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Fortune Files

von

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Alex 1: Wenn sich ein Diener verliebt

„Nächsten Mittwoch wird ein neues Mitglied zu uns stoßen. Sie ist keine von uns, deshalb gelten ab sofort neue Regeln für euch. Nummer eins, niemand unterhält sich mehr über Angelegenheiten, die nur Vampire wissen können. Nummer zwei, jeder von euch verhält sich unserem neuen Mitglied gegenüber freundlich und Nummer drei, keiner von euch macht sich an sie ran, verstanden? Ich sehe da vor allem dich an, Peter”,

waren die Worte unseres Chefs Rova, kurz bevor er das wöchentliche Meeting beendete. Peter, mein Kumpel, der neben mir saß, hob nur die Schultern und Augenbrauen im Einklang, was nicht so gut ankam.

Rovas Aura war unmissverständlich verärgert. Ihm so ignorant zu begegnen, war eine ziemlich dämliche Idee, aber was erwartete ich auch, war ja schließlich Peter. Wie er es so gern tat, wenn er wütend war, knallte Rova seine Faust so heftig auf den Tisch, dass dieser sich von der Wucht des Aufpralls direkt ein Stückchen anhob und verschob. Da jeder der anderen zehn anwesenden Mitarbeiter schon wusste, dass dies passieren würde, hatten sie ihre Arme und Hände zuvor von der Tischplatte genommen, inklusive mir.

Rovas Nichte Sari grinste mich schelmisch an, als wolle sie mir sagen, dass sie dasselbe dachte wie ich. Ich konnte nichts dagegen tun, dass einer meiner Mundwinkel nach oben zuckte. Ihr hübsches, so unschuldig wirkendes Gesicht zauberte mir in den unmöglichsten Situationen ein Lächeln auf die Lippen. Dabei hatte sie es noch faustdicker hinter den Ohren als Pete, den Rova nur aus einem bestimmten Grund im Auge behielt. Peter hatte den Fehler begangen, Sari schon an ihrem ersten Tag beim SOLV vor einem Jahr so heftig anzugraben, dass es jeder mitbekam. Sari fand es toll, ...Rova weniger.

„Komm nachher zu mir, Peter! Wir klären das unter vier Augen”,

befahl der Chef, der in solchen Situationen gern mal den Herrscher raushängen ließ, legitim für einen direkten Nachkommen des Grafen. Ehrlich gesagt, fand ich seine Einstellung gut, denn nur auf diese Art war Disziplin in diesen Haufen übermütiger Vampire zu bringen. Jeder hier fürchtete sich vor seinen Launen, war es doch ein Leichtes für ihn, uns alle ohne Mühe mal eben auszuradieren. Gerüchteweise sollte er schonmal seine gesamte Dienerschaft an nur einem Tag ausgelöscht haben. Es war schon nicht ganz ungefährlich bei ihm, aber das war es wert. Unter ihm zu dienen, war die Spitze der Karriereleiter. Offiziell beschäftigte der Lucard inzwischen zwar keine Diener mehr, dafür aber Angestellte, die er nicht groß anders behandelte. Manche rutschten durch Beziehungen hinein, wie Pete, andere, wie ich, hatten es sich hart erarbeitet. Meiner Ausbildung und Behandlung nach, betrachte ich mich also dennoch als Rovas Diener.

In Peters Haut würde ich nun nicht stecken wollen. Dieser leichtfertige Trottel hatte sich dieses Schlamassel aber auch selbst zuzuschreiben. Wer war schon so fahrlässig und forderte einen jähzornigen Hochadligen heraus?

Robert-Valentin Lucard war ein Mann, der die Geschicke der Vampirgesellschaft so stark beeinflusste, dass ich ihn als dessen Führer betrachtete. Er war aber auch ein Mann, den all seine direkten Untergebenen mit dem Kosenamen Rova ansprechen und duzen durften, naja eigentlich sogar mussten. Der Grund lag wohl darin, Externe leichter von seinen Leuten unterscheiden zu können, denn bei den meisten dauerte es Monate, bis ihnen diese intime Ansprache für einen Erhabenen wie ihn über die Lippen bekam. Ich hatte es ironischerweise direkt drauf, obwohl mir auf der Akademie eingebläut wurde, meinem Herrn stets respektvoll gegenüberzutreten und ihn tief gebeugt im Pluralis Majestatis anzusprechen. So einen Firlefanz erwartete Rova gar nicht.
 

Die Versammlung löste sich auf, die meisten verließen die Villa und gingen nach Hause. Ich blieb noch, denn ich wartete auf Peter, mit dem ich in einer Chaos WG wohnte und der sich gerade bei seiner Privataudienz eine Abreibung holte. Da Sari mit Rova gemeinsam in der Villa lebte, wartete sie mit mir gemeinsam auf ihn.

„Was'n Vollhonk”,

sagte sie enttäuscht und strich sich dabei ihr volles, lockiges Haar aus dem Gesicht. Wieder lächelte ich sie ganz unbeabsichtigt an, fragte sie aber direkt:

„Für wen veranstaltet Rova so einen Aufriss? Er sagte 'sie' und dass wir nicht über Vampirkram quatschen sollen. Es scheint wohl um eine Menschenfrau zu gehen. Ich steig nicht durch, was er mit so einer will.”

Sari lachte vergnügt, setzte sich geschwind auf meinen Schoß und begann mir am T-Shirt herumzufummeln. Ich liebte und hasste es zugleich, wenn sie das tat, denn ich wusste genau, dass sie sowieso nichts für mich empfand.

„Was glaubst du, was Super-Sari geniales vollbracht hat? Ach, du kommst eh nicht drauf, deshalb sag ich's dir. Sie hat Elisabeths Reinkarnation gefunden”,

posaunte sie stolz heraus, worauf ich verständnislos die Augen zusammenkniff.

„Elisabeths Reinkarnation?”

So wie sie auf mir herumwackelte, freute sie sich über meine Nachfrage.

„Elisabeth Lucard, Rovas Frau, die vor hundert Jahren irgendwo in der Villa umkam und wegen der er immer noch hier seinen Wohnsitz hat. Klingelt es jetzt bei dir? Sie war mächtig genug, eine Reinkarnation hervorzubringen und den Legenden zufolge, entfernen die sich nie weit von ihrem Todesort, deshalb haben wir hier nach ihr gesucht. Aber nicht er hat sie gefunden, sondern ich. Er wird mir so dankbar sein, wenn er sie das erste Mal gesehen hat. Sie ist wirklich toll, super süß und lieb. Diesmal wird er mir ein Lächeln schenken, ganz bestimmt, so ein gutes Mädchen, wie ich bin.”

„Schaffst du dir damit nicht eine Konkurrentin?”,

fragte ich, da ich keine Vorstellung hatte, was in ihrem blond gelockten Kopf so vorging. Viel schien es nicht zu sein. Gefühlvoll schob sie ihre Hand unter mein Shirt und fing an, mir über den Bauch zu streicheln. Mir war klar, was sie von mir wollte.

„Ach Alex, als ob mich das stören würde. Er steht doch eh nicht auf mich. Ich kann mich nackt auf ihn draufsetzen und es passiert nichts. Glaub mir, ich hab das schon probiert.“

Na, das glaubte ich ihr sogar aufs Wort.
 

Endlich kam Pete in den Saal gewankt. Er war leichenblass und sprach auch nicht, was untypisch für ihn war. Sari ließ von mir ab, sprang sofort von meinem Schoß und eilte zu ihm, um ihn zu stützen.

„Oh nein, Hase!”,

rief sie, während sie ihre Hand auf seine ein wenig blutende Brust drückte. Unser Chef machte eben keine halben Sachen, wenn er jemanden einschüchtern wollte. Da das bei Pete nicht allzu schwer war, hatte er auch nur diese eine kleine Wunde. Mich würde Rova mit sowas nicht klein kriegen, aber ich wollte es auch nicht drauf ankommen lassen.

Die beiden setzten sich zunächst zu mir an den Tisch. Ich fragte meinen zugerichteten Kumpel, was genau los gewesen sei, worauf er leise mit leerem Blick antwortete:

„Das Mädel, das nächste Woche herkommt, sprech ich bestimmt nicht an.”

Sari seufzte und nahm ihn in die Arme, damit er sich etwas erholen konnte. Ich hob nur eine Augenbraue.

„Okay, ich seh da ehrlich gesagt auch kein Problem drin.“
 

Der besagte Mittwoch kam und ich spürte die Spannung, die in der Luft lag. Alle Mitglieder saßen wie angeleimt auf ihren Plätzen an der langen Tafel, an dessen Stirnseite Rova hätte sitzen sollen, doch er ließ mal wieder auf sich warten. So lange, bis sogar schon Sari mit dem neuen ominösen Mitglied, das Elisabeths Reinkarnation sein sollte, in der großen Flügeltür auftauchte.

Ich hatte keine großen Erwartungen, schließlich war sie nur irgendein Menschenmädchen, von denen es Hunderttausende gab, doch krasser hätte ich mich da nicht verschätzen können. Es war, als bekäme ich eine Art Schock, als ich das Mädchen an Saris Seite wahrnahm. Adrenalin pumpte sich durch meine Adern, wie niemals zuvor beim bloßen Anblick einer Person, dabei gab es bei flüchtiger Betrachtung nicht einmal einen sinnvollen Grund dafür.

Sie erschien mir, in ihrer blauen Jeans und ihrem beigen Top, erst wie eine graue Maus, aber es war nur ihre Kleidung, die nichts hermachte. Das zarte Gesicht dieser jungen Fremden fesselte meinen Blick. Sie war wunderschön mit ihren glatten kastanienbraunen Haaren und ihren funkelnden blauen Augen. Ihre Lippen und ihr Teint waren rosig, dabei trug sie nicht mal einen Hauch von Make-up. Mit grazilen Bewegungen, anmutig wie ein Schwan, rundete sie ihre faszinierende Erscheinung ab. Ich musste sie einen Moment lang vernarrt angestarrt haben, bevor ich wieder aufwachte und mich fragte, was mit mir los war.

Ich zwang mich wegzusehen und fragte mich, seit wann eine hübsche Frau so eine Reaktion in mir auslöste. Die meisten Vampire sahen gut aus und es gab auch echt hübsche Menschenfrauen, aber das hob mich nie besonders an. Eigenartigerweise ließ ihre Wirkung immer noch nicht nach, auch nachdem ich den Blick abgewendet hatte. Erst dadurch bemerkte ich, dass es ihr Duft war, der mich so dermaßen betörte. Ihr lieblicher Geruch wurde nach wenigen Minuten schon so heftig, dass ich mir die Hand vor den Mund halten musste, um ihr nicht meine Fangzähne zu zeigen, die sich schon für einen Biss bereitmachten. Leider war nicht nur mein Appetit angeregt, sondern mein ganzer Körper, ziemlich unangenehm während eines Meetings. Ich war kurz davor zu flüchten, als sich die beiden Mädels ein ganzes Stück entfernt von mir an die Tafel setzten.

Es war zu spät das Weite zu suchen, denn nun betrat auch Rova den Raum. Er machte einen auf Obermacker und ging kaum auf dieses besondere Mädchen ein, das sich als "Lyz" vorstellte. Das war echt clever von ihm, denn würde er sich gleich an sie ranschmeißen, käme das ziemlich verzweifelt rüber, oder so, als sei er nicht wählerisch, zwei Eigenschaften, die niemand ausstehen konnte. Alternativ dazu entsprach sie vielleicht auch gar nicht seinen Vorstellungen, mein persönlicher Favorit, denn dann hätte ich mich an diesen Leckerbissen heranmachen können. Bei diesem Gedanken bildete sich ein gieriges Lächeln heraus, das zum Glück von meiner Hand verdeckt wurde.
 

Irgendwie überstand ich die Beratung, ohne aufzufallen, allerdings mit dem Nachteil, nicht bei der Sache gewesen zu sein. Ich war echt erleichtert, als dieses Menschenmädchen aus der Tür verschwunden war, auch wenn sie eine erregende Duftspur hinterließ. Ich hatte keinen Plan, was genau mich da so heftig mitgerissen hatte. Wenn es ihr Blut war, dann roch es nicht wie welches, das ich kannte. Ich riss alle Fenster auf, weil ich es kaum ertrug.

Sari kam irgendwann fröhlich aus Rovas Zimmer zu mir an die lange Tafel.

„Er hat mich zwar nicht angelächelt, aber er ist mehr als zufrieden. Mann, bin ich happy!“,

rief sie mir erheitert zu. Da ich auf den Tisch gelehnt war, konnte sie sich nicht wieder auf meinen Schoß setzen, was Absicht war, denn sie musste ja nicht gleich alles mitbekommen. Sie störte sich nicht daran, ließ sich neben mir auf der Tischplatte nieder und strich mir sanft durch meine langen, schwarzen Haare.

„Ich bin so gut aufgelegt, lass uns ein bisschen rummachen!“

Da ich ein ganz anderes Mädchen im Kopf hatte als sie, reagierte ich gar nicht.

„Was ist denn los? Du warst beim Meeting schon so komisch“,

fragte sie einfühlsam, ohne einem Fünkchen Missmut. Ich lehnte mich nach hinten, sagte aber nichts, sondern sah sie nur ausdruckslos an. Sie schien nun zu merken, dass es mir dreckig ging und setzte sich hinunter auf einen Stuhl neben mich.

„Du bist ja total neben der Spur. Erzähl, was los ist! Sonst hörst du mir immer zu, wenn ich Probleme habe, heute bin ich dran, okay?“

Sanft lächelnd legte sie eine Hand auf meinem Unterarm ab und streichelte zart hin und her. Ich fand es schon echt lieb von ihr, mich, der auf der Stufe eines Diener stand, nach so etwas zu fragen. Natürlich war ich nicht auf sie als Zuhörerin angewiesen, konnte ich doch auch meine Mutter anrufen, die immer Rat wusste. Ich ging trotzdem auf Sari ein, denn es klang nicht wie eine Bitte.

„Es ist wegen der Neuen.“

„Sie ist echt süß, was? Ich finde sie richtig toll und du? Ich meine, wär ich ein Kerl, dann raaawr“,

scherzte sie, als ob sie etwas ahnte. Da ich nichts sagte, quasselte sie einfach weiter.

„War natürlich krass, dass sie ausgerechnet beim ersten Treffen ihre Monatsblutung haben musste. Ich fand es unbedenklich, weil wir es wegen den Blutabnahmen alle gewöhnt sind, aber bei ihr war es schon einen Tick stärker. Sie hat einen ziemlich seltenen Geruch. Bisschen nach Rose? Toll auf jeden Fall. Rova ist stolz auf euch, dass ihr alle so anständig geblieben seid.“

„Stolz? Auf uns? Das soll er gesagt haben?“

„Ha, nein, aber er hat nicht geschimpft. Das ist dasselbe wie stolz auf euch zu sein“,

kicherte sie.

Es war also doch der Duft ihres Blutes. Normalerweise machte es mir nichts aus, Blut zu wittern. Außer ein bisschen Hunger, löste es nichts in mir aus. Das war auch immens wichtig, wenn ich Menschen Blut abnahm.

„Ich hab es kaum ausgehalten. Dieser Geruch hat mich total weggehauen. Das hab ich noch nie erlebt“,

Unwillkürlich fletschte ich mit den Zähnen, was sie interessiert beäugte.

„Wow, ich glaub, sie ist das, was für Lisa der Glatzkopf ist. Weißt du noch, wie sie abging, wenn sie ihn gewittert hat?“

„Was mach ich jetzt?“,

fragte ich, mir überfordert wieder an den Mund fassend, um meine Zähne zu verdecken, weil mir diese Triebhaftigkeit echt peinlich vor ihr war.

„Na nix. Du darfst dich ihr eh nicht nähern, also liegt das doch auf der Hand. Ich kann dir sagen, wenn sie ihre Blutung hat, dann kommst du an dem Tag einfach nicht zur Beratung.“

Für diese einfache Lösung brauchte sie kaum nachzudenken, kein Wunder. Ich nickte kurz und versuchte dabei zu verdrängten, dass ich das genaue Gegenteil wollte.

„Haben wir das geklärt? Ich mag es, wenn du so erregt bist. Kannst du versuchen, das auf mich zu lenken?“

Ohne große Umschweife war sie nun wieder zu ihrer ursprünglichen Intention zurückgekehrt. Es war lieb von ihr gewesen, mich aufzubauen, bevor sie meine Dienste einforderte. Ich wusste, dass das für eine Frau ihres Ranges nicht selbstverständlich war. Sie war eine Lucard Prinzessin und ich nur ein Diener, wenn auch nicht ihrer. Ich erhielt schon mehr, als ich erwarten konnte, deshalb sollte ich mich auch nicht über sie beschweren.

Alex 2: Wenn ein Diener in ein fremdes Mädchen vertraut

Ich brauchte kein Hellseher zu sein, um zu bemerkten, wie sehr der Chef auf das Menschenmädchen abfuhr. Schade eigentlich. Seit sie uns das erste Mal mit ihrer Anwesenheit beehrt hatte, war er wie ausgewechselt. Ich hatte ihn noch nie so wenig schimpfen gehört. Selbst als Olivia, eine meiner Kolleginnen, keine Antwort auf irgendwelche Ungereimtheiten in den letzten Bilanzen vorweisen konnte, beherrschte er sich und bat sie nur, auf Ursachensuche zu gehen.

Dasselbe war schon einmal vor einem Jahr passiert. Er vermutete damals, sie könne selbst dahinterstecken, was in einer seiner „Audienzen“ endete, so wie jüngst bei Peter. Keiner kam aus einem solchen Vieraugen-Gespräch als die Person wieder heraus, als die er es betreten hatte. Oftmals hätte wohl auch nur eine einfache Standpauke ausgereicht, doch Rova ließ es sich niemals nehmen, unfolgsames Verhalten auch körperlich zu züchtigen. Manchmal wunderte ich mich darüber, wieso ihm trotzdem immer wieder genügend Gründe geliefert wurden, damit er seine Bestrafungen durchführen konnte. Mein bester Erklärungsversuch lautete, dass Gehorsam nicht wirklich in unserer Natur lag, zumindest in der anderer Vampire, schließlich hatte ich mir noch nie etwas zu Schulden kommen lassen.

Neben den ausbleibenden cholerischen Anfällen fiel mir noch etwas anderes auf. Mein Herr, den ich bisher nur in drei Stimmungsvarianten kennengelernt hatte: gelangweilt, genervt und verärgert, oder auch alle drei gleichzeitig, lächelte, wenn dieses Mädchen bei uns war. Ich hatte mich bei meinen älteren Kollegen umgehört, ob sie das bei ihm schon mal erlebt hätten. Er schien die Dienerschaft oft zu wechseln, denn am längsten dabei war besagte Olivia, mit gerade einmal fünf Jahren, doch auch sie war erstaunt.

„Unser Herr ist unnahbar. Stell nicht zu viele Fragen, sonst bist du der Nächste, der bei ihm vorsprechen darf“,

warnte sie mich. Damit gab ich mich nicht zufrieden. Es musste doch etwas über ihn herauszufinden sein. Ich suchte nach ehemaligen Untergebenen, die ich nach ihm befragen konnte. Die meisten lehnten es von vornherein ab, aber schließlich fand ich zwei, die noch in der Nähe wohnten und einen, mit dem ich telefonischen Kontakt aufnehmen dufte, … über eine verschlüsselte Leitung, weil er befürchtete, abgehört zu werden. Die Gespräche, die ich führte, waren unerwartet krass. Rovas frühere Diener waren auch nach Jahrzehnten noch eingeschüchtert, denn vor ihrem Rauswurf schien er jeden ein letztes Mal zu disziplinieren.

Das erste Mal in meinem Leben sah ich eine Narbe an einem Vampir. Einer meiner Interviewpartner zeigte scheu auf die alte, aber noch deutlich sichtbar vernarbte Wunde an seinem Oberarm, die er schnell wieder unter der Kleidung versteckte. Sie war nur einen Zentimeter groß und sah aus, als wäre irgendetwas tief in sie hineingebohrt wurden. Ich musste schwören, niemanden davon zu erzählen. Erst danach war er bereit, mir zu berichten, dass Rova eine Chemikalie dazu verwendet habe, um diesen bleibenden Schaden überhaupt hinterlassen zu können.

Spätestens an dieser Stelle wurde mir klar, dass ich es mir mit meinem Herrn nicht verscherzen durfte. Auch die anderen Lucards schienen privat nicht weniger brutal zu sein, wenn ich den Worten meiner Telefonquelle Glauben schenken durfte. Ich dachte kurz darüber nach, wie einfach mein Leben in meiner Heimat bei den Don Velas in Soria gewesen wäre. Mal ein bisschen Wache schieben oder den Chauffeur spielen, dafür auch noch mit Respekt behandelt werden und das alles in einer der idyllischsten Städte Europas. Aber… nein, das war so überhaupt gar nichts für mich. Ich war beim Hochadel schon ganz gut aufgehoben. Wer, wenn nicht ich, oder?

Für einen so mächtigen Mann wie Rova war ich natürlich nur ein kleiner Fisch und trotzdem verband uns etwas ganz Entscheidendes: Ein leidenschaftliches Verlangen nach demselben Menschenmädchen. Das war nicht unbedingt die hilfreichste Parallele. Ein Diener durfte die Liebste seines Herrn bewundern, aber nachsteigen sollte er ihr nicht. Ich fasste den Entschluss, dass es nicht so weitergehen konnte. Dieses duftende, unwiderstehliche Wesen musste ganz schnell wieder aus meinem Schädel heraus, denn sie bedrohte meine ganze Karriere, alles wofür ich bisher gearbeitet hatte. Das sagte auch meine Mutter, der ich alles am Telefon gestand.

„¡Olvida a esta mujer!“,

wiederholte sie dauernd, was so viel hieß wie:

„Vergiss diese Frau!“
 

Mit großer Mühe versuchte ich, den Rat meiner Mutter umzusetzen. Ich mied die direkte Konfrontation mit Lyz und hielt mich so wenig wie möglich in einem Raum mit ihr auf. Seit sie diese kurzen, weißen Kleidchen trug, fiel es mir nur leider noch schwerer, meine Augen von ihr zu lassen. Sie wirkte damit so unschuldig und trotzdem etwas frech. Warum musste sie es mir denn so schwer machen?

Im völligen Kontrast zu meiner Zielstellung, erwischte ich mich in letzter Zeit immer öfter dabei, mir eine Tätigkeit zu suchen, bei der ich Lyz heimlich im Blick hatte. Einmal beobachtete ich sie während einer Blutspendeaktion aus dem Fenster heraus. Gemeinsam mit der aufgeweckten Sari, sprach sie Passanten auf der Straße an, um diese zum Spenden zu animieren. Mir war inzwischen sogar etwas Neues an ihr aufgefallen, nämlich dass sie in ihren eleganten Bewegungen noch etwas anderes als Anmut transportierte: eine versteckte Melancholie. Manchmal, wenn sie glaubte, unbeobachtet zu sein, da sah ich ihre traurigen Augen, die ein anderes Bild von ihr zeichneten, als das sie uns Glauben machen wollte. Verdammt, ich wollte sie kennenzulernen. Neugier, Erregung und Pflichterfüllung schlugen eine epische Schlacht in mir, die mich vollkommen mitriss. Was für ein beschissenes Chaos!

Ich fuhr geschockt ich mich zusammen, als Peter mir auf die Schulter boxte.

„Alter, heute war Sari auch schon bei dir? Ey, geht's noch? Kannst du mir vielleicht mal was übriglassen?“

„Hä, woher weißt du...?“,

stammelte ich und bemerkte, dass meine Haare geflochten waren. Das war eine von Saris Angewohnheiten, die sie bei jedem Mann hatte, mit dem sie Zugange war. Ich griff in meinen Nacken, holte meinen Zopf nach vorn und begann ihn geistesabwesend zu entzwirbeln. Normalerweise tat ich das immer sofort, ganz anders als Pete, der sich extra eine längere Locke hatte wachsen lassen, die er stolz mit einer Tonne Haarspray fixierte, nachdem sie bei ihm war.

„Glotz ihr wenigstens jetzt nicht auch noch so hinterher, du notgeiler Sack! Maaann, was hast du mit ihr angestellt?“

„Ich seh halt einfach besser aus als du Windhund“,

konterte ich. Immerhin ließ ich mich doch nicht dumm von der Seite anmachen. Er aber auch nicht.

„Am Arsch vielleicht, Idiot! Ich mein das ernst. Was hast du gemacht, damit Sari so auf dich abfährt?“

Ich hatte nicht vor, zu antworten. Ihn nervte es wahrscheinlich tierisch, dass ich ihn nicht ansah, sondern immer noch aus dem Fenster starrte, selbst als er mich am Arm packte und daran rüttelte. Er musste meinem Blick gefolgt sein, denn ihm ging ein kleines Birnchen in seinem ansonsten düsteren Oberstübchen auf.

„Aaaalter, es geht gar nicht um Sari. Bist du jetzt total hirnverbrannt? Du weißt doch, was der Chef gesagt hat!“

Sari hatte sich gerade auf den Weg nach drinnen gemacht, doch ich starrte trotzdem noch zum Gehweg, auf dem nur noch Lyz stand. Ich Vollidiot hatte mich verraten. Auch wenn das ziemlich scheiße war, blieb ich ruhig. Pete mochte viele miese Eigenschaften haben, aber eine hatte er nicht. Er plauderte Geheimnisse nicht aus, naja, zumindest, solange man ihm keine Gewalt androhte.

Ich seufzte und ging nicht weiter auf ihn ein, aber er hörte ohnehin auf zu fragen. Damit wollte er absolut nichts zu tun haben.
 

Sari hielt mich nach der Arbeit immer öfter davon ab, direkt nach Hause zu verschwinden. Pete hatte recht, sie wurde in der letzten Zeit immer anhänglicher, ausgerechnet, wo mein Interesse an ihr sank. Ohne, dass ich sie zu fragen brauchte, begründete sie, mein Sexappeal sei gestiegen, seit ich die Neue kannte, was sie auch immer damit meinte.

Einmal bestellte sie mich sogar am Sonntagnachmittag in die Villa. Dass sie es nicht mal zwei Tage am Stück ohne mich aushalten konnte, fand ich schon seltsam, aber Befehl war Befehl, selbst wenn diese Art von Dienst von meinen eigentlichen Idealen abwich.

Als ich den Versammlungssaal betrat, wunderte ich mich, wo sie abgeblieben war. Üblicherweise rannte sie mich sonst immer schon überschwänglich an der Tür über den Haufen. Mein Handy vibrierte unmittelbar und benachrichtigte mich, dass sie von einer kurzen Reise wiederkäme und sich leicht verspätet habe.

Ich setzte mich auf einen dieser alten, verzierten Holzstühle, zog meine schwarzen Schnürstiefel und die Socken aus und legte die Füße auf den antiken Mahagonitisch, der uns als Tafel diente. Ich hatte ja keine Ahnung, dass sie mit „leicht verspätet“ diesmal nur eine Viertelstunde meinte. So wie ich sie kannte, hätte das gut und gerne eine Ganze sein können.

Vollkommen abgehetzt kam sie durch die Haustür. Ohne die Zeit zu haben, meine Schuhe wieder anziehen zu können, lief ich sofort zu ihr, denn sie schickte mal wieder ihren Chauffeur nach Hause, noch bevor er die Villa betreten konnte. Sie polterte ganz allein mit einem großen Koffer herum, dessen Rollen sie über die Schwellen zog. Ich wollte ihn ihr sofort abnehmen, doch als sie mich sah, ließ sie ihn los, sodass er mit einem dumpfen Knall umfiel.

„Aaaalex, Liebling!“,

rief sie überglücklich und fiel mir wie gewohnt um den Hals. Ich musste die Nase rümpfen, denn sie roch nach einem anderen Mann, einen, den ich sogar zuordnen konnte... Rovas Bruder Vicco. Nichts störte mich mehr an ihr als ihr unstetes Verhalten, aber es schmerzte mich nicht mehr so stark wie früher.

„Weißt du, wo ich war?“,

posaunte sie stolz, worauf ich seufzend antwortete:

„Kann's mir denken.“

„Ohhhh!“,

kam es nur von ihr. Ich hatte mich von ihr gelöst und abgewandt, hob den Koffer auf und trug ihn barfuß die knarzenden Holzstufen nach oben. Sari konnte es nicht lassen, um mich herumzuspringen wie ein junges Reh… auf Speed.

„Ich hab es nicht geschafft, nochmal zu duschen. Du weißt doch, wie er ist. Trotzdem legt das die falsche Fährte. Ich war nicht in Manama, sondern Zuhause in Argisch.“

Wenn sie in Argisch in der Walachei bei ihrem Vater David-Richard war und nicht in der Hauptstadt von Bahrain bei ihrem Onkel Victor-Constantin, ließ das nur einen Schluss zu.

„Also hat Vicco seinen Bruder besucht? Naja, soll mir recht sein. Komm nur nicht auf die Idee, mich in deinem Zustand anfassen zu wollen.“

Sie öffnete mir die Tür zu ihrem unerwartet aufgeräumten Zimmer. Da mussten ein paar fleißige Bienchen übers Wochenende am Werk gewesen sein, denn Sari war eher der unordentliche Typ. Sie warf ihre rote Jacke in hohem Bogen auf das gemachte Bett und fing an, sich ihr rot, goldenes Kleid mit Paisley-Muster am Nacken aufzuknöpfen, während sie sprach.

„Kann man so sagen. Ich hab ihn vorher eingeladen. Ich fand es nur fair, auch Vicco von Lyz zu erzählen. Immerhin war Elisabeth zuerst seine Frau, bevor sie die von Rova wurde. Aber bei Graf Griesgram in Crow Castle war ich nicht. Er sieht mich immer so komisch an, dass ich Gänsehaut kriege, brrr. Dabei bin ich ganz lieb und folge ihm aufs Wort. Familie über alles und so.“

Sie schüttelte sich bei dem Gedanken an ihren Großvater Graf Alucard, dem legendären Urvampir. Ich fragte mich, ob auch ich einmal die Ehre haben würde, ihn mit eigenen Augen sehen zu dürfen. Verdammt, wäre das genial.

Sari schob sich die blonde Lockenmähne nach vorn auf die Schulter und drehte sich mit dem Rücken zu mir. Ich verstand, dass ich ihr die Knopfleiste ihres Kleides öffnen sollte. Bevor ich auf Lyz getroffen war, fand ich es erotisch, wenn sie so mit mir spielte, aber diese Zeiten waren vorbei, besonders bei dem ekelhaften Gestank, den Sari verströmte.

„Duschst du mit mir?“,

fragte sie mit niedlich verstellter Stimme. Natürlich war das keine Bitte. Sie hasste es, sich die Haare selbst waschen und kämmen zu müssen, deshalb übernahm ich das hin und wieder. Sie ließ ihr Kleid über die Schultern nach vorn zu Boden gleiten. Anschließend drehte sie sich um die eigene Achse und trat aus dem Kleidungsstück heraus. Nur noch mit ihrem ziemlich knappen Slip bekleidet stand sie vor mir und sah mich erwartungsfroh an. Ich mochte dieses Mädchen unfassbar gern, doch sie hatte mir einmal zu oft gezeigt, wie austauschbar ich war. Ich machte mir nicht die Mühe, meine Verstimmung vor ihr zu verbergen.

„Nix los in der Hos?“,

kicherte sie erst, zeigte dann aber ein gewisses Verständnis.

„Seit wann bist du so eifersüchtig?“

„Ich kann den Typen einfach nicht ab“,

gab ich nur zurück. Sie zupfte an meinem Shirt, damit ich es selbst auszog. Meinen Wunsch, nicht von ihr angefasst werden zu wollen, schien sie zu respektieren. Danach zupfte sie an meiner Hose herum, das ungeduldige Ding.

„Also, ich finde, er ist unglaublich charmant und sooo gutaussehend. Wenn er mich nicht immer wieder wegschicken würde, wenn wir miteinander fertig sind, wäre ich jetzt nicht hier, das sag ich dir. Aber ich mache mir da keine Hoffnungen mehr. Mit meiner Unschuld ließ er sich nicht kaufen, also wird es wohl niemals klappen. An Elisabeth reiche ich eben nicht heran“,

schwärmte sie von ihrem Onkel Vicco, der sie nach Strich und Faden ausnutzte. Verdammt, ich hasste den Typen wirklich. Ziemlich unbedacht rutschte mir die unverblümte Wahrheit heraus. Sari war so süß und naiv, dass ich mich ihr gegenüber manchmal echt nicht im Griff hatte.

„Schonmal dran gedacht, dass dich Rova nicht ranlässt, weil du immer noch seinen Bruder vögelst?“

Geschockt und amüsiert zugleich stand sie mit offenem Mund vor mir. Sie sprachlos zu machen, war schon eine hohe Kunst. Ihr Hirn schien zu rattern, aber übel nahm sie es mir wohl nicht. Sie blickte kurz an mir herunter und war anscheinend zufrieden damit, obwohl sich immer noch nichts regte. Dann machte sie einen Satz hinter mich und schob mich nach draußen auf den Gang. Nackt, wie ich war, ging es in Richtung Badezimmer, im besten Timing überhaupt. War ja klar, dass der Hausherr ausgerechnet in diesem Moment die Treppen nach oben kommen musste.

„Oh nein…“,

fiepte Sari hinter mir, die schon ahnte, dass das Rova nicht gefallen würde. Gelangweilt blickte er zu uns hinauf.

„Gib mir beim nächsten Mal vorher Bescheid, wenn du auf Vicco triffst. Es gäbe noch die ein oder andere Sache, die ich mit ihm abzuklären hätte“,

war alles, was er von sich gab. Auch er musste die Duftmarke an ihr überdeutlich wittern. Auf mich ging er gar nicht ein, sondern lief danach die letzten Stufen nach oben, an uns vorbei und verschwand dann in seinem Zimmer am Ende des Gangs.

„Ups, zu langsam gewesen mit dem Duschen. Wenn du recht hast, hab ich mir jetzt selbst ein Bein gestellt… naja, was soll's. Umso schöner wird es gleich mit dir sein, mein heißer Torero, hihi.“

Dieser unverbesserliche Sonnenschein fing schon wieder an, meine Haare zu flechten. Ich konnte ihr einfach nicht böse sein... Sie brauchte mich nur mit ihren großen hellbraunen Augen anzustrahlen und schon vergaß ich meinen Kummer. Diese besondere Fähigkeit, war meiner Meinung nach unter adligen Vampiren einmalig. Ich kannte jedenfalls keinen zweiten Hochgeborenen, den eine ähnlich liebenswerte Aura umgab.

In mir blitzte der Gedanke auf, bei meinem Problem auf Saris Können zurückzugreifen. Wenn sie sich mit mir kleinem Dienerchen über die furiosen Lucard Brüder hinwegtrösten konnte, musste das doch auch andersherum für mich klappen. Hatte sie das nicht sowieso vorgeschlagen? … Oder, war es sogar genau das, was wir taten? Ließ ich nicht die ganze Zeit schon an ihr raus, was Lyz in mir weckte? Mann! Dass mir das erst so spät auffiel!

Leider blieb mir keine Zeit, es mit Sari viel bewusster zu genießen, denn… ich erlebte ihren magischen Effekt das letzte Mal in meinem Leben.
 

Eine Welle der Ereignisse kam ins Rollen, als Lyz ihren Austritt aus dem SOLV beantragte. Der Tag war gekommen, an dem meine neu erkorene Seelenretterin Sari in Rovas Zimmer ging und nicht mehr daraus zurückkehrte…

Ihr Verlust besiegelte mein Schicksal, denn nun hielt mich nichts mehr davon ab, auf die schiefe Bahn zu geraten.
 

Einem Schrei folgend, stürmten Pete und ich in das Zimmer unseres Herrn. Mein Denkvermögen stieg aus… Das war nicht… Das konnte nicht… Kein Heilmittel der Welt konnte das noch kurieren, dachte ich, als bereits kaum noch erkennbare Überreste von Saris Körper vor unseren Augen zu einem Häufchen Staub zerfielen. Vor mir lief ein Film ab, in dem Pete auf Lyz losging, was Rova verhinderte. Alles was mir einfiel, war Schadensbegrenzung. Wenn ich schon Lyz nicht verteidigt hatte, so konnte ich wenigstens meinem Herrn Erste Hilfe leisten.

Aus Mangel an Alternativen, ritzte ich Lyz' Arm an und verabreichte Rova ihr Blut. Trotz der unendlichen Leere, die Saris Verlust in mein Herz gerissen hatte, beherrschte mich plötzlich nur noch der Gedanke, meinen Mund an den duftenden Arm dieses Menschenmädchens zu pressen, um mir zu holen, was aus ihren Adern quoll. Scheiße, was war das für ein Abgrund in meiner Seele? Meine Tränen galten nicht mehr nur Sari, sondern auch dem Schmerz dieser Selbsterkenntnis. Nur ein triebgesteuertes, herzloses Monster konnte so etwas empfinden.

Lyz wurde ohnmächtig und Rova wies mich an, sie ins Gästezimmer zu tragen. Ein Fehler, aber Peter konnte er nicht bitten, da uns seine Aura verriet, dass er sie wahrscheinlich umgebracht hätte.

Ich funktionierte irgendwie und trug Lyz nach oben, immerzu auf ihre Schnittwunde starrend. Ihr Blut nahm mir fast die Erinnerung an das gerade erst passierte, so stark war seine Macht über mich. Ich hielt dieses kleine, leichte Mädchen mit nur einem Arm, schloss die Tür hinter mir und schlug die blütenweiße Bettdecke zur Seite. Schwer atmend, legte ich das schlafende Engelchen ab und betrachtete es kurz. Dieses Unglück konnte nicht ihre Schuld gewesen sein, unmöglich.

Aus dem Schrank holte ich Verbandszeug und setzte mich damit neben sie auf das Bett. Begierig fixierte ich ihren Arm. Ich hatte ihn leicht eingedreht auf ihrem Körper abgelegt. Penibel achtete ich darauf, dass ihr Blut nicht auf ihr weißes Kleid tropfte, doch nun war es im Begriff herunterzulaufen… dieses rote, duftende Elixier… was für eine verdammte Verschwendung...

Mein Hirn setzte erneut einen Moment lang aus!

Ich fand mich selbst dabei wieder, wie ich die Wunde nicht nur sauber leckte, sondern sogar noch genüsslich daran saugte, um an mehr zu kommen, mehr, mehr, noch mehr! Verfluchter Mist! Erneut leckte ich und saugte danach wieder. Es war belebend, erfüllend, erregend, viel besser, als ich es mir hätte je ausgemalten können.

Das konnte nicht wahr sein!

Ich, die schwarze Bestie, fiel über dieses unschuldige, weiße Mädchen her, das, wie in einem alten Vampirfilm, schlafend im Bett lag. Ich war nicht mehr als ein Tier, das seine Gier an ihr befriedigte, abscheulich, verabscheuungswürdig, triebgesteuert… todtraurig. Wie konnte ich das Sari nur antun?
 

In erregter Geilheit verschwammen meine Sinne immer wieder, doch irgendwie riss ich mich gerade noch so von Lyz' Arm los, bevor ihr meine spitzen Zähne verräterische Wunden stachen. Fuck! Das durfte nicht passieren!

Zitternd öffnete ich den Verbandskasten. Eigentlich war er zur Behandlung von Silberwunden gedacht, doch er funktionierte auch in dieser Sache. Das Skalpell ignorierte ich, nahm den Tupfer, etwas Alkohol und fuhr damit über ihre Wunde. Keine gute Idee, denn Lyz zuckte zusammen, schreckte auf, sah mich mit ihren aufgerissenen blauen Augen an und… verlor direkt wieder das Bewusstsein. Ihr labiler Kreislauf hatte mir damit den Arsch gerettet.

Ich versiegelte die Wunde mit einem Pflaster. Meine Geruchsspuren waren somit verwischt. Schwein gehabt. Nun spülte ich mir noch den Mund mit Wasser, biss mir danach selbst in den Daumen und trank ein paar Tropfen von mir, damit ich wieder nur noch nach mir selbst roch, aber nicht zu sehr nach meinem Blut. Etwas Besseres fiel mir auf die Schnelle nicht ein.

Idiot, Idiot, Idiot! Für diesen Fehltritt würde ich mit dem Leben bezahlen, wenn er ans Licht käme, das wusste ich genau. Ich hatte aber auch keine Zeit, die Spuren besser zu verwischen, denn Rova würde auch dann misstrauisch werden, wenn ich zu lange weggeblieben wäre. Immerhin konnte ich mich damit trösten, die Kontrolle über meine Zähne behalten zu haben, denn ein Biss hätte sich unmöglich vertuschen lassen. Zudem war auch meine Erektion bei der ganzen Aufregung wieder verschwunden.
 

Unverändert verwirrt, hastete ich die Stufen nach unten zu Rova, der sich auf seiner alten muffigen Couch erholte, die er aus nostalgischen Gründen nicht wegwerfen wollte. Pete hockte zusammengekauert auf dem Boden. Nun stand ich wieder Saris Überresten gegenüber und hasste mich gleich noch mehr. So schnell ließ sie sich also ersetzen? Grausam. Hoffnungslos verloren blickte ich in meinem eigenen seelischen Abgrund. Immer tiefer sinkend, strich ich über das Medaillon auf dem Staubhäufchen, das dabei noch weiter zerbröselte, während sich neue Tränen in meinen Augen bildeten. Rova ermahnte mich mit harter Stimme, die mich aufweckte.

„Beherrsch dich und komm zu mir, Alexander. Du auch, Peter.“

Ich griff mir Saris Medaillon, das sie immer um den Hals getragen hatte und steckte es mir geistesabwesend in die Hosentasche. Rova hatte währenddessen schon begonnen, Pete und mich zurechtzuweisen.

„Wenn einer von euch beiden auch nur ein Wort darüber verliert, passe ich eure Form an die ihre an. Genauso verhält es sich, wenn einer auf Racheideen kommt und ja, auch hier sehe ich vor allem dich dabei an, Peter. Habt ihr beide das verstanden?“

„Verstanden, Eure Hoheit“,

bestätigen wir im Einklang und gingen nach Hause, ohne das geringste Wort miteinander zu wechseln. Unsere beiden Auslegungen für das, was passiert war, konnte nicht unterschiedlicher sein. Peters Hass war fast greifbar. Hätte er nur ein weiteres falsches Wort über Lyz verloren, wäre ich wahrscheinlich ausgerastet. Ihr Blut gab mir einen Leistungsschub, von dem er zwar nichts wusste, den ich ihm aber nur zu gern vorgeführt hätte.

Alex 3: Ein verhängnisvoller Auftrag für einen Diener

In der Nacht bekam ich kaum ein Auge zu, so heftig wie sich die unterschiedlichsten Gefühle in mir gegenseitig jagten. Bevor ich endlich irgendwann zwischen Drei und Vier Uhr morgens einnickte, war das Vorherrschende ein Übelkeit verursachendes Schuldgefühl, das mich auch am Morgen noch quälte. Als wäre das einem Teil von mir vollkommen egal, war ich trotzdem richtig schön hart. Im Zusammenspiel fühlte sich das total bescheuert an. Das konnte mein Körper doch nicht wirklich ernst meinen.

Ich setzte mich im Bett aufrecht und fuhr mir durch die offenen, wirren Haare. Sie hatten sich mir vors Gesicht gelegt und stahlen mir mit ihrer Schwärze das wenige Licht des trüben Morgens. Die Übelkeit war so unangenehm, dass ich mir die Hand auf den Bauch legte. Obwohl mein Herz schwer wie Blei war, versteckte sich darin dieses klitzekleine, heimliche Hochgefühl, für das ich mich selbst hätte ohrfeigen können. Nur mit Mühe hinderte ich meine Hand daran, weiter an mir nach unten zu rutschen.

Seit wann war ich denn bitte so triebgesteuert? Allein an Lyz' Blut zu denken, war schon unverzeihlich und vor allem verboten, verdammt nochmal! Mein Blutdiebstahl musste eine einmalige Sache bleiben, das schwor ich mir bei Saris Ehre. Im Nachhinein betrachtet, hätte ich an diesem Morgen vielleicht besser auf die Ehre meiner Mutter schwören sollen...

Das Problem war folgendes: Einmal gekostet, war es unmöglich, diesen unvergleichlichen Geschmack wieder zu vergessen. Genau so stellte ich mir Ambrosia vor, die Speise der Götter. Für mich ähnelte es aber eher der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis. Wie schön war mein Leben, als ich noch unwissend im Paradies herumspazierte? Geiler Job, nette Kollegen und ein süßes Mädel an meiner Seite. Plötzlich hinterfragte ich meinen Herrn, hatte keine Frau mehr und musste mich von der Welt zurückziehen, damit keiner von meinem Dilemma erfuhr.

Diese ganze Scheiße ließ nur einen logischen Schluss zu. Ich musste kündigen, und zwar solange ich noch halbwegs klar denken konnte. Wenn ich weiterhin in den Diensten der Lucards bleiben wollte, gab es noch zwei realistische Möglichkeiten. Naja, eigentlich nur eine, denn um in die Dienerschaft von Rovas mittlerem Bruder Vicco zu kommen, fehlten mir eindeutig die Brüste. Davon abgesehen ging mir das Messer in der Tasche auf, wenn ich sah, wie dieser Patriarch mit Frauen umsprang. Das war einfach nur abstoßend. Beim Ältesten hingegen, Saris Vater, konnte ich vorsprechen und mein Glück versuchen. Vielleicht würde ich mein Leben auf diese Weise wieder in den Griff kriegen, ohne ernsthaften Schaden davonzutragen, … oder anzurichten. Zur größten Not gab es immer noch meine Familie und die Don Velas, die mich niemals zurückweisen würden.
 

Mit diesem Entschluss im Kopf stand ich auf und suchte die Räume der WG nach Pete ab. Er musste sich unbemerkt in der Nacht davongeschlichen haben, als ich endlich eingeschlafen war. Gar nicht gut, denn Rova würde sich nicht sonderlich erfreut darüber zeigen und mir die Schuld dafür geben. Vielleicht hatte ich damit sogar eine „Audienz“ bei ihm gewonnen, doch das machte mir weniger Sorgen als Lyz' Sicherheit. Eilig machte ich mich auf den Weg zu den beiden.

Ich erreiche die alte Villa, die einer dringenden Renovierung an der Fassade bedurfte. An diesem Tag wurde sie von einer ganzen Schar kreischender Krähen belagert, die den Eindruck des Gemäuers nicht gerade verbesserten. Außer dem Wohnbereich im Obergeschoss hatten die Lucards, oder besser Rova, alles so belassen, wie es vor Einhundert Jahren war und nur kleine Reparaturen genehmigt. Der Garten war ebenfalls eine Katastrophe. Millionen oder vielleicht sogar Milliarden auf dem Konto, aber keinen Sinn für eine gepflegte Umgebung. Vielleicht brauchte dieser Mann einen Berater, der ihm so etwas sagte, … mich zum Beispiel. Ein verrückter Gedanke, wo ich gerade zu ihm ging, um meine Kündigung einzureichen. Wäre Lyz nicht gewesen, hätte ich dieses Ziel wahrscheinlich irgendwann einmal erreichen können, doch dieser Traum rückte nun in unerreichbare Ferne.

Im Haus war es totenstill, was wohl bedeutete, dass das Dornröschen noch schlief. Das Dornröschen… dieser Vergleich gefiel mir. Sie war die Auserwählte des Prinzen und wurde immerzu in Watte gepackt wie ein richtiges Prinzesschen. Ich erwischte mich dabei, wie mir ein liebevolles Lächeln über die Lippen huschte. Dieselben Lippen, die sich nur einen Tag zuvor auf ihren blutenden Unterarm gepresst hatten. Sofort verkniff ich mir mein Schmunzeln wieder.
 

Mit einem unguten Gefühl im Bauch ging ich die Treppe nach oben und danach den Flur entlang durch den gepflegten Teil des Hauses. Ich zögerte zunächst, doch dann überwand ich mich an der Tür es Aufenthaltsraums im Obergeschoss zu klopfen. Nach einem kaum durch die Tür hörbaren „Komm rein“ von meinem Herrn, trat ich ein. Er saß allein auf der restaurierten, roten Couch, die baugleich zu der modrigen im Erdgeschoss war. Die Vorhänge waren fast vollständig zugezogen und ließen nur gedämpftes Licht hinein, was die gedrückte Stimmung unterstrich. Gerade nahm Rova eine Hand aus seinem Gesicht, als er zu mir aufblickte.

„Setz dich,“

befahl er mit weicher Stimme. Etwas verwundert nahm ich neben ihm Platz, eine große Ehre und das, obwohl ich so versagt hatte. Mein Herz zersprang fast. Zum Glück verschleierte meine Trauer um Sari alle anderen Gefühle. Rova beugte sich erneut nach vorn und verbarg sein Gesicht gleich wieder in seinen Händen. So fertig hatte ich ihn überhaupt noch nie erlebt, aber ich kannte ihn auch erst seit zwei Jahren.

„Wo ist Peter?“,

fragte er angespannt in seine Handflächen hinein. Ich antworte wahrheitsgemäß, woraufhin er enttäuscht, aber nicht überrascht, seufzte.

„Hör zu, es wird richtig schwer werden ohne… ohne Sari. Ich weiß, dass du ihr oft zu Diensten warst, wenn ich sie zurückwies, deshalb… danke ich dir, dass du dich um sie gekümmert hast.“

Rova bedankte sich niemals. Das war ein ungeschriebenes Gesetz, ebenso wie er sich niemals entschuldigte oder um etwas bat. Dass er mir eine Anerkennung dieses Ausmaßes aussprach, zerriss mir fast das Herz, nachdem ich sein Vertrauen am vorangegangenen Tag auf übelste Weise missbraucht hatte. Direkt spürte ich die Last der Schuld wieder auf meinen Schultern, aber auch, wie sehr ich diesen Mann verehrte.

Er setzte sich aufrecht und sah mir mit seinen glasigen, bernsteinfarbenen Augen direkt in die meinen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals von ihm auf diese bohrende Weise angesehen worden zu sein. Wahrscheinlich sah er bis in den tiefsten Schlund meiner Seele hinab und wollte mich mit seinen schmeichelnden Worten nur in Sicherheit wiegen, um meine Bestrafung umso schmerzhafter zu gestalten. Eindeutig musste mich dieser erhabene Hochadelige ertappt haben. Ich atmete tief ein, in Erwartung meiner Strafe, doch, … ich glaubte es nicht. Er blieb immer noch ruhig.

„Deine Familie ist für ihre Loyalität bekannt, deshalb will ich dir vertrauen. Ich habe einen Spezialauftrag für dich.“

„Ja?“,

fragte ich verunsichert darüber, ob er das Spiel nur weitertrieb oder mich vielleicht gar nicht, … nein, unmöglich. Was, wenn er mich gar nicht durchschaut hatte? Ich musste versuchen, konzentriert bei der Sache zu bleiben und ihm meine Kündigung mitteilen, bevor er mir den Inhalt des Auftrags nannte. Ich holte Luft und… ließ ihn doch weitersprechen. Meine Neugier war einfach zu groß.

„Ich glaube, Lyz hat suizidale Gedanken, aber ich werde sie trotzdem nach Hause schicken. Sie braucht ihre gewohnte Umgebung, um das Trauma zu verarbeiten. Alexander, ich will, dass du über sie wachst, aber sie soll nichts mitbekommen. Außerdem achtest du darauf, dass ihr Peter nicht zu nahekommt. Ihm traue ich absolut nicht über den Weg.“

„Aber Rova, ich…“,

begann ich meinen Satz, den ich gleich wieder abbrach. Scheiße, ich konnte nicht kündigen. Es war unfassbar. Rova hatte wirklich nichts mitbekommen und reichte mir dieses Mädchen auch noch auf dem Silbertablett. Ich fragte mich langsam, ob ich die Fähigkeiten der Lucards überschätzt hatte. Andernfalls hätte er mein falsches Spiel doch sofort durchschauen müssen. Ihm schien überhaupt nicht klar zu sein, dass Lyz in meinen Händen nicht viel sicherer war als in Peters. Danach, mich meinem Chef zu offenbaren und ihm meine geheimen Sehnsüchte nach ihr mitzuteilen, stand mir trotzdem nicht der Sinn. So weit ging meine Loyalität dann doch nicht.

„Was ist? Hast du den Auftrag nicht verstanden?“,

fragte er misstrauisch, weil ich so eine lange Denkpause eingelegt hatte. Solche Fehler waren sehr gefährlich, also versuchte ich möglichst entspannt zu wirken.

„Nein, verstanden. Was glaubst du, wie lange ich das machen muss?“

Er nickte, dachte kurz nach und antwortete anschließend:

„So lange, bis die Gefahr vorüber ist. Lyz wird hoffentlich trotzdem studieren wollen. Am besten, ich besorge dir vorsorglich einen Studienplatz. Ihr Wohl liegt mir sehr am Herzen. Du wirst nicht versagen, Alexander. Ich denke, wir verstehen uns.“

Mein Leben hing also von ihr ab. Nach dem, was ich getan hatte, war das nicht mal was Neues. Ich bestätige seine Aussage, als würde sie mich nicht anheben, aber in mir war die Hölle los, schon wieder. Verriet ich meinen Herrn eigentlich damit, seine Befehle auszuführen? Irgendwie ergab das alles keinen Sinn.

Mit dieser Anweisung machte mich Rova nun offiziell zu seinem Diener, denn zum Verein passte sie nicht und auch nicht zu meiner Tätigkeitsbeschreibung. Alles klar. Ich hatte eine neue Aufgabe, die ich mit vollem Einsatz ausführen würde. War doch nichts dabei, dass ich den Auftrag super fand. Meine Selbstsicherheit kam Stück für Stück wieder zurück, allerdings untermauert mit einem Hochmut, der für einen Diener nicht gesund sein konnte. Mich meinem Herrn in gewisser Weise überlegen zu fühlen, war neu für mich, aber auch verdammt aufregend. Nur ein Fehler in diesem Spiel konnte mich mein Leben kosten, aber seit wann war ich ein Feigling?
 

Bevor ich zum Leibwächter befördert wurde, machte mich Rova zusätzlich kurzerhand zum Spion. Keine dieser beiden Aufgaben hatte ich bisher erfüllen dürfen, ein grandioser Aufstieg, aber an Erfahrung mangelte es mir trotzdem. Ich musste mich auf das verlassen, was ich in meiner Ausbildung gelernt hatte und kramte mein Spionagewissen aus meinem Kopf hervor. Das Haus verwanzen, die Zielperson auf Schritt und Tritt verfolgen, ohne aufzufallen, Telefonate abhören, Internetaktivitäten überwachen, ... sollte alles kein Problem sein.

Ich brach also unbemerkt in die kleine Villa ein, in der Lyz mit ihren Eltern lebte, brachte Funkmikrofone an, spielte eine Spyware auf ihren Laptop und ging in einem nahe geparkten Kleintransporter in Lauerstellung. Rova schien keine Schwierigkeiten gehabt zu haben, mal eben einen Mercedes-Benz Sprinter mit voller Überwachungsausstattung zu besorgen. Wahrscheinlich lief hinter den Kulissen noch viel mehr als ich ahnte.

Ich wusste, es würden nur zwei Wochen sein, in denen ich Lyz in ihrem Elternhaus beobachten musste, aber, dass sie zu den härtesten meines bisherigen Lebens zählen würden, konnte ich nicht vorausahnen. Ich Trottel hatte mir diesen Überwachungs-Mist total spannend vorgestellt. In der Realität war alles ganz anders, langweilig und vor allem deprimierend. Tag für Tag wechselte dieses arme Mädchen nur wenige Worte mit ihren Eltern, telefonierte aber auch mit keiner Menschenseele und Besuch bekam sie sowieso keinen. Sie hatte niemanden, der sie tröstete, also versuchte sie ihren Kummer ganz alleine zu bewältigen. Wen wunderte es da, dass sie sich abends in den Schlaf weinte?

Ich hielt es kaum aus, ihre Trauer so hautnah miterleben zu müssen, schließlich spürte ich diesen grausamen Schmerz genauso in mir. Im Gegensatz zu Lyz hatte ich liebevolle Eltern, denen ich von meinem heftigen Verlust berichten konnte und auch getröstet wurde. Leider wohnten sie aber zu weit weg, um so für mich da zu sein, wie ich es gebraucht hätte. Ein Heimaturlaub wäre wohl die beste Wahl für mich gewesen, vor allem nach dem, was ich mit Lyz angestellt hatte. Hah, diese Lösung fiel mir ein bisschen zu spät ein.

Nun blieb mir nichts anderes übrig, als auf den zwei Quadratmetern dieses trost- und fensterlosen Sprinters eingesperrt, meine Trauer mit mir selbst auszumachen. Ob Tag oder Nacht war, zeigten mir nur die Digitalanzeigen einiger Gerätschaften an, denn solange Lyz das Haus nicht verließ, sah auch ich die Sonne nicht. Meine einzigen Lichtquellen waren nur noch die kalten LED-Leuchten im Laderaum des Transporters, ganz so, als herrsche um mich eine ewige Nacht. Ich fragte mich langsam, ob es sie überhaupt noch gab, die Sonne. Vielleicht war sie mit Sari ein letztes Mal untergegangen.
 

Erst eine Woche war vergangen und schon begann ich in meiner Einsamkeit zu verwahrlosen. Im Andenken an Sari hatte ich mir ein paar Tage zuvor die Haare geflochten, doch der Zopf war schon nur noch ein krauses, schwarzes Etwas. In die Mitte, zwischen all den Geräten, von denen ich gerade einmal die Hälfte bedienen konnte, hatte ich einige Decken gelegt, die mir als Matratze dienten. Keiner hatte daran gedacht, es mir ein wenig gemütlicher einzurichten, wo ich doch geschlagene zwei Wochen in diesem Wagen leben musste. War doch auch egal, denn ich war nur ein einfacher Diener, der den Anweisungen seines erhabenen Herrn gehorchte und dabei versuchte, den Verlust seines Lebens zu verarbeiten, verdammt.

Als ich aus den Lautsprechern hörte, wie Lyz in der Küche herumwerkelte, wahrscheinlich kochte und dabei anfing, leise zu weinen, steckte sie mich damit an. Ich saß auf den Decken auf dem Boden und hatte die Beine an den Körper gezogen, während mir stumme Tränen übers Gesicht rannen.

Unweigerlich erinnerte ich mich an mein letztes Bild von Sari, das sich in mein Gedächtnis eingebrannt hatte. Ich wollte nicht wahrhaben, dass sie einfach verschwunden war, als hätte es sie nie gegeben, dabei war sie nicht irgendein Vampirmädchen. Der Adel bestand fast vollständig aus berechnenden Realisten oder gar Pessimisten, die einen baldigen Untergang vorhersagten und schon ein oder zwei Jahrhunderte alt waren. Die nur 18 Jahre junge Sari musste mit ihrer positiven Lebenseinstellung einmalig unter ihnen gewesen sein.

Sari, strahlend wie der hellste Tag. Selbst aus mir holte diese Maus stets das Beste heraus, ganz anders als dieses gequälte Mädchen, deren Schluchzen ich aus den Lautsprechern hörte. Lyz erschien mir zeitweise wie Saris Gegenpart, zwar genauso wunderschön, aber brandgefährlich und immerzu umgeben von einer düsteren Melancholie. Auch meine Dunkelheit brachte sie zum Vorschein, dabei kam sie im Gewand der Unschuld, wie ein Wolf im Schafspelz.

Ich legte meinen Kopf mit einem absichtlichen kleinen Stoß auf meinen Knien ab. Was ich da dachte, war Lyz gegenüber einfach nicht fair. Ich hörte doch, wie bitterlich sie litt.

Inzwischen war es schon gegen 21 Uhr und ihre Eltern nach Hause gekommen. Den Geräuschen nach zu urteilen, war Lyz mit dem Kochen fertig und hatte den Tisch eingedeckt. Bis zu diesem Punkt verlief alles vollkommen normal, bis ihre Mutter sie auf ihren Verlust ansprach. Ich hatte jedes Gespräch der beiden mitgeschnitten und wusste, dass sie es einzig und allein durch Rovas Anruf wissen konnte. Kein einziges Mal hatte sie sich ans Bett ihres trauernden Kindes gesetzt. Ich war froh, dass Lyz bald aus dieser frostigen Umgebung herauskam.
 

„Du scheinst dich langsam wieder zu erholen. Das ist sehr gut. Dann kannst du dich vielleicht doch noch ordentlich auf das anstehende Studium konzentrieren. Wir haben uns darum schon ein wenig Sorgen gemacht“,

würgte Lyz' Mutter vorwurfsvoll hervor. Ich lachte kurz verzweifelt auf, denn was diese abgestumpfte Viper da vom Stapel ließ, war inakzeptabel. Leider hatte sich Lyz an diesen lieblosen Umgang gewöhnt und bestätige mit leidender Stimme:

„Keine Sorge, Mutter. Ich gebe mein Bestes.“

Ich schnappte mir die Funkkopfhörer und meine Lederjacke und sprintete aus dem Transporter. Verdammt! Diese entsetzliche Unterhaltung musste ich mit eigenen Augen mitverfolgen, auch wenn man mich in meinem räudigen Zustand für einen Penner halten würde. Da es draußen aber schon stockdunkel war, bemerkte mich wahrscheinlich sowieso keiner, wo ich doch wie immer nur Schwarz trug.

Die Küche konnte ich gut von der Straße aus durch das helle Fenster beobachten. Die drei saßen am Esstisch. Ich sah Lyz' Hinterkopf und die Gesichter ihrer Eltern. Von den beiden hatte Lyz ihre Schönheit schon mal nicht geerbt. Ihr fast kahlköpfiger Vater aß stoisch weiter, während nur ihre Mutter, die wie eine gealterte, strenge Lehrerin aussah, mit ihr sprach.

„Ein merkwürdiges Studienfach hast du dir ausgesucht. Warum nicht Betriebswirtschaft wie dein Vater und ich? Es ist noch nicht zu spät, sich umschreiben zu lassen.“

Lyz schüttelte nur den Kopf, was ihren Vater nun übel aufzustoßen schien. Er knallte energisch sein Besteck auf den Tisch und brüllte in einer Intensität, die wie aus dem Nichts kam:

„Lass es endlich sein, Regina! Mit diesem Kind ist es hoffnungslos. Soll sie doch Köchin in einem Obdachlosenheim werden, Hauptsache sie verschwindet endlich aus unserem Haus.“

Dann stand er auf und verließ die Küche. Wieso auch immer, erwartete ich schlichtende Worte von ihrer Mutter, doch sie vertrat wohl eher die Meinung ihres arschgesichtigen Mannes.

„Nun hast du deinen Vater schon wieder wütend gemacht. Ich verstehe nicht, wie du so egoistisch sein kannst, Ellys.“

Auch sie stand auf und verließ den Raum, ohne aufgegessen zu haben. Lyz schien gar nicht darauf zu reagieren, sondern begann mit einem gleichgültigen Gesicht den Tisch abzuräumen. Sie tat mir unendlich leid, auch weil ich kurz zuvor noch so gehässige Gedanken gehabt hatte. Ich verstand nun viel besser, woher die Traurigkeit in ihren Augen kam. Am liebsten hätte ich sie sofort in den Arm genommen, um sie zu trösten, oder sie mich. Das war dasselbe. Ein wenig hatte ich sogar das Gefühl, mich bei ihr entschuldigen zu müssen, aber ich konnte doch schlecht einfach bei ihr klingeln, frei nach dem Motto:

„Hi, war grad zufällig in der Gegend und hätte einen Tüte Trost zu verschenken.“

Stattdessen schlurfte ich zum Sprinter zurück und rief Rova an, denn er musste wissen, was bei ihr Zuhause abging.
 

„Komm nicht auf die Idee, zu ihrem Helden zu avancieren, Alexander. Das mache ich höchst selbst“,

lautete seine schwammige Anweisung, die mich, nach dieser ersten Scheißwoche als Spion, richtig fertigmachte. Na gut, dachte ich, soll er mal machen. Sie aufzubauen, würde nicht leicht werden, vor allem für einen Mann, der so wenig Gespür für die Gefühle anderer hatte wie er.

Auf meine miese Stimmung setzte er das I-Tüpfelchen, als er mir gleich noch gestand, er sei gegenwärtig gar nicht in Deutschland, sondern in Rumänien bei Saris Beisetzung. Das hatte er mir wahrscheinlich in voller Absicht verschwiegen, weil er befürchtete, ich könnte Sari meinem Auftrag vorziehen. Zurecht, denn wahrscheinlich hätte ich das. Stinkwütend legte ich einfach auf, weil es mir zu bunt wurde. Wir waren eh fertig mit dem Gespräch.

Eigentlich sah ich zu meinem Herrn auf, obwohl ich seine wenigen Schwächen kannte, aber sowas konnte er echt nicht bringen. Was fiel ihm ein, mir zu verwehren, Sari die letzte Ehre zu erweisen? Er wusste doch genau, wie nah wir uns standen. Das Prinzesschen würde bestimmt besser mit ihm zurechtkommen als ich, denn sie kannte diese Eiseskälte ja schon von ihrer eigenen Familie. Ganz kurz hatte ich daran geglaubt, dass wir sie vor ihrem Elternhaus retteten, aber wahrscheinlich jagte nur ein Übel das nächste…
 

Zu gern hätte ich die ganze, beschissene, teure Technik in diesem verfluchten Sprinter kurz und klein geschlagen, wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich sie den Rest meines Lebens abbezahlen würde. Rova nahm solche Dinge sehr genau. Am liebsten wollte ich einfach raus aus diesem Auto, raus aus meinem Leben, keine Ahnung.

Es gelang mir einfach nicht, mich selbst wieder aufzubauen. Ich brauchte jemanden zum Reden, jemanden, der mich verstand. Zwar hatte ich schon einen Tag zuvor bei meiner Mutter angerufen und wollte sie ein wenig von meinen Sorgen verschonen, aber… es ging einfach nicht anders.

Ausgelassen über meinen Chef wetternd, brachte ich sie auf den neuesten Stand. Gut, dass sie so ausgeglichen war, denn sie hörte mir mindestens eine Viertelstunde lang nur beim Meckern zu. Ich bemerkte, dass sie sich manchmal ein Lachen verkneifen musste, wenn ich meine deutschen Lieblingsschimpfworte „verdammt“ und „Scheiße“, auch gern in Kombination, zwischen meine spanischen Beschreibungen streute. Einmal nannte ich Rova einen „notgeilen Vollpfosten“, was sie zum Glück nicht verstand. Diese Umschreibung passte wahrscheinlich sowieso besser auf mich als auf ihn.

Erst als ich fertig war, erklärte mir meine Mutter sanft, ich solle mich darauf konzentrieren, ein guter Bediensteter zu sein und den Vorstellungen des Lucards zu entsprechen, damit ich den Posten nicht direkt wieder verlieren würde. Zwar wies das eine gewisse Ähnlichkeit zu dem auf, was Lyz' Eltern zu ihr gesagt hatten, aber bei mir war es etwas ganz anderes. Meine Mutter war geduldig und wusste, wie hart ich all die Jahre gearbeitet hatte. Sie versuchte eine Lösung zu finden, die gut für mich war.

„Aber Mamá, ich habe ein schlechtes Gewissen wegen Sari und dieses Mädchen, um das ich mich kümmern soll, macht mich total verrückt“,

rief ich verzweifelt auf Spanisch ins Telefon.

„Manténgase profesional, mi hijo!“,

übersetzt, „Bleib professionell, mein Junge!“, rief sie, nicht als Befehl, sondern weich und besorgt, bevor sie meinen Vater ans Telefon holte, der ihr dieses Mantra zuvor von hinten zugerufen hatte. Er hielt mir einen steifen Vortrag über das Pflichtbewusstsein als Bürde, welches jeder gute Diener einmal in seinem Leben durchleiden und doch unbeschadet überstehen würde, nur um gestärkt daraus hervorzugehen. Mitten in seiner ausschweifenden Erklärung platze meine große Schwester dazwischen:

„Agárrala, Alejandro!“, also „Schnapp sie dir!“

Mein Anruf schien zum Familienereignis zu werden. Ich war etwas perplex über den Tipp meiner Schwester Carla, gerade weil ich einige Details zu meinen triebhaften Gefühlen zu Lyz ausgespart hatte. Irgendwie musste Carla es zwischen den Zeilen herausgehört haben. Sie war zwanzig Jahre älter als ich und eine unverbesserliche Verfechterin der wahren Liebe, wie sie früher oft sagte. Ich würde sie irgendwann nochmal in Ruhe anrufen müssen, um mir schildern zu lassen, was genau sie damit meinte, naja und vielleicht auch, wie sie sich das vorstellte.

Ich bedankte mich bei meiner Familie, die sich echt viele Gedanken um mich zu machen schien. Direkt fühlte ich mich besser und auch, wie reich ich im Vergleich zu Lyz war. Das Prinzesschen tat mir richtig leid.

Ich musste ja nicht gleich zu ihrem Helden werden, wie Rova es befürchtete, aber zu einem Freund schon, denn den hatte diese Kleine genauso bitter nötig wie ich.

Alex 4: Wie ein Diener seine Rolle akzeptiert

Die zweite Woche, die ich Lyz von diesem klaustrophobisch kleinen Transporter aus beobachten musste, verkraftete ich schon besser als die erste. Zwar ließ sich meine Niedergeschlagenheit nicht gänzlich abschütteln und ich fühlte mich nach wie vor mies, wenn sie weinte, aber ich war über den Berg, immerhin hatte ich ein Ziel vor Augen. Sobald ich hier raus war, würde ich der Kleinen richtig schön auf den Wecker fallen, damit wir beide etwas anderes zum Nachdenken bekamen als immer nur Sari. Mich packte eine Vorfreude wie schon lange nicht mehr.
 

Wie auch immer das der Lucard angestellt haben mochte, lag mein Zimmer im Studentenwohnheim direkt neben dem von Lyz. Vermutlich hatte er mal wieder jemanden bestochen. Durch Rova lernte ich, dass jeder Mensch käuflich war, nur die Beträge unterschieden sich. Wir Vampire waren da anders. Bei uns kam es eher darauf an, womit man sein Geld verdiente, nicht wie viel.

Ich war froh, aus der WG ausziehen zu können, die ohne Pete im Grunde genommen nur noch eine Wohnung war. Durch meine Zeit im Internat besaß ich nicht viel und trotzdem überraschte es mich, dass mein ganzes Hab und Gut in nur einem Koffer und einem Rucksack Platz fand, zumindest wenn ich die Lederjacke und die Stiefel am Körper trug. Ich war eben Minimalist.

Ich räumte gerade gedankenverloren meine wenigen Shirts, die meisten davon mit Aufdrucken von Bands, die ich gut fand, in den einzigen Schrank dieser Hutschachtel von Zimmer, da trat mein Herr über die Schwelle. Eigentlich war ich mir recht sicher, die Tür abgeschlossen zu haben, doch da musste ich mich geirrt haben. Rova lief angespannt jede Ecke meines kleinen, billig möblierten Raums ab, womit er schnell fertig war, und blieb dann vor dem Fenster stehen. Er sah geistesabwesend hinaus auf den Innenhof, während er mir meine Instruktionen gab.

„Die Observation hat ihr Ende noch nicht gefunden. Du darfst ihr das ab sofort ganz offen kommunizieren. Sie soll wissen, dass ich ein Auge auf sie habe. Halt sie in ihrer Studienzeit davon ab, Freundschaften zu schließen, aber bleib auch selbst auf Distanz. Wenn sie Probleme bekommt, sag mir Bescheid, anstatt sie selbst mit ihr zu lösen. Ich bin immer für sie da, also zögerte nicht, mich zu rufen!“

Na danke, Herr Lucard, für diesen unmöglichen Auftrag. Wahrscheinlich wollte er mich scheitern sehen. Ich wies ihn auf die fehlende Logik hin.

„Wir studieren Soziale Arbeit. Sie wird unweigerlich in den Kontakt mit anderen kommen. Zusammenarbeit und so…“

„Lass dir was einfallen! Du hast freie Hand in deinen Mitteln. Hauptsache das Ergebnis stimmt“,

sagte er, kam auf mich zu und blieb viel zu nah vor mir stehen, doch ich wich nicht zurück. Er war sogar so nah, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spürte und ihm tief in seine gefährlich funkelnden Augen blicken musste. Scheiße war das eindrucksvoll.

