Lügner! von Maginisha ================================================================================ Kapitel 13: Die Gunst der Stunde -------------------------------- „Du hattest eine Vision.“ Crawford hörte auf zu tippen und hob den Blick, um zwei blauen Augen zu begegnen, die ihn aufmerksam musterten. Er seufzte innerlich. Man musste wirklich kein Hellseher sein, um zu wissen, dass ein Schuldig, der bereits seit zwei Stunden in seinem Büro verbracht hatte, für Ärger sorgen würde. Das war, als würde man einen Tiger in einen Käfig stecken und annehmen, dass er sich einfach zusammenrollte und friedlich auf sein Mittagessen wartete. Und hier war er nun. Der Ärger. „Wie kommst du darauf?“ Die Frage brachte ihm ein wenig Zeit, um sich auf das Thema vorzubereiten. Schuldig rümpfte die Nase. „Du hast dann immer so eine Falte zwischen den Augenbrauen. Ganz ehrlich. In fünf Jahren ist Botox dein bester Freund.“ „Vielleicht kommt die Falte auch daher, dass du seit Stunden meinen Arbeitsplatz belagerst. Du bist nicht die spanische Armada, Schuldig. Geh und tu irgendwas Nützliches.“ Der Telepath machte ein beleidigtes Gesicht. „Aber ich tue etwas Sinnvolles. Ich überlege mir meinen nächsten Schritt mit Fujimiya.“ „Dann überleg woanders.“ Schuldig schüttelte den Kopf. „Nein, ich brauche deinen peniblen Geist in meiner Nähe, um mir ein passendes Szenario auszudenken. Wenn ich dabei alleine bin, kommen zwar recht interessante, aber für dich vollkommen unpraktikable Lösungen dabei heraus.“ Crawford verzog den Mund. „Ich will es lieber gar nicht wissen. Meinetwegen kannst du deinen Spaß mit ihm haben, solange du mich aus dem Spiel lässt.“ „Natürlich tue ich das. Immerhin bist du ein verheirateter Mann.“   Wo war die Vision gewesen, die ihn hätte verhindern lassen, dass der Telepath sich so etwas ausdachte? „Ich weiß wirklich nicht, warum du mir unbedingt eine Ehefrau verpassen musstest. Die restliche Geschichte, meinetwegen, aber warum der Ring am Finger?“ „Weil...“, antwortete Schuldig gedehnt, als wäre Crawford ein wenig begriffsstutzig, „du nicht einfach als Ausländer ein japanisches Kind adoptieren kannst. Oder wie hätte ich dich und Nagi sonst erklären sollen?“ „Du hättest den Jungen da raushalten können.“ Schuldig gab ein Geräusch von sich, das tatsächlich an einen gereizten Tiger erinnerte. „Entschuldige bitte, dass ich keine ach-so-praktischen Zukunftsvisionen habe, die es mir ermöglichen, alle meine Schritte schon drei Tage im Voraus zu planen. Als ich damit anfing, wusste ich doch noch nicht, was ich finden würde. Und jetzt habe ich eine komplette Tarnidentität am Hals nebst Farfarello, der mein Schlafzimmer besetzt hält. Und du möchtest nicht wissen, was er mit dem Badezimmer angestellt hat.“ „Nein, das will ich tatsächlich nicht.“ Crawford wandte sich wieder seinem Computer zu. „Ich will einfach nur in Frieden weiterarbeiten.“ „Dann hilf mir!“ Schuldigs Stimme hatte einen leicht weinerlichen Ton angenommen. „Mein Kopf explodiert gleich von all den nutzlosen Ideen. Wie kriege ich dich und Fujimiya zusammen, ohne dass es total verdächtig wirkt und ihr trotzdem mehr Zeit miteinander verbringen könnt als lediglich ein kurzes Händeschütteln? Ich kann ihn ja wohl kaum mit zu euch schleppen zum Abendessen.“ Crawford sah ein, dass der einzige Weg, Schuldig loszuwerden, der war, dessen Problem zu lösen, bevor er sich wieder seinen eigenen zuwenden konnte. Er setzte die Brille ab und begann sie zu putzen. „Warum eigentlich nicht?