Lügner! von Maginisha ================================================================================ Kapitel 15: Traum und Wirklichkeit ---------------------------------- Eine Schulter stieß ihn zur Seite, eine Hand entglitt seiner. Er stolperte vorwärts, rief etwas, aber seine Stimme wurde überlagert von einem dumpfen Donnerschlag. Schreie von irgendwo her. Der Boden bebte. Es krachte und Glas regnete auf ihn herab. Ein heißer Blitz auf seiner Wange. Etwas Schweres traf ihn an der Brust und warf ihn zu Boden. Er versuchte zu atmen. Sein Mund öffnete sich zu einem Schrei, aber es kam kein Ton über seine Lippen. Staub wurde aufgewirbelt. Hüllte ihn ein. Drang ungehindert in Mund und Nase vor. Atmen, er musste atmen! Es ging nicht! Er konnte nicht … Er fasste sich an den Hals, versuchte sich zu drehen. Schmerz flutete durch seinen Brustkorb. Atmen! Er musste … atmen! Er …   Schweißgebadet schreckte Schuldig hoch und griff sich an die Brust. Gierig sog er die dringend benötigte Luft in seine Lunge, während sein Herz wie wild gegen seine Rippen hämmerte. Er schluckte, atmete, tastete um sich. Etwas Weiches zwischen seinen Fingern. „Was?“ Er hob es auf. Weich und papierdünn. Ein schwacher Geruch nach Blumen. Ein Rosenblatt. Langsam begann die Welt, wieder feste Formen anzunehmen. Er saß im Bett. Das Hotel. Ran. Sie waren zusammen eingeschlafen. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und versuchte so die letzten Reste des Alptraums zu vertreiben. Aber das Gefühl der tödlichen Gefahr griff mit grauen Nebelfingern nach ihm, wollte ihn nicht gehen lassen. Er fröstelte und eine Gänsehaut kroch seine Arme hinauf. Neben sich konnte er im schwachen Licht der Notbeleuchtung eine schlafende Silhouette ausmachen. Anscheinend hatte Ran nichts von all dem bemerkt. Gut.   Vorsichtig wickelte Schuldig sich aus der Bettdecke und tappte im Dunkeln in Richtung Badezimmer. Er schloss die Tür, bevor er es wagte, das Licht anzumachen. Fast erwartete er, in grelles Scheinwerferlicht getaucht zu werden, aber es erwachte nur eine stimmungsvolle Wandbeleuchtung zum Leben. Er blinzelte kurz gegen die matte Helligkeit und ging dann zum Waschbecken, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu schütten. Nach dem dritten Mal hatte er endlich nicht mehr das Gefühl, von einem klebrigen Pelz bedeckt zu sein. Er hob den Kopf und sah in den Spiegel. Im schwachen Licht wirkten seine Züge fremd, fast so als würde er eine andere Person ansehen. Er fühlte die Wassertropfen seinen Hals hinabrinnen, aber er konnte sich nicht von dem Anblick losreißen. „Wer bist du?“, flüsterte er. Der Spiegel antwortete nicht. Er sah ihn nur weiter an und Schuldig bildete sich ein, ein spöttisches Funkeln in den Augen seines Spiegelbilds zu sehen. 'Wer soll ich schon sein? Ich bin du.' „Nein, bist du nicht. Ich weiß, wer ich bin.“ 'Tatsächlich? Und wer bist du?' Schuldig öffnete den Mund, um die Frage zu beantworten, doch er konnte es nicht sagen. Da waren Stimmen in seinem Kopf. Stimmen, die nicht ihm gehörten. Stimmen von Fremden, weit entfernt und gleichzeitig so nah, als würden sie direkt neben ihm stehen. Männer und Frauen, Kinder und Greise, alt, jung, hoch, tief, schrill und volltönend, tausende Stimmen die sich in seinem Kopf zu einem Sturm zusammenbrauten, der seine eigene verschluckte und ihn stumm zurückließ. Erschrocken prallte er vom Spiegel zurück. Er hielt sich die Ohren zu, doch die Stimmen waren in seinem Kopf. In seinem Geist. Sie wurden lauter und lauter und lauter. Er fiel auf die Knie, den Mund zu einem lautlosen Schrei geöffnet … und erwachte.   