Was die Hitze des Sommers nicht alles bewirken kann... von Mondsicheldrache (The Vessel and the Fallen 1) ================================================================================ Kapitel 28: Arbeit ------------------ *~* „Nun, mein Herr, hier ist der aktuelle Plan für den Umbau der Stadt Balbadd. Ach und der Bebauungsplan für neu erschlossene Flächen am Stadtrand. Es wurden anscheinend minimale Änderungen im Hafenbereich vorgeschlagen. Der zuständige Baumeister bittet nur noch um eine Absegnung Eurerseits. Euer kaiserlicher Bruder scheint bereits einverstanden zu sein.“ Voller Elan kam Chuu'un in den viel zu heißen Raum gestürmt. Koumei legte erfreut seine Schreibfeder beiseite. Erwartungsvoll wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Bei diesem unerträglichen Klima war er leider unvermeidlich, was ihn nicht weniger lästig machte. Chuu'un sah nicht besser aus als er, die Kleidung des Vasallen trug eindeutige Spuren der Hitze. Trotzdem bedauerte Koumei nicht, dass er ihn durch das gesamte Anwesen eilen ließ wie einen Laufburschen. Etwas Abwechslung konnte der Diener bei der meist recht eintönigen Anstrengung nämlich dringend vertragen. Chuu'un war stark, da würde ihn ein bisschen Wärme nicht umbringen. Da er seine Angelegenheiten immer noch mit befriedigender Schnelligkeit bewältigte, kam er anscheinend vergleichsweise gut mit den Temperaturen hier zurecht. Koumei nickte zufrieden. „Das ist ausnahmsweise eine gute Nachricht. Leg sie mir hier hin, die ganzen dazugehörigen Unterlagen am besten gleich mit.“ Nach Kouens Wutanfall vor ungefähr eineinhalb Wochen hatte er sich lieber früher als später zusammengerissen und war wieder in konzentriertes Arbeiten verfallen. Wenn er sich einmal ernsthaft dazu überwand, kam er nicht mehr von seinen Aufgaben los. So saß er wie üblich ununterbrochen stundenlang an seinem Schreibtisch, schrieb wichtige Briefe, unterzeichnete Dokumente und plante was das Zeug hielt. Wider Erwarten machte ihm das Denken am meisten Spaß, auch wenn die Umstrukturierung Balbadds sich als wahrhaft komplex erwies. Genaugenommen verlangte es immer unvorstellbar viele Gedankenexperimente, wenn man ein ganzes Land verändern wollte. Aber Koumei hatte schon früh in seinem Leben gemerkt, dass ihm derartige Aufgaben durchaus lagen. Auch sein Bruder wirkte ausnahmsweise zufrieden mit ihm. Bei ihrer letzten Unterredung hatte er in einemfort anerkennend genickt und dann war abschließend sogar ein seltenes Lob über seine Lippen gekommen. Ein kleines Wunder. Den Preis den der zweite Prinz jedoch für seine tagelange Aufmerksamkeit zahlte, waren die schwärzesten Augenringe, die je sein Gesicht gezeichnet hatten. Chuu'un achtete dieses Mal zwar darauf, dass er die ihm verordneten Zwangspausen einhielt und brachte ihm stets Essen und Trinken vorbei, wenn es kein Dienstmädchen tat, doch Schlaf fand Koumei viel zu selten. Noch hielt er tapfer durch, auch wenn er bereits hin und wieder daran dachte, einfach in sein herrliches Himmelbett zu kriechen und den Rest seiner Lebenszeit dort zu verbringen. Diese mutlosen Gedanken verschwanden jedoch schnell, wenn sein Vasall mit einer neuen Aufgabe in der Tür erschien. Koumei stürzte sich regelrecht darauf. Sobald er sich einmal eingearbeitet hatte, konnte ihn nichts mehr stoppen. Deswegen schob er nun auch die Papiere, die er grade bearbeitet hatte, an Seite und entrollte den Bebauungsplan, der soeben neu aufgelegt worden war. Sofort verfing sich das dünne Pergament an seinem Armband. Ungehalten nahm er den hinderlichen Schmuck ab, er hatte keine Lust, sich immer wieder von dem Papier zu befreien. Balbadd bedurfte seiner vollen Aufmerksamkeit. Um allen Menschen eine befestigte Bleibe bieten zu können, musste die Stadt ein wenig vergrößert werden. Platz gab es in der Wüste genügend, nur musste die Stadtmauer erweitert werden, was einigen Aufwand kosten würde. Doch ein Land unter dem Oberbefehl der Kou sollte