“ Schuldig blinzelte ihn an wie eine Katze, die gerade festgestellt hatte, dass die Maus, der sie nachgerannt war, sich herumgedreht hatte und sich jetzt anschickte, Jagd auf sie zu machen. „Ein Abendessen ist eine durchaus akzeptable, gesellschaftliche Form, in der sich auch vollkommen Fremde in unmittelbarer Nähe zueinander aufhalten können, ohne dass es verdächtig wirkt.“ Schuldig blinzelte noch einmal. „Du hast recht“, sagte er verblüfft. „Und dabei kann ich mir dich auch viel besser vorstellen als in irgendeinem Club. Obwohl die Sache mit den Lederhosen...“ „Schuldig!“ Crawfords Geduld scharrte mit den sprichwörtlichen Hufen. Allzu weit war der Telepath nicht mehr davon entfernt, in den Lauf einer geladenen Waffe zu blicken. „Okay, okay. Also ein Abendessen. Aber wo? Wohl kaum bei euch zu Hause. Ich meine, eure Bude ist zwar nicht gerade eine typische Junggesellen-WG, aber ihr fehlt definitiv der weibliche Touch, den eine angebliche Ehefrau so mit sich bringen würde. Angefangen von passenden Vorhängen zum Teppich bis hin zu Hygieneartikeln im Badezimmer, von denen kein Mann wissen sollte, dass es sie gibt. Es muss also außer Haus sein. Und wo?“ Crawford schloss für einen Augenblick die Augen. Die Bilder der Vision, die er heute Nacht tatsächlich gehabt hatte, schoben sich vor sein inneres Auge. Er würde Schuldig nichts davon erzählen, aber was er gesehen hatte, hatte ihn beunruhigt. Vielleicht, höchstwahrscheinlich ohne Grund. Die Zukunft stand nicht fest und Dinge, die er sah, konnten sich immer wieder verschieben, verändern, von ihm selbst beeinflusst werden. Manchmal, wenn auch selten, gelang es ihm, die Visionen bewusst heraufzubeschwören. Ereignisse abzurufen und zu betrachten, um sich des Wissens um das, was geschehen würde, zu bedienen, um sich selbst in eine bessere Position zu bringen. Meist jedoch waren es unklare Bilder, interpretationswürdig und im schlimmsten Fall nutzlos, da er sie erst in dem Moment wiedererkannte, in dem sie eintraten. Déjà-vu nannte der Rest der Welt es und tat es als harmloses Phänomen ab. Er jedoch hatte gelernt, diese Bilder zu erkennen, vom Rest seiner Wahrnehmung abzukoppeln und sie als das zu benennen, was sie waren. Zukunftsvisionen. Er konnte nur hoffen, dass die Vision von dieser Nacht lediglich ein Splitter einer Zukunft war, die niemals eintreffen würde. Wenn doch … er mochte es sich nicht ausmalen.   „Craw~ford.“ Schuldigs Stimme erinnerte an ein Kind an einem Kaugummiautomaten, das unbedingt ein Geldstück von seinem Erzeuger ergattern wollte und greinend an dessen Ärmel zog. „Abendessen. Wo?“ „Das 'Fenêtre' in Shinjuku. Ich mache einen Termin.“ Der Telepath verarbeitete die Information, bevor ihm buchstäblich die Augen übergingen. „Dieser schweineteure französische Laden, in dem man mehr vom Teller sieht als vom Essen? Wem hast du denn die goldene Gans geklaut, Mister Ich-hab-mir-die-Hosentaschen-zunähen-lassen?“ Crawford zog es vor, nicht auf diese Frage einzugehen. „Französische Mahlzeiten bestehen aus mehreren Gängen, was uns mehr Zeit gibt. Außerdem wird das Restaurant einen Service-Engpass haben, sodass sich das Essen über mehrere Stunden hinziehen wird.“ Schuldig hob die Augenbrauen. „Ach, wird es das? Und warum?“ „Weil du heute Nacht den Sous-Chef umbringen wirst. Also los, raus jetzt! Ich schicke dir seine Adresse. Und komm nicht auf die Idee, mich heute noch einmal zu nerven. Ich habe hier zu arbeiten.