Lügner! von Maginisha ================================================================================ Kapitel 5: Tischgespräche ------------------------- Der Geruch von feuchter Erde und Blumen lag in der Luft und die Blätter eines Farns wedelten gleichmäßig im Luftzug der Klimaanlage. Kein Kunde hatte in den letzten zwanzig Minuten das Koneko betreten und es hätte eine friedliche Szene sein können, wenn nicht die durchdringende Stimme der Nachrichtensprecherin aus dem kleinen, altersschwachen Fernseher in der Ecke gewesen wäre. Mit geradezu reißerischer Wichtigkeit erklärte sie: „Die bekannte Wirtschaftsgröße Reiji Takatori wurde heute durch einstimmige Wahl zum Parteivorsitzenden ernannt. Er tritt dabei die Nachfolge des kürzlich überraschend verstorbenen Shigeru Hatoyama an. Bei seiner Antrittsrede erklärte er, dass er der Politik in Tokio und in ganz Japan eine neue Richtung geben wolle. Man müsse Stärke zeigen und den Fortschritt weiter vorantreiben, um eine stabile Wirtschaftslage zu sichern. Die Familie Takatori blickt auf eine lange Tradition von ...“ „Können wir das mal abschalten?“ Ayas Ton war unüberhörbar gereizt. Nicht nur, dass Takatori seine gierigen Hände jetzt auch nach politischer Macht ausstreckte, nein, das Ikebana vor ihm auf dem Tisch ließ jegliche Eleganz vermissen. Es wirkte plump und unausgegoren. Am liebsten hätte er alles hingeworfen. Er musste wirklich ganz dringend 'den Kopf freikriegen' wie Ken es nannte, wenn er sich manchmal auf sein Motorrad schwang und einfach durch die Landschaft fuhr. An nichts denken, außer an die Bewegung, die Geschwindigkeit, den Rausch. Aya zog in Erwägung, sich in den Trainingsraum zurückzuziehen, aber er wusste aus leidiger Erfahrung, dass er dort nicht lange allein bleiben würde. Zumal Omi immer noch im Keller an dieser Computersache arbeitete. Irgendwer würde schon nach kurzer Zeit zu ihm kommen und mit ihm reden wollen. Aya wollte aber nicht reden. Nicht über Weiß, nicht über Takatori und erst recht nicht über den geheimnisvollen Kunden, der ihm seit drei Tagen nicht aus dem Kopf ging. Was allerdings nicht nur an dem Kunden selbst, sondern vielmehr an seinen geschwätzigen Kollegen lag. Yoji und Ken hatten sogar angefangen, Witze zu erzählen, nur um ihm ein Lächeln oder gar Lachen abzuringen. Er musste zugeben, dass einige davon wirklich komisch waren, aber das Gefühl, ständig unter Beobachtung zu stehen, machte ihn verrückt. Selbst in seinen Träumen schlug er sich damit herum, wenngleich diese ungleich düsterer waren als die Beschäftigung im Blumenladen. Trotzdem erdrückte ihn das alles heute. Aya warf die Schere beiseite, mit der er einen störrischen Ast hatte bändigen wollen, und band seine Schürze ab. „Ich gehe Mittag essen. Allein!“, verkündete er, bevor auch nur einer der anderen auf die Idee kommen konnte, ihm seine Gesellschaft aufzudrängen. Die Tatsache ignorierend, dass es erst halb zwölf war, verließ er den Laden und ging eilig die Straße hinunter. Eigentlich war er nicht hungrig, aber die sich bietenden Alternativen waren nicht besonders attraktiv. Er erwog kurz, sich in die U-Bahn zu setzen und zu Aya zu fahren, verwarf diesen Gedanken dann aber wieder. Er wollte den anderen nicht noch mehr Angriffsfläche liefern, indem er unnötig lang der Arbeit fernblieb. So steuerte er kurzentschlossen das nächste Restaurant an und ließ sich dort an einen Tisch bringen. Er vergrub den Kopf in der Speisekarte und sah auf die Bilder, ohne wirklich etwas zu erkennen, während er seine Gedanken wandern ließ. „Entschuldigung, ist hier noch frei?