Lügner! von Maginisha ================================================================================ Kapitel 16: Auftakt zum Spiel ----------------------------- „Hallo, Schuldig.“ Er verhinderte im letzten Moment ein Zusammenzucken und ließ betont langsam die Schlüssel auf das Sideboard gleiten. Verdammt, war er wirklich so in Gedanken gewesen, dass er die bekannte Präsenz in seiner Wohnung nicht wahrgenommen hatte, bevor er angesprochen wurde? Er musste sich zusammenreißen. Die Stimmen, die er seit Neuestem fast ständig hörte, halfen dabei nicht unbedingt weiter. Er atmete tief durch, setzte ein Grinsen auf und drehte sich herum. „Nagi!“, strahlte er den ungebetenen Gast an und gab den großzügigen Gastgeber. „Was bringt dich in meine bescheidene Hütte? Es wird doch wohl nicht die Sehnsucht sein? Möchtest du etwas trinken?“ Er wartete keine Antwort ab, ging zum Kühlschrank und öffnete ihn. Dass der Inhalt nur aus einer halben Flasche Ginger Ale und einem undefinierbaren Etwas bestand, das schon bessere Tage gesehen hatte, ließ den Ausflug zu einem kurzen Trip werden. Er schloss die Tür wieder, nur um dahinter erneut mit Nagis vorwurfsvollen Blick konfrontiert zu werden. Er grinste wieder und ließ sich in einen Sessel fallen. „Hat Farfarello dich reingelassen? Wo ist er?“ „Im Schlafzimmer.“ Nagis Stimme war flach, aber Schuldig konnte die Emotionen spüren, die hinter seiner Stirn brodelten. Der Junge war wirklich angepisst. „Und was kann ich nun für dich tun?“ „Du sollst mich zu Hirofumis Arena bringen. Wir müssen noch die letzten Anpassungen für die Präsentation heute Abend machen.“ Er presste die Lippen zusammen, konnte dann aber doch nicht widerstehen und schoss noch hinterher: „Ich warte bereits seit drei Stunden auf dich.“ Schuldigs Augenbrauen hoben sich. „Drei Stunden? In der Zeit wärst du locker mit der U-Bahn dort gewesen. Und warum hat Crawford dich nicht einfach hingebracht.“ „Er hat gesagt, du sollst das übernehmen.“ Schuldig rollte mit den Augen. „Und warum hat unser liebes Orakel dir dann nicht gesagt, dass ich nicht zu Hause bin? Er weiß doch sonst immer alles.“ Nagi wurde eine Spur blasser, sein Mund schmaler. „Er ist … krank.“ Schuldig lachte auf. „Zu viel Wein?“ „Zu viel Fujimiya.“ Die Worte waren ganz klar an ihn gerichtet und nicht etwa eine Beschreibung von Crawfords Zustand. Schuldig beschloss, nicht darauf einzugehen. Wenn er anfing, sich zu rechtfertigen, war alles zu spät. „Also hat es funktioniert?“ Nagi sah ihn noch einen Augenblick lang stumm an, bevor er nickte. „Er hat gesagt, dass die Fähigkeit, die Zukunft zu sehen, momentan ein wenig außer Kontrolle sei. Er braucht noch ein paar Tage, bevor er wieder komplett einsatzfähig ist. Solange sollst du ihn vertreten. In allen Belangen.“ Schuldigs Aufmerksamkeit fokussierte sich vollkommen auf das Gesagte. „Was soll das heißen? Wie lange wird er außer Gefecht sein?“ Nagi zuckte mit den Schultern. „Das hat er nicht gesagt. Er hat nur gesagt, dass du dich um alles kümmern sollst.“ „Etwa auch um den Empfang? Bitte nicht. Das kann er mir nicht antun!