junge Maid Anfang 20. Man hätte sie möglicherweise der Hexerei beschuldigt, über diesen seltsamen Umstand ihrer Jugend, doch es gab da einen ganz bestimmten Grund, der ihr Leben schützte – eine geheimnisvolle Gabe, die in ihrer Familie von der Mutter auf die Tochter weiter vererbt wurde. Schon lange blieb das Inkrafttreten jener Gabe aus, doch es existierte eine Bestimmung aus alten Schriften die besagte, dass einst ein edler König durch die Hand einer Rückführerin gerettet werden würde. Eine Rückführerin – das war das, was sie war. Unter bestimmten Umständen, die Lilane selber nicht genau kannte, sollte sie in der Lage sein einen Verstorben ein neues Leben zu schenken. Doch eigentlich sah sich Lilane nur als Heilkundige die gerne den Kranken und Verwundeten half. Es bereitete ihr Freude und sie wollte nichts anderes in ihrem Leben machen. Und nun schien es als würde ihre angeborene Gabe, die so sagenumwoben wie mächtig sein konnte, ihr jetzt zum Verhängnis zu werden. Verstohlen musterte sie mit ihren grünen Augen den angehenden König auf seinem großen Schimmel. Prinz Gogurn stellte sicher keine schlechte Partie dar, seine Figur sah stattlich aus, sein dunkles Haar ging ihm bis zu den Schultern und umrandete sein nicht mehr ganz jugendliches Gesicht. Lilanes Stute ließ sich etwas zurückfallen, die goldbraune Pferdedame mit der hellen Mähne blieb ihr als engste Vertraute. Seit Generationen lebte ihre Familie fernab der Städten und Festen im tiefen Inneren des weiten Moorsol-Waldes. Bei dem Gedanken daran seufzte die Frau. So wie es jetzt aussah, gehörte dieses Leben, welches sie so sehr geliebt hatte, der Vergangenheit an und sie schien nichts dagegen unternehmen zu können. Es war nicht das Aussehen, was an dem Prinzen abstoßend auf Lilane wirke, sondern sein Charakter. Gogurn von Tivolia zeigte sich gebieterisch, hart und unnachgiebig. Und er bekam immer was er wollte – und er wollte sie als seine Frau. Es gab keinen Antrag, kein Bitten und schon gar kein Verständnis für Lilane, die vor einigen Jahren Mutter, Vater und Großmutter durch einen Unfall verloren hatte. Der Prinz erließ in seiner kühlen Art einfach die Bestimmung, dass sie sich glücklich schätzen könne, als seine künftige Frau auserkoren worden zu sein. Um seine unglaubliche Großzügigkeit zu unterstreichen, kam er persönlich mit einem Trupp schwer bewaffneter Krieger vorbei, um sie abzuholen. Und jetzt ritt sie ihrer ungewissen Zukunft entgegen. Sie wollte keine Königin werden, wenn Gogurn an die Macht kam. Ein Leben an seiner Seite und noch dazu in der befestigten Stadt, weit weg von ihrem gewohnten Zuhause ... das alles fühlte sich für Lilane an, als falle sie in ein dunkles, alles verschlingendes Loch. Was sollte sie tun? Wie sollte sie das überstehen? Sie sah sich einem Leben voller Unglück entgegen reiten. Dabei wählte der Prinz sie nicht, weil er sie liebte, sondern um ihrer Gabe wegen. Vermutlich konnte er nicht einmal sich selbst lieben. Eine Rückholerin, also eine Heilerin die im Stande ist Toten ihr Leben zurück zu geben, sollte einem edlen zukünftigen König sein Leben zurück schenken. So sagte es eine alte Schrift, dabei legte die Weissagung keiner bestimmten Zeit fest, doch Gogurn war das egal, er wollte kein Risiko eingehen, wenn sie seine Frau war, konnte sie ihm schnell helfen, wenn es nötig werden würde. Lilane hörte die Krieger leise miteinander murmeln, doch sie verstand sie nicht. Die Bürger von Tivolia lebten unter dem jetzigen König gut und in Wohlstand. Die junge Frau kannte die Stadt nur von einigen wenigen Ausflügen, wenn sie um Hilfe gebeten wurde oder wenn sie etwas aus der Menschenstadt besorgen musste. Und auch dann hörte sie die Leute immer hinter sich tuscheln. Viele hielten sie für eine Hexe, eine böse Frau. Und dennoch achteten sie ihre Heilkunst. Was für eine verrückte Sichtweise ihres Volkes. Gedankenverloren griff Lilane nach ihrem Holzanhänger, der mit einem Lederband um ihren Hals hing. Nervös betastete sie das glatte Holz, das wie ein Zentaur geschnitzt war. Sie sah ihn nicht kommen, doch plötzlich griff eine große Hand nach ihrer und dem Anhänger. Mit einem kräftigen Ruck entriss ihr der Prinz das Schmuckstück, sodass das Band riss und er den Anhänger abschätzend angaffte. Mit finsterer Miene fasste sich Lilane an ihren Nacken, wo das Band zuvor gehangen und nun ein leichter Schmerz brannte. „Das brauchst du nicht mehr! Du wirst nichts tragen was an diese Missgeburten erinnert!“, fauchte er angewidert und warf das Holzabbild des Zentauren einfach ins Dickicht des Waldes. Sie konnte nichts weiter tun, als ihre Empörung und ihre Wut herunter zu schlucken. Zentauren – mystische wie stolze Wesen, Pferdemenschen voller Kraft und Energie. Viele Menschen hassten sie und umgekehrt schien es nicht anders zu sein. Menschen und Zentauren standen sich oft feindlich, gar kriegerisch gegenüber, das wusste Lilane. Aber ihr Leben spielte sich bisher eher im dichten und geschützten Wald ab. Ihre Familie lebten friedlich mit allen Bewohnern des Waldes in Koexistenz, kein Bär, Wolf oder Zentaur hatte jemals einen von ihnen angegriffen. Die junge Frau erinnerte sich sogar an ein paar Situationen in ihrer Kindheit, in der sie Zentauren nur wenige Meter von sich entfernt beobachten konnte. Auch sie hatten sie gesehen und keineswegs bösartig auf sie gewirkt. Seit ihrer Kindheit mochte Lilane die Pferdemenschen, sie zeichnete oft welche im Sand oder versuchte zentaurische Figuren aus Stroh zu basteln. Und wie groß war die Freude, als ihre Mutter ihr einmal das kleine Holzfigürchen in Zentaurenform schenkte. Tivolia stand den Pferdemenschen verhasst gegenüber, allen voran der Prinz und offenbar auch der König. Nur die Frau aus dem Wald schien sich die Zentauren als Freunde zu wünschen. Es wurde kein weiteres Wort gesprochen und die Gruppe ritt mit den melodischen Hufgeklapper ihrem Ziel entgehen. Als sich die Sonne langsam dem Horizont näherte, erreichten sie die Stadt Tivolia mit ihrer mächtigen Burg, die auf einer Anhöhe in ungefährer Mitte der Stadt thronte. Nachdem Lilane mit ihrem Pferd, Seite an Seite mit Prinz Gogurn die Tore der Stadtmauern passierte, fiel der Frau sofort die seltsam bedrückende Aura dieses Ortes auf. Oder besser, die Stimmung wirkte auf sie seltsam finster und beängstigend, doch alle anderen Bürger oder Krieger, die sie sah, schienen glücklich, fröhlich und die meisten trugen ein Lächeln auf den Lippen das an tiefe Genugtuung erinnerte. Aber wieso? Oder bildete sich das Lilane nur ein? Verhöhnten sie die Heilerin aus dem Walde? Oder galt das alles nicht ihr? Sah sie Gespenster? Die Gruppe folgte der Hauptstraße in Richtung Festung und erreichten bald den großen Vorplatz, wo sich eine Menschentraube befand und aufgeregte Stimmen etwas durch einander riefen. Lilane beachtete sie nicht, etwas in ihr mahnte sie, den Blick abgewandt zu lassen. . . . Am Abend, als die Dienerin sie endlich alleine gelassen und sie das Essen mit der Königsfamilie überstanden hatte, überrollen sie wieder die Bilder vom Vorplatz. Obwohl ihr Blick abgewandt geblieben war, wusste sie dennoch, dass dort etwas Schreckliches gesehen sein musste. Und plötzlich spürte die Frau wie ein paar heiße