Was die Hitze des Sommers nicht alles bewirken kann... von Mondsicheldrache (The Vessel and the Fallen 1) ================================================================================ Kapitel 13: Kindertage ----------------------   *~*   * Hakurens allzu früher Tod war solch eine Verschwendung. Erfüllte Koumei noch immer mit hilflosem Zorn. Ein Gefühl, das er ansonsten kaum kannte. Das einzige Geschehnis in seinem Leben, was dazu führte, dass er sich wirklich machtlos fühlte. Auch heute noch. Da waren so viele Dinge gewesen, die sie verbanden. Als sie noch klein und unwissend waren, die Spiele im Palastgarten. Wie sie die Gärtner geärgert hatten, weil sie die frisch gepflanzten Blumen zertrampelten oder für zerknickte, schlechtgebundene Sträuße und geflochtene Kränze pflückten. Außerdem waren sie des Öfteren in den kleinen Brunnen und Teichen geschwommen, wobei der Rothaarige das alles meist nur mit offenem Mund und nervösen Blicken beobachtet hatte. Ihm war das alles zu viel und er war viel zu bequem, um sich körperlich derart zu verausgaben. Später folgten dann gemeinsame Bankette, bei denen Kinder eigentlich unerwünscht waren oder keinen Ton von sich geben durften. Schwierig mit dem kleinen Kouha und Hakuei am Tisch, irgendwann auch mit Hakuryuu, Kougyoku und den anderen Prinzessinnen, die damals noch nicht annähernd diesen hohen Rang einnehmen durften. Kinder hatte es im kaiserlichen Palast damals zur Genüge gegeben, wenn die ganze Familie beisammen war. Sie trieben Gyokuen und Koutoku in den Wahnsinn, während der Kaiser sich königlich über seine aufgeweckte Verwandtschaft amüsierte. Auch wenn es Koumei meist zu viel gewesen war und er sich immer freute, schnell wieder in die Stille und Einsamkeit seiner Gemächer zurückzukehren, wünschte er sich heute manchmal in die damalige Zeit zurück. Mit zwölf Jahren folgten die Übungen an den Waffen. Bei denen er Judar zum ersten Mal im kaiserlichen Palast über den Weg gelaufen war. Damals noch ein winziger, verzogener Bengel von grade mal vier Sommern, ebenso wie Kouha. Beide mit einer Wut in den Augen, die jeden erwachsenen Mann erschaudern ließ. Koumei erinnerte sich nicht gerne daran. Kouhas traurige Vergangenheit kannte er: Ein kleiner Junge, der sich völlig alleine um seine geistig umnachtete Mutter kümmern musste. Durchgedreht. Attackierte jeden, der sich ihm bis auf ein paar Schritte näherte und quälte Tiere mit einem wahnsinnigen Lachen. Abgeschottet von den anderen Frauen seines Vaters oder jeglichem Hofstaat. Verständlich, dass die Leute ihn mieden, immerhin hatte er schon vielen von denen, die ihm zu nahe kamen einige böse Wunden zugefügt. Doch Kouha hatte ein schweres, freudloses Leben ohne Hilfe verlebt, bis Kouen und Koumei seine Existenz ans Licht brachten und ihn aufsuchten. Sich um ihn kümmerten. Schließlich war er sonst der einzige Bruder den sie noch hatten. Koumei fühlte sich verantwortlich für den Kleinen, der etwas ehrliche Zuneigung und Zuwendung sichtlich brauchte. Auch wenn er nur ungern wirklich mit ihm spielte, da Kouha durchaus rabiat werden konnte. Koumei beschäftigte sich lieber anderweitig mit ihm, denn er hatte etwas gefunden, dass seinem kleinen Bruder gefiel: Tatsächlich genoss der Junge es, wenn der Ältere ihm ab und an eine spannende Legende oder alte Sagen vorlas. Dann schmiegte er sich immer an seinen großen Bruder und von dem wirren Wahnsinn in seinen grellen Augen war nichts mehr zu erkennen. Ja, Koumei liebte Kouha sehr und sorgte sich viel um ihn, trotz