“ Aya schreckte aus dem Studium der angebotenen Gerichte hoch. Die Stimme, die ihn da auf Englisch angesprochen hatte, kam ihm vage bekannt vor. Er blickte auf. Vor ihm stand der junge Mann aus dem Blumenladen. Aya hätte ihn fast nicht erkannt, denn er trug heute lange Stoffhosen und ein kurzärmeliges, weißes Hemd. Seine Haare fielen lose über die Schultern und hingen ihm ein wenig in die Augen. Er grinste Aya an und wedelte mit der Speisekarte in seiner Hand. „Ich hoffe, ich störe nicht, aber ...“, er sah sich nach allen Seiten um, rutschte dann in die Bank gegenüber und senkte die Stimme, „ich könnte wirklich Hilfe brauchen. Ich sterbe vor Hunger, aber ich traue mich nicht so wirklich, was zu bestellen.“ Sein Grinsen wurde ein wenig schief. „Hilfe?“ Aya öffnete den Mund, obwohl er nicht so recht wusste, was er sagen sollte. Er hatte eigentlich allein sein wollen, um nachzudenken. Aber jetzt, wo ihm der junge Mann gegenübersaß und ihn um seine Hilfe bat, fühlte er sich nicht in der Lage, ihm eine Abfuhr zu erteilen. Er schloss den Mund wieder und nickte. „Oh gut.“ Sein Gegenüber strahlte ihn an und schob seinen Rucksack unter den Tisch. „Ich hatte da nämlich mal ein wirklich schräges Erlebnis in einem Restaurant. Ich habe Yakitori bestellt und bekam stattdessen Reis mit Gemüse. Ich weiß nicht, woran es lag, aber irgendetwas habe ich anscheinend falsch gemacht. Oder sie haben mich für einen Vegetarier gehalten. Sehe ich aus wie ein Vegetarier?“ Er lachte und seine Augen funkelten. „Na wie auch immer. Heute möchte ich auf jeden Fall unbedingt Fleisch essen. Ich habe nämlich was zu feiern.“ Aya sah sich in dem Restaurant um. Es war noch nicht besonders voll, aber einige Tische waren bereits besetzt. Keiner der Gäste schien sich besonders um ihn und seinen ungewöhnlichen Tischnachbarn zu kümmern. Eine Tatsache, die Aya eigenartig vorkam. Er hätte den Mann mit der auffälligen Haarfarbe vermutlich angestarrt, wenn er ihn das erste Mal gesehen hätte. Im Grunde genommen tat er das sogar genau in diesem Augenblick. Etwas verspätet fragte er: „Etwas zu feiern? Was denn?“ „Ich habe den Job. Als Sprachlehrer.“ Der Andere richtete sich auf und strahlte jetzt über das ganze Gesicht. „Ich bin nun offiziell Teil der arbeitenden Bevölkerung Japans. Na, wie klingt das?“ „Glückwunsch“, war das Einzige, was Aya über die Lippen brachte. Die Redseligkeit seines Gegenübers war ein wenig einschüchternd. Er kannte ja nicht einmal dessen Namen … „Oh, ich bin wirklich unhöflich.“ Der Andere sah ihn ein wenig zerknirscht an und streckte seine Hand über dem Tisch. „Erst setze ich mich einfach zu dir und dann habe ich mich nicht einmal vorgestellt. Ich heiße Tim.“ „Tim?“ „Ja, so wie in Tim und Struppi.“ Der junge Mann – Tim – sah ihn an, als erwarte er eine Reaktion darauf. Aya hatte nur keinen Schimmer welche. Als seinem Gegenüber das klar wurde, zog er seine Hand zurück und sackte ein wenig in sich zusammen. „Ich bin wirklich ein Esel“, murmelte er. „Tim und Struppi ist ein Comicbuch über … naja einen Jungen und seinen Hund, die in der ganzen Welt Abenteuer erleben. Ich fürchte nur, auf dieser Seite des Globus ist es nicht so bekannt.“ Er sah Aya unter seinem Pony hervor an. „Ich rede ganz schön viel, oder? Das tue ich immer, wenn ich aufgeregt bin. Tut mir leid.“ Tim nahm eine der Karten und versteckte sich dahinter. Erst jetzt wurde Aya klar, dass er weder die Begrüßung erwidert, noch seinen eigenen Namen genannt hatte. Aus irgendeinem Grund war ihm das fürchterlich peinlich. „Aya“, sagte er. „Ich … mein Name ist Aya.“ Blaue Augen musterten ihn über den Rand der Speisekarte hinweg. „Mhm, ich hab's gehört. Das letzte Mal im Blumenladen. Dein Kollege war schwer zu überhören.“ „Ken ist laut“, bestätigte Aya. Er hatte jetzt keine Lust über ihn zu reden. „Aya ...“, sinnierte Tim und legte den Zeigefinger an die Nase. Das bedeutet … kleine Blume.