Tränen über ihre Wangen liefen. Warum nur? Sie wollte sich ablenken und musterte ihre Umgebung. Ein Bett, gegenüber ein kleines Regal mit wenigen Büchern darin, ein dunkelroter Wandteppich sowie ein kleiner Kamin als wärmespendende Feuerstelle. Das alles rief nur noch mehr Sehnsucht nach ihrem gemütlichen Zuhause in ihr wach. Das Zimmer wirkte lieblos und kalt, wie der Prinz. Ihr war aufgefallen, dass der König alt und müde wirkte und er sich offenbar völlig auf die Einschätzungen und Entscheidungen seines Sohnes verließ. Fast so als wäre Gogurn schon längst König. Das sollte ab jetzt ihr neues Leben sein? An der Seite des Prinzen, der alles verachtete, was sie liebte, verdammt dazu in einer Umgebung zu hausen in der sie sich wie eine Fremde fühlte. Mit einem Seufzer ließ sie sich auf das Bett fallen und rollte sich in die Decke ein. Vielleicht konnte sie schlafen ... vielleicht ... und dann überfiel sie die wohltuende Dunkelheit. Kapitel 2: Ruf der Gabe ----------------------- Der Ruf einer Eule ließ Lilane aufschrecken. Es bleibt nicht mehr viel Zeit ... eile dich ... eile dich ... bist du bereit? Diese Worte hatte sie in ihrem Traum gehört und selbst jetzt hallten sie immer noch so deutlich und präsent an ihr Ohr, als stünde jemand neben ihr und sagte es immer wieder laut. „Bereit wofür?“, flüsterte sie. Ein leises Geräusch am Fenster schreckte sie auf. Durch den vollen Mond schien genug Licht in der Nacht, dass sie die Schleiereule erkennen konnte, die von Draußen auf dem Fenstersims hockte. Wie hypnotisiert schritt Lilane auf das Tier zu, in ihren dunklen Augen fast versinkend. Da war es ihr, als hörte sie erneut diese Stimme. Komm heraus und folge mir. Heraus? Ich weiß nicht einmal wie ich ihr herauskommen kann, ohne den Wachen in die Arme zu laufen ..., dachte sie ohne es auszusprechen und schon sah sie, wie als Antwort, Bilder in ihrem Kopf auftauchten. Sie zeigten ihr dem Weg nach Draußen zum Vorhof – ohne erkannt zu werden. Die Eule drehte sich um und flog lautlos davon. Sollte sie es wirklich versuchen? Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Wie sollte sie denn die Eule in der Nacht wiederfinden? Egal, es widersprach jegliche Vernunft doch die Neugier von Lilane war geweckt. Schnell zog sie sich etwas über und nahm den Weg den ihr die Eule gezeigt hatte. Schneller und einfacher als gedacht, fand sie sich im Vorhof wieder. Stille Aber etwas weiter vorn hielten vier Krieger wache. Der Ruf der Eule erklang und Lilane drehte ihren Kopf in die Richtung. Dort oben auf dem Dach eines angrenzenden Gebäudes saß sie. Als winkte sie ihr zu, doch die Schleiereule winkte natürlich nicht wirklich, sie sah sie nur durchdringend und fesselnd an. Was nun? Lautlos flog sie in eine Seitengasse und die Frau folgte ihr leise. Im Dunkeln wäre Lilane beinahe gestolpert, doch zum Glück konnte sie sich an einer rauen Hauswand abstützen. Sie bog um die Kurve, weil es keinen anderen Weg gab und gelangte in einen weiteren Innenhof. Dort war niemand und der helle Mond erhellte das Durcheinander an Gerümpel und Pferdekarren, dennoch gab es einen großen Platz wo nichts stand, außer ein großer Schatten, der in der Ecke lag. Lilanes Herz fing an schneller zu schlagen. Was war das ...? Vorsichtig schritt sie darauf zu. Als Lilane nah genug dran war erkannte sie, dass eine dreckige alte Decke lieblos über etwas Starres geschmissen worden war und Lilanes Entsetzen ließ ihr fast das Herz einen Moment aussetzen. Vor ihr lag der reglose Körper eines Zentauren. Einige Teile wie Beine, Arme und Schweif guckten noch heraus. Mit einem Klos im Hals nahm die junge Frau die Decke und zog sie mit einem Ruck zur Seite. Da lag er, leblos und kalt – der tote Pferdemensch. Schreck, Entsetzen und innere Verzweiflung stiegen in ihr auf. Jeder der dem Prinzen entgegentrat ereilte offenbar sein Zorn. Der Strudel an Gefühlen ließ ihre Knie nachgeben und so fiel sie dicht neben ihm sitzend auf den steinigen Boden. Nur zögernd legte sie eine Hand auf seinen Pferdebauch. Sein Fell fühlte sich weich an, wenn man sich den Schmutz und die Blutkrusten wegdachte, und kalt. „Warum nur? Warum haben sie dir das angetan?“, flüsterte sie und streichelte ganz vorsichtig über seine Seite, dabei schaute sie zögernd zu seinem Oberkörper hinauf. Das verzerrte Gesicht konnte sie aus dieser Position nicht erkennen, ein Gesicht das dem Tode in sein Angesicht geblickt hatte ... Was sollte sie tun? Weshalb war sie hier? Ein seltsames Kribbeln lief ihr erst sacht, dann immer stärker den Rücken hinauf, fast wie bei einer Gänsehaut, nur noch viel intensiver und wärmer. Schwindel überfiel sie und eine unglaubliche Hitze stieg in ihr auf ... dann verlor sie ganz kurz das Bewusstsein. Das Geräusch von Hufen brachte sie zurück in die Gegenwart, ihre Handflächen fühlten sich heiß an. Als sie den kühlen Pflastersteinboden abtasteten, auf dem sie kniete, fühlte es sich angenehm an ihren Handflächen an. Blinzelnd hob sie den Kopf und sah sich um. Vor ihr tänzelte ein großer Schatten ebenso verwirrt wirkend wie sie selbst es in jenem Moment war. Der Zentaur – er stand direkt vor ihr und er lebte! „Zentaur ...“, flüsterte sie mit Bewunderung. Trotz des Schmutzes und des schlechten Lichtes wirkte er majestätisch und eindrucksvoll, obwohl er vermutlich ein eher jüngerer Vertreter seines Volkes sein musste. „Da vorne!! Seht nur, haltet sie auf!!“ Stimmen – die Wachen. Sie waren entdeckt worden, doch wobei? Erschrocken hielt sich Lilane eine Hand vor die Brust. Hatte sie den Zentauren zum Leben erweckt? Oder war er nur scheintot gewesen? Schritte eilten näher, dumpf, hastig, bedrohlich. Was würde der Prinz mit ihr machen, wenn sie dafür verantwortlich wäre, dass der Pferdemensch lebte? Der Zentaur schnaubte missbilligend in Richtung der Wachen und wollte schon los sprinten, da erblickte er Lilane, sah sie eindringlich an, zögerte kurz – und hob sie in seine Arme. Zusammen galoppierten sie wie der kühle Nachtwind über den Vorhof hinweg. Die Wachen fielen zurück. An einer Stelle, an der die Burgmauern nicht ganz so hoch gebaut waren, setzte der Zentaur zum Sprung an – kraftvoll, anmutig, unbeugsam. Wie ein Schatten verschwanden sie über die Mauer und wurden schon bald von den Umrissen des naheliegenden Waldes verschluckt. Kapitel 3: Draußen im Wald -------------------------- Die dunklen verzerrten Schatten der Bäume flogen an ihrem Gesichtsfeld vorbei. Vertrauensvoll schmiegte sie sich an ihn und wagte es aber nicht einen Ton zu sagen oder ihn anzustarren. Das fahle Licht des Mondes leuchtete ihnen den Weg, doch so mühelos wie sich der Pferdemensch seinen Weg durch das Dickicht suchte, wirkte es als machte ihn die Dunkelheit, ob mit oder ohne Mondlicht, offenbar nicht viel aus. Wie lange konnte er dieses Tempo wohl noch beibehalten? Blitzte der Gedanke in Lilanes Kopf auf und verschwand sogleich, dem auf einmal verlangsamte der Zentaur seine Geschwindigkeit. Sein Atem ging schnell, Schweiß zeichnete sich auf seiner Stirn und dem Fell ab, was für die Menschenfrau allerdings kaum sichtbar war, bei dem nächtlichen Licht und all dem Schmutz. Vorsichtig setzte er sie ab und machte einige Schritte von ihr weg, auf einen kleinen See