dessen beängstigenden Gewaltausbrüchen. Aber viel zu spät hatte er begriffen, woher Judars Gereiztheit stammte. Dann hätte er ihn vielleicht schon früher mit ein wenig mehr Verständnis behandelt. Nicht nur das grauenvolle Biest in ihm gesehen, für das er stets gehalten wurde. Vielleicht lag es daran, dass er nicht sein Bruder war sondern von Kaiserin Gyokuen und ihren engsten Untergebenen verhätschelt wurde, weil er ein Magi war. Koumei hatte sich nie dafür interessiert, auch wenn er wusste, welche Macht diese Zauberer besaßen. Er hielt Judar damals lediglich für ein unflätiges Straßenkind. Bedauerlich. Leider ließ es sich nicht mehr rückgängig machen. Koumei hätte dies wirklich gerne geändert. Aber erst nach einigen Jahren, als er schon beinahe erwachsen war, sollte er lernen, mit Judar auszukommen. Erzwungenermaßen. Er seufzte. Außerdem hatte er in diesem Alter bewiesen, wie untalentiert er sich im Schwertkampf anstellte, als er sich beinahe selbst erdolcht hätte. Das Übungsschwert einfach zu scharf und zu schwer, Koumei zu ungeschickt und zu schwach. Hakuren war natürlich einem Nervenzusammenbruch nahe gewesen. Hatte einen riesigen Aufstand gemacht. Wegen nichts, schließlich war die Wunde nicht weiter lebensbedrohlich. Der kleine Koumei, der plötzlich mit schmerzender Brust auf einem Krankenlager erwacht war, hatte sich halb zu Tode erschrocken, als er plötzlich in die aufgerissenen blauen Augen des Älteren starrte, der sich erwartungsvoll über den Genesenden gebeugt hatte. Seitdem schien sein älterer Cousin ein noch schärferes Auge auf ihn zu haben. Selbst nach über zehn Jahren blieben dem Rothaarigen die sorgenvollen Worte des anderen noch im Kopf, als wäre es gestern gewesen. Immer wenn sie gemeinsam im kaiserlichen Palast gewesen waren, ließ er ihn keine Minute alleine. Eigentlich war es ein unheimliches und nervtötendes Verhalten, aber damals hatte es dem Rothaarigen gefallen. Sein Vetter war zu dieser Zeit schließlich der einzige Mensch gewesen, mit dem er ein Gespräch führen konnte, welches länger als fünf Minuten andauerte. Ja, damals war er sehr schüchtern gewesen. Doch mit einem regelrechten Papageien, der so beständig redete wie Hakuren, konnte auch er längere Konversation betreiben. Koumei lächelte bei der Erinnerung an ihre ausgedehnten Unterhaltungen. Meist hatten sie daraus bestanden, dass der Ältere ihm etwas von seinen großen Heldentaten und von seinem älteren Bruder vorgeschwärmt hatte. Koumei hatte für gewöhnlich lediglich andächtig gelauscht und hin wieder bewundernde Töne beigesteuert. Ab und an vielleicht ein kleines Gähnen, eine Regung, die er sich nie verkneifen konnte, zu sehr liebte er sein gemütliches Himmelbett mit der weichen Decke und den herrlichen Kissen. Man hätte ihre Konversationen als einseitig bezeichnen können, aber Koumei hatte keinerlei Probleme damit, dass er so selten zu Wort kam, sondern nur kommentieren durfte. Ja, das reichte ihm völlig aus und es entspannte ihn, nicht fortwährend überlegen zu müssen, wie er die Unterhaltung aufrechterhalten konnte. Mit Hakuren war alles so einfach gewesen. Zwanglos. Hätte er das nur früher schon derart geschätzt. Die gemeinsame Zeit als wertvolles Geschenk angesehen und nicht für selbstverständlich befunden. Aber es ließ sich nicht ändern. Mit vierzehn Jahren hatte Koumei schließlich begonnen, sich für Militärstrategie, Recht, Gesetze und andere wichtige Dinge zu interessieren. Unerlässlich für einen möglichen Berater des zukünftigen Kaisers. Als ein