„Ich rate dir, werde dem Ruf deiner Familie gerecht, Alexander!“,

fauchte er, was meinen Puls ordentlich in die Höhe trieb. Er hätte auch gar nichts zu sagen brauchen, denn seine bedrohliche Aura reichte alleine schon aus. Ich musste erst einmal tief durchatmen. Dieser Mann war einfach grandios. Ich würde ihm beweisen müssen, dass ich es wert war, unter ihm dienen zu dürfen, auch wenn ich so meine Schwächen hatte.

Mit einem merklich angespannten Ausdruck entließ er mich. Er war schon dabei, mein Zimmer zu verlassen, als ihm noch etwas einfiel.

„Ach ja, sorg dafür, dass das mit dem Austauschstudenten klar geht!“

Austausch-? Ah, natürlich. Ein Überwacher für den Überwacher... Rova vertraute mir also doch nicht so sehr, wie ich dachte und er tat wahrscheinlich auch gut daran. Irgendwie traute ich mir selbst nicht mehr so recht über den Weg, seit ich durch den Geruch von Lyz' Blut die Kontrolle über mich verloren hatte.
 

Endlich war der erlösende Studienalltag da, bei dem ich Lyz erst wirklich kennenlernte. Wie ich es mir vorgestellt hatte, lenkten wir uns gegenseitig von Sari ab, ein Segen nach zwei Wochen Isolation. Ich hatte hohe Erwartungen in das Prinzesschen, die es sogar noch locker übertraf. Aus der Nähe betrachtet, fand ich sie nämlich noch viel niedlicher und gleichzeitig anmutiger als aus der Entfernung. Jede Bewegung, jede noch so kleine Geste, alles war aufeinander abgestimmt wie in einem sinnlichen Tanz. Wenn sie schrieb oder an irgendwas herumspielte, konnte ich mich glatt darin verlieren, ihre Hände zu beobachten. Egal was sie berührte, glitten ihre Finger so geschmeidig darüber, als würde sie diesen Gegenstand liebkosen. Das war manchmal schon ein wenig erregend für mich.

Ich liebte es, Zeit mit ihr zu verbringen und konnte nicht anders, als sie immerzu zu necken, um das knuffige Schmollgesicht zu sehen, welches sie dann zog. Eigentlich wollte ich meine Zuneigung zu ihr nicht zu offensichtlich raushängen lassen, aber schon nach wenigen Tagen wurde mir klar, dass sie es sowieso nicht bemerkte. Ich brauchte mich also nicht zurückzuhalten.

Leider überraschte sie mich nicht nur mit positiven Eigenschaften. Mir fiel auf, dass sie viel weniger selbstbewusst war als ich dachte. Manchmal überspielte sie ihre Unsicherheit mit einem falschen Lächeln, das ihr wohl ihre idiotischen Eltern beigebracht haben mussten. In diesen Situationen griff ich meist ein und versuchte ihr zu zeigen, dass sie es nicht nötig hatte, sich zu verstellen. Ich mochte es einfach nicht, wenn sie das tat. Noch schlimmer fand ich es aber, wenn sie mich nach Rova ausfragte. Natürlich verstand ich sie, aber das machte die Sache nicht wirklich besser. Dieser Sadist von einem Herrn hatte seinen Befehl, ihr nichts über unsere Natur zu verraten, nämlich nie widerrufen. Was sollte ich ihr also sagen?

Immerhin gab er mir eine andere Freiheit, die ich schamlos ausnutzte. Wie verteidigte man ein überaus attraktives Mädchen am leichtesten vor spätpubertären Kerlen? Natürlich, indem man entweder ihren wachsamen Bruder, oder noch viel besser, ihren besitzergreifenden Freund mimte. Schon nach zwei Tagen gab sie keine Widerworte mehr. Als hätte ich sie wirklich erobert, stellte ich das offensichtlich heißeste Mädchen auf dem Campus so offensiv als meine Freundin vor, dass es allen schon zu den Ohren herauskam. Auf diese Art ließ sie sich ziemlich einfach vor sämtlichen Kontakten abschirmen.
 

Ich brauchte kein Wahrsager zu sein, um zu wissen, dass Rova hohe Leistungsanforderungen an seine Frau stellte, doch Lyz brachte die Aufmerksamkeitsspanne einer Stubenfliege mit und träumte ständig in den Vorlesungen vor sich hin. Aus diesem Grund entschloss ich mich, ihr spielerisch die oberste Grundregel eines jeden Dieners beizubringen: die Wachsamkeit.

Immer wenn ich bemerkte, dass sie geistig vom Unterricht abdriftete, zog ich an einer Strähne ihrer langen rotbraunen Haare. Zweimal schon hatte sie das zu einem erschrockenen Quieken verleitet. Wenn sich dann einige Studis zu ihr drehten, verkroch sie sich vor Scham mit knallrotem Gesicht in ihren Armen, die sie auf dem Tisch liegen hatte. Ich hätte sie fressen können, so niedlich war das, aber noch mehr, als es Wirkung zeigte. Fast schon zu schnell begann sie von selbst zu merken, wenn sie die Konzentration verlor und sah dann erschrocken zu mir, ohne dass ich etwas zu tun brauchte. So konditionierte ich das Prinzesschen aufs Zuhören. Mein Gedanke dahinter war, dass sie sich so viel wie möglich aus den Vorlesungen mitnahm, damit ich nicht kurz vor der Prüfung mit ihr büffeln musste. Ihre Leistungen würden schließlich auf mich zurückfallen.

Meine Rolle als ihr Freund fühlte sich verdammt echt an, aber das war sie nicht. Die Erkenntnis darüber, eine Lüge zu leben, beendete meinen anfänglichen Höhenflug schon nach einer Woche.
 

Lyz und ich waren gerade auf dem Heimweg von der Semesterauftaktparty. Der Abend war alles andere als jung und das süße Prinzesschen vom Alkohol berauscht, was sie in eine ausgelassene Stimmung versetzt hatte. Meine Zuneigung zu ihr zerriss mich fast. Sie konnte nichts dafür. Ich selbst war es, der mir den letzten Nerv raubte und doch entlud ich meinen ganzen Selbsthass an ihr. Ich hörte erst auf, sie zu beleidigen, als sie wegen mir zu Weinen anfing. Scheiße! Ihre Tränen waren berechtigt, denn ich Trottel hatte ihr an den Kopf geworfen, dass ich sie auf Rovas Befehl hin töten würde, was nicht stimmte. Kaum ausgesprochen, hasste ich mich dafür, doch es ließ sich nicht mehr zurücknehmen. Mein Herz schmerzte so stark, dass ich zu allem bereit gewesen wäre, um sie wieder aufzubauen. Vielleicht hätte unser Schicksal einen anderen Lauf genommen, wäre nicht in genau diesem Moment Peter aufgetaucht.

Ich ließ ihn nicht lange schwafeln, bevor ich Lyz ins Wohnheim schickte, das wir schon sehen konnten. Ich rechnete ihm hoch an, dass er den Anstand besaß, abzuwarten, bis sie aus der Schusslinie war, bevor es ernst wurde. So viel Rücksicht von ihm überraschte mich.
 

„Du bist wie Rovas aufmüpfiger Welpe. Wach endlich auf, Alex! Wenn dein feines Herrchen davon erfährt, dass du in die Göre verknallt bist, legt er dich um“,

rief mir Pete durch die vorher noch so stille Dunkelheit der Nacht zu. Er musste das Offensichtliche anscheinend unbedingt aussprechen.

„Ach, was du nicht sagst, Schlaubi Schlumpf“,

entgegnete ich wenig geistreich. Er kam mir ein paar Schritte entgegen und grinste gespielt mitfühlend, soweit ich es im Schein der Laterne erkennen konnte.

„Mann, du leugnest es ja nicht mal. Tse, wie ich dich kenne, hast du sie hinter seinem Rücken schon geknallt.“

„Hast du den Abtrünnigen etwas über sie erzählt?“,

überging ich ihn und verging fast in der Vorstellung, seine Vermutung entspräche der Wahrheit. Ich korrigierte sie nicht, weil es mir eigentlich ziemlich egal war, was er dachte, solange er mich nur nicht bei Rova verpfiff. Sein leidender Blick nahm nun genervte Züge an.

„Hör doch endlich mal mit diesem Loyalitätsschwachsinn auf, Alex. Ich meinte das vorhin ernst. Wir sind nicht abtrünnig, kapier das endlich! Wir leben nach den Traditionen, den alten Werten, ohne diesen beknackten Blutsauge-Verboten. Trotzdem sind wir keine Gesetzlosen. Wir verletzen keine Menschen und wir jagen auch keine. Diese Scheiße propagieren die Lucards, aber das sind alles dreiste Lügen. Wir bekommen was aus 'ner Blutbank, genau wie ihr oder haben einen menschlichen Partner, der uns ernährt. Mann, das ist doch genau das, was du willst oder etwa nicht?“

„Was für ein Schwachsinn! Was glaubst du, woher das Blut aus der Blutbank der Abtrünnigen kommt?“,

schnauzte ich zurück und wendete meinen Blick von ihm ab. Ich konnte nicht leugnen, dass er mich ein wenig durcheinanderbrachte, doch das wollte ich ihn nicht sehen lassen.

„Weiß ich ehrlich gesagt nicht, aber ich frag nach. Wenn du mit der Antwort zufrieden bist, dann wechselst du, okay? Die sind alle nett, aber meinen besten Kumpel an Bord zu haben, wäre schon geil. Wenn die Göre deine Freundin ist, dann bring sie eben mit. Ich schwör, dann lass ich sie in Ruhe. Aber ich sag dir, wenn sie nur Rovas Alte ist, werde ich mich nicht zurückhalten.“

Er stand inzwischen direkt neben mir. Zugegeben überraschte er mich immer mehr, denn als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, schäumte er vor Wut fast über. Die drei Wochen mussten ihm gutgetan haben. Vielleicht waren die Abtrünnigen wirklich nicht so schlecht wie ihr Ruf, aber selbst wenn, beeinflusste mich das nicht. Ich diente Rova schließlich aus der Überzeugung, dass er der Mächtigste unter ihnen allen war und nicht aus einer Laune heraus.

„Nochmal Pete“,

begann ich zu drohen,

„hast du denen etwas über Lyz erzählt?“

„Wechsle und ich sag es diii…-“

Mitten im Satz packte ich ihn am Oberarm und zerrte ihn an mich heran. Ich war stärker als er und drückte ihn nach unten. Wimmernd stemmte er sich dagegen.

„Alter, du benimmst dich wie dein Herrchen!“

Er löste sich von mir, weil ich von dieser Aussage verwundert, lockerließ. Das nutzte er, um einen Satz nach hinten zu machen und dann angeschlagen zu fluchen:

„Ich komm dir entgegen und dann das? Na gut, dann kämpfen wir eben, aber ich warne dich. Ich hab krasse, total geheime Moves gelernt, mit denen ich dich wegputzen werde.“

Dann stürmte er blindlings auf mich zu. Ich brauchte mich nur vor seiner Faust wegzuducken und meine eigene auf Bauchhöhe zu halten, schon verpasste er sich quasi selbst einen Schlag in die Magengrube. Danach noch ein Kinnhaken, sodass er taumelte und ein Tritt gegen die Füße und er fiel zu Boden. Ich hockte mich vor ihn, packte seinen Kopf, der auf der Seite lag und zog ihn ein kleines Stück nach oben, womit ich ihn zwang, mich anzusehen.

„Hast du denen etwas über Lyz erzählt?“,

fragte ich nun noch einmal mit Nachdruck, doch er röchelte nur:

„Hinterfrag doch mal, … auf welcher Seite… du stehst.“

Dass er wieder nicht geantwortet hatte, machte mich wütend. Ich knallte seinen Kopf auf den Asphalt, was kein besonders schönes Geräusch machte. Seinem Ohr ging es wahrscheinlich schon nicht mehr so gut, dem Blut nach zu urteilen, das nach unten tropfte und sich mit seinen Tränen vermischte. Es war so dunkel, dass ich es kaum sah, aber umso deutlicher roch. Seine Stimme löste sich fast in einem leisen verzweifelten Schluchzen auf.

„Ich hab nichts gesagt, … Alex, ich hab denen nichts gesagt.“

„Geht doch!“,

brüllte ich ihm wütend entgegen und knallte seinen Kopf ein zweites Mal so heftig auf den Gehweg, dass es ziemlich ungesund knackte. Meine angestaute Aggression entlud sich in diesem Schlag, mit dem ich ihm unbeabsichtigt den Schädel gebrochen hatte. Erschrocken von mir selbst, ließ ich ihn los, stand reflexartig auf und wich von seinem regungslosen Körper zurück. Scheiße, das wollte ich nicht. Ich wusste, dass er wieder auf die Beine kommen würde, aber es war ein beschissenes Gefühl, meinem ehemaligen Mitbewohner und Arbeitskollegen so etwas angetan zu haben. Das bewies wieder einmal, dass Lyz die schlechten Seiten meines Charakters zum Vorschein brachte.

Enttäuscht, von seinem Verrat, aber auch meiner überzogenen Härte, rief ich das Aufräumkommando des SOLV und natürlich Rova an. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis ein falscher Krankenwagen kam, um Pete abzuholen.
 

Genervt von allem und jedem, ging ich zurück ins Wohnheim und verfluchte mein Leben. Ich war vorher schon aufgewühlt, aber Pete verschlimmerte die Sache nun noch unnötig. Er hatte die Abtrünnigen bis zuletzt verteidigt, obwohl ich immer gedacht hatte, dass er nur an sich selbst glaubte. Außerdem hatte er Lyz weder verraten noch Verstärkung mitgebracht. Ich musste mir eingestehen, dass er ein besserer Kerl war, als ich immer dachte.

Zugegeben war es eine schöne Idee, mir Lyz einfach zu schnappen und zur anderen Seite zu wechseln und trotzdem blieb sie reine Utopie. Diese Frau war für Rova nicht weniger als die Wiedergeburt der Liebe seines Lebens. Nicht einmal seine Schwester, die Anführerin der Abtrünnigen, hatte die Macht, mich vor seinem Zorn beschützen zu können, wenn er ernst machte.

Verdammt, es war so selten, dass ein Vampir auf diesen einen Menschen traf, der ihn magisch anzog. Warum musste ausgerechnet mir das passieren? Zwar waren Beziehungen zwischen Menschen und Vampiren auch bei den Loyalisten erlaubt, leider aber nur unter sehr strengen Regeln, die es im Grunde witzlos machten. Vor kurzem erst wurde ein Fall bekannt, bei dem eine Vampirfrau die obersten Gesetze gebrochen hatte. Nach mehreren erfolglosen Anträgen, mit der Bitte zur Konvertierung ihres Mannes, forderte sie in einem offenen Brief eine Lockerung der Gesetze. Bei der monatlichen Leibesvisitation ihres Partners wurden daraufhin angeblich wiederholt Bissspuren von ihr gefunden. Die Lucards verurteilten und exekutierten sie bei der letzten SOLV Vollversammlung vor aller Augen. Querulanten, wie sie eine war, wurden rücksichtslos eliminiert, bevor sie Nachahmer fanden. Bis vor kurzem hielt ich dieses Vorgehen noch für vollkommen richtig. Erst jetzt, wo es mich selbst betraf, berührte mich ihr Schicksal.

Da fiel mir wieder Petes Aufforderung ein, ich sollte hinterfragen, auf welcher Seite ich stand…

„Auf der Richtigen!“,

hätte ich ihm geantwortet, aber woher nahm er das Selbstbewusstsein für so eine Forderung?
 

Direkt am nächsten Tag trat mein Chef zum ersten Mal als unser Dozent auf. Seine Vorlesung hören zu dürfen, empfand ich trotz allem als großes Privileg. Sein Vortragsstil und die Tiefe seines Wissens waren hervorragend und machten ihn aus dem Stand zu unserem besten Dozenten. Das war wohl seine Art, Lyz zu zeigen, dass er für sie da war. Er hatte eine komische Vorstellung von der Entstehung von Zuneigung oder Liebe, aber ich hatte weder den Wunsch noch die Position, ihn über diesen Fehler aufzuklären. Am Resultat würde das ohnehin nichts ändern, denn es war mir vorbestimmt, sie mir vor der Nase wegschnappen zu lassen.
 

Am Abend besuchte er mich in meinem kleinen, schlichten Zimmerchen. Ich zuckte in meinem Bett zusammen, als er von selbst die Tür aufschloss, denn bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich nichts über seinen Zweitschlüssel.

„Ich bin hier, um dich über die Lage zu informieren“,

erklärte er und kam zu mir, ohne sich die Mühe zu machen, seinen dunklen Mantel auszuziehen. Vor Lyz hatte er mir keine Details über Peters Zustand verraten und ich war ziemlich neugierig. Immer noch etwas verwirrt über sein plötzliches Auftauchen, erhob ich mich aus meinem Bett, während er zu meinem Schreibtisch abbog und meine Mitschriften der Vorlesungen musterte, die ordentlich in beschrifteten Heftern darauf langen. Er strich sanft mit der Hand darüber und sprach währenddessen mit mir.

„Ich habe Peter mit Gewalt wecken müssen. Er hat ein Schädel-Hirn-Trauma davongetragen und leidet unter einer retrograden Amnesie.“

„Verstehe“,

entgegnete ich knapp. Rova wirkte zufrieden damit, was mich hätte freuen sollen, doch stattdessen fühlte ich mich weiterhin nur schuldig. Er witterte meine Verunsicherung wahrscheinlich, denn er fragte:

„Gibt es ein Problem?“,

während er sich wirsch zu mir umdrehte. Mir schwirrte immer wieder diese eine Frage im Kopf herum und es war besser, sie zu stellen, um Rova zu beruhigen, bevor er auf dumme Gedanken kam.

„Woher kommt das Blut, von dem sich die Abtrünnigen ernähren?“

Er billigte meine Frage und beantwortete sie umfangreich, aber nicht ohne meine Reaktion dabei genauestens zu beobachten.

„Hat er dir das Märchen von einer friedlichen Welt erzählt, in der Vampire und Menschen Hand in Hand durch die Nacht spazieren? Magnas Werbelügen reichen bis über den Atlantik, so wie die einer Sekte. Ich will es dir verraten, Alexander. Es stimmt, dass sie die Jagd verboten hat, aber glaub nicht, dass sich die Abtrünnigen deshalb zivilisiert verhalten. Wer es sich leisten kann, hält sich Sklaven, die er im Keller oder sonst wo ankettet und sich ihrer nach Lust und Laune bedient. Für Verweigerer gibt es Blutkonserven, aber meine Schwester unterhält kein Spendennetzwerk, so wie wir es tun. Deren Konserven werden aus Blut von Gefängnisinsassen gewonnen, ein martialischer Gedanke. Ekelerregend, sich davon ernähren zu müssen, findest du nicht auch?“

Ich verzog angewidert das Gesicht, da das klang, als würden sie Menschen wie Vieh behandeln. Auch Pete hätte das nicht gefallen, aber er würde ohnehin nie wieder auf freien Fuß geraten. Dafür wusste er zu viel. Ich sagte nichts dazu, da meine spontane Reaktion vollkommen ausreichte. Rova hielt mich trotzdem fixiert, wohl aber wegen seiner darauffolgenden Frage.

„Du hast ihr nichts darüber gesagt, was wir sind, richtig? Ist es ihr gestern Nacht aufgefallen?“,

„Nope, glaub nicht oder sie stellt sich dumm“,

antwortete ich frei heraus, woraufhin er die Stirn in Falten legte.

„Schirmst du sie auch ordentlich nach außen ab, damit sie keine Freundschaften aufbaut?“

„Selbstverständlich!“

Er kam auf mich zu, tippte mir ein paarmal auf die Brust und raunte:

„Auch gegen deine?“

„Sie hat Sari umgebracht, wie könnte ich…?“,

stammelte ich und log ihm damit dreist ins Gesicht, … scheiße, vielleicht nicht ganz unbemerkt, denn er bohrte seinen Fingernagel unzufrieden in den Stoff meines Shirts und zog daran. Dann beugte er sich zu mir und stoppte erst kurz vor meinem Gesicht.

„Ich hoffe es für dich“,

hauchte er mir mit tiefer Stimme drohend entgegen. Fuck, war der Typ zum Fürchten! Rova ließ mich überdeutlich spüren, wie schwach ich im Vergleich zu ihm war. Erst danach stieß er mich hart zurück, doch immerhin landete ich auf meinem weichen Bett, das mich federnd abfing. Ich hatte mich noch nicht einmal wieder aufgerichtet, da wendete er sich schon so geschwind zur Tür um, dass sein Mantel hinter ihm in der Drehung wehte. Dass ich eine kinoreife Pose wie diese so aus der Nähe betrachten durfte, war richtig genial. Scheinbar fand ich den Typen sogar cool, wenn er mich aufmischte. Ich hatte eben auch ein kleines Rad ab.

Trotzdem war ich froh, als ich sah, dass Rova die Hand schon auf der Türklinke liegen hatte. Leider hielt er inne, anstatt endlich zu verschwinden. Mit dem Kopf ins Profil gelegt, blickte er hinter sich zu mir. Verdammt, dieses Mal war ich mir sicher, dass er meine Lüge durchschaut haben musste, so grottig wie sie war. Meine Alarmglocken übertönten fast seine zaghaft zögerliche Frage.

„Was… sagt sie über mich?“

Ich setzte mich wie in Zeitlupe aufrecht hin. Mich beschlich die Gewissheit, dass dies mein Ende bedeutete. Beim SOLV zeigte er seine verletzliche Seite nämlich immer kurz vor einem Ausbruch massiver Aggression. Ich musste ruhig bleiben, keine zu hektischen Bewegungen machen, ihn bloß nicht provozieren. So vorsichtig ich konnte, antwortete ich:

„Sie stellt Fragen über dich und den Verein. Ich glaube, sie kapiert nicht so richtig, was los ist. Sie hatte niemanden, um den Schock zu verarbeiten und verdrängt gern die Fakten. Wenn du mich fragst, lebt sie einfach so vor sich hin.“

Rova drehte sich leider wieder vollständig um und lief schnurgerade auf mich zu. Seine Aura war furchteinflößend. Verdammt, irgendetwas an meiner Antwort war falsch, aber was? Ich dachte angestrengt nach. Wieder packte er mein Shirt am Kragen, diesmal aber mit der ganzen Hand und zog mich auf die Beine. Er sah mir tief in die Augen und fauchte mich mit gedämpfter Stimme an:

„Du weichst wir aus. Wieso? Was sagt sie über mich?!“

Ich gab alles, seinem Blick standzuhalten und antwortete so selbstverständlich, wie ich konnte:

„Ich hab keine Ahnung. Dank dir bin ich nur der Typ, der immer hinter ihr herdackelt. Sowas erzählt sie mir nicht.“

Diesmal war die Antwort besser, denn er schob mich wieder von sich. Trotzdem hielt er mich noch fest, vielleicht falls er es sich noch anders überlegen wollte.

„Richtig“,

seufzte er nach ein paar verunsichernden Sekunden. Dann lockerte er seinen Griff und klopfte mir beschwichtigend auf den zerknitterten Stoff auf meiner Brust. Er nickte einmal, drehte sich dabei von mir weg und verschwand endlich aus meinem Zimmer.
 

Ich blieb verstört zurück. Mein Herz raste und es dauerte bestimmt eine Viertelstunde, bis ich die Starre überwinden und mich wieder auf mein Bett setzen konnte. Ich sah an mir herunter auf meine Hände, die langsam wieder aufhörten zu zittern. Ganz unwillkürlich ballte ich sie zu Fäusten und schlug mir damit auf die Beine.

Ich war mir nicht sicher, ob er mich irgendwann einfach mit einem plötzlichen Hieb auslöschen oder ob er mir nur Angst machen wollte. Nur ein kleiner Fehler und ich würde es vermutlich herausfinden. Scheiße, wieso musste ich mir ausgerechnet einen so unberechenbaren Herrn aussuchen? Die halbe Nacht versuchte ich, sein Verhalten zu ergründen und kam zu einem unerfreulichen Ergebnis.

So wie er mich ausgefragt hatte, war er wegen Lyz ziemlich verunsichert. Das bewiesen auch ähnliche Erlebnisse beim SOLV. Vielleicht war seine Selbstsicherheit nur eine Fassade, zumindest wenn es um das Prinzesschen ging. Sie musste ihm unvorstellbar wichtig sein und sobald er mich als Gefahr wahrnehmen würde, bekäme ich einen VIP Platz auf seiner Abschussliste.

Meine Uhr tickte, das hörte ich ganz deutlich. Wenn sich nicht schnell irgendein Parameter änderte, würde mich dieser Auftrag mein Leben kosten.

Alex 5: Eine Lektion für einen Diener

Dafür, dass meine ständige Anwesenheit ihre Freiheiten ganz gewaltig beschnitt, ging es Lyz erstaunlich gut. So schätzte ich ihr Befinden jedenfalls ein. Dieses verkorkste Leben war aber auch alles, was ihr nach dem Unfall mit Sari noch geblieben war und sie machte das Beste draus. Oder aber biss sie nur die Zähne zusammen und ergab sich ihrem Schicksal, das sie als Strafe für ihr Vergehen ansah? Auch das war ihr zuzutrauen, denn ohne rosarote Brille, ganz nüchtern betrachtet, musste es schrecklich sein, von mir immer und überallhin verfolgt zu werden.

Obwohl ich sie nicht richtig einschätzen konnte, stellte sich schnell so etwas Ähnliches wie Alltag ein. Sogar ihre Beschwerden über mich nahmen ab. Das letzte Mal lag schon ein paar Tage zurück, als sie von einer Gruppe Mädchen gefragt wurde, ob sie mit ihnen ins Hallenbad kommen wolle. Sie warf mir einen scheuen Blick zu, den ich mit einem amüsierten Lächeln beantwortete. Sie im Bikini zu sehen, war schließlich nicht die schlechteste Vorstellung, aber genau das war sicher ihr Problem an der Sache. Zugegeben war ich über ihre Ablehnung tierisch enttäuscht, gerade da das eine willkommene Abwechslung für uns beide gewesen wäre.

Mit ziemlicher Sicherheit war ich auch der Grund, aus dem sie kein einziges Hobby außerhalb ihrer vier Wände ausübte. Wenn wir keinen Unterricht hatten, kamen wir nur nach draußen, wenn sie einkaufen ging. Ich brauchte fast nichts, ein paar Hygieneartikel, nichts weiter, also lief ich meist einfach nur neben ihr her durch den Laden und trug ihr dann ihre Beutel voller Süßigkeiten nach Hause. Zu kochen schien sie nicht mehr, nun, wo sie es nicht mehr musste.

„Wenn du nichts brauchst, kannst du auch draußen warten!“,

fuhr sie mich nach etwa zwei Wochen mitten im Supermarkt an. Da ich nicht auf sie einging, stampfte sie mit dem Fuß auf den Boden und stolzierte in Richtung der Kühlregale davon. Sie hetzte wie immer in wenigen Minuten durch die Halle, schmiss sich nur das Nötigste in den Korb und rettete sich dann zur Kasse. Aller Wahrscheinlichkeit nach brauchte sie irgendwelchen Mädchenkram, für den sie sich vor mir schämte. War schon niedlich, das trotzige Prinzesschen.

Möglicherweise wollte sie sich das gleiche Recht erstreiten, das sie auch in der Mittagspause an der Hochschule zu haben glaubte. Kein einziges Mal war ich mit ihr in die Mensa gegangen, weil ich ja nichts essen konnte, doch sie missverstand das eventuell als Auszeit. Für mich war es leider keine, denn meinem Auftrag entsprechend, beobachtete ich sie durch die großen Fenster und belauschte ihre wenigen Gespräche mit Hilfe einer Wanze. Da war nur ein ganz schmaler Grat zwischen meiner detektivischen Arbeit und einem gemeinen Stalker, denn wirklich schlimm fand ich die Aufgabe nicht.

Nur selten gesellte sich jemand zu Lyz an den Tisch und wenn doch, entstand kein Gespräch, das über Smalltalk hinausging. Mehr hätte ich ohnehin nicht zugelassen. Hin und wieder traf sie sich zum Essen mit dem Austauschstudenten, den ihr Rova vermittelt hatte. Mit ihm kam sie besser zurecht, aber er war unbedenklich. Alleine in der Mensa, im Hörsaal und sogar, wenn sie mit mir auf dem Campus unterwegs war, sah ich interessiere Blicke auf ihr ruhen. Allerdings hatte sich, in immer größer werdenden Kreisen, herumgesprochen, dass ich mir jeden zur Brust nahm, der es wagte, meiner Freundin Gesellschaft zu leisten. Bestimmt glaubte Lyz, es läge an ihr, was sie mir immer näherbrachte. Das war eine hundsgemeine Taktik, die aber unschlagbar gut funktionierte.

Als kleinen Trost gestand ich ihr zu, das Konzept der Mittagspause auch fürs Einkaufen übernehmen zu dürfen. Zwar sah ich nicht mehr WAS sie kaufte, sondern hörte sie nur noch durch die Wanze, aber das sollte schon klar gehen, so unauffällig wie sie sich bisher verhalten hatte.
 

Die Reichweite der Wanze war nicht besonders hoch, deshalb musste ich tatsächlich vor dem Supermarkt auf Lyz warten, genauso wie sie es vorgeschlagen hatte. Ihre Laune hob sich dadurch erheblich an. Das war schon ziemlich süß, aber auch ein wenig naiv von ihr. Rova hätte niemals zugelassen, dass sie auch nur einen Schritt allein machen dufte.

Vielleicht, weil sie sich nun freier fühlte, ging sie daraufhin häufiger einkaufen, frisches Obst und so was. Ich döste dann, an die windgeschützte Außenwand des Supermarktes gelehnt, vor mich hin und lauschte dem rauschenden, halb verzerrten Ton der Wanze mit Kopfhörern. Manchmal drifteten meine Gedanken zu den vielen Lebensmitteln ab, die ich gesehen hatte und fragte mich, wie sie wohl schmecken würden. Wenn Lyz an ihre Tasche stieß, gab die darin versteckte Wanze ein lautes Knistern von sich, von dem ich jedes Mal geschockt in mich zusammenfuhr. Ich war unglaublich schreckhaft, wenn ich das Mädel nicht sehen konnte.

So ging das etwas mehr als eine Woche lang, bis zu einem düsteren und windigen Herbsttag, an dem ich hinter einem Wohnwagen Schutz suchte. Zunächst verlief der Einkauf ereignislos, bis mich die verdächtige Begrüßung einer männlichen Stimme wachrüttelte.

„Ist nicht wahr, Klein-El! Was machst du denn hier?“,

hörte ich recht deutlich heraus, was sofort Hitze in mir aufsteigen ließ. Wer war so dreist, ihr einen derart geschmacklosen Spitznamen zu verpassen? Dieser Unbekannte war bei mir schon nach dem ersten Satz untendurch.

„Mick!“,

rief sie überrascht, vielleicht auch erfreut. Das war, ohne ihr Gesicht zu sehen, schwer zu beurteilen. Dass ihre Stimme danach aufgeregt zittrig wurde, war allerdings deutlich zu vernehmen.

„Ich studiere hier an der Hochschule und… und du? Du siehst… schick aus.“

„Und du erst, Süße. Wow, lass dich ansehen! Ich hätte dich fast nicht erkannt in diesem mega heißen Outfit. Tja, bin jetzt Unternehmensberater und hatte hier 'nen Kunden. Hab draußen einen dicken Benz stehen, nur falls ich dich irgendwohin mitnehmen kann?“

Bitte, was!? Ich dachte zuerst, ich hätte mich verhört. Hatte er sie gerade „Süße“ und ihr Kleid „heiß“ genannt und dann mit seiner fetten Karre geprahlt? Noch offensiver ging es wohl nicht, Herr Unternehmensberater? Wahrscheinlich war er nur Versicherungsvertreter und das Auto ein Firmenwagen. Angebern wie ihm sollte man nichts glauben.

„Oh, nein, nein, nicht nötig, Mick, aber danke für das Angebot“,

sagte sie betont erfreut, als habe sie überhört, wie der Kerl sie genannt hatte. „Süße…“, ich kam nicht darüber hinweg, besonders, weil sie das total locker nahm. Ich platze fast vor Wut und war kurz davor, zu ihr in den Laden zu marschieren. Ich war so in Rage, dass ich nicht mal die Geräusche der Kasse bemerkt hatte und überrascht war, als Lyz neben diesem Kerl laufend, den Supermarkt bereits verließ. Ich bremste mich in letzter Sekunde, ging wieder hinter dem Wohnwagen in Deckung und belauschte das Gespräch nun live.

„Da drüben steht er. Nice, oder? Hast du es dir anders überlegt? In so 'nem geilen Schlitten mitfahren zu dürfen, passiert dir vielleicht nicht gleich wieder“,

hörte ich ihn protzen, laut genug, dass ich meine Kopfhörer abnehmen konnte. Ich folgte seiner Hand, in der er einen Energydrink hielt und damit auf einen schwarzen Mercedes-Benz GLC deutete. Gegen Rovas Karre stank sein Wagen zwar ab, aber das wusste Lyz noch nicht. Durch die Seitenscheiben des Wohnwagens hindurch sah ich nun zurück zu diesem unbekannten Kerl und musste feststellen, dass er besser aussah, als ich mir einen Angeber wie ihn vorstellte.

Seine andere Hand steckte lässig in der Hosentasche seiner dunkelblauen Stoffhose mit Bügelfalte. Er hatte sein volles, braunes Haar nach hinten gekämmt. An den Seiten war es abrasiert, so wie es bei den Menschen gerade in Mode war. Zusammen mit dem gutsitzenden Anzug, machte er für einen Menschen echt was her, was mich richtig ärgerte.

Lyz schüttelte auf seine Frage hin peinlich berührt den Kopf. Vielleicht weil sie wusste, dass ich irgendwo hier draußen auf sie wartete und sie genau im Auge hatte. Wenn ich sie hemmte, war das gut so. Nur ihr neuer Verehrer verstand nicht, dass er Leineziehen sollte. Stattdessen baggerte er fleißig weiter. Er ging richtig in die Vollen und verriet mir damit auch gleich, woher sich die beiden kannten.

„Vielleicht könnten wir uns mal wieder treffen? Ich musste echt oft an dich denken. Es war ein Riesenfehler, mit dir Schluss zu machen.“

Daraufhin bedankte sie sich. Hä? Moment! SIE BEDANKTE SICH? Wofür denn bitte? Ich verließ meine Deckung und stürmte schnurgerade auf die beiden zu. Was sich da entwickelte, war mehr als bedenklich. Schon aus ein paar Metern Entfernung rief ich:

„Hey Lyz, fertig mit Einkaufen?“

„Alex!“,

schnappte sie ertappt nach Luft und lief dabei rot an. Der Blindgänger vor ihr taxierte mich aufmerksam und grinste im Anschluss frech.

„Und du bist?“

Er wusste schon genau, was Sache ist, also stellte ich mich stolz vor ihn und antworte mit dem obligatorischen:

„Ihr Freund, wer sonst?“

Vor dem Typen schien sich Lyz leider fürchterlich zu genieren. Jeder Vollidiot hätte den Schwindel bemerkt, so überrascht die kleine Tomate neben mir zusammenzuckte, dabei kannte sie meine Masche doch schon. Scheiße, ich machte mich zwar über den Kerl lustig, aber er stand immer noch vollkommen aufrecht, mit seiner Hand an der Nudel und tat so, als hätte er die Situation voll im Griff.

„Davon träumst du wohl nachts“,

provozierte er müde lächelnd und sah wieder zu Lyz, zu der er hauchte:

„Hast du noch dieselbe Nummer? Ich könnte dir schreiben.“

Dieser Typ hatte mich sofort durchschaut und behandelte mich einfach wie Luft. Lyz störte das überhaupt nicht, denn statt auf mich einzugehen, beantwortete sie ihm seine Frage mit einem scheuen Kopfschütteln. Was war das nur für eine bescheuerte Situation? Ich wusste, dass ich meinen Gegner locker in der Luft zerfetzen konnte, diesen schwächlichen Menschen, doch das hätte das Prinzesschen bestimmt nicht so lustig gefunden wie ich. Offensiv stellte ich mich zwischen die beiden, um den Flirt in meiner Anwesenheit zu unterbinden und baute mich vor dem Kerl auf. Trotzdem blieb er unbeeindruckt und lachte sogar.

„Zieh Leine, die Lady möchte sich mit mir unterhalten! Findet nicht gerade irgendwo ein Festival statt, auf dem du headbangen kannst?“

Dieser Spaßvogel spielte wohl auf mein „Iron Maiden“ T-Shirt und meine langen Haare an. Er machte von sich aus einen Schritt auf mich zu und versuchte seinen Arm auf meine Schultern zu legen, was ich abwehrte. Er brauchte gar nicht versuchen, einen auf Kumpel zu machen. Unbeeindruckt drehte er sich ein wenig von Lyz weg, beugte sich zu mir und flüsterte so, dass nur ich es hörte:

„Ich schlepp jetzt das Mädel ab, dem du erfolglos nachsteigst, also stör mich nicht! Dieses Kätzchen werde ich wieder so richtig schön schnurren lassen.“

Wieder? Hatte er etwa mit ihr…? Dieses affektierte Dreckschwein? Eine so enorme Wut stieg in mir auf, dass ich sie kaum noch unterdrücken konnte. Dass ich ungewollt die Zähne fletschte, spornte ihn an, noch einen obendrauf zu setzen.

„Du weißt das natürlich nicht, aber die Süße ist eine Granate im Bett.“

Dafür musste er bezahlen. Blitzschnell holte ich aus und schlug diesem Lackaffen eine runter, die richtig gesessen hatte. Er wehrte sich nicht, sondern taumelte mit aufgerissenen Augen nach hinten, während seine Hand an seine aufgeplatzte Lippe schnellte.

„Alex!“,

schrie Lyz erneut geschockt, als wäre mein Name das einzige Wort, das ihr noch einfiel. Verdammte Dreckscheiße! Ich schnappte mir eilig mit einer Hand ihren Beutel, den sie fallen gelassen hatte und mit der anderen Hand ihr Handgelenk. Sie war so störrig, dass ich drauf und dran war, sie zu tragen, doch dann kam sie mir nach. Der Typ hinter uns schien von meinem Schlag total überrascht worden zu sein, denn er blieb nur stumm an Ort und Stelle stehen und hielt sich kommentarlos den Mund, während sich eine Menschentraube um ihn zu bilden begann.

Wortlos zog ich Lyz grob weiter hinter mir her in Richtung Wohnheim. Wir wurden zum Glück von niemandem verfolgt. Erst kurz vorm Ziel riss sie sich los. Ich rechnete damit, dass sie mich verärgert anschreien würde, doch sie blieb ruhig, was wohl ein noch schlechteres Zeichen war. Ich erntete nur einen tadelnden Blick von ihr.

„Wer war der Typ?“,

ging ich sie an, obwohl die Frage überflüssig war. Damit brachte ich sie nur dazu, den Kopf zu senken und mir zu beweisen, dass sie kein Verständnis für meinen Wutausbruch aufbringen konnte.

„Sei nicht so gemein!“,

wimmerte sie, was mich überheblich die Augenbrauen anheben ließ. Dieser Kerl war ihr ganz und gar nicht egal. Was hatte er getan, um sie so im Griff zu haben? Verdammt, wie konnte ich ihm das nachmachen? Viel zu schroff ging ich sie an:

„Hast du noch was für ihn übrig?“

„… ist doch egal. Ich kann eh nicht in mein altes Leben zurück. Außerdem ist Mick… keine Bedrohung für Rova, glaub mir. Er verspricht viel, aber da steckt nicht viel dahinter. Lass ihn einfach in Ruhe, okay? Bitte.“

Er sollte keine Bedrohung sein? Das sah ich ganz anders und dass sie ihn in Schutz nahm, gefiel mir auch nicht. Sie meinte, sie könne nicht in ihr altes Leben zurück. So radikal hatte sie ihre Lage noch nie auf den Punkt gebracht. Ob das nun ein Zeichen dafür war, dass sie sich damit abgefunden hatte, oder das genaue Gegenteil, blieb mal wieder offen. Vielleicht sah sie in diesem Mick einen Ausweg, eine Art Retter, oder so was. Was, wenn sie erst durch ihn auf die Idee einer Flucht kam? Ich hatte bisher noch keinen einzigen Hinweis in diese Richtung gefunden, aber ich musste wachsam bleiben. Nur zu gern vergaß ich, dass ich nicht wirklich ihr Freund, nicht einmal ihr Leibwächter, sondern vor allem ihr Kerkermeister war.
 

Mit einem unguten Gefühl im Bauch, meldete ich Rova den Vorfall. Es überraschte mich, dass er ruhig blieb, als ich mit ihm telefonierte.

„Warum rufst immer nur du mich an? Warum nicht sie?“,

stellte er unzufrieden fest. Mein Befehl, sie abzuschotten, blieb bestehen. Direkt darauf bekräftigte Rova, dass ich freie Hand hätte. Erst bei diesem Gespräch verstand ich, was er in Wahrheit damit meinte.
 

Den ganzen Abend lang beschäftigte mich der Gedanke, Lyz könne heimlich nach einem Ausweg suchen. Im Halbdunklen setzte ich mich an meinen Schreibtisch und rief mit meinem Laptop ihren Browserverlauf auf, der nichts dergleichen spiegelte. Die Spyware auf ihrem Rechner arbeitete zuverlässig, half mir nur leider kein bisschen weiter, um zu begreifen, was in ihr vorging. Sie hörte Musik auf YouTube, meist Sammlungen von angeblich epischer Musik, die zugegebenermaßen nicht übel war, las Tagesnachrichten und beantwortete ab und zu Fragen in Hilfeforen. Obwohl sie selbst in der Klemme steckte, bat sie darin jedoch niemals selbst um Hilfe. Sie schien vor der Realität davonlaufen, anders ließ sich ihr Verhalten für mich nicht erklären. Das musste wohl ein Überbleibsel ihres Elternhauses sein. Ein normal denkender Mensch hätte das doch niemals so gut durchgestanden wie sie.

Noch während ich in ihren Daten herumstöberte, traf eine E-Mail von einem „Michael Schönfeld“ ein. Sofort stieg mein Puls, denn das war kein anderer als dieser Arsch von ihrem Exfreund. Ich kopierte mir die Nachricht und löschte sie sofort aus ihrem Posteingang, bevor ich den Absender sperrte. Erst als ich mir sicher war, alle Spuren verwischt zu haben, sah ich mir sein Geschwafel an, das mich innerlich nur noch mehr aufwühlte.
 

„Hi Ellys!

Ich wollte dir Bescheid geben, dass es meiner Lippe den Umständen entsprechend gut geht. Wenn du möchtest, werde ich keine Anzeige erstatten. Es liegt ganz bei dir. Kannst du morgen Abend um 20 Uhr nochmal zum Supermarkt kommen? Ich würde mich gern in Ruhe mit dir unterhalten.

Wie vorhin angedeutet, hab ich bei dir ziemlichen Mist gebaut. Ich hatte Angst, mich fest zu binden und merke jetzt, dass du die Richtige warst. So wie du auf mich reagiert hast, habe ich noch etwas Hoffnung, auch wenn ich ein ziemlicher Dummkopf gewesen bin. Ich hätte dir wegen deinen Eltern helfen sollen, das weiß ich jetzt. Vielleicht magst du mir erzählen, wie es dir in der Zwischenzeit ergangen ist.

Komm einfach morgen Abend zum Supermarkt. Ich lad dich in ein Restaurant deiner Wahl zum Essen ein.

LG Mick“
 

Was für ein Heuchler. Dieser Typ war definitiv brandgefährlich. Die Selbstverständlichkeit, mit der er sich an das Prinzesschen heran geschmissen hatte und die Art, wie er mit mir sprach, gingen mir einfach gegen den Strich.
 

Ohne Rova nochmal zu kontaktieren, ging ich für sie zu ihrem Date. Mein Herr setzte ohnehin darauf, dass ich die Sache erledigte. So etwas Radikales wie ihm, schwebte mir allerdings nicht vor.

Ich war zehn Minuten zu früh am Treffpunkt, dem Parkplatz des Supermarktes, doch der Typ war schon da. Er stand nah am Eingang, direkt unter einer Laterne, die ihr gelbliches Licht auf ihn warf. Tatsächlich überraschte es mich, dass er weniger aufgebrezelt war als am Tag zuvor. Seine Haare trug er locker auf die Seite gelegt und sein vom Licht grünlich gefärbtes Hemd unter einem offenen dunkelgrauen Kurzmantel. Entspannt lehnte er an der Beifahrerseite seines riesigen Mercedes und sah dabei richtig cool aus, das musste ich ihm lassen. Bloß gut, dass der Kerl einen miesen Charakter hatte, sonst wäre er garantiert schon seit Jahren Lyz' fester Freund, wodurch er ein viel größeres Problem dargestellt hätte.
 

Ich ging geradewegs auf ihn zu, da hob er den Kopf und lächelte mich überzogen freundlich an. Seine Unterlippe, die Bekanntschaft mit meiner Faust gemacht hatte, war zwar dick, aber nur leicht lädiert. Ich hatte ihn wohl doch nicht so gut getroffen, wie ich dachte. Mein Schlag war aber auch stark gezügelt. Ich wollte ihn ja nicht gleich umbringen, so wie es mir bei Pete fast passiert wäre. Seit dem Vorfall war ich gehemmt, mit voller Kraft zuzuschlagen, selbst wenn ich trainierte.

„Niedlich. Hat sie dich vorgeschickt?“,

lachte er zur Begrüßung. Ich blickte ihn überlegen an und grinste zurück.

„Nein, sie wird nicht kommen.“

„Bei dir vielleicht nicht, Kumpel, aber ich weiß wie's geht“,

konterte er pfiffig, löste dabei die Verschränkung seiner Arme und stellte sich aufrecht. Dann öffnete er die Beifahrertür und warf mir einen koketten Blick über die Schulter zu, als sei ich seine Liebste.

„Steig ein, schließlich haben wir ein Date. Ich hatte mich ja über ein rosa Schleifchen in den hübschen, langen Haaren gefreut. Haha~, Alter, echt jetzt, ich dachte gestern kurz, du wärst 'n hässliches Mädchen.“

Sehr witzig. Ich war von diesem Vogel viel zu leicht aus der Ruhe zu bringen. Ungehalten stürmte ich auf ihn zu und knallte mit Schmackes die Autotür neben ihm ins Schloss. Die Hand behielt ich an der Tür und versperrte ihm damit den kurzen Weg um das Auto zur Fahrertür. Hochmütig sah ich auf den Typen herab, der einige Zentimeter kleiner war als ich, aber das scherte ihn nicht.

„Warum so gereizt? Ach, jetzt weiß ich: typisch Schlägertyp. Wenn er nicht mehr weiterweiß, gibt‘s Haue.“

Wie kam er auf die Idee, ich sei nur ein dummer Schläger? Den Parkplatz hatte er anscheinend mit Bedacht ausgewählt, denn bereits in diesem Moment hatten wir mehrere Zuschauer, die auf uns aufmerksam geworden waren. Der Supermarkt schloss nämlich erst um Neun und es kamen dauernd irgendwelche Studis vorbei, um noch schnell was zum Abendessen oder Alkohol zu kaufen. Dumme Blicke hin oder her, ich packte den Typen trotzdem am Kragen seines zu weit aufgeknöpftem Hemdes und zog ihn an mich heran. Das musste ich mir wohl von Rova abgeschaut haben. Auch das, was ich fauchte, ließ ihn in mir wiedererkennen.

„Du mischst dich da in Angelegenheiten ein, die dich rein gar nichts angehen.“

„Tja, das sehe ich anders. Da ich denke, dass du auch gegen Ellys gewalttätig wirst, geht mich das sehr wohl etwas an. Du Arsch schüchterst sie ein. Glaubst du, ich renne weg, weil du mir die Lippe blutig gehauen hast? Dich überrascht es doch, dass ich kein Schlappschwanz bin, stimmt's? Kann die Süße übrigens auch bezeugen.“

Auch wenn er fälschlicherweise glaubte, er könne mir mit einer lumpigen Strafanzeige drohen, hatte er aus einem anderen Grund eine Situation geschaffen, in der er mich handlungsfähig machte. Zu seinem Glück war es eines unserer Tabus, Menschen in der Öffentlichkeit anzugreifen. Bei meinem ersten Schlag musste ich das Gesetz ein wenig beugen, schließlich war es Notwehr, aus meiner Sicht jedenfalls. Nochmal sollte das aber nicht passieren.

Sein dummes Grinsen so nah vor mir zu sehen, ohne ihm eine verpassen zu dürfen, ließ mich ihn schon wieder unabsichtlich meine Fangzähne zeigen. So brachte das nichts, also ließ ich den Kerl los. Unbeeindruckt von seinem vermeintlichen Sieg, richtete er sich seelenruhig seinen Kragen, zog sich sein Hemd zurecht und steckte es wieder ordentlich in seinen Hosenbund. Dann sah er mir direkt in die Augen und lachte sympathisch, als sei ich sein bester Kumpel.

„Lass uns ein Stück gehen. Aber wir bleiben unter Leuten, sonst ziehst du mich im Dunkeln noch in ein Gebüsch. Wer weiß, was das Schneewittchen heute noch vorhat.“

Ich seufzte und stimmte zu. Dieser Mann war aalglatt. Vielleicht hatte er Erfahrung mit dieser Art von Auseinandersetzung, denn so kaltschnäuzig blieb man nicht ohne Weiteres. Wir gingen gemeinsam in Richtung Innenstadt und begegneten immer wieder jeder Menge Menschen, von denen uns viele merkwürdig interessiert beäugten. Eine von Micks Händen steckte in seiner Manteltasche. Selbst wenn er darin etwas zur Verteidigung versteckte, würde er zu lange brauchen, um sie herauszuziehen. Vielleicht mochte er Vorerfahrungen in Wortgefechten haben, vom echten Kampf verstand er jedoch nichts.

Während wir die hell erleuchtete Ladenstraße entlangliefen, quasselte er unaufhörlich auf mich ein. Er hörte sich die ganze Zeit so aufgeschlossen an, als spreche er mit einem alten Freund, auch wenn seine Worte etwas anderes vermittelten.

„Pass auf,… Alex, richtig?“

„Für dich Alexander“

„Gut, also Alexander. Damit du im Bilde bist: Von einem Heavy Metal Fuzzi mit einer primitiven Neigung zu roher Gewalt, lasse ich mich nicht einschüchtern. Lass deiner Wut gern freien Lauf, am besten hier vor aller Augen, dann lass ich dich von den Bullen abführen. Bitte, tu mir den Gefallen!“

Stumm lief ich neben ihm her, denn eine Reaktion von mir gönnte ich ihm kein weiteres Mal, jedenfalls noch nicht. Ihm schien es gleich zu sein, denn er wurde der Provokationen nicht müde.

„Deine schäbige Lederjacke lässt mich auf fehlendes Kapital schließen. Was soll ein Mädel wie Ellys mit einem Looser wie dir anfangen? Überlass sie mir. Ich verdiene gutes Geld, habe eine wunderschöne Loftwohnung, ich würde sie dir zeigen, wenn du netter wärst, und das Beste an mir, ich drohe der Süßen nicht mit Gewalt. Alles, was ich mit ihr getan habe und tun werde, geschieht freiwillig. Du siehst also, dass es klüger wäre, wenn du dich zurückziehst. Es ist einzig und allein zu ihrem Besten.“

Und schon wieder seufzte ich, weil er viel näher an der Wahrheit lag, als ich es wahrhaben wollte, nur verglich ich mich nicht mit diesem Hampelmann, sondern mit meinem erhabenen Herrn Rova. Was hatte ich ihr im Vergleich zu ihm schon anzubieten? Scheiße, das alles nervte mich so dermaßen, dass ich den Kerl neben mir so laut durch die Nacht anblaffte, dass es mir einige strenge Blicke fremder Leute sicherte.

„Es reicht jetzt, klar? Wer ihr wirklich nachsteigt, ist der Junior Geschäftsführer eines weltweit agierenden Unternehmens, der mich bezahlt, sie vor Idioten wie dir zu schützen. Komm ihm dumm und er zerlegt dich in Tausend winzige Stücke, ohne dich danach wieder zusammenzusetzen.“

Das wollte ich ihm eigentlich nicht verraten. Mit Rovas Stärke zu Punkten, statt mit meiner eigenen, war ziemlich armselig von mir. Der Typ neben mir würde mir das aber sowieso nicht glauben, also war es auch nicht so tragisch. Er zog die Augenbrauen zusammen und sah zu Boden, als er unerwartet ruhig entgegnete:

„Lass mich kurz nachdenken. Hmm, ja, ich finde, jetzt wird eher ein Schuh draus. Du Affe passt kein Stück zu ihr, das ist Fakt. Aber gäbe es da ein hohes Tier, das sie während des Studiums von einem einfach gestrickten Schläger wie dir bewachen lässt, ist das schon eher plausibel. Wenn ich so darüber nachdenke, … könnte ich mir vorstellen, das haben ihre geldgeilen Eltern eingefädelt. Sie wie eine Hure zu verschachern, würde ich denen sofort zutrauen. Hast du die mal kennengelernt? Die sind unerträglich. Als Schwiegereltern das Allerletzte…“

Er plapperte und plapperte. Ich haderte mit mir, ob ich ihn erneut anschnauzen sollte, aber da aus meinem Mund nur unüberlegter Mist kam, ließ ich es bleiben. Sein Gesicht erhellte sich plötzlich, untermalt durch das taghelle Schaufester eines Schuhladens, das ihn anstrahlte und neben dem er stehen geblieben war. Er begann erheitert aufzulachen, was mich noch mehr wunderte.

„Na wenn das so ist, lass uns Frieden schließen. Ich bin ein prima Kerl, ehrlich. Sehr zuverlässig und gebildet, ein guter Geschäftsmann. Guck nicht so, mit einer Bonze wie deinem Boss leg ich mich nicht an, schließlich will ich selbst eine werden. Wäre nicht gut, ihn zu verärgern. Gib mal seine Nummer! Vielleicht braucht er 'ne Unternehmensberatung.“

Diese 180 Gradwende kam für mich wie aus dem Nichts. Im ersten Augenblick hatte er mich damit so sehr verwirrt, dass ich ihn dumm angesehen haben musste.

„Mal auf die Idee gekommen, dass ich den nur erfunden habe, um dich hochzunehmen?“,

lachte ich vollkommen überrascht erheitert auf und zuckte dabei verständnislos mit den Schultern. Aus dem Kerl wurde ich nicht schlau. Ins Wanken brachte ich ihn damit noch lange nicht. Unbeirrt prustete er:

„Guter Witz. So 'ne Scheiße erfindet keine Sau, vor allem kein kleingeistiger Schlägertyp wie du. Oh, keine Feinde mehr, hatte ich fast vergessen, sorry, Partner.“

„Partner? Wohl kaum, du Schwachkopf!“,

gab ich verstimmt zurück. Wenn er gewusst hätte, wie viele Möglichkeiten ich bei unserem Spaziergang hatte, in lautlos ohne Zeugen zu töten, wäre er sicher vorsichtiger gewesen. Das war der Auftrag, den mir Rova zwischen den Zeilen gegeben hatte, mit dem ich mir die Hände aber ganz sicher nicht unnötig schmutzig machte. Rova würde keine Anklage erheben und ich straffrei bleiben, aber diese Art von Freiheit, wollte ich gar nicht. Mick war der Kleingeist von uns beiden, denn er wusste nicht, dass er sein Leben allein meiner Gnade verdankte. Er lachte schon wieder in dieser sympathischen Art, die mich an ihm so fertig machte.

„Weißt du, ein Mann muss wissen, wo seine Prioritäten liegen. Zum Mitschreiben für weniger Begünstigte, ohne dich damit im speziellen zu adressieren: Wenn man ganz nach oben will, versaut man seinen guten Ruf bei Unternehmensvorständen nicht, denn wer sind seine Freunde? Genau, andere Unternehmensvorstände und das bedeutet, dein Boss entspricht genau meiner Kundengruppe. Kennst doch bestimmt die alte Show 'Geld oder Liebe'. Hab nie kapiert, wieso da einer Liebe genommen hat.“

Er schien das tatsächlich ernst zu meinen und das Handtuch zu werfen. Würde er seine Meinung ändern, konnte ihn das den Hals kosten, aber zu diesem Zeitpunkt empfand ich ihn nicht mehr als Bedrohung. Rova hatte es mir schon oft vor Augen geführt, wie käuflich die Menschen waren, aber einen wie ihn, hatte ich trotzdem noch nie getroffen.
 

Dieser Narzisst war mit Stil und Prinzipien in eine Schlacht gegen mich, einen überlegenen Gegner, gezogen und in gewisser Weise siegreich daraus hervorgegangen. Das Machtgefälle war ähnlich groß wie bei mir und Rova. Ich fragte mich, ob auch ich eine Auseinandersetzung mit meinem Herrn so gut überstehen konnte. Was musste ich tun, um Rova handlungsunfähig zu machen, so wie Mick mich auf dem Parkplatz? Idee kam mir zwar erstmal keine, aber ich behielt die Sache im Hinterkopf.
 

Leider war ich auch Tage nach der Begegnung mit diesem Idioten von Exfreund noch geladen wie eine Hochspannungstrasse. Lyz und ich hatten uns gerade auf den Weg zur ersten Vorlesung des Tages gemacht, da seufzte ich hörbar. Sie sah kurz zu mir, fragte aber nicht nach, was los war. Normalerweise redete ich morgens mit ihr über irgendwelchen Kram, den Unterrichtsstoff, die lustige Katze auf der gegenüberliegenden Straßenseite, Tagesnachrichten… manchmal auch Greenpeace Aktionen, für die sie sich interessierte. An diesem Morgen jedoch, war die Stimmung zwischen uns unterkühlt.

Hauptsächlich lag das an ihrer Reaktion auf den schmierigen Mick. Wenn ich mir in Erinnerung rief, wie sie ihn angesehen hatte, wurde mir schlecht. Diesen Blick sollte sie allein Rova schenken und vielleicht auch mir, aber bestimmt keinem andern.

„Bist du sauer?“,

hörte ich neben mir fragen, als gerade ein LKW an uns vorbei bretterte. Ich tat so, als hätte ich es nicht mitbekommen. Etwa eine Minute lang rettete mich diese Taktik, doch dann fragte sie:

„Warum bist du sauer auf mich?“

„Hm?“

„Wegen Mick, oder weil ich dich nicht mehr beim Einkaufen dabeihaben will? Das ist schon okay, kannst es ruhig sagen“,

fing sie einfühlsam an zu raten, doch ich schwieg, bis sie sich eine neue Idee in den Kopf setzte.

„Kommst du heute mit zum Mittagessen? Die Mensa ist nicht so schlecht wie du denkst. Du solltest es wenigstens mal ausprobieren.“

Diese Frage brachte mich völlig aus dem Konzept. Diesmal konnte ich nicht mehr so tun, als hätte ich nichts gehört. Ich hatte ihr immer gesagt, dass ich die Mensa nicht mögen würde und deshalb nicht mitkäme. Lyz hatte das einfach so akzeptiert, bis zu diesem Moment.

„Ich kriege nichts runter, wenn so viele Leute um mich rum sind“,

begründete ich, was sogar stimmte. Interessanterweise nickte sie verständnisvoll und lächelte so lieb, dass es mir einen Stich versetzte.

„Oh, verstehe. Das geht Vielen so. Es ist ein bisschen hektisch dort, aber man gewöhnt sich dran.“

Sie machte eine kleine Pause, holte tief Luft und fragte dann nervös:

„Aber wenn du die Mensa nicht magst… naja, weißt du… ich kann ziemlich gut kochen und…-“

„Nein!“,

fiel ich ihr ins Wort. Unweigerlich stand ich da wie der letzte Arsch. Da hatte mir Rova eine hübsche Falle gestellt, ihr weiterhin alles verschweigen zu müssen. Warum hob er diese Anweisung nicht endlich auf? Lyz schreckte zusammen, zog aber trotzdem ihre Mundwinkel nach oben. Es entstand ein gezwungenes, falsches Lächeln, von dem ich direkt den Blick abwenden musste. Ich verstand es, wenn sie das Leben nur so ertrug, fand es dadurch aber nicht weniger unangenehm. Wieder kam ein LKW, gerade als sie hauchte:

„Ich... wollte mich nicht aufdrängen. Für dich ist das auch die einzige Pause am Tag, oder? Die willst du wahrscheinlich gar nicht mit mir verbringen.“

Das war natürlich nicht das Problem, sondern, dass ich nichts essen konnte. Sie glaubte, ihr Flüstern sei bei dem Verkehrslärm untergegangen, was mich zum Glück von einer Antwort erlöste. Nur für mich wollte sie wieder anfangen zu kochen. Das ehrte mich, doch zu meiner schwelenden Eifersucht kam nun noch das Gefühl, sie zurückgestoßen zu haben. Der Tag war einfach nur noch gelaufen und das nicht nur für mich.

Alex 6: Wie ein Diener seine Rolle nicht akzeptiert

Der erste Vollmond, den ich in Lyz' Gegenwart durchmachen würde, ereilte mich nur einen Tag nach dem Streit mit ihr. Ich reagierte schon immer vergleichsweise heftig auf Mondphasen, ein bisschen mehr als andere Vampire jedenfalls, deshalb hatte ich mich auch schon die ganze Zeit vor dieser Konstellation gefürchtet. Obwohl ich davon nie etwas bemerkt hatte, schwor mir Sari damals, dass der Vollmond auch auf Rova großen Einfluss ausüben würde. Ihre weiblichen Reize waren es allerdings nicht, auf die er reagierte.

Wenn sie zu Vollmonden bei ihm abgeblitzt war, also jedes Mal, rief sie danach eigentlich immer mich an, mitunter sogar mitten in der Nacht und bestellte mich zu sich. Wahrscheinlich mochte sie es, wie der Vollmond meine Grenzen verschob. Ich wurde nicht gewalttätig oder bekam merkwürdige Vorlieben wie manch anderer. Ich war einfach nur offener, sprach aus, was ich wirklich dachte und wurde wohl auch etwas leidenschaftlicher. Was ich ihr an solchen Tagen und Nächten sagte, war mal mehr und mal weniger nett. Besonders viel reden, wollte sie dann aber eh nicht. Dieses lüsterne Weib wollte etwas ganz anderes, und zwar überall in der Villa. Rova erwischte uns mehr als einmal in flagranti. Meist tat er so, als hätte er nichts bemerkt, zu Beginn ein komisches Gefühl, aber ich gewöhnte mich irgendwann daran.

Nur einen einzigen Vollmond hatte Sari damals mit mir ausgelassen, den Blutmond. Das war der einzige Tag, an dem eine Vampirfrau geschwängert werden konnte. Ich malte mir in meinen Träumen aus, sie zu verführen und ihr einen kleinen Halbspanier in den Bauch zu setzen. Mein Nachkomme, ein Lucard, es gab nichts Größeres für mich… Wie naiv ich war. Der Abstand zu meiner Beziehung mit ihr führte mir nun einmal mehr vor Augen, was ich wirklich für sie war, etwas, dass ich niemals sein wollte, nämlich ihr Liebesdiener, nicht mehr als ein netter Zeitvertreib. Eigentlich wusste ich das die ganze Zeit über und fand es okay, weil sie immer lieb zu mir war und doch hinterließ es nun schmerzhafte Spuren, die an meinem Selbstbild nagten. Nicht ohne Grund hatte ich mich bewusst gegen dieses Ausbildungsprofil entschieden.

Ihr Tod kam mir vor, als sei er eine Ewigkeit her, tatsächlich waren es aber erst fünfeinhalb Wochen. Trotz meiner Erkenntnis über meine vermaledeite Rolle in ihrem Leben, vermisste ich sie jeden Tag. Ich liebte ihr ansteckendes Lachen und ihre verquere, unerschütterlich positive Weise, die Welt zu betrachten. Mit ihren Augen zu sehen, bot mir jedes Mal neue Perspektiven. Dieses Mädchen hatte mich für immer verändert.
 

Meine Fresse, war meine Stimmung im Keller. Wenn ich morgens schon mit dem falschen Fuß aufstand, steckte ich mir normalerweise Kopfhörer ins Ohr und tauchte in irgendwelchen geilen Gitarrensoli ab, die ich mir vorstelle, nachspielen zu können. Das war so'n Luftgitarren-Ding… Seit ich wegen Lyz aber auf jeden Mucks achten und immer wachsam bleiben musste, war Musik als Kanal für meine miese Laune leider gestorben. Was 'ne Scheiße!

Angepisst warf ich einen Blick auf mein Handy. 7:35 Uhr, Zeit Lyz abzuholen, aber darauf blinkte noch etwas anderes. Eine Nachricht von Talina, meiner Freundin aus der Ausbildungszeit. Sie schickte mir zu jedem Vollmond ungefragt versaute Bilder oder beschrieb irgendwelche Praktiken für gemischte, aber auch gleichgeschlechtliche Paare. Was sollte ich damit, du perverse Trulla!? Mann! Das war wohl ihre Macke. Ich sah mir ihr hautfarbenes Bild nicht wirklich an, klickte auf Antworten und schrieb ihr zurück:

"Lass die Scheiße!"

Danach sperrte ich ihre Nummer. So lief es eigentlich jeden Monat ab. Keine Ahnung, warum sie das tat, aber es ging mir gehörig auf den Keks.
 

Genervt von allem und jedem ging ich hinaus in den Flur des Studentenwohnheims, wo ich durch meine geschärften Sinne den betörenden Duft des Prinzesschens durch ihre verschlossene Tür hindurch witterte. Für einen Augenblick löste das eine wohltuende Entspannung aus, lange genug, um meine tristen Gedanken beiseitezuschieben. Zuerst schwebte ich geradezu, bis Lyz ebenfalls auf den Flur in mein Blickfeld trat und für eine pure Reizüberflutung sorgte.

Allein die Art, wie sie den Träger ihrer Umhängetasche berührte, als würde sie ihn zärtlich streicheln, machte mich direkt scharf auf sie, Vollmond eben. Als sie sich dann noch das Haar aus dem Nacken strich, damit sie es nicht unter dem Träger einklemmte, musste ich schleunigst meinen Blick abwenden. In mir wuchs die Gier nach Lyz' köstlichem warmen Blut auf meiner Zunge. Mein eigenes begann durch meinen Körper zu pumpen, als gäbe es kein Morgen. Verdammt! Wie sollte ich das den ganzen Tag ertragen?

Mein Verstand verabschiedete sich kurz in den Urlaub, als mich die süße Versuchung vor mir unsicher anlächelte. Nach unserem Streit am Vortag wusste sie wahrscheinlich nicht so genau, wie sie mit mir umgehen sollte. Lyz war so lieb und fürsorglich, dass mein Trieb kurz davor war, die Führung zu übernehmen, sie in ihr Zimmer zurückzuschieben und sie von ihrem hübschen, aber gerade störenden, weißen Spitzenkleid zu befreien.

Hilflos gegen die überkochende Lust in mir, hockte ich mich auf den Boden und tat so, als ob ich in meiner Tasche herumwühlen würde. Mit der Hand vor dem Mund murmelte ich:

„Geh schon vor! Ich hab was vergessen. Ich… komm gleich nach.“

Ich dankte meinem Verstand für seinen kurzen Besuch bei mir. Zu Lyz nach oben zu schauen, brachte ich nicht fertig, aber das war auch gar nicht nötig. Sie hatte gezögert, bestätigte dann aber trotzig mit einem knappen:

„Na gut“

und ließ mich hinter sich zurück. Dass ich ihr unglaublich liebes Angebot, für mich zu kochen, abgelehnt hatte, schien sie mir noch nicht wirklich verziehen zu haben. Der Streit mit ihr war also durchaus nützlich, auch wenn er mich schmerzte.

Als ich meine Hand vom Mund nahm, leckte ich mir unbeabsichtigt sinnlich die Finger ab. Sowas hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gemacht. Ich schüttelte irritiert den Kopf, während ich mir die andere Hand in den Schoß legte, um zu überprüfen, ob es mich wirklich so krass erwischt hatte, wie es sich anfühlte. Schon bei der kleinsten Berührung, zwang es mich tief einzuatmen und die Luft anzuhalten. Verdammt, von der Härte her, hätte ich es gut und gerne mit einem Diamanten aufnehmen können. Was machte dieses Mädchen bloß mit mir?

Sofort schloss ich zitternd, noch halb in der Hocke, meine Zimmertür wieder auf und verschwand danach im Bad. Ich brauchte meinen vor Lust pulsierenden Jonny nur leicht zu berühren, schon ging mir einer ab. Da sich kaum was an seiner Größe änderte, wiederholte ich das Ganze ein zweites Mal. Diese dermaßen heftige Reaktion kam wirklich unerwartet. Sari mochte mich zu Vollmonden zur Bereitschaft abgerichtet haben, aber das? Zur Vorsorge trank ich noch schnell meine Wochenration Blut. Satt und befriedigt sollte ich das Prinzesschen besser ertragen, dachte ich. Zum Abschluss wusch ich mir noch das Gesicht mit eiskaltem Wasser, was wirklich erfrischend war. Mein Körper beruhigte sich dadurch tatsächlich, aber das konnte auch an der Entfernung liegen, die nun zwischen Lyz und mir lag.
 

Die Ernüchterung kam schnell, denn schon vor Betreten des Hörsaals, in dem sie saß, wurde es wieder schlimmer. Wenn ich das irgendwie überstehen wollte, dann musste ich mich so weit wie möglich von ihr weg an ein offenes Fenster setzen. Ich beobachtete sie während der Vorlesung aufmerksam von der letzten Reihe aus, ganz so, als sei ich auf der Pirsch. Ihr seidiges, langes Haar war wie immer schlecht frisiert und doch war sie auch von hinten eine Augenweide. Meine Hand musste ich vor dem Mund lassen. Dieses vorfreudige Grinsen konnte ich keinem zumuten.

Gleich in der ersten Pause kam Lyz zu mir, um mir ein Friedensangebot zu unterbreiten, naja oder überhaupt erstmal herauszufinden, was eigentlich mit mir los war. Ich drehte den Kopf von ihr weg und sah kein einziges Mal zu ihr hoch. Unbeabsichtigt giftig wies ich sie ab.

„Lass mich doch einfach mal 'ne Weile in Ruhe!“

In Wahrheit hätte ich es spitze gefunden, wenn sie sich auf meinen Schoß gesetzt hätte, nackt versteht sich. Es gab wohl keinen unpassenderen Zeitpunkt für einen Gedanken wie diesen, wo ich sie doch so traurig machte und vielleicht auch, weil wir uns inmitten des Vorlesungssaals befanden, … wär mir in dem Moment aber egal gewesen. Sichtlich bedrückt, setzte sie sich wieder, blieb leider aber nicht lange alleine. Ein Mädchen mit einem abgefressenen Hundehaarschnitt und zu langem Pony, der gut in die 80er Jahre gepasst hätte, beugte sich erst zu Lyz und setzte sich dann zu ihr. Sie hieß Hanna und war die Allererste, die Lyz vor drei Wochen an der Hochschule angesprochen hatte.

Kaum war eine Differenz zwischen Lyz und mir sichtbar, kreisten unsere Kommilitonen schon wie die Geier um sie. Jedem im Raum hatte ich irgendwann schon einmal unmissverständlich klar gemacht, dass Lyz tabu war, aber Hanna glaubte offenbar, dass meine alte Zurechtweisung seine Gültigkeit verlor, wenn wir uns stritten. Ich konnte ihr schlecht quer durch den Saal zurufen, die solle sich verpissen, auch wenn es lustig gewesen wäre. Da ich nur Lyz nicht ertrug, Hanna aber schon, war das Problem eigentlich relativ leicht aus der Welt zu schaffen. Um den Duft ein wenig zu dämpfen, zog ich mir das Shirt über den Mund und lief zu den beiden Mädchen. War mir egal, ob das komisch aussah.

„Komm mit! Ich will mit dir reden“,

befahl ich über ihre Köpfe hinweg. Ich konnte Lyz unmöglich ansehen, das hätte mich die Beherrschung gekostet. Natürlich fühlte nicht Hanna, sondern sie sich angesprochen, stand auf und antwortete mit einem erleichterten:

„Klar!“

„Nicht mit dir. Mit Hanna!“,

schimpfte ich nun zur Seite blickend. Im unteren Augenwinkel sah ich, wie Lyz in sich zusammenfuhr, Hanna ihren Kopf in meine Richtung wirbelte und viel zu laut rief:

„Mit mir?!“

Rasch wandte ich mich ab und ging vor, ohne mich umzudrehen. Lyz so sehr zu begehren, war schon ziemlich lästig. Wenn ich sie irgendwann mal auch zu Vollmond ertragen können wollte, musste ich dringend an meiner Widerstandskraft gegen sie arbeiten.
 