Er lag immer noch im Bett, in seinem Arm ein warmer Körper. Er schloss die Augen und fühlte Feuchtigkeit in seinen Augenwinkeln. Hatte er etwa geweint? Ran bewegte sich neben ihm, drehte den Kopf in seine Richtung. „Hey, alles in Ordnung?“ Er nickte schnell in der Gewissheit, dass Ran die Bewegung zu deuten wissen würde. Im Schutz der Dunkelheit wischte er sich über die Augen. Ran durfte nichts hiervon mitkriegen. Er würde anfangen, Fragen zu stellen. Er würde … ja, was würde er denken? Vor Schuldig inneren Augen tauchte ein Gesicht auf. Ein weinender Junge kniete auf der Erde. Seine Gestalt war bedeckt von grauem Staub und seine Tränen hinterließen schmutzige Schlieren auf seinem Gesicht. Eine Maske vollkommener Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Er kannte dieses Gesicht. Es hatte ihn angesehen und er hatte gelacht. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Hammerschlag. Der erste Traum … das war kein Traum gewesen, sondern eine Erinnerung. Rans Erinnerung an den Tag, an dem seine Eltern gestorben waren. Getötet durch die Bombe, die er und Nagi platziert hatten. Er hatte sich die Erinnerungen angesehen. Die Bilder, die den Hass auf Takatori jeden Tag aufs Neues anfachten. Erst hatte er sich noch einmal daran ergötzt und dann hatte er das getan, was die Natur normalerweise mit solchen Erinnerungen tat. Er hatte sie verblassen lassen. Hatte dafür gesorgt, dass die Rachepläne langsam und schleichend in den Hintergrund traten. Stattdessen hatte er dem wütenden Jungen ein anderes Ziel gegeben, auf das er seine überbordenden Emotionen richten konnte. Und aus dem Funken war ein Feuer geworden, das jetzt drohte, ihn zu verbrennen. Er wusste es, er hatte es gespürt. Wann immer sie zusammen waren, hatte er sich angewöhnt, Rans Gedanken zu lesen und ihnen ab und an einen Stups in die richtige Richtung zu geben. Inzwischen konnte er das gefahrlos tun, denn Ran assoziierte mit den körperlichen Auswirkungen, die er spürte, wenn jemand in seiner Nähe ein psychisches Talent benutzte, inzwischen keine Bedrohung mehr. Durch die gedankliche Verbindung wusste er auch, was er sagen oder tun musste, um eine gewünschte Reaktion hervorzurufen. Aber die ständige Vernetzung war nicht ohne Folgen geblieben. Er hatte die Grenzen zwischen sich und dem anderen verwischen lassen, war unvorsichtig geworden. Und es hatte ihn verändert. Die Belustigung, die er anfangs noch dabei empfunden hatte, Ran an der Nase herumzuführen, war verschwunden. Stattdessen war da etwas, das da nie hätte sein dürfen. Die Tatsache, dass er wusste, dass es eigentlich nicht ihm gehörte, machte es nicht weniger real. Dass er wusste, dass es vorbeigehen würde, machte es nicht weniger real. Er fühlte es. Jetzt. Es machte ihm Angst. Und es machte ihm Angst, dass er es wieder verlieren könnte.   