Mitglied aus dessen engerer Verwandtschaft bestand diese Wahrscheinlichkeit durchaus. Schon immer hatte er Bücher aller Arten regelrecht verschlungen, sodass er bereits vor dem gezielten Lernen einige Dinge wusste, über die andere nur staunen konnten. Auch die Kriegsführung und die Magie waren zwei dieser Themen gewesen. Schon damals hatte Kaiser Hakutoku Koumei ab und an zu sich gerufen, damit er seine Magier und Wissenschaftler bei der Erforschung von Zauberei zu militärischen Zwecken unterstützte. Zuerst hatten sie sich gewundert, was ein kleiner Knirps ihnen helfen konnte, doch mit der Zeit freuten sie sich über seine Besuche und erkannten, dass er für sein Alter ungewöhnlich viel von ihrer Tätigkeit verstand, ja sogar gute Ideen mitbrachte. Nun da Koumei jedoch beschlossen hatte, ernstlich den Krieg zu studieren, nahm sein Wissen noch rascher zu, als vorher. Hakuren schien anfangs ein wenig erstaunt und manchmal sogar verstimmt darüber, denn von da an, hatten sie sich nur noch sehr selten gesehen. Koumei brütete Tag für Tag, manchmal sogar die Nächte hindurch, über alten, wertvollen Büchern und Schriftrollen, die ihm bereitwillig ihre machtverheißenden Geheimnisse preisgaben. Es war eine äußerst anstrengende, aber beinahe suchterregende Tätigkeit, die dem Jungen bereits damals große Freude bereitet hatte. Sein strenger Vater, der sich sonst wenig um seine Kinder scherte, und sogar der erhabene Kaiser begrüßten seine Gelehrsamkeit sehr. Schon immer hatte er, wenn er nicht zu faul und müde war, herausragende Leistungen in Angelegenheiten erzielt, die einen scharfen Verstand forderten. All die Lehrer, mit denen man sie gequält hatte, waren beeindruckt gewesen. Mit dem gleichen Erfolg vertiefte der Junge sich nun in die wichtigen Schriften. Ab und an bekam er noch ein wenig Unterricht, doch viel Unterstützung brauchte er nicht. Nur eines betrübte ihn irgendwann: An Begegnungen mit Menschen oder Treffen mit seinem Freund war nicht mehr zu denken. Ihm blieb einfach keine Zeit. Anfangs hatte es ihn nicht groß gestört, doch mit den zahllosen, verstreichenden Wochen vermisste er seinen Seelengefährten immer mehr. Schrecklich. Sehnte sich nach jemandem außer dem strengen, manchmal sogar furchteinflößenden Kouen, mit dem er reden konnte. Er liebte zwar alle seine Brüder und würde alles tun, was Kouen von ihm verlangte, schließlich kannte er ihn von allen Menschen in seinem Leben am längsten und mit am besten, aber wirklich tiefenentspannt konnte er neben ihm nicht sein, da schon ein herzhaftes Gähnen zu einer schmerzhaften Strafe führen konnte. Nein, er brauchte jemand anderen. Jemanden mit dem es Spaß machte, die seltene gemeinsame Zeit zu verbringen, der ihn nicht für seine zurückhaltende, verschlafene Art verurteilte. Und dann… einige Monate vor seinem sechzehnten Geburtstag, begegnete er Hakuren eines Tages mitten im Korridor, der zu seinen Gemächern führte. Ein flüchtiges Vorbeihasten. Stutzen. Dann erstaunte Gesichter. Tiefes Blau traf auf helles Rosé. Koumei erkannte das schwarze, seltsam geschnittene Haar sofort. Das typische Muttermal am Kinn und den offenherzigen Blick. Warum hielt sich der kaiserliche Prinz in der Residenz seines Onkels auf? Alleine? Sonst waren doch immer sie zum kaiserlichen Palast gereist. War der junge Mann ohne Erlaubnis hergekommen? Dann erst realisierte der Rothaarige, dass sich sein bester Freund verändert hatte. Mit seinen neunzehn Jahren wirkte Hakuren bereits deutlich erwachsener als Koumei. Einen guten Kopf größer. Gesünder und kräftiger. Vielleicht auch, weil er, so wie auch Kouen und Hakuyuu, nicht den ganzen Tag abgeschottet hinter einem Bücherhaufen verbrachte, sondern nebenbei auch Kämpfen und andere wichtige Dinge lernte. Qualitäten, die er für sein späteres Amt benötigte. Der Jüngere fühlte sich neben ihm schlagartig seltsam klein und unbedeutend. So schmächtig und dürr, regelrecht schwach. Doch kaum begegneten sich ihre Blicke nach all der Zeit, waren alle Unterschiede vergessen. „Oh, Koumei!