seinem Volk immerhin ein sicheres Dach über dem Kopf bieten können. Die zahllosen Obdachlosen, die einem bei jedem Gang durch die Gassen auffielen -zumindest beklagte Kouen dies immer voller Ärger, Koumei setzte kaum jemals einen Fuß in diese brütende Hitze - sollten endlich verschwinden. Selbstverständlich würde es immer ein paar Menschen geben, die die Hilfen der Regierung nicht annehmen wollten und deshalb auf der Straße bleiben würden. Doch bei der Masse an Bettlern, die Nachts im Freien schlafen mussten, was man in dieser Wüstenkälte niemandem gönnte, würde der Bau von kleinen Häusern und die geplante kostenfreie Nahrungsverteilung an Bedürftige deren Lebenssituation schlagartig verbessern. Das alles war unverkennbar schwer zu organisieren und nicht ohne gravierende Nachteile zu verwirklichen, dennoch hielt Koumei diese Vorgehensweise für die einzig funktionale. Auch die bereits bestehenden Viertel Balbadds würden umgebaut werden. Vielleicht nicht, um mehr Raum für die Menschen zu schaffen, was wohl ein netter Nebeneffekt des Vorhabens sein könnte, sondern um sie auch geistig zu Bürgern des Kou Reichs zu machen, doch diese Umerziehung würde ihnen nur zu Gute kommen. Wenn man die Architektur und das Aussehen eines Ortes in richtigem Maße veränderte, wandelte sich mit der Zeit auch die Mentalität der Bewohner. Genau das wollten sie erreichen: Unterstützer des Kaisers heranziehen, damit es nicht mehr zu derartigen Unruhen kam, wie sie vor der Übernahme durch Kou in diesem Land geherrscht hatten. Volksunruhen waren an der Tagesordnung gewesen, vor allem wegen diesem Taugenichts von König Ahbmad Saluja. Nun gut, einer der Priester von Kaiserin Gyokuen war nicht ganz unschuldig daran gewesen, dass das Land dem Ruin anheimgefallen war, aber ohne diesen schrecklichen Herrscher wäre Balbadd niemals derart verkommen. Die Menschen konnten sich wirklich glücklich schätzen, denn nun würde endlich Frieden in ihrem Staat einziehen, auch wenn sie nicht wie gewünscht in einer Republik leben würden. Erfahrungsgemäß führten derart lockere Strukturen, in denen das Volk über sich selbst herrschte lediglich zu Chaos und bald zu den nächsten Unruhen, weil Probleme nur schwer gelöst werden konnten, wenn jeder darüber abstimmen durfte. Ein Reich brauchte nur einen Herrscher, der, anders als Ahbmad Saluja, kluge und energische Entscheidungen treffen musste, die niemand anzweifeln konnte, außer vielleicht seine engsten Vertrauten. Die Mächtigen des Kou Reichs dachten da noch einen Schritt weiter: Genaugenommen brauchte sogar die ganze Welt nur einen Herrscher. Wie man in Balbadd bestens hatte beobachten können, brachten verschiedene Ideologien und Ansichten nur Krieg und Verderben. Deshalb unterstütze Koumei Kouen und seinen Vater, wobei klar war, wer mehr für ihr Land tat, in ihren Eroberungsbestrebungen. Ihr Vorhaben: Die ganze Welt unter dem Banner der Kou einen, um endlich Frieden zu schaffen. Ob ihnen dies je gelingen würde, wusste er freilich nicht. Niemand hatte je dergleichen versucht. Balbadd stellte nur einen weiteren Schritt auf dem Weg zu ihrem hohen Ziel dar. Natürlich gab es viele Gegner, die ihnen den Weg versperrten oder es zumindest versuchten. In der jetzigen Lage der Welt waren zudem Kriege und damit verbundene Opfer noch unvermeidlich. Doch zumindest Balbadd hatten sie relativ problemlos unter ihre Fittiche nehmen können. Dass den Menschen hier immer noch einige unschöne Veränderungen bevorstanden, hätte ihn damals, als kleiner Junge, noch betrübt, doch mittlerweile wusste Koumei, dass es ohne Eingeständnisse und Kompromisse unmöglich war, die Leute von den Kou-Idealen zu überzeugen. Sie würden strenge Gesetze und fremde Sitten für das Wüstenvolk einführen müssen, um sie von Rebellionen abzuhalten. Die Wachenpräsenz sollte erhöht werden, damit niemand auf falsche Ideen kam. Außerdem würde das System der Sklaverei grundlegend verändert werden. Anscheinend gab es momentan