“ Schuldig konnte nicht mehr stillsitzen. Er sprang aus dem Sessel und begann, im Zimmer umherzulaufen. Takatori hatte für übermorgen eine Pressekonferenz mit anschließendem gesellschaftlichem Tammtamm für alle möglichen Größen aus Politik und Wirtschaft anberaumt. Er wollte dabei sein Programm für die nächsten zwei Jahre vorstellen und gleichzeitig neue Verbündete suchen. Wer immer ihm politischen Einfluss, Geld oder anderweitige Macht zusichern konnte, war eingeladen. Ein Alptraum was die Organisation anging, aber Schuldig machte etwas ganz anderes Sorgen. Wenn Crawford ausfiel, würde er das Gesicht an Takatoris Seite sein, wenn sich alle Kameras auf ihn richteten. Und das würde bedeuten, dass Ran mit großer Wahrscheinlichkeit rauskriegen würde, dass er für Takatori arbeitete. Immerhin würden die Bilder der Konferenz rauf und runter durch alle Nachrichten laufen. Das musste er unbedingt verhindern. Aber jetzt musste er erst mal den angefressenen Teenager auf seinem Sofa befrieden. „Na komm schon, Naggels. Lass uns aufbrechen. Ich bin mir sicher, dass du schon darauf brennst, mit all deinen technischen Spielereien zu glänzen.“ Nagi antwortete nicht. Er erhob sich nur steif und ging in Richtung Tür. „Wir sollen Farfarello heute Abend mitnehmen“, sagte er, während er in seine Schuhe schlüpfte. „Hat Crawford das gesagt?“ Im Grunde war die Frage unnötig, aber Schuldig wollte die Konversation am Laufen halten. „Ja, hat er.“ Nagi trat beiseite, um Schuldig an seine Schuhe zu lassen. Dabei hielt er den Blick gesenkt und versuchte krampfhaft, an nichts zu denken. Es gelang ihm nicht besonders gut. „Ist ganz schön gemein, oder?“ Schuldig ließ sich Zeit mit den Schnürsenkeln. „Du wirst hierher geschickt, musst stundenlang warten. Ich hoffe, Farfarello hat dich wenigstens in Ruhe gelassen? Er kann manchmal ganz schön gruselig sein.“ „Ich habe keine Angst vor ihm.“ Der Satz kam ein bisschen zu schnell, um glaubhaft zu wirken. „Nicht? Also mir macht er manchmal Angst. Ich werde einfach nicht schlau aus ihm. Manchmal tut er Dinge, ohne darüber nachzudenken. Einfach so, weil sie ihm einfallen. Er benimmt sich wie ein dummes Kind. Das ist wirklich lästig.“   Schuldig beobachtete die Wirkung, die seine Worte auf Nagis Gedanken hatten. Vergifteter Honig. Zu süß, zu unwiderstehlich, als dass der Junge ihm nicht in die Falle gehen würde. Er wusste um dessen Ehrgeiz, sich als wertvolles Mitglied von Schwarz zu erweisen. Nagi hatte ein ausgeprägtes Konkurrenzdenken. Und er war eifersüchtig auf Ran. Das war Schuldig in dem Moment klar geworden, als er dessen Namen ausgesprochen hatte. Dabei war in seinem Kopf ein regelrechtes Gewitter losgebrochen. Er sah ihn als Eindringling, als Gefahr für seine Position sowohl in Schuldigs, wie inzwischen auch in Crawfords Prioritätenliste. Und was half besser, sich seine Stellung zu sichern, als jemanden noch unter sich in die Nahrungskette zu bringen? Dass Nagi für diese Rolle nun ausgerechnet Farfarello ausgewählt hatte, ließ Schuldig innerlich auflachen. Der Junge musste wirklich noch viel lernen, wenn er mit den großen Fischen schwimmen wollte. „Komm, wir nehmen meinen Wagen. Kannst du eigentlich Auto fahren?“ Nagi schüttelte den Kopf. „Möchtest du es lernen?“ Schuldig klimperte mit den Autoschlüsseln. Nagis Augen klebten daran wie unschuldige Insekten an einem Fliegenfänger. „Du würdest es mir beibringen?“ „Klar, warum nicht? Und wir machen auch weiter mit dem Deutschunterricht, wenn Crawford wieder auf dem Damm ist. Dieses Mal richtig, nicht nur irgendwelchen Kram, um Fujimiya zu beeindrucken. Das war unfair von mir. Mir war nicht klar, dass dir wirklich etwas daran liegt. Es tut mir leid.“ Nagi sagte nichts, aber Schuldig hörte, wie er den Köder schluckte. 'Hook, line and sinker' würde Crawford jetzt sagen und ihn mit diesem speziellen Blick ansehen, den sie beide teilten, wenn etwas genau nach Plan verlief. Er musste sein Grinsen wirklich mühsam zurückhalten. „Na komm, wir wollen Hirofumi doch nicht weiter warten lassen. Wenn die Vorstellung heute Abend gut läuft, lässt dich Takatori vielleicht auch mit zu dem Empfang kommen.