'Scheiße! So was gibt’s doch eigentlich nur in schlechten Filmen. Oder auch in guten? Gibt's nicht sogar ein Wort dafür?Helsinki-irgendwas. Scheiße! Ich bin am Arsch, wenn Crawford das rauskriegt. Der erwürgt mich mit seiner Dienstagskrawatte.Und dann diese Erinnerung … Irgendetwas stimmt damit nicht. Ich hätte diesen Teil der Geschichte eigentlich kennen müssen, aber es ist, als wäre da, wo er hingehört, ein großes Loch. Als hätte jemand daran herumgepfuscht. Aber wer? Und warum?'   Ein kräftiger Arm legte sich um ihn und zog ihn näher an sich heran. Ein Gesicht drückte sich an seinen Hals und er spürte warmen Atem auf seiner Haut. Er schloss gequält die Augen. Er durfte dem nicht nachgeben. Das einzig Richtige war, jetzt sofort zu verschwinden. Die Brücke hinter sich endgültig abzubrechen, solange er noch konnte. Das Netz aus Lügen, das er aufgebaut hatte, hatte ihn selbst gefangen und jetzt zappelte er hilflos wie eine Fliege in den klebrigen Fäden. Allein, es gab keine gefräßige Spinne, die ihn aussaugen würde. Wenn er es geschickt anstellte, konnte er vielleicht beides behalten. Nur solange, bis es sich abgenutzt hatte. Was konnte schon passieren? Solange er seine Arbeit weiter erledigte, konnte es ihm keiner zum Vorwurf machen. Und lag es nicht im Grunde in Takatoris Interesse, wenn er ihm einen schwertschwingenden Attentäter vom Hals hielt? Und was gut für Takatori war, war auch gut für Eszett. Er durfte sich nur von niemandem in die Karten gucken lassen. Musste vorsichtig sein, damit niemand etwas merkte. Und irgendwann, wenn die anfängliche Leidenschaft abgekühlt war, dann würde er es beenden. Mit einer Kugel in den Kopf. Und niemand würde wissen, dass er einen Fehler begannen hatte. Den Fehler, sich in sein Opfer zu verlieben.         Als Ran erwachte, fühlte er sich großartig. Für einen Augenblick genoss er einfach das Gefühl, im Bett zu liegen und lebendig zu sein. Er wusste, dass er gleich aufstehen musste. Vermutlich hatte er sogar verschlafen. Ken würde ihm die Hölle heiß machen. Omi hatte heute ein erstes Treffen als Vorbereitung für das kommende Schuljahr und Yoji musste seinen Wagen in die Werkstatt bringen. Insofern waren sie beide heute Vormittag alleine im Laden. Er musste jetzt wirklich aufstehen. 'Bye-bye Traumland, willkommen Realität.' Mit einem Seufzen wollte er die Bettdecke zurückschlagen, als sich ein Arm um seine Taille wand und ihn festhielt. „Geh nicht“, murmelte es irgendwo undeutlich unter der Bettdecke. Ein Lächeln trat auf sein Gesicht. „Ich muss. Ich muss zur Arbeit.“ „Ruf an, dass du krank bist.“ „Das kann ich nicht.“ Er begann, Tims Finger von seinem Körper zu lösen. „Ich mach es auch wieder gut.“ Die tückischen Gliedmaßen entwanden sich seinem Griff und begannen, in tiefere Regionen vorzudringen, die darauf mit regem Interesse reagierten. „Tim, ich … ah .. ich kann … nicht.“ Ein kupferroter Haarschopf schälte sich aus der weißen Bettwäsche und attackierte seinen Hals mit Lippen und Zähnen, während die flinken Finger endlich ihr Ziel fanden. Ran stöhnte auf und wusste nicht, in welche Richtung er sich zuerst lehnen sollte. Der Hand entgegen, die sein Glied umfasste, oder der Erektion, die sich gegen seinen Hintern drückte. „Komm schon, Ran, ruf an! Sag, dass du später kommst. Wenn du jetzt gehst, wirst du den ganzen Tag an Sex denken müssen.