“ Hakurens Stimme überschlug sich beinahe vor Begeisterung. Scheinbar hatte er sich innerlich weniger verändert, als erwartet. Dann verfiel er in seinen üblichen besorgten Tonfall: „Geht es dir gut? Du siehst so blass aus… Aber dein Haar leuchtet immer noch wie der Sonnenaufgang! Ich habe dich so lange nicht mehr gesehen! Hast du mich etwa nicht vermisst? Lass uns etwas unternehmen. Gleich hier und jetzt!“ Der übliche ungehemmte Wortschwall, aus dem immer noch kindliche Begeisterung sprach. Immer noch der gleiche, etwas zu gut gelaunte Kaiserssohn. War er nicht langsam ein wenig zu alt für so etwas? Er redete nicht sonderlich elegant daher. Seine noble Herkunft ließ sich lediglich zu Bruchstücken in diesen Worten erahnen. Egal. Koumei lächelte verhalten, um seine drängende Freude zu verbergen. Sein Herz raste vor Glück, ihn endlich wieder bei sich zu haben. Und wie ich dich vermisst habe! So sehr, wie du es dir niemals vorstellen könntest. Doch er entgegnete nur leise: „Hakuren. Es ist schön, dich zu sehen… Mir geht es gut und ich würde wirklich gerne mit dir kommen, aber… ich weiß nicht, ob Vater das erlaubt. Er möchte, dass ich so viel Zeit wie möglich, in meine Studien investiere.“ Hakuren lachte nur wegwerfend und meinte: „Du drückst dich aber gewählt aus! Scheint, als hättest du in der letzten Zeit einiges gelernt. Es ist fast über ein Jahr verstrichen, seit wir uns das letzte Mal begegnet sind! Da wird Onkel Koutoku wohl für einen Nachmittag ein Auge zudrücken! Komm schon, Mei!“ Der Junge zögerte unschlüssig. Wie sehr wünschte er sich, einmal seinem eintönigen Alltag zu entkommen. Das ganze Wissen faszinierte ihn, doch nach all der Zeit verlockte ihn das Angebot seines Cousins mehr als alles andere. Schließlich stand sein sechzehntes Lebensjahr kurz bevor. Selbst der ruhige Koumei verspürte in diesem Alter die Lust, einmal etwas Verbotenes zu tun. Nur für einen Nachmittag. Das konnte er sich sicherlich erlauben. Ohne einen weiteren Gedanken an mögliche Konsequenzen zu verschwenden, folgte er dem Älteren. Allerdings sollte es nicht bei diesem einen Nachmittag bleiben. Zu schön ihr Beisammensein. Zudem verbrachte Hakuren einige Zeit auf dem Anwesen seines Onkels, um mit Cousin Kouen seine Fechtkünste zu verbessern, da sein Bruder Hakuyuu keine Zeit mehr für so etwas aufbrachte, bevor er dann in den Palast zurückkehren sollte, um die Tochter eines fernen Königshauses zu ehelichen. Koumei bedauerte diesen Umstand sehr, sobald er von ihm erfuhr, denn es bedeutete, dass sie sich noch seltener treffen würden. Vor allem zwanglos und nur unter sich. Aber momentan weilte Hakuren erst einmal bei ihnen. Natürlich hatte niemand ein Problem damit, den Prinzen aufzunehmen. Der kleine Kouha musste sogar mühsam von der Dienerschaft gebändigt werden, um nicht dauerhaft an seinem geliebten Cousin zu heften, wie eine Klette, was oftmals in einem großen Gezeter endete. Mit Verletzten. Er sah zwar wie ein liebes, kleines Mädchen aus, doch hinter dieser zuckersüßen