“ „Im Ernst?“ Nagis Augen wurden groß und rund und Schuldig fürchtete fast, es jetzt übertrieben zu haben, aber anscheinend kannte Nagis pubertärer Größenwahn gerade keine Grenzen. „Dann los jetzt“, drängte er plötzlich und öffnete die Tür, um Schuldig nach draußen zu expedieren. „Wir sind bereits spät dran und ich muss noch einige Testroutinen durchlaufen lassen. Ich hoffe nur, diese Schwachmaten haben die Servosteuerungen der Vorratsbehälter auf die richtigen Frequenzen programmiert. Ansonsten schwöre ich, dass ich einen von ihnen an Masafumis Hunde verfüttere.“ Er eilte bereits die Treppe hinunter, während Schuldig nun endlich sein breites Grinsen nicht mehr zu verstecken brauchte. Manchmal war es einfach zu praktisch, ein Telepath zu sein.       „Er hat gelächelt.“ „Echt? Du lügst! Lass mich sehen!“ „Hey, nicht drängeln. Da, sieh doch selbst.“ „Wo denn? Lasst mich auch mal gucken.“ „Mach doch mal jemand ein Foto. Wer weiß, wie lange das anhält.“   Ken schüttelte den Kopf über die Traube von Mädchen, die sich am Fenster des Koneko die Nase plattdrückten. Das Objekt ihrer Begierde stand drinnen am Tresen, band einen neuen Strauß zusammen und war sich seiner Umgebung und der vielen Augen, die ihn beobachteten, augenscheinlich überhaupt nicht bewusst. Ken spürte einen Stich der Eifersucht. Nicht etwa auf die Mädchen, aber auf Aya, der tatsächlich, seit er irgendwann kurz vor dem Mittagessen endlich im Laden aufgetaucht war, bester Laune zu sein schien. Er hatte nicht einmal gezuckt, als Ken ihn heruntergeputzt hatte, sondern sich lediglich seine Schürze umgebunden, um dann zur Tagesordnung überzugehen. Ken war nicht dumm. Er hatte die Nachricht auf dem Anrufbeantworter gehört, die so gar nicht nach dem Aya geklungen hatte, den er kannte. Zudem wusste er ja, dass Aya nicht zu Hause gewesen war. Es hätte nicht noch Yojis Kommentars bedurft, dass der Rotschopf wohl eine angenehme Nacht gehabt hatte, um Zwei und Zwei zusammenzuzählen. Allerdings umgab Aya etwas, das man bei Yoji, der durchaus gerne mal durchblicken ließ, wenn er die Nacht nicht allein verbracht hatte, nicht beobachten konnte. So eine Aura von ...   „Bestimmt ist er verliebt.“ „Aaaa~ahhhhh. Das ist sooo süß!“ „Wer sie wohl ist?“ „Bestimmt ist sie wunderschön. Und groß. Er steht bestimmt auf große Frauen.“ „Das sagst du doch nur, weil du so groß bist.“ „Stimmt gar nicht!“ „Wohl!“   Die Mädchen schienen kurz davor, in einen ernsthaften Streit auszubrechen und Ken überlegte, ob er wohl mit dem Schlauch, mit dem er die Pflanzen goß, dazwischen gehen musste, als die Ladentür aufging und Aya den Kopf hinausstreckte. Sofort stoben die Mädchen auseinander und taten mit geröteten Wangen und niedergeschlagenen Wimpern so, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Ken rollte nur mit den Augen. „Hey, Ken, haben wir noch was von dem rosa Schleierkraut? Yoji meint, du hättest das gestern verräumt. Ich kann es aber nirgends finden.“ „Das hat Omi für die Hochzeitsgestecke aufgebraucht. Ich bin noch nicht dazu gekommen, neues zu bestellen. Setz es doch einfach auf die Liste.“ Aya nickte, schickte den verhalten kichernden Mädchen noch einen irritierten Blick und verschwand im Laden. Sofort versammelten sich die Verehrerinnen wieder am Fenster.   „Und ich sage euch, er ist verliebt. Normalerweise hätte er den armen Ken dafür total angeschnauzt.“ „Ja, die beiden sind wirklich wie Feuer und Wasser.“ „Du meinst Feuer und Eis.