“ Crawford griff nach dem Telefon und begann zu wählen. „Kann ich auch Farfarello schicken? Das rettet vielleicht meine Küche.“ Crawford verdrehte die Augen und nickte ungeduldig, während sich am anderen Ende eine näselnde Stimme nach seinen Wünschen erkundigte. „Ich möchte einen Tisch reservieren“, antwortete er. „Für morgen Abend acht Uhr. Ja, für fünf Personen.“ Er winkte Schuldig, endlich das Büro zu verlassen, und atmete auf, als sich die Tür hinter dem Teleathen schloss. Schuldig war intelligent und wenn er einmal Blut geleckt hatte, konnte man ihn nur noch schwer von seinem Ziel abbringen. Aber wenn man rechtzeitig mit der Katzenminze wedelte, war eben doch nicht alles verloren. „Ja, natürlich. Vielen Dank für Ihre Zeit.“ Er legte auf und seufzte noch einmal. Nun musste er nur noch den Tag mit Takatori durchstehen, dann rückte die Zukunft, die er für sich erträumte, vielleicht endlich einen entscheidenden Schritt näher.         Aya war kurz davor durchzudrehen. Sein Zimmer war übersät mit dem Inhalt seines Kleiderschranks, während er selbst nicht viel mehr als seine Unterwäsche am Leib trug. Zum wiederholten Male raufte er sich die Haare und fragte sich, was er wohl anziehen sollte. 'Du benimmst dich wie ein Mädchen' dachte er grimmig und griff sich eine Hose und ein Hemd. Das würde genügen müssen. Er zog die Sachen über und sah an sich herab. War das wirklich okay? Immerhin hatte die Hose keine Löcher, keine ausgewaschenen Stellen, das Hemd war sauber. Das war doch gut genug, oder? Er stieß einen kleinen Schrei aus und trat gegen das Bett. Das war so dämlich. Und das alles nur, weil Tim ihn angerufen und gebeten hatte, ihn zu einem Abendessen mit seinem Arbeitgeber zu begleiten. „Du musst mitkommen“, hatte er geklagt. „Alleine halte ich das nicht aus. Die wollen in so ein piekfeines Restaurant und ich komme mir vor wie Julia Roberts in 'Pretty Woman'. Am Ende fliegen dann irgendwelche Schnecken durch die Gegend und ich raus. Bitte, Ran, du musst mitkommen.“ Und Aya hatte 'Ja' gesagt. Weil er Tim den Wunsch nicht abschlagen konnte. Und weil Yoji ihm so einen investigativen Blick zugeworfen hatte, dass er das Gespräch lieber schnell hatte beenden wollen. Am Abend hatte er sich heimlich in den Keller des Koneko geschlichen und dort im Internet gesucht, was es mit der Sache mit den Schnecken auf sich hatte. Seit dem schob er, gelinde gesagt, Panik.   Es klopfte an die Wand. „Hey, Aya, alles in Ordnung bei dir?“ Ken. Wer zur Hölle hatte Ken nebenan einquartiert? Er fühlte das Bedürfnis, dafür jemanden mit dem Katana zu durchbohren, in sich aufsteigen. „Ja!“, brüllte er zurück, schloss die Augen und atmete tief durch. Er würde das schaffen. Es war nur ein Abendessen. Ein klopfte wieder. Dieses Mal an seiner Tür. Aya ging nach vorn, um zu öffnen. Es war – natürlich – Ken. „Hey, ich habe dich schreien gehört. Ist wirklich alles in Ordnung?“ Er ließ seinen Blick über Aya schweifen. „Wo willst du denn hin? Ist jemand gestorben?“ Aya runzelte die Stirn. „Wie kommst du darauf?“ „Na weil du komplett in schwarz angezogen bist. Außerdem trägst du sonst nie ein Hemd.“ Ayas Finger zuckten nach dem nicht vorhandenen Griff seines Schwerts. Aber dazu hatte er keine Zeit. Zumal: Wo sollte er die Leiche lassen? Außerdem würde er sich danach ja schon wieder umziehen müssen. Nein, er würde Ken einfach ignorieren. Und ein anderes Hemd kaufen. Sofort. „Ich habe eine Verabredung. Auf Wiedersehen!