Fassade loderte der helle Wahnsinn. Hakuren fühlte sich ein wenig schlecht, wenn Kouha nur wegen ihm so ein Theater veranstaltete, aber sobald wieder Ruhe eingekehrt war, konnte er schnell wieder lachen. Der zweite kaiserliche Prinz trug eine ansteckend gute Laune mit sich herum. Alle Kinder freuten sich, nicht nur Kouha, sondern auch die zahlreichen Schwestern. Auch die, welche diesem Alter mittlerweile entwachsen waren. Kouen war natürlich auch glücklich, endlich einen guten Übungspartner zu haben, der ein Schwert halten konnte. Am meisten erfreute die Anwesenheit des Prinzen jedoch Koumei, denn durch seinen Vetter wurde sein Leben so unendlich viel angenehmer. Erträglicher. Glücklicher. Vor allem wenn sie ungestört und alleine waren. Ohne lärmende Geschwister, konnte auch seine leise Stimme mühelos bis zu Hakuren durchklingen. Wie sehr er das genoss. Sie beide versäumten in dieser Zeit so einige Pflichten. Bald bemerkte Koutoku dies und es hagelte Geschrei und Strafen. Besonders für Koumei, schließlich musste selbst der Bruder des Kaisers seine Zunge hüten, wenn er dessen Sohn tadelte. „Was fällt dir ein Junge, dich die ganze Zeit vor der Arbeit zu drücken, du hast deine Aufgaben zu erfüllen! Du bist erbärmlich! Ein Versager. Was bist du überhaupt nütze? Wenn Kouen sich die ganze Zeit herumtreiben würde wie ein verlauster, streunender Straßenköter, wie soll unsere Familie nur enden? Du bist nicht mein Sohn, sondern eine Schande für den verehrten Kaiser und für das Hause Ren! Und du Hakuren, wie kannst du es wagen, meinen Sohn derart abzulenken? Du bist ein hochrangiger Prinz und sollst deine Kampfkunst perfektionieren, nicht herum träumen!“, bellte Koutoku außer sich vor Zorn. Zwar besetzte Hakuren einen höheren Rang als er, doch der Kaiser hatte seinem Bruder erlaubt, seinen Sohn so zu behandeln, wie er es für angemessen hielt, solange es nicht vollkommen ungerecht fertigt war. Die Jungen ließen das alles klaglos über sich ergehen. Auch die Schläge. Es kümmerte sie nicht. Früher wäre Koumei alleine bei diesen harschen Worten in Tränen ausgebrochen, er war schon immer sensibel gewesen. Doch mit dem Älterwerden schien diese erbärmliche Marotte zu verschwinden. So nahm er sich lediglich ein Beispiel an Hakuren und ertrug es stillschweigend. Ja, es war unnötig, sich mit dem Zorn seines Vaters aufzuhalten. Unendlich viel wertvoller war es, Zeit mit einem lange vermissten Vertrauten zu verbringen. Aus Stunden wurden Tage, aus Tagen wurden Wochen. Treffen in jeder freien Minute. Zu lange waren sie getrennt gewesen. Nun sahen sie sich nahezu jeden Nachmittag, wenn nicht noch öfter. Langweilig wurde es ihnen nie. Sie speisten zusammen, wobei Koumei Hakuren mit seiner Vorliebe für Tintenfisch verschreckte. Lernten sogar manchmal gemeinsam, was mit dem allzeit plappernden Prinzen ein hoffnungsloses Unterfangen darstellte. Wanderten begeistert diskutierend im Garten des Anwesens umher. Er bot zwar nicht derart viel Raum, wie der Palastgarten, doch er wirkte wilder und auf eine erholsame Art natürlicher, als dieser, weshalb er sich bestens für diese gesprächigen Spaziergänge eignete. Außerdem gefielen Hakuren die Pflanzen dort. Er liebte den Bambus, die zarten Kirschbäume sowie die Seerosen und Lotusblüten auf den kleinen Teichen. Aber besonders die brennend roten Zweige des Hartriegels und den tiefroten Ahorn, die er alle beide mit Koumeis Haarfarbe verglich. Er fand ohnehin immer tausend Dinge, die er damit gleichsetzen konnte und brachte