“ Sie brachen in albernes Gekicher aus. Ken blinzelte ein paar Mal. „Euch ist schon klar, dass ich euch hören kann, oder?“ Etliche Augenpaare richteten sich auf ihn. Er schluckte hörbar, als ihm bewusst wurde, dass er einen Fehler gemacht hatte. Im nächsten Moment flüchtete er ins Innere des Ladens, bevor die Meute sich auf ihn stürzen und ihm womöglich irgendwelche Informationen abpressen konnte. Mit dem Rücken lehnte er sich gegen die Ladentür und schloss sicherheitshalber ab. Von draußen konnte man die erregten Stimmen der Mädchen hören. „Hey, Ken, was soll das? Wir haben noch geöffnet.“ Aya bekam anscheinend doch noch ein wenig von dem mit, was um ihn herum passierte. „Mach das mal deinem Fanclub da draußen klar. Die sind kurz davor den Laden zu stürmen.“ „Nur kein Neid, Ken.“ Yoji sah von den Orchideen auf, die er gerade mit einer Wasserspritze bestäubte. „Ich bin mir sicher, dass sie sich gerne von dir trösten lassen, wenn sie bei Aya abgeblitzt sind.“ „Ach ja?“ Ken ballte die Fäuste und presste die Kiefer aufeinander. Ayas gute Laune war eine Sache, aber Yojis Sticheleien über sein nicht existentes Liebesleben wollte er nicht auch noch auf sich sitzen lassen. Zweite Wahl, ha! Das musste er sich nicht bieten lassen. „Weißt du was, Mister Lady's man? Wenn du so toll Bescheid weißt, dann kümmer du dich doch um die restlichen Töpfe da draußen. Und um die Mädchen gleich mit. Ich nehme mir den restlichen Tag frei.“ Er zerrte seine Schürze herunter und wollte zur Tür hinausstürmen, als Aya ihn aufhielt. „Omi hat vorhin angerufen. Er sagte, wir bekommen heute noch Katzenbesuch.“ Das nahm Ken den Wind aus den Segeln. Natürlich hätte er trotzdem verschwinden können, aber eigentlich wusste er gar nicht so wirklich, wo er hinwollte. Die Luft draußen war schwül und zum Schneiden dick. Man klebte, sobald man nur zwei Schritte gemacht hatte. Irgendwelche sportlichen Betätigungen wie Joggen fielen also flach. Die anhaltende Hitze fing langsam wirklich an, seine Kondition aufzufressen. Und das, wo anscheinend eine Mission anstand. Das war gar nicht gut.   Ein bisschen widerwillig trat er von der Tür zurück und sah sich im Laden um. Es war nichts zu tun. Nichts, was nicht pure Beschäftigungstherapie war. Hier den ganzen Nachmittag rumzuhängen, stand definitiv ganz unten auf seiner Liste. Er brauchte Bewegung. „Ich geh trainieren“, legte er fest und stapfte in Richtung der hinteren Ladentür. „Was dagegen, wenn ich mitkomme?“ Violette Augen sahen ihn fragend an. Ken zuckte mit den Schultern. „Mir egal. Ist genug Platz für zwei.“ Aya nickte und begann, sich die Schürze abzubinden. „Hey, ihr könnt doch nicht beide abhauen“, empörte sich Yoji. „Was, wenn jetzt hier tausend Kunden auftauchen?“ Aya hob eine Augenbraue. „Also momentan sieht mir das nur nach einer Horde Schulmädchen aus. Bist du etwa nicht Manns genug, es mit ihnen aufzunehmen?“ Yoji blies die Backen auf und wollte gerade in eine Schimpftirade ausbrechen, als Aya sich bereits umgedreht hatte und aus dem Laden verschwunden war. Ken unterdrückte ein Grinsen und schlüpfte schnell hinter ihm her. Diese Suppe konnte Yoji getrost alleine auslöffeln.     Der Trainingsraum war im Grunde nicht viel mehr als ein weiterer Kellerraum, der mit ein paar Matten, einer Hantelbank und einigen Haken in der Decke ausgestattet worden war. In einer Ecke stand eine Trainingspuppe und daneben hing eine schon ziemlich lädierte Zielscheibe an der kahlen Ziegelwand. In der Luft lag ein Geruch nach Schweiß, muffigem Zelt und feuchtem Stein. Ken rümpfte die Nase. „Heimelig.“ Er wandte sich an Aya. „Wo willst du anfangen?“ „Ringe.