“ Er knallte Ken die Tür vor der Nase zu und ignorierte dessen Protest von der anderen Seite. Geld, Schlüssel, Telefon. Und dann nichts wie los, denn wenn er zu spät kam, war auch das beste Hemd nichts mehr wert.       „Ich mag das Hemd“, wisperte Tim ihm ins Ohr. „Es bringt deine Augen zur Geltung.“ Aya fühlte die Hitze in seine Wangen steigen. „Hör auf, mit mir zu flirten“, zischte er. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Allein die Tatsache, dass er sich von dem Verkäufer zu einem violetten Hemd hatte überreden lassen, war schon schlimm genug. Dass Tim jetzt noch darauf herumritt, machte es keinen einzigen Deut besser. Was hatte er sich nur dabei gedacht, zu dieser Verabredung mitzukommen? Er fühlte sich wie das fünfte Rad am Wagen, das er wohl auch sein würde, wenn die Familie, für die Tim arbeitete, endlich ankam. „Ich flirte aber gern mit dir, mein stolzer Samurai.“ Tim blinzelte ihm ein paar Mal zu und Aya kam nicht umhin zu bemerken, dass sein Hemd ebenfalls zu seiner Augenfarbe passte. Nur dass Tim trotz der herrschenden Temperaturen darüber noch ein Jackett und eine Krawatte trug. Eine Krawatte! Er sollte wirklich gehen. Ganz schnell. „Hiergeblieben!“ Tim hatte seine Gedanken offensichtlich durchschaut und war in dem Moment vor ihn getreten, in dem er sich zum Gehen wenden wollte. „Du wirst mich noch blamieren. Ich habe Ms. Crawford versprochen, dass ich dich mitbringe. Sie ist schon ganz gespannt, dich endlich kennenzulernen.“ „Du hast ihr von mir erzählt?“ Aya fühlte, wie alle Farbe aus seinem Gesicht wich. Als Tim seinen Gesichtsausdruck sah, kam er ins Stottern. „Ähm, es … ist vielleicht möglich, dass ich dich ein- oder zweimal erwähnt habe.“ „Warum?“ „Ich … äh ... ich musste was mit ihr besprechen. Können wir das Thema vielleicht später klären? Du verdirbst mir sonst noch die Überraschung.“ Bei diesen Worten stellten sich Ayas Nackenhaare auf. Er mochte Überraschungen nicht besonders und wenn sie ihn selbst betrafen, erst recht nicht. Tim senkte die Lieder und seine Stimme wurde leiser. „Bitte, Ran. Die Crawfords sind hier wie eine Art Familie für mich. Und, naja, ich bin gerade dabei meinen Eltern meinen Freund vorzustellen. Keine Ahnung, wie das hier bei euch in Japan ist, aber bei uns ist das ein sehr wichtiger Schritt irgendwie.“ Tim sah ihm direkt in die Augen. Rans Magen sackte ein Stockwerk tiefer und sein Herz begann zu klopfen. Er hatte nicht gedacht, nicht gewusst … Das war … „Okay“, flüsterte er schließlich. „Ich bleibe.“ „Danke“, flüsterte Tim zurück und drückte ganz kurz seine Hand, bevor er sich wieder suchend umsah.   „Da, sie kommen!“ Ran straffte sich unwillkürlich und hielt ebenfalls Ausschau. Er erkannte den Mann sofort. Der Amerikaner war fast einen kompletten Kopf größer als die Gruppe japanischer Geschäftsleute, die vor ihm den Gehweg bevölkerten. Er trug einen gut geschnittenen, dunklen Anzug, eine randlose Brille, die schwarzen Haare hingen ihm leicht ins Gesicht und er ging mit dem Selbstbewusstsein eines erfolgreichen Mannes. An seiner Seite versuchte der Junge – Nagi – mit ihm Schritt zu halten. Der Kleine, der neben seinem Ziehvater noch schmächtiger wirkte, steckte in einem blauen Zweiteiler, der Ran vage an eine Schuluniform erinnerte, aber zu keiner Schule passte, die er kannte. Vermutlich eine teure private Anstalt.   Tim runzelte die Stirn und ging dem ungleichen Gespann entgegen. Ran folgte ihm mit leichtem Zögern. „Guten Abend, Mr. Crawford“, rief Tim und schüttelte dem Mann die Hand. „Wo haben Sie Ihre charmante Gattin gelassen? Kommt sie noch nach?