keine oder kaum noch Sklaven in Balbadd, doch aus den Aufzeichnungen entnahm Koumei, dass dem erst seit den Unruhen vor ein paar Monaten so war. Ungünstig. Die Widereinführung der Sklaverei würde sicherlich auf Protest stoßen. Doch seiner Meinung nach war die Methode der Kou weitaus humaner als alle anderen, die ihnen zur Auswahl standen: Misshandlung von Sklaven stand unter Strafe und nach fünf Jahren wurde ein Sklave in die Freiheit entlassen. Außerdem stammten die Sklaven nicht aus dem eigenen Land. Eigentlich verabscheute Koumei derartigen Menschenhandel. Er wusste jedoch, dass es ohne die Sklaven nicht möglich war, ein derart großes Reich stabil zu halten. Außerdem hatte die gewöhnliche Bevölkerung so kein Recht, sich über ihre möglicherweise missliche Lage zu beschweren, es gab immerhin Menschen, denen es deutlich schlechter ging als ihnen. „Herr, bedrückt Euch irgendetwas?“ Die ruhige, gleichmütige Stimme seines Vasallen ließ Koumei aus seinen konzentrierten Gedanken aufschrecken. „Nicht der Rede wert. Der Plan sieht vielversprechend aus. Es wird wohl ein großes Bauunternehmen werden, soweit sich das für Außenstehende einschätzen lässt. Natürlich sind die Behausungen keine besonders feudalen Anwesen und stehen alle in Reih und Glied, aber um unser großes Anliegen zu erfüllen, die Obdachlosigkeit zu bekämpfen, ist dies die einzige Möglichkeit. Etwas Besseres können wir uns momentan einfach nicht leisten“, seufzte er. „Ist das nicht schon eine gewaltige Verbesserung der bisherigen Umstände?“, hakte Chuu'un verwirrt nach. „Natürlich. Aber schön oder gar angenehm ist anders. Die Menschen werden das Leben in diesem Viertel rasch leid sein, wenn sie sich erst einmal an die Annehmlichkeiten einer Behausung gewöhnt haben. So ist die Gesellschaft, daran lässt sich nichts ändern.“ „Selbst wenn dies eintreffen sollte, können sie Euch dankbar sein!“, protestierte Chuu'un. „Vielleicht“, murmelte Koumei und versank wieder in dem Stadtplan. Balbadd würde wirklich ein ganzes Stück wachsen. Nicht übel. Dann vertiefte er sich in das andere Pergament. Die Zeichnungen von der ursprünglichen Stadt waren mit roter Farbe ergänzt oder übermalt, wo Änderungen eintreffen würden. Es dauerte seine Zeit, bis er alles geprüft hatte. Bei den Rukh, wenn die Arbeiter mit dem Umbau fertig sein würden, wäre Balbadd nicht mehr wiederzuerkennen, sondern aussehen, wie eine richtige Kou-Stadt, fast wie Rakushou! Ob dieser Umstand ihn in Zukunft über das unausstehliche Klima hinwegtrösten konnte? Ehrlichgesagt fehlte ihm das Fachwissen zum Thema Städtebau, aber nach dem wenigen was er wusste, fand er die Vorschläge und Pläne vernünftig. Mittlerweile hielt er alle Entscheidungen, die auf diesem Papier verzeichnet waren, für tragbar. Zufrieden rollte er die Entwürfe zusammen und ließ sich von Chuu'un die Zettel überreichen, auf denen er alles absegnen sollte. Ach, da stand ja auch schon Kouens Unterschrift, wie schön. Ungelenk wie eh und je fügte er die seine hinzu und versiegelte die Dokumente schließlich ein wenig unordentlich, was seinem Vasallen ein erschrockenes Luftholen entlockte. Koumei unterdrückte spöttisches Lachen. Kommentarlos händigte er dem anderen auch diese Papiere aus, ehe er sich einer neuen Schriftrolle zuwandte. Unter dem dicken Papier blitzte jedoch etwas weitaus spannenderes hervor. Ob es das war, worauf er schon lange gewartet hatte? Wie Chuu'un pflichtbewusst den Raum verließ, um die unterzeichneten Papierberge fortzubringen, bemerkte er nicht. Nein, seine Entdeckung nahm seine gesamte Aufmerksamkeit ein. Neugierig zog der zweite Prinz an dem zerknitterten Blatt. Ach, zwischen seine Akten war ein Schreiben von Kouha aus Magnostadt gerutscht? Hoch interessant! Er hatte sich schon gefragt, warum es so lange dauerte, bis er etwas von ihm hörte. Ob sein kleiner Bruder bereits Erfolge vorzuweisen hatte? Doch sobald sein Blick auf dessen ordentliche, wenn auch ein wenig angestrengte