“ „Wenn ich bleibe auch!“ Er versuchte, vorwurfsvoll zu klingen. Ein Grinsen an seinem Hals. „Ja, aber der Druck ist dann nicht mehr so groß. Komm, was sind schon zwei Stunden? Oder drei. Ich lege auch noch ein Frühstück drauf.“ Als er nicht sofort reagierte, begann Tim, sich von seiner Schulter aus weiter nach unten zu küssen. Seine Lippen wanderten über den Rücken, die Taille, an der Hüfte weiter nach vorn, über seinen Bauch und … Rans Hand krallte sich in Tims Haare. Er atmete heftig ein und unterdrückte ein Stöhnen. „Okay!“, keuchte er und versuchte, sich auf das korrekte Formulieren der Worte zu konzentrieren. „Okay, ich bleibe. Aber ich muss anrufen.“ Tim tauchte aus der Versenkung aus und grinste wie die berühmte Katze aus 'Alice im Wunderland'. „Du hast zwei Minuten. Ich würde schnell sprechen, wenn ich du wäre.“ „Monster!“ Ran fiel fast aus dem Bett und sah sich hektisch nach seinen Sachen um. Wo zum Teufel war seine Hose? Tim lag bäuchlings auf dem Bett und machte Tick-Tack-Geräusche. Ran warf ihm einen wütenden Blick zu und entdeckte endlich das Knäuel aus seinen Kleidern, das sie gestern irgendwo vor dem Bad hatten liegen lassen. Er zerrte sein Handy aus der hinteren Hosentasche. „Die Hälfte der Zeit ist um“, informierte Tim ihn und steckte sich den Zeigefinger in den Mund. Er fing an, damit höchst unanständige Dinge anzustellen und Ran hatte wirklich Schwierigkeiten, die richtigen Zahlen in die Tastatur zu tippen. Endlich ertönte das Freizeichen. Es klingelte. Und klingelte. Tim grinste und deutete auf sein Handgelenk. Ran verdrehte die Augen und ihm kurzerhand den Rücken zu. Endlich hob jemand ab. „Sie sprechen mit dem Koneko no sumu ie. Die Kätzchen sind leider nicht im Haus. Sie erreichen uns Montag bis Samstag ...“ Ran war kurz davor, in das Telefon zu beißen. Die Ansage des Anrufbeantworters war ewig lang und wenn er die Geräusche in seinem Rücken richtig deutete, machte sich Tim bereits bereit zum Sprung. Er tat das Einzige, was ihm noch einfiel und flüchtete ins Badezimmer. Als er die Tür hinter sich abschloss, hörte er ein vorwurfsvolles „Hey!“ von der anderen Seite, aber jetzt hatte die Maschine am ende der Leitung endlich ihre Ansage beendet und der Signalton ertönte. „Hier ist Ran ... AYA! Ich komme heute später. Rechnet nicht vor Mittag mit mir.“ Er drückte die rote Taste eine Sekunde, bevor es an der Badezimmertür bummerte. Er starrte fassungslos auf das Telefon und fühlte ein vollkommen surreales Kichern seine Kehle hinaufsteigen. Hatte er sich gerade echt versprochen? War er schon so weit, dass er seine verschiedenen „Leben“ nicht mehr auseinander halten konnte? Waren zwei Doppelleben vielleicht eines zu viel? Es klopfte wieder an der Tür. „Ich muss Sie hiermit darüber informieren, dass Sie vertragsbrüchig geworden sind. Die Strafe dafür beträgt Sex von nicht weniger als zwei Stunden Dauer. Haben Sie irgendetwas zu Ihrer Verteidigung vorzubringen?“ Er lehnte sich rücklings gegen die Tür und grinste. „So lange halte ich bestimmt nicht durch“, gab er zu bedenken. „Tja, dann wird dir wohl nichts anderes übrigbleiben, als auch mal deinen Hintern hinzuhalten. Na komm schon raus. Komm zu mir auf die dunkle Seite. Ich habe auch Sushi.“ Ran öffnete die Tür einen Spalt breit. „Sushi?