Erst draußen im Gang bemerkte ich, dass Hanna mir tatsächlich gefolgt war. Da ich mir nicht sicher war, ob mir die Hand ausrutschen würde, lief ich mit ihr bis zum Ende des Gangs, in dem sich nur noch Büros befanden.

Ich drehte mich zu ihr und musterte sie kurz. Sie spielte nervös an ihren Fingernägeln herum. Ihr zu langer Pony hing ihr vor den Augen, aber ich erkannte, dass sie mich scheu von unten ansah. Ihr Geruch verriet mir, dass sie Angst vor mir hatte, genau das Gefühl, das ich hervorrufen wollte, aber gleichzeitig witterte ich auch Erregung an ihr. Vielleicht stand sie auf Lyz. Mich hätte das jedenfalls nicht gewundert. Viel schüchterner als sie sonst war, winselte sie:

„Was… was gibt es denn?“

„Was wolltest du von Lyz?“,

fuhr ich sie an, was unter der hohen Decke des alten Gemäuers widerhallte. Hanna begann auf der Stelle herumzutreten, bevor sie zur Antwort fiepte:

„Das ist so… ich… nein, ich kann nicht.“

Ein Geheimnis? Spitze! Ich hätte ausrasten können vor Wut auf sie. Mein Geduldsfaden war bei Vollmond unglaublich kurz und zimperlich war ich auch nicht gerade, egal wer vor mir stand. Ich machte einen bedrohlichen Schritt auf sie zu, dem sie erst ein Stück nach hinten auswich, dann aber eigenartigerweise sofort zurückkam und mich von unten ansah wie ein Pudelwelpe.

„A-Alex…“,

hauchte sie mir nun entgegen. Vor ihr aufgebaut, wollte ich sie gerade zurechtweisen, da beantwortete sie mir stotternd meine erste Frage und lief dabei rot an.

„Ich… ich hab sie gefragt, ob ihr auseinander seid, weil… du…“

Sie stoppte ihre Erklärung, bei der sie immer nervöser wurde. Ein wenig verwirrt runzelte ich die Stirn, als ich kapierte, dass es gar nicht um Lyz ging, sondern um mich. Ich verstand nicht gleich, warum sie dann nicht direkt zu mir gekommen war. Nach einer kurzen Pause machte sie dort weiter, wo sie ausgesetzt hatte.

„… besonders bist, anders als alle anderen. D-das find ich interessant. Ich mag interessante Menschen.“

Mir fielen zwei Gründe für ihr Interesse an mir ein. Entweder war sie harmlos und mochte mich einfach so, oder aber identifizierte sie mich unterbewusst als Vampir. Was für uns normal war, nämlich uns gegenseitig am Geruch zu erkennen, beherrschten auch ein paar wenige Menschen. In modernen Zeiten leugneten sie unsere Existenz, Vampire selbst lachten in Gegenwart der Menschen über vergleichbare Anschuldigungen, aber das war nicht immer so. Menschen mit der Fähigkeit, Vampire zu entlarven, wurden im Mittelalter von der Kirche zu Vampirsuchern ausgebildet. Ich hatte geglaubt, wir hätten sie vollständig ausgerottet, vielleicht gab es aber nach all der Zeit wieder welche.

Wenn sie auch Rova interessant finden würde, dann… nein, das war Unfug. Jeder fand Rova interessant, das war ein Naturgesetz und kein Beweis für ihre Fähigkeit. Wahrscheinlich machte mich der Vollmond einfach nur paranoid.

Ich hatte sie eine ganze Weile angeschwiegen, deshalb sah sie erwartungsvoll, fast ehrfürchtig sogar, zu mir auf. Ich hob die Augenbrauen an, setzte meine Hand auf ihre Schulter und schob sie grob von mir. Sie Rova zu melden, würde ihren Tod bedeuten, schon aus dem reinen Verdacht heraus. So funktionierte unsere Rechtsprechung eben. Ich ging an ihr vorbei mit den kalten Worten:

„Halt dich einfach von uns beiden fern! Dann gibt's auch keinen Ärger.“

Sofort legte sie ihre Hand auf meine, was meinen Abwehrmechanismus in Gang setzte. Ich war drauf und dran ihr mit der Faust in den Bauch zu schlagen, weil ich sie für eine Millisekunde für eine Vampirsucherin hielt. So leicht reizbar, war ich zu überhaupt nichts zu gebrauchen. Beim Abfedern des Schwungs meines Schlages, rempelte ich sie an, wodurch sie fast hinfiel. Sie prallte mit ihrer Hundefrisur an meiner Brust ab und krallte sich dann mit einer Hand in mein schwarzes Shirt, um wieder Halt zu finden.

„Aua, mein Gott, ist die hart!“,

rief sie überrascht, während sie sich an ihre Beule fasste. Ich brachte einen Arm zwischen uns und schob sie von mir. Immer noch eingeschüchtert und gleichzeitig erregt, sah sie zu mir auf.

„D-damit hab ich nicht gerechnet. Alex, ich will- darf ich…-“

„Darfst du nicht!“,

schnauzte ich und ging an ihr vorbei. Leider war sie eine von der hartnäckigen Sorte und kam mir wie ein treudoofer Pudel hinterher. Das konnte doch nicht wirklich ihr Ernst sein.

„Schon gut, du bist schlecht drauf, weil du Streit mit Lyz hast, aber wenn du… Trost brauchst…“

Sie schien wirklich nicht die Hellste zu sein und damit platze mir der Geduldsfaden. Ich packte ihre Schulter und drückte sie mit meinem Unterarm an die Wand. So wie sie mich ansah, war sie geschockt, dass ich Gewalt gegen sie anwendete. Diese Hundefrau hatte wirklich einen schlechten Zeitpunkt ausgewählt, um mir auf den Wecker zu fallen.

„Ich sage es dir jetzt ein allerletztes Mal, Hanna…“

Unter meinem Arm hob und senkte sich ihr Brustkorb. Nicht ihre Angst, sondern ihre Erregung wuchs. Abstoßend, was sie für eine Masochistin war.

„…du sollst Leine ziehen! Ich hab auch ohne dich schon genug Probleme, klar?“

„K-klar“,

hauchte sie mir zittrig entgegen, worauf ich angewidert seufzte, und sie freiließ.

So eine Klette konnte ich überhaupt nicht gebrauchen. Ich ging zurück in den Vorlesungssaal, in dem Lyz schon wieder nicht mehr alleine saß, sondern diesmal von zwei Kerlen belagert wurde. Kaum hatte ich den Raum betreten, sprangen sie auf und suchten sich andere Plätze. Noch zwei Kandidaten, die ich zurechtweisen musste und das ausgerechnet bei meiner miesen Laune. Bei Vollmond war es ziemlich anstrengend, auf das Prinzesschen aufzupassen.
 

Mal einen beschissenen Tag zu überstehen, war kein Kunststück, aber es gab mir schon einen Vorgeschmack darauf, was auf mich zukam, wenn Lyz' Blutung einsetzte. Lange konnte es bis dahin nicht mehr dauern. Eigentlich war sie sogar überfällig, wenn ich mich nicht irrte. Dieses Warten machte mich verrückt, auch wenn ich froh war, dass sich die Blutung nicht mit dem Vollmond überschnitten hatte.

Wie befürchtet, spürte ich sie wenige Tage später wieder in mir, diese Lust mich an Lyz ordentlich auszutoben. Während der Mond mich spannungsgeladen und spitz auf das Prinzesschen gemacht hatte, wurde ich durch ihr Blut vor allem hungrig. Natürlich war immer beides im Spiel, denn wenn es um sie ging, folgte eines stets dem anderen. Meine Blutkonserve schüttete ich völlig überstürzt schon am ersten Tag in einem Ritt runter, dabei wollte ich sie mir eigentlich einteilen. Vorrat hatte ich auch keinen, denn jeder bekam seine Ration vom SOLV zugeteilt. Ein guter Start war das nicht gerade.
 

Wie schon an Vollmond setzte ich mich in der Vorlesung notgedrungen wieder möglichst weit weg von Lyz und sprach kein Wort mit ihr. Sie kam schon gar nicht mehr zu mir, so traurig war sie darüber, dass ich sie schon wieder ohne Grund zurückwies. Nur ein falsches Wort zu Rova und ich wäre geliefert gewesen. Glück für mich, dass sein Plan vom strahlenden Helden kein Stück funktionierte.

Ich hatte sie von der letzten Reihe aus bestimmt schon drei Stunden lang vernarrt angestarrt, da kam mir plötzlich ein Bild vor Augen, das mir auf einen Schlag den Rest meines verbliebenen Verstandes raubte.

Fluchtartig hastete aus dem Saal und rannte die Stufen bis ganz nach oben, anstatt zur Herrentoilette, in der ich besser aufgehoben gewesen wäre. Verzweifelt riss ich das Fenster auf und schnappte nach frischer Luft, die nicht vom süßen Duft des Prinzesschens kontaminiert war.

Trotzdem kam dieses Bild wieder, das meine panikartige Flucht ausgelöst hatte. Nie zuvor hatte mich eine Vorstellung von etwas dermaßen angemacht. Seit ich die Treppe hochgerannt war, atmete ich schwer, aber das hatte nichts mit der Anstrengung zu tun. Ich lehnte mich weit aus dem Fenster, doch der Ausblick auf das Campusgelände wurde überlagert. Scheiße, war das peinlich! Lyz machte mich echt zu einem Perversen.

Die Stelle an ihrem Körper, die diesen unwiderstehlichen Duft absonderte, vereinte all meine Gelüste. Ich sah Lyz bildlich vor mir, mit ihrem unschuldig weißen Spitzenkleid auf ihrem Bett sitzen. Sie hob den Rock an, unter dem sie ihre Beine spreizte. Unterwäsche trug sie natürlich keine, dafür aber einen lüsternen Blick, der mich anflehte, das Blut direkt von der Austrittsstelle zu lecken. Oh ja, ich bitte darum, Aphrodite! Gut, dass ich Taschentücher dabeihatte, denn zur Herrentoilette brauchte ich nicht mehr zu gehen. Mein Körper hatte das ganz von alleine erledigt. Er verhielt sich, als sei ich fünfzehn, nicht fünfundzwanzig, verflixt. Zumindest ging es mir danach wieder besser und ich konnte wieder in den Hörsaal zurückkehren.
 

Jeden einzelnen Tag, jede Stunde, jede Minute, die ich dem Duft ihres Ambrosia ausgesetzt war, standen mir unentwegt die Schweißperlen auf der Stirn. Lyz beförderte mich in neue Sphären der Lust, von denen ich mir nicht sicher war, ob ich sie überhaupt erkunden wollte.

Die darauffolgenden Tage überstand ich auf ähnliche Weise, morgens Druck ablassen und aus dem Saal hechten, wenn es zu schlimm wurde. Das einzige Problem war der Donnerstag, jener Tag, an dem Rova unser Dozent war. Meinen Hunger und meine Erregung musste er schließlich wittern können, dann noch die veränderte Sitzordnung… er brauchte keine Gedanken lesen zu können, um mich zu entlarven. Meine Gedanken… ja, die waren gerade wirklich tödlich. Ich durfte sie in meinem Kopf nicht zu Worten formen, sonst hätte ich sofort wieder rausrennen müssen, viel zu auffällig vor meinem Herrn. Stattdessen fokussierte ich Rova und verfolgte seine Vorlesung mit maximaler Konzentration. Er machte mir Angst und das drängte meine Lust ein wenig zurück.

Den ganzen Tag hatte ich nicht das Gefühl, er würde sich sonderlich für mich interessieren. Wenn sein Blick längere Zeit auf jemandem verweilte, dann auf Lyz. War das ein weiterer Triumph? Bemerkte er mich gar nicht, wenn sie seine Aufmerksamkeit auf sich zog? Er ließ sich jedenfalls rein gar nichts anmerken. Wäre ich an seiner Stelle gewesen und hätte es bemerkt, dann… besser nicht daran denken. Wie auch immer ich das anstellte, ich überlistete den Blondie anscheinend. Am Ende des Tages fühlte ich mich, als sei ich der Größte. Alexander, Meister der Täuschung!
 

Erst als alles vorüber war, rief ich meine Schwester an und schilderte ihr die Lage. Meine Beschreibungen wären sonst wahrscheinlich etwas zu bildlich geworden, befürchtete ich. Diesmal erzählte ich Carla, was wirklich in mir abging, das komplette Programm, denn alleine wusste ich nicht mehr, was ich tun sollte. Es konnte doch nicht ewig so weitergehen. Irgendwann würde ich entlarvt werden und mein Herr war alles andere als nachsichtig bei derartigen Vergehen. Ich befürchte schon ein zweiter Pete zu werden. Nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hatte Rova ihn irgendwohin mitgenommen, ohne dass mir jemand näheres darüber sagen konnte.
 

„Oh, Alejandro!“,

rief Carla nach meiner ausführlichen Erklärung bestürzt durch das Telefon, was mich allein schon wieder ein ganzes Stück aufbaute. Sie brachte so viel Fürsorge für mich auf, dass mir ihre Wärme direkt ins Herz stieg. Ich liebte sie und auch den Rest meiner Familie einfach so sehr.

„Trau dich! Zeig ihr deine hübschen Zähne und sie wird hin und weg von dir sein!“,

empfahl sie mir aufgeregt auf Spanisch.

„Du weißt, dass ich das nicht darf, Carla!“,

antwortete ich ihr seufzend in meinem miesen Spanisch mit dem deutschen Akzent, über den sich die Familie gern lustig machte. Meine Schwester ignorierte ihn an diesem Tag und versuchte mich lieber mit Tipps zu unterstützen. Sie schien zu spüren, dass es mir nicht nach Scherzen zumute war.

„Nicht beißen, du Dummkopf. Zeig ihr anders, dass du ein Vampir bist, egal was der Lucard angeordnet hat. Dann war es eben ein Versehen, was soll's. Er wird es verkraften. Vertrau mir, gegen deinen sexy Vampircharme ist jedes Mädchen machtlos, auch sie. Du bist so ein hübscher und liebenswerter Mann, da sollte es kein Problem sein, ihr Herz zu stehlen. Ja und wenn du es einmal hast, ergibt sich der Rest ganz von selbst.“

„Meine Güte, Carla. Das ist Wahnsinn. Ich meine, hast du dir den Lucard mal angeguckt, gegen den ich ins Rennen ziehen soll? Der hat das Gesicht eines Engels und steckt im Körper eines griechischen Gottes. Das brauche ich gar nicht erst zu versuchen.“

Es war kein Wunder, dass sie mich toll fand, immerhin war sie meine Schwester. Nach meiner Aussage seufzte nun aber sogar sie, wo sie sich doch sonst durch nichts unterkriegen ließ.

„Hör mal, Alejandro. Ich weiß ja, dass du ihn verehrst, aber bist du mal auf die Idee gekommen, dass nicht alle Frauen nur auf Engel oder griechische Götter abfahren? Davon mal abgesehen, bist du auch nicht ohne. Beim letzten Mal, als ich dich sah, ist das schon zwei Jahre her? ...oje … also da blitzten ein paar hübsche Bauchmuskeln unter deinem T-Shirt hervor, als du dich gestreckt hast. Das hat selbst mich überrascht. Glaub mir einfach, wenn ich sage, dass da jedes Mädchen schwach wird. Zeig ihr, was du hast, kleiner Bruder!“

„Carla!“,

ermahnte ich sie und griff mir unwillkürlich an den Bauch. Sari hatte er auch gefallen. Eigentlich immer, wenn sie ihn berührt hatte, wollte sie danach Sex und Hanna schien auch angetan gewesen zu sein.

Ach, was tat ich da nur?... Versuchte einen Weg zu finden, das Mädchen meines Herrn ins Bett zu kriegen. Ich wusste nicht mal, ob ich sie nur total heiß fand oder ich mich richtig in sie... Was, wenn es nur der pure Trieb war, der mich leitete? Sie lag mir schon extrem am Herzen, aber bevor ich die Dummheit meines Lebens beging, musste ich mir schon sicher sein, dass ich sie richtig liebte. Ich musste Lyz noch etwas besser kennenlernen und mich selbst von der Aufrichtigkeit meiner Gefühle überzeugen.

Ich hing schon dem Gedanken nach, mich irgendwie zu testen, während ich mich halbherzig bei meiner Schwester bedankte und das Ende des Gesprächs einleitete. Fast panisch rief sie in den Hörer:

„Hey, Moment mal, ich bin noch nicht fertig mit dir! Du willst ihr doch näherkommen, ohne dass es auffällt. Am besten, … du erweiterst deinen Dienstleistungskatalog für sie, zum Beispiel, ... genau! Du magst doch Filme, richtig?“

„Was?“,

stammelte ich.

„Schau welche mit ihr, schön romantisch im Dunkeln!“

Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass das die beste Idee war, die ich seit Langem gehört hatte. Filme zusammen anzuschauen war unverfänglich und trotzdem irgendwie intim. Vor allem kannte ich durch meine Zeit im Internat echt viele und konnte aus einem ordentlichen Erfahrungsschatz schöpfen.

Ich dankte Carla überschwänglich und ging gleich noch am selben Abend zu Lyz. Ich klopfte bei ihr und schoss gleich los:

„Magste mit mir 'nen Film angucken?“

Es war erst 20 Uhr, doch sie schon im Schlafanzug und versteckte sich ein wenig hinter der Tür.

„Ist das etwa ein Friedensangebot? Bin ich froh! Ich frag auch nicht mehr, was los ist, versprochen. Hauptsache es ist alles ist wieder gut“,

strahle sie. Ich zuckte mit den Schultern und nickte dabei. Dem Drang, sie für ihre Nachsicht zu knuddeln, widerstand ich gerade noch so. Da sie mir aber noch nicht geantwortet hatte, hakte ich noch einmal nach.

„Und?“

„Janee, weiß nicht. Ich bin doch schon im Schlafzeug. Wie wäre es morgen Abend, oder… störe ich dann wieder?“,

fiepte sie und errötete dabei leicht. Verdammt, ich wollte sie schon wieder an mich drücken vor Freude. Unter großer Anstrengung beherrschte ich mich ein zweites Mal, grinste sie glücklich an und nickte erneut.

„Nein, morgen Abend ist super.“

Alex 7: Wie ein Diener seine Grenzen überschreitet

Ich war bestens gelaunt, denn das Filmeschauen erwies sich als überragender Erfolg. Kaum legte ich mich nur ein kleines bisschen mehr ins Zeug, lief es zwischen Lyz und mir noch viel besser als zuvor. Das musste doch etwas zu bedeuten haben. Meine Gefühle waren damit jedenfalls glasklar, ich wollte diese Frau nicht einfach in die Kiste kriegen oder eine Freundschaft zu ihr, ich liebte sie mit allem was dazu gehörte. Prompt war ich wieder auf dem Trip, meine eigentliche Aufgabe auszublenden und mein Leben mit ihr in vollen Zügen zu genießen. Es fühlte sich einfach nicht wie Arbeit an, Zeit mit ihr zu verbringen.

Was im ersten Moment total super klang, bedeutete für mich nichts anderes, als mich mit dem herausragendsten aller Vampire messen zu müssen. Dafür hätte mich jeder, außer meiner Schwester natürlich, für verrückt erklärt. Sogar Lyz' beknackter Exfreund hatte erkannt, dass ich nicht zu einer Frau ihres Kalibers passte. Sie gehörte an die Seite eines Geschäftsmanns oder Politikers, nicht an die eines Dieners. Da fiel mir ein, dass sich dieser komische Kauz tatsächlich nicht mehr bei ihr gemeldet hatte. Zumindest stand er zu seinem Wort, wenn er auch sonst ein ziemlicher Dummschwätzer war.
 

Über die Weihnachtsfeiertage fuhr Lyz in die Löwenhöhle, die sie ihr Zuhause nannte und natürlich observierte ich sie wieder. Das war schon okay, immerhin ging es nur um ein paar Tage. Ihre Familie schien Weihnachten genauso sehr zu lieben wie ich. Kein störender Weihnachtstinnef oder sonst irgendwas, das an das angebliche Fest der Liebe erinnerte, schmückte ihre kleine Villa. Das war wohl das Einzige, was ich an den beiden akzeptabel fand. Am Weihnachtsabend bekam Lyz von ihren Eltern einen Umschlag überreicht, in dem sich eine A4 Seite befand. Da sie laut vorgelesen wurde, erfuhr ich, was darauf stand. Es war der Ausdruck einer Online-Geldüberweisung. Merry Christmas, Prinzesschen. Als echter Weihnachtshasser fand ich das ziemlich witzig.

Als wir zurückkamen, tat ich natürlich so, als sei ich die ganze Zeit im Wohnheim geblieben. Es war anstrengend, ständig aufpassen zu müssen, was ich sagen durfte und was nicht. Vieles konnte ich streng genommen nämlich gar nicht wissen.

„Hast du was geschenkt bekommen?“,

fragte ich verschmitzt und verkniff mir das Lachen. Ich breitete gerade einen Film vor und sie wartete auf ihrem Bett sitzend auf mich. Schelmisch drehte ich mich zu ihr, denn ich war mir sicher, sie würde ihr Geschenk genauso lustig finden, wie ich es tat, doch sie lächelte schüchtern und nickte.

„Hmhm, ich hab was Nützliches bekommen. Meine Eltern unterstützen mein Studium, so gut sie können.“

Ihr Ernst? Ach ja, Geld war Menschen ja total wichtig. Ich vergaß das immer wieder. Da war auch schon wieder dieses blöde unechte Lächeln, das ich nicht sehen wollte.

„Und? Bist du froh, wieder bei mir sein zu können?“

Endlich lachte sie wirklich und ermahnte mich mit einem langgezogenen:

„Aaaalex! Hör auf, blöde Fragen zu stellen und mach den Film an!“

Na, wenn das mal keine Zustimmung war. Ich nahm den Laptop vom Schreibtisch, drehte mich beschwingt zu ihr und schenkte ihr ein breites Lächeln, das ihren Puls merklich erhöhte. Auf Rova reagierte sie zwar deutlich heftiger, Herzklopfen bei ihr auszulösen, war trotzdem ein guter erster Schritt. Bewusst schienen ihr diese Gefühle aber noch nicht zu sein. Für mich hieß das, ich musste mich noch weiter ins Zeug legen.
 

Leider hatte der Vollmond mal wieder ein beschissenes Timing, denn er unterbrach den guten Lauf ausgerechnet zu Silvester. Ich wollte Lyz vorwarnen, es mit irgendeiner dummen Ausrede begründen, doch dazu kam ich nicht mehr. Schon in der Nacht zuvor schreckte ich schweißgebadet aus dem Schlaf hoch, weil ich meinte, ihr Blut durch die Wand hindurch zu wittern. Alter, war sowas überhaupt möglich? Lyz und ihre unvorhergesehenen Blutungen… Warum konnte sie ihre Ambrosia nicht bis nach dem Vollmond in sich behalten, verdammt!?

Ich tigerte schon eine Weile nervös in meinem winzigen Zimmerchen auf und ab. Da ich meine Hitzewallungen nicht loswurde, hatte ich mir schon seit geraumer Zeit das T-Shirt vom Leib und das Fenster sperrangelweit aufgerissen. So ließ es sich zwar einigermaßen aushalten, ich stand aber trotzdem ziemlich am Abgrund. Zwar hatte Lyz, seit wir uns kannten, nicht ein einziges Mal die Initiative ergriffen, doch trotzdem befürchtete ich, dass es diesmal anders werden würde. Wir waren nämlich verabredet und ich üblicherweise verflucht zuverlässig. Ich Vollidiot kam erst auf die Idee, ihr einfach eine Nachricht zu schreiben, als sie bereits an meine Tür klopfte. Shit!

Ein blitzartiger Adrenalinstoß fuhr durch meinen erhitzten Körper, der einfach aufsprang und sich zur Tür bewegte. Ich verhielt mich wie ein Zombie, der nach Hirn gierte. Naja, oder eben ein Vampir, dem es nach Blut verlangte. Ohne nachzudenken, öffnete ich die Tür, wenn auch nur einen spaltbreit. Eigentlich war es egal wie weit, es war falsch, denn nun sah ich sie, so einmalig, so begehrenswert, so hilflos. Natürlich wäre es das Beste gewesen, ihr die Tür sofort vor der Nase zuzuschlagen, doch ein notgeiler Zombiesack wie ich, bekam das nicht gebacken. Ich hatte nicht mal Zeit, den sich anbahnenden Gewissenskonflikt auszutragen, denn Lyz befahl unmissverständlich:

„Heute ist Silvester, da wirst du mich nicht alleine rumsitzen lassen!“

Bitte, Danke, Gerne, Prinzesschen.
 

Shit, wie blöd es war, sie einzulassen, wurde mir klar, als mich ihre betörende Duftwolke erreichte. Mein angelernter Impuls, dem Prinzesschen jeden Wunsch von den Lippen abzulesen, ließ mich gleich noch eine Dummheit begehen und ganz automatisch das Fenster für sie schließen. Blöderweise stoppte ich damit den einzigen Zustrom frischer Luft, der mich noch einigermaßen bei Sinnen gehalten hatte. Naja, so erfolgreich auch wieder nicht, sonst hätte ich das Fenster nie geschlossen oder vorher schon die Notbremse gezogen.

Als hätte ich nicht schon genug Probleme, schwang sie ihren eleganten Hintern zu meinem ungemachten Bett und ließ sich darauf fallen. Ey, ging's noch?! Wollte sie meine Widerstandskraft testen, oder was? Ihr kurzes Kleid, ihr Höschen auf meinem Bettlaken, ihr offenes Dekolleté, das förmlich nach meinen Zähnen bettelte… Das war doch alles ein schlechter Scherz, den sich Rova ausgedacht haben musste.

Egal ob meine Vermutung stimmte, oder nicht, gab sie mir die Kraft, auf Lyz einzuschimpfen, damit sie endlich von selbst abhaute. Ich packte aus, was mir einfiel. Wahrheiten, die sie vertreiben sollten, Beleidigungen sogar, die mir hemmungslos über die Lippen rauschten. Zu allem Überfluss offenbarte ich ihr gleich noch, dass Rova und ich Vampire waren. Leider tat ich das weniger charmant, als es mir meine Schwester angeraten hatte. Lyz schien es aber ohnehin nicht zu kapieren, was mich nur noch weiter in Rage brachte.

Wieso ließ sie sich überhaupt so von mir vollpflaumen?! Und noch viel schlimmer, wieso, um alles in der Welt, trug diese wandelnde Versuchung keine verfickte Strumpfhose?! Im Ernst! Wollte sie mich seelisch fertig machen? Mich brechen, oder… oh! Sich im Gegenteil, vielleicht sogar anbieten? Ja, es wäre unglaublich einfach gewesen, an ihr duftendes Blut zu kommen, ohne ihr neue Wunden stechen zu müssen, schließlich besaß das süße Ding eine Öffnung, die schon ganz von allein blutete, wie ein Selbstbedienungsladen…

Verdammter Mist, ich platzte fast vor Erregung, aber noch gab ich mich nicht auf. Ich kannte nur noch einen einzigen Mann, der hier Schlimmeres verhindern konnte, und das war mein Herr. Schnell schnappte ich mir mein Handy und tippte nur ein einziges Wort:

„Notfall“

Kaum hatte ich die Nachricht abgesetzt, fiel mir ein Stein vom Herzen und mein Ärger fand ein neues Ziel: Rova.

„Weißt du eigentlich, was für ein altkluger Rotzbengel er ist? Vor kleinen Mädchen wie dir lässt er den großen Macker raushängen, aber hinter den Kulissen, hah! Unsicher wie ein Kind, aber will der Spross des Grafen sein?“

Genau so funktioniert das mit der Liebe. Man findet den super, der sich am meisten über andere lustig macht, ganz toll… mehr war von mir anscheinend nicht zu erwarten. Lyz war überfordert mit mir, verständlich, denn das war ich selbst auch. Zum Glück ließ der „Rotzbengel“, der mich mit nur einem Hieb kaltmachen konnte, nicht lange auf sich warten. Eigentlich war es merkwürdig, wie schnell er bei uns war, aber ich wollte da nicht kleinlich sein.
 

Verliebt musterte Lyz Rovas ach so zartes, ebenmäßiges Gesicht, als er in mein Zimmer trat. Ich machte die ganze Arbeit, kümmerte mich tagtäglich um all ihre Probleme und doch steckte er nun die Lorbeeren ein, dieser Arsch. Dank mir ging seine Heldentaktik am Ende wohl doch auf. Ich konnte mir bildhaft vorstellen, wie diese Szene auf Lyz wirken würde. Der güldene Prinz Robert-Valentin rettete das Prinzesschen vor dem bösen schwarzen Ritter Alexander. Für meinen Showeinsatz in der Rolle des Fieslings, hatte ich eigentlich eine Beförderung verdient. Der Name des Schauspiels lautete übrigens: „Zukunft versauen leicht gemacht“. Hätte ich nicht die Konsequenzen tragen müssen, wäre das äußerst unterhaltsam gewesen.
 

Ich hoffte, Rova würde keine große Sache daraus machen, sich einfach nur Lyz schnappen und abhauen. Natürlich konnte er es aber nicht lassen und frage nach, was los war. Genervt betitelte ich ihn direkt noch als altklugen Vampiradelsspross. Ich hatte ja sonst nichts anderes zu tun, als meinen Herrn in seinem Beisein zu beleidigen. Mit diesem Verhalten überschritt ich nicht nur seine, sondern auch meine eigenen Grenzen.

Der Blutgeruch lag inzwischen so schwer in der Luft, dass er meine Sicht vernebelte, allem einen Nachhall verpasste und auch meine restlichen Sinne trübte. Wie hielt Rova das nur aus? Meine Wahrnehmung blitze auf, als er sich mit zornigem Blick direkt vor mich stellte. An meinem linken Brustmuskel spürte ich etwas Spitzes, erst zart und dann immer fester, bis es sich in mich hineinbohrte. Zurückweichen war nicht drin, da ich mich schon nach hinten an meinen Schreibtisch presste. Rovas Aura musste angsteinflößend gewesen sein, doch von ihr und auch von dem Schmerz, den er mir zufügte, spürte ich fast nichts. Sein Nagel versank langsam bohrend etwa einen Zentimeter tief in meinem Fleisch, aus dem mein Blut herauszuquellen begann. Still und leise lief es meinen Körper herab, denn ich machte keinen Mucks.

Das fachte Rovas Zorn noch weiter an. Er zog seinen scharfen Fingernagel quer über meine Brust hinweg, bis hinunter zu meinem Bauch, was einen tiefen Schnitt hinterließ. Wieder blieb ich still und blickte ihm auch dann noch aufrecht ins Gesicht, wenn mein Körper unter dieser Verwundung zusammenzuckte. Mein Herr konnte mich nicht brechen, schon gar nicht, wenn ich unter dem Einfluss von Lyz' Blut stand. Ich funkelte ihn herausfordernd an, damit er vor ihr ausrasten und ihr damit sein wahres Gesicht offenbaren würde. Sie sollte nicht immer nur den charmanten, gutaussehenden Gönner sehen, sondern auch seine radikale und gebrochene Seite.

Ich hätte froh sein sollen, als Rova sich von mir abwandte, doch ich rief ihm sogar noch eine hübsche Beleidigung hinterher. Ach, und wo ich gerade dabei war, wurde ich auch noch Lyz gegenüber ausfallend, weil sie mich erst in diese beschissene Lage gebracht hatte. Verschreckt wendete sie den Blick von mir ab. In diesem Moment fühlte es sich für mich trotzdem wie ein Triumph an, mich über alle anderen zu erheben. Rovas Rückzug verbuchte ich als einen Sieg, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich mir an die Brust fasste, aus der jede Menge Blut heraussickerte. Oh scheiße, die schmerzstillende Wirkung hatte mich die Schwere meiner Verletzung erheblich unterschätzen lassen.

Die Wunde war verdammt tief und ich sah, wie der Muskel an einigen Stellen auseinanderklaffte. Schnitte versetze Rova nur besonders Widerstandsfähigen wie mir. Das wusste ich aus den Interviews, die ich mit seinen ehemaligen Dienern geführt hatte. Ich bildete mir darauf etwas ein, bis mir sein letzter Blick zu mir wieder einfiel. Seine Augen funkelten wild, als könne er es kaum erwarten, weiterzumachen. Ich hatte es noch nicht überstanden, verdammt!
 

Kaum war ich allein, riss ich das Fenster wieder auf. Die sinkende Konzentration von Lyz' Ausdünstungen brachte den Schmerz mit sich, der einer so schweren Schnittwunde die entsprechende Wertung verlieh. Was ihn dämpfte, war wohl nicht der Vollmond, sondern der vom Blut ausgelöste Rausch. Ich hockte mich vor Schmerzen zuckend auf den Boden. Wenn das die Ouvertüre war, konnte ich den Hauptteil kaum noch erwarten.

Alex 8: Bestrafung eines Dieners

Die winterliche Dämmerung wich der Dunkelheit. Nur noch der Mond und das aufblitzende Leuchten der Raketen erhellten mein Zimmer wie ein buntes Gewitter. Es raubte mir den letzten Nerv, meine langweiligen Pressspanmöbel immer wieder für Sekundenbruchteile abwechselnd in grün, in Gelb oder in Pink aufblitzen sehen zu müssen. Ach Scheiße, bevor ich mich noch weiter davon fertig machen ließ, nahm ich lieber meine Kraft zusammen, setzte mich auf meinen Schreibtisch und betrachtete das Feuerwerk durch mein Fenster zum Innenhof.

Dort war gerade eine Gruppe von Studenten damit beschäftigt, ihre Ersparnisse in den Himmel zu pusten. Sie feierten ausgelassen, riefen einander sinnlosen Mist zu, wie: „ob's zu spät is, noch irgendwo 'n Bier zu kriegen?“ und lachten dann dümmlich. Man ließ echt jeden Spinner studieren, der eine Einschreibung hinbekam und den Semesterbeitrag pünktlich zahlte. Mehr als diese angesäuselten Typen und ihr Feuerwerk, fesselte mich jedoch der Vollmond über ihnen, der mich durch ein paar Rauchnebelschwaden hindurch verspottete. Warum flogen ihre Raketen nicht höher und rissen diese überflüssige Ansammlung von Gestein und Staub in Stücke!? Ich seufzte, denn das war wohl unmöglich, genauso, wie irgendwie mit mir selbst ins Reine zu kommen.

Scheiße, Rovas persönlicher Diener zu sein, war nicht weniger als mein Kindheitstraum, für den ich mehr als hart gearbeitet hatte. Hätte mir irgendein Wahrsager- Scharlatan- Fuzzi vor ein paar Monaten prophezeit, dass ich einmal meine Karriere für einen hirnlosen Augenblick des Aufbegehrens riskieren würde, hätte ich ihn ausgelacht, mein Geld zurückverlangt und… vielleicht seine Bude kurz und klein geschlagen. Nein Quatsch, sowas machte ich nur auf Befehl meines Herrn. Kaum etwas war mir wichtiger als er und nun brauchte es nur noch einen Vollmond und eine Frau, um das alles ganz schnell vergessen zu machen. Rova schienen dieselben Umstände kaum etwas oder gar nichts auszumachen, so gefasst, wie er mir erschienen war. Vielleicht empfand er viel weniger für Lyz, als ich es tat.

Ja klar, als ob..., diesen lächerlichen Schwachsinn glaubte ich mir ja nicht mal selbst. Seit sie aufgetaucht war, zeigte er ganz neue Seiten an sich. Er offenbarte plötzlich Unsicherheiten und Schwäche, wenn es um sie ging und selbst für den SOLV nahm er sich nicht so viel Zeit wie für die Vorlesungen, die er im Grunde nur für sie hielt. Ich war trotzdem der Meinung, er hätte dieselbe Zeit besser investieren und sich direkt mit ihr treffen sollen. Aber er war erfahrener und intelligenter als ich, also verfolgte er wahrscheinlich irgendeinen größeren Plan, den ich nur nicht kapierte.

Ich sah auf mein Handy, auf dem zuverlässig wie immer zu Vollmond, eine fleischige Nachricht meiner Ex Talina auf mich wartete. Scheiße, die Tussi konnte mich Mal. Ich löschte ihren geistigen Dünnschiss, sperrte ihre neue Nummer und krachte das Handy zurück auf den Schreibtisch.

Das alles brachte überhaupt nichts. Selbst wenn ich mich versuchte, abzulenken, wurde ich durch meine Ungeduld nur immer unsicherer. Was sollte ich tun? Flucht kam mir nicht in den Sinn, wozu auch, bei meiner Verfassung? Ich wäre nicht weit gekommen und auf Fahnenflucht stand nichts Geringeres als der Tod.
 

Lange ließ er mich nicht schmoren, denn schon nach kurzer Zeit öffnete Rova schwungvoll meine Tür und schmiss sie danach aggressiv hinter sich zurück ins Schloss. Das verursachte einen im Gang und Treppenhaus widerhallenden lauten Knall, der sich aber kaum von denen der Silvesterraketen unterschied. Ich war zusammengezuckt und sah verunsichert zwischen meinen Haaren hindurch zu meinem Herrn. Langsam, aber bedrohlich schritt er auf mich zu, doch noch stand er im Schatten, sodass ich seinen Gesichtsausdruck nur sah, wenn ein bunter Blitz den Raum erhellte. Zwar wirkte er, rein äußerlich, ausgeglichen, seine Aura verströmte jedoch blanke Wut.

Bevor ich etwas Beschwichtigendes sagen konnte, lähmte er meinen Körper. Ich wusste von dieser Kraft, hatte sie aber noch niemals am eigenen Leib zu spüren bekommen. Das reichte ihm aber noch nicht, denn er machte irgendetwas mit meiner Kehle. Sie feuerte und schnürte sich dann immer fester zusammen, als hätte ich heißes Kerzenwachs getrunken. Das war ein schrecklich beklemmendes Gefühl, das mich nach Luft japsen ließ. Scheiße, ich war ein Nichts gegen ihn.

„Ach, auf einmal nicht mehr so großspurig, was? Alexander Martin-Ruiz, jüngster Sohn der altehrwürdigen Dienerfamilie der Don Velas, einem der zwölf Geschlechter von Soria, Examen mit Auszeichnung als… nanu? Einer der JÜNGSTEN Absolventen der Jost Hoen Akademie? Sehr mysteriös, wo du doch mit deinen angegebenen 30 Jahren dem üblichen Abschlussalter entsprochen hast.“

fauchte er bemüht ruhig in meine Richtung und hauchte mir dann noch eine Anmerkung entgegen:

„Dass du mich mit einem so billigen Trick derart lange blenden konntest…“

Noch einmal japste ich und selbst das fiel mir zunehmend schwerer. Vielleicht hatte ich mich sieben Jahre älter geschummelt, weil ich es einfach nicht erwarten konnte, endlich richtig arbeiten zu dürfen. Die ganze Ausbildung hindurch hatte ich mich mächtig beeilt. Schon während des Abiturs absolvierte ich fast ein Viertel der notwendigen Kurse nebenbei als Gasthörer und während des Studiums schloss ich mehr Fächer pro Semester ab, als im Lehrplan standen. Ich machte nur das Notwendigste in kürzester Zeit und übersprang alle Praktika, weil sie nirgends vorgeschrieben wurden. Fünf Jahre gingen manche meiner Kommilitonen in die Praxislehre, obwohl es nur üblich und nicht obligatorisch war.

Mit meiner Einstellung stieß ich auf wenig Verständnis, wo die meisten jeden Kurs belegten, den sie kriegen konnten, wie Facility- oder Personalmanagement, alle möglichen Naturwissenschaften, Kunstgeschichte und sogar Gestaltungslehre, kurz gesagt: Dinge, von denen ich keinen Dunst hatte. Viele von ihnen hatten keine Ahnung, was sie wollten oder worauf es ankam, ich aber schon. Das merkte ich vor allem am Kurs "Ästhetische Künste", in dem sich die meisten zu nichts anderem als Prostituierten für Ihren Herrn oder Herrin ausbilden ließen, verblendete Idioten...

„Dein Schwindel ist mir kürzlich zufällig aufgefallen. Ich war so eitel zu glauben, du hättest das aus Übereifer getan, weil du es nicht erwarten konntest in meine Dienste genommen zu werden, … tja, aber vorhin hast du mir das Gegenteil bewiesen. Was glaubst du wohl, warum ich keine Angestellten und schon gar keine Diener unter 30 gebrauchen kann, hm?“

Seine Stimme klang dabei ungewöhnlich weich und aufgesetzt freundlich, wahrscheinlich weil es ihn amüsierte, mich dabei zu beobachten, wie ich mich vergebens versuchte zu verteidigen, wo er mir doch keine Luft dafür zugestand. Danach kehrte er aber wieder zu einem harten Ton zurück.

„Weil sie sind wie du, rotzfrech, triebgesteuert und unkontrollierbar! Ich werde das Alter künftig noch weiter anheben, damit so etwas nicht mehr vorkommen kann. Ich sage dir, was auch immer du im Schilde führst, ich werde dir diese Flausen austreiben!“
 

Mein Zimmer war einfach zu klein, denn selbst wenn sich Rova wie in Zeitlupe auf mich zu bewegte, war er viel zu schnell bei mir angekommen. Nun tauchte er ins silberne Mondlicht ein und wirkte dabei auf mich wie ein anmutiger Todesgott. Er führte eine Hand zu seinem Mund und befeuchtete dann den Fingernagel seines Zeigefingers. Danach streckte er den Arm nach mir aus und legte diesen Finger auf meiner linken Brust ab. Ich ahnte Schlimmes, als er sich mir weiter näherte und seinen Nagel dabei ganz sanft um die kleine Wunde kreisen ließ, die er mir zwanzig Minuten zuvor zugefügt hatte. Sie war bereits mit Wundschorf verschlossen, weshalb es seinen Finger manchmal etwas anhob. Auch wenn das nichts half, versuchte ich instinktiv ins Hohlkreuz zu gehen, um einfach irgendwie von ihm wegzukommen. Wahrscheinlich kam er mir aber genau deshalb näher, weil er bemerkte, wie irritierend ich das fand.

Rova sah mir tief in die Augen, als er ganz allmählich immer mehr Druck auf seinen Finger gab, der langsam, aber fast schmerzfrei, in mein Fleisch eindrang. Aufmerksam betrachtete er mich, während er den in mich gebohrten Finger parallel zur vorhandenen Schnittwunde schräg nach unten über meinen Körper zog. Wie beim ersten Mal tat es nicht so weh wie erwartet, aber am Rausch lang das diesmal nicht, sondern an seinem Speichel.

„Auch Peters Wunde habe ich unter Betäubung gestochen und trotzdem quiekte er wie ein kleines Schweinchen. Was für ein verzogener Bengel ohne Ausbildung! Man sollte niemals auf Empfehlungen vertrauen.“

Rovas Stimme begann schon wieder sanfter zu werden. Er holte ein Tuch aus seiner Manteltasche, wischte daran mein Blut ab und setzte den Fingernagel danach erneut neben die beiden Wunden. Hauchzart umkreiste er sie wieder und hinterließ diesmal durch das heraus sickernde Blut eine schmale rote Spur.

„Nicht, dass du glaubst, ich hätte dir zu irgendeinem Zeitpunkt vertraut, beileibe nicht, aber ein Abschluss wie deiner, hat hohe Erwartungen in mir geweckt, gerade weil dein Portfolio wie auf mich zugeschnitten wirkt.“

Er schmunzelte zärtlich, während er seine Kreisbahn verfolgte. Ich bekam Gänsehaut, als er mir weich entgegen hauchte:

„Mal sehen, wieviel du noch aushältst.“

Daraufhin versenkte er den Nagel und bohrte eine Weile in der Einstichstelle herum, aus der schon das Blut sickerte. Aufmerksam registrierte er jede Zuckung von mir. Es tat höllisch weh, denn er schabte schon auf einer meiner Rippen herum. Wie Blitze durchfuhr es mich immer wieder, wenn er den Knochen erwischte. Einen Schmerz dieser Intensität spürte ich zum ersten Mal, aber auch, wenn er mich furchtbar erschöpfte, lehnte ich trotzdem noch halbwegs aufrecht am Schreibtisch und behielt die Fassung. Ich wusste, dass meine Widerstandskraft groß war, aber damit überraschte ich mich selbst. Mein Peiniger verlor sein Lächeln nach einer Weile und raunte hörbar unzufrieden:

„Deine Schmerzresistenz erfüllt die Erwartungen deines Diploms. Das überrascht mich.“

Er zog das dritte Mal durch, ließ danach vorerst von mir ab und machte einen Schritt nach hinten. Ich hatte wohl nicht so reagiert, wie er sich das ausgemalt hatte. Wahrscheinlich wollte er mich als Betrüger entlarven, aber in der Kopie meines Zeugnisses, das ihm vorlag, hatte ich lediglich das Geburtsjahr verändert.

Rova atmete tief ein und begann meinen halbnackten, misshandelten Körper von oben bis unten mit seinen im Mondschein funkelnden Augen zu mustern. Auch ich nutze die Gelegenheit, um kurz durchzuatmen, doch schnell setzte er die Lähmung wieder ein. Er ließ seine blutigen Finger fühlend übereinander gleiten, während sich sein Gesicht entspannte.

„All deinen Fehlern zum Trotz, hatte ich dich immer für recht vernünftig gehalten, deshalb sei versichert, dass ich dies hier nur zu deinem Wohl tue. Es bereitet mir wirklich keine Freunde, ein Küken wie dich erziehen zu müssen.“

Das war eine glatte Lüge und keine besonders Gute. Es brachte mir jedoch keine Punkte ein, das zu wissen.

„Deine junge Physis und Psyche müssen lernen, dass ich Respektlosigkeit nicht dulde. Hast du verstanden?“

„Verstanden, Eure Hoheit“,

ließ er mich mit zusammengebissenen Zähnen aus meinen Lungen pressen. Mit einem leichten Nicken kam er erneut auf mich zu stolziert. Optisch wirkte er mit der Antwort zufrieden, aber seine Aura sprach Bände, eine ganze Enzyklopädie sogar, so schlecht wie er seine durchmischten Gefühle inzwischen verbarg. Er war wütend, traurig, erregt und auch verunsichert zugleich. Der Mond hatte wohl doch eine Wirkung auf ihn, denn so ein Chaos hatte ich in ihm noch niemals zuvor gefühlt.

Wieder konnte er es nicht unterlassen, mich zu berühren. Mit mehreren Fingern fuhr er sanft über meine Brust, die er dabei entspannt betrachtete. Es war zermürbend, wie er Zärtlichkeit und Brutalität miteinander verband. So entstand in mir eine eigenartige Mischung aus Hoffnung und Angst, zumal er mir so vielfältig interpretierbare Rückmeldung gab, dass sie ihn vollkommen unberechenbar machten. Mich wunderte es nicht, dass er damit den Geist seines Gegenübers zu brechen vermochte. Ich schaffte es nicht einmal, ihn dafür zu hassen, sondern verzweifelte eher an mir selbst.
 

Er musste mir mein Leid ansehen können und trotzdem, oder auch gerade deshalb, rutschte er zwischen meinen Brustmuskeln herab und stoppte am Ende meines Rippenbogens. Eine Panikwelle überrollte mich, die mich noch mehr nach Luft ringen ließ. Von diesem Punkt am Körper aus war es möglich, mit etwas Spitzem, wie zum Beispiel seinen Fingern, bis zum Herzen vorzudringen. Das wollte ich nicht erleben, nein, das wollte ich nicht! Gegen eine Perforierung des Herzens musste das, was er mir bisher an Schmerz zugefügt hatte, ein Kindergeburtstag sein.

Er lächelte zunächst selbstzufrieden, doch dann weiteten sich seine Pupillen für einen Augenblick. Warum taten sie das? War das eine Vorbereitung auf seinen Angriff? Was, wenn er doch etwas über mich und Lyz herausgefunden hatte und er mich töten wollte? Meine Gedanken schweiften zu ihr. Ich bereute nichts, außer nicht wenigstens ein einziges Mal mit ihr geschlafen oder sie wenigstens geküsst zu haben. Zeitgleich mit meinen Gedanken an sie, streichelte er langsam mit zwei Fingern über meinem Bauch herum. Das schien ihn zu beruhigen, statt anzuregen und in den vielen Emotionen, die ihn überfluteten, fand ich kein Anzeichen von Mordlust.

„Lyz gibt mir zu denken. Weißt du, wieso?“,

begann er. Scheiße, er wusste wirklich Bescheid! Ich war geliefert! Langsam ließ er mit nur ganz wenig Druck seinen messerscharfen Nagel auf meiner Haut auf und ab fahren. Er bewegte nur diesen einen Finger, während er auf eine Antwort wartete. Da ich ihm keine gab, obwohl er mir die Luft dafür zugestand, erhöhte er das Tempo und durschnitt damit zehntel Millimeter für zehntel Millimeter meiner Haut und arbeitete sich so in mein Fleisch hinein. Mit der anderen Hand packte er mein Kinn, zog mich damit an sich heran und kam gleichzeitig näher.

Im selben Moment, in dem er den Finger in meine Wunde hineindrückte, schrie er mich an, ohne, dass sein Puls mir dafür eine Vorwarnung gab, wie das bei einem solchen Wutausbruch üblich gewesen wäre.

„Was habe ich dir über Respektlosigkeit gesagt? Du sollst antworten!“

Ein Blitz durchfuhr mich. Diese Stelle unterhalb der Rippen tat so viel mehr weh als die an der Brust. Es war nicht leicht, einen Schmerzensschrei zu unterdrücken.

„Nggh-nein, ich weiß es nicht-.“

Ich bebte vor Schmerzen. Ein leises gequältes Stöhnen war trotzdem alles, was ich Rova dafür gab. Ärgerlich antwortete er sich selbst.

„Sie begreift es nicht. Was stimmt nicht mit ihr? Los, Alexander, sei zur Abwechslung mal nützlich und erklär sie mir! Sag mir, was sie denkt, was sie fühlt! Sie ist doch verliebt in mich, oder? Warum öffnet sie sich mir nicht? Was soll ich für sie noch tun?“

Nun zog er die vierte tiefe Spur über meinen geschundenen Körper. Er schien gar keine Antwort von mir zu erwarten, sondern ließ hier nur Frust ab, der eigentlich Lyz galt. Das gab mir tatsächlich neue Kraft, woher ich die auch immer nahm. Für mein Prinzesschen war ich gern bereit zu leiden, auch wenn mich die Schmerzen langsam zerrissen, so überreizt wie mein Körper inzwischen war. Wenn das keine Liebe war, … oh Mann.

Meine Hoffnung, dass Rova nur meine kleine Flunkerei bei meinem Alter bemerkt und mich für meine freche Zunge bestraft hatte, zerschlug sich leider mit seiner zerschmetternden letzten Feststellung.

„Und kannst du mir erklären, warum du so heftig auf sie reagierst? Ja, du hast geglaubt, das sei mir verborgen geblieben, aber es ist offensichtlich. Ich warne dich ein allerletztes Mal, Alexander. Wenn du ihr auch nur ein einziges ihrer wunderschönen Haare krümmst, dann sorge ich dafür, dass dein Leben ein jähes Ende findet.“

Sein fünfter Schnitt war noch tiefer als die vorherigen. Alles wurde dunkel um mich herum und das Ohrensummen langsam unerträglich laut. Mit aller Kraft kämpfte ich gegen die Ohnmacht und gewann. Wie groß der Schmerz auch war, hatte ich nicht geschrien, nicht gewimmert oder um Gnade gebettelt. Das schien Rova richtig zuzusetzen. So fassungslos, wie er zu mir herabschaute, hatte er noch nie einen so widerstandsfähigen Widersacher wie mich gequält. Ich kleiner Diener kratzte am Ego dieses Kolosses. Vom Adrenalin benebelt, huschte mir ein flüchtiges, wenn auch erschöpftes Lächeln über meine Lippen.

Verzweifelt lachte er auf, packte wieder mein Kinn, das er diesmal sehr schroff zu sich nach oben hob und mich danach fassungslos anbrüllte:

„Machst du dich etwa immer noch über mich lustig?“

Ich schluckte, hielt aber still und wartete ab, bis er mich endlich aus diesem unangenehmen Griff befreien würde. Was anderes blieb mir auch gar nicht übrig. Er schlug mir mit seiner Rückhand ins Gesicht und entfernte zeitgleich meine Starre. Durch die Wucht schleuderte es mich zu Boden, wo ich erst einmal liegen blieb.

Nun lief mir das Blut auch noch aus dem Mund… All meine Wunden bereiteten mir so unbegreiflich große Qualen und doch spürte ich Erleichterung, war sogar verblüfft. Rova hatte die Tragweite meiner wahren Absichten immer noch nicht erkennen können. Mein erhabener Herr mochte die Macht über Leben und Tod besitzen, aber die Gefühle seines Gegenübers richtig einschätzen, konnte er nicht. Da war ich ihm sogar voraus, wo das doch eine meiner Stärken war.

Ich richtete mich etwas auf, strich mir die Haare aus dem Gesicht und schnellte danach mit der Hand sofort zurück an meinen Bauch. Ich hatte bis eben nicht gemerkt, dass Rova mir mit dem letzten Schnitt die Bauchdecke geöffnet hatte. Ich musste sie zusammenpressen, da sich meine Organe schon langsam verselbstständigten. So was Abstoßendes hatte ich noch nie erlebt. Auch wenn ich nicht mehr die Kraft hatte, zu meinem Peiniger aufzusehen, spürte ich seinen abschätzigen Blick auf mir.

„Nun weißt du, wo du hingehörst!“,

zischte er und wischte sich mein Blut an seiner Hand wieder an dem Taschentuch ab. Mehrere Sekunden lang genoss er es, mich unter sich winden zu sehen und schimpfte dann argwöhnisch:

„Kannst du mir wenigstens verraten, warum ausgerechnet Sari sterben musste? Warum hat es nicht Peter oder dich erwischt? Das wäre kein so großer Verlust für mich und meine Familie gewesen. Ich trug die Verantwortung für sie und nur weil ihr zwei Nichtsnutze so unachtsam wart, ist sie jetzt tot!“

Was er da sagte, tat mir richtig weh, diesmal aber in der Seele. Peter und ich waren nie offiziell als Leibwächter für Sari eingestellt worden, niemand hatte Lyz jemals als Bedrohung betrachtet und es war SEIN bescheuertes Medikament, das uns schon in stark verdünnter Form töten konnte. Rova war so ungerecht, all seinen Schmerz auf mich abzuwälzen und mir die ganze Schuld zu geben, …

Moment, nein Blödsinn… damit lag ich falsch. Rova konnte gar nicht ungerecht sein. Er selbst war die leibhaftige Gerechtigkeit. Die Lucards stellten Legislative, Judikative und Exekutive in einem dar. So etwas wie Gewaltenteilung kannte ich nur aus menschlichen Systemen. Wenn Rova also sagte, es sei meine Schuld gewesen, … dann musste ich mich seinem Urteil beugen. Er war das Gesetz, er war der Herr, den ich mir selbst ausgewählt hatte, ein Mann, für den ich kaum bedrohlicher als ein Insekt war.

„Wo ist deine Wochenration Blut?“,

zischte er befehlend. Unter großer Anstrengung deutete ich auf meinen einzigen Schrank und ahnte schon, was er vorhatte. Meine Befürchtung bewahrheitete sich tatsächlich, als Rova den halbleeren Beutel herausholte und ihn an sich nahm. Scheiße, es würde noch richtig hart für mich werden.

Ohne mich eines letzten Blickes zu würdigen, verschwand er mit meinem Heilungselixier aus meinem Zimmer. Für die natürliche Selbstheilung waren meine Wunden eine echte Herausforderung, das wusste er genau so gut wie ich. Er wollte mich leiden lassen, damit ich endlich seine Autorität anerkannte, aber mehr, als ich ihm entgegenbrachte, war auch durch eine Folter wie diese nicht zu holen. Er hatte mir nur das vollkommen Offensichtliche bewiesen, nämlich dass er stärker war als ich. Das war einfach unnötig, denn mich würde er damit nicht verändern, ganz egal was er mit mir anstellte, … das dachte ich jedenfalls zu diesem Zeitpunkt noch.

Alex 9: Wie ein Diener seine Rolle absolut nicht akzeptiert

Als ich nach meiner Bestrafung endlich allein war, schleppte ich mich zu meinem Schrank, aus dem ich mit einer Hand meinen Erste Hilfe Kasten fischte. Blöderweise wollte die Wunde an meinem Bauch nämlich nicht wieder zusammenwachsen, solange ich sie nur mit den Händen zusammenschob. Es ging nicht anders, ich musste sie nähen, sonst drohte ich durch den stetigen Blutverlust auszutrocknen und in eine Starre zu verfallen. Eigentlich hatte ich keine Ahnung, was das genau für mich bedeuten würde, denn ich kannte keinen, der sowas schon einmal durchlebt hatte, typisch für die Zeiten des Überflusses in denen ich lebte.

Zitternd wühlte ich Nadel und Faden heraus, die zu meinem Glück schon miteinander verbunden waren und drehte mich ins Mondlicht, das durch den Qualm der Raketen immer düsterer wurde. Ich brauchte um die 15 Minuten, um diese paar Stiche zu setzen, weil ich bei jedem Einstich drohte, das Bewusstsein zu verlieren. Die Kälte im Zimmer machte mir nun mehr zu schaffen als sie mir nützte. So eine Scheiße! Schon eine etwas höhere Konzentration von Lyz' Blutgeruch hätte geholfen, meine Schmerzen zu lindern. Die paar Duftspuren von ihr, die ich noch leicht witterte, halfen nichts, sondern verschlimmerten nur meinen Hunger.

Ich glaubte, mich noch niemals so hundsmiserabel gefühlt zu haben wie in diesem Moment. Körperlich und seelisch war ich komplett im Arsch... Ich hatte meinen Halt verloren, war als Diener eine Null und Lyz machte auch nicht gerade den Eindruck, sich über meine Beleidigungen sonderlich gefreut zu haben.

Am liebsten hätte ich meine Schwester Carla oder meine Mutter angerufen und sie vollgejammert, was für ein Trottel ich war, aber dazu fühlte ich mich viel zu ausgelaugt. Dass mir Rova die Blutkonserve weggenommen hatte, demoralisierte mich und diese bescheuerten Silvesterraketen raubten mir noch den letzten Nerv. Dunkel, Hell, Knall, Dunkel, Hell, Knall, Hell, Knall, Dunkel… dazu diese Kälte und diese Schmerzen. Meine Pressspanmöbel drehten sich vor mir, als säße ich in einem dieser verrückten bunten Jahrmarkt-Karussells, auf denen alles... alles umkreiste. Ich glaubte langsam, den Verstand zu verlieren.

Mit letzter Kraft zog ich mich hinauf auf mein Bett und verkroch mich unter meiner Decke. Auch wenn mich dieses kriegsähnliche Gedonnere da draußen aufregte, driftete mein Geist einfach so davon. Das war kein Schlaf, sondern eine Ohnmacht.
 

Ich fühlte mich total ausgetrocknet, als ich am nächsten Morgen aufwachte. Immerhin sahen die fünf großen Striemen, die meinen Körper entstellten, belastungsfähig aus und hatten Wundschorf gebildet. Ein gutes Zeichen. Ich beugte mich vom Bett aus zum Erste Hilfe Kasten, der auf dem Boden lag zog ihn an mich heran und wühlte ein wenig darin herum, bis ich das Skalpell zu fassen bekam. Danach drehte ich mich auf den Rücken, schnitt die Fäden durch und zog sie mir vorsichtig heraus. Ich wollte ja nicht, dass sie einwuchsen. Alles an meinem Bauch war nun wieder da, wo es hingehörte, und riss auch nicht gleich wieder auf, trotzdem tat mir jede Bewegung noch ziemlich weh. Zum Kotzen.

Mein eigenes Blut an meinem Körper und auf dem Laminatfußboden kleben zu sehen, setzte mir inzwischen mehr zu als die Schmerzen. Nicht die Wunden waren nun mein größtes Problem, sondern mein Hunger, der langsam überhandnahm. Ich fing an, geistesabwesend mit meinem schwarzen T-Shirt auf dem Boden herumzuwischen. Maaann, das brachte überhaupt nichts! Resigniert schnappte ich mir also doch noch Eimer und Lappen und machte damit die Sauerei weg, die Rova mit mir hinterlassen hatte. Die Erinnerung daran war merkwürdig befremdlich. Echt krass, was ich da durchgemacht hatte.

Auch wenn ich aus Schludrigkeit nicht alles wegwischte, war das Zimmer danach wieder halbwegs ansehnlich. Mit einer ordentlichen Dusche bekam ich dann auch noch mich sauber. Frische, unverheilte Wunden abzuwaschen, widersprach meinem Schulwissen. Erst Blut trinken, also heilen, dann abwaschen, hieß es da immer... schon komisch.

Ich stöhnte genervt, als ich aus der Dusche kam und meine besudelte Bettwäsche bemerkte. Selbst auf ihrem Dunkelgrau konnte man die Blutflecken deutlich erkennen. Auch das noch, wo ich gerade dachte, ich sei endlich fertig. Mehr schlecht als recht wechselte ich also den Bettbezug und fiel danach vollkommen erledigt mit dem Gesicht zuerst in das frische, wohlriechende Bett. Meine Selbstregeneration würde sicherlich zwei, drei Tage brauchen, bis sie die Wunden vollständig geheilt hatte.
 

Ich wollte einfach nur noch meine Ruhe haben, doch nur ein paar Stunden später, es musste Nachmittag geworden sein, klopfte es an meine Tür. Zombie-Alex war direkt unterwegs, um sie zu öffnen. Meine Hand lag schon auf der kalten Metallklinke, als mir auffiel, dass ich vorsichtig sein musste. Mein angeschlagener Organismus meldete zwar, dass mir jeder Gast willkommen war, Hauptsache er war genießbar. Der einzige, den ich nicht sehen wollte, hatte schließlich einen Schlüssel. Es gab aber noch eine andere Person, die besser draußen geblieben wäre, nämlich genau jene, die mir durch die verschlossene Tür zurief:

„Lass mich doch nicht hier draußen stehen wie eine Idiotin!“

Na, das Prinzesschen ließ ich bestimmt nicht nochmal in mein Zimmer, nachdem ich so ausgetickt war. Mein Kopf war natürlich fest entschlossen diesen Leckerbissen zu ignorieren und mich einfach wieder hinzulegen, doch was tat mein Körper? Die Türklinke herunterdrücken natürlich.

Wieso musste Lyz nur so unfassbar anhänglich sein? Ich war doch so ein unerträglicher Arsch gewesen und trotzdem kam sie immer wieder zu mir zurück, wie ein streunendes Kätzchen, das ich einmal gefüttert hatte. Wie sehr musste sie mich ins Herz geschlossen haben, um mich in so einem Zustand freiwillig ertragen zu wollen? Dass sie so lieb war, ließ mein geschundenes Herz höherschlagen. Ich wollte sie in meine Arme nehmen und sie um ihr Blut erleichtern. Nein, falsch! Kein Blut! Ganz ruhig durchatmen…- ausatmen und wieder eina- DIESER DUFT!

Meine Schmerzen waren schlagartig vergessen, meine Intelligenz aber auch. Ich musste versuchen, dieses unwiderstehlich leckere Mädchen so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Unter den gegebenen Umständen beherrschte ich aber nur noch zwei Mittel, nämlich Beleidigungen und Gewalt. Rova konnte ich als Retter diesmal ausschließen. Ne, den holte ich bestimmt kein zweites Mal. Ich begann also damit, sie anzumaulen, denn das hatte am Tag zuvor schon so hervorragend funktioniert… schick! An mangelnder Kreativität fehlte es mir schonmal nicht.

Ich selbst fand mich zwar den Umständen entsprechend überzeugend, redete mich richtig in Rage, schimpfte wie wild geworden auf ihr und auf Rova herum und trat sogar gegen meinen einzigen Stuhl, doch es half überhaupt nichts. Konflikte schien sie mit Nähe bekämpfen zu wollen, total süß, hier aber ein schwerer Fehler... Oh, Lyz... Mein Hunger und meine Lust begannen selbst mir Angst zu machen. Es fehlte nicht mehr viel, bis ich…!

NEIN, es fehlte gar nichts mehr. Ich hatte all meine Widerstandskraft aufgebraucht und schaltete auf Durchzug. Nun war ich an der Reihe und es würde einfach göttlich werden.

Die Kleine hatte die Zimmertür geschlossen und kam auf mich zu. Immer weiter, Stück für Stück in meine Falle und ich fing an, mich darüber zu freuen.

Eigentlich glaubte ich ja kaum noch Blut im Körper zu haben, aber bei einer Konfrontation mit meiner Liebesgöttin reichte es locker noch für eine ordentliche Erektion. Mein aufsteigendes Grinsen war aber noch viel verräterischer, deshalb versteckte ich lieber das. Immerhin sah man meinen Ständer dank meiner dunklen Hose fast gar nicht. Wahrscheinlich zog er mir das letzte bisschen Blut aus meinem Gehirn, denn ich konnte es kaum noch erwarten, endlich über Lyz herzufallen, ihr die Kleider vom Leib zu reißen und mich zwischen ihren heißen Schenkeln zu versündigen.
 

Kaum war sie nah genug an mich herangetreten, schnappte die Falle zu. Lustvoll, aber auch rabiat, schubste ich sie auf mein Bett, auf dem sie sich nur einen Tag zuvor noch so wohl gefühlt hatte. Ihr süßer kurzer Rock flog dabei nach oben und bot mir einen unvergesslichen Anblick. Ganz genau da wollte ich hin, heißes Luder. Nur dieser süße kleine geblümte Slip trennte mich noch von ihrem Lebenselixier.

Wie ein niedliches, verschrecktes Häschen lag sie vor mir auf meinem Bett. Vorfreudig setzte ich eins meiner Knie neben ihrer Hüfte auf, legte eine Hand neben ihr zerzaustes Haar und beugte mich über sie. Da sie unruhig wurde, musste ich sie erst einmal bewegungsunfähig machen, sonst huschte sie mir noch durch die Finger. Damit ich mich nicht mehr mit der Hand abstützen musste, richtete ich mich ein wenig auf, stieg auch mit dem anderen Bein auf das Bett und setzte mich richtig auf sie drauf. Abhauen konnte sie nun nicht mehr, nur noch herumzappeln. Meine Finger ließ ich nun zärtlich, von ihrer schmalen Taille an, langsam an beiden Seiten ihren atemberaubenden Körper nach oben gleiten, streifte dabei ihre weichen Brüste und drückte dann ihre Oberarme auf das Bett.

Noch einmal wand sie sich unter mir, ließ dabei aber ihren Blick über meinen nackten Oberkörper schweifen. Dass ihr Gesichtsausdruck dabei weicher wurde, gefiel mir richtig gut. Sie mochte es, sie mochte mich und dieses heiße Spielchen, ja sie wollte es genau so sehr wie ich, sonst hätte sie sich doch zu Wort gemeldet.

„..., dann zeige ich dir eben auf die harte Tour, was einen Vampir ausmacht“,

sagte ich vorfreudig, so beherrscht ich eben konnte. Charmant war das leider überhaupt nicht. Ich witterte Angst an ihr, anstatt Lust, aber das blendete ich aus. Sie wollte einen Vampir in Aktion sehen, also musste sie das aushalten können.

Eigentlich, um sie zu küssen, sank ich zu ihren Lippen herab, aber da sie wieder begann herumzuzappeln, legte ich meinen Kopf neben ihren. Es war einfach wundervoll, in ihr nach Rosen duftendes Haar hineinzuschnuppern. Als ich meinen Kopf danach zu ihrem Hals drehte, durchlief mich ein wohliger Schauer. Ihre Halsschlagader direkt an meinem Mund zu spüren, verursachte ein tobendes Verlangen, das meinen ersten Plan vergessen machte. Vampire vergruben ihren Kopf nicht zwischen weichen Frauenschenkeln, sie bissen in ihre Hälse. Ich würde Spuren hinterlassen, ich würde ein weiteres unserer obersten Gesetze brechen, ich würde… die intensivste Erfahrung meines bisherigen Lebens machen.

Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich wusste fast nichts über die Praxis eines Bisses, weil es tabu war, darüber zu sprechen und es hatte mich auch nie interessiert. Dass unser Speichel das Schmerzempfinden hemmte, war allgemein bekannt und hatte mir Rova erst einen Tag zuvor eindrucksvoll bewiesen. Ich musste ihr also wahrscheinlich über den Hals lecken, damit ihr der Biss nicht weh tat.

In dem Moment, in dem sie meine Lippen unter dem Ohr berührten, drehte sie ihren Kopf zur Seite, sodass ich freien Zugang zu ihrer Halsschlagader bekam. Eindeutig wollte sie den unwiderlegbaren Beweis von mir. Es gab nur noch diesen einen Weg für mich.

Ich küsste sie sanft, bevor ich über ihre pochende Ader leckte, in die ich beißen wollte. Das fand ich nicht weniger erregend, als es zwischen ihren Beinen zu tun, denn alles, was ich mit ihr tat, war neu und verboten für Loyalisten wie mich. Es prickelte überall in meinem Körper. Ich war so aufgeregt, so überglücklich. Ich wollte es tun. Ja, ich musste es sogar tun.

Wollüstig versenkte ich meine scharfen Fangzähne in ihrem zarten Fleisch. Nur langsam ließ ich sie immer tiefer in sie eindringen, schließlich war das unser beider erstes Mal. Die Lust explodierte fast in mir, als meine Zunge ihr warmes, köstliches Blut schmeckte. Bereits der erste Schluck raubte mir den Großteil meiner bewussten Wahrnehmung. Ich begann zu stöhnen und mich an ihr zu reiben, meine harte Brust auf ihrer weichen, meinen festen Penis auf ihren zarten Schenkeln. Auch sie begann nach einiger Zeit unter mir zu Keuchen. Sie liebte es genauso sehr wie ich. Es war so erfüllend, wie der beste Sex, den ich je hatte.

Einen so rauschenden Orgasmus hatte ich noch niemals zuvor, auch wenn ich zu Vollmonden einige schöne und lustvolle Erfahrungen mit Sari gesammelt hatte. Dies hier tat ich jedoch nicht für das Mädchen unter mir, sondern nur für mich selbst.

Es war unvorstellbar für mich, dass sie es nicht ebenso genossen haben konnte wie ich, doch genau das war die schmerzliche Realität. Während meines Egotrips hatte ich nicht bemerkt, dass Lyz in Tränen aufgelöst unter mir zitterte. Ihr eben noch so unschuldig weißes Kleid war von meinen teilweise aufgeriebenen Wunden vollkommen beschmutzt. Kaum ließ ich sie los, rutschte sie verschreckt von mir weg.
 

Scheiße, sie sollte nicht so tun, als sei sie das Opfer gewesen. Sie hatte es doch darauf angelegt, hatte mir heiß ins Ohr gestöhnt, als wolle sie mehr. Ihre Tränen verletzten und beleidigten mich und… verdammt! WAR ICH EIGENTLICH TOTAL BESCHEUERT?
 

Wie konnte ich nicht erkennen, dass ich ihr Blut geraubt und sie genötigt hatte? Dabei hinterließ ich auch noch die offensichtlichsten Spuren, die es für einen Vampir überhaupt geben konnte,… einen Biss am Hals… Tss, ich hatte wohl zu viele Filme gesehen. Warum hatte ich ihr Blut nicht einfach von ihr abgeleckt wie geplant? Damit war ich doch schon bei ihrer Schnittwunde am Arm unbemerkt davongekommen. Aber Moment, ein Übergriff auf sie wäre mein Alternativplan wahrscheinlich auch gewesen. Ich hatte sie noch nicht so weit, mit mir schlafen zu wollen ... und sie zu lecken, hatte echt große Ähnlichkeit damit... Ach du Scheiße, ich hatte doch nicht etwa vorgehabt, sie zu ver-... nein, das konnte ich nicht zu Ende denken. Es war zu heftig. Aber als was zählte eigentlich Blutraub? War das genauso schlimm? Ich hätte sie gern gefragt, aber das ging ja schlecht.
 