“ Aya machte sich an der Kiste zu schaffen, die die verschiedenen Einsätze für die Deckenhaken enthielten. Er entnahm die langen Taue mit den Holzringen und holte die Trittleiter, um sie einzuhängen. Ken beschloss, sich zunächst an die Hantelbank zu setzen, nachdem er sich ein bisschen aufgewärmt hatte.   Während er die Gewichte nach oben drückte, seine eigene Kraft spürte, die gleichmäßige Bewegung der Muskeln, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieb, beruhigte sich sein erhitztes Gemüt langsam wieder. Mit einem letzten, kräftigen Stoß legte er die Stange zurück und kam aus dem Liegen hoch, um noch ein paar Gramm draufzupacken, als sein Blick auf Aya fiel. Der hatte sein Oberteil ausgezogen und machte zwischen den tiefhängenden Ringen Liegestütze. Die Übung war schwieriger als am Boden, weil man ständig die Bewegung des freischwebenden Untergrunds ausgleichen musste, aber Ayas Bewegungen waren kraftvoll und präzise. Auch er schien gerade mit seiner Trainingseinheit fertig zu sein, denn er ließ sich auf die Knie sinken und erhob sich, um die Ringe höherzuziehen. Ken nickte anerkennend. „Nicht übel. Was hältst du im Anschluss von einer Runde Sparring?“ „Mit oder ohne Waffen?“ Sie hatten hier unten sowohl ein hölzernes Trainigsschwert für Aya, wie auch eine Ausfertigung von Kens Bugnuks, mit festen, kürzeren Krallen aus Holz, die zwar keine Schnittwunden, dafür aber sehr hässliche, blaue Flecken hinterlassen konnten. Nicht unähnlich dem Fleck, der an Ayas linker Seite prangte. Kens Blick blieb daran hängen und seine Augen wurden zunehmend größer, als ihm klarwurde, woher die Verfärbung wohl stammte. Aya sah ihn an und dann an sich herab. Sein Atem stockte kurz, bevor er wortlos nach seinem T-Shirt griff und es über den Kopf streifte. Ken räusperte sich. „Und, wie ist das so?“ Er sah, dass Aya bereits ein 'Das geht dich nichts an' auf den Lippen hatte und fuhr schnell fort: „Ich meine, verliebt sein. Ist es so, wie sie immer alle behaupten?“ Aya zögerte sichtlich, bevor er antwortete. „Keine Ahnung.“ „Also bist du es?“ Aya seufzte. „Warum fragst du das?“ Ken fuhr sich mit der Hand durch den verschwitzten Nacken. „Tja, ich weiß auch nicht. Die Mädchen draußen haben vorhin davon gesprochen und seitdem kriege ich den Gedanken nicht mehr aus dem Kopf. Ich meine, wir sind ja nicht wirklich die netten Typen aus dem Blumenladen. Das kann doch irgendwie nicht klappen, oder? Obwohl ich's mir schön vorstelle. Jemanden zu haben, mit dem man ...“ Seine Stimme verlief sich im Nichts. Er wusste auch nicht, wie es wohl sein würde, mit einem Mädchen zusammenzusein. Heirat, Haus, Kinder, das alles war für ihn einfach nicht vorgesehen. Er war jetzt ein Mitglied von Weiß, dem Strohalm, den Kritiker ihm hingehalten und an den er sich in Todesangst geklammert hatte. Aber hieß das jetzt wirklich, dass er nicht mehr vom Leben verlangen konnte? Dass er nur noch dafür da war, kriminelle Elemente aus dem Weg zu räumen, bis es ihn eines Tages selber erwischte? „Vielleicht solltest du über so was lieber mit Yoji sprechen. Er kennt sich da besser aus.“ Ken lachte bitter auf. „Yoji? Eher würde ich mir die Zunge abbeißen. Der würde die Gelegenheit doch nur dafür nutzen, mich bis in alle Ewigkeit aufzuziehen. Außerdem glaube ich kaum, dass er eine seiner Eroberungen wirklich liebt. Dafür ist er noch zu sehr ...