“, fragte er glucksend. „Ja, oder was immer du sonst zum Frühstück möchtest. Ich habe die Speisekarte gefunden.“ Tim wedelte mit einem bunten Papierstück vor seiner Nase herum. „Guck mal, French Toast.“ Er drücke die Tür vollständig auf und schmiss die Karte achtlos zur Seite. „Oder aber ich vernasche einfach dich zum Frühstück.“ Er presste Ran gegen die geflieste Wand und fuhr mit der Zunge an seinem Kinn entlang. „Mhm, salzig. Du schmeckst gut.“ Ran lachte und versuchte, sich von der kalten Wand zu lösen.“ Also was denn nun? Sex oder Frühstück?“ „Ich könnte das Sushi auf dir verteilen. Habe ich mal auf einem Bild gesehen. Body Sushi oder so. Das sah heiß aus.“ In diesem Moment machte Rans Magen ein eindeutiges Geräusch. Tim ließ von ihm ab und grinste. „Okay, das heißt dann wohl erst Frühstück.“   Sie wählten einige Dinge von der Karte und bestellten per Telefon. Tim hatte dabei nichts als seine nackten Haut am Leib und Ran wurde nicht müde, ihm dabei zuzusehen, wie er durch das Zimmer tigerte, während er wem auch immer am anderen Ende des Telefons zu erklären versuchte, was er essen wollte. Als er die Bestellung endlich aufgegeben hatte, schmiss er das Telefon aufs Bett und sich selbst hinterher. „Das war ja eine schwere Geburt. Es hat niemand gesagt, dass ich hier für mein Essen arbeiten muss.“ Ran beugte sich über ihn und küsste ihn. „Aber dein Japanisch ist inzwischen schon sehr gut geworden.“ Tim hatte die Augen geschlossen und lächelte. „Danke. Ich übe ja auch täglich. Mein Französisch ist trotzdem besser.“ Er wackelte mit den Augenbrauen. „Du sprichst Französisch?“ Tim öffnete ein Auge und sah Ran belustigt an. „Das meinte ich zwar nicht, aber ja. Ein wenig. Es reicht, um sich dort durchzuschlagen. Allerdings nicht, um Camus oder Sartre zu lesen. Allenfalls noch für 'Tim und Struppi' in der Original-Fassung.“ Er drehte sich wieder auf den Bauch. „Wie hat dir der Comic eigentlich gefallen?“ Ran überlegte, wie er jetzt taktvoll anbringen konnte, dass die Geschichte zwar spannend, aber ziemlich klischeebelastet war und dass ihm die Darstellung der Japaner darin nicht besonders gefallen hatte, als bereits Tim verständnisvoll nickte. „Ich sehe es schon an deinem Gesicht, dass es nicht dein Fall war. Einiges davon kann man heutzutage bestimmt nicht mehr als politisch korrekt bezeichnen. Aber als Kind fand ich es toll. All die fernen Länder, die Tim bereisen konnte. Ein Junge, der genauso hieß wie ich! Kannst du dir das vorstellen? Ich habe mir damals geschworen, ich würde all das auch irgendwann zu sehen bekommen. Allerdings kann ich mir kaum vorstellen, dass mir nochmal ein Land so gut gefallen wird wie Japan.“ Er legte seine Hand in Rans Nacken und zog ihn an sich. Ihre Lippen berührten sich erst vorsichtig, dann ausgiebiger. Eine Zungenspitze streichelte Rans Unterlippe und er gewährte ihr gerne Einlass. Gerade, als er seine Hand ausstrecken wollte, um Tim zu berühren, klopfte es an der Tür. Tim stöhnte und ließ den Kopf ins Kissen sinken. „Ich schwöre, dieses Hotel sieht mich nie wieder! Wie soll man denn hier irgendwann mal zum Zug kommen?“ Schimpfend und grummelnd erhob er sich, wickelte sich in einen Teil der Bettwäsche und wankte zur Tür. Er öffnete die darin eingelassene Klappe und nahm ein Tablett entgegen. „Hey, hilf mir mal!