zu, der versteckt im dichten Wald nun vor ihnen lag. Der Wasserspiegel lag ruhig und silbern im Mondlicht vor dem Pferdemenschen. Sie fragte sich, was wohl in ihm vorging. Für einen Augenblick schaute er zum hellen Mond hinauf, als dachte er an etwas – an was, dass er schon längst vergessen glaubte. Und dann setzte er sich in Bewegung, ganz langsam trat er die schweren Hufen vor einander. Das Wasser machte ein leises plätscherndes Geräusch als er in den See stieg um sich zu waschen. Endlich konnte er sich von all den schrecklichen Dingen reinwaschen, zu mindestens was die sichtbaren Spuren anging. Das kühle Wasser tat gut auf seiner Haut und für wenige Herzschläge tauchte er vollkommen unter, um kurz darauf mit einem schwungvollen Schütteln des Kopfes wieder aufzutauchen. Er atmete bewusst ein und aus. Vor einiger Zeit hatte sein Atem einfach aufgehört und sein Geist verließ seinen Körper und blieb dennoch in dessen Nähe bis ... Stirnrunzelnd warf er einen Blick über seine Schulter zu der Frau die er mit sich genommen hatte. Warum hatte er so gehandelt? Ein innerer Drang gab ihm den Impuls sie mit sich zu nehmen. Was sollte er jetzt mit ihr machen? Sie gab ihm sein Leben zurück. Also musste er sie schützen, warum er auch immer meinte, dass sie in Gefahr sein würden, wenn er sie bei Ihresgleichen gelassen hätte. Dennoch begeisterte ihn der Gedanke nicht, mit einem Menschen zu seinem Volk zurück zu kehren. Mit einem Schnaufer trat er aus dem See und ging auf sie zu. Beeindruckt musterte Lilane das mächtige Wesen vor ihr, dessen Anblick nun nicht mehr verkrusteten Blut und Schutz verdeckt wurde. So konnte die junge Frau auch die Fell- und Haarfarbe des Zentauren erkennen. Sein Fell schimmerte im Nachtschein dunkelgrau bis silbern mit einer Vielzahl von weißen Flecken an der Hinterhand die wie kleine Sterne anmuteten. Seine kräftigen grauen Beine verliefen unter dem Knie in eine schneeweiße Färbung über. Sein Alter schätzte Lilane im etwas demselben wie sie selbst, jedenfalls was das Äußere anging, ob das überhaupt vergleichbar war, wusste sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Tief blaue Augen funkelten auf sie herab, nicht feindselig, aber streng musternd. Beeindruckende Muskeln wölbten sich an seinem gesamten Körper hervor und unterstrichen seine machtvolle Ausstrahlung. Das weiße Haar hing ihm lang am Rücken herunter und das kühle Wasser des Sees perlte hin und wieder von diesen in kleinen Tropfen auf den Boden. Der ebenso weiße Schweif bewegte sich sachte, als er sie stumm beobachtete. Doch ein Merkmal ließ sie stutzen: seine Ohren. Normalerweise trugen Zentauren menschliche Ohren mit einer leicht am Pferdeohren anmutender Form, doch dieser hier besaß ganz klar erkennbare Pferdeohren. Schöne mit grauem Fell und weißen Ohrenspitzen. Sie gaben dem ansonsten so kräftig wirkenden Zentauren eine putzige Anmutung. Unweigerlich musste Lilane ein wenig schmunzeln, als er seine Ohren ein wenig bewegte. Nachdem er ihr Lächeln bemerkte, legte er etwas missbilligend, seine Stirn in Falten. Verlegen biss sie sich auf die Lippen. Sie wollte ihn nicht unnötig verärgern. Nach einer Weile legte er den Kopf schief und grunzte mit heiserer Stimme: „Wer bist du und warum hast du mir geholfen? Sprich, Menschenfrau.“ Die Anrede besaß nicht viel Freundlichkeit und machte klar, dass er ihr misstrauisch gegenüberstand. Verwundert blinzelte sie: „Ich ... ich weiß es nicht ... Was habe ich denn getan?“ Sie war sich immer noch nicht sicher, ob es tatsächlich ihre Gabe gewesen sein konnte, die ihn gerettet hatte oder ob es eine andere Erklärung geben konnte. Die Pferdeohren des Zentauren legten sich nach hinten an und seine Augen funkelten mahnend. „Du weißt es nicht?“ „Nein ...“, antwortete Lilane wahrheitsgemäß. Er wirkte, als überlege er, was nun zutun sein. Plötzlich drehte er sich einfach um und ging von ihr weg. Fragend schaute sie ihm nach, nachdem sie begriff, dass er sie zurücklassen würde, lief sie ihm vorsichtig hinterher. Natürlich hörte er sie näherkommen und schenkte ihr einen beiläufigen Blick über die Schulter: „Was willst du noch?“ „Was ich will? Ich bin alleine, weit im tiefen Wald, zusammen mit wilden Wölfen und Bären mitten in der Nacht und völlig schutzlos. Ich möchte hier nicht alleine zurückgelassen werden.“ „Geh doch einfach in die Richtung der Feste. Sicher werden die Streitkräfte des Prinzen nach dir suchen und dich bald finden.“ Das Wort Prinz sprach der Pferdemensch mit Bitterkeit aus und auch Lilane schauderte es bei dem Gedanken, als ihr bewusst wurde, dass sie bald wieder in ihrem kargen Zimmer nächtigen müsste. „Danke, ich verzichte darauf. Kann ich nicht ... mit dir kommen?“, platzte es auch ihr heraus, bevor sie genau darüber nachdenken konnte. Sofort blieb er stehen und sah sie entgeistert an. „Dich mitnehmen? Zu meinem Volk? Dich? Einen Menschen?“, ein kaltes Lächeln huschte über seine Lippen. Entmutig ließ sie ihre Schultern sinken. Sie wollte einfach nicht in der Burg leben und schon gar nicht Gogurns Frau werden. „Niemals!“, grunzte er und bäumte sich kurz auf die Hinterbeine auf, seine weißen Haare flogen durch die Bewegung leicht nach oben. Kurz darauf sprang der Pferdemensch ein kleines Stück von ihr weg und ging in einen hastigen Galopp über. Schnell brachte er eine weite Distanz zwischen sich und ihr zustande. Traurig schaute Lilane ihm nach. Wenigstens war er nun wieder frei. „Aber warum hast du mich dann erst mit dir genommen?“, fragte sie sich dennoch. . . . Was dachte sich diese Menschenfrau? Wie von selbst hielt er auf einmal inne und wandte seinen Blick in die Richtung, aus der er gekommen war. Aber weshalb hatte er sie überhaupt mit sich genommen? Er hätte sie auch von vornherein dort lassen können. Er konnte sich das selbst nicht beantworten. Auf der anderen Seite wirkte sie nicht so wie die anderen Menschen, womit sie möglicherweise für ihm und sein Volk von Nutzen sein könnte. Etwas in ihm arbeitete und flüsterte ihm ermunternd zu. Nachdenklich strich er sich übers Kinn. Vielleicht war es doch nicht so dumm, auch wenn es ein Risiko blieb. Unweigerlich fiel er wieder in den Galopp zurück, seine Nase hatte ihre Spur noch nicht verloren und würde sie bald wieder gefunden haben. Kapitel 4: Die Entscheidung --------------------------- Ein Geräusch ließ sie sich umdrehen. Ein Wolf? Ein anderes Tier? Nein. Sie erkannte in direkter Nähe das Licht von einigen Fackeln. Die Truppe des Königs von Tivolia. Suchten sie nach ihr oder dem Zentauren? Vermutlich nach Beiden. Geschwind verbarg sie sich hinter einem großen Busch und verharrte in Bewegungslosigkeit. Um keinen Preis der Welt wollte sie erneut den Boden der Feste betreten. Ihr Atem ging schneller, als sich die Truppe in naher Entfernung an ihr vorbei durch die Dunkelheit schoben. Laute Stimmen unterhielten sich und der jungen Frau stockte der Atem, als sie den Prinzen selbst erkannte. Oh nein, er durfte sie auf gar keinen Fall finden. Bitte, bitte nicht! Flehend schloss sie sie Augen und verharrte in Regungslosigkeit. „Wie konnte das überhaupt geschehen? Der Bastard war doch tot!