Was die Hitze des Sommers nicht alles bewirken kann... von Mondsicheldrache (The Vessel and the Fallen 1) ================================================================================ Kapitel 6: Erinnerung ---------------------   ~*~ Judar beobachtete äußerst fasziniert, mit welcher Begeisterung sein Geschenk angenommen wurde. Unglaublich, wie man so schnell essen konnte! Sein Königsgefäß ließ nicht einmal mehr einen Krümel von dem widerlichen Zeug übrig. Fisch an sich war schon etwas, das der Magi immer nur kritisch beäugte. Doch Tintenfisch? Bereits beim Anblick dieser widerwärtigen Saugnäpfe kam ihm die Galle hoch. Koumei hingegen verputzte sein Leibgericht mit größtem Vergnügen. Er musste regelrecht am Verhungern gewesen sein, so schnell, wie er den Dingern den Gar ausgemacht hatte. „Ah, das war gut. Köstlich“, befand er und leckte sich die Lippen. Judar konnte nur fassungslos den Kopf schütteln, während er im Schneidersitz hinter dem Zottel schwebte. „Allerdings solltest du das nächste Mal so ehrlich sein, und das Stehlen aufgeben“, bemerkte Koumei tadelnd. Säuerlich zog Judar eine Grimasse. „Wieso? Glaubst du Gyokuen wirft mir das Geld hinterher?“ „Woher soll ich das wissen?“, gab der andere gähnend zurück. Judar knirschte mit den Zähnen. Oh nein, dieser Penner würde jetzt nicht schon wieder einschlafen! Das wollte er nicht! Seine übertriebene Reaktion von vorhin würde Judar wohl noch eine ganze Weile verfolgen. Aber es hatte wirklich so ausgesehen, als ob Koumei dem Tod näher als dem Leben wäre. Wie konnte man auch nur auf so widerwärtige Weise schlafen? Dieser Kerl erfüllte ihn manchmal regelrecht mit Mordlust. Wieso mussten seine Treffen mit den Königskandidaten jedes Mal eine so ernüchternde Angelegenheit sein? Nun gut, Koumei redete wenigstens mit ihm und hatte sich über sein Geschenk gefreut. Außerdem lag der unvermeidliche Hang zum Schlafen zu tief in seinem Wesen verankert, als dass man ihm deshalb böse sein konnte. Eigentlich. Aber auch Koumei schien ihn jetzt gar nicht weiter zu beachten. Was für eine langweilige Königsfamilie. Ein Magi verdiente mehr Aufmerksamkeit! Unwillig beobachtete er, wie der zottelige Schopf seines Königskandidaten schon wieder auf die Tischplatte sank. Konnte Kouen seinem Bruder nicht mal ein vernünftiges Arbeitsverhalten einbläuen? Apropos Arbeitsverhalten. Plötzlich kehrte eine lange zurück liegende Erinnerung in sein Gedächtnis zurück. Zumindest hatte er beschlossen, dass dieses Ereignis weit hinter ihm liegen sollte. Das Geschehene mit aller Macht mit Hilfe seines Magoi verbannt. Ansonsten wäre sein ungezwungener Umgang mit Koumei nicht mehr so ohne weiteres möglich. Seine Rukh flatterten und sausten erregt um ihn herum. Außer Rand und Band. Verfluchter Mist, das wollte er jetzt nicht sehen. Aber es half nichts. Sein Kopf ließ sich nicht herumkommandieren. Bedauernswert. Ob sein Königskandidat sich ebenso häufig daran erinnerte, wie er? Und falls ja, was dachte er sich dabei? Waren seine Erinnerungen wirklich nur ebenso verschwommen wie die seinen, oder war das nur Fassade, weil ein kaiserlicher Prinz keine boshaften Gerüchte über seine Verfehlungen schüren wollte?   * Es war ungefähr vor einem Jahr gewesen. Hochsommer. Schwüle Hitze, selbst in Kou. Der erste Prinz Kouen, der jüngere Kouha, einige andere Höflinge und ihr engeres Gefolge hatten beschlossen, sich für einen Abend eine Auszeit zu gönnen. Im Sommer, noch dazu bei diesen Temperaturen keine Seltenheit. Schließlich hatten sie sonst immer so viel schwere Arbeit zu verrichten. Dass er nicht lachte! Sie brauchten lediglich eine Ausrede, um sich mal wieder so richtig zu betrinken. Wieso handhabten sie es mit dem Alkohol nicht einfach, wie Idiotenkönig Sindbad? Der hatte seinen ersten Wein bereits früh morgens intus. Inklusive Alkoholfahne. Da machte das Arbeiten sicher gleich doppelt Spaß. Egal. Aus irgendeinem Grund hatten sie Judar an diesem Abend mitgenommen. Das kam selten vor. Der Magi verabscheute den penetranten, bitteren Geschmack des Alkohols, der selbst den von Zucker übertünchte. Vor allem aber hasste er dessen Wirkung auf die Menschen und auf sich selbst. Das Zeug legte sein Magoi lahm. Durchtrennte die Verbindung mit den Rukh und ließ ihn schutzlos zurück.  Nun gut, er vertrug es generell nicht. Sein Verhalten wurde unberechenbar, wenn er sich beim Trinken zu sehr gehen ließ. Deswegen hatte er keine Lust gehabt, wollte sich weigern. Aber sie hatten ihn schließlich einfach mitgeschleift. Seinen wilden Protest ignoriert. Das Gelage hatte im Sommerpavillon des Palastgartens stattgefunden. Judar hatte sich gleich nach der Ankunft mit einem Becher Pflaumenwein auf die hinterste Ecke der Bank geflüchtet und beobachtete das ausgelassene Treiben ungehalten. Er schlürfte angewidert an dem dunklen Getränk. Zu seinem Leidwesen blieb ihm so aber auch keine Fluchtmöglichkeit. Scheinbar musste er hier den ganzen Abend ertragen. Samt seinen unangenehmen Nebenwirkungen und Folgen. Dann würde er ihn sich eben schön trinken. Zu seiner Überraschung erblickte er neben sich plötzlich noch ein anderes Gesicht. Eines, dass er ebenso wenig an diesem Ort und auf dieser Feier erwartet hätte, wie sich selbst. Eines, das überhaupt nicht hier hin passte. Koumei Ren. Verdutzt starrten sie sich an. Der zweite kaiserliche Prinz kratzte sich verwundert am Hinterkopf, wie immer. Judars Blick verfinsterte sich. Er nahm noch einen großen Schluck aus dem Becher. Mist, leer. Dämlicher Zottel. Diese Augenringe waren verstörend. Er hatte keine Lust in dieses finstere Gesicht zu sehen. Und Aknenarben zu zählen. Das ließ seine ohnehin miserable Laune den Tiefpunkt erreichen. Also schnappte er sich einen neuen Becher von dem verhassten Gesöff und funkelte sein Königsgefäß trotzig an. „Ist irgendetwas? Gibt es ein Problem?“, fragte Koumei irritiert und nippte hoheitsvoll zurückhaltend an seinem Wein. „Nicht, dass ich wüsste, verlauster Zottel“, schnappte Judar. Das sollten vorerst die einzigen Worte zwischen ihnen beiden sein. Koumei hob nur gleichgültig die Schultern. Er war nicht sonderlich eitel und kannte die Launen des Hohepriesters zu gut, um sich darüber aufzuregen. Niemand beachtete die beiden. Ansonsten hätte Kouen dem schwarzen Magi, wegen der unverschämten Bemerkung gegen seinen Bruder, sicherlich die Hölle heiß gemacht. Ab hier verloren seine Erinnerungen an Schärfe. Ungehalten leerte Judar den mittlerweile sechsten Becher. Das war eindeutig kein Wein mehr, sondern etwas Stärkeres. Es war so heiß hier. Der Schweiß rann in Perlen über seinen Rücken. Derweil kümmerte es ihn nicht mehr, was er da trank. Auch der bittere Geschmack und das Brennen in seiner Kehle konnten ihn nicht mehr davon abhalten. Das Gelächter der anderen drang nur noch dumpf an seine Ohren. Wie durch einen Vorhang. Hätte er nach den Rukh getastet, er hätte sie nicht mehr gefunden. Doch mit alkoholvernebeltem Geist kam er nicht mal mehr auf die Idee, sie zu suchen. Was sollte er hier auch mit ihnen anfangen? Zaubertricks zur allgemeinen Belustigung aufführen? Wo sowieso niemand Notiz von ihm nahm? Gähnend griff er nach der Weinkaraffe. Nichts mehr drin… Dabei hatte er einen solchen Durst… Wieso sah er plötzlich alles wie durch einen Schleier? Verschwommen? Wirr? Weshalb drehte sich alles? Schwindelnd legte er seinen Kopf auf die mit Alkohol besprenkelte Tischplatte und blinzelte benommen. Aber das Bild wollte sich einfach nicht lichten. Plötzlich legte sich eine kalte Hand auf seinen Arm. „Ich glaube du hast langsam genug.