Dreist bat ich sie darum, mein Verbrechen vor Rova geheimzuhalten. Vielleicht hatte ich ja unverschämtes Glück und sie fand es doch nicht ganz so schlimm, wie es den Anschein machte. Schwer vorstellbar, so wie sie mich zurechtwies und mir klarmachte, dass sie Rova vor mir bevorzugte. Verschreckt stolperte sie aus meinem Zimmer heraus und schloss sich danach in ihrem ein.

Kurz vorm Verzweifeln setzte mich auf mein Bett und ließ meine Hand über die Matratze gleiten, in der noch ihr Duft hing.

Ich legte meine andere Hand an meinen Mund und fühlte mit dem Zeigefinger einen meiner spitzen Eckzähne. Diese verdammten Dinger waren an allem schuld. Wäre ich ein Mensch, dann hätte ich ganz normal mit Lyz zusammenleben und ihr sagen können, dass ich sie liebte, doch als Vampir drückte ich meine Zuneigung anders aus, auf grausame Art und Weise.

„SCHEIßE!“,

brüllte ich so laut, dass Lyz es vermutlich hören konnte und schlug dabei mit der Faust auf die Matratze. Es lief so gut mit ihr und auch mit Rova, doch nun hatte ich alles an nur einem Vollmond versaut.
 

Als sich ihr süßer Rosenduft so langsam verflüchtigte, kamen auch meine Schmerzen wieder zurück. Irgendetwas stimmte mit mir nicht und damit war nicht mein perverser Vampirinstinkt gemeint. Ich spürte, wie es mir immer schlechter ging, obwohl das nach dem Konsum von frischem Blut unmöglich sein konnte. Meine Wunden heilten viel langsamer als nach einer Blutmahlzeit üblich. Ich wusste nicht, was mit mir los war. Warum zog es mir das Herz in meiner Brust so heftig zusammen, dass mir das Atmen immer schwerer fiel? Beim letzten Mal hatte Lyz' Blut doch für die beste Verfassung gesorgt, die ich je hatte.

Alex 10: Rettung eines gescheiterten Dieners

Ich verstand überhaupt nicht, wie sich meine körperliche Verfassung nach einem Biss verschlechtern konnte, besonders da es Lyz' Blut war. Eben das hatte mich doch vor ein paar Wochen noch wie auf Wolken durch den Raum schweben lassen, als sei ich neu geboren worden, als hätte sich jede Zelle in meinem Körper erneuert. Diesmal plagten mich jedoch Schweißausbrüche, gefolgt von Schüttelfrost und Fieber. Blut von Tieren sollte eine ähnliche Wirkung haben, aber das… das machte überhaupt keinen Sinn.

Die ganze Nacht über quälten mich Schmerzen, die von meinem Rumpf ausstrahlten. Wenn ich die Beine an mich heranzog, war es auszuhalten, aber wie sollte ich so einschlafen? Erst in den Morgenstunden gönnte mir die Erschöpfung endlich ein paar Stunden Schlaf.
 

Ich schreckte instinktiv hoch, als ich die Tür nebenan ins Schloss fallen hörte. Lyz musste das Zimmer verlassen haben, aber sie durfte ohne mich doch nicht einfach frei herumspazieren. Wenn ich sie wäre, dann würde ich nach diesem Erlebnis wahrscheinlich versuchen abzuhauen. Das konnte ich nicht zulassen! Ich musste ihr nach, … aber wie?

Meine Schmerzen waren leider noch schlimmer geworden, was eigentlich nicht sein konnte. Ich kontrollierte meinen Bauch und erkannte verschwommen, dass die Schnittwunden tatsächlich durch Lyz' Blut geheilt worden waren. Aber wenn sie es nicht verursachten, was war es dann? Mit klaren Gedanken tat sich mein Kopf ziemlich schwer. Wie Wackelpudding entglitt mir jede Schlussfolgerung, bevor ich sie richtig zu fassen bekam.

Hatte Rova irgendwas irreparabel verletzt? Ne, das war Unsinn… oder vielleicht Silber? Quatsch, dann wäre ich schon lange nur noch Staub, … aber vielleicht hatte er mir irgendeinen komischen Fremdkörper in den Bauch eingesetzt, als er ihn geöffnet hatte… Hätte ich das nicht gemerkt? Oder, war es vielleicht Gift!? Er musste seinen Finger vergiftet haben, so wie dieser eine Typ berichtet hatte, der mit der Narbe! Hä? Ne, Schwachsinn, ich hatte ja gar keine Narbe! Meine Fresse, Hirn, jetzt mach schon! Denk!

Ich seufzte gequält, setzte meine nackten Füße neben dem Bett auf den Boden und verlagerte mein Körpergewicht darauf. Wenn ich schon nicht denken konnte, wollte ich wenigstens Lyz hinterhergehen. Ich versuchte aufzustehen, doch dann gaben meine Beine nach und ich plumpste direkt wieder auf die durchgeschwitzte Matratze zurück.

Ich schlug die Hände über dem Gesicht zusammen. Scheiße, was Rova auch immer mit mir angestellt hatte, ich würde elendig in meinem Zimmer verrecken, wenn ich ihn nicht schnell fand. Vielleicht wollte sich Lyz ja mit ihm treffen. Ein guter Einfall, wenn auch mein einziger.

Ich ortete einfach ihr Handy. Sie war in Richtung Mensa unterwegs, also wagte ich einen zweiten Versuch auf meinen Beinen stehen zu können, musste ja irgendwie. Diesmal fand ich Halt und fasste ein wenig Mut. Vielleicht würde ich es mit letzter Kraft bis zur Mensa schaffen.
 

Nur sehr langsam schleppte ich mich Schritt für Schritt voran, musste mich an Häuserwände anlehnen und die Schmerzen in meiner Brust unterdrücken, die auf meinen kompletten Körper ausstrahlten. Rova machte keine halben Sachen. Was auch immer es war, ich spürte, dass ich bald daran krepieren würde. Ich brauchte Hilfe. Rova, mein Herr, … er musste mir helfen. Aber wieso sollte er? Es war doch sein Werk... scheiße… scheiße…
 

Mit jedem Schritt wurde es schwieriger und ich langsamer. Von der Mensa trennten mich nur noch zwei Querstraßen, doch ich brauchte eine Pause und lehnte mich an eine kalte, raue Hausfassade. Erst dachte ich, ich hätte es mir nur eingebildet, als er plötzlich neben mir auftauchte, der Mann, nach dem ich so verzweifelt suchte. Ich hatte ihn nicht einmal kommen sehen. Naja, eigentlich sah ich fast gar nichts mehr.

An die Hauswand gelehnt konnte ich mich gerade noch so auf den Beinen halten, aber den Kopf anzuheben schien schon außerhalb meiner Möglichkeiten, also sah ich weiterhin nur seine gepflegten, braunen Lederschuhe an.

„… Hoheit“,

stöhnte ich kaum hörbar.

„Das ist einfach nur erbärmlich, Alexander. Wie konntest du mich nur so enttäuschen und dann auch noch glauben, ich würde dir helfen?“

Angewidert wandte er sich von mir ab und lief achtlos weiter. Rova wollte mich allein auf der Straße verenden lassen wie ein räudiges Tier. Mein Körper zuckte vor Trauer und Verzweiflung, als ich begriff, dass mein erhabener Herr keine Verwendung mehr für mich hatte. Das war schrecklich. Ich hatte alles verloren, alles zerstört, was ich besaß.

Dabei wollte ich Lyz doch noch einmal wiedersehen. Mehr noch, ich wollte dafür sorgen, dass sie ein angenehmes Leben unter Rova führen konnte, doch dazu musste ICH leben. Nein, so durfte es nicht enden. Mein Herr musste mir helfen. Wenn ich ihm bewies, wie stark ich war, vielleicht… würde er dann Gnade zeigen? Dieser letzte Hoffnungsschimmer trieb mich voran, mich weiter hinter ihm herzuschleppen. Er war schon ganzes Stück weit weg, doch irgendwann blieb er stehen, kam zu mir zurück und sagte verblüfft:

„Dass du dich überhaupt noch bewegen kannst, ist bemerkenswert. Weißt du, du bist der erste Feldtest dieses Giftes. Ich hatte geglaubt, es wirke schneller, also ist es entweder nicht so wirksam wie ich dachte oder du hast einen ungeheuren Lebenswillen. Deine Obduktion wird es zeigen. Also dann, Lebwohl Alexander.“

Also war es doch Gift und wie ich ihn kannte, hatte er auch ein Gegengift hergestellt.

„Gib… mich nicht… auf!“,

flüsterte ich laut genug für seine empfindlichen Ohren, doch er schnaubte abschätzig, wendete sich wieder ab und schritt weiter in Richtung Mensa davon. Ich sank zu Boden, ohne Hoffnung auf Rettung. Obwohl sich mein Körper verkrampfte, als würde ich weinen, kamen keine Tränen…
 

Ich erschrak, als mir plötzlich eine Krähe am Fuß herum pickte, die ich nicht imstande war fortzujagen. Zu ihr gesellte sich noch eine weitere, doch ich hörte das Geschrei von einer viel größeren Anzahl von ihnen. Angestrengt hob ich den Kopf an und sah eine ganze Schar von Vögeln, die sich entlang Rovas Weg auf den Bäumen und Dachrinnen niedergelassen hatten. Ob er sie gerufen hatte, damit sie meine Leiche fleddern konnten? Mein Herr konnte so unfassbar grausam sein. Warum half mir eigentlich keiner? Und überhaupt, warum war verdammt nochmal niemand auf dieser scheiß Straße?

Nun würde ich Lyz also doch mit Rova allein lassen müssen… mit ihm, seinem fehlenden Einfühlungsvermögen und seinen Launen. Sie verhielt sich ihm gegenüber so zurückhaltend und ließ sich so viel gefallen. Was würde er ihr nur alles antun, ohne überhaupt zu bemerken, dass er ihr unendliches Leid zufügte? Sie würde an ihm zerbrechen. Ohne mich würde sie ihn nicht ertragen können… sie… sie war auf mich angewiesen. Ich musste sie doch aufbauen, wenn sie wieder anfing, sich selbst zu hassen. Durch meinen Gedanken an sie beschleunigte sich mein Herzschlag, was unfassbar weh tat. Mein ganzer Körper zog sich zusammen, doch anstatt danach zu versagen, erlangte ich eine letzte Welle neuer Kraft.

Ich witterte schon lange nichts mehr, hörte fast nur noch das Rauschen des Blutes in meinem Kopf und sah auch fast nichts mehr, aber was ich da vor mir glaubte zu erkennen, war wohl der Eingang der Mensa. Gehörte diese Stimme in der Ferne zu Lyz?

Wie genau ich die letzten Meter zurücklegte, wusste ich nicht. Nur für den Bruchteil einer Sekunde bekam ich ein Bild von einem Raum vor mir und wusste dadurch, dass ich mich näherte.
 

Ich hörte Lyz' flehende Stimme und brach in mich zusammen. Ich hatte es geschafft und das machte mich so glücklich. Auf einmal sah ich Rova ganz nah vor mir, der mich aufrecht zog und mir ein Röhrchen überreichte. Schmerzen fühlte ich inzwischen schon keine mehr, nur noch Taubheit in meinen Gliedern und ein dumpfes Reißen in der Brust, das sich immer weiter zu entfernen schien. Ich nahm meine restlichen Sinne zusammen, um das Röhrchen zu öffnen und auszutrinken, ein kleines Wunder. Dann rutschte ich wieder nach unten.

Da sich die Stimmen entfernten, bedeutete das wahrscheinlich, sie ließen mich allein zurück…


 

Erst Stunden später erlangte ich das Bewusstsein wieder, als mich ein Fremder rüttelte und mich fragte, ob ich okay sei. Ich strich mir die klebrigen Haare aus dem Gesicht und sah ihn an. Ein Studi und hinter ihm noch einer mit einem Handy in der Hand. Damit er nicht den Notruf anrief, keuchte ich:

„Geht schon, … ich muss mich nur ein bisschen ausruhen.“

„Wie kann man sich nur so die Kante geben, Alter? Du hast es zu Silvester echt krachen lassen, was?“,

kicherte der hilfsbereite Kerl, der mir danach auf die Beine half.

„Könnte man so sagen“,

hauchte ich unter Schmerzen, die aber auszuhalten waren. Die beiden Jungs waren so nett, mich ins Wohnheim zu begleiten, ohne aufdringliche Fragen zu stellen. Wo ich gerade dachte, die ganze Welt hätte sich gegen mich verschworen, war das mein erster neuer Lichtblick.

Den kompletten folgenden Tag lag verbrachte ich im Bett. Das Gift neutralisierte sich langsam in meinem Körper, aber manche Symptome blieben länger als andere. Zum Beispiel quälten mich noch ziemliche Gliederschmerzen und Ermattung… Das schlechte Gewissen war wie ein hübsches kleines I-Tüpfelchen.
 

Ich saß auf meinem Bett, das mich an mein Prinzesschen und auch an mein Verbrechen erinnerte. Sie musste es gewesen sein, die mich in der Mensa gerettet hatte, schließlich stand Rovas Entschluss fest, mich sterbend zurückzulassen. Ob ich es jemals über die Lippen bringen würde, zu fragen, wieso sie das getan hatte? Ich zweifelte daran.

Natürlich war ich auch nach seinem Tötungsversuch noch Rovas Diener, aber ob mein Auftrag noch galt, Lyz zu observieren, war mir nicht so ganz klar. Ich sah auf mein Handy, auf dem nicht eine einzige Nachricht war. Weder hatte sich Lyz nach mir erkundigt, noch hatte mein Herr seinen Auftrag zurückgezogen. Es war ein merkwürdiger Schwebezustand, in dem ich mich da befand, der dieses zermürbende Gefühl in mir noch weiter verschlimmerte. Ich war allein, hilflos, perspektivlos… einfach nur noch am Arsch, also blieb mir nur eine Sache zu tun: meine Schwester anzurufen.
 

Meine Schwester Carla war die Rettung in meiner Not. Ich wusste nicht, was ich ohne sie getan hätte.

Zuerst reagierte sie geschockt und wollte sofort zu mir kommen. Sie war darauf und dran, aufzulegen und ihre Sachen zu packen. Irgendwie schaffte ich es aber, sie zu beruhigen und sie schaffte es, mit ihrer positiven Art, mich zu beruhigen.

„Geht es dir auch wirklich wieder gut? Bist du sicher, dass du alleine klarkommst, kleiner Bruder?“,

wiederholte sie besorgt. Ich war inzwischen so gefasst, dass ich wieder Hoffnung schöpfen konnte. Ich hatte mich auf mein Bett gelegt und hielt mit einer Hand meine Augen verdeckt, weil das Licht an diesem Tag mehr blendete als sonst. Nicht, dass es sonderlich hell gewesen wäre.

„Ja, alles gut. Mein Herr rettet mich nicht vor dem Tod, um mich danach doch umzubringen. Es wird schon irgendwie werden. Ich weiß nur nicht, wie ich mich verhalten soll. Wie wird er jetzt mit mir umgehen?“

„Na, als einfachen Diener wird er dich nicht mehr betrachten, da kannst du dir sicher sein.“

„Ja, was viel Besseres. Er nimmt mich jetzt als Bedrohung wahr“,

antwortete ich wenig erfreut, doch sie insistierte:

„Sieh es doch nicht so negativ! Der Lucard nimmt dich nun als Mann und als Kämpfer wahr. Er wird vorsichtiger mit dir sein, dir aber vielleicht auch anspruchsvollere Aufgaben übertragen. Und denk an deine Liebste. Natürlich hat sie dich gerettet, wer denn sonst? Ich hab dir gesagt, dass sie deine Zähne lieben wird. Vielleicht warst du etwas zu grob, aber das wird sie dir verzeihen. Du bist ein Vampir. Sowas erwartet man von dir. Mach dich also nicht verrückt, ja, Alejandro?“

„Na, ich weiß nicht. Sie ist heulend vor mir weggelaufen und hat sich danach nicht mehr bei mir blicken lassen“,

erwiderte ich skeptisch, doch sie blieb stur bei ihrer Meinung.

„Ja, weil sie der Lucard unter Druck setzt. Sie kann auch nicht machen, was sie will, das weißt du doch. Geweint hat sie nur, weil sie endlich verstanden hat, dass ihr alle Vampire seid. Das ist im ersten Moment wahrscheinlich ziemlich erschreckend.“

„Deine Weltsicht möcht ich haben, Carla“,

warf ich sogar etwas erheitert ein. Sie wurde immer aufbrausender.

„Ach, komm schon. Genau das ist doch deine Weltsicht. Du packst das Leben, so wie es ist. Das hast du schon immer getan und alle hinter dir zurückgelassen. Als nächstes ist der Lucard dran.“

„Entschuldige, aber das ist Schwachsinn, Carla. Rova ist übermächtig, scheiße, der Mann hat mich um ein Haar fast umgebracht. Ich leg mich bestimmt nicht nochmal mit ihm an, das kann ich dir versprechen.“

Ich hatte mich inzwischen auf meinem Bett aufgesetzt, da sie begann, mich aufzuregen mit ihrem sinnlosen Aktionismus. Jetzt kam sie aber erst richtig in Fahrt und hielt mir einen Vortrag, bei dem ich manchmal nachdenken musste, was die Worte bedeuteten, so schnell brabbelte sie auf Spanisch.

„Du willst dich kurz vorm Ziel zurückziehen? Glaubst du wirklich, deine Princesa würde den Lucard bevorzugen, wenn sie die Wahl hätte? Mit wem hat sie denn ihre ganze Zeit verbracht? Mir ihm etwa? Er hat ja nicht mal welche! Immerzu versuchst du dich mit ihm zu vergleichen, aber du kannst nicht mächtiger, blonder und reicher sein als er. Das ist es am Ende sowieso nicht, was sie will!“

„Sondern? Was ist es denn, das eine Frau haben will?“

So langsam ging sie mir auf den Keks. Ich hatte geglaubt, der Rückzug sei meine einzige Option und nun fing sie wieder damit an, ich solle angreifen. Sie schwieg einen Moment lang und antworte dann überlegt:

„Einen Mann, auf den sie sich verlassen kann, zum Anschmiegen, der sie beschützt, sie zum Lachen bringt, der ihr zuhört, wenn sie Sorgen hat.“

Ich seufzte.

„Das klingt mehr nach mir als nach meinem Herrn.“

„Ganz genau. Steh zu dir, mein Alejandro, denn du bist die bessere Partie. Wenn du es langsamer angehen lassen willst, dann tu das, aber gib dich nicht auf. Ich habe schon oft genug von monogamen Vampiren gehört, die nach dem Verlust ihrer Partnerin vereinsamt sind.“

„Ähm, ja, das trifft auf meinen Herrn zu…, deshalb hab ich ja solche Gewissensbisse. Aber egal, danke Carla. Du hast mir sehr geholfen“,

waren meine letzten Worte, bevor ich auflegte. Ich ließ mich wieder nach hinten auf mein Bett fallen und bewertete die Lage neu. Dass Rova mir nicht geschrieben und mich nicht besucht hatte, konnte ich auch als gutes Zeichen deuten. Lyz war an diesem Morgen auch nicht zur Vorlesung gegangen, vielleicht weil ich sie nicht abgeholt hatte. Möglicherweise wartete sie auf ein Zeichen von mir.

Alex 11: Ein Leben nach dem Tod eines Dieners

Geschlagene zwei Tage lang regte sich fast gar nichts in Lyz' Zimmer. Ihr Browserverlauf zeigte ein paar harmlose Zugriffe auf Wikipedia, die im Zusammenhang mit Vampiren standen. Nichts, worüber ich mir Gedanken machen musste. Ich wartete einfach ab, was passierte, weil ich nicht wusste, wie ich auf sie zugehen sollte. Am dritten Tag klopfte sie morgens an meine Tür und sagte mit dünner Stimme durch sie hindurch, sie gehe jetzt zur Hochschule. Damit, dass sie mich informieren würde, hatte ich absolut nicht gerechnet. Das Prinzesschen war immer für eine Überraschung gut. Schnell zog ich mir ein paar frische Klamotten an und lief ihr nach. Da ich mir nicht so richtig sicher war, ob ich zu ihr aufschließen sollte, entschied ich mich für einen gewissen Abstand zwischen uns.

Im Treppenaufgang des Hochschulgebäudes sprach mich ein Kommilitone mit ziemlich vielen Piercings und Tattoos von hinten an.

„Das war's diesmal endgültig, was? Nach dem ständigen Auf und Ab.“

Ich runzelte die Stirn.

„Was?“

„Na, du und Lyz.“

Ich und Lyz? Hatte ich etwas verpasst? Ich blieb stehen und musste ihn danach völlig verdattert angesehen haben. Flüchtig erklärte er, während er an mir vorbei die Stufen nach oben lief:

„Sie und der Rechtsdozent, schon krass. Mein Beileid, Kumpel. Ich weiß, wie weh sowas tut.“

Was sollte sie mit Rova getan haben? Langsam setzte ich mich wieder in Bewegung und lief ihm nach. Er drehte sich noch einmal zu mir um und rief von der höheren Treppe neben mir:

„Wenn du Bock hast, heben wir heute Abend einen zusammen. Wird schon wieder, Kumpel.“

Ich ging ihm in den Vorlesungssaal nach und wurde von so ziemlich jedem darin skeptisch beäugt. Alter, ich hatte keine Ahnung was da los war. Mich neben Lyz zu setzen, fiel natürlich aus, klar, aber dass ich dafür ein zustimmendes Nicken von einigen erhielt, war dann schon komisch. Kaum ließ ich mich ganz hinten am Fenster nieder, rückte ein Mädel zu mir auf, das ich von einer Gruppenarbeit etwas näher kannte. Mein Eindruck von ihr war gut. Sie hatte dunkles Haar wie ich und schien mir unkompliziert und locker zu sein.

„Hey, alles okay soweit?“,

fragte sie. Den Meisten hätte ich gar nicht geantwortet, aber ihr warf ich einen kurzen Blick zu und nickte. Irgendetwas an ihr gefiel mir ganz gut.

„Was ich dich schon immer mal fragen wollte“,

kündigte sie an und rutschte auch den letzten freien Platz auf.

„Será que viene de España?“

„Sí, de Soria“,

antwortete ich wie aus einem Reflex heraus. Sie hatte gefragt, ob ich aus Spanien sei und ich präzisierte, ich käme aus Soria. Nun verstand ich, was ich an ihr mochte. Sie sah den Menschen in meiner Heimat ziemlich ähnlich.

„Hah, wusste ich es doch! Ich bin Halbspanierin und oft mit meinem Vater in Bilbao. Baskenland, zwei oder drei Autostunden von dir. Echt krass! Ich bin aber in Deutschland aufgewachsen. Du wahrscheinlich auch. Hast keinen Akzent. Mein Vater hat einen, der ist echt witzig. Vor allem das 'ch' macht ihm zu schaffen. Leben deine Eltern auch hier?“

Sie war schon echt nett. Es war gar nicht mal so schlecht, sich normal mit jemandem über die Heimat unterhalten zu können. Seit ich fast umgebracht wurde, war dies das erste unbeschwerte Lächeln, das mir über die Lippen kam.

„Nein, ich bin alleine in Deutschland.“

„Achso. Ich liebe ja diese Ruhe hier. Wenn wir bei Oma in Spanien sind, ist es immer so laut. Ich bin das nicht gewöhnt. Aber dort liebe ich die Herzlichkeit und das Wetter und wenn es zu heiß wird, fahren wir einfach ans Meer.“

Wieder lächelte ich, wenn auch zerknirscht, weil mein Blick auf Lyz einige Reihen vor mir fiel. Dieses Mädchen neben mir redete ziemlich viel, aber das fand ich nicht schlimm, denn immerhin lenkte sie mich ein wenig von meinem Schmerz ab. Als die Vorlesung startete, hielt sie den Mund, aber kaum ging die Pause los, quasselte sie weiter. Sie sprach über das Essen, das sie mochte und auch über die „Universidad de Deusto“ in Bilbao, auf der sie ihren Master machen wollte. Eine weitere Pause später hörte sie allerdings auf, von sich zu erzählen und erwartete auch etwas mehr über mich zu erfahren. So nett sie war, das konnte sie vergessen.

„Ich hab dich ziemlich überrumpelt, was? Das mit Lyz ist noch zu frisch. Ist aber auch heftig, was sie mit dir abzieht.“

„Was genau zieht sie denn deiner Meinung nach mit mir ab?“,

fragte ich irritiert. Sie schien kurz verwirrt, erklärte es dann aber.

„Na, sie geht fremd. Jetzt versteh ich auch endlich, warum du dich wie ihr Pascha verhalten hast. Kaum kommt ein hübscher Mann um die Ecke, springt sie auf ihn drauf.“

Ich fragte sie, woher dieses Gerücht stammte, was sie mir dankenswerterweise sehr konkret beantworten konnte.

„Lucy und Nadine haben gesehen, wie sie auf offener Straße mit Dr. Lucard rumgemacht hat. Es soll richtig zur Sache gegangen sein.“

Ich griff mir sofort reflexartig an den Mund. Dieser berechnende Sack musste das mit Absicht getan haben, um mir schön einen mitzugeben. Er mochte mein Herr sein, aber ihm hatte ich mein Leben nicht zu verdanken, wahrscheinlich jedenfalls. Diese derbe Retourkutsche von ihm veränderte meinen Blick auf ihn nicht nur ein Stückweit, sondern radikal. Erst zeigte er mir, wie spielend leicht er mich töten konnte und direkt danach, dass er sich Lyz nehmen konnte, wann immer es ihm beliebte. Die ganze Zeit packte er sie nicht mal mit gespitzten Fingern an, aber wo er wusste, dass ich sie wollte, nahm er sie sich in aller Öffentlichkeit, wahrscheinlich um sicherzustellen, dass ich davon erfuhr.

Es war nicht eingebildet von mir, das persönlich zu nehmen, denn das war es eindeutig. Über Einhundert Jahre war er alt und doch benahm er sich unreifer als ich. Irgendwie war ich nun erleichtert, dass Lyz vorher mit diesem Versicherungsvertreter-Typ zusammen war. Der Gedanke, Rova sei ihr Erster gewesen, passte mir so gar nicht, vor allem nicht unter diesen Umständen.

Scheiße, da regte sich sofort wieder das schlechte Gewissen. Mein inneres Aufbegehren schmerzte mir im Herzen, das ihm loyal ergeben war. Ich hätte schreien können, so sehr zerriss es mich. Rova war ein unbestreitbares Genie in der Biochemie, ein genialer Dozent, ein unfassbar mächtiger Anführer und hochintelligent. Dass er mit fiesen Mitteln um seine Frau kämpfte, konnte ich ihm doch nicht vorhalten. Dafür verstand ich das nur viel zu gut… Wäre nicht ich sein Gegner, hätte ich ihn nach Leibeskräften unterstützt.
 

Das war eine schwierige Situation für mich und als mich in der Mittagspause dann noch zwei andere Studis auf Lyz ansprachen, platze mir der Kragen. Ich musste es wissen, wissen, wie viel an den Gerüchten dran war. Eigentlich wollte ich mich erst einmal im Hintergrund halten, aber das konnte nicht warten. In einer Kurzschlussreaktion ging ich zu Lyz und forderte sie auf, es mir zu erklären. Wie ich Schwebezustände hasste! Wenn ich nicht wusste, wie sie zu uns beiden stand, wusste ich so gar nichts mit mir anzufangen. Natürlich war die Konfrontation völlig überstürzt und unüberlegt. Ich war noch nicht so weit, mich für das Unverzeihliche zu entschuldigen und baute eine Mauer um mich herum auf. Wenn ich es mir recht überlegte, tat ich das wohl recht oft, sobald sie mir drohte, zu nahe zu kommen. Zu allem Überfluss fand ich in dieser Unterhaltung nicht einmal heraus, was denn nun genau passiert war.
 

Zu Hause holte ich mir noch einmal Mut bei meiner Schwester und sprach Lyz einen Tag später nach der letzten Vorlesung des Tages vorsichtig an. Als ob sie es ahnte, war sie auf ihrem Platz sitzengeblieben, bis alle anderen den Raum verlassen hatten und sah mich schüchtern mit gesenktem Kopf an. Das war eindeutig eine Aufforderung, sich mit mir auszusprechen. Sie zeigte sich schon wieder viel zu nachsichtig mit mir.

„Tut mir echt leid, Lyz“,

sagte ich ausatmend. Ich lehnte stehend mit einem Sitz Abstand neben ihr. Weil ich es nicht geschafft hatte, sie dabei anzusehen, sah ich nur im Augenwinkel, dass sie mit dem Kopf nickte. Ich nahm meinen Mut zusammen und betrachtete ihren Gesichtsausdruck genauer. Sie lächelte sogar, oder… verdammt. Das war nur eines ihrer gequälten, falschen Grimassen, die sie vermutlich als Lächeln verstand.

„Nein Alex, ich versteh dich, wirklich. Wenn ich so zurückdenke, hast du viel Geduld mit mir bewiesen. Naja, und... jetzt versteh ich auch, wieso du mich naiv genannt hast. Es stimmt, ich war naiv… ich hab versucht, es auszublenden, aber… vor der Wahrheit kann man eben nicht davonlaufen.“

Da kamen sie wieder, Tränen, geboren aus meiner Sünde. Lyz tat mir so leid. Ich wollte sie umarmen, sie trösten, aber ich war doch der Grund für ihren Schmerz.

„Ich wollte das echt nicht“,

beteuerte ich mit weinerlicher Stimme. Ich fing mich zwar schnell wieder, aber das war mir echt peinlich vor ihr. Lyz fuhr in sich zusammen. Eilig wischte sie sich ihre Tränen weg und sah dann zu mir hoch.

„Ich weiß, … ich hab dir gar keine Wahl gelassen, weil ich mich dir total aufgedrängt habe. Ich mach das nie wieder, versprochen. Wenn du sagst, dass ich dich in Ruhe lassen soll, dann mach ich das, Hauptsache ich streite mich nicht mehr mit dir, Alex. Das macht mich total unglücklich.“

Unglaublich was sie da sagte. Ich Dummkopf hätte sofort reagieren müssen und ihr sagen, dass sie keine Schuld traf, doch was ich fragte, war:

„Hast du Angst vor mir, jetzt wo du weißt, wie stark ich bin?“

Sie schüttelte den Kopf, sah mich an und lächelte diesmal offener.

„Nicht mehr als vorher. Du warst eben hungrig, nachdem Rova bei dir war und da kam ich gerade recht, … aber es wäre schön, wenn du mir in Zukunft sagst, wenn du so ein Problem hast. Naja, und… ehrlich gesagt mehr als du, macht mir Rova nach dieser Sache… ne, ist schon gut.“

Rova hatte sie so sehr eingeschüchtert, dass ich das geringere Übel war. Verrückt.

„Es wird nicht wieder vorkommen. Das verspreche ich“,

versicherte ich ihr und stand auf. Es tat gut, mir das von der Seele geredet zu haben, denn ich fühlte mich danach um einiges befreiter.
 

Schon nach recht kurzer Zeit erreichte unser Verhältnis wieder ein ähnliches Niveau wie vor dem Biss. Ich mochte etwas zurückhaltender sein, aber das fiel ihr wahrscheinlich kaum auf. Gezügelt hatte ich mich ja im Grunde schon immer.

Es erschien mir fast so, als sei Lyz sogar ganz froh darüber, endlich zu wissen, was los war. Möglicherweise hatte ich mich zu einer Art Bezugsperson für sie entwickelt. So wie ihren Eltern, verzieh sie nun mir alles. Hm, ne, das war Quatsch. Da überschätzte ich mich wahrscheinlich.
 

Die Donnerstagsvorlesungen bei Rova gestalteten erschreckend ereignislos, bis auf ein kleines Ärgernis mit dem Hundemädchen Hanna. Die Tussi lernte es wohl nie, aber diesmal war es Rova, der sie abblitzen ließ.

Eigentlich war spätestens jetzt die Zeit für ihn gekommen, sich Lyz auf normalem Weg zu nähern. Sie akzeptierte ihr Schicksal, war hörig und fand ihn scheinbar immer noch ziemlich toll, obwohl er ihr Angst einjagte. Okay, ich verstand sie da ganz gut, denn mir ging es ähnlich.

Ich fand, das war seine Gelegenheit, Lyz zu beweisen, dass er auch andere, bessere Seiten hatte, doch was machte er? Nichts! Total merkwürdig, dieser Mann. Wenn er wirklich einen größeren Plan verfolgte, dann… oh Mann, nein, ich verstand ihn in dieser Sache kein Stück. Er wäre vielleicht besser gefahren, sich von mir ein paar Tipps zu holen. Selbst um eine Fernbeziehung führen zu können, brauchte man in erster Linie erstmal eine Beziehung. Seine eigene Partnerin nur ein einziges Mal zu bügeln und dann wie eine heiße Kartoffel fallen zu lassen, war schließlich nicht gerade die feine englische Art, Herr Lucard.
 

Diese Ruhe war wirklich angenehm und auch notwendig nach all den nervenaufreibenden Erlebnissen. Das Einzige, was mich noch aufbrachte, waren Lyz' Blutungen. Ihr leckerer Geruch weckte fast nur die heißen Erinnerungen. All den Schmerz, der darauf gefolgt war, hielt meine Lust wohl für nebensächlich, ich war ja auch nur fast gestorben, also klar, ganz normal.

Mann, sie brauchte nur eine klitzekleine Wunde zu haben und ich schmeckte ihr köstliches Blut förmlich auf der Zunge. Es war sogar noch schlimmer als vorher. Mein unbelehrbarer Körper schrie danach, Lyz nachts zu besuchen und sonst was mit ihr zu anzustellen, da war er sehr kreativ. So ein innerer Dialog konnte wirklich zermürbend sein. Wenn Hunger und Lust aufeinandertrafen, hätte ich mich am besten im Keller einsperren sollen. Das wäre einfacher gewesen. Naja, immerhin wusste Lyz Bescheid und ließ mich Abstand nehmen.

Zumindest tat sie das meistens, denn es gab da eine Situation, in der ich fast die Beherrschung verlor.
 

Ich war vor ihr aus dem Hörsaal geflüchtet, übliche Bilder im Kopf, wie immer, da kam sie mir im Treppenhaus hinterhergeschlichen. Dass ich nicht grundlos vor ihr weglief, hatte sie noch nicht so richtig verinnerlicht. Dieses verrückte Prinzesschen hatte sich nämlich in den Kopf gesetzt, mir zu helfen und überreichte mir auf der oberen Etage vor dem Fenster eine Ampulle, gefüllt mit ihrem Blut. So ganz hatte sie den Zusammenhang zwischen ihrem Geschmack und meiner Lust noch nicht verstanden, denn sie forderte mich auf, es direkt zu trinken, damit es mir besser gehen würde, logisch. Nur ein Tropfen davon auf meiner Zunge und sie hätte ihre Klamotten auf dem Campusgelände zusammensuchen können. Klar, ich wollte das im Grunde, aber ich bezweifelte, dass das ihre Intention gewesen war.

Sie wusste gar nicht, welchen Bärendienst sie mir damit stattdessen erwies, denn für mich hatte ihr Blut einen anderen unbezahlbaren Nutzen. Dieses rote Elixier war wie der heilige Gral für mich, mit dem ich meine Überempfindlichkeit gegen sie bekämpfen konnte. Jeden Abend träufelte ich ein Tröpfchen in ein Glas und nahm den Duft somit permanent in mich auf, um mich daran zu gewöhnen. Anfangs war das richtig heftig und meist mit abendlichem Handanlegen verbunden, aber so gewöhnte ich mich daran. Das Schwerste an der Sache war, mich so weit zu kontrollieren, dass ich es nicht doch des Nachts einfach in mich hineinschüttete.

Dass meine Disziplin Wirkung zeigte, bemerkte ich schon bei ihrer nächsten Blutung. Ich fand das Prinzesschen immer noch total heiß und so weiter, aber ich verlor nicht mehr den Verstand. Das machte mein Leben um einiges leichter.

Nun musste ich nur noch herausfinden, wie sich meine Liebe zu ihr und meine Loyalität zu Rova irgendwie unter einen Hut bringen ließen.

Rova 1: Unbehagliche Anreise

Müsste ich die letzten hundert Jahre in nur wenigen Absätzen umreißen, hörte sich das in etwa wie folgt an:

Meine Geschwister Victor-Constantin und Magret-Natalia erzogen mich zu einem unbeugsamen Entscheider, wohlwissend, dass ich nur zwei Leidenschaften im Leben besaß: die Biochemie, früher schlicht als Chemie und davor als Alchemie bezeichnet sowie meine Jugendliebe Elisabeth. Erst als auch sie mich dazu trimmte, politisch stärker in die Verantwortung zu treten, begann ich der Sache etwas abzugewinnen.

Elisabeth verkörperte unser aller Fixstern. Ihre Existenz hatte immense Auswirkungen auf das loyale Vampirvolk und ihr Verlust schwere Folgen. Schon an Elisabeths Politik zerbrach unsere Familieneinheit, doch ihr Tod ließ sie bersten.

Meine beiden Bezugspersonen Magna und Vicco ließen mich nach diesem schweren Schicksalsschlag allein zurück mit unserem in Hoffnungslosigkeit ertrinkenden Erzeuger, der sich nun Graf Alucard nannte und unserem ältesten Bruder Daric, dessen Integrität ihm gegenüber nicht zuließ, das Zepter zu ergreifen. Regierungslos drohten uns Hyperinflation, Weltwirtschaftskrise und nicht zuletzt ein Krieg mit Magnas Anhängern, zu verschlingen. Das alles gipfelte in Alucards innerer Kapitulation und, pünktlich zum sich anbahnenden zweiten Weltkrieg, in seiner Flucht in sein persönliches Sanctum, Schloss Bran im rumänischen Törzburg.

Mehr als zehn Jahre lang, bis zu Viccos Rückkehr Ende der 1940er Jahre und einer Neustrukturierung der Machtverhältnisse, mimte ich Alucards Sprachrohr, hatte in Wahrheit aber die alleinige Macht inne. Gegen abtrünnige Vampire griff ich so hart durch, dass Magna mit ihnen nach Nordamerika flüchtete. Elisabeths Vision blieb mein Kurs und, zu meinem großen Bedauern, unser beider Forschung bis etwa 1960 auf der Strecke.

Es war der Erstgeborene, Daric, der mich mit einer ganz nebenläufigen Bemerkung auf die Überlieferungen zur Wiedergeburt aufmerksam machte. Ich war noch jung und kannte nur wenige Geheimnisse der Vampire, werde sie wohl auch niemals kennen, doch er hatte schon viele Jahrhunderte gelebt und schöpfte sein Wissen aus seiner scharfen Beobachtungsgabe. Er WUSSTE, dass Reinkarnationen real waren, da er sein Herz jedoch niemals an eine andere weltliche Person als Alucard gehangen hatte, bedeutete ihm das nichts. Sari änderte seine Sicht der Dinge diesbezüglich ein Jahrhundert später.
 

Aber das nur am Rande und weiter mit der jüngeren Geschichte.

Aus der anfangs noch vorrangig lokalen Beschaffung und Verteilung unseres Blutproduktes durch das Lucard Familienunternehmen, hatte sich der international tätige SOLV entwickelt. In meiner wieder aufgenommenen Tätigkeit als Forscher, entdeckte ich ein nützliches Enzym, welches ich zu einem Medikament namens "UV-Blocker“ weiterentwickelte und ebenfalls ins Portfolio des SOLV aufnahm. Da ich meine Entdeckung, nicht etwa zu verwechseln mit der Haltbarmachung des fragilen Enzyms, mit der Welt teilte, erlangte ich eine Bekanntheit über die Grenzen der Vampirgesellschaft hinaus und machte den SOLV zu einem milliardenschweren Konzern. Politik und Geschäft begannen sich miteinander zu vermischen.

Ich, Robert-Valentin und meine älteren Brüder Victor-Constantin und David-Richard hatten uns inzwischen über eine neue Form der politischen Abstimmung, der sogenannten “Triachsial Judikative“ geeinigt. Sie lieferte uns ein Verfahren, um auch ohne der ausdrücklichen Zustimmung Alucards handlungsfähig zu sein.

Natürlich blieb meine Liebe zur Forschung ungleich größer als die zu Regierungsgeschäften und meinen Brüdern ging es ähnlich, nur eben mit ihren persönlichen Vorlieben. Veraltete Gesetze schleppten wir von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mit uns herum, was in vereinzelten Unruhen rebellierender Vampire Ausdruck fand. Für uns gestaltete es sich jedoch leichter, diese gewaltsam niederzuschlagen, als die Vampirverfassung zu erneuern. Ich lehnte eine Änderung an unseren Gesetzen aus nostalgischen Gründen ohnehin ab, da sie Elisabeths Erbe wahrten. Obendrein ging Daric in seiner Rolle als unser Vollstrecker vollständig auf. Vicco stand in Folge allein mit seiner Forderung nach Reformation, konnte also rein gar nichts gegen uns ausrichten.

Die Führung der loyalen Vampire mochten wir gemeinsam übernommen haben, doch stahlen sich meine Brüder stets aus der Verantwortung, wenn es um die Geschicke des SOLV ging. Auch für einen Vampir hat der Tag nur 24 Stunden, also schlief ich jahrzehntelang nur vier bis fünf davon und glich die Erschöpfung durch einen immensen Blutkonsum aus.

Besonders kräftezehrend fand ich den von mir zu erfüllenden Aufgabenbereich in unserem Großkonzern. Er befasste sich nicht etwa mit der Koordination von Kauf und Verkauf, Beschaffung von Rohstoffen et cetera, sondern der Personalführung. Unter den egoistischsten Wesen der Erde, den Vampiren, gutes Personal zu finden, grenzte an Unmöglichkeit. Hatte ich einen halbwegs geeigneten Geschäftsmann gefunden, machte ich ihn sofort zum Filialleiter einer unserer vielen Niederlassungen, was bedeutete, dass ich mich meist mit unqualifizierten Idioten herumschlug, die ich versuchte, zu… qualifizierten Idioten zu machen.
 

Meine Leute wurden klipp und klar von mir angewiesen, mich drei Tage lang nicht zu stören, denn ich hatte es gewagt, nach Jahrzehnten der Arbeitstätigkeit, ein einziges Mal Urlaub zu nehmen. Der Grund, den ich diesen Nichtsnutzen allerdings nicht mitteilte, war Lyz' Wunsch Saris letzte Ruhestätte zu besuchen, ihre erste Bitte an mich, die ich ihr unmöglich abschlagen konnte, egal wie unangenehm mir das Ganze war.
 

Kaum betrat ich mit ihr und meinem Diener-wider-Willen den Flughafen, überkam einen meiner Angestellten die hervorragende Idee, mich in meiner raren Freizeit mit dem Geschäft zu quälen. Die Kommunikation im Hause war definitiv verbesserungswürdig.

Schon als mein Telefon klingelte, stöhnte ich verärgert auf. Ich ließ Lyz und Alexander am Schalter stehen und entfernte mich ein wenig, vordergründig damit meine Rose nicht mithören konnte.

„…Herr Lucard“,

piepste es schüchtern am anderen Ende der Leitung. Ich kräuselte die Lippen und legte direkt wieder auf. Diese dumme Gans lernte es wohl nie. Es klingelte erneut, doch diesmal meldete sich die Stimme zögerlich mit:

„…R-Rova…“

Angeline, 42 Jahre alt, brünett, sehr hörig…, war beim SOLV erst kürzlich auf eine leitende Position im Vertrieb gerückt, in der sie die Befugnis erhielt, mich anrufen zu dürfen.

„Das Einkaufszentrum LOOM hat den Besitzer gewechselt und DER will jetzt den Geschäftsführer des SOLV sprechen, bevor die Verträge übernommen werden.“

Und wieder legte ich auf. Sie war eine Fehlbesetzung, obwohl sie so vielversprechend gewirkt hatte. Ich lag zu oft falsch in letzter Zeit. Immerhin war sie hartnäckig, denn sie versuchte es ein drittes Mal.

„Steck Mark in einen teuren Anzug und stell ihn als CEO vor, oder lös es anders, ist mir gleich, aber halte mich aus derart stupiden Fragen des operativen Geschäfts heraus!“,

schimpfte ich in den Hörer. Erst war sie ruhig, bestätigte dann aber mit einem dünnen:

„V-verstanden, Hoheit“

Ich stöhnte genervt auf.

„Das war kein hoheitlicher Befehl, sondern eine banale Anweisung. Regle das ohne mich, Angeline! Ich will die nächsten drei Tage nicht gestört werden.“

Ich legte ein letztes Mal auf und atmete tief durch, damit ich meine miese Laune nicht versehentlich an meiner zarten Lyz ausließ. Erst als ich mich wieder beruhigt hatte, ging ich zurück zu ihr.
 

Alexander, dieser kleine Quälgeist, beäugte mich skeptisch und stellte eine Frage, die mich gleich wieder auf 180 brachte. Sonst erahnte er meine Wünsche und Ziele viel zu gut, doch nun sprach er ohne Vorwarnung meinen Privatjet an. War er nicht viel zu clever, um nicht zu durchschauen, dass ich meinen wahren Reichtum vor Lyz zu verbergen suchte? Versuchte er mich vor ihr als abgehobenen Snob zu inszenieren? Durchtrieben bis zum Schluss.

Er kannte meine Rose deutlich besser als ich und genoss ein größeres Vertrauen, das war kaum zu übersehen. Ich hatte ihn von Beginn an unterschätzt. Wer hätte auch ahnen können, dass sich ein einfacher Diener wie er mein geliebtes Herz zu eigen machen würde, noch bevor ich diesen Schritt bereit war zu tun. Ich verurteilte mich noch immer zutiefst für das Missgeschick, Lyz an jenem Tag auf dem Gehweg gebissen zu haben. Das war ein schwerer Verrat an Elisabeths Erbe, einfach unverzeihlich und ganz allein Alexanders Schuld. Was fiel ihm ein, mich so gehörig zu reizen, dass ich vollkommen die Beherrschung über mich verlor? Wochenlang konnte ich ihre Nähe kaum ertragen, weil mich der Geschmack ihres Blutes und der unbändige Drang, mehr davon zu bekommen, völlig verrückt machte. Blut von Lebenden zu trinken, war nicht ohne Grund untersagt. Ein Trieb, der den edelsten Geist in die Knie zwang, war der Tod des Verstandes und jeder Anmut. Elisabeth hatte vollkommen recht, was das betraf.

Zugegeben hielt ich diesen Diener aus Soria zu Anfang für einen Glücksgriff, doch nachdem ich sein wahres Alter kannte, wunderte ich mich nicht mehr, warum er mich derart auf die Palme brachte. Heißblütige Jungspunde trieben mich schon zur Verzweiflung, als ich selbst noch keine Zwanzig war. Ich verstand sie einfach nicht. Sie waren idealistisch, wollten planlos mit dem Kopf durch die Wand und liefen lächelnd ihrem Scheitern entgegen. Unwissenheit schien ein Segen zu sein, tja und glücklich zu machen, beneidenswert. Ganz so unwissend war er allerdings gar nicht mehr.

Niemand, der einmal eine Vollmondnacht mit mir verbracht hatte, trat mir danach freiwillig wieder unter die Augen, vor allem die Frauen nicht. Dazu kam noch der Tötungsversuch durch mein Gift, das aus chemischen Nahrungsergänzungsmitteln für Menschen bestand, Vampirzellen allerdings schädigte. Ich hatte es entdeckt, nachdem viele Vampire nach dem Verzehr unseres Blutproduktes, etwa zur Jahrtausendwende, reihenweise krank wurden. Wir filterten es inzwischen heraus. Die Idee, es zu einem Gift weiterzuverarbeiten, kam mir allerdings erst kürzlich. Alexander hatte mich in der Forschung an dieser Tinktur ein ganzes Stück vorangebracht und auch die Wirksamkeit meines Antidots bewiesen.

Leider hatte er durch Lyz' Eingreifen durchschaut, dass sie ihm Immunität verlieh und nun tanzte er mir auf der Nase herum.
 

Nichts von meinen verdrießlichen Gedanken ahnend, stand meine Liebste im Flugzeug in einem für sie typisch eleganten Schwung auf und machte den Mittelplatz zwischen mir und Alexander frei. Seit vollen zwei Monaten schon mied ich es, allein mit ihm zu sein, um sein selbstgefälliges Gesicht nicht ertragen zu müssen.

„Es gibt da so'n paar Sachen, die ich immer noch nicht verstanden habe“,

sprach er mich mit einem leidvollen Ausdruck in den Augen an. Schön, dass er auch das beherrschte. Weiter so, Bursche!

„Die wären?“,

forderte ich ihn gefasst auf.

„Puh, gut. Das fällt mir jetzt nicht ganz leicht, weißt du. Also, … dieses Vampirgift, das an deinen Händen war...“,

begann er, doch schon jetzt unterhielt er mich so gut, dass ich ihn unterbrechen musste.

„An meinen Händen? Findest du nicht, dass es selbst für mich überzogene Härte wäre, dich für ein paar kopflos ausgesprochene Worte zu töten? Nicht ich war der Überträger.“

Es war wirklich erheiternd, ihn dabei zu beobachten, wie er zu der Erkenntnis gelangte, dass er sich an Lyz vergiftet hatte. Ganz beiläufig fügte ich meiner Aussage hinzu:

„Einige Vampirgifte sind für Menschen vollkommen ungefährlich. Wusstest du das nicht?“

Alexanders Kopfschütteln wirkte irritiert. Er machte eine dramaturgische Pause und hielt danach eine Hand vor den Mund. Ich mochte es nicht, wenn er das tat, denn das hatte immer etwas Triebhaftes an sich. Außerdem sprach er dann meist recht undeutlich, wofür er mir auch direkt das beste Beispiel bot.

„Nein, wusste ich nicht… Krasse Waffe ist das… Hast du es Lyz gesagt? Ich dachte eigentlich, sie hat mich gerettet.“

Bitte was? Waren seine Fragen einstudiert? Natürlich war sie es, die diesen verlogenen Rotzbengel gerettet hatte. Wahrscheinlich wollte er es von mir hören, hatte das Schäfchen gespielt, blieb aber ein Wolf. Ich hob den Kopf an und wendete meinen Blick von ihm ab, denn er trieb mich schon wieder zur Weißglut. Wieso hatte ich ihm überhaupt erlaubt, mitzukommen? Nur weil er Saris kleiner Lustknabe war?

Er bemerkte von selbst, dass diese Unterredung in eine Sackgasse führte und lehnte sich dann stumm zum Fenster, wo er vermutlich sah, dass unser Flugzeug gerade dabei war, die Wolkendecke zu durchstoßen. Er atmete schwer aus, vielleicht weil ihm seine folgende Aussage schwerfiel.

„Das alles ändert nichts an meiner Loyalität zu dir, Rova. Ich… wollte das unbedingt loswerden.“

„Unterlasse es in Zukunft, Selbstverständlichkeiten auszusprechen!“,

motze ich. Er brauchte gar nicht versuchen, mir zu schmeicheln, nachdem er mich so wütend gemacht hatte. Ich war mir ziemlich sicher, er wollte diese sinnlose Konversation noch fortführen, doch Lyz kam eilig wie ein aufgescheuchtes Reh zurück gestürzt, während sie ausgelassen rief:

„Oh, Landeanflug!“

Sie war so jung und unbeschwert, Eigenschaften, die ich schon lange verloren oder niemals besessen hatte. Ich tat mich schwer mit diesem jungen Ding umzugehen, auch wenn ich sie unbestreitbar liebte. Sie zu einer mir angemessenen Frau zu erziehen, würde mich noch viele Jahre beschäftigen, aber vielleicht würde ich dann endlich das ersehnte Glück finden, das mir mit Elisabeth verwehrt blieb.

Um einen Blick auf die schier endlosen weißen Wälder Transsilvaniens zu werfen, lehnte sich das Mädchen gedankenlos über meinen Diener hinweg zum Flugzeugfenster. In einer unhaltbar intimen Pose drückte sie sich an seiner Brust vorbei und ihr kastanienbraunes, seidenes Haar nah an sein Gesicht heran. Bei diesem abscheulichen Anblick verhärteten sich mir die Fingernägel, die ich tief ins Leder der gepolsterten Armlehne vergrub, während ich darüber nachdachte, ob sie das auch getan hätte, wenn ich am Fenster säße. Wahrscheinlich nicht. Kam ich ihr nahe, überschlug sich ihr Puls fast, der sie zu einer gestressten Salzsäule erstarren ließ.

Alexander mimte das Unschuldslamm, als träfe ihn keine Schuld, aber ich durchschaute ihn. Dass ihr eine derartige körperliche Nähe zu ihm nichts ausmachte, bewies doch schon, dass dies nicht das erste Mal gewesen sein konnte. Das war eine bemerkenswerte Entwicklung, wo er sich meine Rose nur wenige Wochen zuvor wie ein wildes Tier gewaltsam genommen hatte. Ihre Hämatome bewiesen das unwiderlegbar und doch hatte sie bereits keinerlei Berührungsängste mehr mit ihm. Wieso machte ICH ihr solche Angst, wo ich ihr gegenüber niemals Handgreiflich geworden war, während ER mit ihr tun konnte, was er wollte und sie ihm trotzdem noch auf den Schoß hüpfte? Es war der falsche Moment, um ihn dafür zurechtzuweisen, aber unterbinden konnte ich die Anstößigkeit sofort.

„Du hast jetzt genug aus dem Fenster geschaut, Liebes. Schnall dich an! Wir landen bald“,

sagte ich, so ruhig ich konnte. Sie drehte sich zu mir, lächelte lieblich und setzte sich dann wieder. Dass dieses junge Ding wegen eines banalen Fluges so aus dem Häuschen geraten würde, hatte ich mir nicht im Traum ausgemalt. Zu sehen, dass ich ihr etwas bieten konnte, das sie mochte, verursachte ein sanftes und sehr angenehmes Kribbeln in meiner Brust, das ich seit Elisabeths Zeiten nicht mehr gespürt hatte. Dieses Mädchen war etwas ganz Besonderes für mich.

Rova 2: Bruderzwist

Schloss Bran, ich konnte diesen trostlosen Ort noch nie leiden, an dem mein Bruder Vicco das Pech hatte, aufwachsen zu müssen. Ihm hatte ich es zu verdanken, dass die Familie in den Palast in Argisch, das in der Walachei lag, umgezogen war und ich in einer angenehmeren Umgebung aufwachsen konnte. Während des ersten Weltkriegs verließen wir Rumänien und den Palast zwar, doch inzwischen bewohnten Daric und seine Frau Corella ihn wieder. Mich zog es dort nicht hin. Er erinnerte mich zu sehr an meine Schwester Magna, die ich tief im Innern über alles liebte, ganz anderes als den Rest der Familie. Doch vollkommen egal, wie positiv meine Gefühle für sie gewesen sein mochten, hatte sie uns alle, vor allem aber ihre eigene Tochter Elisabeth, verraten und sich gegen die Familie gestellt. Es war ein Jammer.

Unser erster Tag in „Crow Castle“, wie Sari diesen Ort früher immer scherzhaft genannt hatte, nahm seinen Lauf. Während sich mein Gefolge nach einem verstörenden ersten und hoffentlich auch letzten Aufeinandertreffen mit dem Urvampir Graf Alucard in die Stadt aufmachte, hatte ich eine Unterredung mit meinen beiden Brüdern. Daric und Vicco saßen mir gegenüber auf dem Sofa in der dritten Etage beim warmen Kachelofen, dem einzigen Raum, in dem ich die Inneneinrichtung halbwegs ertrug, wahrscheinlich weil Vicco sie zusammengestellt hatte.
 

„Zurück zu meiner Frage von vorhin, Robert“,

erneuerte Daric die zuvor schon einmal begonnene Thematik, nur ohne Lyz' und Alexanders neugierigen Ohren um uns herum. Bereits dieser kleine Satz von ihm reichte aus, um mich zu reizen, doch ich gab mein Bestes dieses Gefühl unter Verschluss zu halten und ihn kontrolliert freundlich anzulächeln, während er monoton weitersprach:

„Du hast vor, dieses Mädchen zu konvertieren, wenn ich dich richtig verstehe, doch ohne unsere Zustimmung machst du dich damit de facto zum Abtrünnigen. Das kann ich leider nicht gestatten.“

Abtrünnig, das war Viccos Propagandaausdruck für Magnas Gefolge, also die Traditionalisten. Er hatte ein echtes Händchen für so etwas. Selbstverständlich schmunzelte ich, als ich dem Erstgeborenen meine süßliche Antwort gab:

„Mein volles Verständnis, Daric. Eben deshalb ersuche ich um eine Erlaubnis von euch beiden.“

„Selbst in so einer schwerwiegenden Angelegenheit willst du von der Triachsial-Judikative Gebrauch machen? Vaters Vetorecht wird hinfällig, sobald du die Konvertierung durchgeführt hast. Ihm bleibt als Reaktion dann nur noch die Exekution des unrechtmäßig konvertierten Vampirs“,

schlussfolgerte er fälschlicherweise und lehnte sich dabei angespannt nach vorn zu mir. Da ich die Details der Gesetze mit eigener Hand erarbeitet hatte, kannte ich sie natürlich besser als jeder andere.

„Nein, Daric. Ich wäre es, den er exekutieren oder exkommunizieren müsste. Den konvertierten Vampir trifft keine Schuld.“

Sein Blick wurde starr, als wolle er mich damit verschlingen. Er hatte es nie leiden können, wenn ich ihn belehrte, war ich doch geschlagene vierhundert Jahre jünger als er. Zweifelsohne war der Erstgeborene sehr intelligent, doch hier bewegte er sich auf meinem Terrain und das gefiel ihm ganz und gar nicht.

Erst an dieser Stelle begann sich nun Vicco einzuschalten, der nach hinten gelehnt die Beine übereinandergeschlagen und die ganze Zeit über konzentriert zugehört hatte.

„Diesen Fehler macht Vater kein zweites Mal bei einem seiner Nachkommen. Solange wir uns einig sind, ist er nur eine Spielfigur auf unserem Schachbrett. Also bleibt alles beim Alten.“

Ich nickte dem Ältesten überlegen zu, denn Viccos Rückhalt tat sehr gut. Gezweifelt hatte ich daran aber im Grunde nicht, nachdem ich sah, wie er vor meiner Lyz gebalzt hatte. Wie ein Pfau zeigte er vor ihr all seine Federn und sie reagierte auch noch darauf. Da war Vorsicht geboten.

Daric behielt seinen undurchschaubaren Gesichtsausdruck bei, während er nun auf seine erste Frage zurückkam:

„Wann hast du vor, sie zu konvertieren?“

Vicco verschränkte die Arme bei dieser Frage seines Bruders. Auch ihn schien die Antwort brennend zu interessieren.

„Nicht so bald. Sie soll erst etwas älter werden und ihre Ausbildung abschließen“,

erklärte ich, was Vicco zu einem Schmunzeln verleitete. Es war mir fast lieber, nicht zu wissen, was er dachte, doch er ließ sich noch nie davon abhalten, derlei Gedanken frei auszusprechen.

„Oh, lass mich raten, liebes Brüderchen. Kann es sein, dass du wartest, bis sie zu einer Frau wird, die den Ton angibt? Ganz so wie unsere Elisabeth damals. Du warst ihr hübscher, kleiner Schatten, mit deinen süßen siebzehn Jahren. Meine Güte, war es niedlich, dich mit ihr zu sehen. Wie ein abgerichteter Leopard.“

Ich seufzte, verbot ihm aber nicht das Wort. Was er sagte, war Unsinn, aber wenn es ihm half, sollte er seiner Eifersucht ruhig Ausdruck verleihen. Es hörte ohnehin niemand zu, den es interessierte. Mit ausschweifenden Gesten fuhr er fort.

„Sie wollte gar keinen sorgenden Mann wie mich. Sie brauchte viel mehr einen, den sie nach Belieben manipulieren konnte, einen wie dich. Robert, du weißt doch noch nicht einmal, wie eine Beziehung überhaupt funktioniert und willst mit einer Menschenfrau zusammenleben? Ich gehe doch recht in der Annahme, dass du nach Elisabeth keine Frau mehr hattest, in all den Jahren, Jahrzehnten sogar. Nicht einmal Sarina durfte an dich heran, wie sie es mir selbst bei ihrem letzten Besuch bei mir flüsterte. Verzeih, David. Du weißt genau, wie sie war.“

Ihr Vater nickte gefasst. Er wusste, dass Sari sich bei Gelegenheit auch mit Vicco die Zeit vertreib. Das war kein Geheimnis. Weder er noch ich unterbrachen also den Monolog.

„Mein lieber kleiner Bruder, ich vertraue dir wohl so ziemlich alles an, die Finanzen der Familie, das Medikament, das mir meinen Lebensstil ermöglicht, sogar die alleinige Führung der Vampirgesellschaft würde ich dir erneut in die Hände legen, doch bei Elisabeths entzückender Reinkarnation habe ich so meine Bedenken. In der Karriere magst du ein Überflieger sein, privat bist du allerdings ein Totalausfall. Das wird sie auch noch festzustellen. Nur eine Unachtsamkeit von dir und ich schnappe sie dir weg, das verspreche ich dir.“

Mein Mundwinkel zuckte unbeabsichtigt, was verriet, dass mich seine Aussagen so langsam nicht mehr kalt ließen. Sofort als ich es bemerkte, nahm ich meine Finger von meiner Schläfe. Es war eindeutig, dass er für sich das Vorrecht sah, weil er sich für einen so hervorragenden Frauenversteher hielt. Vieles von dem, was er sich zusammenreimte, war Nonsens, doch es hatte alles einen wahren Kern. Ich wollte, dass sie reift und verstand tatsächlich rein gar nichts von Beziehungen. Immer, wenn ich auf Lyz eingegangen war, hatte ich mir versucht vorzustellen, was eine weniger perverse Version von Vicco an meiner Stelle getan hätte und ahmte es nach. Wenn meine Vorstellungskraft endete, suchte ich das Weite. Das war im Grunde kein Zustand, schon deshalb, weil ich es nie lange durchhielt. Was, wenn sie den wahren Rova nicht ertragen würde? Der Gedanke ließ mich für einen Moment die Fassung verlieren.

„Hör auf damit, Vicco! Du darfst sie mir nicht wegnehmen! Sie war meine Frau, ich habe sie gefunden“,

flehte ich, bemerkte plötzlich, was für ein jämmerliches Bild ich abgab und stand sofort von meinem Platz auf.

„Elisabeth ist auch meine Frau gewesen und das viele Jahre länger als deine. Zudem hat Sari sie gefunden und nicht du.“

Wütend packte ich die Rücklehne des Sofas und schrie:

„Aber ich habe sie fast mein ganzes Leben lang gesucht, während du dich in Bahrain mit deinen Schlampen vergnügt hast. Du bist unwürdig für sie!“

Um meiner Aussage Nachdruck zu verleihen, schmiss ich das Sofa nach hinten um. Das schwere Möbelstück polterte dumpf auf die alten Dielen, was Victor aufmerksam verfolgte.

„Interessant. Mir ist schon zu Ohren gekommen, dass du deine Sexualität durch Aggression kanalisieren sollst. Oh, und du folterst auch ganz gern deine eigenen Leute oder benutzt sie, um deine neuen Medikamente und Gifte auszutesten, soweit ich weiß“,

grinste er mich herausfordernd an, während er sich nach vorn zu mir lehnte. Oh Wunder, dass es ihm leichtfiel, mich zu provozieren, wo er mich doch großgezogen hatte und mich nach Magna am besten kannte. Zähnefletschend brüllte ich zurück:

„Das hat nichts mit Sexualität zu tun!“

„Red dir das ruhig ein, mein Lieber“,

antwortete er gelassen und unterstrich seine Aussage mit einem schelmischen Zwinkern. Ich war kurz davor, den Raum zu verlassen, als sich Daric wieder zu Wort meldete, der das Ganze wahrscheinlich ziemlich ermüdend fand. Unaufgeregt warf er an unseren Bruder gewandt ein:

„Victor, du tust ja ganz so, als würdest du keine Folter nutzen, wenn deine Diener-Schnepfen aufbegehren. Darüber hinaus führe auch ich einen strengen Haushalt, also würdest du aufhören, ein Drama daraus zu machen?“

Nun lachte Vicco erheitert, lehnte sich wieder entspannt zurück und schlug erneut elegant seine Beine übereinander, während er antwortete:

„Hah, von dir erwarte ich nichts anderes, David. Aber bei Robert hat das so einen Hauch von... na, Verzweiflung würde ich sagen.“

Ich schnalzte mit der Zunge, während er weitersprach.

„Und nein, Folter ist nicht mein Stil. Wird eine meiner Konkubinen frech, schwängere ich sie einfach beim nächsten Blutmond, dann ist sie eine Weile mit sich beschäftigt.“

Deshalb hatte er also so viele Nachkommen. Bei diesem Gedanken wurde mir übel. Er brauchte sich gar nicht über mich zu erheben, wo er doch genauso gestört war wie ich, nur auf seine eigene widerliche Weise. Mein ältester Bruder konnte dafür ebenfalls kein Verständnis aufbringen und rügte ihn sogar.

„So viele Lucard Bastarde. Es ist eine Schande, Victor. Such dir endlich eine feste Frau!“

„Ich arbeite gerade daran, mein Lieber. Ach Halt, du spielst auf deine Tochter an. Du meinst, ich hätte mich an sie binden sollen“,

lächelte Vicco wehleidig, worauf sich nun auch Daric in kalter Wut vom Sofa erhob. Spätestens jetzt war die Zeit gekommen, das Weite zu suchen, denn er war kurz davor, auszubrechen. Dies aus Neugier miterleben zu wollen, wäre ein großer Fehler. Immer noch mit trockener Stimme schimpfte der Erstgeborene, die Fassung gerade noch so behaltend:

„Vielleicht hättest du das, Victor. Du oder unser gestörter kleiner Bruder Robert, doch ihr vergeht lieber in süßen Erinnerungen an eine tote Frau. Erbärmlich, wie ihr in der Vergangenheit lebt und das Wohl eurer eigenen Familie aus den Augen verliert. Bevor ich aus Versehen einen von euch umbringe, gehe ich jetzt besser. Morgen komme ich zurück und beurteile das Menschenmädchen.“

Daric verließ das Schloss völlig verstimmt. Wahrscheinlich ließ er sich von einem seiner Diener abholen und direkt in unseren Palast in Argisch chauffieren, der nur etwas mehr als zwei Stunden entfernt lag.
 

„Hast du noch Lust, dich ein wenig mit mir zu unterhalten, Brüderchen?“,

fragte Vicco schelmisch und richtete seine Lockenpracht dabei, als wir beide allein waren. Ich fauchte ablehnend:

„Ich habe genug von deinen Psychospielchen.“

„Tja, jeder hat so sein Hobby, deins ist es, Tote zu erwecken, meines ist die Psychologie.“

Er war als einziger sitzen geblieben und wies mich mit einer Geste an, mich wieder zu ihm zu gesellen.

Es musste wichtig sein, wenn er nach diesem Streit immer noch darauf bestand, dass ich blieb. Ich packte also das Sofa mit einer Hand, das neben mir lag und stellte es wieder aufrecht. Wenn auch etwas widerwillig, ließ ich mich darauf nieder und sah genervt zu Vicco, der mit seiner Erklärung begann.

„Ich wollte das Thema vor Daric nicht zu stark ausweiten, aber ist dir klar, was die Konvertierung eines Menschen für unser Volk bedeutet?“

Natürlich war mir das glasklar. Ich riskierte einen Aufstand, glaubte aber nicht, dass er besonders groß werden würde. Ich blickte meinen Bruder also gelangweilt an.

„Es ist dir egal“,

stellte er fest, woraufhin ich bestätigend den Kopf ein wenig anhob.

„Also gut, dann treffe ich ein paar Vorbereitungen. Bei deiner monogamen Libido…“

Er ließ den Finger in meine Richtung kreisen.

„… würde ich mir durch meine eigenen Gesetze auch keinen Strick drehen lassen.“

Nun erhob auch er sich und ließ mich endlich allein. Was bei mir zurückblieb, war ein überlegenes Lächeln. Selbst Vicco glaubte an das Märchen, ich sei Hundert Jahre sexuell vollkommen inaktiv gewesen. Gerade er, wo er es kaum zwei Tage ohne Frau aushielt. Ein wunderbares Gerücht war das, von mir selbst in den 40er Jahren in die Welt gesetzt, da ich Elisabeths Andenken nicht beschmutzen wollte. Pro Jahr mochten es nicht sonderlich viele Begegnungen sein, aber selbstverständlich gab es sie. Die Frauen verpflichtete ich zum Schweigen und drohte ihnen mit der schwersten aller Strafen. Ich behauptete bei jeder von ihnen, sie sei meine Einzige und wenn etwas herauskäme, dann wüsste ich genau, wen ich aus dem Verkehr ziehen müsse. Ich nutzte quasi mein eigenes Gerücht, um es aufrechtzuerhalten.

Von Sari wollte ich zu Beginn gar nichts wissen, doch sie abzuwehren, grenzte an Unmöglichkeit, so offensiv wie sie vorging. Wenn ich arbeitete, krabbelte sie manchmal einfach unter meinen Schreibtisch und öffnete meine Hose. Ja, das war rücksichtsvoll von ihr, denn so gab sie mir die Möglichkeit, fast die ganze Zeit lang weiterzuarbeiten. Sie bot sich immer gern für ein schnelles Stelldichein an, ohne zu jammern, dass es zu kurz gewesen sei. Ich war nicht ganz unschuldig daran, aber schön war es auch nicht gerade, dass sie ihre Sehnsüchte nach mir an anderen Männern befriedigte. Ich hatte sie schließlich angefüttert.

Natürlich verpflichtete ich auch sie zum Schweigen, auch wenn ich gegen sie, strenggenommen, rein gar nichts in der Hand hatte. Ihr Verständnis ging jedoch weit darüber hinaus, denn sie log sogar für mich. Sie hatte ja keine Ahnung, wie stark die Gerüchteküche um meine sexuelle Ausrichtung allein im letzten Jahr gebrodelt hatte, nur weil bekannt wurde, dass selbst ein so entzückendes Geschöpf wie sie an mir abprallte. Ein wunderbar folgsames Mädchen hatte Daric da großgezogen. Dafür hatte er meinen Respekt.

Was nur der Ehre halber für Elisabeth begonnen hatte, brachte mich inzwischen fast auf eine Stufe mit dem entrückten Alucard, der sich für alles zu fein war. Viccos Mutter hatte ich nie kennengelernt, aber es musste für sie ein Grauen gewesen sein, den Grafen zum Gatten zu haben. Wenn mein Bruder mal einen sentimentalen Tag hatte, wünschte selbst er Alucard deshalb zum Teufel. Ich tat das täglich.
 

Das Gespräch mit meinen Brüdern war schneller beendet als erwartet. Ich hatte also das seltene Geschenk unverplanter Zeit. Ich zog meine Schuhe aus und machte es mir auf dem Sofa bequem, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Mein Blick zur alten Kassettendecke verschwamm und zeigte mir Bilder aus meiner jüngeren Vergangenheit.

Es war erst reichlich eine Woche her, dass ich auf Rikka traf, eine hübsche Hostess in der VOSS Villa, in der ich stets die Loft Suite mietete, wenn es ein interessantes Biochemiker Meeting in Leipzig gab. Sie war eine Romantikerin, die glaubte, mich heimlich geknackt zu haben. Ich erinnerte mich gut daran, wie ich zu ihr sah, kurz nachdem sie hinter mir die Suite betreten hatte. Unverblümt hatte ich ihr verkündet:

„Ich bin jetzt liiert.“

„Herzlichen Glückwunsch, Herr Lucard. Sie werden sie sehr glücklich machen, da bin ich sicher“,

freute sie sich unecht und verbeugte sich ein wenig. Ihr stramm zu einem Dutt gebundenes Haar bewegte sich dabei keinen Millimeter. Diese Frau war akkurat und perfekt, aber auch wenn ich gelegentlich mit ihr schlief, erhielt sie nie das Privileg mich zu Duzen. Sie war schließlich weder meine Angestellte noch meine Dienerin und nahe stand ich ihr auch nicht.