“, brüllte Gogurn voller Wut seine Krieger an, die sich Schulter zuckend ansahen. „Herr, das war er auch. Als wir ihn wegschafften, war sein Körper bereits kalt und starr …“ Im Dunkeln konnte keiner erkennen wie sich das Gesicht des Prinzen weiter verfinsterte. Dann sprach er mit gedämpfterer Stimme, die allerdings noch viel bedrohlicher klang als der Tonfall zuvor: „Ihr sagtet, er war nicht alleine?“ „Nein Herr, wir sind uns nicht sicher, aber jemand war bei ihm. Ein Mensch … glauben wir, doch er war nicht deutlich zu erkennen.“ „Glaubt ihr … etwa einer von uns würde einem Zentauren …“, brüllte Gogurn laut los und hielt dann schlagartig inne. Bevor er den Satz beendete, fiel ihm etwas ins Gedächtnis – etwas Wichtiges. Seine Augenbauen zogen sich bedrohlich zusammen und er grollte: „Lilane …“ Und die anderen verstanden. „Die Rückholerin, Herr? Meint ihr sie hat … Können Rückholer ihre Gaben öfter hintereinander einsetzen?“, wagte ein älterer Krieger zu fragen, der offenbar schon viele Schlachten geschlagen und daher ein höheres Ansehen beim Prinzen genoss als der Rest der anwesenden Krieger. Lilane hörte aus ihrem Versteck wie der Prinz schnaubte: „Ich will es hoffen … für sie! FINDET SIE!!“ Unweigerlich zuckte sie zusammen, doch glücklicherweise befand sich der Trupp schon ein ganzes Stück von ihr entfernt, sie bemerkten das Rascheln der Blätter nicht. Sie wollte weglaufen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Sie war in der Falle, früher oder später würden sie sie finden, sie konnte sich nicht ewig verstecken. Und was dann? Sollte sie es besser gleich beenden und sich ergeben? Eine große Hand griff von hinten nach ihr. Sie hielt ihr den Mund zu, damit sie nicht aufschreien konnte und ein zweiter Arm packte sie kräftig, aber nicht grob, und zog sie leicht nach hinten. „Hab ich dich …“, hauchte eine Stimme leise und da erkannte sie den Zentauren, der wie aus dem Nichts hinter ihr stand und nun verstohlen die Menschen in einiger Entfernung beobachtete. Es fiel Lilane auf, dass er offenbar Gogurn auffällig beäugte, sein Atem ging schneller und der Pferdemensch schien sich zusammen reißen zu müssen, nicht die Beherrschung zu verlieren – vor Wut. Der Zentaur nahm seine Hand von ihrem Mund und schenkte ihr ein gequältes Lächeln: „Wenn du nicht von ihnen geschnappt werden willst, solltest du mit mir kommen.“ Jetzt also doch? Natürlich verstand sie seinen Sinneswandel nicht, doch es war Lilane auch herzlich egal. Sie wollte nur weg – weit weg von Gogurn und seiner kalten Burg. Seine Hand ergreifend hob er sie erneut in seine Arme und trug sie geschickt und leise mit sich, ohne dass die Menschen sie bemerkten. . . . Die Sonne ging langsam auf und die zwei Reisenden machten eine Pause an einer kleinen Quelle, die der Zentaur wie selbstverständlich aufgesucht hatte. Die gesamte Zeit waren keine Worte zwischen den Beiden gefallen und auch jetzt beobachtete sie ihn schweigend, wie er mit einer Hand Wasser aus der Quelle schöpfte, um zu trinken. Dann schaute er sie aufmerksam an, er wirkte nun etwas freundlicher, wenn man ihm auch ansah, dass diese Situation für ihn ungewohnt war: „Du solltest was trinken.“ Mit einer einladenden Handbewegung forderte er sie auf, zu ihm zu kommen und sie kam dem nach, kniete sich vor die Quelle und schöpfte mit beiden Händen Wasser daraus, um zu trinken. Es schmeckte wundervoll und Lilane bemerkte erst jetzt wie sehr sich ihr Körper nach Wasser gesehnt hatte. „Wie heißt du?“, fragte er nach einer Weile und sie schaute ihn an. Seine blauen Augen leuchteten wunderschön im aufgehenden Sonnenlicht. „Lilane“, antwortete sie knapp und war sich nicht sicher, ob er ihr seinen Namen verraten würde, wenn sie fragten würde. Der Zentaur nickte anerkennend und stellte seine Ohren aufmerksam nach vorne. „Mein Name ist Airon“, erklärte er ebenso knapp und schien mit sich zu ringen, welche nächsten Worte er mit ihr wechseln sollte. Doch dann fasste sich die junge Frau ein Herz und kam ihm zuvor. „Er hat dich getötet, habe ich Recht? Prinz Gogurn …“ Bei dem Namen des Prinzen verfinsterten sich Airons blaue Augen bedrohlich und er nickte nur starr. Sie atmete laut ein. „Aber wieso?“, ihre Stimme klang ehrlich bestürzt, was ihn ein wenig verwirrte. Kümmerte sie sein Wohlergehen? Wohl kaum! Abfällig schnaubte der Zentaur und schüttelte angewidert den Kopf: „Seit wann braucht ihr Menschen einen Grund um uns unser Leben zu nehmen?“ Ihr entsetzter Gesichtsausdruck und ihre blasse Hautfarbe verrieten ihm, dass es ihr offenbar wirklich nicht egal war. Aber weshalb? „Was kümmert dich das überhaupt?“, bellte er ein wenig forscher und lauter, als er es eigentlich beabsichtigt hatte. Mit gesenktem Blick stotterte sie: „Ich finde es … schrecklich.“ Verwundert schnellten seine Ohren nach hinten und dann sofort wieder nach vorne. Er war sich nicht sicher, was er mit so einer Aussage anfangen sollte. Dann packte er sie schweigend und sie setzten ihren Weg fort, sie getragen in seinen Armen. Erneut kehrte dieses Schweigen zwischen ihnen ein und Lilane versuchte auch nicht Airon dazu zubringen mit ihr zu reden. Sie wollte einfach nur in seiner Nähe sein und sich weiter von ihm tagen lassen – weg den vergangenen Ereignissen. Kapitel 5: Ankunft ------------------ Das Knacken von Ästen ließ Lilane aufschrecken, offenbar war sie eingenickt. Verdutzt schaute sie zu ihm herauf und erkannte, dass ein zufriedenes, ja im Grunde, glückliches Lächeln auf seinen Lippen lag und er nach vorne blickte. Stimme tragen an ihr Ohr, aufgeregte und offenbar freudige Stimmen. Sie traten aus dem Dickicht und Airon setzte sie sanft ab, dabei schenkte er ihr kurz ein so freundliches Lächeln, wie sie es noch nie bei ihm gesehen hatte. Es gefiel ihr und vermittelte ihr ein kleines Stückchen Wärme, die wohlig ihren Rücken hinaufzog, wie eine angenehme Gänsehaut. Anschließend trabte er von ihr weg und ließ sie stehen, um sich den anderen Zentauren zu widmen, welche auf ihn zu stürmten. „Airon! Du lebst! Wir hatten die schreckliche Kunde von deinem Tod erhalten!“ „Oh, Airon, den Ahnen sei Dank für deine Heimkehr!“ „Airon – Prinz Airon, ihr seid zurück, euer Vater und eure Familie werden überglücklich sein!“ Prinz? Airon war ein Prinz? Neugierig beobachtete Lilane die Szene, wie die Pferdemenschen um Airon herumstanden und ihn umarmten, auf die Schulter klopften oder seinen Pferderücken mit der Hand streiften. Sie konnte die große Erleichterung und Freude spüren, die die Zentauren verströmten. Ihr Prinz lebte! Er war heimgekehrt! Wenn doch die anderen Menschen das auch sehen und wie Lilane diese wundervolle Szene genießen könnten. Sie würden verstehen, dass Zentauren genauso tiefe und leidenschaftliche Gefühle besaßen wie sie selbst und würden sie nicht mehr für primitive Bestien halten. Lächelnd beobachtete sie, wie weitere Pferdemenschen zur Gruppe aufschlossen. Donnernde Hufen bahnten sich ihren Weg zu dem Heimkehrer, einer von ihnen überragte die anderen Pferdemenschen, nicht alleine durch seine Größe, sondern viel mehr durch seine autoritäre Ausstrahlung. Sein Fell leuchtete wie frisch gefallender Schnee in der Sonne, seine Haare funkelten wie Silber. Die anderen machten ehrfürchtig ein Stück Platz, damit der Helle zu Airon durchschreiten konnte. Und als er vor dem Prinzen stand, zeichnete sich auf seinem Gesicht ein ehrliches Lächeln ab. Seine riesige Hand fuhr Airon an den Hinterkopf und der Helle drückte dann sacht seine Stirn auf Airons: „… mein Sohn …“ „Vater …“ „Wen haben wir denn hier?