“ „Haruka ist krank geworden. Sehr schlimme Kopfschmerzen. Sie lässt sich entschuldigen.“ Der Mann wandte sich Ran zu. „Sie müssen Tims Freund sein. Guten Abend.“ Er streckte die Hand aus und Ran wusste, dass es unhöflich war, sie nicht zu ergreifen. Trotzdem war da etwa an diesem Mann, das ihn zögern ließ. Ein Kribbeln in seinem Nacken, als gäbe es irgendeine Gefahr, die zu beachten, er vergessen hatte. Sein Gegenüber reagierte gelassen. „Oh natürlich, mein Fehler. Ich vergaß, dass Sie Japaner sind.“ Er lachte und wollte die Hand schon zurückziehen, als Ran sich einen Ruck gab. Er begann offensichtlich, Gespenster zu sehen. „Nein, entschuldigen Sie mich. Ich war in Gedanken.“ Er ergriff die Hand des Mannes. Eine Impuls durchzuckte ihn und für einen winzigen Augenblick hatte er den Eindruck, als wenn es Mr. Crawford genauso ging. Die braunen Augen hinter den Brillengläsern weiteten sich für den Bruchteil eines Millimeters und das Schwarz in der Mitte saugte seinen Blick auf. Dahinter lagen Galaxien, Abgründe, ungeahnte Weiten, das Ende der Zeit.   Im nächsten Augenblick war alles vorbei. Ran blinzelte und schüttelte leicht den Kopf. Niemand schien etwas von dem Vorfall bemerkt zu haben. 'Wahrscheinlich hast du dir das nur eingebildet', flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. 'Das kann nicht echt gewesen sein. Deine Nervosität hat dir einen Streich gespielt. Entspann dich und hör vor allem auf, ihn anzustarren. Das ist peinlich.' „Ran? Ist alles in Ordnung?“ Tim blickte ihn besorgt an. „Ja, sicher.“ Er lachte nervös. „Ich habe mich nur gerade an etwas erinnert. Ich … habe vergessen, das Wasser im Laden abzustellen. Wenn Sie mich für einen Augenblick entschuldigen wollen? Ich muss meinem Kollegen eine Nachricht schreiben.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, machte er auf dem Absatz kehrt und holte noch in der Bewegung sein Handy heraus. Ohne wirklich etwas zu schreiben, drückte er auf den Tasten herum und versuchte, seinen Herzschlag und seine Atmung zu beruhigen. Als es ihm fast gelungen war, spürte er eine Hand auf seinem Arm. Blitzschnell ließ er das Gerät wieder in seiner Tasche verschwinden, bevor er sich zu Tim herumdrehte. „Alles erledigt. Wir können gehen“, sagte er und setzte erneut ein Lächeln auf. Tim musterte ihn noch einen Moment, dann begann er plötzlich zu grinsen. „Er sieht gut aus, oder?“ „Was? Wer?“ „Na Mr. Crawford. Komm schon, gib's zu. Das hat dich aus dem Konzept gebracht, als er hier aufgetaucht ist. Du hast wahrscheinlich einen tattrigen Mittfünfziger erwartet, der sich hier in Japan eine hübsche, junge Frau gesucht hat. Und dann kommt da auf einmal diese Sahneschnitte um die Ecke. Da hat's dich aus den Socken gehauen.“ „Das stimmt nicht. Ich hab doch nicht... Also ich ...“, protestierte Ran und spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. „Kein Problem, krieg dich wieder ein. Als ich spitzgekriegt habe, dass ich auf Männer stehe, ging's mir genauso. Plötzlich war die Welt voller sexy Kerle. Boom! Und dann die ganzen peinlichen Szenen in irgenwelchen Umkleidekabinen oder beim Schwimmen. Furchtbar.“ Er brach ab und schob die Unterlippe ein wenig vor. „Obwohl ich ja eigentlich beleidigt sein sollte. Immerhin bist du mein Freund.