Schrift fiel, breitete sich Ernüchterung in ihm aus. Das sah Kouha ganz ähnlich: Lieber Bruder Mei, bist du jetzt enttäuscht? Ich dachte, ich lasse dir mal einen kleinen Gruß aus Magnostadt zukommen. Du erwartest sicher einen förmlichen Bericht über meine diplomatischen Fortschritte, doch leider muss ich gestehen, dass sich Matal Mogamett nicht grade kooperativ zeigt. Der alte Opa stellt sich quer, dabei gebe ich wirklich mein Bestes. Diese Magier lassen einfach nicht mit sich reden. Sie halten uns gewöhnliche Menschen für Abschaum und blicken auf uns herab. Wie man so blind sein kann, ist mir wirklich ein Rätsel. Nun gut, wenn erst einmal unsere Streitmacht vor ihren Toren steht, werden sie schon sehen, dass wir nicht zu unterschätzen sind. (Hoffentlich wird dieser Brief nicht abgefangen, sonst bekommen wir hier wohl größere Schwierigkeiten…) Aber genug davon, an sich ist Magnostadt ein herrlicher Ort. Er ist wirklich von Interesse für uns. Ein wenig befremdlich, dass überall in der Öffentlichkeit magische Utensilien zum Einsatz kommen, als wäre dies das normalste der Welt. Du wärest begeistert davon, was sie hier alles entwickelt haben, diese magischen Erfindungen können durchaus mit deinen Ideen mithalten. Sei nicht traurig, du bist immer noch der schlauste Mensch, den ich kenne. Gestern war ich mit Junjun, Jinjin und Reirei in der Stadt unterwegs. Als erbärmlicher Goy darf man sich hier zwar nur äußerst eingeschränkt bewegen, doch das, was wir bis jetzt gesehen haben, wirkt sehr ansprechend. Hier gibt es streunende Katzen, stell dir vor, ich habe einen Jungen gesehen, der vor Begeisterung darüber beinahe ausgerastet ist… Wie gesagt, das Volk scheint mir nicht das hellste zu sein. Dafür sieht man überall Menschen, die auf verzauberten Gegenständen durch die Luft fliegen. Das sieht spaßig aus. Du hättest wahrscheinlich weniger Freude daran und an dem geschäftigen Treiben hier ebenfalls. Es gibt sehr schöne Parks hier, vielleicht würden die dir eher gefallen. Selbst um Nahrungsmittel oder Zierpflanzen anzubauen, nutzten sie hier die Magie. Ich habe noch nie so große Tomaten gesehen und die Feigen erst! Lecker, sag ich dir! Vielleicht bringe ich ein paar davon mit nach Hause, falls sie die beschwerliche Reise überstehen. Da fällt mir ein, dass ich auf eine überaus anstrengende Hinreise zurückblicken kann. Zuerst ließ der Kutscher noch einen kleinen Knirps zusteigen und dann wurden wir zu allem Überfluss von Banditen überfallen. Alle mit magischen Utensilien bewaffnet, seltsam, was? Immerhin gibt es jetzt eine Räuberbande weniger auf der Welt, ich habe sie alle ihrer gerechten Strafe zugeführt. Falls du jetzt entsetzt bist, Mei kann ich nur sagen: Sie wollten uns auch töten und mir war langweilig. Im weiteren Verlauf der Reise habe ich mich dann überraschenderweise doch noch sehr über die Gesellschaft dieses komischen Knirpses namens Aladin gefreut, der wohl in Magnostadt die Akademie besuchen möchte. Ich bin mal gespannt, ob ich irgendwann erfahre, wie er sich dort macht, besonders fähig erschien er mir nämlich nicht. Aber dafür habe ich ihm hübsche Zöpfe geflochten. So, das war eigentlich alles, was es momentan aus Magnostadt zu berichten gibt. Falls ich in den nächsten Tagen unerwartete Fortschritte erzielen sollte, bist du selbstverständlich der erste, der davon erfährt. Viele Grüße und übernimm dich nicht! Dein Kouha PS: Ich schicke das hier mit einer Taube, hoffentlich findet das Tier den Weg nach Balbadd, allzu schlau wirkt sie ja nicht… Außerdem wäre es ziemlich traurig, wenn ein Jäger sie vom Himmel schießt, nicht wahr? Dann würde meine lästerliche Nachricht in die falschen Hände fallen und jemand würde einen köstlichen Taubenbraten verspeisen. Wahrscheinlich wäre dann auch mein Leben in Gefahr. Was fändest du schlimmer? Schick mir doch eine Antwort, wenn du Zeit hast. Ich stecke deine Taube auch nicht in den Topf. Bis bald, ich vermisse dich und En