“, eine eher missbilligende Stimme riss Lilaine aus ihrer Beobachtungsphase und sie sah zwei Zentauren auf sich zukommen, die ein wenig jünger als Airon wirkten, dennoch einen imposanten Anblick boten. Zwei Lichtfüchse, die sich bis aufs Haar glichen und leider nicht besonders freundlich zu der Menschenfrau herüberblickten. Ihre Augen schienen sie förmlich durchbohren zu wollen, die aufsteigende Wut der Beiden zeichnete sich durch einen leicht erröteten Kopf ab, was im Grunde fast ein wenig putzig aussah, da die zwei Lichtfüchse im Grunde sehr weiche Gesichtszüge besaßen. Dennoch erkannte sie die feindlich gesinnte Absicht der Zwei und Lilaine trat besorgt einen Schritt zurück, was nun? Konnte sie Airon um Hilfe bitten? In dem Gewirr um sie herum würde er sie sicher nicht wahrnehmen. Da standen sie bereits direkt neben ihr, einer zu ihrer Rechten und einer zu ihrer Linken, und bedrängten sie forsch. Weniger körperlich, mehr mit Worten. Unweigerlich schlug ihr das Herz bis zum Hals und sie brachte keinen Ton heraus. „Nopal! Quendel! Lasst sie in Frieden, sie gehört zu mir“, rief Airons Stimme die Beiden zurück. Sichtlich verblüfft und auch ein wenig eingeschnappt warfen sei ihm einen eher vorwurfsvollen Blick zu. „Aber, … sie ist …“, begann der Lichtfuchs-Zentaur rechts neben ihr als Airon auf die Drei zutrabte. „… diejenige, der ich mein Leben verdanke, ja! Jetzt benehmt euch, oder heißt ihr so jemanden willkommen, die eurem Bruder das Leben gerettet hat?“ Quendel schnaubte oder war es Nopal? Jedenfalls nickte sie ihm zögerlich zu und nach einem kurzen Innehalten umarmten sie Airon zur Begrüßung. Es war ihnen deutlich anzusehen, dass sie sehr an einander hangen, Lilaine verstand die Reaktion der zwei rotfelligen Zwillinge irgendwie. Nachdem die offensichtlich jüngeren Brüder den Älteren freigaben, legte Airon ihren je eine Hand auf ihre Schultern: „Ich möchte, dass ihr sie zu Großmutter bringt und seid nett zu ihr, verstanden?“ „Ist gut“, erklärte der eine und der andere nickte, ihre Gesichtszüge wirkten nicht mehr so voller Wut, aber wirklich glücklich schienen sie mit ihrer Aufgabe nicht zu sein. Airon entfernte sich von ihnen und schloss zu seinem Vater auf, sie sprachen etwas zu einander, Lilaine wagte es nicht, zu den anderen Zentauren direkt herüber zu blicken, doch aus den Augenwinkeln erkannte sie einige fragende oder auch neugierig auf sie gerichtete Augenpaare. Keiner zeigte eine offene Missbilligung über ihr Dasein, sowie Nopal und Quendel gerade eben. Vielleicht lag es aber auch daran, dass Airon sie soeben als seine Lebensretterin vorgestellt hatte. Oder daran, dass Lilaine nicht alle Gesichter sehen konnte. Wie auch immer, sie musste sich ohnehin jetzt auf die beiden Lichtfüchse konzentrieren, sie ein wenig uneins darüber waren, wer sie tragen sollte. „Ich … könnte auch laufen …“, brachte sie schüchtern hervor und die Zentauren-Zwillinge blickten sie an als sei es ein Wunder, dass sie sprechen könnte. Die beiden Brüder tauschten fast entsetzte Blickte aus, da sagte der eine: „Du nimmst sie.“ Noch bevor der andere etwas vermochte zu entgegnen, war sein Zwilling auch bereits vorausgelaufen. „Na schön, dann komm“, brummte der Zurückgelassene mit ausgestreckter Hand, offenbar gedachte er ihr, auf seinen Rücken zu helfen. Sollte sie wirklich auf seinem Rücken getragen werden? Oder verstand sie das falsch? „Was ist? Glaub ja nicht, dass ich mich auf den Boden knie, damit du aufsteigen kannst. So groß bin ich nun auch wieder nicht, jetzt mach schon“, drängte er nun ein wenig ungeduldig. „Nein, nein. Ich dachte nur …“, begann Lilaine den Satz, nicht ganz sicher, wie sie ihn beenden sollte. Da hatte sie sich schon mit seiner Hilfe auf seinen Rücken gehievt und zurechtgerückt. Das Reiten auf einem Pferd kannte die Menschenfrau zu genüge, doch auf einem Zentauren zu sitzen kam ihr irgendwie ganz anders vor. Ohne dass sie es merkte, begann sie ein wenig zu lächeln, es war ein schönes Gefühl. Auch wenn sie sich nicht recht traute die Beine fest an seinen Leib zu drücken, um sich sicher zu halten. Außerdem war sie versucht sich mit ihren Händen irgendwo festzuhalten. Aber wo? An seinem Oberkörper sicher nicht, möglicherweise an seinem Fellansatz …? „Ich heiße Lilaine“, sagte sie leise, nicht sicher, ob es ihn überhaupt interessieren würde. Fast ein wenig gelangweilt setzte sich der Zentaur in Bewegung, zunächst sagte er nichts, nachdem sie allerdings bereits ein Stück zurückgelegt hatten, kam eine Stadt in Sicht: die Heimat der Zentauren von Tivolia. Doch sicher nannten sie sich nicht so und bestimmt gab es einen eigenen Namen für das Land, dass sie ihr Zuhause nannten. Ihr Begleiter gab sich stumm und so wagte sie es auch nicht, weiter mit ihm zu sprechen. Überhaupt versuchte sie vor Ehrfurcht so wenig wie möglich aufzufallen, sich kaum zu bewegen, was auf dem Rücken eines Zentauren schwierig war, denn sie musste sich ja auf ihm halten und seine Bewegungen auszugleichen … ja, am besten versuchte sie so gut wie gar nicht zu atmen. Die Behausungen muteten fremdartig und gleichsam wunderschön an. Sie sahen eher rundlich bis oval aus, alle recht groß und aus den unterschiedlichsten Materialien erbaut. Viele der Gebäude bestanden aus Stein und Holz, so geschickt arrangiert, als könnte man glauben, sie wären wie ein Baum aus der Erde gewachsen. Dennoch erschienen sie stabil, gemütlich und jedes Haus besaß eigene Verzierungen im Bereich des Einganges. Die meisten davon wirkten wie aus der Hand eines Kunstschmiedes geformt. Natürlich blieb Lilaines Anwesenheit nicht lange unbemerkt und der Bruder des Zwillings kam zurück, mit einem schadenfrohen Grinsen auf den Lippen stieg er auf seine Hinterbeine, um aus seinem Galopp vor ihnen zum Stehen zu kommen. „Ich habe Großmutter bereits vorgewarnt“, grinste er und warf der Menschenfrau einen belustigten Blick zu. Dann wandte er sich erneut an seinen Bruder: „Du machst das toll …“ Lilaines Begleiter schlug genervt mit seinem Schweif: „Warte nur …“ Jetzt konnte sich die Menschenfrau doch eine Frage nicht verkneifen: „Wer von euch ist eigentlich wer? Bist du Nopal oder Quendel?“ Hoffentlich bekam sie dieses Mal eine Antwort, möglicherweise würde er sie einfach weiter ignorieren, bis er sie bei besagter Großmutter abgeliefert hatte. Aber er beantwortete tatsächlich ihre Frage, die er so laut aussprach, dass sie sein Bruder definitiv hören musste, der bereits erneut weiter vorgelaufen war: „Der Drückeberger dort ist Quendel!“ Der indirekt angesprochene Zwilling drehte sich empört um und wollte sicher etwas entgegnen, jedoch verkniff er es sich, denn sein Vater galoppierte zusammen mit Airon und einigen anderen Pferdemenschen unweit an ihnen vorbei. Sicherlich würde ihr Gefeixe nicht gerne vom Oberhaupt gesehen werden. . . . Vater und Sohn betraten eines der größten Gebäude der Stadt. Im Inneren erwartete sie Airons Mutter und Gemahlin des Zentauren-Königs. „Mein Junge, ich bin so unsagbar froh“, sie gab ihn erst mach einer ganzen Weile aus ihrer Umarmung frei und küsste ihn danach mehrfach auf sie Stirn und die Wangen. Erst nachdem sich die Zentaurin ein wenig beruhigt hatte, man konnte ihr ansehen, dass sie zuvor sehr viel geweint haben musste, ließ sie Vater und Sohn alleine, damit sie sprechen konnten. „Nun mein Sohn, was ist geschehen? Deine Garde kam ohne dich zurück, sie sagten, du seiest umgekommen. Wie ist dir die Flucht gelungen?