seinen Neid darüber zum Ausdruck, dass er, anders als seine Cousins, mit einem langweiligen Schwarz geschlagen war. Somit bot dieser friedvolle Ort viel Gesprächsstoff. Hakuren war es anzusehen, dass er von Koumeis gesteigertem Redetalent überrascht war. Er schien erfreut, sich noch besser mit ihm austauschen zu können. Sie sprachen über alle Dinge, die man sich nur vorstellen konnte. Selbst belanglose Themen klangen aus Hakurens Mund so lustig oder auch wichtig, dass Koumei gebannt an seinen Lippen hing. Er sog die Geschichten aus dem kaiserlichen Palast gierig auf. Solange hatte er die restliche Verwandtschaft nicht mehr getroffen. Vor allem interessierten ihn die Berichte über Hakuyuu, Hakuei und Hakuryuu. Auch wenn er mit keinem auch nur annähernd so vertraut war wie mit Hakuren, er schätzte sie, vor allem die kleine Hakuei. Die beiden jüngeren Geschwister hatten allerhand Unsinn im Kopf, während der Älteste sich zu einer respekteinflößenden Persönlichkeit entwickelte. Koumei bewunderte allerdings ebenfalls die Erzählungen von Hakurens Lehrstunden mit den berühmtesten Lehrern, die ihr machtvolles Reich zu bieten hatte. Lauschte ein wenig verschämt seinen Ausführungen und Anekdoten über die hübschen jungen Frauen, die den Älteren unerklärlicher Weise zu verzücken schienen, mit denen Koumei hingegen trotz seines Alters nichts anfangen konnte. Was er da hörte trieb ihm wahrhaft die Schamesröte ins Gesicht und handelte ihm einige aufziehende Kommentare und das Lachen des jungen Prinzen ein. Aber ebenso stark wie ihn die Neckereien irritierten, sorgte er sich um seinen Freund, als dieser enthüllte, dass sich seine Mutter Gyokuen sich in letzter Zeit seltsam benahm. Hörte mitfühlend zu, als er ihm erzählte, dass die Kaiserin sich lieber mit einem Kreis unheimlicher Untergebener traf, als sich mit ihrer Familie zu beschäftigen. Es schien, als seien ihr ihre älteren Söhne plötzlich vollkommen gleichgültig. Koumei, der nie eine Mutter gekannt hatte, sondern gemeinsam mit Kouen von Dienerinnen aufgezogen worden war, konnte es zwar nicht vollkommen nachvollziehen, wie sich der andere fühlte, doch er verstand, dass es ihn sehr verletzte, von der sonst immer so liebevollen Gyokuen mit herablassender Kälte bedacht zu werden. Zumal sie gegenüber seinen kleinen Geschwistern so mütterlich wie immer erschien, auch wenn sie kaum noch Zeit mit ihnen verbrachte. An eines ihrer Gespräche konnte Koumei sich besonders gut erinnern. Hakuren wirkte sehr bedrückt, als er ihm von Gyokuens Veränderung erzählte: „Mei, ich bin wirklich froh hier zu sein. Zu Hause ist es im Moment unerträglich. Manchmal habe ich den Verdacht, dass Mutter sich mehr für Judar interessiert, als für uns. Aber wir sind doch ihre eigenen Kinder und ihn hat sie von der Straße aufgabeln lassen! Ich verstehe das nicht! Natürlich ist er noch sehr jung, aber Hakuryuu ist noch viel kleiner als er und Hakuei ist auch nicht wesentlich älter. Immer geht es nur um ihn! Und weißt du warum, Koumei?“ Der Befragte legte mitfühlend den Kopf schief. „Weil sie denkt, er wäre ihr nützlicher als wir! Er ist ja ein Magi!“ „Ach stimmt…“, murmelte der Rothaarige leise. Hakuren knirschte erbost mit den Zähnen: „Ja und sie denkt, er könnte Kou nützlich sein. Deshalb scharwenzeln auch die ganzen widerlichen Priester von Mutter um ihn herum. Er bekommt alles was er will, dieses elende kleine Miststück! Und dabei ist er grade einmal neun Jahre alt und benimmt sich schon wie ein Tyrann!