“   Ran machte ein geknicktes Gesicht, aber Tim grinste schon wieder und hieb ihm mit der Faust spielerisch gegen die Brust. „Hey, war nur ein Scherz. Ich habe auch ungefähr so geguckt wie du, als ich ihn das erste Mal gesehen habe. Aber da ist nichts zu machen, der Mann ist in festen Händen.“ Tim deutete auf seinen rechten Ringfinger. „An die Kette gelegt und vom Markt. Das war's. Zumal seine Gattin wirklich eine sehr nette Frau ist. Aber davon später mehr. Jetzt sollten wir die beiden da drinnen nicht zu lange warten lassen.“ Ran ließ es zu, dass Tim ihn mit in Richtung des Eingangs zog. Die ganze Erklärung schmeckte ihm nicht und das nicht nur, weil er Tim nicht kränken wollte. Aber andererseits hatte er ja noch nicht viel Erfahrung. Vielleicht war es wirklich so, wie Tim gesagt hatte. Dass er Mister Crawford einfach nur attraktiv fand. 'Natürlich ist es nur das, du Dummerchen', flüsterte die Stimme in seinem Kopf. 'Was sollte es sonst sein? Vermutest du, dass er einer von deinen dunklen Bestien ist, die du zur Strecke bringen musst? Mach dich nicht lächerlich. Das hier ist nur ein ganz normales Abendessen. Wenn du ihn erst mal kennengelernt hast, findest du ihn bestimmt sehr nett.' Mit einem mulmigen Gefühl im Magen folgte er Tim durch die dunkle Holztür nach drinnen. Sie betraten einen Gang, der mit dunkelrotem Teppich ausgelegt war. An den Wänden hingen große Schwarz-Weiß-Bilder mit Autogrammen. „Ah, sieh mal. Brigitte Bardot, Catharine Deneuve, der junge Jean-Paul Belmondo …“ Tim ging die Bilder ab. „Ich habe es allerdings nicht so wirklich mit französischen Filmen. Da ist mir gutes, altes Hollywood lieber.“ Er grinste und hielt Ran die Tür auf. Der schüttelte lachend den Kopf und betrat das edle Restaurant. Hier drinnen herrschten dunkle Farben in Mobiliar und Fußboden vor. Die Tische trugen nahezu bodenlange, weiße Tischdecken, endlose Reihen von Weingläsern und blank poliertes Silberbesteck. Für einen Moment fühlte sich Ran an die Zeit erinnert, als er selbst im weißen Hemd mit Weste und Fliege Teller voller Speisen hin und her getragen hatte. Das Restaurant, in dem er gearbeitet hatte, war lange nicht so elegant und teuer gewesen. Trotzdem erkannte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Er entdeckte auf Anhieb mindestens drei Tische, die noch nicht wieder neu eingedeckt waren. Zwar erforderte das die Anzahl der Kunden auch nicht unbedingt, aber es störte den Gesamteindruck des sonst so makellos wirkenden Etablissements.   Es führte sie auch kein Kellner an den Tisch, wie er eigentlich erwartet hatte, und so mussten sie den Weg allein zurücklegen. Staunend betrachtete er im Vorbeigehen die riesigen Fotodrucke einer Großstadt, die in gemalten Fensterrahmen die Wände zierten. Eines der beliebtesten Motive war ein großer, stählerner Turm. Tim bemerkte Rans Blick. „Fenêtre bedeutet Fenster“, erklärte er. „Der Innenarchitekt hat wohl versucht den Eindruck zu erwecken, dass wir uns tatsächlich in Frankreich befinden und beim Essen einen Blick auf Paris werfen können. Das da hinten ist der Eiffelturm, nach dessen Vorbild der Tokyo Tower errichtet wurde.