schon, Mei! Fehlt nur noch, dass er das Briefpapier mit Herzchen und anderen Kritzeleien verziert…, dachte Koumei pikiert. Brummend faltete er den Brief zusammen. Wie furchtbar. Die arme Taube! Ja, das passte zu Kouha. Sein kleiner Bruder liebte es, ihn auf sadistische Weise zu ärgern, besonders, wenn sich für ihn daraus keine Konsequenzen ergaben. Scheinbar fühlte er sich in Magnostadt überaus sicher, wenn er solch ungehörige Dinge über das Staatsoberhaupt und dessen Volk schrieb. Allerdings hatte die Nachricht Koumei durchaus belustigt. Obwohl ihm gute, sachliche Neuigkeiten lieber gewesen wären und Kouhas abfällige Worte über Tauben ihn wirklich verletzten. Natürlich war ihm sein Bruder wichtiger, als ein unbekannter Vogel, doch es war einfach bösartig, ihn damit aufzuziehen! Keine Taube hatte es verdient, als Braten zu enden! Herrje, jetzt hatte er seine Zeit mit Kouhas lächerlichem Briefchen vergeudet. Es überraschte ihn, dass sein Bruder so viel geschrieben hatte, normalerweise ödete ihn dies an. Er beschäftigte sich lieber mit seinen Dienerinnen oder seinem Äußeren, als mit wirklich praktischen Dingen. Allerdings klangen die wenigen Beschreibungen von dem Land derart interessant, dass Koumei an Kouhas Stelle wahrscheinlich ebenfalls mehr als sonst geschrieben hätte. Dass die Menschen aus Magnostadt in der Magieforschung mehr Fortschritte erzielt hatten als sie in Kou, wunderte ihn kein bisschen. Doch über Kouhas Verfahren mit den Banditen konnte er nur den Kopf schütteln. Er sorgte sich wegen diesem unbedachten Verhalten, alleine der Brief konnte lebensgefährlich für Kouha enden. Sein kleiner Bruder liebte die Gefahr und dem Quälen seiner Feinde schien er niemals abgeneigt. Aber die Sache mit den magischen Utensilien in der Hand von Straßenräubern, war tatsächlich besorgniserregend. Vielleicht war es gut, dass Kouha mit ihnen kurzen Prozess gemacht hatte, doch irgendwann würde dieser Wahnsinn ihn zu Grunde richten. Welch ein Glück, dass jemand aus Kou die Taube gefunden und die Nachricht Koumei hatte zukommen lassen. Hoffentlich hatte dieser jemand sie nicht gelesen. In jedem Fall würde er Chuu'un lieber befehlen, das Schreiben zu verbrennen, er wollte Kouha nicht in Gefahr wissen, nur weil der Junge sein Temperament nicht zügeln konnte. Koumei beäugte ein letztes Mal das leicht zerknitterte Briefpapier. Schon wollte er nach seinem Vasallen rufen, doch von diesem fehlte jede Spur. Irritiert überlegte er, wann dieser den Raum verlassen hatte. Es musste kurz vor seiner Lektüre gewesen sein. Dann würde er sicherlich gleich wieder kommen. Eigentlich egal, was das betraf hatte er Zeit, er würde den Brief ja nicht unbeaufsichtigt liegen lassen. Jetzt musste er aber schleunigst weiter arbeiten. Gewissenhaft schuftete er sein Tagespensum ab. Irgendwann wollte er schließlich damit fertig werden! Tagespensum bedeutete in diesem Falle tatsächlich Tagespensum. Freizeit blieb keinerlei übrig. Was Kouen sich immer dabei dachte! Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, spielte die Sonne ihnen heute besonders übel mit. Diese elendige Hitze! Koumei schwitzte mal wieder. Das tat er in Balbadd eigentlich rund um die Uhr. Widerwärtig. Zum Glück nahm ihn die Arbeit so in Anspruch, dass er kaum die Gelegenheit bekam, sich über das furchtbare Wetter aufzuregen. So vertiefte er sich auch heute wieder in ellenlange Listen und so weiter und sofort. Plötzlich zog ihm ein merkwürdiger Geruch in die Nase. Zuerst ignorierte er ihn, wollte sich nicht ablenken lassen, da er gleich die eine Schriftrolle durchgearbeitet haben würde. Dann jedoch legte er sie beiseite und blickte erwartungsvoll zur Tür. Tatsächlich stand dort Chuu'un samt einem vollbeladenen Tablett und einer Teekanne. Wenn der Vasall nicht aufpasste, mutierte er noch zum Dienstmädchen. Koumei stöhnte innerlich. Schlafen durfte er nicht, aber essen schon? Er wusste genauestens, welche Option er vorgezogen hätte. Leider