“ Er lachte wieder. „Entschuldige bitte. Ich lache nicht über deinen Namen, obwohl der Zufall, dass jemand mit deinem Beruf so heißt, schon amüsant ist. Mir ist nur gerade aufgefallen, dass 'kleine Blume' eine der Vokabeln ist, die ich in den meisten Sprachen kenne. Wusstest du, dass das auf Suaheli 'Uadogo' heißt?“ Aya schüttelte den Kopf. Er fühlte ein eigenartiges Kribbeln in seinem Bauch, als würden sich dort tausend Ameisen einen Krieg liefern. Sein Herz klopfte schneller und seine Hände hinterließen einen leicht feuchten Abdruck auf der Tischplatte. Er ließ sie schnell darunter gleiten und hoffte, das Tim das nicht bemerkt hatte. Der hatte jetzt die Unterlippe zwischen die Zähne geklemmt und betrachtete ihn mit schiefgelegtem Kopf. „Eigentlich siehst du nicht wie eine 'kleine Blume' aus. Also wenn ich dir einen Namen geben würde, dann wäre es irgendetwas Würdevolleres.“ Er griff nach seinem Rucksack, zog ein japanisches Wörterbuch heraus und blätterte eifrig darin herum. „Hier, wie wäre es damit? Botan. Das bedeutet Pfingstrose.“ Er sah in Ayas Gesicht. „Ok, nein, das ist zu pompös. Wir finden schon noch etwas. Ah, das hier. Ren. Lotus. Das ist schon eher passend, aber irgendwie auch noch nicht ganz das Richtige.“ Er blätterte weiter und steckte die Nase zwischen die Seiten. Irgendetwas an der Art, wie er das tat, ließ Aya lächeln. Er überlegte einen Augenblick und beschloss dann, dass er im Grunde nichts zu verlieren hatte. Was war schon ein Name? Und vielleicht … „Ran“, sagte er. „Wie wäre es mit Ran?“ Tim runzelte die Stirn und blätterte in dem Buch. „Ran bedeutet Orchidee“, las er vor. „Oder Wasserlilie, ein Symbol für Reinheit.“ Er sah Aya direkt in die Augen und der konnte nicht verhindern, dass sich seine Wangen ein wenig röteten. Wenn man es so betrachtete, war der Name eine infame Lüge. Er war weit entfernt davon, 'rein' zu sein. Aber etwas in ihm wünschte sich, genau das zu sein. Einfach die Zeit ein Jahr zurückdrehen und alles wäre wieder beim Alten. Er wäre Ran und würde … mit einem völlig Fremden in einem Restaurant sitzen und Ameisen in seinem Bauch haben, wenn dieser ihn ansah? Das war so widersinnig, dass es schon fast komisch war. Er musste unwillkürlich lächeln. „Sieht so aus, als würde dir der Name gefallen“, schlussfolgerte Tim und klappte sein Buch zu. „Also ist es beschlossene Sache, ich nenne dich ab jetzt Ran. Und wenn du dich auf den Kopf stellst.“ Aya/Ran wollte zunächst protestieren, doch die Bedienung unterband jeglichen Kommentar seinerseits, indem sie an den Tisch kam, um die Bestellung aufzunehmen. Tims Gesichtsausdruck wurde flehend. „Bitte bringen Sie uns zweimal das hier“, bat Ran/Aya mit einem Fingerzeig auf die Karte, bevor er sie der Bedienung zurückgab. Die verbeugte sich und sammelte auch Tims Speisekarte ein, bevor sie davon eilte, um die Bestellung weiterzugeben. Tim schob die Unterlippe vor. „Na das hätte ich auch gekonnt. Ich dachte, ich kann bei dir lernen, wie ich etwas Gescheites zu Essen bestelle.“ „Das habe ich dir doch gezeigt“, antwortete Ran und konnte ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken. „Was glaubst du, warum die Karten alle mit Bildern sind?“ Tim sah ihn für einen Augenblick verblüfft an, bevor er auch wieder anfing zu grinsen. „Ich hoffe für dich, dass, was immer du bestellt hast, Fleisch enthält. Ich bin schon seit 6 Uhr heute Morgen unterwegs und brauche unbedingt neue Kraftreserven. Und eine Wohnung. Auf die Dauer wird das Wohnen im Hotel zu teuer.“ Aya griff nach seinem Glas und trank einen Schluck. Es gab ihm Zeit zu überlegen. Er wollte nicht unhöflich oder neugierig erscheinen, aber es hätte ihn wirklich interessiert, wo Tim herkam und was er in Japan tat. Aber konnte er einfach danach fragen? Und was würde er im Gegenzug erzählen? Die Wahrheit wäre wohl kaum etwas, das er einem völlig Fremden auf die Nase binden konnte. Er brauchte eine Geschichte. Eine gute Geschichte, die nicht allzu viele Fragen nach sich ziehen würde. „Wie bist du nach Japan gekommen?