“ Er brach ab. Es stand ihm nicht zu, über Yojis Vergangenheit zu reden oder zu urteilen. Das war ein ungeschriebenes Gesetz bei Weiß. Sie sprachen nicht darüber, was vor ihrem Eintritt geschehen war. Natürlich wussten sie es, aber man redete eben nicht darüber. Nicht über Ayas Schwester und den Anschlag auf seine Eltern, nicht über Yojis ermordete Partnerin Asuka, nicht über das Komplott, das Ken aus den Höhen der J-League katapultiert hatte; zunächst wegen angeblichen Wettbetrugs und schließlich mit einem Anschlag auf sein Leben, als er versucht hatte, diejenigen zu finden, die für all das verantwortlich waren. Bei Omi schließlich gab es nicht viel zu wissen. Ihm fehlte jede Erinnerung an das, was vor Weiß geschehen war. Manchmal beneidete Ken ihn darum.   Er schüttelte den Kopf. Solche Gedanken konnte er jetzt nicht gebrauchen. Er warf einen Blick auf Aya, der ihn abwartend ansah. „Vergiss das dumme Geschwätz. Die Hitze scheint mir langsam zu Kopf zu steigen. Lass uns lieber mal sehen, ob wir noch nicht eingerostet sind. Die letzte Mission ist immerhin schon eine Weile her.“ „Mit oder ohne Waffen?“, wiederholte Aya seine Frage. „Such du aus ...“, er grinste, bevor er ein „Ran.“ hinterherschob. Ayas Augen wurden schmal. Er schnaubte und zog die Ringe nach oben, ging zu der Kiste und holte etwas heraus. Im nächsten Augenblick flog Ken eine seiner Trainingswaffen entgegen. Er fing sie ebenso wie die zweite und sein Grinsen wurde breiter, als Aya nach dem Bokuto griff. „Du glaubst doch wohl nicht, dass ich jetzt Angst bekomme, oder?“ Ayas Mundwinkel zuckten. „Nein, dazu braucht es schon eine Horde kleiner Schulmädchen, damit der große Siberian sich fürchtet.“ „Du Hund!“, grollte Ken und streifte die Bugnuks über. „Dann lass mich dir mal zeigen, wo der Tiger seine Krallen hat.“ Aya ging leicht in die Knie und hob das Schwert. „Mit dem größten Vergnügen.“       Nagis Finger klapperten auf der Tastatur des Laptops, während seine Augen über den Bildschirm huschten. Die meisten seiner Installationen auf dem „Spielfeld“ waren funktionsfähig und mussten nur noch bestückt werden, aber im nördlichen Sektor gab es Probleme mit der Funkverbindung. Die großen Kühlwassertanks dort verhinderten die korrekte Übertragung. Er würde noch weitere Transponder platzieren müssen oder eine Aufrüstung der Kandidaten in dieser Zone würde nicht funktionieren. Er runzelte die Stirn und betätigte den Sendeknopf an seinem Headset. „Ich will noch zwei weitere Sender auf den Gebäuden E5 und 7. Halbe Stunde.“ Der Techniker bestätigte und Nagi sah zu, wie sich sein Signal auf dem Bildschirm in die entsprechende Richtung bewegte. Seine Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln. Immerhin das klappte inzwischen reibungslos. Anfangs hatten sich die Männer noch dagegen gewehrt, sich von einem „Jungen“ herumscheuchen zu lassen, aber nachdem Hirofumi ihnen unmissverständlich klargemacht hatte, dass sich jeder, der sich Nagis Anweisungen widersetzte, auf dem Grund des Flusses wiederfinden würde, waren die Proteste verstummt. Er tippte noch ein paar Zahlen ein und wechselte dann die Ansicht zur Video-Überwachung. Auch hier hatte er das Netz enger gezogen, die Kameras verbessert und mit Mikrofonen ausgestattet. Alles, was dort unten passierte, konnte jetzt live in Ton und Bild auf die Bildschirme im Vorführraum gelegt werden. Bewegungsmelder sorgten dafür, dass den Gästen auch kein Spektakel entging. Es war perfekt.   Nagi lehnte sich zurück und faltete die Arme hinter dem Kopf zusammen. Ja, es war wirklich perfekt. Hirofumi hatte bereits mehrmals ausgedrückt, wie zufrieden er mit Nagis Arbeit war. In dieser Beziehung war er so ganz anders als sein Vater. Ein Geräusch ließ Nagi auffahren. Draußen vor der Tür waren Stimmen und Schritte zu hören. Jemand hatte den Vorraum betreten. Er lauschte. Einer von ihnen war offensichtlich Masafumi, aber wer war bei ihm? „Siehst du, meine Kleine, hier wird heute Abend die große Vorstellung stattfinden. Viele wichtige Männer werden kommen und sich die Arbeit deines Papas angucken. Was meinst du? Wird es ihnen gefallen?