die falsche. Gut gelaunt, Chuu'un wirkte immer vergleichsweise heiter, wenn er seinen Herrn nicht aus dem Bett werfen musste, stellte der Mann die Speisen vor Koumeis Nase ab. Ein herzhafter Duft von gebratenem Meeresbewohner waberte durch den Raum. Das war doch nicht etwa das, worauf er hoffte? „Leider konnte ich heute mal wieder keinen Tintenfisch auftreiben“, entschuldigte sich Chuu'un. Schlagartig verlor er Koumeis Aufmerksamkeit. Der Prinz hatte keine Lust irgendein abartiges Gericht aus Balbadd zu sich zu nehmen, wie die letzten Tage schon. Was für eine Qual. Wie ertrugen die anderen das nur? Es wäre herrlich, wieder in Kou zu sein und dort zu speisen. Schade, eigentlich müsste es doch auch in Balbadd Tintenfisch geben? Die Stadt lag direkt am Meer! Ach, was brachte seine Empörung? Genau, nichts. Er würde den Tee trinken und dann weiter arbeiten, dies war ohnehin besser für den brüderlichen Frieden. Doch Chuu'un durchkreuzte sein Vorhaben voller Motivation. Ein Außenstehender hätte dies nie bemerkt, für jeden außer Koumei sprach der Vasall vollkommen nüchtern, nicht im Mindesten beschwingt. „Anstatt Eurer Leibspeise habe ich einen Ersatz aufgetrieben.“ Der Prinz hob skeptisch eine Augenbraue. Er mochte keinen Ersatz. Weder für Menschen noch für bestimmte Nahrungsmittel. Der andere reagierte nicht darauf, sondern schob ihm einen großen, flachen Teller hin, der in Kou eher als Anrichtplatte durchgegangen wäre. Was ist das?, dachte Koumei irritiert. „Eumer Brasse in Butter gebraten“, kam prompt die ruhige Antwort. „Das soll ich essen?“, murrte der zweite Prinz nicht sonderlich begeistert. Vor ihm lag ein ganzer Fisch und starrte ihn anklagend aus seinen toten Augen an. Die schuppige graue Haut bedeckte immer noch den schlaffen Körper. Da konnte man ja Albträume von bekommen! Wirklich widerlich. Wie sollte man das Fleisch von diesem unzerteilten Viech denn mit Stäbchen fassen? Unmöglich! Die Menschen aus Balbadd benötigten dringend ein paar Rezepte aus Kou, damit sie weniger abscheuliche Tiere und mehr pflanzliche Kost aßen, Tintenfisch ausgenommen. „Dieser Fisch gilt als Nationalgericht Balbadds. Seine Gräten sind so zart, dass Ihr sie mitessen könnt. Kommt Euch das nicht entgegen?“ „Schweig. Den Kommentar hättest du dir sparen können“, gab Koumei unwirsch zurück. Es fehlte ihm grade noch, dass der Kerl ihn mit seiner Faulheit aufzog. Lustlos betrachtete er den Fisch. „Bring mir Gemüse!“, verlangte er. Chuu'un verzog keine Miene. „Ihr braucht mehr Fett und Energie, das bekommt Ihr nicht durch Gemüse. Kopfarbeit verbraucht sehr viel Kraft, die bekommt ihr schneller durch gehaltvolles Essen. Dieser Fisch ist gesund und wird Euch gut tun.“ Ich gebe dir gleich Fett und Energie, du respektloser Vasall! Dann wirst du schon sehen, wie gut das tut! Doch er entgegnete lediglich: „Dann bleibe ich lieber beim Tee.“ „Ausgeschlossen. Euer Bruder würde aus der Haut fahren, falls Ihr wieder aufgrund eines Zusammenbruchs ausfallt!“ „Fische, deren Gräten essbar sind, sind unnatürlich.“ Chuu'un schwieg verdutzt. Plötzliche Themenwechsel brachten ihn manchmal aus dem Konzept. Dann allerdings warf er eine Frage auf, die Koumei schockierte. „Glaubt Ihr, dass Tintenfische Gräten besitzen?“ „Ähm… wie bitte?“, brummte der Prinz missmutig. Das durfte nicht wahr sein, war es allerdings durchaus: „Ich sehe immer nur die Tentakel mit den Saugnäpfen zwischen Euren Stäbchen baumeln.“ „Mhm…“ Sehr gehobene Wortwahl, Chuu'un. „Und wo ich Euch diese Eumer Brasse bringen sollte, habe ich mich eben gefragt, ob Tintenfische auch Gräten haben und ob sie vielleicht ebenso zart sind, dass man sie zerkauen kann.“ „Du machst mir Angst. Natürlich haben Tintenfische keine Gräten, es sind nicht einmal richtige Fische!“, schnaubte Koumei entsetzt über so viel Unwissenheit. „Entschuldigt Herr, aber das wusste ich nicht.