“ „Das ist wirklich ungerecht“, pflichtete Koumei betreten bei. „Und ob! Wie Recht du hast, Mei. Manchmal denke ich, dass Mutter nur darauf wartet, bis sie uns und Vater los ist und dann mit ihrem kleinen Liebling Kou beherrschen kann.“ Koumei erstarrte erschrocken. „Aber so etwas würde die Kaiserin doch niemals tun, Ren. Ihr seid doch ihre Kinder, die möchte man nicht loswerden. Wie kommst du darauf?“ „Ich weiß es nicht“, knurrte der Ältere, „aber Hakuyuu scheint mein Misstrauen zu teilen. Ihm gefallen diese dunklen Gestalten nicht, die mittlerweile nur noch bei uns ein und ausgehen. Früher kamen sie auch ab und an vorbei, aber nun sind sie überall! Und sie gehorchen nur Mutter, niemandem sonst. Nicht einmal Vater. Und diese Kerle scheinen Judar zu mögen. Dabei verhält er sich ihnen gegenüber noch respektloser als bei jedem anderen. Nur bei Mutter zieht er regelrecht den Schwanz ein, dieses furchtbare Kind! Und dann immer diese nächtlichen Versammlungen, bei denen Mutter nicht gestört werden will. Vater bekommt nichts davon mit. Als ich es ihm gesagt habe, meinte er, es wird schon nichts Schlimmes sein. Aber ich mache mir große Sorgen, was sie im Schilde führen. Normal sind diese Vorgänge jedenfalls nicht!“ Koumei musste seinem Cousin in diesen Punkten wohl oder übel zustimmen. Dieses Gespräch hatte sich noch bis in die späten Abendstunden erstreckt und auch wenn es irgendwann zu erfreulicheren Themen umgeschlagen war, führte es dazu, dass er sich ernsthafte Sorgen um die Geschehnisse im kaiserlichen Palast machte. Aber es blieb nicht nur bei ernsthaften Unterhaltungen und vernünftigen Aktivitäten. Die Vettern maßen sich, wie in alten Tagen, im Schwertkampf. Wer stets gewann war ein offenes Geheimnis. Dieses Mal überstand Koumei es jedoch ohne Verletzungen. Sie spielten darüber hinaus gemeinsam mit Koumeis kleinen Halbgeschwistern, wobei es einige Kunstfertigkeit erforderte, Kouha davon abzuhalten, irgendjemanden zu zerstückeln. Wie in alten Zeiten. Sie besuchten Koumeis zahme Brieftauben, die der Junge mit größter Hingabe pflegte. Hakuren war anzusehen, dass ihn die gurrenden Vögel nicht sonderlich faszinierten, selbst die schönsten Exemplare mit bemerkenswerter Zeichnung oder ausladenden Schwanzfedern konnten ihn nicht begeistern. Aber als sie ihn dann allesamt belagerten, um an Futter zu gelangen, schienen sie ihm mit ihren ruckenden Köpfen und den stechenden Augen sogar ein wenig Angst zu machen und nicht mehr nur langweilig zu sein. Nun war es an dem Rothaarigen, ihn auszulachen. Er war es selbstverständlich schon lange gewohnt, von vielen Tieren auf einmal grob angeflogen zu werden und die scharfen Schnäbel und Krallen auf der Haut zu spüren. Ja, seine Tauben waren gierig, aber er liebte sie trotzdem sehr, auch wenn niemand das so recht nachvollziehen konnte. Natürlich gab es noch andere Aktivitäten, die dann auch dem lebhaften Prinzen gefielen. Sie ritten gemeinsam aus, dabei mochte Koumei dies normalerweise nicht besonders. Nun gut eigentlich mochte er es generell nicht, kein Dach über dem Kopf zu haben. Nur mit Hakuren verspürte er auch nur den Hauch einer Bereitschaft dazu. Sie streiften durch die umliegenden Wälder, um aus ihrer vertrauten Umgebung zu entkommen. Die Luft erfüllt von erdrückendem Tannenduft, der weiche Boden bedeckt mit feuchten Moosen und kleinen, süßen Walderdbeeren. Einmal schwammen sie sogar in einem versumpften Weiher, weil Hakuren so versessen darauf war. Keine gute Idee, denn hinterher waren sie deutlich schmutziger als zuvor und