“ Er reichte Ran den ersten Teil des Frühstücks weiter und nahm den zweiten in Empfang. Mit einem knappen Dank ließ er die Klappe wieder zufallen, bevor er sich mit seiner Fracht zum Bett begab. Ran sah zwischen all den Schüsseln und Tellern hin und her und legte die Stirn in Falten. „Das hast du alles bestellt? Wer soll denn das essen?“ Tim betrachtete die Zusammenstellung und zuckte die Achseln. „Also dreimal Eier habe ich bestimmt nicht bestellt. Aber andererseits … ein gescheiter Nachschub an Protein ist vielleicht nicht das Schlechteste.“ Er zwinkerte Ran zu und griff nach einem Paar Stäbchen. Er legte die Hände zusammen und verbeugte sich leicht. „Itadakimasu!“ Er grinste und schnappte sich ein Stück Omelette. Ran schüttelte lächelnd den Kopf, bevor er ebenfalls zugriff. Hier saß er jetzt also, vollkommen nackt, auf dem Bett in einem Stundenhotel und ließ sich von seinem Freund mit Sushi und anderen Dingen füttern. Es war auf eine wunderbare Weise verrückt. Wie eine Blase, eine Flucht vor der Realität, die irgendwo da draußen wartete. Für einen Moment musste er daran denken, was seine Schwester wohl zu all dem hier sagen würde. Oder seine Eltern. „Wenn du noch ein bisschen lauter denkst, können wir ein Tonband mitlaufen lassen.“ Tims Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen. „Ich musste nur gerade an meine Familie denken. Was sie wohl sagen würden, wenn sie uns hier so sehen würden.“ Tim grinste. „Natürlich würden sie wissen wollen, wer der unheimlich gut aussehende, junge Mann da in deinem Bett ist und wie du ihn dir geangelt hast.“ Ran zog die Augenbrauen hoch. „Eingebildet bist du wohl gar nicht?“ „Und wie!“ Tim streckte ihm die Zunge raus, bevor er wieder ernst wurde. Blaue Augen musterten ihn prüfend. „Vermisst du sie?“ Die Frage ließ Ran vorsichtig werden. Er bewegte sich jetzt wieder auf das dünne Eis der Lügengeschichte, die er Tim erzählt hatte. Am besten blieb er wohl weitestgehend bei der Wahrheit. „Meine Eltern nicht wirklich. Wir hat... haben, wie gesagt, kein so gutes Verhältnis. Mein Vater ist ein sehr traditioneller Mann. Er arbeitet viel und wir bekommen ihn eigentlich kaum zu Gesicht. Meine Mutter führt den Haushalt. Sie ist eine gute Köchin, unterstützt meinen Vater, wo sie nur kann, aber ...“ Er stockte. Es kam ihm falsch vor, schlecht über die Toten zu reden. Andererseits war es irgendwie erleichternd, Tim diese Dinge anzuvertrauen. Ran hatte noch nie viele Freunde gehabt und wenn, hatten sie nicht über so etwas gesprochen. „Meine Eltern verstehen mich nicht. Sie sehen mich und meine Schwester in zehn Jahren dort, wo sie jetzt sind. Dabei haben wir ganz andere Ziele und Träume. Meine Schwester möchte im Ausland eine Ausbildung zur Begleithundetrainerin machen, aber meine Eltern sind der Meinung, das das für ein Mädchen rausgeworfenes Geld ist. Deswegen...“ „Deswegen bist du nach Tokio gekommen, um hier zu arbeiten? Um deiner Schwester die Ausbildung zu finanzieren?“ In Tims Gesicht stand Verblüffung gepaart mit echter Bewunderung. „Du musst die Kleine ja wirklich gern haben. Hast du nie daran gedacht, selbst eine Ausbildung zu machen? Einen Beruf zu ergreifen, der dir Spaß macht?