“, fragte er schließlich. „Mit einem gelben U-Boot.“ Ran blinzelte überrascht. „Im Ernst?“ „Nein, aber ich wollte das schon immer mal sagen.“ Tim lachte und stützte das Gesicht auf seine Hände. Er zog die Augenbrauen nach oben. „In Wirklichkeit bin ich auf einem fliegenden Teppich hergeflogen.“ Ran konnte nicht anders, er musste lachen. Tim grinste ihn an. „Nein, mal im Ernst. Ich bin natürlich geflogen, aber mit einem ganz normalen Flugzeug. Japan hat mich schon immer fasziniert. Also habe ich mich zu einem Work-and-Travel-Programm angemeldet. Aber die von der Agentur haben irgendwie Mist gebaut und so war mein Platz doppelt vergeben und in meinem Bett schlief eine 17-jährige Finnin. Ich meine, nicht, dass etwas gegen Finninnen im Bett einzuwenden wäre, aber sie war halt noch ziemlich jung und das Bett etwas zu eng, um nachts nebeneinander zu liegen. Also habe ich mich mit der Organisation geeinigt und die Sache selber in die Hand genommen. Die ganzen Unterlagen, die ich brauchte, hatten sie zum Glück bereits ausgestellt. Na und dann bin ich mit dem Zug nach Tokio gefahren, um mir hier was zu suchen. Momentan wohne ich noch in dem Hotel um die Ecke, aber das knabbert so langsam meine Ersparnisse weg. Ich werde mir wohl eine WG suchen oder so was in der Art. Einen Arbeitsplatz und somit geregeltes Einkommen habe ich ja jetzt.“ Er machte eine kurze Pause. „Ich rede schon wieder zu viel, oder?“ Ran schüttelte den Kopf. „Nein, gar nicht. Ich finde es interessant. Woher kommst du eigentlich genau?“ Tim griff nach einer Serviette und begann diese in kleine Stücke zu zerrupfen. „Aus einem winzigen Dorf in Deutschland. Das ist echt so klein, dass da nur eine Straße rein aber nicht wieder herausführt. Das Ende der Welt quasi. Da musste ich einfach raus. Ich hatte schon immer ein Händchen für Sprachen und da dachte ich mir, ich versuche es mal hier. War vielleicht etwas voreilig. Ich dachte, ich schaffe das locker, aber das mit dem 'big in Japan' ist wohl mehr ein Mythos. Hier zurechtzukommen, ist gar nicht so einfach. Ich … Du und deine Landsleute, ihr seid alle so höflich und gleichzeitig wie ein Buch mit sieben Siegeln. Und ich fühle mich manchmal, als würde ich mit meinen großen Füßen immer unweigerlich jemand auf die Zehen treten. Dabei bin ich eigentlich nicht mal besonders groß. Du solltest mich mal Basketball spielen sehen. Vollkommen hoffnungslos.“ Er lachte müde über seinen eigenen Witz und verfiel dann in Schweigen. Der Haufen an Serviettenschnipseln wurde langsam größer. Ran hatte keine Ahnung, was er jetzt dazu sagen sollte. Das alles waren sehr … persönliche Informationen. Er wusste nicht so recht, wie er damit umgehen sollte. Hatte er noch nie gewusst. Ab und an war es vorgekommen, dass ein Gast in dem Restaurant, in dem er gearbeitet hatte, zu tief ins Glas geschaut hatte. Die Geschichten, die dabei zutage gekommen waren, waren oft nicht besonders erheiternd. Meist hatte er versucht, diesen Leuten fernzubleiben. Aber Tim wollte er nicht fernbleiben. Er wollte … keine Ahnung, was er wollte. Auf jeden Fall diesen Ausdruck von Tims Gesicht entfernen. Der Deutsche gefiel ihm besser, wenn er lachte. Tim blickte schuldbewusst auf. „Siehst du, jetzt tue ich es schon wieder.“ „Was?“ „Zu viel reden. Ich weiß, das klingt verrückt, aber bei dir habe ich das Gefühl, dass ich dir einfach vertrauen kann. Du bist nett. Ich würde … ich würde mich freuen, wenn wir mal etwas zusammen unternehmen könnten.