voller Blutegel. Sie gegenseitig zu entfernen stellte sich als schwierig und ziemlich unangenehm heraus. Vor allem weil sich diese Biester an allen Stellen festsaugten, ohne Rücksicht, ob das nun anständig war, oder nicht. Außerdem schaute man sie mehr als nur schief an, als sie schließlich frierend und verdreckt zurückkehrten. Also mussten sie sich nach diesem Bad im Tümpel direkt noch einmal in einen Zuber mit heißem Wasser und Bergen von Seife begeben, um den Schlamm abzuwaschen. Doch Hakuren hatte einen Heidenspaß dabei. Es war, als würde der Prinz seine letzte Freiheit voll und ganz auskosten wollen, egal wie kindisch oder lächerlich es war, bevor er gezwungen wurde, erwachsen zu werden und zu heiraten. Und Koumei? Er machte all dies erstaunlich vergnügt mit. Auch wenn solche Unternehmungen seinem zurückgezogenen, eher menschenscheuen Wesen vollkommen widersprachen und vor allem die Blutegel ihn anwiderten, fand er mit Hakuren seinen Spaß daran. Der zweite kaiserliche Prinz war der Einzige, der ihn derart für andere Dinge begeistern konnte, die nicht daraus bestanden zu schlafen, zu lesen oder Tauben zu füttern.   * Koumei seufzte sehnsüchtig in der funkelnden Finsternis. All dies war schon so lange her und doch waren die Erinnerungen daran noch so schmerzhaft. Wie schön es doch wäre, wenn er mit seinem Dschinn die Zeit genauso manipulieren könnte wie den Raum. Dann hätte er sich die alten Zeiten, die man ihnen allen rücksichtslos gestohlen hatte, einfach zurückgeholt. Ihm war bewusst, dass seine Erinnerungen die Vergangenheit verklärten, auch oder besonders Hakurens Persönlichkeit, die keineswegs immer derart freundlich und gutmütig gewesen war, sondern schnell aufbrausend werden konnte, sobald ihm etwas nicht passte, wenn auch nicht oft bei Koumei. Doch wirklich gut erinnerte er sich nur noch an die vielen schönen Momente zu zweit. Durchzogen von einigen wahrhaft schlechten Erlebnissen und Gefühlen, die zu schwer und tiefgreifend waren, um vergessen zu werden. Ja ihrer aller Kindheit war eigentlich alles andere als angenehm gewesen. Schmerz, Ungewissheit und Angst hatten allzu oft ihren Alltag bestimmt. Das Verbarrikadieren in den Palästen und an geheimen Orten. In Flammen stehende Häuser. Brennende Hallen. Verkohlte Dörfer. Entstellte Leichen auf den Straßen. Kampfeslärm. Waffengeklirr. Blutgeruch. Todesschreie. Nicht selten. Immerhin stand ihr Kaiserreich mit vielen benachbarten Ländern im Krieg. So hatten die Kinder schon früh dessen Leid und all seine schrecklichen Folgen miterlebt. Hakuyuu, Hakuren und Kouen waren damals sogar schon mit in die Schlacht gezogen. Und wenn sie sich grade nicht im Krieg befanden, dann konnte schon eine falsche Bewegung Koutokus Jähzorn über einen hereinbrechen lassen. Kinder waren für ihn eine Last. Nützlich für später, aber solange sie noch zu jung dafür waren, stellten sie in seinen Augen verachtenswerte Kreaturen dar. Man musste sich wahrhaft vor ihm in Acht nehmen, wenn man eine längere Begegnung mit ihm ohne aufgeplatzte Lippen, geschwollene Augen oder üble Prellungen überstehen wollte. Doch die grauenvollen Erinnerungen an all die Gewalt und die Angst vor dem eigenen Vater waren nichts im Gegensatz zu all den schmerzhaft schönen Momenten, die nach all der Zeit noch ungebrochen in seinem Kopf herumwandelten. Und ja, die Kriege waren schrecklich gewesen. Aber damals hatte er noch niemanden verloren, der ihm derart nahe stand wie Hakuren.   *~* Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)