“ Ran nickte abwesend. Natürlich hatte auch er schon von diesem Wahrzeichen gehört. Seine Schwester hatte täglich neue Ideen gehabt, welches Land sie zuerst bereisen wollte und es waren auch einige Hauptstädte Europas darunter gewesen. Er überlegte, ob er das wohl erwähnen sollte, aber er als er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, war die Gelegenheit dazu schon vergangen. Sie waren an dem Tisch angekommen, an dem Mr. Crawford und Nagi bereits Platz genommen hatten. Tim setzte sich ohne Umschweife neben Nagi, sodass Ran mit dem Platz neben Mr. Crawford vorliebnehmen musste. Die Nähe zu dem dunkelhaarigen Mann war ihm nach seinem unrühmlichen Auftritt vorhin ein wenig unangenehm, aber als Tim ihm über den Tisch hinweg zuzwinkerte, erkannte er, dass dieser Platz durchaus Vorteile hatte. So musste er Mr. Crawford wenigstens nicht in die Augen sehen. Er war lediglich Nagis finsterem Blick ausgesetzt, der ihn unverhohlen anstarrte. Er fragte sich wirklich, was Tim alles von ihm erzählt hatte.   Der Kellner erschien, brachte ihnen die Speisekarten und fragte auch gleich nach ihren Getränkewünschen. „Möchte jemand ein Glas Wein mit mir trinken? Tim? Ran?“ Mr. Crawford sah sie fragend an. „Ich passe“, erklärte Tim. „Für mich nur eine Cola.“ „Ich schließe mich an“, sagte Ran, obwohl er Cola nicht besonders mochte. Er wagte allerdings auch nicht, erst noch lange in der Karte nach den Getränken zu suchen. Mit der Auswahl der Speisen würden schon genug Schwierigkeiten auf ihn zukommen. Die Gerichte klangen allesamt eigenartig, hatten aber zum Glück japanische Übersetzungen unter ihren Bezeichnungen, sodass er immerhin sicher sein konnte, keine Schnecken zu bestellen. Die Szene aus dem Film geisterte ihm plötzlich wieder durch den Kopf. „Wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid. Ich kenne einige Japaner, die ausländisches Essen nicht mögen, aber meine Frau ist vollkommen verrückt danach. Es war ihre Idee, hierherzukommen.“ Mr. Crawford hatte sich ein wenig zu ihm hinübergebeugt, wie Ran mit leichtem Entsetzen feststellte. Vielleicht hätte er doch lieber den Platz auf der anderen Seite gehabt. „Hier, das solltest du versuchen.“ Er deutete auf etwas auf der Speisekarte. Sein Arm kam Ran dabei so nahe, dass der die Luft anhielt. „Ich nehme es“, sagte er, ohne weiter hinzusehen und schlug die Speisekarte zu. Tim blinzelte ihn erstaunt an. „Was nimmst du?“ „Lapin aux pommes pavot“, antwortete Mr. Crawford und schlug eine Seite seiner eigenen Karte um. „Kaninchen in einer Apfel-Mohnsoße mit Buttermilch. Schmeckt ausgezeichnet.“ Ran wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Das klang in seinen Ohren nicht im Geringsten schmackhaft. Aber nun konnte er kaum sagen, dass er es nicht essen wollte. Dieses Essen war jetzt schon ein einziges Fiasko. Als der Kellner mit den Getränken kam, gab Mr. Crawford die Bestellung auf, die eine ganze Reihe Begriffe enthielt, die Ran nicht kannte. Er hoffte nur, dass das Essen nicht allzu lange dauern würde. Die Bestellung ließ allerdings nichts Gutes hoffen. „Sehr wohl, der Herr“, antwortete der Kellner und nahm die Speisekarten wieder in Empfang. „Ich muss sie allerdings für heute Abend bereits im Voraus um Entschuldigung bitten. Wir haben leider durch einen unvorhergesehenen Zwischenfall einen kleinen personellen Engpass. Wir werden uns aber natürlich bemühen, Ihren Wünschen möglichst umgehend zu entsprechen.“ Er verließ schnellen Schrittes den Raum und mit ihm verflüchtigte sich Rans Hoffnung, dass er diese Tortur innerhalb der nächsten Stunde überstanden hatte. Unmerklich sackte er ein wenig in seinem Sitz zusammen.   „Lasst uns einen Toast aussprechen“, sagte Mr. Crawford und erhob sein Glas mit Weißwein. „Auf einen wundervollen Abend unter Freunden.“ Er drehte sich halb zu Ran herum. „Alten und neuen Freunde.