“ „Natürlich, Papa“, antwortete eine helle Stimme. „Guck mal, Herr Kaninchen. Lauter Fernseher. Du magst Fernsehen, oder?“ Nagi hörte weitere Schritte und spannte sich unwillkürlich an. „Dürfen Herr Kaninchen und ich auch zusehen? Oh bitte?“ „Das dürft ihr, wenn du den Kopfschmuck aufsetzt, den ich dir geschenkt habe. Du weißt, was passiert, wenn du ihn nicht trägst.“ „Ja, aber … ich bekomme Kopfweh davon. Er ist so schwer und so hässlich. Ich mag ihn nicht. Er passt nicht zu dem Kleid, dass die hübsche Frau mitgebracht hat.“ „Er sorgt dafür, dass du keine Angst hast, mein Engelchen. Und wenn du Angst hast, dann werde ich auch ganz traurig. Ich möchte, dass du glücklich und strahlend bist.“ Die helle Stimme wurde ein wenig leiser. „Natürlich Papa. Ich werde ihn aufsetzen.“ Die Schritte kamen noch näher. „Was ist da drin?“ Noch bevor Nagi reagieren konnte, wurde die Klinke heruntergedrückt und die Tür aufgestoßen. Im Türrahmen stand ein Mädchen mit langen, blauen Haaren. Sie sah ihn erschrocken an. Im Arm hielt sie ein rosafarbenes Plüschkaninchen. „Papa, hier ist jemand.“ Masafumi trat hinter ihr durch die Tür. „Ah, Nagi, kommst du gut voran?“ Er legte den Arm um die Schultern des Mädchens. „Du musst dich nicht fürchten, Nanami. Nagi arbeitet für mich. Er ist ein netter Junge.“ Zweifel standen im Gesicht des Mädchens, das sich an Masafumi drückte und Nagi aus großen, blauen Augen musterte. Er hätte gerne etwas gesagt, dass sie beruhigte, aber ihm fiel absolut nichts ein. Also drehte er sich wieder zu seinem Bildschirm herum. „Die Vorbereitungen sind fast abgeschlossen. Ich werde gleich jemand losschicken, der die Kammern befüllt. Sollen wir alle ausrüsten oder nur die Versorgungsboxen?“ Masafumi überlegte kurz. „Nimm auch ein paar von den Waffen dazu. Ich glaube zwar nicht, dass die heutigen Kandidaten damit etwas anfangen können, aber wäre es nicht lustig, sie in der Illusion zu belassen, dass es so ist?“ Nagi sah kurz auf und las in Masafumis spitzen Zügen echte Verachtung. Wer auch immer sich heute Abend auf dem Spielfeld wiederfand, hatte offensichtlich seinen Ärger erregt. Normalerweise kümmerte sich Hirofumi um die Beschaffung der Jagdbeute, indem er Freiwillige auf der Straße anwarb. Er fand, dass die den besseren Kampf lieferten. Nagi war das vollkommen gleichgültig. Es würde sowieso keiner von ihnen überleben. „Gut, ich werde ein paar kleinere Schusswaffen einlagern lassen. Nichts allzu kompliziertes.“ Er überlegte kurz und fügte hinzu: „Halbe Munition?“ Masafumis Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln. „Das ist eine gute Idee. Du überraschst mich immer wieder. Mach es so, Nagi. Nanami wird sich sicherlich freuen, ein paar von ihren alten Spielkameraden wiederzusehen. Meinst du, sie kann die Übertragung hier bei dir mitverfolgen? Es wäre unangebracht, wenn sie bei den Gästen meines Vaters sitzen würde.“ Nagis Magen machte einen überraschten Hüpfer. „J-ja natürlich. Ich werde ihr alles zeigen.“ Masafumi sagte noch etwas, aber Nagis Aufmerksamkeit war bereits wieder zu den Vorbereitungen für den heutigen Abend gewandert. Seine Finger flogen über die Tastatur. Es musste perfekt werden. Es musste einfach.         Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)