“ Koumei hätte sich am liebsten den Schädel an der Tischkante aufgeschlagen. Chuu'un offenbarte grade eine derart unterirdische Intelligenz, dass er beinahe mit Hakuren konkurrierte. Alleine bei diesem Gedanken verzogen sich seine Mundwinkel nach unten. Noch weiter als gewöhnlich, er zeigte scheinbar oft einen sehr finsteren Blick, wenn man Kouha und Judar Glauben schenkte. Solch eine Dummheit hätte er von seinem Vasallen niemals erwartet. Dieser schenkte ihm bereits einen Becher Tee ein. Pflichtbewusst wie eh und je. Obwohl er seinen Helm in der brütenden Hitze nicht mehr trug, hing ihm immer noch das lange braune Haar wild in die Stirn und behinderte wohl seine Sicht. In diesem Fall verbarg es sicherlich einen gedemütigten Blick. Wahrscheinlich schämte sich der Ältere seiner Ahnungslosigkeit. Angebracht wäre dies jedenfalls. Davon, dass er vier Jahre mehr Lebenserfahrung besaß, merkte man momentan nicht viel. Doch Chuu'un ließ keinerlei Betroffenheit erkennen, ging lediglich unbekümmert seinen Pflichten nach, als hätte er nicht eben die lächerlichste Frage seit Anbeginn der Welt gestellt. So drückte er seinem Herrn ihm unerbittlich den Tee in die Hand. Glücklicherweise war die Flüssigkeit bereits abgekühlt, etwas Warmes wollte bei diesen Temperaturen niemand trinken. Durstig spähte der Prinz in den Becher und nippte prüfend an dem dunklen Inhalt. „Schwarzer Tee aus Kou, nicht vergiftet und grätenfrei, falls Ihr das befürchtet“, erlaubte sich Chuu'un einen kleinen Seitenhieb. Koumei hatte wohl allzu skeptisch dreingeschaut, denn normalerweise servierte man ihm nur grünen Tee. Schwarztee verfärbte die Zähne gelb. Trotzdem mochte er beide Sorten gerne. Von einem Mal würden seine Zähne nicht gleich unansehnlich werden. Vielleicht könnte ihn das Gebräu sogar besser wachhalten als sein gewöhnliches Getränk. Zumindest der herbe, deutlich kräftigere Geschmack erweckte Hoffnung. „Euer Fisch wird kalt“, bemerkte Chuu'un nach dem zweiten Becher. Und wurde desinteressiert ignoriert. Sollte das Gericht doch abkühlen und ungenießbar werden. Koumei würde es ohnehin nicht zu sich nehmen. Nicht einmal die Beilagen waren nennenswert. Neben einem verlorenen Kräuterbüschel gab es nur einen Klecks undefinierbaren Brei, welcher mit Nüssen gekrönt war. Nicht grade verlockend und mit Stäbchen wirklich sehr schlecht zu essen. Gähnend schob er den Teller bei Seite und wandte sich wieder seinen Schriftrollen zu. Chuu'un versteifte sich kaum merklich hinter ihm. Nach Koumeis Zusammenbruch vor anderthalb Wochen achtete er peinlich genau auf ihn. Vor allem stellte er sicher, dass er genügend zu Essen und zu Trinken bekam. Lästig. Koumei fand einfach keinen Gefallen an den exotischen Speisen. Seit seinem Frühstück mit Kouen hatte er nur zweimal Reis gegessen, ansonsten hatte man ihm irgendwelche faden Wurzeln aus Balbadd aufgezwungen. Deren Geschmack glich eher dem einer durchgelaufenen Strohsandale. Dass man ihm heute nicht einmal etwas Gemüse zustand, wurmte ihn allerdings noch mehr. Wer konnte schon von diesen harten Knollen leben und ansonsten nur diese seltsame Brasse und Obst verschlingen? Ach ja, Fleisch wurde hier ebenfalls häufig aufgetischt. Viel zu viel für seinen Geschmack. Wahrscheinlich konnte er sich glücklich schätzen, dass ihn noch niemand mit Hühnerspießen oder dergleichen belästigt hatte. „Derart übel sind die hiesigen Spezialitäten nun auch wieder nicht“, bemerkte Chuu'un ruhig. Natürlich. Dieses Argument hätte er auch verwendet, wenn er jemandem diesen schrecklichen Fisch schmackhaft machen wollte. Koumei beachtete es nicht weiter, sondern tauchte seine Feder in das Tintenfass. Er merkte, wie sein Vasall immer unzufriedener wurde. Der tägliche Kampf mit dem Prinzen und dem unwillkommenen Essen machte ihn scheinbar aggressiv. Soweit er aggressiv werden konnte. Das einzige was man bei Chuu'un von seinem erhitzten Gemüt bemerkte, waren nämlich zusammengebissene Zähne. Und das höchstens in Ausnahmefällen. Wenn man nicht Seishuu Ri hieß, durfte man nicht auf einen Wutanfall des Bogenschützen hoffen. Koumei empfand dies als überaus angenehm. Er brauchte Diener, die Geduld mit ihm hatten oder zumindest so taten, als könnten sie abwarten. Mit einem hektischen Sklaventreiber, wie der Berater von König Sindbad einer war, hätte er sich niemals abgegeben. So konnte Chuu'un nur frustriert dreinschauen, während der Prinz das eigens für ihn zubereitete Gericht verkommen ließ. Nach einer Weile versuchte er es mit Bestechung: „Mein Herr, was haltet Ihr davon, wenn ich Euch nach dem Hauptgericht noch ein wenig Gemüse bringe?