“ Für einen Augenblick fing sich das Licht in den durchsichtigen Brillengläsern und die Reflexion zeigte Ran lediglich sein eigenes Gesicht, das Mr. Crawford mit großen Augen anstarrte. Sein Mund wurde trocken und er nahm schnell einen großen Schluck von seiner Cola, um einen Hustenanfall zu verhindern. Sein Sitznachbar wendete sich wieder den anderen beiden zu. „Nun, Tim, was machen Nagis Lektionen? Ich habe gehört, Sie kommen gut voran.“ „Oh ja“, nickte Tim und stieß Nagi auffordernd in die Seite. „Los, sag mal was.“ „Und was?“ Es war offensichtlich, dass sich der Junge ungefähr genauso unwohl fühlte wie Ran. Tim zuckte mit den Schultern. „Na irgendwas halt. Was wir heute geübt haben.“ „Ich heiße Nagi. Du hast schöne Augen. Ich bin allergisch gegen Schalentiere.“ Ran hatte kein Wort verstanden, Nagis Vater dafür wohl allerdings umso besser. Er lächelte. „Das klingt wirklich schon sehr gut. Meine Firma plant, einen Vorstoß auf den deutschen Markt. Es könnte also sein, dass wir uns eine Weile dort aufhalten werden. Daher möchte ich, dass du weiter fleißig lernst, Nagi, denn du wirst mich dorthin begleiten.“ „Wie du möchtest, Vater.“ Nagis ganze Körperhaltung drückte genau das Gegenteil aus. Er hatte anscheinend weder Lust, sich so vorführen zu lassen, noch nach Deutschland zu reisen. Ran konnte zumindest das erste gut nachvollziehen. „Meine Firma ist in der Sicherheitsbranche tätig, musst du wissen“, erklärte Mr. Crawford jetzt. „Personenschutz?“, fragte Ran automatisch und sah, wie ein Kellner mit einem Servierwagen näherkam. Darauf standen vier Teller. Vielleicht ging das mit dem Essen doch schneller, als er gehofft hatte. „Objektschutz. Alarmanlagen, Schließmechanismen und ähnliches mehr.“   Der Kellner war jetzt bei ihnen angelangt und stellte vor jeden einen weißen Porzellanteller, in dessen Mitte ein kleines Häuflein umringt von zwei Klecksen Soße lag. Ein kleines, grünes Blatt thronte auf seiner Spitze. Ran musterte es skeptisch. „Was ist das?“ Mr. Crawford lächelte und beugte sich schon wieder zu ihm herüber. „Das ist ein Amuse-Gueule.“ „Ein was?“ „Eine Vorspeise auf Kosten des Hauses. Sie wird vor dem ersten Gang gereicht“ „Vor dem ersten Gang?“ Ran glaubte, sich verhört zu haben. „Ein klassisches, französisches Diner besteht gewöhnlich aus acht Gängen. Ich habe mir erlaubt, es auf fünf zu kürzen. Sonst sitzen wir ja nach Mitternacht noch hier.“ Ran seufzte innerlich und griff nach seiner Gabel. Ein prüfender Blick über den Tisch hinweg bestätigte ihm, was er schon vermutet hatte. Das Tim das gewusst und ihm bewusst verschwiegen hatte. In den blauen Augen lag eine Bitte um Vergebung. Ran zog die Augenbrauen zusammen, um ihm zu zeigen, dass hier das letzte Wort noch nicht gesprochen war, und steckte sich den unschuldigen Gaumenschmaus in den Mund. Er kaute und war erstaunt darüber, wie gut es schmeckte. „Was ist das?“, wollte er wissen und versuchte, den Geschmack zu identifizieren. Es war süß und weich, hatte aber trotzdem eine gewisse, bekannte Konsistenz, von der ihm nicht einfallen wollte, woher er sie kannte. Mr. Crawford nahm sein Besteck, schnitt den Happen in zwei Teile und probierte nachdenklich. „Wenn mich nicht alles täuscht, ist das überbackener Oktopus mit Backobst.“ Ran kaute weiter und befand, dass er sich anscheinend getäuscht hatte, zumindest was das Essen anging. Vielleicht konnte es doch noch ein ganz netter Abend werden.       Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)