“ Ran zuckte die Schultern. Natürlich hatte er manchmal darüber nachgedacht, was er mit seinem Leben anstellen sollte. Aber dann war da Aya gewesen mit ihrem großen Traum und es war ihm richtig erschienen, sie darin zu unterstützen, statt selbst irgendwelchen Phantastereien nachzuhängen. Auch wenn er es nie so sehr gezeigt hatte, war er doch immer unheimlich stolz auf seine Schwester gewesen. Sie hatte für ihn die Welt bedeutet und jetzt ...   Seine Gedanken wollten sich gerade an diesem Thema festbeißen, als plötzlich etwas gegen sein Knie stieß. Er sah auf und blickte in Tims Gesicht, der sich vor ihn hingekniet hatte und versuchte, mit dem Hintern zu wedeln. Er grinste. „Wuff-wuff!“ Ein kleines Lächeln trat auf Rans Gesicht vor allem, da Tim jetzt anfing, sein Knie abzulecken. An dieser Stelle war er kitzlig. „Was soll das werden?“, lachte er und versuchte, Tims Kopf wegzuschieben. Der dachte jedoch gar nicht daran, sich vertreiben zu lassen und wanderte mit seiner Zunge langsam höher. „Na das siehst du doch. Ich bin ein ungehorsames Hündchen und du musst mir Manieren beibringen.“ Ran gluckste und schlug spielerisch nach Tims Händen, die jetzt die Zunge unterstützten. „Böser Hund!“ Tim knurrte und zeigte die Zähne. „Bööööser Hund!“ Er katapultierte sich plötzlich nach vorn und drückte Ran auf das Bett. Seine Zunge fuhr über Rans Hals. „Mhm, schmeckt immer noch gut. Ein bisschen nach Tamagoyaki.“ „Hör auf!“ Ran versuchte, Tim von sich runterzuschieben, erreichte jedoch nur, dass der jetzt die andere Halsseite attackierte. Lachend wehrte sich Ran zuerst nur halbherzig, bis er dann doch irgendwann genug hatte. Mit einer schnellen Drehung brachte er Tim unter sich und hielt seine Arme fest, während er ihn mit seinem Körpergewicht auf die Matratze pinnte. Sie atmeten beide schwer und Ran konnte förmlich fühlen, wie die Stimmung kippte und aus der harmlosen Balgerei plötzlich etwas anderes, leidenschaftlicheres wurde. Er lehnte sich vor und küsste Tim lange und tief. Irgendwo in seinem Inneren wusste er, dass das hier nur eine kleine Zuflucht war. Dass er nicht ewig würde hierbleiben können. Dass all das, von dem er vorhin erzählt hatte – die echte Version davon – ihn irgendwann einholen würde. Dass er noch eine Aufgabe hatte, bevor er seine Vergangenheit hinter sich lassen konnte. Er löste sich aus dem Kuss und sah auf Tim herab, der mit geschwollenen Lippen und zerwühlten Haaren zu ihm aufsah, und ihm wurde bewusst, dass er hier etwas sehr Kostbares hatte. Er mochte momentan ganz unten sein, sein Leben ein mühsam zusammengekitteter Scherbenhaufen. Aber er hatte etwas, für das es sich zu kämpfen lohnte. Und etwas, das ihn hinter all dem Kampf erwartete. 'Du verdienst das', flüsterte es in seinem Kopf. 'Du verdienst das hier und noch mehr. Bleib bei ihm, lass ihn nicht allein. Er … liebt dich. Und du liebst ihn auch, oder nicht? Zeige es ihm. Zeig ihm wie viel er dir bedeutet.' In diesem Moment hörte er auf zu denken. Sein Körper übernahm die Kontrolle und stürzte sich mit neu erwachtem Verlangen auf den zweiten, willigen, der sich unter ihm wand, bereit ihn aufzunehmen, ihn zu halten und ihn nicht allein zu lassen. Niemals.         Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)