Ich lockerte meine Krawatte, was sie dazu bewog zu mir zu eilen und mir zur Hand zu gehen. Zwar ließ ich sie gewähren, fragte mich im selben Moment aber, warum sie mir nicht sofort aus den Augen verschwunden war. Meine Anweisung schien nicht korrekt bei ihr angekommen zu sein.

„Ich vermute, meine Aufgabe verändert sich dadurch?“

Ah, sie hatte es doch begriffen. Sie zog mir den geöffneten Schlips durch den Kragen und flüsterte:

„Die Frau, mit der Sie liiert sind, … ist sie noch sehr jung?“

Ich zog angespannt Luft durch die Nase ein und nahm dadurch den teuren Duft ihres Parfüms wahr. Es ähnelte dem Geruch des seltenen Menschblutgeschmackes, das wir mit hellgelb etikettierten. Wahrscheinlich versuchte sich diese Frau mit Hilfe des Dufts zu exponieren, nicht erfolglos, denn ich war unglaublich wählerisch.

Ich wusste schon, worauf sie anspielte. Frauen boten sich mir üblicherweise an, ohne dass ich auch nur einen Finger zu rühren brauchte. Es einer von ihnen recht zu machen, mich ihr vorsichtig, zärtlich oder lustvoll zu nähern, lag nicht ansatzweise in meinem Erfahrungsbereich, eher das genaue Gegenteil.

„Ganz recht, ist sie“,

bestätigte ich. Rikka war klug, sonst hätte ich keine Minute mit ihr verschwendet. Sie ging zum Tisch und setzte sich auf einen der Hochstühle, wohlgemerkt nicht auf das große schwarze Sofa. Freundlich lächelnd nickte sie mir zu, auf dass ich ihr folgen und ihr gegenüber Platz nehmen möge.

„Eine unerfahrene Frau erwartet Führung und behutsames Vorgehen. Planen Sie mindestens eine Stunde für sie ein. Sie wird sich nicht, wie ich, selbst entkleiden. Das sollten Sie übernehmen und berühren Sie sie eine Weile zärtlich, bevor Sie ihn hineinstecken. Herr Lucard, Sie wissen sicherlich, dass sie auf mich zählen können, falls Sie eine Übung wünschen.“

Das wünschte eher sie sich, so feucht wie sie bei dem Gedanken wurde. Eine infantile Idee von ihr. Interessanterweise reagierte auch ich darauf. Die Vorstellung, meine Rose zu berühren, gefiel mir wirklich gut. Das war ein anderer Trieb als der, den ich sonst spürte. Er war weicher, vermutlich aufgrund meiner Liebe zu ihr.

„Herr Lucard, darf ich Ihre Körpersignale als Antwort begreifen?“

„Wohl kaum, geh mir endlich aus den Augen, laszives Weibsstück! Als liierter Mann werde ich deine Dienste kein weiteres Mal in Anspruch nehmen“,

fauchte ich, worauf sie sich sofort erschrocken erhob.

„Wie Sie wünschen. Sie wissen, bei mir sind all Ihre Geheimnisse sicher. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Leipzig, Herr Lucard.“

„Es wäre auch wirklich schade um dich“,

drohte ich zur Sicherheit. Sie huschte auf ihren hohen Schuhen nach draußen, während ich mit dem Kopf auf den Tisch vor mir sank. Ich musste versuchen, sicherzustellen, dass Lyz nichts von meiner Unsicherheit bemerkte. Dieser verdammte kleine Gigolo Alexander war mir meilenweit voraus, was das betraf. Mir würde nichts anderes übrigbleiben, als sie ein wenig zu hypnotisieren, damit sie zumindest in ihrer Erinnerung glaubte, ich sei besser als er. Wirklich bereit fühlte ich mich für diesen Schritt nicht, aber ich spürte wie unruhig Lyz wurde. Wenn ich weiterhin abwartete, lief ich Gefahr, sie könne es als Ablehnung begreifen. Wohl oder übel würde mich ihr demnächst stellen müssen, das wusste ich.
 

Als ich hörte, wie die Eingangstür benutzt wurde, erkannte ich wieder die Kassettendecke über mir. Ich vernahm durch das ganze Schloss, wie ausgelassen sich Lyz mit Alexander unterhielt, also stand ich auf und ging den beiden entgegen.

Rova 3: Quell des Lebens

Zu viel Freizeit bekam mir nicht. Sie machte mich nachdenklich, was im Ergebnis meist dazu führte, dass ich unzufrieden wurde. So war es schon mein ganzes Leben lang. Sicher hätte ich den Abend mit Lyz verbringen können, doch all meine Gedanken, alles, was mich beschäftigte, wie der SOLV, meine Familie, unsere Zukunft, waren nichts, was ich zu diesem Zeitpunkt mit ihr zu teilen wünschte. Sie war noch zu jung und durfte nur langsam an vampirische Maßstäbe herangeführt werden. Sie hätte weder die Ausbeutung verstanden, die ich mit den Menschen aber auch meinesgleichen betrieb, um die Macht der Familie zu sichern, noch die Radikalität, mit der ich unsere Ziele verfolgte.

Damit ich mir den Kopf nicht weiter über ihre Reaktion zu meinem wahren Wesen zerbrach, nahm ich mir meinen Arbeitsrechner aus meinem Reisekoffer und setzte mich damit an den alten Holztisch, der einer Politur bedurfte, wie alles in diesem verdreckten Schloss. Alucard ließ seine wenigen Diener nur das Nötigste tun, damit er sie nicht zu Gesicht bekam. Darunter hatte der Zustand seines Anwesens mehr als gelitten, obgleich dieser Ort schon immer eher die Aura des Limbus versprühte als die eines Herrschaftssitzes.

Ich hatte mir einige Testreihen vorgenommen, die ich mit einem Statistikprogramm auswertete, als überraschenderweise mein Handy klingelte. Sollte es immer noch jemanden beim SOLV geben, der es wagte, mich im Urlaub zu belästigen, dann hatte er dies zum allerletzten Mal getan. Mit Blick auf das Display wurde mir jedoch schnell bewusst, dass hier ein noch viel größerer Vertrauensbruch vonstattengegangen sein musste. Eine unbekannte Nummer.

Meist nahm ich solche Anrufe gar nicht erst entgegen, doch da ich auf Ablenkung hoffte, tat ich es. Eine fremde, aufgesetzt freundliche Männerstimme meldete sich.

„Guten Tag, Jack Kristiansen mein Name. Meines Zeichens freier Journalist. Ich schreibe für die Welt und diverse Wissenschaftsmagazine und würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen, Herr Dr. Lucard.“

Wieder einer dieser selbsternannten Investigativ-Journalisten, der dachte, er könne sich einen Pulitzerpreis verdienen, oder ähnliches. Na, sollte er es versuchen.

„Heute ist ihr Glückstag, Herr Kristiansen. Normalerweise ignoriere ich Anfragen wie Ihre, doch wenn sie zunächst erlauben IHNEN eine Frage zu stellen, werde ich Ihnen Gehör schenken.“

„Tun Sie sich keinen Zwang an.“

Ich lächelte in mich hinein.

„Woher haben Sie diese Nummer?“

„Meine Informanten gebe ich ni-"

„Schade“,

unterbrach ich ihn sofort.

„Als Gegenleistung für diese Information wäre ich bereit, Ihnen ein Exklusivinterview anbieten, aber nur, wenn Sie es nicht aufzeichnen.“

Über die Jahre hatte ich genügend Erfahrungen mit dieser Art von Schmeißfliegen gesammelt und mich auch schon viel zu oft unnötig über sie geärgert, als dass er mich noch aus der Reserve locken konnte. Sehr bekannt war ich unter den Menschen nicht, nur unter Biochemikern, also einem winzigen Kreis von Wissenschaftlern. Sie allerdings, liebten mich und betitelten mich ehrfurchtsvoll als „Prinz der Molekularbiologie“. Das lag an einem Versprecher eines Vertreters meines eigenen Volkes und leider nicht an meinen Leistungen. Man nahm mich als Spitzenreiter wahr. Forschungseinrichtungen und gut ausgestattete Universitäten erbrachten jedoch erheblich bessere Leistungen als ich. Das sollte auch so sein, denn immerhin werkelte ich vollkommen allein in meinem Kellerchen herum. Mein Auftreten und die Aura eines Reinblüters machten den Unterschied. Schon unter Vampiren stach ich hervor, auch wenn ich es niemals darauf anlegte, so wie Vicco es tat.

Die Familie, allen voran er, hatten nie verstanden, warum ich mein Gesicht in der Öffentlichkeit der Menschen zeigte. In den späten 70ern hatte ich den heutigen „UV-Blocker“ entdeckt und Auszüge meiner Arbeit veröffentlicht. Leider fiel es langsam auf, dass ich nicht wie ein Mensch alterte und das sorgte für Gesprächsstoff. In nicht allzu ferner Zukunft würde ich mich deshalb aus der öffentlichkeitswirksamen Forschung zurückziehen müssen.

Ein sentimentaler Beigeschmack lag mir entsprechend auf der Zunge, während ich mit diesem Journalisten sprach.

„Ich schneide das Gespräch nicht mit, Herr Dr. Lucard, aber mit ihrer Bedingung bringen Sie mich in eine schwierige Lage“,

entgegnete er nach einer für mich sehr erheiternden Pause. Was mir dieser Mann auch immer versicherte, zeichnete er das Gespräch selbstverständlich auf. Persönlichkeitsrechte zu verletzen, gehörte schließlich zum guten Ton des Journalismus.

„Also gut, Ihr Angebot ist zu verlockend. Es war eine Frau mit dem Decknamen ‚Robespierre‘. Mehr weiß ich nicht.“

„Die Gegenleistung?“

„N-nur die Veröffentlichung der Story.“

Die Suche nach dieser Revoluzzerin würde nicht lange dauern… Angeline, wer sonst? Ich würde sie mir vornehmen müssen, sobald ich zurück in Deutschland war. Früher freute ich mich auf solche Begegnungen, die unter meinen Angestellten respektvoll als „Audienzen“ bezeichnet wurden. Seit ich Lyz kannte, verloren sie ihren Reiz jedoch zunehmend bis auf eine Ausnahme, Alexander.

Da ich mein Wort hielt, ließ ich den Journalisten das Interview führen.

„Herr Dr. Lucard, es wird hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, dass Sie in ihrer Enzymforschung vor etwa zwanzig Jahren einen Durchbruch errungen haben. Warum gehen Sie mit diesen erfreulichen Ergebnissen nicht an die Öffentlichkeit?“

Ein offenes Lachen überkam mich. Hatte ich mir doch gedacht, dass es in diese Richtung gehen würde.

„Die Entdeckung des Jahrhunderts, glauben Sie?“

„Die Quelle des Lebens, der Jungbrunnen, wie Sie es nennen möchten. Befürchten Sie eine Überbevölkerung, Herr Dr. Lucard?“

„Da haben Sie sich einen schönen Bären aufbinden lassen, Herr Kristiansen.“

„Sie dementieren es also weiterhin? Verkaufen Sie das Produkt unter der Hand? Ihr sogenannter Verein macht doch seit Jahrzehnten widerrechtlich Gewinne.“

„Ist das eine böswillige Unterstellung?“,

lachte ich wieder, doch er blieb hartnäckig.

„Dass Sie die Behörden schmieren? Keine Unter-, sondern eher eine Feststellung nach meinen letzten Recherchen.“

Soso, er hatte also tatsächlich etwas herausgefunden. Na, da war ich doch froh ans Telefon gegangen zu sein.

„Sie wollen dem Verein doch nicht etwa ungerechtfertigt schlechte Publicity bescheren? Einem gemeinnützigen Verein wie unserem liegt das Wohl Tausender Männer, Frauen und Kinder auf der ganzen Welt am Herzen, nicht der Profit“,

entkräftete ich und das war noch nicht einmal gelogen. Vermutlich wusste er gar nicht, auf welch dünnes Eis er sich begeben hatte. Für mich lag die völlige Zerstörung seiner Existenz nur ein Telefonat entfernt.

„Was wäre Ihnen mein Schweigen wert, Herr Dr. Lucard?“

Amüsant, dieser Mann, aber mich konnte er nicht zu einem unabsichtlichen Geständnis bewegen. Dafür hatte ich zu viel Erfahrung mit Menschen wie ihm.

„Beschädigen Sie Ihre Reputation nicht durch voreilige Schlüsse und lesen Sie unsere Finanzberichte. Darin sind sämtliche Einnahmen und Ausgaben des Vereins aufgelistet“,

gab ich zurück.

„Ich weiß, dass sie etwas zu verbergen haben. Sie werden noch von mir hören, Herr Lucard!“

Ach, Doktor war ich nun plötzlich nicht mehr? Auch gut.

„Ich hoffe, nur Gutes, Herr Kristiansen.“

Um ihn milde zu stimmen, wollte ich ihn eigentlich zu meinem nächsten Keynote Vortrag einladen, doch er hatte bereits aufgelegt. Zur Sicherheit rief ich trotzdem die Evanes an, um ihn zumindest unter Beobachtung zu stellen. Das war ein Team aus Tiefenanalysten, welche die Psyche ihrer Zielperson durch vermeintlich zufällige Ereignisse so lang malträtierte, bis sich diese beginnen würde, selbst zu zersetzen. Ziemlich offensichtlich, dass die Idee dahinter nur Viccos sozialwissenschaftlich geprägtem Geist entsprungen sein konnte. Meine, und auch Darics viel pragmatischeren Lösungen hielt er für durchschaubar, ich für effektiver. Am Ende war es mir gleich, denn ich brauchte nur schlicht einen Namen durchzugeben und war das Problem los.

Ebenso sehr, wie mich das Gespräch zunächst erheitert hatte, wühlte es mich nun auf. Seit Jahrzehnten drängte ich mich in die Welt der Menschen, deren Anerkennung ich suchte. Wieso genau tat ich das eigentlich? Lag es an meiner Mutter, die für ihre Forschung zu Blutgruppen und der Bluttransfusion niemals eine gerechte Würdigung erhielt, weil Alucard sie vor Veröffentlichung ihrer Ergebnisse mit mir getötet hatte?

Ich mochte die Menschen lieber als mein eigenes Volk. Auf Verständnis stieß ich damit nirgends. Unter den Vampiren erfreute sich der Darwinismus einer großen Anhängerschaft, die nach einer Unterjochung lechzte. Unnötig und viel zu anstrengend war das. Ich war schon von der Führung der Vampire genervt genug, wieso sollte ich es mir freiwillig noch schwerer machen wollen? Wie stellten sich diese Narren eine Unterwerfung überhaupt vor? 235.000 Vampire und da waren die Abtrünnigen schon eingerechnet, waren für die gut organisierte Kriegsführung der Menschen mittlerweile Kanonenfutter. Die meisten meiner Leute waren so unrein, dass sie sich nur noch durch ihre Nahrungsquelle und eine bessere Zellenreproduktion von den Menschen unterschieden, kaum stärker, kaum intelligenter, nichts weiter als Bodensatz für einen wie mich.

Selbstverständlich bedeutete das nicht, dass wir uns den Menschen unterordneten. Unsere Taktik war eine andere. Der Großteil des Adels besaß Banken. Im Grunde lag der Gros des Finanzsektors in unserer Hand. Wir ließen die Menschen tun und lassen was sie wollten, solange sie uns nicht in die Quere kamen. Wenn uns etwas nicht gefiel, würdigten wir einfach die Kreditwürdigkeit des Unternehmens herab, ließen Aktienpreise sinken, oder zerstörten ihre Psyche.
 

Irgendwann in der Nacht, tatsächlich saß ich noch über meinen Auswertungen, hörte ich, wie die Tür meines Nachbarzimmers benutzt wurde. Ich sah nach Lyz und stellte verwundert fest, dass sie ihr Zimmer verlassen hatte. Welchen Grund konnte sie dafür haben? Warum klopfte sie nicht bei mir? Hinterging sie mich etwa?

Ich stellte mich in den Gang und wartete auf sie. Als sie schließlich vor Lust geradeso triefend aus Victor-Constantins Zimmer geschlichen kam, verweigerte sich mein Verstand. Das konnte nicht wahr sein. Bereits in der ersten Nacht sprang sie in sein Bett!? Viel zu interpretieren, gab es allerdings nicht, wo ich doch Viccos Fährte quasi überall an ihrem Körper wahrnehmen musste, an ihren Brüsten, zwischen ihren Beinen! Wie konnten die beiden mir nur so etwas antun!? Nicht nur Lyz enttäuschte mich damit bitterlich, sondern auch mein Bruder.

Dieser Vertrauensbruch brachte die abscheulichsten Erinnerungen an Elisabeth und später an Sari zurück. Dass sich selbst meine zarte Rose in die Anthologie der Romanzen meines Bruders einreihen musste, war kaum zu verkraften.

Es war Alexander, der mir die Augen in dieser Nacht öffnete. Zwar vergriff er sich massiv im Ton, doch half er mir, die Sache richtig einzuordnen. Vicco hatte es darauf angelegt, uns zu entzweien und wenn er etwas wollte, bekam er es in der Regel auch. Meine Liebste war zwischen die brüderlichen Fronten geraten und wurde damit zum Kriegsschauplatz. Wie abscheulich von ihm, doch immerhin konnte ich Lyz vergeben. Ich gestand ihr meine Liebe, doch leider verpasste sie den richtigen Moment, dies zu erwidern, was ziemlich schmerzhaft war.
 

Ich haderte den Rest der Nacht mit mir. Die hölzerne Standuhr zeigte kurz nach drei, als ich wieder aufstand und mein Zimmer verließ. Durch die halb gefrorenen Fensterscheiben des Vorraumes sah ich nur pechschwarze Nacht, hörte aus dieser Richtung aber ein leises Knarzen von Dielen. Neugierig gemacht, öffnete ich die alte undichte Holztür zum verschneiten Wehrgang und erkannte Alexander im Schein der schwachen Glühlampe, die ich zuvor im Zimmer eingeschaltet hatte.

Er lehnte sich nach vorn auf das schneebedeckte Geländer, drehte den Kopf zu mir und dann gleich wieder zurück. Vielleicht hatte er Lyz an meiner statt erwartet. Waren die beiden möglicherweise verabredet gewesen, oder sah ich hier Gespenster?

„Mir hat dein Ton heute Nacht gar nicht gefallen. Ich akzeptiere oppositives Gedankengut nur, solange du es nicht zur Aussprache bringst. Grundwissen, das man dir auf der Akademie beigebracht haben sollte“,

begann ich meine Zurechtweisung, auf die hin er mich nun endlich ansah.

„Hat man, aber deine Reaktion war überzogen und es muss jemanden geben, der dir das sagt.“

Dieser unfassbar freche Bursche bot mir eine ganze Portion Adrenalin zum frühen Morgen.

„Hah, selbst wenn das so sein sollte, bist bestimmt nicht du dieser jemand, Alexander.“

Er stellte sich nun aufrecht und beließ nur eine seiner Hände auf dem Geländer. Sein Puls blieb kontrolliert und auch sein Blick furchtlos, als er sich zu seiner nächsten Aussage erdreistete.

„Sorry Rova, aber wer denn sonst, bitte? Ich seh keinen, der dir irgendwie nahesteht, dem du dich mal anvertrauen könntest. Nicht mal deine eigene Familie kann das leisten. Daric hat nur Sari im Kopf und Vicco ist ein hinterhältiger Arsch, Entschuldigung, dem sich keiner freiwillig öffnet. Mann, der knallt deine Frauen, ohne mit der Wimper zu zucken und lächelt dir dann dreist ins Gesicht.“

Seine Entschuldigung hätte er sich sparen können, da sie die Unverschämt seiner Aussage kaum schmälerten.

„So, dann sag mir, worin er sich dann von dir unterscheidet?“

Na bitte. Sein Herzschlag verdoppelte die Geschwindigkeit. Er hatte mir bei der Verteidigung von Lyz ein paar Stunden zuvor endlich Details seines Ausbruchs an Silvester gestanden, doch das war sicher nicht die ganze Wahrheit. Der unterdrückende Effekt meiner Folter und auch der Vergiftung schien nahezu vollständig verflogen zu sein. Vielleicht bedurfte es diesem fehlgeleiteten Diener an einer Auffrischung, hier und jetzt auf diesem düsteren kalten Wehrgang. Ein bisschen freute mich das. Mit ihm konnte ich viel weiter gehen als mit meinen früheren Dienern. Die Vorfreude lief wie ein wohliger Schauer über meinen Körper, während ich ganz allmählich auf den frechen Burschen zuging.

„Äußerst amüsant, Alexander. Wenn ich dich richtig verstanden habe, wärst du es gern, dem ich mich anvertrauen soll. Aber was glaubst du, würde mir der Rat eines Kindes nützen, hm?“

Sein Blick war unerträglich gefasst. Er war es doch nicht etwa schon gewohnt, von mir bedroht zu werden? Ich legte meine Hand auf seiner Schulter ab, setzte den Daumen unterhalb seines Schlüsselbeins an und gab ihm einen Ruck, bis er antwortete.

„Alles in sich hineinzufressen, führt zu Fehlentscheidungen.“

Seine Gesichtszüge waren kurz entgleist. Niedlich, wie er mit sich rang.

„Mehrzahl? Welche Entscheidungen waren denn deiner Meinung nach noch falsch?“

Er schwieg, also bohrte ich ihm meinen Daumen in die Schulter. Das glich meine Anspannung wunderbar aus, sodass ich entspannt hauchen konnte:

„Warum sagst du dazu nichts?“

„Weil ich oppositive Gedanken nicht mehr laut aussprechen soll.“

Verdammter Rotzbengel! Machte es ihm Spaß, mir die Stirn zu bieten? Ich drückte meine Hand vor Wut so fest zusammen, dass ich spürte, wie sein Fleisch und dann auch sein Schlüsselbein nachgaben. Das Gefühl, seines an meiner Hand herunterlaufenden, warmen Blutes, glich mich wieder ein wenig aus. Er hatte das Gesicht abgewendet und verbarg es im Schatten unter seinen schwarzen Haaren, aber ich wusste, dass er litt. Das verrieten mir auch seine süßen, leisen Schmerzenslaute.

„Glaubst du, Lyz' Schutz überträgt dir Rechte?“,

schimpfte ich.

„Du bist nur deshalb mein Diener, weil ich alle Zeugen ihrer Tat im Auge behalten muss. Ich hätte dich genauso gut sofort töten können.“

„Aber das hast du nicht, … weil du jemanden brauchst, der dich versteht. Weil du mich brauchst.“

Ihn brauchen? Das war der größte Hohn, den ich in der letzten Dekade gehört hatte. Ich lachte auf und bohrte meinen Finger auf seinem zersplitterten Knochen herum.

„Bursche, du wärst schon tot, wenn es Lyz nicht gäbe.“

„Wenn es sie nicht gäbe, … hättest du mich gar nicht töten wollen.“

Ich fletschte die Zähne.

„Dann wärst du immer noch ein kleines Nichts unter all meinen Angestellten.“

Er hob den Kopf an, schob sich die Haare mit der noch einsatzfähigen Hand hinters Ohr, damit ich ihm in die entschlossenen Augen sehen konnte und sagte mit fester Stimme:

„Ich bin mit dem Ziel in deinen Dienst getreten, dein persönlicher Diener zu werden. Ich hätte mich hochgearbeitet, bis ich dir aufgefallen wäre. Du kannst mir so viel weh tun, wie du willst, ich gebe meinen Traum nicht auf, Rova.“

Angenehm überrascht ließ ich ihn frei, denn das hatte ich an dieser Stelle beileibe nicht erwartet. Er beugte sich leicht nach vorn und hielt sich die Schulter, an der sein Arm bewegungsunfähig nach unten hing. Ehrgeiz hatte er, das musste ich ihm lassen. So gut, wie er informiert war, wusste er, dass ich keine persönlichen Diener einstellte. Er wollte also der erste seiner Art werden. Ein Träumer, dessen ursprünglicher Eindruck sich nun doch als Wahrheit erwies. Ich seufzte.

„Stehst du etwa auf Schmerzen?“

Er zog angewidert die Augenbrauen zusammen, was eine verbale Antwort obsolet machte.

„Geh deine Wunden heilen, vorlauter Knabe“,

war meine letzte Anweisung, bevor ich ihn entließ. Er nickte und verließ den Wehrgang leicht gebeugt. Ich hatte keine Ahnung, ob er sich unter Kontrolle bringen ließ. Seine Fähigkeiten empfand ich als ebenso nützlich wie gefährlich, deshalb wollte auch dieses ungute Bauchgefühl einfach nicht verschwinden.

Rova 4: Liebe

Am Tag darauf besuchten wir die Familiengruft. Weder Lyz noch Alexander schienen es zu ahnen und ich hatte auch nicht vor, daran etwas zu ändern, aber auch Elisabeth lag darin begraben. Saris Verlust wog ohne jeden Zweifel schwer, das Grab meiner Frau zu sehen, ergriff mich jedoch ungleich stärker. Die Trauer packte mich so intensiv, dass ich unbewusst meine Schutzbegleiter, die Krähen, zu mir rief. Viele von ihnen waren in Törzburg heimisch geworden, nachdem sie Alucard mehrmals am Tag zu sich beschwor. Kein Wunder also, dass Schloss Bran inzwischen überregional gemeinhin als die Krähenburg bekannt war, Crow Castle in Saris Worten. Sie hasste dieses Schloss ebenso sehr, wie ich es tat.

Lyz, das arme Ding, litt schwerer als ich dachte unter ihrer Schuld, den Unfall mit Sari verursacht zu haben. Als ich erkannte, wie ähnlich wir uns waren, weckte sie neue Gefühle für sich in mir. Genau das, was sie für Sari zu sein glaubte, war ich für meine Mutter, ihr unbeabsichtigter Todesengel. Wir beide trugen das Blut einer elementaren Person in unserem Leben an den Händen. Wohl weil ich diese Parallele zwischen uns erkannt hatte, fiel es mir leicht, Lyz aus ihrem dunklen Verlies namens Gewissen zu befreien.

Zurück im Schloss überstanden wir Darics Verhör nahezu problemlos. Bis auf Lyz' Versprechen, nach der Reinkarnation seiner Tochter Sari zu suchen, lief es unerwartet gut. Vielleicht war eben dies auch der entscheidende Punkt für ihn. Er wusste schließlich nicht um die Nachteile. Sein kurzer Blick auf Lyz reichte nicht aus, um das erahnen zu können.

Obgleich Lyz und Elisabeth im selben optischen Gewand auftraten, so waren sie doch grundverschieden. Einerseits stellte das einen von Lyz' Vorzügen dar, andererseits fehlte ihr noch viel, um die Würde eines Lucards ausstrahlen zu können. Ein weiter und anstrengender Weg lag vor uns, der mindestens noch einige Jahre in Anspruch nehmen würde. Erst dann war ich bereit, an eine Konvertierung zu denken.

Bekanntermaßen stellte eine Konvertierung immer auch ein Risiko dar, insbesondere wenn ich sie durchführte. Mein Blut kostete den Verwandelten den Verstand…, eine Reaktion, die nicht gerade üblich zu sein schien, sondern wohl eher als Fluch bezeichnet werden konnte. Dass diese spezielle Konvertierung aber noch deutlich gefährlicher ausfiel, weil es sich bei Lyz um Elisabeths Reinkarnation handelte, wusste dagegen kaum jemand.

Von der Konvertierung Wiedergeborener gab es nur drei mir bekannte Fälle, alle vor Alucards Wiederauferstehung datiert. Nur von einer fand ich detaillierte Aufzeichnungen, die man sorgfältig in den Gewölben einer alten, romanischen Feste versteckt hielt, vor uns, wie ich von den Mitgliedern der Vampire erfuhr, die mit mir kooperierten. Die Dokumente stammten, grob geschätzt, aus dem Zehnten oder Elften Jahrhundert.

Zur Durchführung einer Konvertierung benötige man einen der Urvampire oder einen direkten, besonders reinen Nachfahren. Bereits geringe Verunreinigungen schienen zum Verlust dieser Fähigkeit zu führen.

Meine Schlussfolgerung lautete deshalb, dass es sich bei der Person, welche die beschriebene Konvertierung durchgeführt hatte, um einen der anderen Urvampire oder einen direkten Nachfahren gehandelt haben musste. Außer den Lucards stammten alle noch lebenden Vampire von Constantin oder Natalia ab, die wahrscheinlich beide nicht mehr auf dieser Erde verweilten. Dies war ein seltener Hinweis darauf, dass sie zur Zeit der späten Romanik noch am Leben gewesen sein mussten.

Inhaltlich berichtete die Schriftrolle von einem im Körper eines Menschen wiedergeborenen Vampir namens Massimillian, der schon im Alter von zwölf Lebensjahren konvertiert wurde. Sein Wachstum stoppte abrupt, als sein Geist von der jahrhundertealten Seele des Vampirs korrumpiert wurde. Wie zu erwarten, nahm es kein gutes Ende. Meiner Ansicht nach war die Differenz zwischen den Seelen zu groß. Der nicht voll ausgebildete Verstand eines Kindes war nicht in der Lage, die Masse an vampirischer Leistungskapazität zu verarbeiten. Dies gereichte mir zu Warnung.

Mit ihren 19 Jahren war Lyz von Elisabeth, welche mit nur 35 Jahren verstarb, nicht allzu weit entfernt. Viel weniger als benannter Massimillian von seinem Wirt in jedem Fall. Das Verfahren konnte entsprechend als hoch experimentell, jedoch mitnichten als unmöglich bezeichnet werden. Meine unbelegbare Hypothese lautete: je näher sich die beiden Frauen kamen, desto größer wurden die Erfolgschancen.
 

Alucard lud Lyz am Nachmittag dieses anstrengenden Tages ein zweites Mal zu sich ein. Schon bei seiner Anweisung verhärteten sich mir die Fingernägel, was er wissen musste. Warum klang das Wort „Vatermord“ plötzlich so süß in meinen Ohren? Dieser Mann hatte mich nie geliebt. Wenn er mir das nahm, was ich liebte, dann würde ich meinen Vater ins Jenseits schicken müssen, so wie ich es dereinst mit meiner Mutter getan hatte.

Natürlich lauschte ich an seiner Tür, nachdem Lyz dahinter verschwand, doch ich hörte nichts. Alucards Aura schien freundlich gestimmt, was ebenso höchst verdächtig war. Lyz kehrte zurück, doch aufgrund einer Gedächtnismanipulation blieb offen, ob unbeschadet oder nicht. Gut, wenn er es so wollte, dann klärte ich es eben mit ihm unter vier Augen. Ungehalten stürmte ich sein Zimmer. Die schwere Holztür knallte so hart gegen die Steinwand, dass das alte Holz am Rahmen splitterte, doch der Alte blieb seelenruhig auf seinem Stuhl sitzen. Noch immer fühlte sich seine Aura anders an als sonst, lebendiger, positiver.

„WAS habt Ihr mit Lyz angestellt?“,

brüllte ich ihm gegen sein dezentes Schmunzeln.

„Du reagierst, als sei sie deine wahrhaftige Gemahlin.“

Der Graf erhob sich endlich. Ich spannte jeden Muskel an, um seine merkwürdige Aura nicht in mich eindringen zu lassen. Verdammt, ich hasste diesen Mann aus vollem Herzen, mehr als jeden anderen auf der Welt.

„Weil sie es IST. Ich will keine andere Frau mehr in meinem Leben und werde mich nie mit einer anderen als ihr fortpflanzen. Euer Einverständnis, Eure Pläne, all das ist mir vollkommen gleich!“

Warm, statt kühl, weich statt hart, angenehm und liebevoll. Was sollte diese verfluchte Aura, die er mir mein Leben lang verwehrt hatte? Er legte seine Hand, die stärker gealtert war als sein Gesicht, auf meinen Kopf und streichelte darüber, als sei ich ein kleiner Junge.

„So sei es, mein Sohn. Nimm dir dieses Weib. Mach mich stolz!“

„V-Vater?“,

stammelte ich. Hundert Jahre lang hatte ich ihn nicht so genannt. Ohne eigenem Willen fuhr ich die Krallen ein, verbeugte mich ein wenig vor ihm und verließ sein Zimmer mit einem zufriedenen Gefühl im Bauch. Brav machte ich mich wieder auf den Weg zu Lyz nach oben, doch noch auf halber Strecke, schüttelte ich mich. Was war geschehen? So angenehm war seine Gegenwart schon ein Jahrhundert lang nicht mehr und mir gegenüber sowieso nicht. Erkannte er mich endlich als vollwertigen Sohn an?

Die positiven Ereignisse rissen nicht ab. Oben angekommen, warf sich mir Lyz in die Arme wie niemals zuvor. Es war unglaublich, wie plötzlich all meine geheimsten Wünsche in Erfüllung gingen. So musste sich das Glück anfühlen. Es kam so unverhofft, war so angenehm.

Ich hatte mir zu viele Gedanken um diesen Akt gemacht, denn nun ging alles wie von selbst. Wie von Rikka empfohlen, hielt ich mich zurück, doch ich brauchte ohnehin kaum etwas zu tun, da meine Liebste den Ton angab. Kein Problem, Vater, ich würde Euch stolz machen…
 

Irgendwann in der Nacht schreckte ich in mich zusammen, mit meiner Liebsten im Arm, die noch friedlich schlief. Sie schien erschöpft zu sein, was nach dieser Aufregung wohl auch normal war. Dass ich wie durch einen Schock erwachte, dagegen nicht. Es musste einen Grund dafür geben, den ich möglicherweise nur unterbewusst wahrgenommen hatte. Ich nahm meinen Arm von meiner wunderschönen Rose, zog mir den Tagesmantel über und ging leise zur Tür. Im Vorraum saß Alexander allein in Dunkeln auf der Sitzecke am Fenster und sah in die Schwärze hinaus. So vorsichtig wie möglich schloss ich die knarzende Holztür hinter mir, entzündete eine der alten Leuchten und stellte mich neben ihn. Er blickte weiter in dieselbe Richtung, auch wenn er nun nur noch sein unebenes Spiegelbild im Kristallglas sah.

„Wieso sitzt du hier?“

Er sah nur kurz zu mir auf und sog dann Luft durch die Nase ein.

„Macht der Gewohnheit?“,

fragte ich leicht amüsiert, worauf er sofort einstieg.

„Ähm ja, Macht der Gewohnheit.“

Ich setzte mich ihm gegenüber, schlug die Beine übereinander und musterte ihn. Er hatte sich nicht einmal seinen Pyjama angezogen, ins Bett gegangen war er also nicht. Natürlich war mir vollkommen klar, dass er es nicht ausstehen konnte, wenn ich ihn auf diese Weise fixierte, also machte ich es erst recht. In dieser Nacht fühlte ich mich so gut, dass selbst er meine Laune nicht trüben konnte. Ich nutzte das, um Fragen zu klären, die mich unter normalen Umständen aufkratzten.

„Alexander, verrate mir doch mal, ob du sie beim Thema Konvertierung beeinflusst hast?“

Sein Blick schnellte überrascht zu mir. Seine Antwort kam so spontan, dass sie nicht gelogen sein konnte.

„Nein, ich war selber geschockt. Mit sowas rechnet man doch nicht bei einer, die nicht mal glauben wollte, dass es Vampire überhaupt gibt.“

„Richtig. Und was hältst du von der Idee?“

Ich wechselte die Position meiner übereinander geschlagenen Beine, weil ich wohl ähnlich nervös war wie er.

„Ich? Du willst ernsthaft meine Meinung hören?“

Nachdem ich einen Moment abgewartet hatte, antwortete er schließlich irritiert von meiner Aufforderung:

„Also gut, auch wenn… ich mich gerade total über dich wundere. Ist keine Kritik, ehrlich, eher das Gegenteil. Also wenn du mich fragst, ich finde, sie sollte noch eine Weile ein Mensch bleiben.“

„Warum?“

Er wischte sich eine Hand an seiner Brust ab und begann zu stammeln.

„Sie… isst sehr gern.“

„Sie isst sehr gern“,

wiederholte ich monoton. Seine Antwort war mehr als unerwartet, aber das behielt ich für mich.

„Ja, sie isst gern alles Mögliche und kocht auch gut. Wär doch schade, wenn sie das schon so bald nicht mehr könnte.“

„Ein Jammer“,

bestätigte ich, konfrontierte ihn dann aber mit dem, was ich dachte.

„Liegt es nicht eher daran, dass du dich dann nicht mehr von ihrem Blut ernähren kannst?“

„Rova, ich... ich schwöre, das mach ich nicht mehr“,

kam sofort von ihm. Ich wusste doch schon, dass er ihren Geschmack liebte und hatte mich sicher nicht zu ihm gesetzt, um ihn dafür zu züchtigen.

„Beruhig dich! Ich erzähle dir jetzt etwas über Elisabeth, das nicht viele wissen. Es beschäftigt mich wegen Lyz' Konvertierung.“

Seine Muskeln entspannten und sein Puls beruhigte sich. So langsam begann er wohl zu merken, dass ich nicht für eine Bestrafung bei ihm saß, sondern für genau das, was er sich immer gewünscht hatte: einen Rat.

„Elisabeth hatte eine starke Persönlichkeit. Man fürchtete und liebte sie zugleich und das machte sie zu einer perfekten Herrscherin, geeigneter noch als Alucard und das wusste sie. Kurz bevor sie starb, hatte sie sich das Ziel gesetzt, ganz an die Spitze zu gelangen, ihn vom Thron zu drängen also. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Konvertierung Elisabeths Seele in Lyz erweckt. Kannst du dir vorstellen, dass sie einer solchen Persönlichkeit gewachsen ist?“

Alexanders Pupillen weiteten sich. Wie ich es mir gedacht hatte, war sein Wissen über Elisabeth nicht sonderlich groß. Er fasste sich bestürzt an den Mund und nuschelte in seine Hand hinein:

„Dann will ich es noch weniger. Ich mag sie, wie sie ist. Sie… sie soll keine abgebrühte Lucard werden!“

„Da sind wir tatsächlich einer Meinung. Also, was schlägst du vor?“

Er war vollkommen überfordert mit der Frage, stand auf und lief im Raum auf und ab. Er wollte in meine Welt eintauchen, in der ich die unmöglichsten Entscheidungen zu treffen hatte und nun fiel ihm nichts mehr ein. Ich wartete ab, bis er sich von selbst wieder hinsetzte und mir seine Antwort präsentierte.

„Du solltest so lange wie möglich warten. Wir… Du baust sie auf, bis sie eine Persönlichkeit entwickelt, die sich mit der von Elisabeth messen kann. Aber irgendwann musst du sie konvertieren, sonst… sonst wird sie alt und schrumpelig und… Lyz muss das unbedingt wissen, damit sie gewappnet ist.“

Sein Vorschlag entsprach, bis auf ein Detail, auch meiner Vorstellung. Ich seufzte.

„Ich werde es ihr selbstverständlich nicht sagen.“

„Rova, das…“,

fing er an und zeigte mir dabei seine Eckzähne, die er sofort zuhielt. Seinen Herrn anzuknurren war ein schwerer Fauxpas, den er schon mehr als einmal begangen hatte.

„Deine Manieren lassen doch sehr zu wünschen übrig.“

„Wurde nie praktisch geprüft…“,

schimpfte er mit sich selbst in seine Hand hinein. Ich erhob mich, sah auf den sich ärgernden Alexander hinab und leitete das Ende des Gesprächs ein.

„Somit kennst du deine neue Anweisung. Führ sie bestmöglich aus, sonst bekommen wir alle ein Problem.“

Er schüttelte den Kopf, während er zu mir hinaufsah. Ziemlich frech, aber ich war zu ausgeglichen, um ihm das übel zu nehmen.

„Rova, einen Moment noch… bitte. Ich würde es gern verstehen, wenn ich darf… warum… warum wolltest du Elisabeth dann überhaupt erst zurück?“

Keine schöne Frage. Ich schnalzte mit der Zunge, als ich spürte, wie ein leichter Zorn in mir Aufstieg.

„Du willst Sari doch auch zurück, also stell nicht so dumme Fragen!“

Sein Kopf schnellte Richtung Boden, als er es begriff.

Liebe.

Rova 5: Verlustangst

So geschmeidig wie in der vergangenen Nacht, hatte ich mich schon ein ganzes Jahrhundert nicht mehr gefühlt, doch ich glaubte anfangs, das sei alles Lyz' positiver Einfluss auf mich gewesen. Dass einige Details in meiner Erinnerung so langsam verschwammen, war allerdings höchst ungewöhnlich.

Meine Intuition hatte mich nicht im Stich gelassen, denn auch mit Lyz stimmte etwas nicht. Ich fragte sie immerzu, was in Alucards Zimmer passiert sei, erhielt aber keine klare Antwort. Ich hasste es, einer Situation nicht Herr zu sein und verlor den angenehmen Effekt der Nacht deshalb sehr schnell wieder. Auf dem Flughafen fing Alexander dann eine sinnlose Diskussion an, die mich wirklich ärgerte und da geschah es. Lyz verschwand aus meiner Wahrnehmung.

„Wo ist sie? Alexander, es ist deine Aufgabe auf sie zu achten!“

Er sah sich ebenso geschockt um wie ich. Ich spürte, dass er sich darum bemühte, ruhig zu bleiben, doch sein Herz raste.

„Lyz? Scheiße, ich hab nicht aufgepasst, weil du mir schon wieder... egal. Sie ist bestimmt auf Toilette. Ich- ich geh nach ihr sehen, selbst wenn ich dafür Haue von fremden Frauen kassiere.“
 

Als er ohne Ergebnis zurückkam, bröckelte seine ruhige Fassade sofort. Ich sah die Verzweiflung schon in seinen Augen, da war Lyz noch keine fünf Minuten verschwunden. Auch ich litt unter dem Schock, doch noch behielt ich die Neven. Es war gerade erst passiert, weit konnte sie noch nicht gekommen sein.

„Such du die Gates 1-15 ab, ich übernehme 16-30!“,

befahl ich sofort, bevor wir getrennt lossprinteten. Nie im Leben war sie weggelaufen, nachdem sie mir letzte Nacht endlich ihre Liebe gestanden hatte. Wer war leichtsinnig oder mächtig genug, mir das Wertvollste zu nehmen, das ich besaß? Der Graf?

Mir drängte sich immer tiefer der Verdacht auf, dass ich in der vergangenen Nacht unter Hypnose gestanden haben musste. Nur Alucard war dazu fähig und er hatte auch ein Motiv. Schon als ich noch mit Elisabeth liiert war, spürte ich den Druck aus seiner Richtung, für Nachwuchs zu sorgen. Kaum etwas anderes schien ihm wichtig zu sein. Für Lyz ging es hier jedoch nicht nur um ein Kind, schließlich war sie immer noch ein Mensch. Ich, der Mann, der seine Mutter mit seiner Geburt getötet hatte, sollte nun meine Liebste an meinen Erstgeborenen verfüttern? Alucard, dieses verfluchte Aas, war der desinteressierteste und verbittertste Vampir, den die Welt je gesehen hatte, aber wenn es um seine Kinder ging, folgte er verbissen seinem Plan.

Damit kamen Wut sowie Angst auch bei mir an. Meine Atmung beschleunigte sich zusehends, ohne dass mich der Lauf durch die Gates erschöpfte. Ich musste versuchen, mich auf die Fakten zu konzentrieren. Es konnte auch ganz banal mein liebestoller Bruder Vicco gewesen sein, der fast wortwörtlich sagte, er hole sie sich in einem Moment, in dem ich nachlässig wurde. Und was war mit meiner Schwester? Was, wenn sie ihre Tochter bei sich haben wollte?

Ich traf mich wieder mit Alexander, der so wie ich, keinen Erfolg verzeichnen konnte. Ihn hielt die Panik inzwischen vollends in ihren gierigen Klauen.

„Was machen wir jetzt? ROVA!“

Ich fletschte die Zähne in seine Richtung. Mit sinnvollen Hypothesen war von ihm nicht mehr zu rechnen, also übernahm ich das Denken notgedrungen wieder allein. Gefolgsmann zu sein, war leicht. Auch ich wollte das gleiche Recht einfordern wie er und mich einfach meinem Hass hingeben, aber das durfte ich nicht. Zuerst sollte ich die unaufwendigsten Varianten abklären, bevor ich zu den schwierigen überging. Ich griff also zum Telefon.

„Wo ist sie?“,

brüllte ich ohne Erklärung, doch Vicco verstand es sofort.

„Hast du sie verloren? Wie kann man nur so unfähig sein?“

Unnötig wiederzugeben, was er danach sagte. Kein gutes Haar ließ er an mir, deshalb legte ich auf, ohne ein Wort über meinen Verdacht zu Alucards Plan. Mein Bruder wusste schon genug.

Daric konnte es nicht gewesen sein, denn er tat niemals etwas unter dem Deckmantel der Heimlichkeit, sondern suchte stets die direkte Konfrontation.

Bevor ich mich ins Flugzeug setzte, um meine Schwester aufzusuchen, war der Graf an der Reihe. Mein verwirrter Diener stand neben mir wie eine Eisstatue, wohl weil er nicht wusste, was er tun sollte. Genervt von seinem Schock, packte ich mir seinen Arm, um ihn zum Taxistand hinter mir her zu ziehen.

„Nein, sie ist hier irgendwo. Warum willst du wieder zurück?“,

sträubte er sich. Ich holte aus und gab ihm eine saftige Ohrfeige, auf welche hin er sich endlich in Bewegung setzte. Sie war laut genug, den unruhigen Geräuschpegel des quirligen Flughafens zu übertönen, was uns einige Blicke einbrachte. Es genügte ein eindringlicher Blick in die Menge und jeder tat so, als habe er nichts gehört.

„Was, wenn sie da nicht ist?“,

rief Alexander zu mir nach vorn, während ich ihn wie ein bockiges Kind hinter mir herzog. Ich blieb so abrupt stehen, dass er gegen meinen Rücken prallte, drehte mich um, packte mir sein Kinn und fauchte:

„Reiß dich verdammt nochmal zusammen! Wenn sie da nicht ist, suchen wir weiter, so lange bis wir sie haben. Ich gebe sie nicht auf, verstanden! Niemals! Ich finde sie und wenn ich die ganze Welt für sie in Brand setzen muss!“

Seine Tränen liefen mir auf die Hand, ekelhaft. Ich schüttelte sie ab. Jämmerlich, wie schnell er die Nerven verlor, doch immerhin beruhigte er sich durch meine Drohung und schwieg während der Taxifahrt. Ich erwischte einen gut motorisierten BMW, der leider von einem schläfrigen alten Zausel gesteuert wurde. Da er meine eindringlichen Hinweise, er solle sich beeilen, mit phlegmatischer Gleichgültigkeit ignorierte, bat ich ihn, an einem Waldweg anzuhalten. Ich stieg aus, riss die Fahrertür auf, packte ihn am Arm und warf ihn aus seinem eigenen Wagen.

„Partea pasagerului!“,

fauchte ich aggressiv, was hieß, er solle seinen alten Hintern auf dem Beifahrersitz platzieren.

Der BMW war kein Lamborghini und in der Kurvenlage auch nicht damit vergleichbar, aber ich holte aus dem Vehikel heraus, was der Vierzylindermotor hergab. Ich ließ ihn wahrscheinlich die höchsten Umdrehungszahlen auf dieser kurvigen Strecke zurücklegen, die je aus ihm herausgekitzelt wurden. Sicher, der Verschleiß war hoch, aber ich würde den alten Mann auch ordentlich dafür entschädigen.
 

Endlich in Törzburg angekommen, fuhr ich bis auf den Schlosshof und ließ den Wagen direkt vor der Tür stehen. Ich rannte die Stufen hinauf zu Alucard, der mich grinsend aus seinen roten Augen heraus anfunkelte. Ich konnte nicht anders, als ihn am Kragen zu packen und ihn von seinem Stuhl in den Stand zu heben. Noch immer lächelte er undeutbar und erhob dann langsam eine Hand. Vorsichtshalber ließ ich ihn wieder los und wich einen Schritt zurück.

„Glückwunsch, du wirst Vater“,

freute er sich, bevor er begann, düster zu lachen. Ich behielt meinen aufrechten Stand, doch die Verzweiflung breitete sich in mir aus wie ein bösartiges Geschwür.

„Wo habt Ihr sie versteckt? Ich muss sie sofort konvertieren! ALUCARD!“,

brüllte ich fordernd, doch nun fiel sein erheiterter Gesichtsausdruck zusammen. Er setzte sich und vermittelte ebenfalls den Eindruck einer gewissen Anspannung.

„Sie ist nicht bei dir?“

„Nein, verdammt!“,

schrie ich weiterhin und warf mir eine Hand vor die Augen, damit er nicht sah, dass sie feucht wurden. Dass Lyz nicht bei ihm war, konnte nur eines bedeuten.

„Dann war es...!“,

hauchte ich.

„SIE?“,

hörte ich ein erzürntes Grollen, das mit dem Aufbau einer furchterregenden Aura vor mir einherging, nur leider war der Zorn des Grafen vollkommen nutzlos für mich. Selbst wenn es ihn verärgerte, würde er keinen Finger für Lyz rühren.

„Hol dir meinen Nachkommen zurück!“,

befahl er düster. Ich hatte ihm bereits den Rücken zugewandt und Alexander bemerkt, der geschockt in der Tür stand, obwohl ich ihm befohlen hatte, draußen zu warten.

„Ich erfülle Eure Anweisungen nicht, Alucard! Wenn Lyz wegen Euch etwas zustößt, schwöre ich, werde ich dieses Schloss in Schutt und Asche legen, mit oder ohne Euch darin!“,

rief ich, ohne es zu wagen, ihn dabei anzusehen. Ich schubste meinen Diener vor mir her, aus dem Türrahmen heraus und knallte die Tür anschließend aggressiv hinter mir zu.
 

„Ich hab gleich gesagt, wir dürfen nicht weg vom Flughafen!“,

belehrte mich Alexander, der seinen Blick stur auf den Boden richtete wie ein trotziges Kind. Achtlos ließ ich ihn hinter mir zurück. Wenn er mitkommen wollte, dann musste er von selbst Schritthalten. Mich vor ihm zu rechtfertigen, lag mir vollkommen fern.

Überraschenderweise hatte der Fahrer des Taxis auf mich gehört, das Auto nicht anzurühren, solange ich weg war und war nicht geflüchtet. Selbstverständlich verwies ich ihn nach hinten und setzte ich mich wieder hinters Lenkrad. Offenkundig mit mir und meinen Entscheidungen unzufrieden, stieg Alexander auf der Beifahrerseite ein.
 

„Wir müssen in die USA!“,

erklärte ich ihm flüchtig, während ich den Motor aufheulen ließ und rasant vom Schlosshof über die schmale Brücke bretterte. Sofort rief ich erneut bei Vicco an, damit auch er seinen Jet zu dieser neuen Destination umleiten konnte. Die verängstigten Augen des Alten auf der Rückbank bescherten mir die einzige Erheiterung an diesem grauenerregenden Tag.

„Wir hätten auch den Jet nehmen sollen“,

klagte Alexander wenig hilfreich. Sein Gesicht versteckte er unter seinen dunklen Haaren, aber es war nicht nötig, ihn anzusehen, um von seinem Selbstmitleid zu wissen. Von ihm genervt, schnauzte ich ihn gereizt an.

„Wenn du noch eine meiner Entscheidungen anzweifelst, schmeiß ich dich aus dem Taxi!“

Endlich wirkte mal etwas. Ein, zwei Minuten war er still, strich sich dann das Haar hinters Ohr und nuschelte schon wieder so unerträglich in sich hinein, dass ich innerlich fast ausrastete.

„Ich verstehe gerade nicht so ganz, was hier los ist. Wieso hat Alucard Lyz vorhin als seinen Nachkommen bezeichnet? Erkennt er sie als Elisabeth wieder?“

Es schien den Anfang verpasst zu haben und hatte meine Drohung am Schluss deshalb nicht richtig einordnen können. Es mochte mir widerstreben, ihm alles zu erzählen und doch hielt ich es, in Anbetracht der Situation für besser, schon allein um der Dringlichkeit Ausdruck zu verleihen.

„Nein, das tut er nicht. Es geht vielmehr um die Weitergabe von Genen. Wie du weißt, gehen aus einer Verbindung zwischen unseren Völkern zumeist normale menschliche Kinder hervor. Nun, im Falle eines Mächtigen wie mir, ist das anders, denn dann verläuft eine Fortpflanzung tödlich für den Wirtskörper. Eine Konvertierung kann Lyz vermutlich vor diesem Schicksal bewahren, doch das ist graue Theorie.“

Alexanders Atmung beschleunigte sich. Seine Finger krallte er in den Stoff seiner Hosenbeine, wahrscheinlich um seine hochkochenden Emotionen im Griff zu behalten, doch sie schaukelten sich mit jedem Atemzug immer weiter nach oben, bis er mich anschrie:

„Du- du hast Lyz nur ausgenutzt, um dich mit ihr fortzupflanzen?!“

„Natürlich nicht! Alexander, beruhige dich!“,

versuchte ich auf ihn einzureden. Der Taxifahrer wurde schon wieder unruhig, doch das ignorierten wir.

„So lautet Alucards Plan. Er hat mich überlistet, ohne dass ich es bemerkt habe. Ich mache mir selbst die größten Vorwürfe. Ich… hätte nicht geglaubt, dass er so weit gehen würde, um mich in seine Linie zu zwingen“,

rechtfertigte ich mich vor ihm nun doch, da ich, warum auch immer, das Gefühl hatte, ihm das schuldig zu sein.

„Du hättest es merken müssen, Rova! Du hättest…!“,

brüllte Alexander nun anklagend, bevor er stoßartig einatmete, da er begonnen hatte zu weinen. So aufgelöst, wie er war, konnte ich kein vernünftiges Gespräch mehr mit ihm führen. Ich schwieg eine ganze Weile, bis er sich irgendwann wieder fing. Erst dann erkundigte ich mich:

„Es kann nur einen Grund dafür geben, dass dich ihre Entführung so mitnimmt. Du liebst Lyz.“

„Und wenn es so wäre?“,

antwortete er so eindeutig, dass es für mich Gewissheit war. Ich hätte ihn gern gefragt, wie lange das schon so ging. Dieser Bengel! Aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt dafür.

„Dann verlange ich vollen Einsatz von dir, Alexander. Es hat keinen Sinn, hierfür beim ganzen SOLV Alarm zu schlagen. Sie würden nur alles ins Chaos stürzen. Ich, mein Bruder und du sind Lyz' einzige Hoffnung. Alexander, für diesen Einsatz mögen deine Gefühle für sie nützlich sein, aber wenn er vorbei ist, MUSST du sie unter Kontrolle behalten, sonst kann ich dich nicht als meinen Diener akzeptieren, verstanden?“

Mein Vorschlag war großzügig, viel zu sehr eigentlich, aber in dieser schweren Stunde spürte ich es ganz deutlich. Dieser Junge war mir ans Herz gewachsen und es war mir lieber, sie mit ihm gemeinsam durchzustehen, anstatt allein. Bis vor kurzem war das noch anders… Schon Sari hatte einen ähnlichen Einfluss auf mich und nun setzte er ihn fort.

Alexander seufzte gequält und entgegnete dann mit beschlagener Stimme:

„Ja verstehe, alles wie immer..., Hoheit.“
 

„Wo müssen wir genau hin? Nordamerika ist jetzt nicht gerade klein“,

fragte er ein paar scharfe Kurven später, um die ich etwas gedriftet war. Er klang recht gefasst, aber eine Anklage hörte ich trotzdem aus seiner Stimme heraus.

„Kalifornien.“

„Und weiter? Wen suchen wir dort? Worauf soll ich achten? Woran erkenne ich unsere Feinde? Ein paar Infos brauche ich schon noch“,

forderte er nun schnippisch. Er stand unter demselben Druck wie ich, also sah ich ihm das nach. Verweichlichte mich Lyz etwa?

„Ich gehe davon aus, dass meine Schwester Magna sie entführt hat. Ihr Timing ist einfach miserabel…, denn von Lyz' Umstand weiß sie nichts. Auch sie will sie lebend. Nordamerika ist fest in ihrer Hand. Ihre Anhänger, die Abtrünnigen, mögen uns nicht gewogen sein, aber angreifen werden sie uns nicht, so wie wir das tun, wenn wir einen von ihnen auf unserem Boden erwischen. Du wirst sie an ihrer ungesunden Hautfarbe erkennen, denn die Abtrünnigen sind Kreaturen der Nacht, die den 'UV-Blocker' ablehnen.“

Was auch immer ihm an meiner Erklärung nicht gepasst haben mochte, schnalzte er genervt mit der Zunge. Meine Krallen blieben trotz dieser vielen Frechheiten, die er sich schon geleistet hatte, allerdings unbeeindruckt. Das war interessant.

„Ich kenne einige Unterschlupfe und weiß, wo sich Magnas Hauptquartier befindet, leider aber nicht, ob sie Lyz dorthin gebracht hat. Meine Schwester weiß genau, dass mit mir nicht zu spaßen ist. Wenn Lyz Schaden nimmt, dann zettle ich einen offenen Krieg mit ihr an. Das wird sie um jeden Preis vermeiden wollen und auf mich zukommen. Halt du Augen und Ohren nach Abtrünnigen offen, die wir verhören können! Den Rest regle ich.“

„Verstanden“,

bestätigte er mir einem zusätzlichen, überflüssigen Seufzer. Er war ein impulsiver Aktionist. Neben mir nur im Taxi zu sitzen und warten zu müssen, machte ihm schwer zu schaffen. Er hätte es mir um einiges leichter gemacht, wenn er einer dieser typischen gefühllosen Rohlinge gewesen wäre, die ich sonst mit einem Profil wie seinem sah. Allerdings bezweifelte ich, dass er dann mit mir in diesem Taxi gesessen hätte.

Rova 6: Veränderung

Ich konnte mich vor dem Personal an den Flughafenschaltern aufbauen, wie ich wollte, es gab keinen Direktflug nach Los Angeles und mein eigener Jet war nicht einsatzbereit, weil mein „mitdenkendes“ Team der Meinung war, mein Urlaub sei ein geeigneter Zeitpunkt für eine Wartung. Gerade war ich dabei, mir einen Privatflug zu chartern, da wurden urplötzlich zwei Plätze für einen Nachtflug nach L. A. frei, obwohl es vor einer Viertelstunde angeblich gar keinen Flug zu diesem Ziel gab. Leider erfuhr ich erst im Flugzeug, dass sie mich hereingelegt hatten und wir in Bukarest zwischenlanden würden. Das kostete uns geschlagene zwei Stunden und 35 Minuten. Alexander erzählte ich davon nichts. Er war schon aufgewühlt genug, saß neben mir in der Business Class der Boeing 737 und ließ sein Bein auf und nieder wippen, was mich schon nach kurzer Zeit massiv nervte.

„Lass das!“,

maulte ich.

„Bring mir diesen Trick mit den Fingernägeln bei!“,

kam stoisch von ihm, deshalb ließ ich meinen Blick zu ihm schweifen und bemerkte, dass er hinab auf seine Hände starrte, vielleicht in der Hoffnung, es mir nachzumachen. Kleiner Dummkopf…

„Das kann man nicht lernen, Alexander. Sie verhärteten sich von selbst, wenn ich wütend werde.“

„So wie du Krähen rufst, wenn du…“

„…wenn ich traurig bin, ja“,

gab ich zurück. Nun hob er den Kopf und sah mich an, als er mit skeptischem Blick seine nächste Frage stellte.

„Wie funktioniert diese Lähmungs-Sache genau?“

„Ganz banale Hypnose, die aber besser auf Vampire wirkt als auf Menschen. Nun ist es aber genug! Du weißt schon mehr, als gut für dich ist“,

raunte ich, aber er ließ nicht locker.

„Rova, ich möchte nur ein paar Unklarheiten beseitigen, bevor wir in eine brenzlige Situation geraten. Wie groß ist die Leistungsfähigkeit deiner Selbstheilung?“

Sein Argument war gut. Es sollte also in Ordnung gehen, ihm auch das zu verraten.

„So wie deine, wenn du gerade Blut zu dir genommen hast. Nur Silber stoppt sie…“

„Das ist krass…“,

murmelte er fast ein bisschen verzweifelt in eine seiner Hände hinein. Er beteuerte nur noch zwei Fragen zu haben, also ließ ich sie ihn auch noch stellen.

„Habt ihr eine Stärkehierarchie in der Familie?“

Diese Antwort verwehrte ich ihm. Sie war nicht ganz simpel, da es viele verschiedene Hierarchien in der Familie gab. Wenn ich drüber nachdachte, hatte er aber nach einer ganz bestimmten gefragt. Genau bei dieser gingen unsere Meinungen innerhalb der Familie stark auseinander. Ihm das zu erklären, ging mir zu tief in meine persönlichen Angelegenheiten hinein. Seine zweite Frage stellte sich allerdings als noch verwegener heraus.

„Okay, Gerüchte über Urvampire gibt es Zulauf und eines hält sich besonders hartnäckig. Alucard soll tausende Jahre alt sein und als letzter verbleibender Reinblüter sogar fliegen können. Es gibt dutzende alte Malereien von ihm mit Flügeln. Ich will jetzt nicht wissen, ob da was dran ist, sondern, ob du als sein Spross vielleicht auch-“

„Alexander!“

„hm?“

Ich griff mir an die Schläfe.

„Alucard wird auch mit Hörnern und Hufen dargestellt, weil ihn die Kirche mit dem Teufel verwechselt hat. Hast du DIE etwa an ihm gesehen?“

Er schüttelte den Kopf und fing wieder an, nervös mit dem Bein zu wippen. Dieser Bursche machte mich noch verrückt. Ein weiteres Mal ermahnte ich ihn.

„Es hat mich beruhigt, darüber nachzudenken, wie stark du bist. Hier rumzusitzen, macht mich fertig!“,

begründete er, aber damit wälzte er nur alles auf mich ab, so wie alle es zu tun pflegten.

„Du bist gerade mein einziger Gesprächspartner und mit deiner Nervosität nicht sonderlich förderlich für meinen Geisteszustand. Beruhige dich und zwar sofort! Wir beide müssen einen kühlen Kopf bewahren. Alexander, ich weiß, wo deine Stärken liegen. Spiel sie aus! Such nach eigenen Lösungen, sobald wir gelandet sind! Je schneller wir Lyz finden, desto besser.“

Damit spielte ich den Ball zurück und erhielt von ihm… einen entschlossenen Blick? Ich hatte mit einer Kapitulation gerechnet, doch die Verantwortung, die ich ihm übertrug, weckte Kampfgeist in ihm.

„Verstanden. Danke, Rova“,

antwortete er mit veränderter Attitüde. Er besann sich, verschränkte seine Arme, schloss die Augen und sank in seinem Sitz zusammen.

„Wieder selber denken, geht klar, sehr gut. Wenn's okay ist, versuch ich ein wenig zu schlafen. In ein paar Stunden muss ich fit sein.“

Verrückter Kerl… und auch frech, aber seine wiedergefundene Ruhe half nun auch mir.
 

Da war ich wieder allein mit meinen Gedanken und hatte noch sieben Stunden Zeit, um mich selbst fertigzumachen und die Welt um mich herum für ihre Gräueltaten zu verurteilen. Warum mussten immer alle gegen mich arbeiten? Dieser Jungspund neben mir war, zusammen mit Lyz, wahrscheinlich der Einzige, der mit mir in eine Richtung lief. Auf seine gewöhnungsbedürftige Art und Weise, fand ich ihn nicht übel. Einen wie ihn machte ich normalerweise recht schnell zum Vorstand einer größeren SOLV Niederlassung, aber vielleicht war er es wirklich wert, ihn längerfristig an meiner Seite zu behalten. Ohne ihn hätte ich die Fassung auf dem Flughafen nicht so gut behalten können. Ich spürte eine Art Drang, ihm ein Vorbild sein zu müssen. Er zügelte mich, beruhigte mich gar. Es gab nur eine weitere Person, die das beherrschte, meine Schwester Magna. Im Gegensatz zu Alexander, verfügte sie aber auch über sehr mächtige Gaben, mit denen sie sogar mich zu beeinflussen wusste.

Ich war traurig, ängstlich und wütend und doch nahm ich mir zu Herzen, was Alexander gesagt hatte. Ich musste für Lyz fit sein, also verschränkte auch ich die Arme und sank in mich zusammen. Erst nach ein paar Stunden schlief ich endlich ein. Nicht lange, doch mein Traum war verstörend. Er handelte von meiner Lyz und davon, wie sie von dem Ding, das ich in sie eingepflanzt hatte, fast verschlungen wurde. Sogar Alexander kam darin vor, was mir fast schon ein bisschen zu realistisch erschien. Nun suchte er mich schon in meinen Träumen heim.

Im Grunde war es eigenartig, denn höchst selten, dass ich überhaupt träumte. Meine Angst um meine Rose musste sich in meinem Unterbewusstsein manifestiert haben und dafür verantwortlich gewesen sein. Anders konnte ich es mir nicht erklären.
 

Zwar waren wir am Abend in Bukarest umgestiegen, aufgrund der Zeitverschiebung zur Westküste Nordamerikas, kamen wir aber trotzdem noch in derselben Nacht an. Mein Bruder Vicco wartete am Los Angeles International Airport auf uns, an dem er schon vor Stunden mit seinem Jet gelandet sein musste. Zwar wünschte ich mir seine Unterstützung, ihn nach unserem Streit wieder in seinem so typischen Prinzen-Outfit zu sehen, regte mich trotzdem auf. Wieder hatte er sich einen Porsche Cayenne besorgt, in weiß natürlich. Er schien diesen klobigen Wagen wirklich zu mögen, aber in meinen schnittigen Lamborghini hätten wir drei auch keinen Platz gefunden.

„Über ein paar Kontakte habe ich herausgefunden, dass sich Magret letzte Woche in Europa aufgehalten hat. Es gibt keinen Zweifel mehr daran, dass sie es war. Eine so wichtige Mission, wie die Entführung ihrer vermeintlichen Tochter, würde sie keinem anderen überlassen. Da seid ihr beide euch sehr ähnlich, Brüderchen“,

erklärte er, nachdem er sich in das nagelneue Auto gesetzt hatte. Ich setzte mich auf die Beifahrerseite und antwortete ihm unbehelligt:

„Die Anwesenheit zweier Lucards wird wohl kaum lange unbemerkt bleiben. Magna wird sich bei uns melden, da bin ich sicher.“

„Bei ihrem Lieblingsbruder bestimmt“,

schnaubte er, worauf Alexander, der alleine auf der Rückbank des Cayennes saß, die Nerven verlor.

„Einen Moment, ihr beide wollt sie gar nicht aktiv suchen gehen, sondern darauf warten, dass Magna bei euch klingelt? Das ist der Plan? Sorry Rova, aber aus dem bin ich raus. Ich dreh bestimmt nicht NOCH länger Däumchen. Sagt mir wenigstens, wo sie sein könnte, damit ich nicht die ganze Stadt absuchen muss.“

„Ist der immer so?“,

fragte Vicco seine hellen Augenbrauen anhebend, worauf ich einen Mundwinkel hob und beschwichtigend nickte. Mein Bruder schüttelte verständnislos den Kopf.

„Du lässt ihm ja ganz schön was durchgehen. Weißt du eigentlich, dass er unserer Süßen schon einmal eine Ohrfeige verpasst hat?“

Ich drehte mich zu dem aufbrausenden Kerl hinter mir um, der mich unbeugsam anfunkelte. Mir war klar, dass sie Erziehung benötigte und Alexander leistete da keine schlechte Arbeit.

„Dazu muss es einen triftigen Grund gegeben haben“,

verteidigte ich ihn schließlich. Meine Güte, hatte ich das wirklich getan?

Vicco lachte heiter.

„Oh, den gab es. Vielleicht brauche ich auch so einen Buben, um meine Frauen zu bewachen, wenn ich das Nest verlasse. Aber pass auf, dass er sich nicht bei dir einnistet und zum Hahn wird, wenn du ausfliegst.“

„Lass uns zu einem ihrer Hotels fahren. Dort findet sie uns am leichtesten. Kimpton? InterContinental? Das Radission hier ist mir zu schäbig“,

überging ich seine überflüssige Anspielung. Das entspannte auch Alexander ein wenig, denn er ließ sich auf dem sandfarbenen Ledersitz nach hinten fallen. Ich drehte mich zu ihm.

„Alles zu seiner Zeit. Ein klein bisschen brauchte ich dich noch.“

Sein entschlossenes Nicken tat mir gut. Wir gaben und gegenseitigen Rückhalt.
 

Wir entscheiden uns schließlich für das „Kimpton“ in Beverly Hills. Kaum traf mein aufgebrachter Diener in der Hotellobby auf einen der Abtrünnigen, packte er ihn und zog ihn in die Herrentoilette hinein. Nach nur ein paar Minuten kam der blasse Vampir verstört mit einer blutenden Lippe heraus und verschwand eilig. Alexander kam, als sei nichts gewesen, zu uns zurück und raunte angespannt:

„In diesem Hotel ist sie nicht. Magret-Natalia war schon seit Wochen nicht mehr hier. Mehr hat er nicht gewusst.“

Ich hatte mich mit Vicco in die Lobby gesetzt und nickte meinem vor mir stehenden Diener anerkennend zu, der überhaupt nicht in dieses gehobene Ambiente passen wollte. Meinen Wunsch, seine Erkenntnis zu verifizieren, las er mir von den Lippen ab, denn er drehte von selbst um und suchte nach einer zweiten Quelle, die er befragen konnte.

„Selbes Ergebnis“,

meldete er, nachdem er zurückgekommen war.

„Wir warten hier, bis Magna uns empfängt. Sie weiß ja nun, wo wir uns aufhalten“,

begann ich den Plan zu erläutern, doch er ließ mich nicht ausreden.

„Ich bleib bestimmt nicht hier. 'Radission' und 'InterContinental', sagtest du? Die klappere ich ab. Setzt ihr hier Moos an, mir egal.“

„Schweig, frecher Bengel!“,

rügte ihn mein Bruder, doch ich nickte zustimmend und ließ den Heißsporn von Dannen ziehen. Eigentlich wollte ich ihm genau das vorschlagen, aber es war besser, wenn er es weiterhin für seine eigene Idee hielt.
 

Es dauerte Stunden, ohne dass ich etwas von meiner Schwester oder Alexander hörte. Mein Bruder und ich hatten sich je ein Zimmer gemietet, in dem wir uns getrennt aufhielten. Die beruhigende Wirkung, die mein Diener zuletzt auf mich ausgeübt hatte, war verflogen, deshalb versank ich so langsam wieder in meinem Pool aus Selbstvorwürfen. Eine erfolgreiche Extraktion war nur innerhalb der ersten Tage nach der Befruchtung möglich. Wahrscheinlich war es schon zu spät und Lyz an meinen Nachkommen gebunden. Mit jedem verstrichenen Tag würde er sie immer weiter verzehren. Nur eines konnte Lyz dann noch retten: eine Konvertierung. Die von mir durchgeführten waren nie einfach gewesen. Die Jungvampire erwachten meist ohne Verstand, hörten wie Marionetten auf meine Befehle. Abgeschwächtes Blut konnte jedoch eine unvollständige Veränderungen nach sich ziehen. Zudem belastete mich der Gedanke an Elisabeths Seele und dessen Rückkehr.

Alucards verhasster Grund, mich in die Welt zu setzen, hatte mich geprägt. Ich musste ihm beweisen, dass ich nicht sein Spielball war, sondern meine ganz eigenen Vorstellungen vom Leben hatte. Er durfte mir nicht diktieren, wann ich mich mit wem fortzupflanzen hatte.

Selbst wenn sich schon ein Fötus in Lyz eingenistet haben sollte, blieben mir Tausend Ideen, ihn anders loszuwerden, als sie zu konvertieren. Ich war schließlich Wissenschaftler und erst am Ende, wenn ich keine Vorstellungskraft mehr besaß. Leider war das mit der abstoßenden Anforderung gekoppelt, menschliche Testobjekte zu erschaffen. Vielleicht wäre Vicco für einen derart ekelerregenden Job zu gewinnen gewesen. Ich hätte ihm ja nicht sagen müssen, dass die meisten Frauen wahrscheinlich bei den Extrahierungsexperimenten sterben würden. Leider war er für eine solche Finte nicht dumm genug. Verflucht! Wir mussten Lyz unbedingt vorher finden, denn ich wollte mich nicht so tief versündigen müssen.

Mit der Faust schlug ich ungezügelt auf den Tisch, an dem ich gesessen hatte, der augenblicklich unter mir zusammenbrach. Auch das noch.