“ Airon sah seinen Vater lange an, es fiel ihm selbst schwer, die vergangenen Ereignisse wieder neu zu durchdenken. „Es ... war auch so, wie es die Garde dir berichtet hatte. Die Menschen unter dem Befehl ihres Prinzen gaben nichts auf meine Worte, sie sannen nach meinem Blut. Sie erhängten mich, ich fand den Tod …“, der Zentaur musste kurz innehalten, um seine Stimme wieder zu finden. Der Helle zog entsetzt den Atem ein. Sein Sohn – tot, durch die Hand des Menschen-Prinzen. Was für ein Verrat, eine Kriegserklärung, aber was viel schlimmer wiegte: Es war unsagbar grausam. Eine solche Tat traf nicht nur die Herrscherfamilie in ihrer Hierarchie, sondern vor allem das gesamte Volk mitten ins Herz. „Und, was ist dann geschehen?“, fragte der Vater, um Airon aus seinen Gedanken zu holen. Dieser schluckte und blinzelte schließlich nachdenklich: „Ich bin mir nicht sicher wie, doch die Menschenfrau hat mich zurück ins Leben geholt. Ich habe die Menschen belauscht, sie ist eine Rückholerin, Vater. Du weißt, was das heißt.“ Für einen Augenblick dachte der Helle nach. „Ja, mein Sohn, mir ist es gewahr, was es bedeutet. Doch warum hast du sie hierhergebracht?“ „Nun, … ich dachte, sie wäre in Gefahr, weil sie mich gerettet hat.“ Immer noch nachdenklich schüttelte der Zentauren-Herrscher unmerklich den Kopf: „Nein, das ist nicht der Grund, Airon. Sie würde sicher Probleme mit ihrem Prinzen ob ihrer Tat willen bekommen, doch als Rückholerin würde ihre Strafe milde ausfallen, er würde ihr kein direktes Leid zufügen, soviel ist sicher. Dafür ist sie zu wertvoll und das müsste auch dir klar sein, mein Sohn. Also, ich frage dich noch einmal: Warum ist sie hier?“ Airon atmete tief ein und sah seinen Vater in die Augen: „Ich … weiß es nicht, Vater …“ Kapitel 6: Entscheidung des Alt-Königs -------------------------------------- Nopal half Lilaine von seinem Rücken und schob sie dann vor sich her in eine der zahlreichen Zentauren-Bauten hinein. Im Inneren roch es wundervoll nach Weihrauch und getrockneter Minze, der Geruch wirkte beruhigend auf die Menschenfrau, dessen Nervosität sich mittlerweile durch ein bis zum Hals pochendes Herz äußerte. Was würde sie hier erwarten? Quendel drängte sich hinter Nopal in das Gebäude, der aus einem großen Raum zu bestehen schien und kicherte leise. Ruhige Schritte ließen die Menschenfrau aufblicken und vor ihr baute sich eine anmutige Gestalt auf. Sprachen Airon, Nopal und Quendel nicht von ihrer Großmutter? Diese Zentaurin die Lilaine hier gegenüber stand, wirkte zwar reif in ihrem Aussehen, doch zeigte sie keine großartigen Falten oder sonstigen Altersanzeichen, die sich bei Menschen fanden. Die Großmutter besaß schneeweißes Haar, was nicht unbedingt an ihrem Alter liegen musste, denn es konnte sich ja genauso gut um ihre natürliche Färbung handeln. Ihr Fell erinnerte an einen silber-blauen Apfelschimmel, die Augen leuchteten in einem lebendigen Dunkelblau. Wiedererwartend blickte sie Lilaine nicht abschätzig an, sondern schenkte ihr einen aufgeschlossenen Blick, der eher Wertschätzung und Neugier, als Ablehnung verriet. „So, wir haben also ungewöhnlichen Besuch …“, begann sie und ihre Stimme klang freundlich. Der Menschenfrau fiel nicht viel ein, außer zögerlich zu nicken. Die Zentaurin lächelte über ihre Schüchternheit und bedeutete ihr, näher zu treten. „Mein Name ist Myristica und ich bekleide das Amt der Alt-Königin in unserem Volk. Habe keine Furcht, dir droht hier von niemanden Gefahr, auch dann nicht, wenn sich einige vielleicht missbilligend ob deiner Anwesenheit zeigen würden. Du kannst dich also sicher fühlen.“ Lilaine nickt dankend und konnte sich ein wenig innerlich entspannen. „Wie heißt du, Menschenfrau?“ „Man nennt mich Lilaine.“ „Schön …“, die Zentaurin schaute an ihr vorbei zu ihren Enkeln herüber, die Zwillinge verstanden den Blick der Großmutter und zogen sich zurück. Sie lächelte leicht: „Die Zwei sind schrecklich neugierig, aber wer könnte es ihnen verdenken … dennoch, ich glaube, dass es besser ist, wenn wir uns erst einmal alleine unterhalten.“ Es war der Menschenfrau nicht ganz klar, worüber die Zentaurin mit ihr sprechen würde, nun ja, sicher über sie und ihren weiteren Verbleib, doch wie genau das Gespräch ablaufen würde, konnte sie sich nicht vorstellen. „Nopal und Quendel berichteten mir im Groben, was geschehen ist und ich möchte dich bitten, es mir noch einmal aus deiner Sicht zu erklären. Sie schluckte, es war keine leichte Sache sich alles noch einmal vor Augen führen zu müssen, doch Lilaine verstand, dass es für Myristica wichtig zu wissen war. So begann die Menschenfrau so detailreich wie möglich, die Ereignisse in ihren Worten wiederzugeben. . . . „Bekomme ich deine Zustimmung dafür, dass Lilaine vorerst bei uns bleiben kann, Vater?“, Airons Ohren zuckten leicht, während er mit seinem Vater sprach, der Rest seines Körpers verschleierte durch die stolze Haltung seine eigentliche Nervosität. Sein Vater Aironimos schwieg für eine Weile, schaute seinen Sohn lange an und atmete geräuschvoll aus: „Im Moment gibt es wohl ohnehin keine andere Möglichkeit. Sie ist hier, was das für uns bedeutet, muss sich zeigen.“ „Wie meinst du das, Vater?“ „Nun, der Menschen-Prinz könnte sie versuchen zurück zu holen, wenn er herausfindet, dass sie sich bei uns aufhält, könnte er uns angreifen.“ „Dafür bräuchte er nicht Lilaine als Alibi, wenn er wüsste wo wir leben, dann würde er nicht zögern, Vater. Gogurn hasst uns aus der Tiefe seiner Seele, er verabscheut uns und wünscht sich unseren Niedergang. Vater, ich glaube nicht, dass ihre Anwesenheit unsere Sicherheit in diesem Sinne gefährdet.“ „Möglich, wenn du Recht hast, mein Sohn. Aber was ist, wenn sie seine Spionin ist?“ Airon stockte einen Augenblick, schüttelte dann aber seinen Kopf: „Das ist … sicher unwahrscheinlich.“ „Woher willst du diese Gewissheit nehmen?“ Seine Stirn zeigte Falten, die Ohren wanderten nach hinten: „Ich kann es nicht sagen, … ich weiß es einfach.“ „Ich will auf dein Urteilsvermögen vertrauen, Airon. Doch dir ist sicher auch klar, wen wir in dieser Sache mit einweihen müssen, nicht wahr?“ Der Sohn nickte: „Ja, Großvater – meinen Großvater, den Alt-König.“ . . . Nachdem die Rückholerin mit ihrem schockierenden Bericht geendet hatte, bedanke sich die Zentaurin bei ihr für ihre Ehrlichkeit und die geleistete Hilfe. Auch wenn Lilaine beteuerte im Grunde gar nicht zu wissen, wie sie dazu im Stande gewesen wäre, zeigte sich die Großmutter äußerst dankbar. „Offenbar ist dir nicht viel über deine eigene Gabe bekannt Liebes, nun eines Tages wirst du es verstehen … aber für den Moment ist etwas anders von Wichtigkeit.“ „Und was?“ „Das Wort des Alt-Königs. Mein Sohn und seine Gemahlin sind zwar unsere herrschenden Könige, doch mein Gemahl und ich sind jetzt die Alt-Könige. Bei besonders gewichtigen Entscheidungen muss mein Sohn mit uns Rücksprache halten.