“ Verworrene Wortfetzen. Judar hatte Mühe, die Laute, von dem was er sagen wollte, zu einem vernünftigen Satz zu verbinden. „Mmh? Was’n losch? Mich….Fass nicht an…“ Ein mitleidiges Schnauben. Dann fühlte er, wie sich dünne Arme um seine Schultern legten. Überraschend stark. Er wollte protestieren und sich aus dem Griff heraus winden, doch wieder begann sich alles zu drehen. Undeutliche Satzfetzen: „Kouen, ich bringe Judar mal lieber zurück in den Palast. Ich glaube er hat sich ein wenig übernommen... Ich werde dann auch mal wieder an die Arbeit gehen…“ Koumei? Es klang beinahe so schläfrig und weggetreten, wie er sich fühlte. Ein hoffnungslos überdrehtes Kichern: „Viel Spaß, Mei Mei. Gute Nacht ihr beiden!“ Kouha? Judar konnte die Stimmen kaum noch zuordnen, bei dem Lärmpegel, der inzwischen herrschte. Er wurde vorsichtig von der Bank hochgezogen. Jemand leitete ihn durch die schier endlose Reihe von amüsiert Feiernden. Dabei ebenfalls nicht grade elegant. Der andere wankte ebenso wie er selbst. Nun, immerhin konnte er scheinbar noch alleine gehen. Er und sein Begleiter taumelten ins Freie. Dabei fielen sie beinahe über seinen langen Zopf, der dabei durch eine Weinpfütze schleifte. Doch Judar war bereits zu weggetreten, um sich deshalb zu ekeln. Ein frischer Luftzug empfing sie. Eine Wohltat. Doch sofort ließ ihn der kalte Schweiß auf seiner Haut frösteln. Einen Moment verharrten sie orientierungslos in der finsteren Nacht. Dann wurde Judar in irgendeine Richtung davon gezogen. Wer war das? Ein Diener? Koumei? Schwer zu sagen. Er roch nach Wein. Darunter vielleicht ein wenig nach verstaubten Büchern und Räucherstäbchen? So konnte der Magi  es nicht herausfinden. Unkoordiniert tastete er nach dem Ärmel seines Begleiters. Sie torkelten. Da! Er hatte ihn! Lang und schwer. Von dort aus fuhr er den feinen Stoff weiter hinauf. Ein verwunderter Laut. Plötzlich stolperten sie über eine Unebenheit im Boden. Judar entfuhr ein erschrockener Schrei, dann krallte er seine Finger fest in das Gewand des Mannes, der ihn führte. Ein überrumpeltes Fluchen. Judar griff fester zu. Hing sich mit seinem ganzen Gewicht an ihn, um nicht umzufallen. Nun schwankten sie beide und kämpften darum, ihren festen Stand wieder zu finden. Nicht leicht mit so viel Alkohol im Blut. Verdammt. Er schlang seine Arme so fest wie möglich um den anderen, um ja stehen zu bleiben. Denn eines war wohl klar: Wenn er einmal am Boden läge, würde er heute sicherlich nicht mehr aufstehen können. Seinem Begleiter schien Judars anhängliches Verhalten eher das Gegenteil zu nutzen, denn der Magi spürte wie sich der andere nun an ihm fest klammerte, um nicht hinzufallen. Die schlanken Hände auf seiner nackten Haut. Etwas Kaltes schlug gegen seinen Bauch. War das ein Armband? Endlich standen sie still. Der Schwindel in seinem Kopf ließ jedoch kaum nach. Weiche Haare kitzelten ihn an der Wange. Ein merkwürdiger Schauer lief über seinen Rücken. Die Finger des anderen lagen immer noch um seine Seiten. Lösten ein seltsames Kribbeln in ihm aus. Spätestens jetzt erinnerte er sich nur noch an winzige Bruchstücke. Warmer Atem an seiner Kehle. Ein zarter Duft nach Kirschblüten und altem Papier. Seine Hände, die suchend über die Kleidung des anderen fuhren, um den Fremden endlich zu erkennen. Sein viel zu schnell schlagendes Herz, das wusste, was geschehen würde, lange bevor er selbst es begriff. Die unreine Haut, die er ertastete. Dann diese überraschend rauen und doch seltsam verlockenden Lippen, die er wie zufällig fand. Der bittersüße Geschmack von Pflaumenschnaps, als sich die Zunge des Anderen zögerlich, fast schüchtern ihren Weg in seinen Mund bahnte. Das flammende Gefühl, das plötzlich von seinem gesamten Körper Besitz ergriff. Dann ein Leuchten, wie von einem aufflammenden Sternenbild. Ein heftiger Ruck. Ein Platschen. Wasser? Eisige Kälte, als sie eng umschlungen in den flachen Zierteich des Palastgartens stürzten. Erfrorenes Keuchen, als sie sich unsicher wieder aufrichteten. Nur um sogleich wieder das Gleichgewicht zu verlieren.   * Keine Ahnung was dann passiert war. Letztendlich wollte er es vielleicht auch niemals erfahren. Judar wusste nicht, was damals mit seinen Erinnerungen geschehen war. Sie waren fort. Verdrängt? Vielleicht lediglich aus Selbstschutz. Weil er es auf der einen Seite genossen hatte. Sich auf der anderen Seite jedoch schämte. Es war verboten. Falsch. Nur gut, dass sie niemand bemerkt hatte. Er konnte es sich lediglich zusammen reimen, was in dieser Nacht noch zwischen ihnen vorgefallen war.   * Am nächsten Morgen war Judar aus heiterem Himmel aufgewacht. Im Palastgarten. Genauer gesagt zwischen den stacheligsten Dornenbüschen, die er je kennengelernt hatte. Oh ja, er konnte diese fiesen Stacheln immer noch in seinem Fleisch spüren. Sie waren überall gewesen. Es hatte ewig gedauert, sie alle zu finden und zu entfernen. Tage! Wochen! Nun gut. Das war nicht weiter tragisch. Verglichen mit dem, was da noch in seine Wahrnehmung trat. Bereits im Wachwerden hatte er festgestellt, dass etwas nicht stimmte: Erwacht unter freiem Himmel. Alleine. Im Palastgarten. Im Gebüsch. Mit wahnsinnigen Kopfschmerzen. Halb erfroren, trotz des milden Wetters. Zerzaustes Haar, das wild über seine bloßen Schultern fiel. Unbekleidet. Nackt. Von seinen Kleidern keine Spur. Nur die goldenen Armreifen und der Halsschmuck schimmerten noch unschuldig in der Morgensonne. Auch sein Zauberstab – verschwunden. Verdammt! Sein Zauberstab! Er durfte nicht fort sein! Hatte jemand ihn gestohlen? Judar wollte aufspringen, sank jedoch qualvoll stöhnend auf die Knie zurück. Oh, sein Schädel! Nie war ihm derart schlecht gewesen. Er musste sich mehrmals übergeben. Es dauerte, bis er sich davon erholt hatte. Verzweifelt hatte er sich auf die Suche nach seinen Sachen gemacht. Hatte sich mehr und mehr Dornen in die Haut getrieben. In der verzweifelten Hoffnung, dass niemand in die Nähe der Sträucher kommen würde. Denn mit einer bissigen Bemerkung käme er hier nicht davon. Er konnte sich die Gerüchte, die dann entstehen würden, lebhaft vorstellen. Endlich fand er seine Hose, achtlos beiseite geworfen. Was war nur in dieser Nacht geschehen? Er hatte doch nicht etwa…? Und das alles im Alkoholrausch? Nur, weil er ein wenig zu viel getrunken hatte? Er hasste dieses dreckige Zeug immer mehr. Das konnte alles nicht wahr sein. Vor allem hatte er keinerlei Gewissheit, was wirklich geschehen war. Andererseits… wenn er sich die blauen Flecken, die sich über seinen gesamten Körper erstreckten besah und dem dumpfen Schmerz in seinem Unterleib nachspürte, konnte er es sich in aller Lebhaftigkeit ausmalen. Der schwarze Magi schlug zitternd die Hände vors Gesicht. Nein. Niemals. Verzweiflung stieg in ihm auf. Das durfte nicht sein. Nach endloser Suche entdeckte er schließlich das dünne Oberteil, samt seinem Schultertuch und dem Zauberstab. Schmutzig und zerfetzt, einzig der Stab funkelte noch silbrig und unberührt. Daneben der Beweis, den er vergangene Nacht so verzweifelt gesucht hatte. Nicht, dass er ihn jetzt noch benötigte. Ein blau-goldener Anhänger im Stil von Ying und Yang. Herzförmig. Daneben ein zerrissenes Perlenarmband.   *   ~*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)