Ich stand auf und ging zum Fenster, aus dem ich die nächtliche Skyline betrachten konnte. Plötzlich schreckte ich zusammen, als endlich das Handy in meiner Brusttasche zu klingeln begann. Nur der erste Ton des Klingeltones war zu hören, so schnell nahm ich ab. Bevor ich auch nur einen Laut von mir geben konnte, hörte ich Alexanders aufgebrachte Stimme am anderen Ende.

„Lyz ist hier irgendwo!“

„Was? Wo bist du genau?“,

rief ich in das Mikrofon. Mein Herz raste vor Glück. Er hatte sie tatsächlich gefunden, dieser überaus nützliche-… nichts überstürzen. Ich musste ihn erst einmal anhören. Ich legte meine freie Hand flach auf das kalte Glas des bodentiefen Fensters. Lyz war da draußen, dachte ich, während er erklärte, was vorgefallen war:

„Ich war noch in der Lobby, als mir deine Schwester über den Weg lief, einfach so. Es war irre. Sie kam gezielt auf mich zu und hat mich dann nach meinem Namen gefragt. Ich hatte 'ne Scheißangst vor ihrer Aura, aber kaum hörte sie meinen Namen, war sie wie ausgewechselt. Sie hat jetzt meine Handynummer und schickt mir Lyz' Raumnummer in den Morgenstunden.“

„Welche Lobby? Radission oder –“

„InterContinental!“,

antwortete er sofort.

„Halte die Stellung! Ich und Vicco kommen zu dir“,

entgegnete ich aufgeregt, während ich das Fenster losließ, auf dem die Form meiner nun ausgekühlten Hand durch die Kondensation noch sichtbar war. Ich war gerade dabei, aufzulegen, da hörte ich ein dumpfes Rufen, das von meinem Handy ausging, also setzte ich es wieder an mein Ohr.

„Rova, … musst du… musst du deinen Bruder mitbringen? Er hat Einsatz gezeigt, ja, aber glaubst du, dass sie ihn sehen will, nach allem, was er mit ihr abgezogen hat?“

„Alexander!“,

ermahnte ich ihn.

„Versuchst du schon wieder meinen Berater zu spielen? Vicco ist mein Bruder. Ich mag meine Differenzen mit ihm haben und trotzdem…“

Ich hörte ihn seufzen.

„War nur ein Gedanke. Wir sehen uns dann.“
 

Danach legte er auf, doch seine Worte hallten in mir nach. „Nach allem was er mit ihr abgezogen hat“, sagte er. Zwei Mal hatte mein Bruder sie schon gegen ihren Willen verführt, mit seiner schmierigen Art… die ich an ihm bewunderte. Ihm zu begegnen, würde das Wiedersehen stören, sie vielleicht verwirren. Alexander bewies Weitsicht. Lyz' Wohl wog in diesem Fall schwerer als der Stolz meines Bruders.
 

Vicco reagierte gefasst auf die Nachricht und hielt mich nur für undankbar. Das war kein zu schweres Opfer für meine Liebste. Ich hoffte, dass ihr Zustand stabil war und fuhr allein nach Downtown Los Angeles zum InterContinental Hotel.
 

Als Alexander registrierte, dass ich meinen Bruder tatsächlich zurückgelassen hatte, blitze ein Schmunzeln auf seinen Lippen auf. Derlei Überheblichkeit sollte er sich schenken, wenn er sich wünschte, dass ich in Zukunft wieder einmal auf seinen Rat eingehen sollte.

Natürlich hatte er noch keine Zimmernummer erhalten, denn es dauerte noch mehr als eineinhalb Stunden bis zum Sonnenaufgang. Ich brauchte einen Moment, um meinen anfänglichen Ärger zu überwinden und klopfte ihm dann auf die Schulter.

„Gut gemacht!“

Er lächelte unsicher, denn er wusste nicht, wie vertrauenswürdig Magna war. Er hätte eine hervorragende rechte Hand für mich abgegeben, wenn er nicht in meine Frau verliebt gewesen und von ihm deshalb nicht diese Gefahr ausgegangen wäre. Wahrscheinlich bezog er daraus aber diese immense Stärke, die für einen so Unreinen wie ihn, mehr als nur außergewöhnlich war. Wie sollte ich nur mit ihm weiter verfahren?

Rova 7: Vampire träumen nicht

Vampire träumen nicht. Wir haben Ahnungen, wiederholen Erlebtes, doch wir träumen nicht!

Diese Sätze wiederholte ich mantraartig, nachdem ich die dritte Nacht infolge schweißgebadet aus dem immer gleichen Albtraum erwachte.

Die Veränderung meiner Rose nach ihrer Konvertierung mochte nicht augenscheinlich sein und doch verursachte sie gewaltige Auswirkungen. Nicht einmal Lyz selbst bemerkte, welch immense Macht in ihr schlummerte. Meine Hoffnung, sie könne als vollständig entwickelter und sich selbst bewusster Vampir erwachen, zerschlug sich dadurch und stellte mich entsprechend vor die Mammutaufgabe, sie bei ihrer Entwicklung begleiten zu müssen. Undenkbar für mich.

Eine weitere nicht stemmbare Last, meine Sünde, sie fast getötet zu haben, machte dies ohnehin unmöglich. Lyz' Gegenwart erdrückte mich. Das Schließen meiner Augen genügte, um meine Erinnerungen an jenen realistischen Traum, den ich auf dem Flug nach Kalifornien hatte, erneut durchleben zu müssen.

Immerzu sah ich dieses Kind vor mir, wie es mich für seinen Tod verurteilte, mich sogar verhöhnte, bis ich es nicht mehr aushielt und es erneut erwürgte. Dann erwachte ich. War es möglich, dass ich die Essenz dieses Wesens in mich aufgenommen hatte, oder litt ich schlicht an einem Trauma?

Mein Puls raste. Ich stand aus meinem klammen Bett auf, ging zum Fenster und sah durch die bewölkte Nacht hinaus auf meinen verwilderten Garten. Elisabeth hatte ihn seiner Zeit gepflegt, daher verfügte ich nach ihrem Tod, meine Angestellten dürften allein die Wege freihalten. Nun erschien mir dies als unnötige Sentimentalität, überflüssig geworden, durch einen neuen Abschnitt meines Lebens. Auch die untere Etage, Elisabeths und mein früheres Terrain, sollte irgendwann renoviert werden.
 

Erschöpft schleppte ich mich zu meiner Kommode, in deren Schublade ich eine Blutkonserve aufbewahrte. Ich füllte sie in ein bereitstehendes Glas, trank es aus und zog mich an. Schlaf würde ich in dieser Nacht ohnehin keinen mehr finden, also konnte ich genauso gut arbeiten.

Ich stieg die Stufen meiner Villa hinab, bis hinunter in den Keller, in dem sich, neben meinem Labor, auch mein Gefangener befand. Vor Lyz' Konvertierung empfand ich es stets als angenehme Ablenkung, ihn ein wenig zu quälen, ganz besonders, seit er seine vollen Erinnerungen wiedererlangt hatte.

Die quietschende Metalltür zum Kerkertrakt im hinteren Teil des Labors kündigte meinen Besuch bei ihm bereits an. Proband Null, der früher einmal Peter hieß, hockte verschreckt in der Ecke seiner Zelle, die ihm aufgrund des UV-Flutlichts im Raum allerdings kein Versteck bot. Meist ließ ich es ausgeschaltet, es sei denn, ich besuchte ihn zu diesem speziellen Zweck. Das wusste er.

Wie ich es ihm beigebracht hatte, kroch er unterwürfig nach vorn und kniete sich zitternd mit der Stirn auf dem Boden vor mich. Ich schloss die schwere Metalltür hinter mir und öffnete danach die seiner Zelle.

"Steh auf!",

befahl ich kühl, was er mit zu Boden gerichtetem Blick tat.

"Bist du hungrig?"

"N-nein, Hoheit…",

winselte er zu meiner Unzufriedenheit. Ich berührte sein Kinn, hob seinen Kopf an und hauchte ihm dieselbe Frage noch einmal in sein vom UV-Licht schmerzendes Gesicht. Diesmal stimmte er zu.

Ich stach mir mit dem Zeigefinger eine kleine Wunde ins Handgelenk und hielt es ihm hin. Der Duft meines erhabenen Blutes musste ihm verführerisch in die Nase steigen und doch durfte er es nicht trinken, wenn er keine Vergiftung riskieren wollte. Mehr als ein paar Tropfen, höchstens einen Schluck, mehr würde er aufgrund der Silberpartikel in meinem Blut nicht überleben.

"Was ist? Trink!"

"...Hoheit…"

sabberte er gierig, aber ebenso eingeschüchtert, bevor er geschwächt in sich zusammensackte. Erhaben sah ich auf ihn herab und lächelte. Tatsächlich erheiterte mich dieses Spiel wieder ein wenig.

Auch ich ging in die Hocke, hielt ihm erneut mein Handgelenk unter die Nase und säuselte ein Verführerisches:

"Bedien dich."

Verängstigt näherte er sich. Erst als seine Zungenspitze meine Wunde berührte, zog ich die Hand von ihm weg. Es wirkte nicht unmittelbar, sondern leicht zeitversetzt, da sich die Nanopartikel erst ihren Weg von seiner Zunge bis in sein Nervensystem bahnen mussten. Dann begann er zu Röcheln und zu Husten, doch er starb nicht, denn die Dosis war kaum höher als die seiner regelmäßigen Therapie, nur eben konzentrierter.

Ich wartete etwa eine Minute lang, bis er sich beruhigt hatte und fragte:

"Was tut man, wenn man eine solche Ehre erweisen bekommt?"

Schnell nahm er die kniende Position wieder ein und hustete:

"Vielen Dank, … Hoheit."

Besänftigt verließ ich seine Zelle, schaltete das UV-Licht ab und ließ nur noch die normalen Leuchtstoffröhren eingeschaltet. Proband Null wusste nun, dass er den schmerzhaften Teil überstanden hatte und wurde entsprechend ruhiger, auch wenn er noch hin und wieder von seinem Husten geplagt wurde.

"Habt Ihr jemals einen so braven Angestellten gehabt, wie mich, Hoheit?... Ihr habt mich bekehrt, ehrlich. Loyaler könnte ich nicht sein, also äh… darf ich bald wieder nach draußen?"

"Du bist nicht mehr mein Angestellter. Dieses Recht hast du verwirkt",

verlachte ich ihn für seine Hoffnungen.

"Dann Diener, oder, oder Sklave! Ich tue alles für Euch, Hoheit!"

"Ich weiß",

entgegnete ich düster lächelnd, warf ihm seine eigentliche Blutdosis hin und schloss dann das Gatter. Für diese Nacht hatte es mich von der Schwere meines Herzens befreit, doch stand mir diese Misere immer und immer wieder bevor. Ich brauchte nur meine Augen zu schließen.

Vampire träumen nicht, verdammt! Sie träumen nicht!
 

Entsprechend weit zog ich mich von Lyz zurück. Natürlich verstand sie es nicht, doch da waren wir schon zwei. Meine irrationale Furcht davor, sie erneut in Lebensgefahr zu bringen, war bedeutend mächtiger, als sie in ihrer Entwicklungsphase sich selbst zu überlassen. Schließlich war sie nicht allein. Sie hatte Alexander an ihrer Seite, der sich bereits mehr als einmal als würdig erwiesen hatte. Ich stützte mich auf die illusorische Überzeugung, er sei eine Ausnahmeerscheinung unter all den Vampiren, denn auch wenn seine Liebe für meine Frau unübersehbar war, leistete er sich keine Fehler mehr. So vertraute ich sie ihm an. Wahrscheinlich war er besser für sie als ich in meinem Zustand. Was blieb mir schon anderes übrig, solange ich unter diesen Visionen litt, die stärker wurden je weiter ich mich ihr näherte.
 

Mein Schlafmangel trieb mich in die Arme meiner Arbeit, die mir zusehends weniger Freude bereitete und so kaum Verbesserung mit sich brachte. Leider lief mir wieder einmal die Zeit davon. Natürlich hatte ich vor, Lyz offiziell in die Familie aufzunehmen, alsbald ich genesen war, doch Vicco kam mir zuvor.

Nachdem mich Lyz in einem empörten Anruf anklagte, woher ich das Recht nähme, über ihren Kopf hinweg über sie zu entscheiden, reichte ich die Frage an Vicco weiter. Zuvor musste ich jedoch mein Personal zurechtweisen.

Ich stand neben dem Ankleidezimmer meiner Suite des "Montcalm Royal London House" in der Londoner City und schloss gerade den letzten Knopf meines elfenbeinfarbenen Hemdes, als ich bei Angeline anrief. Bereits ihr Name vermochte mich in Aufregung zu versetzen. Welcher Vampir bei Verstand strafte seinen Spross durch christliche Vornamen? Im Übrigen hatte ich herausgefunden, dass sie nicht die Informantin dieses aufdringlichen Journalisten gewesen sein konnte. Auf eine Konfrontation mit dem verwendeten Decknamen "Robespierre" reagierte sie derart unauffällig, dass ich sie als Verräterin ausschloss. Möglicherweise handelte es sich dabei um eine ehemalige Angestellte, aber das war unwichtig.

Angeline meldete sich, als sei alles in bester Ordnung. Ohne Umschweife ging ich sie an.

"Wann ist der Briefkasten zuletzt geleert worden?"

Danach hörte ich ihre eiligen Schritte, ihr leichtes Keuchen, das Klimpern eines Schlüssels und dann das Quietschen meines Briefkastens.

"Hier ist ein Brief mit einem Lucard-Siegel",

gestand sie, worauf ich ihr in ihre Frage fiel, ob sie ihn öffnen solle.

"Mehr brauche ich nicht zu wissen."

Ich legte auf, schlüpfte in meine braunen Lederschuhe und wählte sofort die Nummer meines Bruders. Er empfing mich bereits lachend, da er nur zu gut wusste, dass ich ausrasten würde.

"Robert, welch Freude. Sicher rufst du an, um zuzusagen."

Zuzuschlagen traf es besser.

"Bereits die Einladung hätte eines Familienrates bedurft! Nun weiß die Vampirgesellschaft über die Konvertierung Bescheid! Das bringt uns unnötig in Bedrängnis!"

"Oh, ganz und gar nicht, mein Lieber. Neuigkeiten wie diese verbreiten sich wie ein verheerendes Lauffeuer. Es offiziell zu machen, erstickt diese jedoch bereits im Keim. Ich bin der Strategie in der Familie, warum sollte ich auf eure Zustimmung warten?",

lautete seine Frechheit von Antwort.

"Weil es um meine Frau geht, nicht um deine, verflucht!",

fauchte ich, doch er leitete geschickt über.

"Na, so genau würde ich mich da nicht festlegen. Kann ich also mit dir rechnen?"

"Mit meiner Verärgerung kannst du rechnen!",

blaffte ich, bevor ich wieder auflegte. Ich war so in Rage, dass ich seine Strategie nicht nach ihrer Wirksamkeit beurteilen konnte, aber eines war sicher. Er heckte etwas aus, schon wieder. Der Zeitpunkt war katastrophal, aber mir blieb keine andere Wahl, als die Einladung anzunehmen, um Lyz nicht noch tiefer zu verärgern. Dass mich mein Diener Alexander begleiten würde, stand außer Frage, schließlich musste er mir Lyz vom Hals halten, wenn es mir zu viel wurde.

Mit einem unguten Gefühl im Bauch zog ich mein Jackett über und verließ die Suite.

Rova 8: Vergessener Kuss

Ich flog mit meiner Gefolgschaft nach Lanobre, eine französische Kleinstadt im Landesinneren, in der sich Viccos neuester Grundbesitz befand. Wieder einmal hatte ihn ein Kaufrausch gepackt, in dessen Folge er ein komplettes Grundstück, inklusive mehrerer Gebäude, für nur einen einzigen Anlass erstand. Mein Bruder empfand Schlösser als übergroßen Kunstgegenstand, mit dem er Handel betrieb. Vorwerfen konnte ich ihm das nicht, da er die Objekte später verlustfrei oder gar mit Gewinn weiter veräußerte.

Ein ungeschulter Taxifahrer sprach uns bei unserer Ankunft am Château auf Französisch an, als ob ich dieser Sprache mächtig sei. Dilettant! Neben perfektem Deutsch, sowie Englisch und einem behäbigen Rumänisch, beherrsche ich in anderen Sprachen nichts weiter als Floskeln. Über diesen Fehler hätte ich hinwegsehen können, wäre das prächtige Prunkschloss am Stausee nicht von einer nebst erbauten Kapelle beleidigt worden. Langsam beschlich mich der Gedanke, Vicco tat dies alles aus voller Absicht heraus.

Noch schöner wurde das Ganze, als sich meine Frau noch immer von einem Aufeinandertreffen mit meinem Bruder beeindrucken ließ. Das setzte mich unter Zugzwang, der meinen Kampfgeist weckte, ein unerwartet positiver Anschub.

Während ich mich vorsichtig an Lyz annäherte, verbrachte Alexander seine Zeit mit den Bediensteten der geladenen Fürsten, Herzogen und Grafen, die sich um ihn scharten wie Motten um das Licht, bemerkenswert. Zufall war seine Anziehungskraft sicher keine. Das musste ich mir inzwischen eingestehen. Er war beileibe nicht der unüberlegt handelnde Heißsporn, für den ich ihn zu Anfang hielt. Stattdessen ergänzte er meine Fähigkeiten außergewöhnlich gut, während er über das Durchhaltevermögen verfügte, meine Launen abzufedern. Zudem war sein Rat, aufgrund seiner überdurchschnittlichen Achtsamkeit, nicht zu unterschätzen. Mit anderen Worten, ich begann ihn zu mögen, nicht aber zu vertrauen.

Vicco verfügte ebenfalls über ein hohes Maß an Achtsamkeit, die bei ihm jedoch durch kalte Vorausberechnung zum Übel wurde, was er direkt bewies, als er meine Frau noch an diesem Abend in sein Schlafgemach einlud. Lyz schien von seinem Angebot zunächst angetan, war aber davon zu überzeugen, es nicht zu tun. Stattdessen tat ich es.
 

Mit dem Ziel, ihm die Leviten zu lesen, klopfe ich an Viccos doppelflüglige Zimmertür. Er öffnete, typisch für ihn, nur mit einem Seidenmantel bekleidet.

"In diesem Aufzug wolltest du Lyz empfangen?"

"Was dagegen?",

hauchte er amüsiert, doch ich spürte genau, wie enttäuscht er war, dass nicht sie vor seiner Tür stand, sondern ich. Mit dem Gefühl des Triumphs ging ich an ihm vorbei, setzte mich auf einen der türkis gepolsterten Stühle, die wahrscheinlich aus der Zeit des Rokokos stammten und schlug die Beine übereinander. Ein paar Einzelheiten in Viccos Plan warfen bei mir immer noch Fragen auf.

"Dir ist bekannt, dass wir übermorgen Vollmond haben?"

"Selbstverständlich",

säuselte er süffisant, während er die große Flügeltür hinter mir schloss. In mir keimte ein tiefes Unruhegefühl. Ich kannte Viccos Philosophie der Körperflüssigkeiten, die auch mit den Mondphasen im Zusammenhang stand. Seiner okkulten Überzeug nach, mussten bei einem Aufnahmeritual drei Flüssigkeiten ausgetauscht werden, damit es vollständig wäre, doch es war ausgeschlossen, dass ich dafür meine persönlichen Grenzen überschritt.

"Ich schlafe nicht vor aller Augen mit ihr",

stellte ich klar, doch er wusste bereits mehr, als ich ihm mitteilen wollte.

"Du schläfst derzeit gar nicht mit ihr. Dafür sprechen mehrere Indizien. Wovor hast du Angst, Robert? Davor, sie zu verlieren, wenn sie dir zu nahe kommt?"

Er setzte sich auf eine derart anbiedernde Weise auf die Tischplatte vor mich, dass dadurch der seidig glatte Tagesmantel von seinen Oberschenkeln glitt. Ohne Weiteres hätte ein geneigter Betrachter auf die Innenseite seiner Schenkel blicken können. Warum Vicco dieses frivole Gehabe nicht einmal dann sein lassen konnte, wenn er sich mit seinem Bruder unterhielt, war mir schleierhaft. Ich konnte mir jedoch lebhaft vorstellen, welche Wirkung dies auf meine Frau gehabt hätte. Der Schlund der Verzweiflung tat sich angesichts dessen vor mir auf.

"Ich zerbreche, wenn du sie mir stiehlst."

"Dann hör auf, sie hinzuhalten, Robert. Auch wenn dir mein Mitgefühl für dein inneres Dilemma sicher ist, werde ich diese einmalige Gelegenheit nicht verstreichen lassen."

Das wusste ich selbst. Angespannt fuhr ich mir durch die Haare, stand auf und lief in seinem geräumigen Zimmer auf und ab, bis ich ihn anklagte.

"Nichts von dem, was hier passiert, ist Zufall. Du hast uns von den Evanes überwachen lassen und den perfekten Zeitpunkt abgepasst, um Lyz von mir zu trennen, nicht wahr? Verstehst du denn nicht, was du mir damit antust?! Ein schöner Bruder bist du!"

Auch Vicco stellte sich nun aufrecht. Sein selbstgefälliges Lächeln war ihm vergangen.

"Dein Selbstmitleid wirkt wie ein Störsender auf dich. Erkenne endlich, dass du längst hast, was du wolltest, eine Frau, die du lieben kannst und einen Vater, der sie akzeptiert. Ergo frage ich dich, was du damit bezweckst, Ellys hinzuhalten. Wie ich das sehe, benötigt sie meine Unterstützung viel dringender als du."

Selbstmitleid? Was für eine Unverschämtheit, meine Probleme derart herunterzuspielen. Von ihm hatte ich keine Hilfe zu erwarten.

"Verdammter Egoist!",

spie ich aus und verließ sein Gemach wutentbrannt.
 

Am darauffolgenden Morgen erreichten auch Daric und Corella das Château. Mein ältester Bruder hatte die Trauer über den Verlust seiner Tochter Sari weitestgehend hinter sich gelassen, seine Frau wies hingegen noch deutliche Spuren auf. Derart hysterisch hatte sie sich noch niemals vor mir aufgeführt. Immerhin trug er es mit Fassung, denn obwohl die Missgunst in Corellas dürres Gesicht geschrieben stand, erhob Daric keinen Einspruch gegen Lyz' Berufung. Dass dieses Vorzeigepaar nicht harmonierte, war selten, aber gut für mich. Zumindest vor diesem Bruder hatte ich nichts zu befürchten.
 

Das Fest begann mit nicht nennenswerten Gesprächen mit Viccos handverlesener Noblesse, bis ein Zwischenfall mit meinem Diener dafür sorgte, dass Lyz den Saal noch vor dem Ritual verließ und draußen auf Vicco traf. Sollte dieses Aufeinandertreffen ein Angriff auf unseren Verbund gewesen sein, war er kläglich gescheitert. Alles, was mein intriganter Bruder von meiner wundervollen Frau erhielt, war eine verdiente Ohrfeige, die den schönsten Klang hatte, den ich mir vorstellen konnte. Eine bessere Bestätigung, dass ich mir nichts vorzuwerfen hatte, konnte mir Lyz nicht geben. Sie war eben doch für mich geschaffen.

Trotz des Intermezzos glückten Ritual und Rede, wenngleich Alexander kurze Zeit später spurlos verschwand und mich damit den Abend über an Lyz kettete. Ein ungewöhnliches Verhalten von ihm, das ganz und gar nicht in meinem Sinne war, wo es doch eigentlich seine Aufgabe sein sollte, meine vom Blut berauschte Lyz zu beaufsichtigten. Anfangs stellte das noch kein zu großes Problem dar, da sich die geladenen Herrschaften zumindest im Festsaal ausnahmsweise einmal nicht wie brünstige Tiere verhielten, doch ihre Disziplin hielt nicht lange an.

Direkt vor unseren Augen glaubte sich Baroness Fredine ihres weißen, ohnehin schon leichten Kleides entledigen, auf einen Tisch setzen und den erstbesten Mann zwischen ihre Schenkel locken zu müssen. Nicht ohne Grund trug sie den Beinamen "Qadesch", der ägyptischen Göttin der sexuellen Ekstase. Unübersehbar fand sie ihr stilistisches Vorbild in Nofretete, dunkles Haar, schwarz bemalte Augen und auffälliger Goldschmuck, wenngleich dies keinen Hinweis auf ihr Alter gab, das bei etwa 80 liegen musste.

Selbst wenn Vicco Orgien, wie die von ihr ausgelöste, üblicherweise zur fortgeschrittenen Stunde erlaubte, musste ich diese Frivolität gewiss nicht dulden. Besonders nicht in Anbetracht Lyz' unübersehbaren Interesses an diesem Vorfall, den sie nur zu gern mit mir nachgespielt hätte. Eine wiederholte Ermahnung genügte der geilen Pharaonin nicht und da auch sonst keiner dieser arroganten Pinkel bereit war, grob gegenüber der opulenten Aristokratin zu werden, blieb nichts anderes, als sie gewaltsam von ihren Liebhabern zu trennen.
 

Impulsiv stürmte ich los und schleifte diese Edelhure grob am Arm gepackt aus dem Festsaal.

"Hoheit!",

echauffierte sie sich, während ich sie in den Vorraum des Festsaals zerrte. Lyz zurücklassen zu müssen, gefiel mir zwar gar nicht, erschien mir aber als notwendig.

Draußen angekommen schubste ich die nackte Baroness gegen ein Pärchen, das zwischen zwei Türen zu angrenzenden Räumen miteinander wie Äffchen kopulierte.

"Ich habe mich klar ausgedrückt, dass dies hier keines von Victors Lustfesten ist!",

fuhr ich die drei an. Prompt wich das Paar auseinander und verschwand sofort, Baroness Fredine ließ ich jedoch nicht so billig davonkommen. Sie hatte es zu weit, nämlich vor meiner Liebsten, gerieben und bekam nun meinen Zorn zu spüren.

Mit einer dunklen Aura Schritt ich auf sie zu, bis sie ihren Rücken von selbst gegen die bebilderte Wand zwischen den beiden Türen presste.

"Das, Baroness Fredine, ist unentschuldbar!",

zischte ich, doch sie säuselte mir mit einem hauchrigen Ton durch ihre rot bemalten Lippen entgegen, als spiele sie ein von Vicco verfasstes Theaterstück.

"Das ist es wohl, Prinz Robert! Schuld ist die von Eurem deliziös duftenden Blut geschwängerte Luft, die wie ein Aperitif auf mich wirkt. Ich hoffte, diese Wirkung auf Euch zu reflektieren, wenn Ihr versteht."

"Hat mein Bruder Euch dazu angestiftet?",

seufzte ich. Theatralisch schwenkte sie eine Hand zu ihrer entblößten Brust, was meine Aufmerksamkeit auf ihren kurvigen Körper lenkte. Eine so reizvoll weibliche Statur wie ihre, war unter Vampiren selten zu finden und deshalb umso begehrter.

Vielleicht glaubte sie deshalb, mit ihrer devoten Antwort etwas bei mir ausrichten zu können.

"Aber nein, wo denkt Ihr hin?! Mein Interesse konzentriert sich ungleich stärker auf Euch, Hoheit."

"Wenn Ihr mir zu gefallen versucht, dann unterhaltet Euch mit mir über Biochemie. Euer Verhalten ist unverzeihlich. Ich werde Euch von künftigen Festlichkeiten ausschließlich."

Das überraschte sie nicht nur, sondern traf sie auch an ihrer verletzlichsten Stelle, schließlich war sie als Vorstandsvorsitzende einer Bank auf gute Kontakte angewiesen. Dass Vicco seine Darlehen unter Umständen künftig von einem anderen Kreditinstitut beziehen musste, kümmerte mich allerdings wenig. Vermutlich geriet die nackte Pharaonin, eben weil sie sich deshalb in der Rangordnung überschätzte, nun außer sich.

"Ihr wollt mich Exkommunizieren? Das ist Willkü-!"

"Passt auf, was Ihr sagt, Baroness. Lasst aus einem schweren Verstoß gegen die guten Sitten keinen Hochverrat werden!",

unterbrach ich sie.

"Hoheit, ich…! Na schön, wenn Ihr mir schon Derartiges androht, möchte ich offen über meine Beweggründe sprechen. Nachdem Ihr Eure hinreißende und offenkundig willige Gattin sogar nach dem Blutaustausch kaum berührt habt, Gelüste es mir danach, Euch zu reizen. Das Gerücht, Eure Hoheit wärt gar nicht an Frauen interessiert, wird sich auch nach diesem Abend nicht zerschlagen."

Ein Experiment? Nein, das war eine Lüge, auch wenn ich die Wiedergabe meiner eigenen Gerüchte schätzte.

"Ihr glaubt, ein Lucard sei nicht imstande, seine Triebe zu überwinden? Weit gefehlt, Gnädigste. Nun zieht Euch etwas an und seht dies als Verwarnung. In meiner Gegenwart dulde ich in Zukunft keine Unzucht mehr. Victors Anweisungen an Euch sind unerheblich. Er wird Euch nicht gegen mich schützen können, wenn es zum Konflikt kommt."

"Ich sagte doch bereits, dass dies nicht von Prinz Victor initiiert wurde",

log sie dreist und verärgerte mich damit erneut. Ich verspürte nicht wenig Lust, ihr dafür meine Krallen an die Brust zu setzen, nur leider war sie keine meiner Angestellten, sondern ein nützlicher Unternehmenskontakt. Dass sie dem Adel angehörte, interessierte mich hingegen weniger.

"Noch eine weitere Lüge von Euch, Baroness und ich lasse meine Willkür walten. Habt Ihr verstanden?!"

Sie verbeugte sich elegant und lenkte ein.

"Ich habe verstanden, mein Prinz. Ich kann es mir nicht leisten, zwischen die hoheitlichen Fronten zu geraten und möchte auch kein Teil einer geplanten Intrige sein."

"Intrige?",

platzte mir heraus. Wieso benutzte sie dieses Wort? Das war ein Hinweis! Ich musste sofort zurück zu Lyz. Diese Frau war nicht darauf angesetzt, mich zu verführen, sondern mich aus dem Saal zu locken und dann in ein Gespräch zu verwickeln!
 

Sofort eilte ich zurück in den Festsaal, in dem niemand Notiz von Viccos schwerwiegendem Verbrechen nahm. Dieses Scheusal klebte bereits an den Lippen meiner Frau, seine Hand tief zwischen ihren Beinen versunken. Mit einem Ausbruch wütender Aura packte ich nach seiner Schulter und riss ihn so kräftig von Lyz weg, dass er taumelte. Da meine Krallen in der Spitze seines voluminösen Hemdkragens hängengeblieben waren, zerriss ich diesen unbeabsichtigt. Vicco schien über meine Härte derart schockiert, dass er mich nur wortlos anschaute.

Sichtbar benommen berührte sich Lyz an der Stirn, als ob sie von Kopfschmerzen geplagt würde. Sie schien nicht wirklich bei sich zu sein.

"Das Fest ist beendet, Vicco! Schick deine Gäste nach Hause!",

blaffte ich, um Contenance bemüht. Er richtete sich vor mir auf und bestätigte mir diese Anweisung, während er sich genüsslich die Finger ableckte. Allein für diese Geste hätte ich seine Schulter mit meinen Krallen durchbohren müssen.

Ich schob mich an ihm vorbei zu meiner Frau, die mich ansah, als verstünde sie nicht, was gerade passierte. Vollständig begriff auch ich es nicht. Entfaltete mein Blut sogar in gefiltertem Zustand eine den Geist versklavende Wirkung? Wenn dies zutraf, sollte Lyz allein auf mich fixiert sein, was sie nicht war. Auf welche Weise sie von Vicco gefügig gemacht wurde, verstand ich erst, als ich sie auf meine Arme hob und geringe Spuren seines Bluts in ihrem Atem roch. Ich konnte nur spekulieren, welche Auswirkungen das auf sie in Zukunft haben würde.

"Hattest du vor, das Ritual aus gekränktem Stolz an ihr zu wiederholen? Lucardblut vermag den Geist zu brechen, ist dir das nicht bekannt? Verdammt Vicco, wenn sie durch dich bleibende Schäden zurückbehält, ziehe ich dich zur Rechenschaft!",

knurrte ich meinem Bruder zu, an dem ich danach vorbeilief.

"Bleibende… Schäden?",

wiederholte er perplex. Seinem geschockten Ausdruck zufolge hatte er sich in seiner Selbstsucht nicht die Mühe gemacht, an mögliche Folgen seines Handelns zu denken.
 

Auf dem Weg zu ihrem Schlafgemach hatte Lyz ihren Kopf an meine rasant pochende Brust gelegt und hauchte, mitten auf der Wendeltreppe:

"Rova? Warum trägst du mich? Bin… ich auf dem Fest eingeschlafen?"

Ich musste tief durchatmen, bevor ich ihr Antwort gab, immerhin galt meine Wut allein meinem Bruder. Was Lyz gegen seine Annäherungen tat, wenn sie nicht berauscht war, hatte sie mir schließlich nur wenige Stunden zuvor bewiesen.

Oben angekommen setzte ich sie auf ihrem übertrieben verzierten, barocken Himmelbett ab. Ich schwieg für einen Moment, um Kräfte zu sammeln und fragte sie anschließend so ruhig ich konnte:

"Was ist das Letzte, an das du dich erinnerst, mein Herz?"

Wenngleich sie kaum bei Sinnen war, lief sie rot an, ein eindeutiges Zeichen für eine lebhafte Erinnerung. Lyz antworte sogar.

"Ich habe etwas Komisches geträumt. Vicco kam darin vor. Er hat mich gegen meinen Willen... geküsst."

Zumindest war sie ehrlich. Aber selbst, wenn sie das alles nur für einen Traum hielt, durfte ich ihr diese Erinnerung nicht erlauben. Ich nutzte die Fähigkeit meines Blutes, kombiniert mit meiner Hypnosetechnik, um sie davon zu entledigen.

"Aber Lyz, Vampire träumen nicht. Du leidest unter einem Rausch, verursacht von meinem Blut. Wahrscheinlich haben sich nur deine tiefsten Ängste manifestiert. Ich erkläre dir, was wirklich passiert ist. Du erinnerst dich an das Ritual, an Viccos kurzes Gespräch mit mir. Das Fenster stand offen, doch der seichte Windhauch half dir nicht. Aus diesem Grund habe ich dich auf dein Zimmer begleitet und hier sind wir nun."

Sie schloss die Augen und berührte dann andächtig ihre Lippen.

"Das war alles?"

Der Nebel in ihrem Kopf lichtete sich, nun wo ich sie aus der Dunstwolke des Buffets herausgeschafft hatte. Sie erholte sich besser als gedacht.

"Ja, das war alles."

Um ihre haptische Erinnerung an die Berührung von Viccos Lippen, als auch seinen Geschmack zu ersetzen, küsste ich sie notgedrungen, so schwer mir dies in so kurzer Abfolge zu ihm fiel.

Das entspannte sie. Meine Manipulation schien von Erfolg gekrönt, denn Lyz krabbelte anschließend mild lächelnd von selbst unter ihre Bettdecke.

"Ich bin erleichtert, dass das Fest vorbei ist und super happy darüber, dass wir beide endlich auch offiziell zusammen sind. Ab sofort bin ich Lyz Lucard… unglaublich."

Diese Frau brach mir das Herz mit der Diskrepanz zwischen dem, was ich gerade erlebt hatte und dem, was sie auf diese liebliche Weise säuselte. Wie sollte ich jemals Heilung finden, wenn meine Wunden immer wieder neu aufgerissen wurden? Niemand verstand mich. Ich fühlte mich unendlich einsam.
 

Die warme Morgensonne brachte Linderung. Vicco hatte mit dieser penibel geplanten Aktion rein gar nichts erreichen können und meine Sorge um Lyz' freien Willen war verflogen. Sie war viel zu stark, als dass sie sich von solch geringen Blutmengen überschreiben ließ.

Bevor sie aus dem Schlaf erwachte, hatte ich mir noch Alexander vorzunehmen, den ich deshalb wecken ging. Schließlich hatte seine Abstinenz Viccos Vorstoß überhaupt erst möglich gemacht. Ich klopfte an der alten Holztür zu seinem Kabuff im Dachgeschoss und war nach dem Öffnen überrascht, noch ein zweites schlichtes Holzbett darin vorzufinden. Alexander, nur mit einer Hose bekleidet, stand gerade auf, als er den Kopf zu seinem Zimmergenossen drehte.

"Rova! Das da ist Mario. Diener des Grafen Braida von Ronsecco und Cornigliana. Hab ich das richtig gesagt?"

"Cornigliano",

verbessere der verschlafene Lump im Bett auf der rechten Seite. Es dauerte einen Augenblick, bis er bemerkte, wer in seinem Zimmer stand. Erst rieb er sich die Augen, dann schmiss er die Filzdecke von sich, hüpfte hoch und stieß sich dabei den Kopf an einem Holzbalken. Dieser Diener stellte sich noch ungeschickter an als meine Angestellten und das sollte schon etwas heißen.

"Gu-guten Morgen, Hoheit!",

rief er und stand stramm, als sei er beim Militär. Vielleicht verlangte sein Herr so etwas von ihm. Mir wäre es viel zu anstrengend, meinen Untergebenen starre Standards zu lehren. Ich setzte voraus, dass sie die nötigen Umgangsformen bereits beherrschten, wenn sie bei mir arbeiten wollten.

Ich hob nur die Augenbrauen und ging wieder hinaus. Sofort folgte mir Alexander die Holzstufen nach unten, ohne sich etwas angezogen zu haben. An seinem linken Oberarm bemerkte ich eine Kratzspur, die er mir ohne Nachfrage erklärte.

"Du weißt nicht, was hier gestern los war. Ich wurde belagert von Frauen und Männern aus höchsten Kreisen. Echt, die haben mir sogar Geld geboten, als wär ich 'n Gigolo. Ich konnte mich gerade so losreißen und hab dann das Weite gesucht."

Ich seufzte und stellte mich im nächsten Vorraum an eines der großen Fenster, aus dem ich auf den in der aufgehenden Sonne glänzenden Stausee sah.

"Wenn dir so etwas zustößt, erstatte mir Bericht!"

Er blieb hinter mir stehen und rechtfertigte sich.

"Das hätte ich nur mit Gewalt geschafft. Gegen Adlige, Rova?"

Ich verstand sein Dilemma in gewisser Weise, doch als Lyz' Leibwächter hätte er sich etwas anderes einfallen lassen müssen. Obwohl er versagt hatte, wollte sich jedoch keine Aggression gegen ihn in mir regen. Vielleicht weil ich ahnte, dass er mir Trost spenden konnte, wenn ich es zuließ.

Schon einmal war ich diesen Schritt gegangen, mich Alexander, statt Vicco anzuvertrauen und es hatte sich nicht als Fehler erwiesen und doch konnte ich es nun nicht mehr. Alexander wusste schon zu viel über mich, mehr als jemals jemand vor ihm, der nicht Mitglied meiner Familie war. Aber warum fühlte es sich dann nicht falsch an? Mit dem Gefühlsleben des Herrn sollte ein Diener doch nichts zu schaffen haben. Das brachte mich so durcheinander, dass ich nicht einmal mehr über die Kraft verfügte, mich zu ihm umzudrehen und ihn anzusehen.

"Geh deine Sachen packen! Wir reisen in zwei Stunden ab."

"Kein Problem, ...Rova. Ist mit dir… alles okay?",

fragte er vorsichtig und nun bemerkte auch ich eine Handvoll Krähen vor dem Fenster. Wie lästig! Also gut, da ich meinen Schmerz nicht verbergen konnte, verriet ich ihm ein paar unbedeutende Dinge.

"Ihre Jugend macht mir zu schaffen. Sie giert nach Blut, verliert die Nerven und… verhält sich ungezügelt. Ich liebe sie, aber das laugt mich aus."

"Junge Vampire sind nicht so deins, ich weiß. Ich bemühe mich, ihr das schnell abzugewöhnen."

"Gut",

bestätigte ich ein wenig erleichtert und schickte ihn weg. Auch die Vögel verschwanden. Der Junge hatte mich tatsächlich wieder einmal beruhigt.

Rova 9: Eine Frage des Glaubens

Unbeabsichtigt beachtete ich meine Frau auf der Rückreise weniger als ihr zustand, was natürlich mit meinem jüngsten Erlebnis mit Vicco zusammenhing. Lyz bediente sich in solchen Fällen ihres effektiven Mechanismus Unangenehmes weitestgehend zu verdrängen. Mit ihrem Lebenslauf eine Gabe oder aber gerade darin begründet. Mir blieb dieser Weg jedoch verschlossen, egal wie vehement ich mir einredete, dass alles in Ordnung sei.

Im Ergebnis hatte mir das Gespräch mit ihr am Stausee zwar geholfen, mich Viccos Perfidität aber wieder an den Anfang zurück katapultiert. Es änderte nichts. Ich brauchte einfach noch Zeit und da sie sich ebenfalls gerade in ihrer Findungsphase als Vampir befand, war ihr das sicherlich recht. Schließlich lief, nachdem ich sie aus ihrem alten Leben gerissen hatte, alles vollkommen überstürzt ab. Sie sollte ihr Studium beenden. Erst danach würde ich sie zu mir holen. Nur so würde es funktionieren.

Entsprechend dieses Plans setzte ich unser etwas distanzierteres Zusammenleben fort. Sie in Sicherheit zu wissen, ohne mich ihrer Unbeherrschtheit auszusetzen, fühlte sich richtig an.
 

In der darauffolgenden Vollmondnacht vom Sonntag zum Montag schlief ich unruhig. Der Mond brachte nicht nur meine negativen Eigenschaften zum Vorschein, er verschlimmerte auch meine Albträume. Ich tat mir selbst den Gefallen, aufzustehen, um meine Zeit sinnvoll zu nutzen, schließlich hatten sich über das vergangene Wochenende eine Menge unbearbeiteter E-Mails angesammelt.

Als ich mich in das düstere Arbeitszimmer meiner Villa setzte, war der Sonnenaufgang zwar noch Stunden entfernt. Da sich die dichte Wolkendecke aber verzogen hatte, hielt ich Lampen für verzichtbar. Dieser verfluchte Vollmond erfüllte diese Aufgabe bereits zur Genüge.

Wie immer fanden sich in meinem Postfach Presseanfragen, Korrespondenzen zur Kenntnisnahme, Anträge, Berichte, Bewerbungen, et cetera. Obgleich es mir keine Freude bereitete, bestand ich darauf, sie alle selbst durchzugehen, da sich der SOLV andernfalls nur schwer überblicken ließ.

Kurz nach einem kitschig rosaroten Sonnenaufgang vernahm ich das Schließen der Haustür im Erdgeschoss. Angeline, die pflichtbewusst ihren Aufgaben als Standortkoordinatorin nachging, erschien wieder einmal überpünktlich zu Arbeit. Auch ihr oblag ein beachtlicher Verantwortungsbereich, der sich allerdings stärker mit dem vergleichsweise banalen operativen Geschäft, wie Planung von Aktionen, Bestell- und Lieferketten, Lagermanagement und ähnlichem befasste. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten musste ich feststellen, dass sie sich deutlich gebessert hatte, auch wenn sie mir zuweilen etwas zerstreut vorkam.

Meinen Laptop unter den Arm geklemmt, lief ich die Stufen hinab in den Versammlungssaal, in dem ich allerdings nicht sie, sondern nur ihr Handy auf dem Tisch vorfand. Nach einem kurzen Test, ob sie es mit einer PIN gesichert hatte, stellte ich mich mit verschränkten Armen daneben und wartete auf meine Angestellte.

Als sie einen Augenblick später zu mir um die Ecke bog, ebenfalls mit einer Laptoptasche in der Hand, die sie vermutlich im Auto vergessen hatte, stellte ich sie zur Rede.

"Du lässt dein Handy ungesichert ohne Aufsicht zurück?"

"Rova! Guten Morgen! … Ja, das passiert schon Mal."

Ich nahm das Gerät vom Tisch und hielt es tadelnd in meiner Hand, während ich sie zurechtwies.

"Erinnerst du dich an meine Frage nach 'Robespierre'? Wer sich auch immer hinter diesem Pseudonym verbirgt, hat meine Telefonnummer möglicherweise von deinem herumliegenden Handy gestohlen!"

Nervös werdend schwieg sie für einen Moment, in dem ich sie musterte. Angelines Äußeres war durchschnittlich, ihre Kleidung unaufgeregt, eine normale Frau aus dem Volk mit einem kaufmännischen Studium, abgeschlossen mit Bestnoten. Wegen Letzterem hatte ich sie eingestellt. Schuldbewusst senkte sie den Kopf und nahm mir meine Schlussfolgerung vorweg.

"Vielleicht bin ich dein Vertrauen nicht wert."

Zweifelsohne musste Angeline bestraft werden, dachte ich noch, als es mich plötzlich wie ein Blitz durchfuhr. Vicco behauptete auf Schloss Bran, ich kanalisiere meine Sexualität durch Aggression. Steckte darin am Ende ein Funken Wahrheit?

Wobei es nicht Aggression war, die sich gerade in mir regte, sondern ein Hochgefühl bei dem Gedanken, Angeline in Verlegenheit zu bringen, nein, gar sie zu verängstigen, ihr vielleicht Schmerzen zuzufügen. Wie oft hatte ich dieses Bedürfnis schon an Alexander oder Proband Null ausgelebt? Wie ekstatisch hatte es sich angefühlt?

Ob dieser Erkenntnis gab ich Angeline das Handy zurück und setzte mich wortlos. Sie wirkte überrascht, bewegte sich nicht vom Fleck. Während sich ihr Blut in ihren Körperkern zurückzog, kroch der Geruch ihrer Angst durch den Raum, den er langsam vollständig ausfüllte.

"Was geht in deinem Kopf vor, Angeline?"

Sie fiepte, trat auf der Stelle herum, rang sich dann aber zu einer Schlussfolgerung durch.

"Dass ich zu schusselig bin für diese Position und sie gar nicht verdient habe."

Das war es nicht, was ich wissen wollte.

"Was erwartest du, wie ich als nächstes reagiere?"

Wieder Pause.

"... Ich befürchte eine... Audienz?",

quietschte sie schließlich kaum noch hörbar, während sich ihre Hand immer fester um den Tragegriff ihrer Laptoptasche schloss, so fest, dass sich ihre Fingernägel in ihren Handballen bohrten. Ich witterte ihr schnell pulsierendes Blut deutlich, welches mit ihrer Angst kombiniert eine wohlduftende Mischung ergab. Doch an diesem Tag würde ich den Lockungen des Vollmonds trotzen.

"Was, wenn ich dir sage, dass mir die Angst in deinen Augen bereits ausreicht?"

Nun lief das Blut an ihrer Handfläche herab, während sich ihr gesamter Körper verkrampfte.

"Dann halte ich Euch für g-großzügig."

"Dich!",

verbesserte ich gereizt, da sie wieder einmal ins Plural abgerutscht war. Tatsächlich bot sich eine Züchtigung bei ihr ausdrücklich an und dennoch erschien sie mir nicht ansatzweise reizvoll genug. Lag dies etwa daran, dass Angeline einfach zu… freundlich war? Eigenschaften wie diese hatte ich bis vor kurzem überhaupt nicht wahrgenommen. Ging meine Veränderung inzwischen schon so weit?

Nachdenklich ging ich an ihr vorbei, aus dem Raum hinaus, holte aus dem Lager eine Blutkonserve und reichte sie ihr.

"Heile deine Wunde und dann ab an die Arbeit!"

Stück für Stück sank sie vor mir auf die Knie, nahm die Konserve an und öffnete diese. Unerwartet besänftigt setzte mich zurück an den großen Tisch, von wo aus ich sie beobachtete. Angeline war derart aufgeregt, dass sie nur winzige Schlückchen hinunterbrachte und dann atmete, als sei sie eben einen Marathon gelaufen.

"Was haben sich deine Eltern bei deinem Namen gedacht?",

fragte ich. Sie blieb auf dem abgenutzten Parkettboden sitzen und vermied Blickkontakt. Es war offensichtlich, dass sie dieses Thema vermeiden wollte, doch es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu antworten.

"M-meine Eltern sind… Christen."

"Sind sie nicht!",

widersprach ich ihr ungläubig erheitert und zugleich vollkommen verwundert. Von überzeugt christlichen Vampiren hörte ich beileibe zum ersten Mal.

"Diese Namen sind Erkennungszeichen. Eva, Sarah, Michael, Christian… ich darf Euch- dir das eigentlich gar nicht verraten, aber -…"

Ich unterbrach sie.

"Haben deine Eltern die Säuberungskreuzzüge vergessen? Als Kreaturen der Nacht wurden wir im Namen Gottes zu Zehntausenden abgeschlachtet."

"Von der Kirche, nicht von Gott!",

rief sie mit unerwarteter Mächtigkeit in der Stimme. Dieser Aussage pflichtete ich bei. Das Weltbild der meisten Vampire sollte sie jedoch ad absurdum führen.

"Und was glaubst du?"

Nun stand sie auf, sah mich an und antwortete gefestigt:

"Ich glaube an eine höhere Macht, dass du der Messias bist, der uns aus der Dunkelheit geführt hat."

Messias. Gefiel mir. Was sollte ich dagegen einzuwenden haben? Vor diesem Hintergrund wunderte es mich nun nicht mehr, dass es ihr schwerer als anderen fiel, mich zu Duzen.

Vielleicht ergab es ja doch Sinn, sich ab und an mit meinen Angestellten zu unterhalten. Angetan von ihrer schmeichelhaften Aussage, schob ich den Stuhl neben mir einladend unter dem Tisch hervor.

"Setz dich, Angeline. Das sind große Worte und ich frage mich, was du von einem Mann wie mir erwartest."

Sie kam meiner Anweisung mit gesenktem Kopf nach.

"S-soll ich das wirklich…? Ich sag es mal so, ich bete dafür, dass du uns anleitest, ganz ohne Triachsial Judikative. Deine Entscheidungen sind die Besten, vorausschauend, weise, wenn auch manchmal schmerzhaft, aber stets gerechtfertigt. Als Beweis sehe ich, dass mich mein Glaube an dich jetzt gerade vor einer Audienz bewahrt hat. Du hast mein Vertrauen in dich gespürt."

Das hatte ich selbstverständlich nicht und das alles hörte sich auch ein wenig fanatisch an, doch ich ließ sie sprechen.

"Und trotzdem erwarte ich eine Strafe für meine Fehler. Ich habe schon viele Dummheiten angestellt, dich genervt, die Post nicht gelehrt, mein Handy mit deiner Nummer herumliegen lassen… Ich nehme dein Urteil an."

Ich erhob mich. Wenn sie unbedingt eine Strafe wünschte, sollte sie eine erhalten.

"Nun gut, Angeline, wenn du darauf bestehst. Hiermit ernenne ich dich zum Assistenten der Geschäftsführung. Deine erste Aufgabe lautet, geeignete Kandidaten für deine Nachfolge als Standortkoordinator zu benennen!"

Sie riss ihre dezent geschminkten Augen auf, während sich ihr Pulsschlag erneut vervielfachte.

"Was? Das geht nicht! Eine Beförderung ist keine Strafe! Es ist eine Ehre!",

plapperte sie, ohne Luft dabei zu holen. Ich stellte meinen Stuhl neben ihr zurecht und dachte darüber nach, welche E-Mails ich ihr ab sofort weiterleiten konnte.

"Oh doch, meine Liebe. Verantwortung ist eine Strafe. Versage nicht, verstanden!?"

Dann nahm ich meinen Laptop vom Tisch und ließ meine Assistentin zurück, während sie ihre Bestätigung hauchte. Ich spürte an ihrer Aura, wie der Druck auf sie stieg. Ganz genau das, Angeline, genau das hatte ich gemeint.

Rova 10: Vertrauensmissbrauch

Es geschah genau einen Vollmond nach Lyz' Berufung in die Familie. Einen lumpigen Monat nur, länger hatte sie es nicht als meine Frau ausgehalten, ohne mir fremdzugehen.

Mit dem bitteren Geschmack des Betrugs auf der Zunge, ließ ich sie in ihrem Zimmer im Studentenwohnheim zurück. Der Gestank ihres Bettes dünstete widerlicher aus als ungenießbare Blutkonserven. Keine Sekunde länger konnte ich es darin mehr aushalten.

Aggressionen, die ich bereits im Hörsaal an diesem niederträchtigen Laiendarsteller namens Alexander herausgelassen und ihn damit fast getötet hatte, kehrten gerade wieder in meine Brust zurück. Es forderte größte Konzentration, nicht einfach dorthin zurückzukehren und seiner Vorführung ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Nachdem meine Krallen länger nicht auf meinen Diener reagiert hatten, dürstete es ihnen nun geradezu nach seinem Blut. In meinem Zorn zerriss ich sogar versehentlich die Jackentasche meines Sakkos, in dem sich der Autoschlüssel befand.

Zerstörung.

War das wirklich alles, was ich in Perfektion beherrschte?

Adrenalin in zu großer Menge pumpte durch meinen Organismus. Um zumindest ein wenig davon abzubauen, kürzte ich die letzten zwei Etagen ab, indem ich aus dem Fenster des Wohnheim-Treppenhauses sprang, mühelos, schmerzfrei, doch mein Herz blutete. Warum, zur verdammten Hölle? Warum... tat er mir das an? Lyz gehörte mir! Mir, nicht ihm!

Absichtlich zerkratzte ich den dunkelblauen Lack des mitgebrachten SOLV Firmenwagens und stieg danach ein. Zumindest bei der Wahl des Fahrzeugs hatte ich die richtige Entscheidung getroffen, denn es wäre äußerst ärgerlich gewesen, hätte ich meinen Lamborghini Centenario beschädigt. Für dieses Regenwetter war meine Cabrioausführung schlicht ungeeignet. Möglicherweise konnte man dies als Glück im Unglück bezeichnen.

So wütend ich auch sein mochte, stand das Ordnen meiner Gedanken zunächst an erster Stelle. Das beeinflusste meinen Fahrstil während der Heimfahrt erheblich, der, schon allein wegen des Adrenalinüberschusses, einem Zeitrennen glich. Ich raste mit annähernd Einhundert Stundenkilometern in der Stadt an anderen Verkehrsteilnehmern vorbei und überfuhr zwei rote Ampeln. Eventuelle Konsequenzen kümmerten mich in diesem Moment einen Dreck!
 

Es war doch wahrlich kaum zu glauben, wie tief ich meine Deckung in den letzten Monaten abgesenkt hatte. Natürlich musste dieses Desaster passieren! Nicht Vertrauen, wohl aber große Zugeständnisse in die Fähigkeiten meiner Angestellten, mussten mich auf diesen Irrpfad geführt haben. Ein bitterer Fehler, denn je größer der Freiraum eines Untergebenen, desto weiter wuchs die zu überwachende Fläche. Gegen die Autonomie meines Dieners Alexander half inzwischen nicht einmal mehr die Drohung mit drakonischen Strafen. Wahrscheinlich verlachte mich dieser Bengel hinter meinem Rücken auch noch dafür.
 

Kinder wie ihn durfte ich nicht in mein Leben hineinlassen, ohne befürchten zu müssen, dass sie es in Schutt und Asche legten. Diese Weisheit besaß ich Einhundert Jahre lang und dann verdrehte er sie.

Aber warum beging er diesen Verrat? Wie eine Trophäe hatte mir dieser falsche Fünfziger seine Bisswunden präsentiert. Meine Zeit fror ein. Meine Welt hörte auf, sich zu drehen. Hatte meine Schwester in ihm etwa einen Anhänger gefunden? Alexander als Abtrünniger?

Wenn ja, warum warb er dann um die Gunst, mich zu beraten? Manipulation meiner Politik? Was ergab es für einen Sinn, sich dreist meine Frau zu eigen zu machen und dafür Vertrauen zu erwarten? Auf diese Weise konnte er es sich doch nur ein für alle Mal mit mir verspielen. Was ging nur in diesem Burschen vor?
 

Und was sollte dieser dichte Verkehr, der mich dazu zwang, auf dem Fußweg zu überholen? Arbeite eigentlich jeder auf dieser grausamen Welt gegen mich?

Besonders Lyz! Noch in Frankreich heuchelte sie Verständnis für meine Situation, nur um mir dann einen Dolch in den Rücken zu rammen. Aber nicht mit einem kleinen Ärgernis, sondern so eben mit dem größten Verbrechen unserer Gesellschaft, auf das nicht weniger als die Todesstrafe stand, und zwar das Trinken von Blut von einem lebenden Organismus.

Natürlich würde ich diese Strafe niemals vollstrecken und das wusste sie. Hatte ich es bei ihr wirklich nur noch mit einem jungen und unbescholtenen Küken, oder doch bereits mit einer kalt berechnenden Raubkatze zu tun?
 

Anstatt ihr eigenes Temperament zu zügeln, gab sie ihrer Ungeduld den Vorrang. Zu gewissen Teilen vollzog ich dies nach, nicht aber, mit wem. Untreue mit meinem Bruder Vicco empfand ich, aufgrund seiner Verführungskünste, als vergleichsweise verzeihbar, doch wohl kaum mit meinem Untergebenen. Wo blieb ihre Selbstachtung und was machte dies mit der meinen?

Alexander, diesem treulosen Köter, oblag die Pflicht, meine Frau zu erziehen, nicht sich an ihr auszutoben! Bisher blieb allerdings offen, ob er Lyz mittels ihres Blutdursts, oder ihres Sexualtriebs überzeugen konnte. Oder musste ich ihr Verhalten gar als offensive Anklage gegen mich werten?

Angenommen, dies traf zu, ergab es keinen Nutzen für sie, mich zu bedrängen. Beischlaf blieb seit Alucards Hypnose ein Ding der Unmöglichkeit für mich. Meine tiefsitzende Furcht tötete jede Lust in mir ab. Verstand etwa meine eigene Frau nicht, dass ich noch Zeit benötigte, um sie von ihrer vampirischen Jungfräulichkeit befreien zu können? Abgesehen davon gab ihr Zimmer keinen Aufschluss darüber, ob sie diese überhaupt noch besaß.

Bei Alexanders letztem Übergriff hatte er ihre menschliche Jungfräulichkeit für mich bewahrt. War dies nun erneut der Fall? Als das Eigentümliche an dieser Frage stellte sich meine Zerrissenheit darüber heraus, was ihre Antwort betraf. Empfand ich es nun als unerträglichen Verrat, möglicherweise nicht der erste Mann ihres neu erlangten Vampirlebens gewesen zu sein, oder gar als Erleichterung?

Ein merkwürdiger Gedanke beschlich mich. Diente ein erfolgreicher Beischlaf, den sie unbeschadet überstand, eventuell gar als Beweis dafür, dass ein Vampir, also dass ich ihr keinen Schaden mehr zufügen konnte? War dies womöglich ein Ansatz für meine Selbsttherapie?
 

Zu viele unbekannte Parameter versperrten mir die Sicht auf klare Antworten. Ich brauchte Zeit, doch Lyz erzwang nun einen Schritt, für den ich mich noch nicht bereit fühlte. Meiner ursprünglichen Zeitvorstellung nach, wollte ich sie über die nächsten zwei bis drei Jahre schrittweise in mein tägliches Leben involvieren, und mitnichten schon ab dem kommenden Wochenende, wie sie es mir vorgeschlagen hatte.

Es fühlte sich falsch an, überstürzt, wie eine Belohnung gar, sie künftig zu offiziellen Anlässen an meine Seite zu stellen. Ein Kulturschock stand ihr bevor. Für ihr eigenes Wohl blieb zu hoffen, dass sie sich vom ersten Tag an daran gewöhnte. Nicht weniger erwartete ich nun von ihr nach ihrem Vorstoß.
 

Nach meiner Abreaktion im Straßenverkehr etwas ausgeglichener, bog ich, nach nur 12 Minuten Heimreise, in das Grundstück meiner Villa ab. Für eine Strecke, die man im Pendlerverkehr normalerweise in 25 Minuten zurücklegte, konnte ich dementsprechend einen neuen Rekord verzeichnen.

Proband Null profitierte wohlmöglich am stärksten von meiner Beruhigung ganz ohne Blutvergießen. Er würde nun doch nicht erfahren, wie viele seiner Gliedmaße er sich hätte wieder anwachsen lassen müssen, sicherlich kein uninteressantes Experiment, wo die Selbstheilung unter Silbereinfluss doch völlig anders verlief.

Gedankenverloren betrat ich die Villa, in der ich Angeline im großen Saal antraf. Sie saß vertieft vor ihrem Laptop und arbeitete. Mit der weißen Bluse, dem grauen Bleistiftrock und ihren nach hinten gebundenen Haaren machte sie eine elegantere Figur als vor ihrer Beförderung, die sie sehr ernst zu nehmen schien. Ich warf ihr den Autoschlüssel auf die Tastatur, woraufhin sie heftig in sich zusammenfuhr. Dann schnellte ihr Blick zu mir. Sie wagte es jedoch nicht, mich anzusprechen.

Ein Moment verstrich, bis ich anwies:

"Bring den Wagen in eine Werkstatt! Lack, Lenkrad und Schaltknüppel sehen nicht mehr so gut aus."

"Natürlich, Rova. Kein Problem."

Sie duckte sich, wohl wegen meiner nach wie vor negativen Aura. Was sie nicht tat, war den Schlüssel zu nehmen und nach draußen zu verschwinden. Stattdessen sah sie mich weiter bohrend an.

Ich blickte in Richtung des bröckelnden Stücks an der Decke, seufzte und fauchte ihr dann ein ungeduldiges:

"Was!",

entgegen.

"Aaaach, nichts. Neinnein, schlechter Zeitpunkt. Alles prima. Ich fahr jetzt in die Werkstatt",

log sie und stand dann hastig auf. Ich hob die Augenbrauen und ging aus dem Saal. Mein Interesse hatte sie allerdings nun geweckt. Ich ließ sie aus der Tür verschwinden, lief zurück in den Saal und setzte mich vor ihren Rechner. Das Gerät war gesperrt, doch ich kannte ihr Passwort.

Das Problem, an dem sie festhing, musste mit den eben bearbeiteten E-Mails zusammenhängen. Möglicherweise hatte sie auf mich in der Villa gewartet, weil sie meinen Rat ersuchte. 25 Antworten fand ich vorformuliert, doch keine davon abgesendet. Angeline strauchelte mit ihrer Position als meine Assistentin. Ich hatte nichts anderes erwartet.

Unter anderem lag die Antwort einer Interviewanfrage des Wissenschafts-Klatschblattes P.M. im "Draft Ordner".

"Werter Herr Uhlig,

ich darf Sie erneut daran erinnern, dass Herr Dr. Lucard weder Interviews zum Thema Anti Aging entgegennimmt noch zu einem Ihrer anderen Themen. Sehen Sie davon ab, unsere Niederlassung zu Belagern. Ich möchte an dieser Stelle auf Paragraph 201a StGB verweisen.

Hochachtungsvoll,

Angeline Bartholdy

Assistenz der Geschäftsführung"

Darunter stand in roter Schrift:

"Rova fragen: Soll ich ihm zusätzlich drohen?"

Im Anhang lag der Flyer unserer aktuellen Blutspendenaktionen mit Aufruf zur Teilnahme. Daran gab es nichts auszusetzen.

Ich löschte ihre rote Frage an mich und bestätige den "Senden" Button. Auch die anderen vorbereitete Briefe befriedigten mich. Ich hatte mich getäuscht. Nicht mein komplettes Leben lag in Schutt und Asche, sondern nur mein Privates.

Möglicherweise war es jedoch nur eine Frage der Zeit, bis auch Angeline mich verriet, vielleicht weil ihre christliche Splittergruppe einen anderen als Messias erwählte. In dieser Welt konnte man sich niemals mit irgendetwas sicher sein.

Rova 11: Faszinosum Elisabeth

Alle weiteren Ereignisse wurden von meiner Frau sicherlich weitestgehend wahrheitsgetreu und wahrscheinlich auch mehr als eindrücklich dokumentiert. Die Anzahl meiner Geheimnisse und unbekannten Parameter sank schließlich rapide, woran meine redseligen Geschwister die Hauptschuld trugen.

Mein Umgang mit der ebenso entzückenden wie anspruchsvollen Reinkarnation Elisabeths brachte unter anderem tief sitzende Erinnerungen hervor, die ich in dieser Eindrücklichkeit für vergessen hielt. Nach einhundert Jahren der Zeit des Unglücks wirkte das Glück früherer Tage wie ein weit entfernter Kerzenschein in der Finsternis, den ich konzentriert durch einen dunklen Schleier hindurch zu betrachten versuchte.

Wer Elisabeth nicht persönlich kannte, nur von ihren Taten hörte und sie darauf reduzierte, konnte gewiss niemals verstehen, was ihr zu ihrer Einzigartigkeit verhalf. Um- oder Beschreibung konnten ihr niemals gerecht werden. Man musste sie erlebt, ihre erhabene Aura gespürt, den sanft rosa Teint auf ihrer sonst blassen Haut und das Strahlen ihrer tiefblauen Augen gesehen haben. Ihr langes kastanienbraunes Haar erhielt im goldenen Schein der Petroleumlampen den brillantesten Glanz. Elisabeth war schön wie eine Rose in voller Blüte, aber auch stark und intelligent. Um ihre Faszination ansatzweise nachvollziehbar zu machen, sind präzise Beschreibungen besonderer Erlebnisse von Nöten. Erinnerungen, die ich tief in mir versiegelt hielt.
 

Dass sich Alucard weder für meine Erziehung noch für meine Bildung verantwortlich zeichnete, sollte weithin bekannt sein. Die Rolle der Lehrmeister, Erzieher und wohl auch meiner Bezugspersonen übernahmen meine Geschwister Vicco und Magna an seiner statt. Daric verweilte zu jener Zeit nicht im Palast in Argisch, da er sich erfolglos um einen Anschluss Amerikas an die loyale Vampirgesellschaft bemühte. Die zweitjüngste Bewohnerin des Anwesens war somit Magnas Tochter Elisabeth. Möglicherweise konnte ich sie aus diesem Grund schon seit frühester Kindheit als meine innigste Freundin bezeichnen. Einfluss hatte wohl auch ihr kaum stillbares Interesse an ehemaligen Mensch-Vampir Hybriden wie mir. Sie observierte meine Entwicklung mit unermesslichem Wissensdurst. Obendrein steckte sie mit der Bearbeitung der Forschungsunterlagen meiner menschlichen Mutter, die sich mit Blutgruppen, sowie der Gerinnung von Blut auseinandersetzte, in einer Sackgasse. El legte mir die handgeschriebenen Unterlagen und gedruckten Essays meiner verstorbenen Mutter vor die Nase, kaum dass ich lesen konnte. Dementsprechend war Chemie ein Fachbereich, mit dem ich bereits in frühesten Tagen in Berührung kam und infolgedessen eine tiefe Bindung einging. Dass sie von MEINER Mutter stammen sollten, verzauberte die Dokumente vor meinen kindlichen Augen zu Folianten mit magischen Formeln, die ich um jeden Preis zu entschlüsseln versuchte. Dies ebnete meine Karriere als Chemiker.

Wie kurz erwähnt lebten wir damals noch in jenem prunkvollen Königspalast im walachischen Argisch, den Daric später allein bewirtschaftete. Alucards Stammplatz fand sich auf einem vergoldeten Thron im Thronsaal. Ein Ort, den ich wie der Teufel das Weihwasser mied. Zu meinem Glück war der Palast deutlich zu geräumig für eine sechsköpfige Familie, was einen entscheidenden Vorteil mit sich brachte. Obwohl ich nicht nach draußen in die Welt durfte, konnte ich mich in unserem überdimensionierten Palast und auf dem Gelände frei bewegen und erhielt dennoch genügend Raum zur Entfaltung.

Ausnahmen zum Ausgehverbot verschaffte mir Elisabeth, als ich zwischen 6 und 7 Jahren alt war. Sie bestand darauf, dass ich die Jagd erlernte, was zumindest von Alucard befürwortet wurde. Notwendig war dies zwar nicht, da in dieser Zeit bereits ein Netz aus Blutbanken aus dem Boden gestampft wurden, wenngleich die Haltbarkeit der lebensspendenden Flüssigkeit noch bei weniger als drei Tagen lag. Elisabeth war sich dennoch sicher, mir damit fundamentales Wissen zu vermitteln, was auch stimmte.

Von diesen nächtlichen Jagden brannten sich mir eindrückliche Erinnerungen an Elisabeths anmutigen Körper, der sich im silbrigen Schein des Mondes über den Leibern ihrer Opfer räkelte, tief in mein Gedächtnis ein. Sie verfügte über herausragendes Geschick, nutzte ihre ausgeprägte Grazie, um Menschen in ihren Bann zu ziehen und ihnen dann so behutsam die Halsschlagader zu öffnen, dass sie es nicht einmal direkt bemerkten. Ich lernte schnell. Damals empfand ich noch keine Schuld beim Töten meiner Beute. Es schien vollkommen normal zu sein. Erst als mir einige Jahre später meine menschliche Abstammung bewusstwurde, begann ich, Menschen zu respektieren.

Immer bevor meine geliebte Nichte ihre Zähne in ihrer Beute versenkte, flüsterte sie ihnen ihr Kredo ins Ohr:

"lamia regnat mundi",

was ausdrücken sollte, dass sie uns Vampire als künftige Weltherrscher betrachtete. Damals gefielen mir ihre Allmachtsvorstellungen noch, aber das gehörte zum Kindsein dazu. Demzufolge tat ich es ihr gleich und erlangte damit bereits in diesem jungen Alter große Anerkennung bei ihr.

Wenn wir morgens blutverschmiert nach Hause zurückkehrten, warteten Magna und Vicco bereits auf uns. Elisabeth konnten sie selbstredend nichts verbieten, mir aber schon. Doch selbst wenn ich Hausarrest erhielt, schlich sich El mit mir nach draußen in die Nacht. Wir gingen dazu über, das Blut im Fluss abzuwaschen, bevor wir den Rückweg antraten. Splitterfasernackt stieg sie mit mir ins kalte Wasser des Argeș. Sie ließ mich ihren Körper waschen, während sie den meinen säubere.

Meine Freundschaft zu Elisabeth wurde von Jahr zu Jahr tiefer. Sie stärkte mir den Rücken, schimpfte und lachte mit mir. Als ich elf war, stiftete sie mich an, Viccos Haartinktur mit roter Tusche zu ergänzen. Vier Wochen lang behielt sein helles Haar eine erdbeerfarbene Tönung bei, die ihm besser stand, als er wahrhaben wollte. Eine schöne Erinnerung.

Meine Hilfe bei Elisabeths Forschungen zahlte sich zudem nach und nach immer weiter aus. Mein wachsendes Verständnis für chemische Formeln ermöglichte uns, die Haltbarkeit von menschlichem Blut zu erhöhen. Dies wirkte sich positiv auf die Qualität unseres Blutprodukts aus und steigerte dessen Absatz. Sogar Daric, den ich nun erst kennenlernte, kehrte zurück aus Amerika, um die Filialketten auszuweiten.

Ich sah die Anerkennung in Elisabeths Augen, doch von Alucard erhielt ich sie nicht in angemessenem Umfang. Dies war der Zeitpunkt, an dem sie mir anvertraute, dass ich ein Fehlversuch bei der Zeugung einer zweiten Tochter gewesen sei. Für mich fühlte es sich an, als habe ich das Mysterium des Jahrhunderts aufgeklärt. Verzweifelt, nichts an meinem Geschlecht ändern zu können, wie sehr ich mich auch anstrengte, lieh ich mir Elisabeths weiße Kleider und band mir einen geflochtenen Zopf aus ockerfarbenen Wollfäden ins Haar. Doch natürlich blieb ich, was ich war, nämlich das einzige ungeliebte Kind der Familie Dracul. Ich wünschte mich zurück in den Schoß meiner toten Mutter. Erst durch diese zermürbenden Gedanken erlangte ich die Einsicht, sie eigenhändig getötet zu haben. Eine Erkenntnis, die mich in tiefe Verzweiflung stürzte. Elisabeth war die einzige, von der ich mir in meiner Trauer helfen ließ.