“ „Dann fungieren die Alt-Könige wie eine Art Ältesten Rat?“ „Wenn du so möchtest, ja. Dennoch besitzen auch wir noch etwas, was man mit einem solchen Rat vergleichen könnte. Doch das sollte erst einmal Nebensache sein … Ich gehe davon aus, dass Airon dich zu mindestens für eine Weile bei uns beherbergen will. Mein Sohn wird es ihm sicher gewähren und auch ich bin im Anbetracht der Umstände bereit meine Zustimmung zu geben. Doch mein Gemahl könnte das anders sehen.“ „Ihm obliegt also die Entscheidung …“, stellet Lilaine mit beinahe flüsterndem Tonfall fest und Myristica nickte sacht. Das rhythmische Geräusch von Hufen kündigte eine Gruppe von Pferdemenschen an, die offenkundig auf das Gebäude zu galoppierten. Ob hier bereits der Alt-König eintraf? Der Menschenfrau wurde ein wenig unbehaglich bei dem Gedanken, doch es würde sich vermutlich ohnehin nicht vermeiden lassen. Nicht alle schienen den Rundbau zu betreten, denn von draußen drangen unterschiedliche Stimme ins Innere hinein, aber nur zwei Zentauren traten letztendlich durch den Eingang: Airon und sein Vater. Eine kleine Erleichterung für die Menschenfrau und zu ihrem Glück, wirkte auch der König nicht abgeneigt ob ihrer Anwesenheit. Nach einer angemessenen Begrüßung der Alt-Königin gegenüber wandte sich Aironimos mit einigen Worten der Dankbarkeit an sie, weil Lilaine Airon das Leben zurück geschenkt hatte. Immer noch ein wenig eingeschüchtert und zurück halten nickte sie nur und ließ ihre Augen zu Airon herüber wandern, der sich Mühe gab, unbeteiligt zu wirken und nichts von seiner inneren Unruhe preis zu geben. Wenn sein Großvater darauf bestand Lilaine zu verbannen, dann gab es nichts, was ihn umstimmen könnte. Und dann? Ja dann, blieb ihr wohl nicht viel anderes übrig, als zu ihresgleichen heimzukehren. Doch daran mochte er nicht denken, sie wirkte so aufgewühlt, als er sie im Wald zurückließ und ihr sagte, sie solle doch zu dem Prinzen zurück gehen. Weder sie noch er sannen darauf, sie dort hin zu schicken, an diesen kalten Ort. Aber warum war ihm das so wichtig? Der Zentauren-Prinz fühlte einen Luftzug von hinten, jemand betrat den Raum, bevor er den Kopf drehen konnte, schob sich bereits die beeindruckende Gestalt seines Großvaters neben ihm vorbei. Die Erscheinung des Alt-Königs wirkte so einschüchternd auf Lilaine, dass sie unbewusst einen Schritt zurückschritt. Der hühnerhafte Pferdemensch sah nicht wie ein Großvater aus, wie bei Myristica erkannte man zwar eine gewisse Reife in seinem Gesicht, aber sonst kaum Anzeichen eines nennenswerten Alterungsprozesses. Seine dunklen Augen musterten die Menschenfrau streng von oben, seine Mine verriet Härte und Autorität, in seinem Gesicht, am Pferderücken sowie am Oberkörper zeugten Spuren von vergangenen Kämpfen, in Form von großen Narben, einen Teil seiner Lebenserfahrung. Vermutlich vor allem in Schlachten gegen Menschen, schätzte sie. Das Fell glänzte dunkel Rot, sein Haar besaß einen ähnlichen Rotton, allerdings verliefen hier und da weißliche Strähnen in seiner Mähne und dem Schweif. Ob sie altersbedingt waren oder zu seiner natürlichen Färbung gehörten, wagte Lilaine nicht zu fragen. Zu mindestens nicht in diesem Augenblick. Er trug einen kurzen Bart und besaß wie Airon Pferdeohren, offenbar ein sehr seltenes Merkmal, denn alle anderen ihr bisher begegneten Pferdemenschen zeigten keine solchen Ohren. Und da gab es eine seltsame Besonderheit, die ihr im ersten Moment nicht gleich aufgefallen war, vermutlich weil sie ihn als Ganzes vollkommen einschüchternd fand und sich nicht sofort auf jedes Detail konzentrieren konnte: Die rechte Kopfseite war komplett kahl rasiert und auf dieser fanden sich merkwürdige, wie eintätowierte Muster aus Kreisen, geschwungenen Linien und Strichen, die zusammen ein seltsames Bildness ergaben. Sicherlich stand es für etwas, was sich die Menschenfrau nicht erklären konnte, dennoch spürte sie die ungewöhnliche Macht, die von diesem Muster ausging. Wie eigenartig, Bilder auf der Haut die Macht besaßen? Gab es so was überhaupt? Innerlich wollte sie sich selbst für ihren seltsamen Gedankengang tadeln, jedoch riss seine donnernde Stimme sie aus ihren eigenen Gedanken: „Was genau geht hier vor sich?“ Mit einem scharfen Blick bedachte er seinen Sohn und anschließend seinen Enkel. Für einige Herzschläge lang erwärmte sich sein Blick, solange diese auf Airon ruhte, legte ihm eine Hand auf den Pferderücken und wandte sich dann ein wenig freundlicher an seine eigene Gattin und sah dann erneut zu Lilaine herunter. „Airon bringt uns seine Lebensretterin, damit wir uns wie es der Brauch gebietet, erkenntlich zeigen können, Liebster“, erklärte Myristica sachlich und bestimmt. Sie wusste wohl am besten, wie sie den Alt-König milde stimmen konnte. Für einen Augenblick schwieg dieser und es war Lilaine anhand seines Gesichtsausdruckes nicht möglich zu erraten, was genau er dachte. „Seine Lebensretterin also … und? Was fordert sie für sein Leben?“, brummte der Rote grimmig und sah Lilaine herausfordernd an. Was sollte sie darauf sagen? Für sie gab Myristica die Antwort: „Vorerst ein paar Tage Aufenthalt bei uns. Dann sehen wir weiter.“ Ein tiefes Schnauben entfuhr dem erfahrenen Krieger und es war jetzt keine große Kunst in seinem Gesicht abzulesen, dass ihm das nicht wirklich zusagte. Alt-König und Alt-Königin tauschten einen langen Blick miteinander aus. Gepresst gab er schließlich zur Antwort: „Also schön, …“ „Ich kann sie in die Unterkünfte der Boten bringen …“, schlug Airon schnell seinem Großvater vor, der sich umdrehte und innehielt, nachdem sein Neffe zu ihm sprach. Zuerst sagte er nichts, dann setzte der Alt-König seine mächtigen Hufe erneut in Bewegung und er sprach: „Das wirst du nicht! Sie ist auf dein Zutun hin hier, also wird sie auch bei dir unterkommen.“ Der Rote verschwand nach draußen und ließ einen verwunderten Airon zurück. Sie soll bei ihm wohnen? Ein Mensch in seiner Behausung? Auch wenn sie ihm ansah, wie überraschend und offenbar auch unangenehm Airon diese Vorstellung schien, freute sich Lilaine insgeheim. Sie durfte vorerst bleiben und Airon sowie sein Volk vielleicht so näher kennen lernen. Nun, da das meiste geklärt war, drückte die Großmutter ihren Enkel herzlich an sich und dankte im Stillen den Sternen und allen Beteiligten für ihre Gnade, Airon eine zweite Chance zu gewähren. Kapitel 7: Nächtliche Träume ---------------------------- Der Wind ließ das bunte Herbstlaub in den Baumkronen rascheln und trug einen wundervollen Geruch an ihre Nase. Genussvoll atmete sie tief ein und schritt durch den Wald, an diesem zauberhaften Tag voll mit goldenem Licht. Diese Jahreszeit liebte sie besonders und verzückt reckte sie den Blick gen Himmel und zu dem Dach der Blätter über ihr. Der Rhythmus ihres Pferdes unter ihr trug sie weich über den Waldboden. Einfach sein – einfach glücklich – ein Gefühl von Freude, von Frei- und gleichzeitig Daheim-Sein. . . . Lilaine fuhr aus ihrem Traum auf, obwohl es eine wunderschöne Traumpfad-Erfahrung gewesen war, schlug ihr Herz aufgeregt in ihrer Brust. Immer noch halte in ihr dieses