“ Keine Antwort. Koumei würde sich doch nicht wie ein Kleinkind überreden lassen! Da sollte sich Chuu'un jemand Dümmeren aussuchen. Niemals würde er auch nur eine Faser des weißen Fischfleisches probieren. „Wenn du möchtest, kannst du den Fisch essen“, schlug er beiläufig vor, interessierte sich allerdings nicht sonderlich für die Antwort. Er musste schließlich arbeiten. Kouen hatte ihm dies mit seiner Attacke sehr eindrucksvoll nahegelegt. Nur dank seinem Retter Chuu'un hatte er diesen brüderlichen Übergriff überlebt, ansonsten wäre er an einem Lachanfall erstickt. Koumei konnte für die nächsten hundert Jahre darauf verzichten, wieder unter ihm eingezwängt und gekitzelt zu werden. Wenn man diesen Muskelberg über sich hatte, konnte man nahezu Minderwertigkeitskomplexe bekommen! Also war wieder Arbeit angesagt! Andächtig beschäftigte Koumei sich mit den wichtigen Dokumenten. Nach einer halben Ewigkeit seufzte Chuu'un unmerklich auf und nahm sich den Teller. Offenbar schien ihm die Eumer Brasse tatsächlich zu schmecken, denn es dauerte höchstens ein paar Augenblicke, bis der Fisch verschwunden war, wie Koumei mit einem müden Seitenblick feststellte. Dann verschwand der Vasall, nahm auch Kouhas Brief zum Vernichten mit, um seinem Herrn kurzdarauf seine Paprika und Möhrenstreifen zu überreichen. Bevor Koumei verhungerte, musste er schließlich wenigstens irgendetwas vorgesetzt bekommen, das er zu sich nehmen würde. Perfekt. Jetzt konnte er endlich zugleich essen und arbeiten. „Danke dir“, murmelte der Prinz, bevor er sich für den Rest des Tages vollends in seiner Aufgabe verlor. Ungefähr so verlief jeder Tag in den folgenden Wochen. Nach und nach nahmen die Pläne für die Übernahme Balbadds konkrete Gestalt an. Die ersten Bauarbeiten begannen und die kaiserlichen Brüder ertranken fast in den Bergen aus Papieren, die sie beide absegnen mussten. Die Arbeit duldete keinerlei Pausen, sondern brachte durchwachte Nächte und blankliegende Nerven mit sich. Ja, die Wochen vergingen als Einheitsbrei. Neben spärlichen Mahlzeiten, viel zu wenig Schlaf und unendlichen Überstunden lauerten Besprechungen mit Kouen, sowie Würdenträgern und Volksvertretern des Landes Balbadd. Die alte Königsfamilie hatte man selbstverständlich ins Exil geschickt, von wo aus sie hoffentlich nie wieder Schaden anrichten würde. Natürlich löste das nicht jedes Problem: Viele der einheimischen Menschen schienen der Herrschaft der Kou sehr abgeneigt. Doch ihre Vorschläge, wie ihr Land stattdessen regiert werden sollte, konnten keinen der kaiserlichen Prinzen, noch deren Vater überzeugen, der von Boten über alle wichtigen Ereignisse in Kenntnis gesetzt wurde. Meist reagierte seine Frau Gyokuen auf die Briefe, angeblich hütete Kaiser Koutoku mal wieder das Krankenbett. So fand sich keine bessere Lösung, als die, welche Koumei ohnehin angestrebt hatte. Balbadd stand nun unter der Verwaltung des Kou Reichs. Kouen Ren hatte eine wahrhaft wichtige Rolle übernommen und Kou der Verwirklichung ihrer Ziele einen großen Schritt näher gebracht. Koumei verspürte Stolz auf seinen älteren Bruder. Da konnte er ihm sogar seine Grobheit und die unangemessene Rauferei verzeihen. Die Arbeit, die ihn am Ende des Monats vollkommen ausgelaugt hatte, war verglichen mit dem herausragenden Ergebnis nicht der Rede wert gewesen. *~* Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)