Indes begann ich Vicco immer stärker zu beneiden. Er besaß alles, was ich begehrte. Nicht nur unser fehlgeleiteter Vater Alucard, auch Elisabeth liebte meinen wortgewandten und stets perfekt gekleideten Bruder. Was war es, das er besaß, mir aber fehlte? Auch ich verfügte über Sprachtalent sowie einen erlesenen Geschmack. Um dies unter Beweis zu stellen, begann ich Gedichte zu schreiben. Wirklich gut wurde ich darin zwar leider nie, Elisabeth mochte es dennoch, wenn ich sie vor ihr rezitierte. Vielleicht, weil sie nicht selten zu dessen Inhalt wurde.

Schon allein deshalb konnte ihr meine Bewunderung ihr gegenüber nicht entgangen sein, was auch meine brennende Eifersucht auf Vicco einschloss.

Den Blutmond verbrachte Elisabeth interessanterweise niemals mit ihrem Mann, möglicherweise, da sie sich nicht bereit für eigene Kinder fühlte. Um mich hatte sie sich stets gesorgt und in den meisten Fällen zu mir gestanden. In meinen Augen hätte sie eine hervorragende Mutter abgegeben. Ich fragte mich, ob sie Kindern im Grunde nicht abgeneigt war und sie nur mit Vicco keine wollte. Diese Interpretation gefiel mir, wo sie doch bedeuten würde, Elisabeth ginge in der Beziehung mit ihm nicht vollkommen auf. Mein Bruder selbst sprach dagegen gern von seinem Wunsch nach Nachwuchs. An ihm scheiterte es nicht.

In einer dieser speziellen Vollmondnächte kam El überraschend in mein Zimmer. Ich befand mich in meinem fünfzehnten Lebensjahr und so begann die Mondfinsternis auch bei mir einschlägige Wirkung zu zeigen. Elisabeth wusste von meiner Geschlechtsreife und doch setzte sie sich in dieser elektrisierenden Nacht neben mich an meinen Sekretär, an dem ich mich zuvor konzentriert versucht hatte, mit Belletristik abzulenken. Ihre erregende Nähe zu spüren, ließ mich auf der Stelle erstarren. Meine Fähigkeit, mich zu bewegen, kehrte auch dann nicht zurück, als sie mich an der Schulter zu sich drehte und sich mir dann bis auf wenige Zentimeter annäherte. Vollkommen überfordert ließ ich zu, dass sich unsere Lippen berührten. Elisabeth stahl mir meinen ersten Kuss und machte mich damit überglücklich. Kaum beschreibbare Prozesse liefen parallel in mir ab. Mein Körper bebte, mein Herz quoll über, meine Welt löste sich vor meinem inneren Auge auf und setzte sich erneut zusammen und das alles, während ich Elisabeths sanften Rosengeschmack auf der Zunge schmeckte. Natürlich verstand ich es nicht und fragte ich mich, wie ich reagieren sollte. Konnte ich mich der Frau, die ich über alles liebte, widersetzen, weil sie mit meinem Bruder liiert war?

Nein, unmöglich.

Noch immer vollkommen wortlos knöpfte sie mein Hemd auf und fuhr anschließend mit ihren weichen Fingerkuppen zart über meinen Oberkörper.

"Du bist so ein artiger Junge",

hauchte sie, bevor ich ihr kastanienbraunes Haar erneut näherkommen sah. Nur küsste sie mir nun nicht erneut auf den Mund, sondern auf die Brust, öffnete auch meine Hose und zog mich somit vollständig aus.

"Was machst du denn da?",

fragte ich mit dünner, aber dennoch hitziger Stimme. Sie lächelte zu mir nach oben, stand vor mir auf und ließ ihr weißes Spitzenkleid ihren weiblichen Körper vor meinen Augen hinabgleiten. Ihre fahle Haut wurde sanft vom Schein meiner beiden Petroleumlampen beschienen. Meine Blicke sprangen zwischen ihren straffen Brüsten, ihren duftenden Schenkeln und ihrem vereinnahmenden Lächeln hin und her. Ihr aufregender Körper überforderte meinen jugendlichen Geist.

Elisabeth begann mich erneut zu berühren, auch an jenen besonderen Stellen, die sie beim Baden im Fluss ausgespart hatte. Meine Unschuld starb in dieser Nacht, wenngleich Elisabeth den Beischlaf nicht vollendete, da er zu einer garantierten Schwangerschaft geführt hätte.
 

In der darauffolgenden Nacht begegneten wir uns erst zur geplanten Familienversammlung. Elisabeth funkelte mich wissend an, wobei wir kein einziges Wort darüber verloren. Auch später nicht und es wiederholte sich, zu meinem Bedauern, auch kein weiteres Mal. Nicht einmal ein Jahr später zur folgenden Mondfinsternis besuchte sie mich.

Die Auswirkungen jener Nacht auf mich wirken nachhaltig. Elisabeth hatte sich bereits vor dieser Begegnung zur Frau meiner Träume entwickelt, danach schienen für mich jedoch gar keine anderen Frauen mehr auf der Erde zu existieren. Diese Eine fraß all meine Gefühle und behielt sie für sich. Sie war meine Welt und selbst wenn sie einen schroffen Ton ansetzte, mich maßregelte, ob gerechtfertigt oder nicht, hing mein Herz allein an ihr. Nicht einmal ihr Tod vermochte daran etwas zu ändern.

Auch Vicco liebte sie über alle Maßen, doch er tat etwas, das ich ihm nicht zugetraut hatte. Er machte den Fehler, Elisabeth zu bedrängen. Nicht nur Kinder wollte er von ihr, sondern auch den Geschmack ihres Blutes auf der Zunge. Selbstverständlich respektierte er sie, forderte jedoch, sich stärker auf ihn einzulassen, doch wenn eines in unserem Universum unmöglich war, dann Elisabeth in einen Käfig zu sperren.

Als Resultat trennte sie sich von meinem Bruder als ich fünfzehn Jahre alt war und wählte mich an seiner statt. Dies geschah kurz vor unserem Umzug nach Deutschland, der auch die Namensänderung zu Lucard beinhaltete.

Ich konnte nicht fassen, dass ich den Mann, den ich neidete, besiegt hatte. Nie hatte ich geglaubt, den edlen, immer aufrechten Vicco vor Elisabeth wie einen gebrochenen Halm einknicken zu sehen. In gekränkter Ehre verließ er sogar den Familienrat und verwehrte den Umzug nach Deutschland.

Elisabeths Ketten waren somit gesprengt, auch was ihre Politik betraf. Neue Gesetze, denen Vicco nicht zugestimmt hätte, überfluteten die Vampirgesellschaft, während ich Elisabeths Libido auszugleichen hatte. Sie war kaum zu bremsen in ihrem Eifer, mich immerzu zu verführen. Schon bald kannte ich ihre Schenkel besser als ihren Mund. Leider ließ sie mich nur zu gern wissen, dass ich mich weniger geschickt anstellte als ihr erster Mann. Was wunderte es sie? Vor ihr unterhielt Vicco zwar keine ernsthaften Beziehungen, doch stieß er sich nur zu gern unverbindlich die Hörner bei hochgeborenen Damen ab.

Nach ihrer Trennung war er überstürzt abgereist, hatte all sein Hab und Gut zurückgelassen. Wie sich herausstellte, reiste er umher, kam aber ab und an für einen einzelnen Tag auf Besuch nach Deutschland, um sich bei Alucard über die politische Lage zu informieren.

In unserer neu erbauten, modernen Jugendstilvilla schliefen Elisabeth und ich nicht mehr getrennt, wie im Palast, sondern gemeinsam in etwas, das sich Ehebett nannte. Natürlich unterhielten wir als Vampire keine Ehen, wohl aber feste Partnerschaften.

Der Morgen dämmerte, als ich mich hinlegte und vergebens auf sie wartete. Es kam nicht selten vor, dass wir den Tag im Kellerlabor durcharbeiteten, dann aber üblicherweise gemeinsam. Ich zog einen Tagesmantel über, sah im Labor nach und im überfüllten Kerkertrakt, fand sie darin jedoch nicht vor.

Es überraschte mich, Magna auf halber Höhe auf der Treppe ins erste Obergeschoss anzutreffen. Sie sah zu mir herab, einen mitfühlenden Blick in den Augen.

"Sie sind oben",

sagte sie so sanft, als wolle sie mich auf etwas Ernstes vorbereiten. Ich sog tief Luft durch die Nase ein und stieg die Holzstufen zu ihr hinauf. Dann hörte ich es. Elisabeths wohlbekanntes, heißes Stöhnen, aus dem Gästezimmer. Ich erkannte zwar nicht, was die männliche Stimme sagte, wohl aber, dass sie zu meinem Bruder gehörte.

Ich schloss für einen Moment die Augen, presste sie dann zusammen, öffnete sie wieder und ging zurück ins Erdgeschoss in meines und Elisabeths Ehebett. Was hätte ich schon tun können? Sie war eine Frau, die sich nichts sagen ließ. Mir blieb die Wahl, mir dies bieten oder sie loszulassen. Was für eine Frage…

Sie kehrte in den Nachmittagsstunden zu mir ins Bett zurück, legte sich beschwingt neben mich und säuselte ein süffisantes:

"Ahh, das hat gutgetan."

Ich schluckte alle Vorwürfe herunter und fragte:

"Wird das jetzt öfter vorkommen?"

"Oh, das weiß ich noch nicht. Vielleicht schon. Es müsste doch in Ordnung für dich gehen, oder? Immerhin war ich tausende Male mit Vicco im Bett. Auf die paar Mal kommt es jetzt auch nicht mehr an."

Für sie vielleicht nicht, dachte ich, doch daran ändern konnte ich nichts. Wahrscheinlich, da ich unbewegt liegen blieb, beugte sie sich zu mir, gab mir einen Kuss auf die Wange und flüsterte in einem süßlichen Ton:

"Keine Sorge, Rova. Dich liebe ich viel mehr als ihn."

Ironischerweise linderte das den Schmerz ein wenig. Immerhin, dachte ich…

Am Abend nach dem Aufstehen suchte ich Vicco dennoch auf. Er wirkte gelöster als direkt nach der Trennung, was mich nicht wunderte. Er schien im Aufbruch begriffen, da er gerade die Metallschnallen seines ledernen Reisekoffers schloss, der auf einem kleinen, runden Beistelltisch lag. Ich betrachtete das zerwühlte Gästebett, das Elisabeths und seinen Duft absonderte. Widerlich! Als mich mein Bruder im Türrahmen stehen sah, hielt er inne.

"Ich war nicht zu diesem Zweck auf Besuch."

Darauf wusste ich nichts zu erwidern. Überhaupt fragte ich mich, worüber ich mit ihm sprechen wollte. Vicco ließ seinen Koffer auf dem Tisch zurück und lief zu mir. Er versuchte eine Hand auf meine Schulter zu legen, vor der ich mich angewidert wegdrehte. Dies löste einen weiteren Impuls in mir aus, der mich dazu brachte, in gewinseltem Tonfall zu schreien:

"Nimm sie mir nicht wieder weg!"

"Das ist nicht meine Entscheidung, Robert",

beschwichtigte er und fuhr gewohnt gefasst fort.

"Dies ist wohl der geeignete Zeitpunkt, dir mitzuteilen, dass ich sehr wohl von eurem Blutmond Abenteuer vor eineinhalb Jahren weiß. Ich kenne deinen Schmerz also nur zu gut, aber verstehe mein Handeln deshalb nicht als späte Rache."

"Tss!",

spuckte ich aus, worauf er schulterzuckend reagierte.

"Sprich dich mit Elisabeth aus. Das habe ich damals auch getan. Und nur als Hinweis. Ich habe gegen ihr anhaltendes Interesse an mir nichts einzuwenden und werde sie auch weiterhin mit offenen Armen empfangen."

Damit machte er mehr als klar, dass er ebenso bereit war, nach Els Pfeife zu tanzen wie ich.

Hoffnungslos.

Wir beiden waren hoffnungslos an diese Frau verloren. Ich konnte dieses Missverhältnis wenigstens meiner Jugend zuschreiben, doch bei Vicco half diese Erklärungsweise nicht. Warum er sich unter allen Aristokratinnen, die er haben konnte, unbedingt für Elisabeth entscheiden musste, hatte einen anderen Grund. Er verbot sich die Liebe zu einer Frau unreiner Abstammung. Was als unrein deklariert wurde, bestimmte Alucard und dieser schloss ausschließlich die direkte Lucard Blutlinie ein. Ironischerweise gab es zu diesem Zeitpunkt aber nur zwei Lucard Frauen - unsere Schwester Magna und deren Tochter Elisabeth. Soweit ich wusste, war Vicco ungeheuer nah dran, seine Schwester zur Braut zu nehmen, doch sie entschied sich in letzter Sekunde gegen ihn. Ganz anders als ihre Tochter, die sich sofort an Viccos Hals warf. Sicher war sie dem Wahn der Blutreinheit ebenso verfallen wie er und so schloss sich der Kreis. Dennoch bleibt es ein Mysterium für mich, warum sie sich nicht bereits in jungen Jahren von Vicco schwängern ließ.

Aber trotz aller emotionaler Abhängigkeit von meiner Rose, setzte ich ihr auch Grenzen, insbesondere wenn es um unsere Menschenversuche, die Politik und die Entwicklung der Vampirgesellschaft ging. Ihre Vorstellungen überspannten den Bogen gern oder gingen mir zu stark auf Kosten der Menschen. Ich war in der Lage sie zu bremsen. Auf Vicco hatte sie diesbezüglich nicht gehört. Nur Alucards Wort stand über meinem. Meine Vergötterung ihr gegenüber war vergleichbar mit ihrer für den Urvampir. Ich konnte von Glück reden, dass sie ihn als Partner ausschloss. Sein Fehler bestand darin, ihren leiblichen Vater, eine Schlosswache und zugleich Magnas Geliebten, getötet zu haben. Auch ich hasste ihn wegen des Mordes an meinem zweiten Elternteil. Er war tatsächlich ein Mann, der ein- und dieselben Fehler immer neu zu wiederholen vermochte und sich dennoch über den ihm entgegengebrachten Hass wunderte. Was für ein Psychopath!

Es folgte Elisabeths tragischer Tod, dessen Umstände ungeklärt blieben. Zuletzt lebend gesehen hatte sie Alucard und ich schloss nicht aus, dass er der Auslöser war. Mitgerissen von meiner Trauer, die sich augenblicklich in rasende Wut verwandelte, tötete ich sämtliche Bedienstete und Zelleninsassen. Erst Alucard machte mich darauf aufmerksam, dass es unter ihnen einen Zeugen gegeben haben konnte. Doch was änderte das schon?

Elisabeth, die Liebe meiner Jugend, war für immer verloren.
 

Lyz gab mir diese vergessen geglaubten Gefühle zurück. Insbesondere nach der Konvertierung gewann sie zuträgliche Eigenschaften. Über ihr wachsendes Selbstwertgefühl und ihre Fähigkeit, auszusprechen, was sie sich wünschte, freute ich mich. Es erleichterte mir den Umgang mit ihr immens. Auch, dass ich mich nicht mehr in vollem Umfang zu verstellen brauchte, da sie in vielen Belangen kaum weniger radikal veranlagt zu sein schien, brachte erholsame Erleichterung. Sah ich von ihrer Zuneigung zu meinem Diener ab, entwickelte sie sich prächtig.

Wobei, … wenn ich wirklich vollkommen ehrlich zu mir war, und das stellte mich sogar mir selbst gegenüber vor eine große Herausforderung, dann empfand ich im Herzen etwas anderes, als mir mein Verstand Glauben machen wollte.

So unwahrscheinlich es auch klang, musste ich zugeben, dass mir dieser vorlaute Bengel namens Alexander tausendmal lieber war als Vicco. Wäre mein Diener nicht für meine Frau da gewesen, stünde zu vermuten, dass sie während meines Rückzugs nach ihrer Konvertierung andernfalls in die Arme meines ach so perfekten Bruders geflüchtet wäre. Dabei war es doch unwahrscheinlich, dass ich es ein weiteres Mal ertragen konnte, meine Frau ausgerechnet mit ihm teilen zu müssen. Alexander jedoch, störte mich von Tag zu Tag weniger. Natürlich geriet ich mit diesem Burschen gelegentlich aneinander, natürlich nutze er meine Schwäche aus und doch war da etwas, … eine eigenartige Wärme, die immer tiefer in mein Herz vordrang, die sich wahrhaftig anfühlte und nicht aufgesetzt wie Viccos ungebetene Ratschläge.

Alles in allem hatte sich mein Leben deutlich verbessert und das nicht nur im Vergleich zu den vergangenen einhundert Jahren, sondern auch im Verhältnis zu meinen Jugendjahren. Wie schwer er mir auch fiel, war dies der Neuanfang, auf den ich immer gewartet hatte und ich wusste ihn zu schätzen.

Vicco 1: Dienstmädchen

Ich saß am felsigen Ufer eines türkis schimmernden Sees, der von einem abschmelzenden Gletscher gespeist wurde. Es spiegelten sich die sattgrünen, mit Nadelbäumen bewaldeten Berge darin, dessen Gipfel noch von Schnee bedeckt waren. Die Landschaft glich einem Gemälde in dessen Mittelpunkt ich saß, ganz wie in einem Gemälde von Caspar David Friedrich.

Die reine Luft, die niedrige Temperatur, die natürliche Aussicht, ja, sogar die Abgeschiedenheit - Dieser Ort subsumierte das genaue Gegenteil meiner Heimat Manama, der Hauptstadt des Königreichs Bahrain, in dem sich die Hitze zwischen den Hochhäusern staute. Ich konnte immer noch nicht fassen, dass ich diese eiskalte Pampa gegen mein vor Leben vibrierendes Sommerparadies eingetauscht hatte. Ich vermisste meinen Palast, die Frauen jedoch weniger, seit mir nur noch diese Eine im Geiste herumspukte. Was ich da draußen in der Einöde suchte? Einen neuen Lebensentwurf, vielleicht sogar einen Ausweg aus meiner Misere.

Ich hatte sogar begonnen, zu malen. Tausende und Abertausende von Bildern waren in den letzten 250 Jahren durch mein Blickfeld gewandert, doch keines vermochte ihr gerechnet zu werden. Auch kein von mir beauftragter Künstler war dazu fähig, IHREN Esprit einzufangen und so war ich fast schon gezwungen, selbst zum Pinsel zu greifen. Meine Bilder zeigten sie und zugleich auch nicht. Sie visualisierten meine Empfindungen und blieben somit abstrakt. Ich würde meinen Bruder um ein Foto von ihr bitten müssen, um noch intensiver in meine Gefühle abtauchen zu können.
 

Was ich also vordergründig suchte, waren Ruhe und Entspannung, doch meine einzige Bedienstete, die ich in dieses Nirgendwo mitgenommen hatte, brachte dafür kein allzu großes Talent mit. Wie als Beweis rief sie mir mit ihrem hohen Stimmchen, während eben jenes Gedankens, von meinem Holzhaus am Rand des Sees zu:

„Hoheit, möchtet Ihr nicht langsam hereinkommen? Ihr seid schon seit dem Sonnenaufgang um 4 Uhr draußen“,

„Ruhe Maria, du verjagst die Fische!“,

gab ich gedämpft, und halb zu ihr gedreht, zurück, eine Angel zum Fliegenfischen in der Hand. Das Mädchen verschwand wieder in der Verandatür, holte sich dann eine Jacke, die es sich über sein knappes Dienstmädchenkleid zog und kam zu mir heraus. Selbstverständlich gestattete Marias Position keinesfalls, Kritik an mir üben zu dürfen, doch bereits ihre eben erst gestellte Frage, war nichts anderes als das.

Erst jetzt, wo sie sich neben mich stellte, konnte sie einen Blick in den Eimer neben mir auf meinen Fang werfen. Ein paar Forellen und Äschen zappelten darin herum, manche auch schon nicht mehr, weshalb sie angeekelt das Gesicht verzog.

„Bitte, Hoheit, bringt die nicht wieder mit ins Haus.“

Schon wieder. Sie hatte schon wieder Kritik an mir geübt, dieses unartige Ding. Entweder glaubte sie, eine Sonderstellung innezuhaben, weil ich nur sie in die hinterste Ecke von Norwegen mitgenommen hatte oder sie wünschte sich eine Züchtigung durch mich. Beides wäre ihr nicht zu verdenken gewesen und doch lag diese Art von Bestrafung für sie in ebenso weiter Ferne, wie die zündende Idee zur Eroberung meiner Herzdame für mich.

„Lass das!“,

befahl ich ihr, wo sie mir doch meine eigentlich so verhasste Idylle zerstörte.

„Ich bitte um Entschuldigung, Hoheit, aber was soll ich lassen?“

„Mich zu bevormunden, Dummchen!“,

gab ich, an ihrem Verstand zweifelnd, zurück. Auch diese Anweisung überstieg ihren Intellekt, sonst hätte sie die folgende Frage nicht gestellt.

„Möchtet Ihr wieder allein sein?“

Ich stand auf, nahm den Eimer und schüttete den beinhalteten Fang des Morgens mit Schwung in den nun nicht mehr so idyllischen See. Dann stellte ich das Gefäß umgedreht neben mich und sagte zur frierenden Dienerin neben mir:

„Setz dich! Ich habe eine Frage an dich als Frau, nicht als Dienstmädchen.“

Ich spürte, wie ihr Puls zu rasen begann, als ich diesen Satz aussprach. Jahrzehntelang hatte ich trainiert, meine Stimme in Tonlage und Frequenz für den geneigten Zuhörer zu optimieren, um ihn oder bevorzugt sie, gezielt auf erotisches Gedankengut zu stoßen und nun wusste ich nicht mehr, wie ich diese Fähigkeit unterdrücken konnte. Als es noch galt, sich selbst mit Nahrung zu versorgen, war diese Befähigung von großem Nutzen, in der heutigen Zeit stellte sie sich jedoch dann und wann als hinderlich heraus.

Maria presste erregt ihre Schenkel aneinander und setzte sich neben mich auf den zum Hocker umfunktionierten Eimer, wobei sie mir ihre wohlgeformten großen Brüste präsentierte. Erwartungsvoll sah sie zu mir auf, wo ich auf meinem hölzernen Klappstuhl doch etwas höher saß als sie. Ich beugte mich zu ihr hin und schon begann ihr Atem zu beben, dabei wollte ich mich nur mit ihr unterhalten.

„Mein Prinz?“,

hauchte sie zart hoffnungsvoll, was ich ausblendete und ihr meine Frage stellte.

„Angenommen, du wärst keine dumme Dienstmagd, sondern eine etwas eingebildete, aber ganz entzückende Prinzessin. Wäre ich dann noch gut genug für dich, wenn ich, bevor ich dich traf, ein, sagen wir, ausschweifendes Leben geführt hätte? Eines, das ich aufgab, nachdem ich dich kennenlernte?“

Ihre graublauen Augen begannen wie Sterne zu Funkeln, denn sie bezog meine Frage zunächst auf sich. Ob ihrer Naivität konnte ich nicht widerstehen, mir die meinen mit einer Hand zu verdecken. Wahrscheinlich konnte sie nicht einmal etwas dafür, denn dies war nun einmal meine übliche Wirkung auf mein Gegenüber. Ihr Verstand schien jedoch zurückzukehren, als sie meine Aussage noch einmal durchdachte.

„Oh, Ihr meint gar nicht mich. Natürlich nicht, Ihr habt schon ganz recht, ich bin ein Dummchen, aber bitte, ich möchte mich an Eurer Frage versuchen“,

begann sie dann doch recht vielversprechend, deshalb konnte ich meine Hand auch wieder von den Augen nehmen. Danach fing sie an, zu spekulieren.

„Ich bin also eine Prinzessin und nur das Beste ist gut genug für mich und Ihr seid einer der begehrtesten Männer der Welt, der nur für mich sein altes Leben aufgeben würde?“

Schon jetzt schüttelte ich den Kopf, denn sie konnte offenbar nicht aus sich selbst heraus denken.

„Ich bin für die Prinzessin einfach nur ein Mann und ich hätte diese Vergangenheit, die ich eben habe.“

Nun legte sie ihre hübsche Stirn in Falten, da ihr meine Selbstbeschreibung wohl nicht zusagte, doch immerhin ließ sie sich auf mich ein.

„Wie soll ich das beantworten? Das käme wohl darauf an, welche Vergangenheit ich selbst hätte oder vielleicht auch, ob ich in Euch verliebt wäre, Hoheit.“

Ihre neuerliche Aussage gestaltete sich hilfreicher als im allerersten Moment vermutet, ja, sie regte sogar zum Denken an. Wenn Ellys in mich verliebt wäre also, … Ich erregte sie zweifellos, aber Begehren ist nicht gleich Lieben und ich wusste nicht, wie man etwas anderes als das hervorruft.

Robert war mir dementsprechend einen Schritt voraus. Ich glaubte, ihm Ellys einfach mit meinem Charme vor der Nase wegschnappen zu können, wo er sie allerdings schon dazu gebracht hatte, ihn zu lieben. Das musste das Zünglein an der Waage sein, welchem ich zu wenig Beachtung geschenkt hatte. Aus ihrer Liebe musste sie die Kraft geschöpft haben, mir jene ungerechtfertigte Ohrfeige zu verpassen, eine Dreistigkeit, die sich vor ihr keine andere Frau gewagt hatte. Mit Ausnahme von Elisabeth, als ich sie damals bedränge, ihr Blut kosten zu dürfen. Schon sie stellte sich für mich als unbezwingbare Gegnerin heraus. Meinen Fehltritt sühnte sie mit einer Trennung, doch weil ihr das nicht ausreichte, erließ sie obendrein ein Gesetz dagegen. Diese Frau schoss mit ihrer Radikalität stets über ihre Ziele hinaus. Ellys sah ich als Verbindungsstück zwischen dem, was Elisabeth so faszinierend machte und meinem Idealbild einer Frau. Ich musste sie einfach haben.

Mein Begehren löste nicht nur den Drang aus, sie zu malen, sondern, als unangenehmen Nebeneffekt, auch einen gesteigerten Blutdurst. Ellys war sicherlich offener, was den Blutkuss betraf. Da mir bei dieser Vorstellung das Wasser im Munde zusammenlief, schluckte ich und stand auf. Maria saß stumm vor mir und hatte mich während meines Denkprozesses nicht aus den Augen gelassen.

„Hoheit, …wünscht Ihr…?“,

fragte sie, meine Hose fixierend, an der ihr meine Erektion aufgefallen war. Ich hob die Augenbrauen, sah von oben, wie sie sich die Lippen befeuchtete und wendete mich dann, ohne ein Wort, von ihr ab. Was ich jetzt brauchte, war ein bisschen Blut und das war in meinem Haus zu finden und nicht bei ihr.
 

Ich holte mir selbst ein Glas aus dem Holzschrank und stellte es auf der Arbeitsplatte der Küche ab, als sie geschwind gelaufen kam.

„Wartet doch bitte. Ich mache das schon.“

Elegant schwang sie ihre weibliche Hüfte zum Vorratsschrank, was mehrmals einen Blick auf ihren knappen Slip ermöglichte, nahm eine der rosa markierten Blutkonserven heraus und befüllte damit das Glas. Dieser Duft und ihre Rundungen dazu… heute würde Maria wohl doch Glück mit mir haben, wenn sie sich jetzt nicht ungeschickt anstellte.

Sie reichte mir das volle Weinglas nicht, sondern fragte, wohin sie es bringen sollte.

„Stell es neben das Bett und öffne dein Dekolleté!“,

wies ich an, bevor ich mich selbst zum Schlafzimmer begab. Da ich sie nicht näher kannte, wusste ich nicht, was mich bei ihr erwarten würde, doch sie stellte sich keineswegs ungeschickt an.

Während sie mich mit ihren Rundungen befriedigte, trank ich genüsslich das Blut, welches laut Roberts Diener nach Ellys schmeckte. Das hatte ich auf Château de Val aufgeschnappt und war eine der nützlichsten Informationen, die mir je zu Ohren kam, denn so war es noch leichter, mir die Frau meiner Begierde bildlich vorzustellen.

Außer der ihres Blutes, kannte ich bereits alle Geschmacksrichtungen ihrer Körperflüssigkeiten, sogar den, ihres Kusses, auch wenn ich unschlüssig war, ob sie diesen bewusst wahrgenommen hatte.

„Fahr morgen in die Stadt und lass dir die Haare Kastanienbraun färben! Du reißt mich aus meiner Imagination, wenn ich deinen dunklen Schopf im Augenwinkel sehe.“

„Sehr wohl“,

bestätigte das Mädchen keuchend, ohne ihr Tun dabei zu unterbrechen. Meine erste Konkubine Sylvia hatte mir Maria wohl nicht ohne Grund empfohlen.

Mein Entschluss stand fest. Ich musste es weiter und weiter bei meiner Herzdame versuchen, denn ich würde sie ohnehin niemals wieder aus meinen Gedanken bekommen.

Vicco 2: Purpurne Schwingen

Für uns alle unerwartet, stellte sich Robert als Vaters Erbe heraus. Unmanipuliert sah David das mit Argwohn, da er diese Ehre seit jeher für sich zu beanspruchen versuchte. Wie Vater jedoch schon früh erkannte, taugte sein Erstgeborener nicht zum Anführer. Ich hingegen war immer schon der Informant und Strippenzieher im Hintergrund, kein Repräsentant der Macht. Hätte Vater Magret in ihrer Jugend nicht diese Abscheulichkeit angetan, wäre sie zur perfekten Sprecherin für unsere Familie avanciert.

Meinen Kontakt zu unserer verstoßenen Schwester hatte ich all die Jahre aufrechterhalten. Es verstrich kaum ein Monat, in dem ich mich nicht konspirativ mit ihr ausgetauscht hätte, mit Ausnahme der Zeit um Ellys' Entführung, in der sie nicht ans Telefon zu bekommen war. Sicher konnte man ihr Verhalten durchaus als Verrat bezeichnen, oder aber als Akt der Vernunft. Sie wurde als der perfekte Feind betrachtet, eine immanente Dummheit und verschwendetes Potential. Meine hehren Ziele sahen schon lange eine Versöhnung mit ihr und den Traditionalisten vor und es bot sich so schnell keine bessere Gelegenheit mehr dafür als die Vollversammlung in vier Wochen. Der Wunsch nach einer intakten Familie verzehrte mich. Warum konnte nicht alles so sein, wie es vor Elisabeths Tod war?

Nicht zufällig an diesem wichtigen Tag, würde ich der Vampirgesellschaft eine neue Zukunftsvision präsentieren, meinen Bruder Robert in der Rolle des neuen Alleinregenten. Unser verbrauchter Vater stellte schon seit der Einführung der "Triachsial Judikative" vor Jahrzehnten nichts weiter als eine Marionette für uns drei Brüder dar. Geschickt inszeniert sollte der Prozess seiner Absetzung leicht ins Rollen gebracht werden können.

Das Vampirvolk wäre milde gestimmt und ebenso ich. Roberts Fokus sollte dann allein auf seinen neuen Pflichten liegen, während mir Ellys Betreuung zukäme. Als großherziger Bruder wäre ich dann selbstverständlich zur Stelle, ihr Herz für ihn zu übernehmen.

Einziger Schwachpunkt meines Plans war Roberts zwingend notwendige Zustimmung zu dieser wahnwitzigen Idee. Ohne Rückhalt war es schlicht unmöglich, ihn zum König der Vampire auszurufen.
 

Ich lud meinen jüngeren Bruder und seine wunderbare Frau, die bald schon die meine sein würde, deshalb kurzerhand nach Norwegen ein. Vieles sprach gegen meinen Palast in Manama als Treffpunkt. Die Schar an aufreizenden Dienerinnen sowie meinen Konkubinen, für die ich vielfach kritisiert wurde, war der vorrangige Grund. Damit mich dieser Umstand in Zukunft nicht behindern würde, fasste ich den Entschluss, den Harem vollständig umzukrempeln, ihn eventuell sogar aufzulösen. Diese Aufgabe sollte mich in den nächsten Wochen, neben der Neuplanung der Vollversammlung, noch beschäftigen.

Wie so oft, holte ich Robert und Ellys mit einem Porsche am Flughafen ab, diesmal in Trondheim. Von meinem Haus lag dieser Ort zwar fast drei Autostunden entfernt, doch es gab keinen nahegelegenen Flugplatz, dessen Landebahn sich für den Jet eignete. Natürlich konnte ich mir einen bauen lassen, doch wenn ich ehrlich war, dann hasste ich Norwegen für seine abgeschiedenen Orte und diese verdammte Kälte. Ich glaube sogar, meine Bräune lasse schon langsam nach.

Meine Auserwählte zu sehen, wirbelte mein Herz immer wieder aufs Neue auf. Sie war bezaubernd wie eh und je, trug wie immer diesen rosigen, gesunden Teint auf ihren Wangen und bewegte ihre Hüfte auf diese erotische Art und Weise, dass ich nicht anders konnte, als sie jede Minute unseres Zusammenseins verführen zu wollen. Sie strahlte bei nahezu jeder Begegnung mit mir eine Aura auf mich aus, die mich willkommen hieß. Wir beide verkörperten die gleiche Farbe, schwangen im gleichen Takt und dennoch lehnte sie mich ab.

Sie gab mir die Schuld daran, dass sie mir diese positiven Zeichen sendete, ganz so, als zwinge ich sie dazu. Sicher, ein wenig half ich immer nach, doch tat ich dies bei ihr niemals beabsichtigt.

Nun, ich war es inzwischen gewohnt, von Robert Ungewöhnliches zu erleben und doch verblüfften mich seine Streiche immer wieder aufs Neue. Für mich kaum nachvollziehbar, reiste er nämlich nicht nur mit unserer Liebsten an, sondern auch mit seinem lästigen Schatten, diesem schwarz gekleideten Diener, der Ellys nachstellte. Schon auf Schloss Bran und auch in Los Angeles hatte mir dieser Bengel dazwischengefunkt und wenn ich an die Szene in diesem schmuddeligen Motelzimmer dachte, wurde mir übel. Es war doch immer noch etwas anderes, wenn ein adliger Mann mit einer Dienerin schlief, als umgekehrt. Einer Frau sollte es nicht erlaubt sein, sich den Schmutz einen Dieners in ihren Körper impfen zu lassen. Das hatte ich schon versucht, Magret begreiflich zu machen, auch wenn dieser teuflische Akt zur Zeugung Elisabeths geführt hatte. Mein Ekel vor einer solchen Verbindung blieb dennoch indiskutabel.

Wenn es um Ellys und ihre vermaledeite Verbindung zu ihrem schmutzigen Liebesdiener ging, entwickelte sich Robert zum Hasenfuß. Er war schlicht zu weich, um ihr Disziplin beizubringen, doch das würde sich ändern, sobald sie die Meine wäre. Bei mir würde sie lernen, wie sie einen Lucard zu behandeln hatte und das würde ihr mit Sicherheit größere Freude bereiten, als das Bett mit zwei unerfahren Männern zu teilen. Auch wenn Robert mein Bruder war und ich ihn hoch schätzte, im Bett konnte er nichts anderes als eine Lusche sein. Wie ließ sich der Bedarf nach diesem jungen Helfer an seiner Seite wohl sonst erklären?
 

Während der Autofahrt unterließ ich es, pikante Themen wie dieses anzusprechen und verschwieg den Grund meiner Einladung vorerst. Typisch für ihn, wenn er nicht wusste, was ihn erwartete, reagierte Robert angespannt. Möglicherweise befürchtete er, ich könnte vor seiner Liebsten etwas über ihn ausplaudern. Geheimnisse besaß er reichlich und viele von ihnen hütete allein ich.

Die jungen Vampire auf der Rückbank betrachteten die malerische Landschaft der Fjorde, die langsam an uns vorbeiflog. Robert zog es dagegen vor, den Blick starr auf die Windschutzscheibe zu richten. Dieser Narr! Die Welt stand ihm offen, doch er zog stets seine wehleidige Verbitterung vor. Was für eine Verschwendung! Mein Brüderchen konnte sich glücklich schätzen, dass ich diesem Frevel bald ein Ende setzen würde. Ich lächelte bei dem Gedanken zuversichtlich und sah den zukünftigen Führer der Vampirgesellschaft für mehrere Sekunden lang an. Auf den schwach befahrenen Straßen Norwegens konnte ich mir das leisten. Robert schnaufte und fragte danach verunsichert:

„Sag schon, was tust du in diesen Breitengraden? Läufst du schon wieder vor deinen Problemen davon oder lebst du deinen lächerlichen Sonnenfetischismus nun in der Mitternachtssonne aus?“

„Ganz banalen Urlaub, wenn das erlaubt ist, ...“,

antwortete ich, wobei mir fast noch ein spöttisches „Eure Majestät“ herausgerutscht wäre, das meine Intension vorzeitig verraten hätte. Er ließ es auf sich beruhen, also plauderte ich über ein paar Rahmenbedingungen dieses Landes, woraufhin er sie mit der Vampirpopulation und seinen aktuellen Verkaufsstatistiken ergänzte. Er schien die Absatzzahlen des UV-Blockers jedes Landes abrufbar im Kopf gespeichert zu haben. Mir derartiges zu merken, würde mir nie in den Sinn kommen. Da befasste ich mich lieber mit schönen Dingen wie Kunst und Architektur.
 

An meinem Haus am See angekommen, begrüßte uns Maria, der ich ein weniger aufreizendes Dress verordnet hatte. Sie wurde von den beiden Jungvampiren recht schnell in ein seichtes Gespräch verwickelt. Ellys trug an diesem Tag ein hübsches Etuikleid, das nur von meinem Bruder ausgesucht worden sein konnte. Zum einen passte es zu seinem Sakko, und zum anderen stammte es unverkennbar aus der Hand seiner bevorzugten Schneiderin Heriette, die seinen Stil maßgeblich prägte. Einige ihrer Kombinationen stufte ich als gewöhnungsbedürftig ein, doch zu einem Exzentriker wie meinem Bruder passten sie recht gut.

Als meine Liebste ein unfertiges Gemälde auf der Staffelei im Wohnbereich erblickte, konnte ich in ihrem Gesicht ablesen, dass sie sich geistig von ihrem Smalltalk mit Maria verabschiedet hatte. Aufmerksam betrachtete sie die auf dem hellen Ahornfußboden stehenden Leinwände fertiggestellter Arbeiten. Robert folgte ihr. Er wirkte nicht weniger verblüfft.

"Wie schön sie sind",

flüsterte sie meinem Bruder zu, der daraufhin zu mir aufsah.

"Du malst?"

"Seit neuestem, ja. Und zwar besser, als du dichtest",

entgegnete ich süffisant.

"Abstrakt…"

urteilte er und blickte zurück auf mein unfertiges Werk.

"Expressionistisch",

konkretisierte ich und stellte mich neben Ellys, die ein Bildnis ihrer selbst auf einer der fertigen Malereien betrachtete, sich aber nicht erkannte, deshalb fragte ich:

"Was glaubst du, stellt es dar?"

"Du benutzt immer wieder die gleichen warmen Farben. Viel Rot, Rosa, Beige und einen Hauch von sattem Blau als kalten Akzent. Ich weiß nicht, wen oder was es darstellen soll, aber ich finde es wunderschön, ehrlich",

antwortete sie beiläufig, als sei sie ganz in ihrem Bildnis abgetaucht. Zu ihrem Zustand passend, flüsterte ich ihr die wahre Bedeutung der Bilder ins Ohr.

"Dies ist derzeit mein einziger Weg, meine Gefühle für dich adäquat auszudrücken."

"Für…-",

begann sie perplex, doch Robert unterbrach ihre Rührung.

"Technisch gesehen sind sie nicht übel, wenn auch nicht mein Geschmack, aber sei's drum. Ich würde mich nun gern über den eigentlichen Grund unseres Besuches unterhalten, Vicco."

"Sehr gern, Brüderchen. Ich schlage vor, Ellys und unsere Diener absolvieren einen Spaziergang entlang des Sees, während wir uns besprechen",

empfahl ich, worüber sich meine wunderhübsche Angebetete sogar freute. Was mir übel aufstieß, war, wie sie sich an die Brust ihres Dieners warf, der an der Tür auf sie wartete und nun selbstzufrieden grinste. Ein derart ausgelassenes Benehmen würde ich bei einem wie ihm schwer abstrafen und auch Ellys bedurfte noch eines Feinschliffs. Es spiegelte keineswegs das Verhalten einer Dame ihres Standes wider, selbst dann nicht, wenn sie privat auf Reisen war.
 

Robert sah den drei Jungvampiren noch eine Weile ausdruckslos dabei zu, wie sie am Ufer entlang schlenderten. Unser Ausblick ermöglichte uns, den Gletschersee und somit auch ihre Wegstrecke, kilometerweit einzusehen.

„Interessante Haarfarbe, die dein Dienstmädchen da trägt“,

bemerkte er dabei spitz, doch auf eine derart primitive Provokation ging ich nicht weiter ein. Wir setzten uns auf Korbstühle, die im Wintergarten zum See hin ausgerichtet standen. Zeitgleich begannen mein Bruder und ich uns gegenseitig mit Fragen zu löchern:

„Warum hast du mich herbestellt?“,

fragte er verstimmt und ich, in ähnlicher Tonlage:

„Was schleppst du diesen schwarzhaarigen Knaben mit dir herum?“

Nun lächelte mein Bruder überheblich und versuchte, mir begreiflich zu machen, was er in dem Jungen sah.

„Nun, Vicco. Dies war eine Lektion, die auch ich erst lernen musste. Mit Verlaub, deine Bekanntschaft mit Lyz kann wohl eher als flüchtig bezeichnet werden. Das junge Ding ist nicht ganz einfach, musst du wissen, insbesondere wenn man sie allein lässt. Trennte ich sie von Alexander, stellte sie jedes Mal etwas ausgesprochen Dummes an. Ich verweise hier auf meinen entflohenen Proband Null. Diesen Fehler begehe ich kein weiteres Mal, vor allem dann nicht, wenn wir dich besuchen, mein Lieber.“

„Ach, komm schon, Brüderchen. Was ist das für eine infame Unterstellung?“,

beschwichtigte ich ertappt auf sein unechtes Lächeln einstimmend, doch er blieb überheblich.

„Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich erinnere mich noch allzu gut an deine Drohung, kurz bevor wir sie in die Familie aufnahmen. Du hast mir versichert, sie dir zurückzuholen. Ich bezweifle, dass sich daran etwas geändert hat.

Aber kommen wir zum Wesentlichen. Weshalb bestellst du mich nach Norwegen, wo du doch weißt, dass ich die Zeit sinnvoller in die Vorbereitung der Vollversammlung investiert hätte? Ich warne dich! Wenn es nichts mit der Versammlung zu tun hat, dann übergebe ich dir die stellvertretende Leitung informell noch heute und dann sieh zu, wie du mit unserem stumpfsinnigen Gefolge zurechtkommst!“

„Alles, nur das nicht. Selbstverständlich hat es etwas mit der Versammlung zu tun. Ich will, dass du den Lords und Ladys deine schicken purpurnen Flügel präsentierst“,

gab ich zu, worauf sein Gesicht in sich zusammenfiel. Sofort fing er an zu wettern:

"Das kann nicht dein Ernst sein! Wenn ich das tue, kann ich das 'Stellvertretend' gleich von der Visitenkarte streichen. Vergiss es, Vicco! Vergiss es, verstanden? Du wirst dort keine Revolution anzetteln! Wenn du etwas Derartiges vorhast, streiche ich dir deine Redezeit.“

„Oh bitte, Robert. Ich kann die Bühne jederzeit betreten, wenn ich Lust und Laune dazu habe. Vergiss nicht, dass es meine Show ist. Ich kann dich nur leider kaum dazu zwingen, die Macht zu übernehmen. Du verstehst also, dass ich auf eine Zusammenarbeit mit dir angewiesen bin“,

erklärte ich, während ich seine Reaktion genauestens beobachtete. Ich versuchte, zu erkennen, welche Emotionen sich in Wahrheit in ihm regten und ob ich seinen Stolz insgeheim vielleicht ein wenig kitzelte. Die Abwehrhaltung in seinem Gesicht entsprach jedoch ganz genau dem, was er sagte.

„Meine Flügel sind mein Trumpf, den ich jederzeit ziehen kann, und zwar dann, wenn ICH es für richtig halte.“

Jetzt hatte ich ihn. Meiner folgenden Argumentation würde er nichts entgegensetzen können.

„Meiner Meinung nach ist jeder Tag, an dem wir so weitermachen, wie bisher, nur ein weiterer Verlust an Stärke. Es ist unumgänglich, dass wir die Gesetze reformieren, die vor hundert Jahren erlassen wurden. Nicht wenige von Rang und Namen halten sich schon seit Jahren im Verborgenen menschliche Sklaven, von denen sie trinken. Wir sollten mindestens Ausnahmegenehmigungen erlassen, denn sonst werden sie sich über Kurz oder Lang den Traditionalisten verschreiben. Unter vorgehaltener Hand werden schon seit einer Weile Absprachen dazu getroffen. Als Söhne der großen Lucard Familie sind wir dazu verpflichtet, auf solche Veränderungen zu reagieren. Das, mein lieber Bruder, ist die wahre Revolution, vor der wir uns fürchten sollten.“

Er war nach vorn gebeugt und hatte seine Unterarme auf den Beinen abgestützt. Robert hielt sich viel zu oft unter Menschen auf, um mitzubekommen, was bei Unseresgleichen passierte, doch genau dort lag meine Stärke. Ich hatte meine Augen und Ohren überall in der Vampir High Society, das wusste er und schätzte es auch an mir. Leider regte sich dennoch weiterhin Widerstand in ihm.

„Immer die gleiche Leier von dir. Es ist ermüdend. 'Rang und Namen', dass ich nicht lache. Lass uns mit Abtrünnigen verfahren wie immer. Exekution, wenn es sein muss, auch öffentlich, an ein oder zwei Familienoberhäuptern und schon herrscht wieder Ruhe in den Reihen.“

„Wie immer bist du radikal pragmatisch. Sei kein Narr! Was wir hier brauchen, ist Fingerspitzengefühl“,

versuchte ich ihn einzufangen. Ich wusste, dass er diplomatisches Geschick besaß, doch nicht die Muße hatte, es einzusetzen. Ein Manko, das er schnell bereinigen sollte. Tja und wie ich es vermutet hatte, wurde er nun einsichtig.

„Du bist zu weich, um dieses Gesinde anzuführen, deshalb willst du mich nach vorn schicken. Vielleicht denke ich über deinen Vorschlag nach, die Führung zu geeigneter Zeit zu übernehmen, aber das wird nicht dieses und auch nicht nächstes Jahr sein. Außerdem bestehe ich darauf, dass du mich berätst. Ein bisschen von deinem Feingefühl direkt nach der Amtseinführung wird hilfreich sein.“

Er lehnte sich nun zurück und sah hinaus auf den See, an dessen Ufer sich uns die Dreiergruppe nun wieder näherte. Beim Blick nach draußen erweichte sich sein harter Gesichtsausdruck und er fügte seiner Aussage nun noch etwas hinzu.

„Lyz braucht noch Zeit. Erst wenn sie bereit ist, werde auch ich es sein. Von deiner erzwungenen Proklamation lasse ich mir den Zeitplan sicher nicht diktieren.“
 

Robert hatte meinen Plan durchschaut und doch würde er ihn nicht durchkreuzen können. Tief im Inneren war er bereit und das war alles, was ich hören wollte.

Ich sah ebenfalls nach draußen und runzelte die Stirn, denn ich musste beobachten, wie sich die drei jungen Vampire vergnügt gegenseitig mit Wasser bespritzten. Sogar Maria hatte ihren Spaß, die ich noch nie in einem ähnlich heiteren Gemütszustand erlebt hatte. Der schwarz gekleidete Diener hob Ellys an ihrer zierlichen Taille an und ging mit ihr ein paar Schritte in das eiskalte Wasser des Gletschersees hinein, wo er sie lachend absetzte. Ich sah zu Robert, der ganz entspannt blieb, während er ihnen zuschaute.

„Wie hältst du das aus?“,

fragte ich schließlich, worauf er seinen Kopf zu mir drehte. Er schmunzelte noch immer ganz zwanglos, ja, sogar liebevoll und gestand:

„Um ehrlich zu sein, wünschte ich, ich wäre mit ihnen da draußen. Wie du weißt, habe ich junge Leute immer für ihre Enthemmtheit gehasst, wahrscheinlich, weil ich die Leichtigkeit in meinem Leben verloren oder sie nie besessen habe. Du willst vermutlich wissen, wieso ich Alexander nicht entlasse? Es liegt nicht nur daran, dass Lyz auf ihn als Gefährten besteht, ich selbst habe ihn ins Herz geschlossen. Er ist anders als der Rest meiner Angestellten, anders als jeder, den ich kenne. Dieser Junge steht dem Leben offen gegenüber und begegnet ihm ohne Furcht. Ich wüsste zu gern, wie er das anstellt. Verwende das ruhig gegen mich, Vicco. Ich habe diese Schwäche an mir bereits akzeptiert.“

Meine Augenbrauen hatten sich nur noch weiter zusammengeschoben als er sprach. Der Erbe des Urvampirs empfand Bewunderung für seinen Diener. So weit war er also gesunken. Elisabeth hatte viel von ihm ins Grab mitgerissen, zu viel, dachte ich in diesem Moment.

„Wie dem auch sei, Bruder. Ich bitte um eine Gelegenheit, mich ungestört mit Ellys zu unterhalten.“

„Was solltest du mit ihr zu bereden haben?“,

fauchte er direkt forsch, doch ich würde wohl kaum mein Herz vor ihm ausschütten, so wie er es tat.

„Wenn ich es dir sagte, bräuchte ich keine Unterredung unter vier Augen, mein Lieber.“

Er nickte widerwillig einmal leicht. Direkt stand ich auf und ging hinaus, bevor er es sich anders überlegte. Ich nahm zwei Handtücher, die auf dem Holzgeländer auf der Veranda trockneten und ging damit zu meiner Angebeteten, die nun mit nassen Füßen am sonnigen Ufer stand.

Vicco 3: Versuchung

„Darf ich mit dir reden Ellys? Allein? Nach dem, was in Frankreich passiert ist, sollten wir uns aussprechen“,

fragte ich sie, worauf sie zuerst prüfend nach oben zum Haus, in dem sie Robert sitzen sah und dann zu ihrem Diener schaute. Ihre Verunsicherung war ihr ins rosige Gesicht geschrieben, bis sich der Bursche neben ihr zu der Aussage erdreistete:

„Ich bleibe in Sichtweite“,

was sie dazu bewog, zuzustimmen. Robert musste gewusst haben, dass er auf den Burschen zählen konnte. Vielleicht verstand ich ein wenig, warum er ihn schätzte, denn an meiner Seite stand kein Vertrauter, der meine Gedanken in diesem Maße zu erahnen vermochte.

„Komm mit mir“,

bat ich meine entzückende Ellys, deren Haar in der Sonne wie bordeauxrote Seide glänzte. Das würde ich in meinen Gemälden in Zukunft stärker hervorheben müssen.

"Ist es wegen der Ohrfeige? Ja, von mir aus. Vielleicht ist es wirklich ganz gut, wenn wir ein bisschen was zwischen uns abklären, aber mach schnell",

forderte sie mit einem zahmen Unterton, aber dennoch zielgerichtet wie eine halb domestizierte Wildkatze. Unsere Sterne standen gut. Ich erwischte sie diesmal in einer gelösten Stimmung. Nicht wie auf Château de Val, in welchem sie äußerst angespannt auf das Aufnahmeritual wartete.

Wir liefen ein Stück zu einer weiten, sattgrünen Wiese, die aufgrund eines Steinwalls vom Haus aus nicht einsehbar war. Ein frischer Wind fuhr durch das knöchelhohe Gras und bot eine perfekte Kulisse für mein kommendes Meisterstück. Wie angekündigt, folgte uns der schwarz gekleidete Knabe auffällig, hielt sich aber außer Hörreichweite auf. Im Ernstfall würde ich diesen Einfaltspinsel wohl einfach lähmen, ohne ihm die Chance einzuräumen, Robert benachrichtigen zu können.

Eines der Handtücher legte ich auf die saftig grüne Wiese und bat das Kätzchen, sich zu setzen, was es in einer geschmeidigen Bewegung tat. Ellys' Erscheinung war so erotisch, dass es mir fast schon zu viel Arbeit machte, ein Gespräch mit ihr führen zu müssen, bevor ich sie mir nahm, aber es musste wohl sein. Ihre Widerstandskraft gegen mich mochte sich noch weiter erhöht haben und doch war sie weit davon entfernt, vor mir gefeit zu sein. Da ich wusste, wie viel ihr ein Kuss bedeutete, richtete ich mein Tagesziel auf eben einen solchen aus. Ich hockte mich vor sie, fragte:

„Darf ich?“

und berührte daraufhin einen ihrer knöchelhohen nassen Schuhe am Absatz. Sie zuckte zuerst weg, ließ mich aber gewähren, als sie merkte, dass ich ihre vom Gletschersee nassen Füße trocknen wollte. Ihre Voraussetzung für das Gespräch hatte sie somit, nach nur wenigen Minuten, bereits über den Haufen geworfen. Ganz von selbst öffnete sie die Strumpfhalter unter ihrem blauen Etuikleid, das sie dazu leider nicht nach oben schieben musste. Beim letzten Mal, als wir uns trafen, trug sie noch Strumpfhosen. Langsam fragte ich mich, wer hier wen verführen wollte.

Ich half ihr beim Ausziehen ihrer Strümpfe, konnte dabei aber leider keinen Blick auf ihre, sicherlich aufregende, Unterwäsche erhaschen. Sie wusste, was sie tat, machte sich rar und mich nur umso heißer auf sie.

Nun nahm ich das zweite Handtuch, welches ich mitgebracht hatte und rieb mit Leidenschaft mal sanfter und mal straffer über ihre nackten, feuchten Füße. So ließ ich ihr die Wahl, mir ihre Füße auszuliefern, oder mir, beim Versuch sie wegzuziehen, einen Blick unter ihren Rock zu gewähren. Da sie dies genau wusste, legte sie ihre Hände in den Schoß und schob damit den enganliegenden Rock zwischen ihre Beine.

„Danke, meine Füße sind trocken genug, Vicco. Wir sollten langsam anfangen, zu reden. Ich hab doch gesagt, dass ich nicht ewig hierbleiben will.“

Also gut, dann setzte ich mich eben neben sie. An den Füßen mochte sie trocken sein, aber ihr Höschen blieb das nicht, das verriet mir mein feiner Geruchssinn, der sie in der Vergangenheit bereits genauestens inspizieren durfte. Dass meine Süße versuchte, die Flucht zu ergreifen, wunderte mich allerdings ein wenig.
 

Ihre Verhaltensweise deutete darauf hin, dass sie sich nicht an alle Geschehnisse auf dem Château erinnern konnte, insbesondere nicht an den Abend. Ohnehin hatte ich den berauschenden Effekt von Rovas Blut, das sie beim Ritual zu sich genommen hatte, erheblich unterschätzt. Es schien hochgradig abhängig zu machen, deshalb brauchte ich mich zu wundern, warum sie sich nach wie vor so distanziert verhielt.

Eigentlich hatte ich vor, auf ihrem Eingeständnis in Frankreich aufzubauen und ihr nun zu beweisen, wie ernst es mir mit ihr war, um ihre Gefühle für mich zu wecken, doch dieser Plan bröckelte. Zunächst musste ich herausfinden, was ihrer Meinung nach überhaupt passiert war.

"Direkt nach deiner Berufung in die Familie hast du dich mir gegenüber deutlich umgänglicher verhalten, Ellys. Was ist es, das dich zurückhält?"

Sie blinzelte irritiert.

"Umgänglicher? Stehst du etwa auf Ohrfeigen?"

Ich lachte über ihre amüsante Hypothese. Meine Annahme einer temporären Amnesie bestätigte sie damit.

"Nicht vor dem Ritual, meine Süße, sondern danach. Weißt du denn nicht mehr, was wir beide getan haben?"

Nun blickte sie unsicher an sich herab. Endlich stieg das schöne Kind von seinem hohen Ross. Irritiert verdunkelte sich ihr Blick, bis sie nach einer Schrecksekunde erheitert auflachte.

"Oh nein, nein, nein, Vicco. Ich weiß nicht, wo du aufgeschnappt hast, dass ich von diesem Abend Wissenslücken habe, aber von dir lass ich mir bestimmt nichts einreden."

Tatsächlich. Sie wusste nichts mehr davon. Nun gut.

"Ich bat meine Freundin, Baroness Fredine, darum, für ein wenig Unruhe zu sorgen. Sie tat mir gern den Gefallen und ließ mitten im Saal ihre Hüllen fallen, weißt du noch?"

"W-was, nein!",

schüttelte Ellys den Kopf. Nicht einmal das, ...? Ich erzählte weiter.

"Ihr werter Verehrer Herzog Kristo stieg sofort auf ihre Einladung ein. Natürlich verlangte Robert von mir, dieses Verhalten zu unterbinden, doch es war meine Party und ich hatte gegen diesen hübschen Anblick nichts einzuwenden. Er rief nach seinem Diener, der es sich mit wer weiß wem gutgehen ließ. Netterweise bot ich Robert den Ausweg, an seiner statt auf dich zu achten, damit er die Sache klären konnte. Er weigerte sich zunächst, doch schwoll die Traube der Männer um die verehrte Baroness Fredine weiter an. Meinem verklemmten Bruder platzte der Kragen. Er zerrte die Männer aus ihrer schönen Geliebten und sie im Anschluss nach draußen, wo sie ihn in eine Diskussion verwickelte, von der ich wusste, dass er darauf einsteigen würde. Und plötzlich war deine entzückende Erregung mit mir allein."

Ellys machte Anstalten, empört aufzustehen.

"Du erfindest das alles, um… keine Ahnung, warum! Ich glaube dir kein Wort!",

fauchte sie, doch mein ernster Blick zu ihr beruhigte sie wieder.

"Ich schwöre, dass ich dich noch niemals angelogen habe. Nichts von dem, was ich dir je sagte, hat sich als Lüge entpuppt, nicht wahr? Also Ellys, glaubst du eher, dass ich Lüge, oder dass an diesem Punkt deine Gedächtnislücken beginnen?"

Widerwillig ihrer Neugier unterlegen, setzte sie sich wieder neben mich und zog ihre Beine an sich heran. Sie sprach kein Wort mehr, was bedeuten musste, ich solle fortfahren.

"Unter deinem von Roberts Blut berauschtem Blick, schloss ich das Fenster hinter dem Tisch, an dem du lehntest. Wir sahen uns tief in die Augen. Ich sagte dir, es sei keine Schande, Lust zu verspüren und setze dann meine Hand auf deinem Knie ab, das von deinem schimmernden Kleid bedeckt wurde. Behutsam schob ich es nach oben, genau wie im Flur drei Stunden zuvor, doch diesmal gabst du mir keine Ohrfeige dafür, sondern das, was ich dir prophezeit hatte, deine Finger, die sich erregt in meinen Rücken krallten."

"Nein, ich weiß, wie man dir widersteht. Das kann nicht passiert sein…",

hauchte sie neben mir sitzend. Ihre Stirn hatte sie auf ihren angewinkelten Knien abgelegt.

"So war es, Liebes. In deinem Rausch fiel deine Abwehr. Wir küssten uns, meine Finger pirschten sich heran, bis sie in dir versanken, wie schon auf Schloss Bran. Leider tauchte dann bereits Robert auf und trennte uns."

Die Wahrheit schien ihr nicht zu gefallen, aber da sie nichts mehr sagte, tat ich es.

"Wenn es nicht stimmen soll, dann sag mir, wie sich Robert dir gegenüber in den Wochen nach dem Ritual verhalten hat."

"Er hat mich ignoriert",

hauchte sie in ihren Schoß hinein.

"Nun kennst du die Ursache dafür."

Ich ließ sie noch ein wenig in Ruhe in ihrer Position verharren. Irgendwann atmete sie schwer ein, drehte sich dann zu mir und fauchte mit brüchiger Stimme:

"Vicco, wieso hast du mir das angetan? Schon wieder! Was bitte geht in deinem Kopf vor? Das ist doch abnormal! Glaub bloß nicht, dass das etwas bedeutet! Wie… kommst du überhaupt auf die bescheuerte Idee, mich mit… mit Missbrauch von deiner Liebe überzeugen zu können? Wie!?"

"Einvernehmlicher Sex ist KEIN Missbrauch!",

entgleiste ich, fing mich aber sofort wieder und fügte an:

"Ellys! Du hast dir meine Bilder angesehen. Meine Gefühle für dich könnten nicht aufrichtiger sein. Stilisiere mich nicht zum Bösewicht, nur um die deinen zu verleugnen!"

Sie schnaubte.

"So sieht einvernehmlich für dich aus, ja?"

Sie hatte sich nicht gewehrt, also ja… Gut, dann setzte ich eben neu an.

"Ich gebe alles, Ellys, alles, um dir deine wahren Gefühle vor Augen zu führen. Sie sind doch in dir! Du musst sie nur noch zulassen!"

"Kein Interesse",

spuckte sie aus, als ob sie es tatsächlich so meinen würde.

„So lasse ich nicht mit mir reden, Kleines!“,

raunte ich, drehte mich zu ihr und packte blitzschnell ihre beiden schmalen Handgelenke, die ich ihr wegzog, sodass sie fast den Halt verlor. Dann hielt ich sie daran fest und drückte das widerspenstige Ding unter mir auf die Wiese. Sie sah mich dabei nicht einmal an, sondern hinüber zu ihrem Diener. Mit in seine Richtung weisenden Handflächen, wies sie ihn darauf hin, nicht eingreifen zu brauchen. Ich hatte mich getäuscht, dass sie von ihrem hohen Ross heruntergestiegen sei.

„Gestehe es dir endlich ein!“,

brüllte ich sie ungehalten an, als sie sich dazu bequemte, zu mir zurückzublicken. Auf ihrem noch so jugendlich süßem Gesicht formte sich ein weiches und freundliches Lächeln, mit dem sie mir gefasst sagte:

„Selbst wenn, ändert das überhaupt nichts!“

Notgedrungen fesselte ich sie mit meinem Blick. Was blieb mir anderes übrig, als sie daran zu erinnern, was sie an mir hatte.

"Dieses Mal wirst du dich an unseren Kuss erinnern. Er wird dir die Augen öffnen!"

Ellys funkelte mich in heimlicher Freude an, das sah ich genau. Zweifellos wollte sie mich insgeheim. In meiner großherzigen Gnade beugte ich mich zu ihr herab und tat so, als würde ich sie überwältigen, ein wunderbares Schauspiel für ihren Diener, der zu spät herbeieilen würde.

Kurz bevor sich unsere Lippen berührten, spürte ich jedoch einen Widerstand an meiner Hüfte. Obwohl ich ihren flachen, sinnlichen Atem bereits spürte, kam ich nicht näher an sie heran. Sie fand ihr Lächeln wieder, obwohl sie das in ihrem Zustand gar nicht können durfte.

„Rovas Bann ist schwerer zu brechen als deiner“,

hauchte sie mir zart ins Gesicht, gab mir dann ein kleines Mitleidsküsschen auf die Wange und drückte mich mit ihren Füßen, die sie unter mich gestemmt hatte, von sich weg.

„Kleines Biest!“,

fauchte ich, mich wieder neben ihr aufrecht setzend. Sie war beweglich wie eine Katze, aber wenn ich ihren kleinen, zarten Körper so betrachtete, wunderte mich das kaum. Wenigstens konnte ich ihr bei dieser Gelegenheit unter den engen Rock sehen. Da war ein Hauch von blauer Spitze und ganz viel hübsche, straffe Haut, die mir Lust auf mehr machte, doch das würde an diesem Tag nichts werden.

Sie setzte sich wieder neben mich, sagte dann aber unerwartet ermattet:

"Ich habe eure Machtspielchen so satt."

Ich schnalzte unzufrieden mit der Zunge. Ihre Willenskraft war überragend, aber auch ihre Sturheit. Damit begann sie, Elisabeth zu ähneln, die auch die mächtigsten unter uns mühelos um den Finger zu wickeln vermochte, ohne selbst jemals Einsicht zu zeigen.

Ich hatte den rechten Zeitpunkt, sie mir zu eigen zu machen, schon um Monate verpasst und es nun mit einer widerspenstigen Vampirprinzessin, wie sie im Buche stand, zu tun, aber von diesem jungen Ding konnte ich mich doch nicht kleinkriegen lassen.

„Ellys, langsam machst du mich Glauben, du hättest gar nicht die Absicht, mich und meine Gefühle zu verstehen“,

beschuldigte ich sie, während ich meine langen Haare richtete. Sie zog die Augenbrauen zusammen, als wolle sie endlich klein beigeben.

"Du wolltest dich aussprechen, also tun wir das jetzt auch. Hör zu, mein eigentliches Problem mit dir, ist dein fehlender Respekt vor mir. Du behandelst mich wie einen Gegenstand… Das kann ich einfach nicht mehr ertragen. Ich habe mein ganzes Leben lang immer nur getan, was andere von mir wollten und damit ist ein für alle Mal Schluss.“

Fehlender Respekt? Das war eine einleuchtende Erklärung für alles, was sie tat… auch, warum sie mich nicht annehmen konnte.

Gerade einmal 19 Jahre war sie alt und erwartete, ohne dass sie in ihrem Leben etwas selbst erreicht hatte, dass ich sie respektieren würde…? Frauen in ihrem Alter hatten sich zu fügen!

Und plötzlich brach sie über mich herein, meine Doppelmoral. Ich verhielt mich genau wie Vater, der so von Magret besessen war, dass er sie hypnotisierte und danach über sie herfiel. Aber es gab einen entscheidenden Unterschied. Ellys begehrte mich und ich sie. Mein Beweggrund entsprang reiner Liebe, nicht der verbohrten Vorstellung einer Erbfolge. Aber war ich nun im Recht, oder nicht? Zu einem schnellen Urteil würde ich nicht gelangen, Ellys sehr wohl aber einen kleinen Schritt entgegenkommen können.

„Respekt also. Ich bemühe mich, in Zukunft nach deinen Regeln zu agieren. Ellys, du hast meine Bilder gesehen und auch die Wahrheit, die dahinter liegt. Du spürst meine Zuneigung, meine Liebe für dich, selbst wenn dir meine Methoden missfallen. In meinem langen Leben habe ich nur zwei Frauen geliebt, dich und Elisabeth und ich kann mit Gewissheit sagen, dass du besser zu mir passt als sie. Robert hat dir berichtet, ich führe ein ausschweifendes Leben, doch das habe ich nur getan, um ihren Verlust zu verarbeiten. Nun, wo ich dich in meinem Herzen habe, brauche ich das nicht mehr. Mein letzter und aufrichtiger Wunsch ist es, mich fest an dich zu binden.“

Sie legte sich nun nach hinten auf die Wiese, den von mir abgewandten Arm unter ihren Kopf und lächelte mich an, als wolle sie mir damit sagen, dass sie nun endlich vorhatte, sich mir zu öffnen.

„Du brauchst nicht zu denken, dass ich an deiner Liebe zweifle, überhaupt nicht. Auch, was deine Ausstrahlung betrifft, liegst du richtig. Ich kann nicht verbergen, dass du mir gefällst, aber ich kann auch nicht vergessen, was du mir auf Schloss Bran angetan hast, denn dort HAST du mich missbraucht, Vicco! Und du hast dich verdammt nochmal niemals dafür entschuldigt."

Ich schluckte, als ich diesen Zusammenhang begriff. Ich war tatsächlich wie Vater. Ellys' Puls beschleunigte sich rasant, während sie sprach und sie war noch nicht fertig. So entspannt liegen bleiben konnte sie dabei aber nicht mehr, sondern fuhr sich mit ihrer Hand nervös durch die Haare.

"Und die Aktion eben hat mir bewiesen, dass du dich kein bisschen verändert hast. Sexuelle Erregung ist kein Freifahrtschein, verstehst du, Vicco. Du bist einer der Gründe, warum ich die Konvertierung so schnell wollte. Typen wie dir darf ich nicht unterlegen sein."

"Ellys…",

hauchte ich ehrlich ergriffen. So tief unter die Haut ging mir selten etwas. Wie konnte sie sich von mir belästigt fühlen? Jede Frau wollte mich. Wieso sie nicht? Das war doch unmöglich!

Es war überhaupt nicht meine Vergangenheit, an der sie sich stieß, sondern einzig und allein mein selbstgefälliges Verhalten. Aber auch Robert benahm sich oft scheußlich. Wie konnte mir dieser narzisstische Soziopath in Sachen Beziehung überlegen sein? Die Frage brannte mir so stark auf der Zunge, dass ich dem Drang nachgab, sie zu stellen:

„Deine Botschaft ist angekommen. Aber bitte erkläre mir doch, was Robert zu einem besseren Mann macht als mich."

Sie lachte schnaubend, setzte sich wieder und sah mich danach an. Hatte ich etwas verpasst?

"Du bist ein Lucard durch und durch. Wieso könnt ihr Esel euch nicht einfach Entschuldigen, wenn ihr einen Fehler gemacht habt? Nicht mal nach Aufforderung..."

Verärgert zog sie sich selbst ihre nassen Stiefeletten an und stand dann auf. Eine Entschuldigung war wohl das Einzige, was sie aufhalten konnte und doch brachte ich sie nicht über die Lippen. Ellys wartete einen Moment lang vergebens auf meine Reue und sagte dann, ohne mich dabei ansehen zu können:

"Wenn du dich irgendwann einmal dazu überwinden kannst, denke ich darüber nach, ob und wie du in mein Leben darfst. Aber das ist das Mindeste, um dir verzeihen zu können."

Dann lief sie zurück über die Wiese. Seufzend nahm ich die beiden Handtücher an mich und folgte ihr. Man könnte meinen, eine Entschuldigung sei nicht schwierig, doch das war sie. Das Selbstverständnis, mir eine Frau zu nehmen, deren Körper nach mir schrie, gehörte zu meinem Charakter, den man bekanntlich nicht bereuen konnte…

Dennoch hatte mir dieses Gespräch die Augen geöffnet, da mir Ellys tatsächlich die Chance eingeräumt hatte, sie zu begreifen. Dafür war ich sehr dankbar.
 

Ich beobachtete, wie ihr Diener auf meine Liebste zugerannt kam. Ellys hielt ihre Arme für ihn ausgebreitet, in die er fast hineinsprang und es dann auch noch wagte, ihr wie ganz selbstverständlich einen Kuss auf die Lippen zu pressen, dieser Halunke. Ich verstand, dass sie mit ihm schlief, aber nicht, warum sie ihn auch lieben musste.

„Du bist einfach die Beste!“,

rief er überschwänglich wie ein einfältiges Kind. Er schien bemerkt zu haben, dass ich sie in unserem Gespräch nicht von mir überzeugen konnte. Von der Eifersucht auf diesen Bengel gepackt, wendete ich den Blick von den beiden ab und ging an ihnen vorbei, zurück zu Robert, der es sich auf seinem Korbstuhl bequem gemacht hatte. Als er mein verärgertes Gesicht sah, bildete sich auf seinem ein seliges Lächeln heraus.
 

Nein, das konnte ich so nicht auf mir sitzen lassen! Ich lief zurück zu den beiden, die überrascht voneinander abließen.

"Eine Sache noch, Ellys!"

"Jetzt doch?",

fragte sie, auf die unterlassene Entschuldigung bezogen und machte einen Schritt von ihm weg. Was ich vorhatte, war gewagt, aber sie war jung und alle jungen Vampire hatten nur eines im Kopf. Obendrein war sie nicht Elisabeth. Ich lief noch ein paar Schritte mit ihr, beugte mich dann zu ihr herab und flüsterte:

„Lass mich irgendwann einmal dein Blut kosten, ja…?“

Danach lehnte ich mich zurück, lächelte zufrieden und ging an ihr vorbei, zurück zu Robert, dem mein neuer Gesichtsausdruck überhaupt nicht zusagte. Die Süße war zu einer erregten Salzsäule erstarrt, die im nächsten Moment von ihrem Lustknaben mit Fragen überschüttet wurde, auf die sie keine Antwort gab. So gefiel mir das Ganze doch schon besser.
 

Einmal mehr misslang mein Plan, das Herz meines wilden Kätzchens allein für mich zu gewinnen. Dennoch befand sich unser Verhältnis keineswegs in Stagnation, denn nun vermute ich nicht mehr, sondern wusste. Ein wertvolles Geschenk von Lyz, das sie mir nicht hätte überreichen müssen. Sie wünschte sich eine Annäherung also durchaus. Der Weg, den es dafür zu beschreiten gab, erschien durch unser klärendes Gespräch nun deutlich vor mir, wenngleich mir verwehrt blieb, ihn zu gehen, wenn ich nicht fundamental umdachte.