Gefühl von Freude wieder und dennoch schien es ihr, als wollte irgendwas ihre Aufmerksamkeit erregen. Auf irgendwas sollte sie achten, doch auf was genau? Bereits in früheren Zeiten zeigte sich ihr dieser Traum oft in manchen Nächten. Manchmal häufiger und dann doch wieder seltener. Das letzte Mal lag aber nun schon länger zurück. Sie spähte in die Dunkelheit und erkannte nur wage den Raum, in dem Airon und sie sich zur Ruhe gelegt hatten. Weiter hinten lag er schlafend auf seiner Bettstatt und Lilaine konnte seine leisen Atemgeräusche hören. Mit klopfendem Herzen legte sie sich zurück und kuschelte sich ein, auch wenn sie ein wenig aufgewühlt war, so fühlte es sich eher wie eine freudige Aufregung an. Vermutlich, aus Freude über ihre momentane Rettung aus der Burg sowie den Fängen des Prinzen und weil sie mit jenen Wesen zusammen sein durfte, die sie bereits in Kindertagen sehr geliebt hatte. Auch wenn sicher nicht alle Pferdmenschen froh über ihre Anwesenheit sein würden. . . . Zögernd setzte der schwarz-weiße Zentaur, der ungefähr dasselbe Alter wie sein Freund Airon zählte, die Hufe vor einander. Er hatte gehört, was geschehen war und fühlte unendliche Dankbarkeit für Airons Rettung. Doch weshalb musste er ausgerechnet einen Menschen hierherbringen? Er als Prinz sollte doch wissen wie gefährlich sie waren. Der Schwarz-Weiße hielt inne, die Erinnerungen an damals holten ihn ein. Mit einem Kopfschütteln verjagte er die Bilder vor seinem inneren Auge. Verschwommen zeichneten sie sich ab, da sie bereits sehr lange her schienen, doch trotzdem verloren sie für ihn seinen Schrecken nicht. Als junges Fohle hockte er versteckt voller Furcht im Dickicht und beobachtete, wie eine Gruppe menschlicher Krieger seine Mutter und seine kleine Schwester … Er schnaubte und verzog sein Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse. Für einen Augenblick musste er innehalten und tief durchatmen. Schließlich fasste er sich wieder und setzte seinen Weg fort. Seinen Weg zu Airon, um ihn zu begrüßen, aber auch um sich diesen Menschen anzusehen. Ein Schauer lief ihm bei diesem Gedanken eiskalt über seinen breiten Rücken. Menschen, einfach widerlich, wie konnte Airon nur? Nicht mehr lange und er erreichte die Behausung des Prinzen. Wachen vor dem Eingang rührten sich nicht als der Schwarz-Weiße hindurch wollte. Im Inneren fand er Airon nicht vor. Alles lag still vor ihm, aber nur für einen Wimpernschlag lang. Denn da hörte er plötzlich etwas, ein Schatten löste sich aus der Umgebung, kam um eine kleine Ecke hinter einer Holzaufbaute, die als Ablage diente. „Airon?“, eine sachte Stimme klang an die Ohren des Pferdemenschen, der seine weißen, mit schwarzen Spitzen Pferdeohren aufmerksam aufstellte. Im selben Augenblick zeigte sich ihm eine Gestalt und die Menschenfrau trat ins Licht, der nur zum Teil aufgedeckten Fensteröffnungen. Aus Verwunderung formte sich schnell Missfallen im Gesicht des Pferdemenschen und seine dunkel blauen Augen funkelten sie böse an, die Pferdeohren bedrohlich nach hinten angelegt. Doch er sprach kein Wort, spannte nur seine Muskeln an und ballte die Hände zu Fäusten. Sie war ein weiblicher Mensch, dass hatte er nicht erwartet. Außerdem wirkte sie viel kleiner als in seiner Erinnerung aus Fohlentagen. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass von Menschen Gefahr ausging. Auch wenn sie nicht so bedrohlich wirken mochte. Lilaine erschrak innerlich, nachdem sie ihre Verwechslung bemerkte, nicht Airon war zurückgekehrt, sondern ein völlig anderer Zentaur. Seine Fesseln zeigten schwarze Farbe und der Rest seines Fells war dagegen weiß, seine Haare hell blond. Und sie brauchte ihn nicht zu fragen, um zu erkennen wie sehr ihre Anwesenheit ihm missfiel. Vielmehr sah es für sie aus, als sann er darauf sie jeden Moment anzugreifen. Behutsam zog sie sich einige Schritte zurück, um ein wenig Abstand zwischen ihm und ihr zu bringen. Das schien er allerdings eher herausfordernd zu deuten, er kam ein paar Schritte auf sie zu und achtete darauf möglichst laut auf dem Boden mit seinem Hufen aufzustampfen, mit einem gemeinen Grinsen und dem Glanz in seinen dunklen Augen, der ganz klar keine freundliche Absicht verriet, zischte er: „Hast du Angst, Mensch? Dazu hast du auch allen Grund!“ Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihre Angst stieg aber nicht an, seltsamerweise verflog beim Klang seiner Stimme ihre Furcht, auch wenn er alles andere als vertrauenserweckend auf sie wirkte. Der Zentaur beugte sich ein Stück zu ihr herunter und packte sie an ihrer Kleidung, zog sie grob zu sich heran und fixierte sie wütend. Im Grunde hatte er nicht vor ihr weh zu tun, doch er wollte sich diese Gelegenheit auch nicht entgehen lassen, einem Menschen Angst spüren zu lassen. Irritierenderweise nahm er plötzlich keine nennenswerte Furcht mehr an ihr wahr, was Zentauren durchaus einfach wittern können. Wie auch immer. Er zog sie noch ein Stück dichter zu sich und ihre Hand griff an seine, die sie grob festhielt. Dabei stieg ein seltsames Gefühl in ihr auf und für einen Moment verschwamm sein Gesicht vor ihrem Blick. Sie befand sich erneut in ihrem wunderschönen Traum. Die bunten Blätter über ihr, der Rhythmus des Pferdes unter ihr, … die Freude. Sie hörte sich selbst lachen und sich glücklich umblicken, um jemanden zu rufen, sie doch einzuholen – wenn er könnte: „Torkin! Torkin!“ Das Bild verschwamm und Lilaine glitt zurück in die Gegenwart. Verwundert schaute sie vor sich und erkannte den schwarz-weißen Zentaur, den sie im Grunde unheimlich hübsch fand, nun mit einem respektvollen Abstand vor sich, er hatte von ihr abgelassen und blickte sie mit großen Augen fragend an. Er machte fast den Eindruck, als hätte er gerade etwas sehr Beängstigendes erlebt. Was war denn los? Es dauerte bis er seine Stimme wieder fand, schließlich knurrte er so gefasst wie möglich: „Woher … kennst du meinen Namen? Hat Airon ihn dir verraten und dir mein Aussehen beschrieben?“ Sie zwinkerte verwundert. Was meinte er, welchen Namen soll sie gesagt haben? Moment, … diese Vision. Hatte sie laut gesprochen? Wie lautete der Name noch? … Torkin … Aber wie konnte ein Traum und eine Vision ihr einen für sie unbekannten Namen verraten? Unsicher stotterte sie: „Bist du … Torkin?“ Er zog scharf den Atem ein und nickte dann. „Woher kennst du meinen Namen?“, pochte er wiederholt auf seine Frage. „Ich … weiß es nicht … ich träume manchmal … und eben … ich kann es nicht sagen.“ „Torkin“, unterbrach Airons Stimme die eigenartige Situation und der Schwarz-Weiße drehte sich zu seinem Freund um. Mit einem seltsamen Blick umarmte Torkin seinen Freund und ließ anschließend von ihm ab. Airon spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. „Was ist mit dir?“ „Ich bin froh, dass du lebst, mein Freund. Doch warum … warum hast du sie mitgebracht?“, die letzten Worte sprach Torkin unter Tränen und verließ dann stürmisch die Behausung. „Warte, Torkin“, rief Airon ihm nach, er warf Lilaine einen prüfenden Blick zu und rannte dann seinem Freund nach. Oh oh, was hatte sie denn jetzt angerichtet? Dabei wusste sie nicht einmal, was genau geschehen war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)