“ Zu Rans Glück enthob ihn die Bedienung, die in diesem Moment mit dem Essen auftauchte, einer Antwort. Sie stellte die Platten mit verschiedenen Fleischspießen und einige Schüsseln mit Beilagen auf den Tisch. Tims nachdenkliche Stimmung war augenblicklich verschwunden. Er griff blitzschnell nach einem der Spieße und zog mit den Zähnen ein Fleischstück herunter. Während er mit geschlossenen Augen kaute, erschien auf seinem Gesicht ein Ausdruck purer Glücksseligkeit. „Oh mein Gott, Ran, das ist köstlich! Ich bin dir zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet.“ Ran schmunzelte, setzte dann aber ein tadelndes Gesicht auf. „Man sagt zuerst 'Itadakimasu', bevor man anfängt zu Essen.“ Tim öffnete die Augen wieder, schluckte und legte mit betroffener Miene den Spieß wieder zurück. Er setzte sich kerzengerade hin und ruckte mit dem Kopf in einer Art Verbeugung nach unten. „Hai, Sensei!“ „Und man legt niemals ein angebissenes Stück wieder auf den Teller.“ Tim schlug die Hände vors Gesicht und gab ein falsches Schluchzen von sich. „Ich bin unwürdig, dass Ihr mich unterrichtet, oh großer Meister.“ Lachend griff Ran nach seinen Stäbchen. „Keine Sorge. Wir kriegen das schon hin“, meint er gutmütig. Tim spähte zwischen seinen Fingern hindurch zu ihm herüber. „Heißt das, du triffst dich nochmal mit mir?“ Ran zögerte kurz, dann nickte er und konzentrierte sich schnell auf sein Essen, um Tim nicht weiter ansehen zu müssen. Das Kribbeln in seinem Nacken ignorierte er dabei ebenso wie das Flattern in seiner Magengrube. Das Gefühl würde sicherlich verschwinden, wenn er etwas aß, denn es konnte unmöglich etwas anderes als Hunger sein. Und es hatte ganz sicherlich nichts mit dem Rotschopf mit den kristallblauen Augen zu tun, der ihm da gegenübersaß und versuchte, ein Fleischklößchen auf sein Stäbchen zu spießen, das ihm vorher schon zweimal vom Teller gerollt war. Als alle Schüssel und Teller geleert waren, schob Tim den Teller von sich. Ran begann, das Geschirr wieder in die korrekte Anordnung zu bringen. Als er aufstehen wollte um zu bezahlen, hielt Tim ihn zurück. „Darf ich dich einladen?“ Ran zögerte. „Ich … warum?“ „Einfach so. Weil du mir so geholfen hast. Mit dem Job und so.“ Ran fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken. Tim hatte angedeutet, dass er nicht viel Geld hatte. Er selbst hatte dieses Problem nicht. Es wäre unfair, sich auf Kosten des anderen aushalten zu lassen. „Ich sehe schon, du willst nicht. Aber es würde mir wirklich viel bedeuten. Also bitte, darf ich?“ Ran zögerte noch einen Augenblick, dann lächelte er und nickte. „Aber nur dieses Mal. Das nächste Mal lade ich dich ein.“ Tim grinste und reckte den Daumen nach oben. Er ging, um die Rechnung an der Kasse zu begleichen. Als er wiederkam, hatte er einen Zettel in der Hand. Er reichte ihn Ran. „Hier, das ist meine Handynummer. Vielleicht ... vielleicht meldest du dich ja, wenn es bei dir mal passt.“ Ran blickte auf den Zettel, als hielte er das achte Weltwunder in Händen. Er hätte Tim auch gerne seine Nummer gegeben, aber eine Stimme warnte ihn gerade noch rechtzeitig davor, dass das zu Komplikationen führen könnte. So zog er entschuldigend die Schultern hoch. „Ich habe meine Nummer leider nicht dabei. Ein neues Handy. Ich … ich weiß die Nummer noch nicht auswendig.“ Tim lachte und winkte ab. „Du hast ja meine Nummer. Ich verlasse mich darauf, dass du sie auch benutzt.“ Er schulterte seinen Rucksack, legte die Hände vor der Brust zusammen und verbeugte sich. „Ran-sensei, ich danke Ihnen für Ihre Zeit.“ Ran war so perplex, dass er nicht einmal daran dachte, den Gruß zu erwidern, bevor Tim sich bereits umgedreht und zur Tür hinaus verschwunden war. Nachdenklich drehte er den Zettel in seinen Händen. Er würde sich eine wirklich gute Geschichte ausdenken müssen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)