Vicco 4: Harem

Nach einigen Wochen im einsamen Norwegen kam endlich der ersehnte Tag des Wiedersehens mit meiner Wahlheimat, dem traumhaften Inselparadies Königreich Bahrain. Die flirrende Hitze Manamas umarmte mich sanft wie eine zweite Mutter. Meine geliebte, wahre Mutter verschied dagegen schon vor eineinhalb Jahrhunderten. Von dieser wunderbaren Frau stammte meine Begabung für alles, was Kommunikation betraf. Sie verfügte über das besondere Talent, die Emotionen ihres Gegenübers ablesen und diese feinfühlig in Gespräche einweben zu können.

Wie vieles im Leben, gestaltete sich ihre Sensibilität als Segen und Fluch zugleich, insbesondere mit einem Mann wie meinem Vater an ihrer werten Seite. Meine Mutter gab eine hervorragende Königin ab, doch litt sie schwer unter seiner Ignoranz. So handelte sie Waffenstillstände aus, die er brach, schloss Handelsverträge, dessen Vertreter er aus fadenscheinigen Gründen ausradierte und weitere konträre Vorgehensweisen, die ihren Geist zermürbten. Einhundert Jahre lang kämpfte sie gegen seine Sturheit an, bis sie schließlich sich und ihr Leben aufgab. Auf ihren Freitod hin folgte eine Zäsur, die jedoch nicht so einschneidend wirkte wie der Verlust meiner Frau Elisabeth vor Einhundert Jahren.

Elisabeths Tod erschütterte die Grundfesten unserer Familie nachhaltig. Ich reiste zunächst ziellos durch die Welt, ließ mich dann vor reichlich 35 Jahren im Mittleren Osten nieder und zog mitsamt meinem Harem vor elf Jahren an den nördlichen Zipfel der aus Sand bestehenden Inselnation Bahrain.

Der hiesige König war nicht nur ein guter Kunde meiner Galerie, sondern auch die ausschlaggebende Inspiration, sich Robert ganz einfach selbst zum König ausrufen zu lassen. Genau das Gleiche hatte der bahrainische Wüsteninselkönig auch getan. Ein großartiger Mann, für einen Menschen.

Nicht einmal eine Viertelstunde fuhr ich mit meinem weißen Ross, meinem Porsche Cayenne, vom Flughafen bis zur aufgeschütteten Insel, auf welcher ich mein Heim erbauen ließ. Ich bezeichnete das Gebäude als Wüstenpalast, in Wahrheit handelte es sich dabei aber um einen Wolkenkratzer, dessen tragende Elemente mit schimmernden, sandsteinfarbenen Klinkern versehen waren.

Die unteren Etagen dienten als Galerie und SOLV Stützpunkt, darüber war das Hauptquartier unserer Spezialtruppe, den Evanes, angesiedelt, die über einige Kerker verfügten. In einem davon saß Roberts Experiment, das meine Agentinnen bei Widerständlern unseres eigenen Volkes aufgegabelt hatten. Weiter oben wohnten die Dienstmädchen, darüber fanden sich Gästezimmer, Veranstaltungsräumlichkeiten, inklusive Theaterbühne, eine Wellnessetage und meine eigenen Gemächer, die den Harem beherbergten. Auf dem Dach hatte ich eine kleine Oase mit Palmen anlegen lassen, ein Ort, an dem ich mich häufig unbekleidet aufhielt, um meinen streifenlosen Teint zu erhalten. Nach drei Wochen nordischer Sonne war ein Besuch mehr als überfällig.
 

Meine erste Konkubine Sylvia empfing mich bereits in der Tiefgarage des Wüstenpalasts. Sie trug ein langes, schwarzes Kleid, dessen besonders tiefen Ausschnitt sie mit Goldschmuck hervorhob. Selbstverständlich besaß sie eine außergewöhnliche Schönheit, doch diese hatte sie nicht auf ihre Position befördert, sondern ihr herausragendes Organisationstalent. In ihrer Anfangszeit vor mehr als dreißig Jahren hatte sie sich eine Aufmüpfigkeit erlaubt, aus der mein erster Sohn Octavian entsprang.

"Ich hoffe doch, Ihr habt Euch gut erholt, mein Prinz",

kam sie lächelnd auf mich zu. Ihre kleinen Grübchen sahen einfach bezaubernd aus.

"Nicht nur das, Sylvia. Die Welt hat sich mir neu erschlossen. Hier wird sich einiges ändern. Nebenbei bemerkt war Maria eine ungewöhnliche, wenngleich gute Wahl."

Von selbst drückte sie im Fahrstuhl auf die Nr. 26, den Bade- und Wellnessbereich. Diesen Ort hatte ich nach Wochen einfachster Lebensweise am bittersten nötig. Im Bad ließ ich mich von ausgebildeten Masseurinnen mit großem Körpereinsatz waschen, massieren und pflegen, ein Luxus, auf den ich beschloss, in Zukunft teilweise zu verzichten. All diese Frauen waren Teil eines Traumgebildes, das allein dem Zweck diente, jene Realität zu verschleiern, die ich nur schwer ertragen konnte, nämlich, dass ich ein Feigling war, der Verantwortung nicht standhielt.

Ich rekapitulierte meine schwerste Sünde. Neben meiner Frau Elisabeth und meiner Schwester Magret, stellte mein jüngerer Bruder Robert eine der bedeutsamsten Personen meines Lebens dar und ausgerechnet in der schwersten Stunde seines noch so jungen Lebens, nach dem Verlust Elisabeths, hatte ich ihn in seiner tiefen Verzweiflung allein zurückgelassen. Nicht nur Elisabeths Tod, auch Magrets und meine Abstinenz hatten ihn gebrochen.

Ich wusste, dass er mir meine Realitätsflucht nachtrug, denn auch ich selbst tat es. Obwohl ich viele Jahre später wieder stärker in das Familiengeschäft einstieg, so war er es doch, der stets die Hauptlast trug, während ich mich die meiste Zeit vergnügte. Obendrein zeugte ich seit etwas mehr als 30 Jahren Kinder, für die ich keine Verantwortung übernahm. Davids verbaler Angriff, Lucard Bastarde seien eine Schande, war mehr als gerechtfertigt. Seiner Tochter Sarina standen meine Kinder in nichts nach und doch tat ich, als gäbe es sie nicht. Ich hatte als Bruder und auch als Vater kläglich versagt.

So ging es nicht weiter.

Mitten während meiner Rückenmassage stand ich auf. Meine Bedienstete, mit den eingeölten Brüsten über mir, schreckte zurück und reichte mir eilig ein weißes Handtuch, das ich mir über die Schultern legte. Sofort kam Sylvia zu mir geeilt und wartete auf meine Anweisung.

"Ruf Octavian an und informiere auch all meine anderen Kinder, die nicht im Palast leben. Ich will, dass du sie hierher einlädst, weil ich etwas zu verkünden habe. Sie sollen ihre Mütter auch dann mitbringen, wenn sie nicht mehr im Harem sind."

Sie verbeugte sich in bemühter Neutralität, doch ich sah den erfreuten Glanz in ihren Augen funkeln.

"Sehr wohl, mein Prinz"

Sechs Jungen und sechs Mädchen hatte ich gezeugt. Octavian war mit 32 Jahren mein ältester Sohn mit Sylvia, den ich bereits im Kindesalter in ein Internat geschickt hatte, weil ich keine männliche Gesellschaft um mich wünschte. Es war an der Zeit, ihn und all meine anderen Kinder nach Hause zu holen, ebenso wie die vier dazugehörigen Mütter, die nicht mehr im Palast lebten. All meine Kinder hatten ein Geburtsrecht auf den Namen Lucard, den ich ihnen ohne vernünftige Begründung verwehrte.

Wovor fürchtete ich mich? Von einer jüngeren, besseren Version meiner selbst abgelöst zu werden, oder aber schämte ich mich vor meinen Kindern für dieses Leben? Etwas von beidem, nahm ich an, zumal sie alle über außergewöhnliche Schönheit und Intelligenz verfügten.

"Freut dich dieser Schritt, Sylvia?"

Ihr nun ehrlich strahlendes Lächeln sagte alles.

"Die Wiedergeburt Eurer früheren Frau lässt Euch sanft werden, mein Prinz. Ja, es freut mich und Octavian wird es ebenfalls erfreuen."

"Hm, na das werden wir noch sehen",

entgegnete ich skeptisch.
 

Nun fühle ich mich befreiter. Vorbei an einem pittoresken Springbrunnen, entlang eines gepflegten Indoor-Gartens, der wie eine erfrischende Oase mit kleineren und größeren Palmen angelegt war, lief ich zur großen Treppe, die zum Bereich des Harems führte. Dieser bildete das großzügigste Areal des Palastes mit einer drei Etagen hohen Fensterfront, die einen Blick über das azurblaue Meer bot. Neben Sylvia lebten zu diesem Zeitpunkt neun weitere wundervolle Frauen darin, die von Zeit zu Zeit wechselten, zum Beispiel, wenn mich eine von ihnen verließ, weil sie ihren männlichen Spross selbst großziehen wollte. Die fast nackten Mädchen standen Spalier und verbeugten sich vor mir.

Petra strahlte mich von der rechten vorderen Position aus an. Sie war ein fröhlicher Wirbelwind, der sang wie eine Sirene, während die ruhige Urd, auf der anderen Seite, unglaublich gut Gitarre spielte. Die beiden hatte ich schon viele Jahre, ähnlich wie Sylvia.

Mira dahinter tanzte ganz wunderbar und erzählte die verrücktesten Witze, Estella war eine Denkernatur, dadurch hervorragende Brett-, als auch Kartenspielerin und Mutter meiner 17-jährigen Tochter Sophia.

Dem bisexuellen Liebespärchen Anastasia und Ciri sah ich unwahrscheinlich gern zu. Durch meine Erleuchtung kam ich hinter das Geheimnis, was ihren zauberhaften Reiz ausmachte. Die beiden liebten sich. Zudem hatten sie je eine 5-jährige Tochter mit mir, die in derselben Nacht entstanden.

Juliana verfügte über kein besonderes Talent, doch sie war pfiffig und immer gut informiert. Es machte großen Spaß, sich mit ihr zu unterhalten. Blieben noch zwei.

Michelle war gerade erst neu, hatte keine Ausbildung und war noch vollkommen unschuldig, als ich sie aufnahm. Ihre Ähnlichkeit zu Ellys fiel sicher nicht nur mir ins Auge. Zierlich, eleganter Touch, allerdings rothaarig, nicht rotbraun.

An der hinteren Position der beiden Reihen stand die bezaubernde Eva. Vampiren christliche Namen, wie auch Maria einer war, zu geben, empfand ich als unsittliche Mode. Eine von Roberts Mitarbeiterinnen am SOLV trug einen ähnlich unpassenden Namen, der fast auf der Zunge brannte, wenn man ihn aussprach. Evas Qualitäten lagen in einem sehr speziellen Bereich, der erotische Spiele betraf. Dieses wunderbare Wesen war aber nicht nur dahingehend etwas Besonderes. Das Alter und die Anzahl ihrer Kinder sagten alles über unsere Beziehung aus. Wir hatten zwei Töchter, darunter Miriam, meine Älteste mit 27, Jasmin, meine Zweitälteste mit 21 und meinen jüngsten Sohn mit gerade einmal zwei Jahren.

Erleichtert, dass ich den Überblick behalten hatte, ging ich weiter und ließ mich auf meiner riesigen, weichen Spielwiese nieder, die umsäumt von Fransenkissen und Tüchern den Esprit von Tausend und einer Nacht versprühte. Da ich keine Anweisung gab, verteilten sich die Mädchen ganz ungezwungen von selbst. Juliana, immer in Gelb gekleidet, setzte sich nach einer freundlichen Nachfrage zu mir. Ihr goldenes Geschmeide klirrte leise um ihre ansonsten unbekleideten Brüste herum.

"Wir haben Euch vermisst, Herr!"

"Ich euch weniger",

gestand ich, doch das überraschte Juliana nicht.

"Es gibt Gerüchte, dass Ihr den Harem auflösen wollt."

Ich beobachtete die blutjunge Michelle, die sich zu den Musikerinnen Petra und Urd gesetzt hatte. Die Kleine war noch so unverbraucht und scheu wie Ellys, als wir das erste Mal in Siebenbürgen aufeinandertrafen. Mir lief das Wasser im Munde zusammen, während ich Juliana das Gerücht bestätigte.

"Aber derselbe Schlingel seid Ihr immer noch. Soll ich sie holen?"

"Ein was bin ich?",

fragte ich, was sie tatsächlich mit einem Unschuldston wiederholte:

"Ein Schlingel, Herr."

"Blickst du gerade begierig auf den kommenden Blutmond?",

hauchte ich mit einem charmanten Lächeln wie aus einem Reflex heraus.

"Ihr habt eben bestätigt, dass mir dafür die Zeit davonläuft, Herr",

lachte sie ausgelassen. Kleines, freches Ding. Ich sah wieder zu meinem Neuzugang, der mich nicht nur auf angenehme Weise an mein letztes Aufeinandertreffen mit Ellys erinnerte.

"Was meinst du? Habe ich Michelle missbraucht, nachdem sie zu uns gekommen ist? Sie war ängstlich und unsicher, ist es auch jetzt noch."

Mit dieser Gesprächswendung hatte Juliana, ihrem verwundeten Gesichtsausdruck nach, nicht gerechnet, sie war aber sehr wohl fähig, adäquat zu reagieren.

"Da hilft nur, sie zu befragen. Ich kann das ganz behutsam tun, wenn Ihr wünscht."

Das tat ich. Juliana verschwand und mischte sich unter die Mädchen. Wie ein Jaguar pirschte sie sich an Michelle heran, mit der sie wenig später die Stufen hinabstieg. Urd stimmte ein sanftes Lied auf ihrer Gitarre an, während die Sonne den Raum in eine sanft rote Dämmerung legte. Dieses märchenhafte Leben kontrastierte meine familiären Pflichten auf maximale Weise. Das war mir zuvor niemals in dieser Klarheit aufgefallen.
 

Juliana kehrte mit Michelle zurück, die sich Tränen aus den Augen wischte. Hatte Ellys also recht damit, dass ich ein selbstgefälliger Teufel war, der bei einer sexuellen Erregung der Frau sofort von einem Einverständnis ausging? Das süße, rothaarige Ding setzte sich allein zu mir, doch ansehen wollte es mich nicht.

"Mein Herr, ich… ich habe gerade mit Juliana gesprochen. War ich… war ich denn wirklich so schlecht? Ich kann mich bessern. Ich lasse mir Tipps von den anderen geben."

Tränen zu verbergen, lag ihr nicht. Ihrer Aussage nach zu urteilen, konnte ich aber von einem Einverständnis zu ihrer Entjungferung ausgehen. Dieses Mädchen war nur unsicher und ich wohl doch kein so großer Tyrann. Ein Stein fiel mir vom Herzen.

"Willst du es wieder gutmachen?",

brummte ich zufrieden.

"Unbedingt! Eure Hände sind so geschickt",

kicherte sie schüchtern. Ich lächelte, denn genau so etwas wollte ich von Frauen hören. Meine Hände sollte sie haben, im Speziellen meinen Mittel- und Zeigefinger. Nach und nach versammelten sich auch die anderen Mädchen um uns. Nun, da hatte ich noch einiges zu tun, immerhin war ich nicht nur lange Zeit abwesend, sondern hatte sie auch zuvor schon stark vernachlässigt. Ein Harem bedeutete Verantwortung für jede einzelne von ihnen und noch hatte ich ihn nicht aufgelöst. Zumindest dieser Pflicht sollte ich ein letztes Mal gerecht werden.

Vicco 5: Verschwörung

Meine ganze Energie in einer Nacht verschossen zu haben, fühlte sich vertraut an. Meine Nerven, die Robert mit seinem gierigen Anspruch auf unsere Frau fast überstrapaziert hatte, beruhigten sich dadurch wieder. Zudem hatte sich endlich diese aufreibende Unsicherheit aus meinem Geist verzogen. Dass Ellys lediglich mein Verhalten verurteilte, mitnichten aber meinen Lebensstil, gab mir die Freude an selbigem zurück.

Zufrieden fuhr ich am nächsten Morgen einige Stockwerke nach unten zum Hauptquartier der Evanes. Xsana, die seit Gründung der Einheit die Leitung innehatte, besaß eine starke Persönlichkeit, der ich mich in den letzten Wochen nur ungern gestellt hätte. Sie durchschaute alles und jeden, wonach mir in meiner unsicheren Phase mitnichten der Sinn stand. Sie, und ebenso alle anderen Agentinnen dieser Spezialeinheit, entstammten ausnahmslos den edelsten Kreisen unserer Vampirgesellschaft und mischten sich unbemerkt unter sie. Aber auch in der Welt der Menschen genossen sie einen hohen Stand.

Ich grüßte meine langjährige Mitarbeiterin April im Vorzimmer und ging direkt hindurch in Xsanas weiträumiges Büro. Sie stand hinter ihrem spezialangefertigten Ebenholzschreibtisch, auf dem mir eine prächtige fuchsiafarbene Orchidee auffiel. Da die schwarzhaarige Schönheit noch ungehalten telefonierte, lauschte ich ihrem Gespräch.

"Nein! Das reicht nicht! Der Auftrag verlangt, dass diese Leute so schnell wie möglich ausziehen!... Dann sorge dafür, dass sie den Bausparer nicht auflösen können!... SchuFa freier Kleinkredit? Willst du mich verarschen? Wenn dir die Ideen ausgehen, dann brenn die Villa eben nieder! Keiner hat gesagt, dass sie es überstehen soll… Ja, … ja, das stimmt… Gut, ich klär das."

Dann schmiss sie das Headset von sich, sah zu mir auf und lächelte mir mit einer heimlichen Hinterhältigkeit entgegen.

"Victor! Schön, dass du mal wieder persönlich vorbeischaust. Sag mal, du weißt nicht zufällig, ob wir das Haus von Ellys Lucards Menscheneltern niederbrennen dürfen?"

Ich hob die Schultern, da ich von diesem Auftrag überhaupt noch nichts gehört hatte. Xsanas edle Erscheinung, verbunden mit dem Blick einer Viper, wollten nicht so recht zu ihrem lockeren Sprachstil passen. In der entsprechenden Gesellschaft passte sie diesen aber selbstverständlich an. Sie kam beschwingten Schrittes um den Tisch herum und setzte dann ihre Finger an meine Weste, über die sie sanft strich.

"Obwohl wir uns im selben Gebäude aufhalten, besuchst du uns immer seltener. Es hat sich vieles getan."

"Sprechen wir nicht über Details. Ich wollte mich nur danach erkundigen, ob ihr zurechtkommt."

Mit einem Hauch des Entsetzens wich sie einen Schritt zurück.

"Oh nein, Victor. So wird das nichts. Die Ereignisse überschlagen sich derzeit."

"Dann fasse dich wenigstens kurz",

seufzte ich, während ich zu ihrem Schreibtisch ging und einige ihrer säuberlich gestapelten Akten betrachtete. Bereits Xsanas Ankündigung genügte, um mich in meinen Harem zurückzuwünschen. Ich ahnte ohnehin bereits, was sie mir zu erzählen ersuchte.

"Seit Beginn unserer Arbeit, haben wir noch nie so viel Bewegung im Untergrund gesehen. Konspirative Beratungen, wo das Auge hinsieht. Mindestens 200 Adelige planen einen Aufstand zur Vollversammlung. 'Kriminalisierung des Volkes' nennen sie die Gesetze. Die meisten unter ihnen sind Mitläufer, die nur eine stärkere Führung benötigen. Ich kann dir nur ans Herz legen, Graf Alucard von einem persönlichen Auftritt zu überzeugen, damit sie sich beruhigen."

Wie erwartet, gestalteten sich ihre Erkenntnisse wenig überraschend. Ich ließ den Blick über ihren ordentlichen Schreibtisch schweifen, auf dem mir die aufgeschlagene Akte über Ellys Eltern ins Auge fiel, die ich nahm und hineinsah. Xsana brachte wenig Verständnis für mein Desinteresse an ihrem Bericht auf.

"Victor!",

ermahnte sie mich und griff nach den Schriftstücken in meiner Hand. Zum ersten Mal sah ich ein Foto von Ellys Mutter und Vater, die optisch nicht die geringste Ähnlichkeit zu ihr aufwiesen. Ich überließ Xsana die Akte, packte dabei ihr Handgelenk und zog sie an mich heran. Gefühlvoll folgte sie mir und verlor dabei den harten Gesichtsausdruck.

"Ich nehme die Sache ernst genug, meine Liebe. Die Vorbereitungen für meine Gegenmaßnahmen sind bereits in vollem Gange."

"Wird unser Graf zu uns sprechen?",

hauchte sie vorfreudig. Dass ich sie dahingehend enttäuschen musste, würde sie noch früh genug erfahren. Ich näherte mich ihr weiter und küsste sie dann. Sie zog ihre Lippen sanft zurück, hauchte meinen Namen erneut, aber diesmal in jenem Tonfall, den ich mir von schönen Damen ihres Standes wünschte. Meine Hände fanden ihre trainierten Innenschenkel. Einen athletischen Körper wie ihren gab es selten unter Vampirinnen.

"Wird er zu uns sprechen?",

flüsterte sie ebenso begierig wie neugierig. Ich kannte diese Taktik. Sie wirkte recht zuverlässig auf Männer, aus denen sie Informationen kitzeln wollte, bei mir allerdings gewiss nicht.

"Lass mich deinen Nektar kosten und ich verrate es dir vielleicht."

Ich hob sie an, setze sie auf ihrem Schreibtisch ab und zog ihr ihre schwarze, hautenge Hose aus. Die Unterhaltung wurde von süßen Seufzern ersetzt, welche sie ihre Frage zunächst vergessen ließ. Bevor ihr diese wieder einfiel, erkundigte ich mich nach Rovas kleinem Forschungsobjekt.

"Wie geht es unserem Hotelgast?"

Da ich meine Tätigkeit nicht länger als für diesen Satz unterbrach, säuselte sie mit hoher Stimme und leicht außer Atem zur Antwort:

"Oh, sehr gut… und er ist amüsant! Er schwört Robert die Treue… und das, obwohl er ihn verraten tat. Ein witziger Bursche… er kann ruhig noch etwas hierbleiben."

Wieder stoppte ich. Diesmal aber von Dauer.

"Habt ihr Gefallen an ihm gefunden?"

Xsana blickte entspannt zu mir herab mit einem Schmunzeln auf ihren fein geschwungenen Lippen.

"Nun, in deiner Abwesenheit war er der einzige Mann im Palast. April und Nina spielen gern mit ihm."

Ich erhob mich, ohne sie zum Abschluss gebracht zu haben. Was dachten sich diese frivolen Weiber nur dabei?

"Er soll hier eine Strafe absitzen!",

raunte ich, doch die Anführerin der Evanes lachte.

"Haha, sie tun mit ihm dasselbe, wie du eben mit mir, Victor. Der Kleine sollte inzwischen ziemlich frustriert sein."
 

Ich beschloss, das unbefriedigte Bürschchen zu besuchen. Rovas Opfer zu befragen, stellte eine meiner wichtigsten Quellen dar, um mich im Bilde zu halten, was dessen Ausschweifungen betraf.

Ohne mich für meinen Abbruch zu verurteilen, schloss mir Xsana eine Sicherheitstür auf, die in einen kleinen Zellentrakt führte. Selbst dieser war vergleichsweise luxuriös ausgestattet und bot einen Blick hinaus aufs Meer. Roberts Proband Null hatte sie allerdings nackt und mit dem Rücken zum Fenster in der Mitte des Raumes mit den Armen nach oben angekettet. Als er mich sah, hob er seinen dunkelblonden Kopf schockartig und fixierte mich danach verängstigt. Ich lächelte dem gepeinigten Jungchen entspannt entgegen. So hatte ich mir das schon eher vorgestellt.

Xsana ließ mich mit ihm allein, während ich ihm in die lichtgeflutete Zelle entgegen ging. Er konnte froh sein, dass die Fenster die UV-Strahlung filterten.

"Und, Junge, gefällt es dir besser bei meinen Mädchen als bei meinem Bruder?"

Er schwieg.

Ich stellte mich neben ihn und löste die Ketten an seinen Handgelenken, woraufhin er auf seine Knie sank und sich leise mit einem "Danke, Hoheit" erkenntlich zeigte.

Ich hockte mich vor ihn.

"Mir ist bewusst, dass du Gerechtigkeit für Sarina verlangt hast. Das mag ein vergleichsweise ehrenvoller Grund sein, um abtrünnig zu werden und doch bleibt es Verrat."

Er schüttelte den gesenkten Kopf, in dem seine Welt wohl etwas anders aussah als meine. Nun, prinzipiell hatte er dasselbe getan wie Daric, der keine weitere Bestrafung erhielt. Ungerecht blieb das Ganze allemal.

"Xsana und die anderen sind nicht zimperlich, habe ich recht? Was mich interessiert, ist Roberts Umgang mit dir. Hat er dich oft besucht? Mit dir auf ähnliche Weise herumgespielt, wie meine Mädchen?"

Erneut schüttelte er den Kopf. Das war interessant.

"Was hat er dann getan?"

Diesmal bekam ich Antwort.

"Er ist mein Herr. Ich gebe... keine Auskunft über ihn. Nicht … nicht einmal Euch..."

Der Bursche schien von Robert konditioniert worden zu sein. Höchst eigenartig, wie er den Verrat unter diesen Umständen begangen haben konnte.

"Hast du ihn nicht wegen Sarinas Tod angeschwärzt?"

Nun brach es mit einem Mal aus ihm heraus. Weiterhin mit Blick auf seine Beine, brüllte er hasserfüllt:

"Nicht ihn, nein! Nur das dumme Gör, die Prinzessin! Sie war es! Sie!"

Oh, nun verstand ich.

"Nicht nur dafür wird sie dich exekutieren. Ich denke, das sollte dir bewusst sein. Hab bis dahin noch ein bisschen Spaß mit meinen Mädchen."

Ich erhob mich und ließ ihn zurück. Zu Rovas sadistischen Neigungen würde ich nichts aus diesem Burschen herausbekommen. Aufschlussreich war mein Besuch bei ihm nichtsdestotrotz. Da ich sein Mysterium auflösen konnte, wurde er aber nun selbst für mich vollkommen wertlos.
 

Xsanas Warnung davor, wie ernst die Lage in Adelskreisen sei, arbeitete deutlich stärker in mir als dieses nutzlose Bürschchen. 200 bekannte Revolutionäre unter 2000 Gästen, die Dunkelziffer hinzuaddiert, ergab weit mehr, als wir in einer Vollversammlung exekutieren konnten, ohne den Aufstand erst recht anzukurbeln. Diese Aussicht löste genügend Unruhe in mir aus, um meine Schwester Magret anzurufen. Ich fuhr hinauf bis zum Dach, entkleidete mich vollständig und legte mich, mit dem Handy am Ohr, auf einen Liegestuhl in die Sonne.

Ich sah hinauf in den wolkenlosen Himmel und berichtete ihr vom Wunsch des Adels, unseren Vater wiederzusehen.

"Meinst du, Rova ist imstande, sie von dieser Forderung abzulenken? Hat er tatsächlich ein so großes Führungspotential entwickelt?",

fragte sie ungläubig. Sie hatte keine Ahnung von seinen riesigen Schwingen und der dazugehörigen zerschmetternden Aura und das sollte auch so bleiben. Ohne diesen Fähigkeiten, wäre ich wohl ebenso skeptisch gewesen wie sie.

"Das wird weniger ein Problem, als ihn von einer Zusammenarbeit mit dir zu überzeugen. Du weißt, wie nachtragend er ist."

Sie lachte warm, etwas, das ich sehr an ihr mochte. Danach sprach sie eine Wahrheit aus, die mir durch sie erst wirklich bewusstwurde.

"Vicco, geht es dir nicht auch manchmal so, als würden wir bei ihm nicht über unseren Bruder, sondern viel mehr über unseren gemeinsamen Sohn sprechen? Er hätte es sogar sein können, wäre ich nicht so stur gewesen. Unser sinnloser Krieg gegeneinander ist durch meine Entscheidung gegen dich ausgelöst worden."

Nachdem sich Vater seine eigene Tochter zur Frau genommen hatte, entwickelte Magret eine derartige Aversion gegen seine Pläne, dass sie ihre junge Liebe zu mir verlor. Was dies betraf, verstand ich sie sehr gut. Allerdings begriff ich erst jetzt, warum sie ihre unreine Tochter von Beginn an als vollwertigen Reinblüter betrachtet hatte. Wenn Elisabeth eines war, dann eine Lucard, egal ob das Blut dieses einfachen Mannes durch ihre Adern floss. Und genau das Gleiche musste ich nun auch meinen Kindern zugestehen.

"Hast du dich dazu entschlossen, es nun doch mit mir zu versuchen?",

hauchte ich scherzhaft und lachte ausgelassen, als sie am anderen Ende der Welt am Telefon ausrastete.

"Baggerst du mich gerade an, Vicco? Ist ja nicht zu fassen!"

Die kleine Schwester zu ärgern, machte eben auch in meinem Alter noch Spaß. Nur zu gern gab ich ihr mehr davon.

"Ich liege gerade allein nackt auf meinem Dach und sonne mich, während ich hier mit dir telefoniere."

Ihre Empörung war unterhaltsamer als jedes Theaterstück.

"Du und deine Marotte. Dunkle Haut an einem Vampir ist doch...-"

"der reinste Luxus. Richtig",

vervollständige ich ihren Satz.

"Warum erzählst du mir das überhaupt? Jetzt stelle ich mir dich bildlich vor. Das muss wirklich nicht sein! Du bist ein fürchterlicher Gesprächspartner, Vicco."

Mein Ziel hatte ich damit erreicht.

"Nur, weil du dringend einen Mann brauchst. Du solltest damit aufhören, die tugendhafte Anführerin zu spielen",

hauchte ich lockend, doch das weckte Erinnerungen in ihr.

"Ich hatte einen Mann, bis ihn unser Vater getötet hat."

"Vor 130 Jahren, Kleines. Sieh dir an, welche Höhenflüge Robert gerade mit deiner Tochter erlebt. Solche Empfindungen könntest du auch haben."

Damit verriet ich ihr, dass mir durchaus bekannt war, wer Ellys in Wahrheit konvertiert hatte. Magret wirkte daraufhin noch verunsicherter als zuvor.

"Vicco, ich musste das tun. Das verstehst du doch sicher. Wie ich dich kenne, wird dein Interesse an ihr ebenfalls sehr groß sein."

Da lag sie goldrichtig.

"Was meinst du, wie meine Chancen bei ihr stehen?"

"Du hast sie im Sturm erobert. Warum sonst hätte sie dich mit knallrotem Gesicht als Teufel bezeichnet? Aber unterschätze Rova nicht und was diesen jungen Diener betrifft, habe ich ebenfalls sehr starke Gefühle bei ihr feststellen können. Mir wäre es lieber, du würdest dich nicht zwischen sie drängen."

Dass Magret etwas in diesem schwarz gekleideten Burschen sah, wunderte mich weniger als ihr Wunsch, mich zurückzuhalten. Aber wenn sie mich ärgerte, stand mir dasselbe Recht bei ihr zu.

"Wenn ich Ellys nicht bekomme, gebe ich mich vielleicht auch mit ihrer Mutter zufrieden."

"Schon wieder! Hör auf damit! Ich bekomme dieses Bild nicht aus meinem Kopf! Was ist nur los mit dir? Wir brechen für heute ab. Ich mische mich in die Vollversammlung und versöhne mich vor aller Augen mit Rova. Die Details besprechen wir, wenn du weniger spitz bist."

Ich lachte, verabschiedete mich und legte auf. Mein Herz war so leicht wie lange nicht. Ich drehte mich zu Juliana, die in gebührlichem Abstand im Schatten einer Palme versuchte, der Hitze zu trotzen und winkte sie heran.

"Mir ist nach einer Frau, die ich schon lange kenne und die mir auch gern einmal die Stirn bietet."

"Eva also?"

Sie klang ein wenig enttäuscht, lief aber los, um dieses wundervolle Prachtweib zu mir zu bringen. Mit dem elegantesten aller Hüftschwünge kam diese einige Minuten später auf mich zu. Ihr rotes Gewand aus halbdurchsichtiger Seide wehte in einer lauen Wüstenbrise. Ihre blond gefärbten, welligen Haare endeten auf Höhe ihres Kinns. Eva war das blasseste Mädchen von allen, das somit nicht zu lange in der Sonne bleiben durfte.

"Ich habe gerade an meine Schwester gedacht",

reichte ihr als Erklärung dessen, was ich mir von ihr wünschte. Meine anhaltende Werbung um Magrets Hand in ihrer Jugend hatte ihre Spuren hinterlassen und meine Lust geprägt. Es dauerte Jahrzehnte, bis ich mir dies selbst eingestehen konnte, doch je stärker sich Eva an Magret annäherte, desto erotischer fand ich sie.

In speziellen Situationen wie dieser erhielt sie damit das Privileg, mich als "Vicco" ansprechen zu dürfen, so wie es meine Schwester tat.

"Du weißt genau, dass ich die Sonne nicht vertrage, Vicco! Lass uns nach drinnen gehen",

spielte sie mit einem wissend heiteren Unterton. Anfangs bereitete ihr diese Rolle Schwierigkeiten, doch inzwischen fand sie große Freude daran, schon weil sie damit eine gewisse Narrenfreiheit genoss. Die echte Magret hätte wahrscheinlich wenig Verständnis gezeigt, ähnlich wie Ellys für ihre Doppelgängerin.

Elisabeth so plump zu ersetzen, kam mir dagegen nie in den Sinn. Zu groß war der Schmerz, den sie mir bei unserer Trennung zugefügt hatte, dieses kleine über alles geliebte Biest.

Ich genoss meine Freizeit mit Eva, bis ich zum arbeitsreichen Teil des Tages übergehen musste. Es gab Einiges vorzubereiten.

Vicco 6: Synthese

Meine erste Konkubine Sylvia bewies großes Organisationstalent damit, nach nur drei Tagen eine vollständige Familienzusammenführung verwirklicht zu haben. Insgesamt 25 Personen zählte ich zu meiner Familie, denen ich nun Rede und Antwort zu stehen hatte. Ein denkwürdiger Tag, der mir alles andere als leichtfiel.

Der komplette Harem, all meine Kinder, sowie ihre Mütter erschienen pünktlich kurz vor Sonnenuntergang um 18 Uhr abends im Theater des Wüstenpalastes. Die sonst blickdicht verschlossenen Vorhänge links und rechts der Bühne hatte ich öffnen lassen, damit mich die flamingorote Sonne ins rechte Licht rücken würde. Wenn ich etwas meisterhaft beherrschte, dann das Publikum durch fein abgestimmte Rahmenbedingungen in die gewünschte Stimmung zu versetzen.

Meine Familie machte es sich auf den ersten Stuhlreihen bequem, während ich mir vom Rand aus einen Überblick verschaffte. Die meisten Frauen wirkten beunruhigt, die Kinder, je nach Alter, angespannt oder quirlig. Komplett überdreht sprangen meine beiden fünfjährigen Töchter, die im Palast lebten, um mich herum. Ich interagierte üblicherweise nur minimal mit ihnen, was sie nicht im Geringsten davon abhielt, mich dennoch immerzu auf diese aufgeweckte Weise zu empfangen.

Octavian, mein ältester Sohn, saß mit verschränkten Armen und übereinander geschlagenen Beinen in der Mitte der ersten Reihe. Nicht nur sein halb offenes Hemd, auch sein halblanges, hellblond gewelltes Haar und der entschlossene Blick bewiesen mein Zutun bei seiner Zeugung. Zweifellos musste man ihn als Lucard durch und durch bezeichnen, der nicht nur die Aufmerksamkeit meiner aktuellen und früheren Mädchen, sondern auch die seiner Schwestern auf sich zog. Meine 17-jährige Tochter Sophie, die von der klugen Denkerin Estella stammte, schien mir in einer adoleszenten Schwärmerei für meinen Erstgeborenen aufgegangen zu sein. Mit hochrotem Gesicht saß sie neben ihm und stellte ihm allerhand Fragen. Wahrscheinlich begegnete sie ihm an diesem Tag zum ersten Mal. Evas erwachsene Töchter Miriam und Jasmin zählte ich dagegen eher zur angespannten Sorte.

Mein zweitältester Sohn Julius verhielt sich, mit seinen 19 Jahren, weniger selbstbewusst als ich in seinem Alter. Trotz einer blonden Strähne, die dem Jüngling über den Augen hing, bemerkte ich, wie konzentriert er an mir vorbeischaute. Für ihn war ich Luft. Ich hoffte, meinen Stand bei ihm verbessern zu können. Ein Leben in Ablehnung ließ sich aber sicher nicht durch einen Tag der Reue sühnen.

Meine 15-jährigen Zwillingsbuben Augustin und Vitto wirkten so interessiert an der Veranstaltung, dass sie sich von nichts beirren ließen, auch nicht von ihrem 12-jährigen Bruder, der sich aus der Reihe dahinter zu ihnen beugte und ihnen wild gestikulierend von seinem neuen Hobby, dem Surfen, erzählte. Die Mütter meiner beiden jüngsten, darunter Eva, saßen nebeneinander und unterhielten sich, während die Kinder in ihren Armen zappelten, da sie wohl viel lieber durch den Raum gestiefelt wären.

Dies alles bot mir einen unglaublichen Anblick, der mein Herz zugleich mit Liebe und Scham erfüllte. Wie war es mir all die Jahre möglich gewesen, meine Augen vor diesen wunderbaren Kindern verschlossen zu halten, nur weil sie nicht von Frauen adeliger Abstammung geboren worden waren? Welch blinder Egozentriker ich war, der so vieles wieder gutzumachen hatte.
 

Ich schickte meine zwei kleinen Töchter zu ihren Müttern und begann zu meiner Familie zu sprechen. Dazu betrat ich freilich nicht die Bühne, sondern positionierte mich auf Augenhöhe direkt vor der ersten Sitzreihe. Selten spürte ich eine derart intensive Aufregung in meiner Brust wie vor dieser Rede. Zunächst bedankte ich mich und klärte meine Familie dann über den wahren Existenzgrund meines Harems auf: Realitätsflucht vor den Pflichten des SOLV, vor der Liebe und, allen voran, Flucht vor Verantwortung.

"Mein zwanghafter Wunsch, mir Frauen Untertan zu machen, resultierte aus Elisabeths Ablehnung. Nun ist sie in Ellys reinkarniert und hat mir den Spiegel vorgehalten, in welchem es mir nichts Gutes reflektierte. Seit nunmehr 35 Jahren erniedrige ich euch, um mich selbst zu erhöhen, begonnen mit dir, Sylvia. Aus unserer Verbindung ging einer der willensstärksten Männer hervor, die ich kenne, unser wunderbarer Sohn Octavian Lucard."

Er löste bei der Nennung des Nachnamens die Verschränkung seiner Arme. Wahrscheinlich hielt er diese Veranstaltung für eine reine Lobpreisung meiner Familie, damit ich mich besser fühlte. Den wahren Hintergrund meiner Familienzusammenführung stellte er erst jetzt so langsam fest.

Ich ging die Namen jeder einzelnen Frau und jedes Kindes durch und zählte auf, was sie besonders machte. An jeden Namen meiner Söhne und Töchter hing ich den Nachnamen Lucard. Nicht wenige Tränen glänzten mir wie Rosenquarz im warmen Licht des Sonnenuntergangs entgegen, wenngleich mein zweiter Sohn Julius seinen Kopf kein einziges Mal zu mir angehoben hatte. Nicht einmal, als ich seinen Namen nannte. Inzwischen drückte er lediglich seine weinende Mutter an seine Schulter.

"Zudem ist der Harem vom heutigen Tage an aufgelöst. Jede Frau, jeder meiner Söhne und jede Tochter erhält ein eigenes Quartier im Palast, wenn er oder sie dies möchte, zusammen mit einer angemessenen finanziellen Unterstützung. Ihr alle dürft mich jederzeit besuchen, mir von eurem Leben erzählen, doch ohne Zwang. Und diese letzten Worte richte ich insbesondere an meine Kinder. Ihr seid mir wichtiger, als ihr denkt, deshalb möchte ich keine Versöhnung diktieren. Entscheidet selbst, ob ihr mich als euren Vater annehmen möchtet. Obendrein besteht keine Eile. Mein Angebot hat kein Ablaufdatum. Ich liebe euch, doch die Welt steht euch offen, ebenso wie eure Ablehnung."

Damit war ich am Ende meiner Rede angekommen. Fast alle Mädchen meines aktuellen Harems wirkten entsetzt. Trotz meines repressiven Umgangs mit ihnen schien meine Entscheidung nicht in ihrem Sinne zu sein. Den älteren Kindern, insbesondere meinen Söhnen und meinen ehemaligen Frauen sah ich an, dass ihnen etwas zu fehlen schien. Aber was? Aufklärung, persönliche Erwähnung, Ehrerbietung, Demut und Unterstützung waren in meiner Rede enthalten. Was also wollten sie noch von mir hören?

Ich sah fragend zu Sylvia und danach zum neben ihr sitzenden Octavian, der mit ernster Miene den Kopf schüttelte. Nicht einmal ihn konnte ich von meiner Reue überzeugen. Er stand auf, stellte sich neben mich und übernahm das Wort, allerdings nicht an mich gerichtet, sondern in Richtung seiner großen Familie.

"Seid ihr glücklich damit? Mutter? Alle Frauen, die im Wunsch, ihren Sohn selbst zu erziehen, den Harem verlassen mussten, weil Vater keine Männer im Palast duldet? Was ist mit dir, Julius? Also ich bin es nicht! Das Schlimmste dabei ist, seht ihn euch an. Er weiß nicht einmal, wo das Problem liegt!"

Julius sah endlich in unsere Richtung. Seine Augen waren dunkel bemalt wie die meinen, doch leider voller Zorn. Sylvia flüsterte halblaut nach vorn zu ihrem Sohn ein ungehörtes:

"Lass gut sein, Octavian."

Danach adressierte mein Junge mich direkt.

"Ich will es dir verraten, Vater. Ich gebe nichts auf deinen ach so edlen Namen, wenn du nicht einmal eine gescheite Entschuldigung über die Lippen bringst. Hast du eine Idee, welche Ungerechtigkeit, du meinen Geschwistern und unseren Müttern angetan hast? Ich bezweifle es. Weißt du was!? Du kannst dich zum Teufel scheren!"

Entschuldigen?! Nicht er auch noch! Wie denn, bitte schön? Wie sollte ich mich für meinen Charakter entschuldigen? Ich sah in die skeptischen Gesichter meiner Familie, die teilweise unverhohlen zustimmte. Zweifellos stellte eine geheuchelte, verlogene Entschuldigung keine Herausforderung dar, doch war sie auch mehr als unangemessen. Schließlich wusste ich von Ellys, dass es sich dabei um eine Frage des Respekts handelte. Sühne musste von Herzen kommen, wahrhaftig sein, wie die Liebe, die ich für sie alle empfand.

Julius verlor die Geduld. Er erhob sich und wandte sich von mir ab, sicher, um das Theater zu verlassen. Er hatte die Hoffnung in mich offensichtlich aufgegeben, ich die meine in ihn aber nicht.

"Warte noch einen Augenblick, Julius! Octavian, … begreife doch, dass es mit einer einfachen Entschuldigung mitnichten getan ist. Ich verlange nicht, dass ihr mir meine törichten Fehler verzeiht. Das halte ich für unmöglich! Sicher würde ich mit meinem heutigen Wissen manches anders machen, meine Entscheidungen vor dreißig Jahren bleiben dennoch unabänderlich. Und nun sage ich euch etwas, das aus tiefster Seele kommt. Obgleich ich Fehlentscheidung getroffen habe, bin ich überglücklich, dass ihr dabei entstanden seid. Endlich begreife ich, welch unbezahlbare Juwelen ich mit euch erschaffen habe. Als meine Familie steht es euch frei, meine Reue und auch mich so annehmen, wie ich jetzt bin. Wisset also, dass ich ab sofort zu euch stehen werde, egal, welche Entscheidung ihr für euch trefft. Julius, ... Ich verstehe es, wenn ich dir egal bin. Aber du bist mir gewiss nicht egal und wirst es auch niemals sein. Selbst wenn du gehst, kannst du jederzeit zurückkehren."

Vergebens. Er hob seinen Kopf kein weiteres Mal, sondern ging hinaus. Seine Mutter sah ihm nach, blieb aber beim Rest der Gruppe. Octavian hatte ich hingegen überzeugt. Er klopfte mir auf den Rücken und sagte voller Anerkennung:

"Na, wenn das mal keine anständige Entschuldigung war. Damit lässt sich arbeiten."

Ich kniff die Augen zusammen, denn eigentlich sollte es keine sein, wenngleich ich darin ein hohes Maß an Reue gezeigt und Fehler eingestanden hatte. Mein Ältester umarmte mich. Sofort liefen meine beiden 5- jährigen Töchter erneut auf mich zu und klammerten sich an meine Beine.

Ich hatte schon viele bewegende Dinge erlebt, viele angenehme Erfahrungen gemacht, aber das Gefühl, von meiner großen Familie geliebt zu werden, stellte alles andere in den Schatten. All die Zeit trauerte ich einer Familie nach, die mir mit Elisabeth zu gründen, verwehrt geblieben war, ohne zu bemerken, dass ich schon längst eine hatte.

Ich strahlte vor Freude, bis ich ein niedliches Stimmchen unter mir kichern hörte.

"Guck mal Mama, Papa weint!"

Alex Bonus: Der Adjutant des Königs

Die Vollversammlung hatte es verdammt nochmal viel heftiger in sich, als ich mir das hätte ausmalen können. Die miese Vorahnung, dass es nicht laufen würde wie geplant, hatten wir alle, aber damit, dass Rova seine krank mächtigen Flügel auspackt, hatte zumindest ich nicht gerechnet. Vicco, dem ich kein Stück über den Weg traute, schien damit gepokert zu haben. Aber auch, wenn er es provoziert hatte, hätte er nicht verhindern können, dass Rova entweder ein verdammtes Blutbad anrichtet oder einfach vor seiner Verantwortung davongerannt wäre. Tse, im Abhauen waren alle Lucards wahre Meister. Ohne Lyz wäre eines der beiden Szenarien hundertpro eingetreten.

Meinen Kniefall als Waffe gegen Rovas Stolz einzusetzen, war zwar auch nicht gerade die feine Englische, tat aber ihr Übriges, um Rova den nötigen Arschtritt zu verpassen und endlich einzusehen, dass nur er an die Spitze gehörte.

Sein zynischer Gedanke, ich hätte es auf eine Adjutantenstelle neben ihm abgesehen, weckte Begehrlichkeiten in mir. Klar hatte ich vor, sein Berater zu werden, aber doch kein Politischer. Da er es jetzt aber ausgesprochen hatte, mochte ich die Idee. Rova zu unterstützen, war nicht mehr und nicht weniger als meine Bestimmung. Nur weil mein Weg steinig gewesen sein mochte und mich einige Male fast umgebracht hatte, verlor ich doch meinen Antrieb nicht. Das war unmöglich. Als Motor brauchte ich eigentlich nur meine anhaltende Bewunderung für Rova. Seine immense Macht, aber auch die Art, wie er auftrat und sprach, hatten nicht die geringste Faszination auf mich verloren. Dieser Mann war einfach großartig und spannenderweise stand inzwischen auch ich hoch im Kurs bei ihm. Anders konnte ich mir nicht erklären, was er noch am Abend der Vollversammlung tat.

Ich dachte erst, ich hätte einen Hirnschaden von seiner Machtdemonstration davongetragen und würde halluzinieren, doch er erhob mich, noch im Beisein seiner Familie, zu seinem amtlichen Berater. Lyz klappte die Kinnlade herunter, Vicco hingegen, dem der Posten wohl ursprünglich versprochen worden war, verließ das Apartment in der Elbphilharmonie erbost mit den Worten:

"Das kann nicht dein Ernst sein!"

und knallte die Tür hinter sich so heftig ins Schloss, dass ein daneben hängendes Bild, auf dem die Hamburger Speicherstadt zu sehen war, fast von der Wand flog. Jap, er hasste mich genauso sehr wie ich ihn. Rova grinste. Er liebte es, seinen Bruder zu verärgern, weil eben dieser, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, hinter Magnas Auftritt steckte.

"Ich hole ihn zurück",

lachte seine Schwester freundlich, der ich immer noch skeptisch gegenüberstand. Mein ganzes Leben lang hatte ich sie als Feindbild número uno betrachtet und nun fiel es mir schwer, das einfach abzulegen. Selbst wenn sie sich in L.A. als zuverlässig erwiesen und Lyz freigelassen hatte, traute ich ihr kein Stück über den Weg.

Ich ließ mich nun auf dem hellgrauen Sofa neben dem Prinzesschen nieder, die nun zwischen mir und meinem Herrn saß, oder jetzt wieder Chef... Was für eine Ehre… So still, wie sie blieb, schien sie noch nicht wieder ganz zu sich gefunden zu haben. Ihre Erkenntnis, mehr von Elisabeth in sich zu tragen, als sie wahrhaben wollte, das Wiedersehen mit ihrer Mutter und Rovas Aufstieg waren auch echt ein bisschen viel auf einmal. Zugegeben schockte mich die Radikalität, die sie in letzter Zeit an den Tag legte, aber sie arbeitete hart an sich. Ich würde sie schon wieder hinbiegen. Nach ihrem Underdog-Dasein über das Ziel hinaus zu schießen, sollte ja wohl erlaubt sein. Nachdem ihr die ganze Familie Unterstützung zugesichert hatte, war die Maus heftig in Tränen ausgebrochen, aber sie machte im Grunde einen zufriedenen Eindruck.

"Warst du auch darin verwickelt?!",

ging Rova seinen ältesten Bruder an. Daric, der uns gegenübersaß, antwortete ruhig und bedächtig.

"Nein, Robert. Selbst wenn, hätte dieses Vorhaben keine Unterstützung von mir erfahren. Nichtsdestoweniger sehe in dieser Entwicklung ein Fenster, uns die Neue Welt zurückzuholen."

"Das sehe ich auch und mit Zufall hat das wenig zu tun. Ich fühle mich übergangen. Vicco hat am Ende mit seiner Strippenzieherei über uns beide triumphiert. All die Jahre haben wir ihn überstimmt und nun müssen wir uns seinem Willen zur Lockerung der Gesetze beugen. Den Beraterposten kann sich dieser manipulative Hedonist in seine lockigen Haare schmieren."

Oha, deshalb war die Stelle also frei. Mein Chef stand danach auf, ging zum Panoramafenster mit Ausblick auf die schwarze Elbe und das nächtliche Hamburg und griff sich denkerisch ans Kinn. Lyz sah mich fragend an, gerade als Magna und Vicco wieder zu uns stießen. Rova drehte, in derselben Pose verbleibend, den Kopf zu den beiden.

"Ich setze den Familienrat in ursprünglicher Konstellation wieder ein. Lyz erhält Elisabeths frühere Position. Alexander wird stiller Berater. Alucard entfällt. Ich will wöchentliche Meetings, von mir aus auch online. Das ist keine Bitte"

"Du nimmst mich wieder auf?",

quiekte Magna heiter und lief zu Rova, dem sie sofort um den Hals sprang. Unfassbar! Dieser Moment war historisch und ich durfte ihm beiwohnen. Rova schloss damit nicht nur Frieden mit den Traditionalisten, er verband sich wieder mit ihnen zu einer einzigen Vampirgesellschaft, als hätte es nie Krieg gegeben.

Wie krass! Aber, was… sollte ich davon halten?
 

Für unsere allererste Ratsversammlung eine Woche später bequemten sich alle Lucards in Rovas halb verfallene Villa. Mit Ausnahme von Vicco konnte jeder von ihnen auf eine Zeit zurückblicken, in der er selbst dort gehaust hatte. Dementsprechend kannten sie sich aus, auch wenn sie sich seit Ewigkeiten nicht blicken ließen. Ich war mir fast sicher, den Tadel in ihren Gesichtern zu erkennen, als sie den miserablen Zustand des Anwesens bemerkten. Die Parallelen zum Verfall von Schloss Bran waren frappierend.

Interessanterweise kamen sämtliche SOLV Mitglieder der Niederlassung an diesem Tag rein zufällig vorbei. Sie alle hatten Daric, Vicco und vor allem Magna noch niemals mit eigenen Augen gesehen und mir oblag nun die Ehre, alle Gaffer aus dem Gebäude schmeißen zu dürfen. Supernervig. Sogar Angeline musste ich nach Hause schicken.

Wegen Magna, die den UV-Blocker ablehnte, schlossen wir die verstaubten Vorhänge und schalteten den Kronleuchter ein, der dem Saal eine mystische Atmosphäre einhauchte. Die Lucards nahmen zusammen an der Mahagoni Tafel Platz, an der sonst die SOLV Versammlungen abgehalten wurden. Rova saß wie gewohnt am Kopf der Tafel, Lyz und ich auf der einen, seine Geschwister auf der anderen Seite. Lyz neben mir verhielt sich ziemlich hibbelig, wohl auch, weil sie zwar eine klare Meinung vertrat, sich ihrer Position im Rat aber nicht richtig bewusst war. In der Nacht zuvor hatte sie mir obendrein anvertraut, dass sie sich vor einem Ausbruch Elisabeths fürchte und deshalb versuchten würde, sich zu zügeln. Das tat ihrer ohnehin schon zurückhaltenden Persönlichkeit nicht allzu gut.

Während der folgenden Diskussion erfuhren wir einiges über die Traditionalisten. Nicht wenige von ihnen lebten mit offiziell gemeldeten menschlichen Partnern zusammen, von denen maßvolles Trinken nach eigenem Ermessen erlaubt war, solange es ungefährlich blieb. Wer keinen Partner hatte, bekam etwas aus der sogenannten "Blood Bank", die, genau wie Rova es mir erzählt hatte, aus Häftlingen gespeist wurde, also aus Menschen, die uns Vampire verraten hatten. Rova hakte an dieser Stelle in die Erklärung seiner Schwester ein.

"Über wie viele Insassen sprechen wir im Vergleich zu Vampiren ohne Partner?"

Vicco wandte seinen Blick von Rova in diesem Moment verdächtig ab, während Magna nervös zu blinzeln begann und sich die Haare hinter ihr Ohr strich. Offenbar klaffte da eine beträchtliche Versorgungslücke, die Rova ansprach.

"Nun verstehe ich, wohin mein werter Bruder die kaum genießbare C- Ware des SOLV entsorgt. Bevor ich einen weiteren Verrat aufdecke, solltet ihr es selbst tun!"

Magna legte die Hände flach auf den Tisch. Ihre Aura und ihr Geruch verrieten Anspannung.

"Naja, … du kennst meinen Führungsstil. Viel Nachsicht, viel Verständnis, aber wenn jemand partout nicht danach Leben wollte, wenn er gejagt hat oder uns als Gesellschaft bedroht, habe ich ihn anonym dem SOLV gemeldet."

Daric schaltete sich ein.

"Mit anderen Worten, du hast mich deine Drecksarbeit erledigen lassen."

Schuldbewusst zuckte sie mit den Schultern und nickte, allerdings mit einem so aufrichtigen Gesichtsausdruck, dass man mindestens ein blinder Tyrann sein musste, um ihr weitere Vorwürfe zu machen.

"Könnte man so sagen, ja. Bestrafung liegt mir nicht."

Nachsicht und Verständnis, uneingeschränkte Liebe zwischen Vampiren und Menschen… Scheiße, das Traditionalistenleben klang in meinen Ohren wie das Paradies auf Erden. Der SOLV herrschte dagegen mit Hilfe schwerster Strafen, schürte Hass gegen die Abtrünnigen und ich hatte jede Hetze für bare Münze genommen. Pete lag nicht verkehrt, als er mich zu ihnen einlud. Sie wären eine echte Alternative für mich gewesen. Seinen Mordversuch an Lyz vergaß ich deshalb trotzdem nicht.

Hin und weg vom Konzept Mutter, saß mein Prinzesschen neben mir und strahlte Magna an wie gleißendes Licht. Die Kleine wirkte glücklich wie nie. Nicht nur ich, sondern auch sie hatte ein völlig anderes Bild von Magnas Führungsmethoden und war nun angenehm überrascht, dass Rova nichts Wesentliches schlechtredete. Seine Hetzpropaganda saß in unseren Köpfen fest und war nur schwer durch die Wahrheit zu verdrängen.

Lyz nach meinem monatelangen Aufbauprogramm wieder so geknickt zu erleben, machte mich echt fertig, deshalb freute ich mich, als sie etwas zum Gespräch beitrug.

"Als ich noch ein Mensch war, hätte ich mir nichts Schöneres vorstellen können, als Rova von mir trinken zu lassen. Ich war traurig über die Ablehnung, die er mir entgegengebracht hat, deshalb gefällt mir die Idee, feste Beziehungen anzumelden. Können wir die SOLV Niederlassungen nicht in so etwas wie Prüfstätten solcher Verbindungen umwandeln?"

Ich sah Zweifel in Darics Augen, doch nur Rova wagte sich, seiner Frau zu widersprechen.

"Wirklich neu ist das Konzept auch für uns nicht. Gemischte Beziehungen werden bereits vom SOLV erfasst und überwacht. Es macht den Leuten nur keinen Spaß, ohne die Gesetze zu missachten und das ist durchaus so beabsichtigt. Menschen in unsere Geheimnisse einzuweihen, stellt ein immenses Risiko für uns dar. Die Verantwortung bei der Auswahl ist enorm. Gib uns deine Expertise, Magna. Wie handhabst du das?"

Vicco drängte sich besserwisserisch dazwischen, bevor Magna ihre Erfahrungen kundtun konnte.

"Wenn wir diese Änderung nicht einführen, gibt es einen Bürgerkrieg."

"Das sehe ich auch so. Tatsächlich beschäftigt sich ein kleiner geschulter Stab mit nichts anderem, als jede Verbindung inklusive ihrer vollständigen Hintergründe zu durchleuchten. Das alles läuft diskret ab und wird von uns sehr aufwendig betrieben."

Diese Tante war doch verrückt! Wer sollte denn sowas stemmen? Auch Rova erinnerte sie daran.

"Also ähnlich umfangreich wie beim SOLV. Nur reden wir jetzt von 220.000 Vampiren, die einem Partner hinterherhecheln, Magna, nicht mehr von 15.000. Ich kann mir vorstellen, dass sich dein romantisches Herz die tollsten Liebesgeschichten ausmalt, doch das ist nicht der Punkt. Sich einen eigenen Menschen zu halten, wird zum Trend werden und wir ertrinken in Arbeit."

Lyz sah ihn ernüchtert an.

"Aber bei den Traditionalisten ist es doch auch normal. Vielleicht müssen wir es nur langsamer angehen. Schrittweise."

"Dann wird ein Mensch zum Luxusobjekt der Privilegierten",

ergänzte mein Chef nun. Daric, der Menschen nichts abzugewinnen wusste, zweifelte ebenfalls.

"Obendrein, wer sollte eine Behörde dieses Umfangs einrichten und leiten wollen?"

Nachdem die drei Brüder daraufhin begannen, sich gegenseitig den schwarzen Peter zuzuschieben, spürte ich Magnas Blick auf mir.

"Das kann eine Weile dauern. Ich würde gern draußen ein paar Worte mit dir wechseln."

Ich warf einen Blick zu Lyz, die in die sinnlose Diskussion vertieft war, aber leider nichts mehr beitrug. Tja und ich als stiller Berater hatte vor allem eine Aufgabe: Klappe halten, also sprach nichts dagegen, Magnas Bitte nachzukommen. War schon nicht uninteressant, zu wissen, was sie von mir wollen könnte. Den sich nur noch im Kreis drehenden Lucard Brüdern zuzuhören, hatte sowieso nur ein Resultat zur Folge, Kopfschmerzen von ihrem Geheule.
 

Ich gab Lyz Bescheid, die nur nebenläufig nickte und ließ sie dann mit den Streithähnen zurück. Mein Lieblings-Lucard Vicco warf mir beim Rausgehen noch einen hübsch argwöhnischen Blick zu, den ich so langsam zu genießen wusste. Ganz genau, du arroganter Fatzke, ich war nicht mehr nur Lyz Freund und Rovas Berater, auch Magna wollte mit mir sich unter vier Augen unterhalten. In your face!

Meine Begleitung sah zu mir und kicherte. Ihr fiel unsere Rivalität anscheinend auf.

"Er kann dich deshalb nicht ausstehen, weil du Els Vater, also meinem verstorbenen Mann Marcos, in gewisser Weise ähnelst."

Hopsa. Von Magna mit einem Mann verglichen zu werden, den sie einmal geliebt hat, war ein krasses Kompliment, für das ich mich verlegen bedankte. Ihre Persönlichkeit haute mich aus den Socken. Nach unserem ersten Aufeinandertreffen in L.A. hatte ich sie mir total anders vorgestellt. Mann, sie verkörperte mein Leben lang DAS Feindbild schlechthin. So nett durfte sie einfach nicht sein.

"Ich habe zu danken, Lex. Ich darf dich doch so nennen? Du gibst meiner Tochter Halt und tust auch Rova gut. Du weißt nicht, wie sehr es mich freut, die beiden so glücklich zu sehen. Ich glaube, dein Anteil daran ist nicht ganz unerheblich."

Ja okay, das sah ich genauso, sagte ich ihr aber nicht und gegen den Kosenamen hätte ich selbst dann nicht protestieren können, wenn ich gewollt hätte.

Wir gingen zum Flur, wo sie ihre Hand auf jener Holztür ablegte, die zu Rovas Forschungslabor im Keller führte.

"Wieder hier zu sein, ist nicht ganz einfach für mich. Dort unten ist El gestorben und nun kommen die Erinnerungen hoch",

erklärte sie ihren Zwischenstopp mit brüchiger Stimme, bevor sie einen Augenblick lang andächtig verweilte. Sie blieb auch weiterhin dort stehen, als sie ein neues Thema ansprach, das vielleicht ihr wahrer Grund war, aus dem sie mich aus dem Gockelkampf entführt hatte. Ihrem Ausdruck zufolge lastete diese Sache ähnlich heftig auf ihr wie ihr Verlust.

"Es ist das erste Mal, dass sich Rova verhandlungsbereit zeigt. Es gefällt mir nicht, wohin sich die Diskussion entwickelt hat. Lex, er darf nicht in alte Muster zurückfallen. Wenn er engstirnig an den alten Gesetzen festhalten will, zerbricht unsere Allianz sofort wieder."

"Du versuchst mich für dich zu gewinnen, klar, versteh ich, aber ich sehe auch Chaos nach der Lockerung auf uns zukommen. Eine strenge Hand hat was für sich. Ich habe Rova dafür immer verteidigt. Ich meine, das war mein Job",

bremste ich sie. Nun setzte sie ihren Weg durch den Gang fort. Sie respektierte mein Argument, zerschlug es jedoch schnell.

"Hast du das auch so gesehen, als Lyz noch ein Menschenmädchen war?"

Mein wunder Punkt.

"Das war 'ne schwierige Phase, die ich mit Ach und Krach hinter mich gebracht hab. Mehr sag ich dazu nicht. Jetzt entwickelt sich das Prinzesschen so rasant, dass ich kaum noch mitkomme."

Nun lächelte sie breit und schob wieder einmal ihre dicke Locke hinter das rechte Ohr, wo sie nicht hielt. Vielleicht sollte ich ihr mal eine Haarspange schenken.

"Schon in Ordnung. Deine Antwort sagt mehr aus, als du vielleicht denkst, Lex. Danke. Lyz verändert sich also? Das kann nur bedeuten, dass sie von ihrer menschlichen Seite daran gehindert wurde, sie selbst zu sein. Menschen bauen sich Käfige. Das werde ich nie verstehen. Aber, warum siehst du so besorgt aus?"

Besorgt? Shit. Pokerface Fehlanzeige. Da wir fast am Ende des Gangs angelangt waren, blieb ich stehen und lehnte mich dem Rücken an die Wand. Eine ziemlich blöde Idee, weil ich damit mein schwarzes Hemd, nein, ich trug diesmal kein Bandshirt, mit weißem Putz einsaute. Scheiße.

Magna lachte belustigt und klopfte mir den Rücken ab, aus dem der pulverartige Putz in Wölkchen aufwirbelte. Zu antworten brauchte ich nicht. Magna las mir an der Nasenspitze ab, was in mir vorging.

"Lex, sorg dich nicht zu sehr um Lyz. Vicco sagte vor ein paar Monaten zu mir, sie sei, wie Elisabeth hätte sein sollen. Ich glaube, daran bist du nicht ganz unschuldig. Wäre Marcos in Els Jugend bei ihr gewesen, hätte sie das ausgeglichener gemacht. Besonnene Männer wie ihr bringen Gleichgewicht in unser Leben als Lucard Frau."

Besonnen? Ich? Na, das hatte noch keiner zu mir gesagt. Ohne mich damit überschätzen zu wollen, hatte ich aber auch den Eindruck, dass ich massiv in Lyz' Entwicklung Eingriff. Magnas Bestätigung tat richtig gut. Sie deckte mir damit unerwartet stark den Rücken.

Sie hielt nun wieder auf den Raum am Gangende zu. Ich fragte sie, ob sie ihn betreten wollte. Da sie nickte, flitzte ich hinein, schaltete den elektrischen Kronleuchter ein und schloss schnell die muffigen violetten Vorhänge. Magna folge mir und ging direkt zum einzigen Möbelstück, der alten Couch, über deren Lehne sie eine Hand gleiten ließ. Das Teil hatte auf Garantie Elisabeth gehört, so übertrieben, wie auch Rova daran hing. Dieser Ort weckte aber auch einige meiner intensivsten Emotionen. Ich schloss kurz die Augen.

"In diesem Raum ist Sari gestorben",

erklärte ich. Diese Villa hatte zwei von drei Lucard Frauen auf dem Gewissen... heftig. Magna ließ den Kopf sinken.

"Sarina, Darics Tochter. Ich habe sie nie kennenlernen dürfen. Manchmal vergesse ich, dass er den gleichen Verlustschmerz durchleidet wie ich einst."

Ihrem ältesten Bruder stand sie scheinbar nicht besonders nahe. Einen Moment lang blieb sie einfach nur stehen. Dann drehte sie sich zu mir, lächelte mich mit Tränen in den Augen an und rief wie aus dem Nichts:

"Mach mir einen prächtigen Enkel, Alexander!"

Moment!

"ICH?",

prustete ich direkt. Was ging denn mit der? Wenn, dann war es ja wohl an Rova, Lyz mit Nachwuchs zu beglücken.

"Natürlich du! Oder willst du, dass der Plan meines Vaters am Ende doch noch aufgeht?"

Der Plan ihres Vaters, Graf Alucard? Meinte sie, den Erhalt der lucard'schen Blutreinheit, den er auf Schloss Bran erzwingen wollte? Sah mich Magna als Werkzeug, um ihrem Vater eins reinzuwürgen? Alter!

Wenn sie gewusst hätte, dass ich schon ewig von einem kleinen Alex-Lucard Hybriden träumte… Egal! So etwas musste von Lyz kommen und nicht von ihrer Mutter.

Die Lucard lachte mich nun entweder an oder aus.

"Hat es dir die Sprache verschlagen?"

"Ja, nein, ach!",

stammelte ich. Mag ging an mir vorbei und zwinkerte mir zu.

"Sieh in mir eine Freundin, Lex. Es ist so. Ich liebe meine Brüder, aber meine Tochter liebe ich noch mehr. Mach sie glücklich und verhindere unsere Trennung, ja? Deshalb hilf mir bitte, die Situation da drinnen zu entspannen. Wir dürfen die Breite unserer Gesellschaft nicht für das kriminalisieren, was sie ist, sondern müssen ihnen Auswege schaffen. Dann wird sich alles entspannen, du wirst sehen."

Ich verdeckte meine Augen mit einer Hand.

Ich wusste, Lyz war dafür. Es sprach also nichts dagegen, außer meinem sturköpfigen Festhalten an dem, was ich mein Leben lang gelernt und respektiert hatte. Ganz egal, wie skurril er manchen erschien, war Rovas Führungsstil mein Ideal. Ich verehrte ihn für seine unnachgiebige Stärke schon seit ich denken konnte. Scheiße, tat es weh, meine verbissenen Überzeugungen loszulassen. Diese Entscheidung fühlte sich an, als müsse ich mir ein Stück meiner Identität ausreißen.

Meine Hand glitt hinunter zu meinem Mund.

"Weißt du eigentlich, was du da von mir verlangst?"

Sie schüttelte mit ernstem Ausdruck leicht den Kopf.

"Wenn ich dich so ansehe… mehr, als ich erwartet hätte. Entschuldige bitte, Alexander. Ich respektiere deine Entscheidung."

Respekt? Ne, oder? Hatte sie sich gerade aufrichtig bei mir entschuldigt? Das konnte nicht sein. Außer Lyz hatte das noch kein Hochadliger vor ihr getan. Hinterlist traute ich ihr aber auch nicht zu, oder hatte sie mich nur mit ihren Komplimenten umgarnt? Wie eine Lügnerin kam sie mir aber auch nicht vor.

Ich atmete tief durch und fuhr mir durch die Haare.

"Ich will ganz ehrlich sein, Magna. Du verwirrst mich. Deine Vorschläge klingen zu gut, um wahr zu sein, wie politische Augenwischerei. Irgendwie blendest du die Folgen einfach aus. In meinem Kopf ergibt das alles keinen Sinn."

Sie stellte sich mir gegenüber und berührte einen meiner Oberarme.

"Ich denke, ich verstehe es jetzt. Du bist ein wahres Kind des SOLV. Ich behellige dich kein weiteres Mal damit."
 

Danach gingen wir zurück in den großen Saal. Rova hielt die Arme verschränkt, während Vicco erklärte, warum die Evanes, seine kleine Spezialtruppe, keine Kapazitäten für weitere Tiefenanalysen hätten. Ich setzte mich an die Tafel, während Magna die flache Hand auf den Tisch schlug, so wie es auch Rova gern tat. Der mächtige, widerhallende Knall zog alle Aufmerksamkeit auf sie.

"Nach eurer jahrzehntelangen Umerziehung ist von den Loyalisten wahrscheinlich wirklich zu erwarten, dass sie Menschen wie Haustiere behandeln. Was haltet ihr davon, wenn wir das Thema langsamer angehen lassen und zuerst nur das gegenseitige Bluttrinken legalisieren?"

"Damit kann ich leben",

kam sofort von Rova. Das wirkte wie ein Wellenbrecher für die Verhandlungen. Ich meinte, dass nicht Magna mich, sondern umgekehrt, ich sie davon überzeugt hatte, von ihren zu engen Forderungen abzurücken. Auch sie wirkte nun verhandlungsbereiter.

Die vier Geschwister und Lyz einigten sich später noch darauf, dass Konvertierungen weiterhin strikt verboten blieben. Einzige Ausnahme bildeten Reinkarnationen, die bei den Normalos aber unmöglich zu sein schienen. Trotzdem musste dafür ein Standort des SOLV zu einer Art pro forma Prüfbehörde umgewandelt werden, um die Anfragen, naja, abzulehnen. Vicco erklärte sich zähneknirschend dazu bereit, eine solche in Bahrain einzurichten und den Vorsitz seinem ältesten Sohn Octavian zu übertragen. Lucard Vetternwirtschaft ließ grüßen.

Rova Bonus 1: Familiärer Klärungsbedarf

Ihrer Ankündigung entsprechend, brach Lyz das Studium der sozialen Arbeit ab. Ihr darin erworbenes Wissen wäre nicht das Schlechteste für den Verein gewesen. Da wir uns dessen Leitung aber weitestgehend entledigen konnten, brachte diese Studienrichtung allenthalben fraglichen Nutzen mit sich. Der SOLV Hauptsitz wurde stattdessen solide unter Angelines Führung verwaltet. Sie fand sich überraschend gut in ihre Rolle ein und bewies durchaus Schneid. Mir war zu Ohren gekommen, dass sie mich intern als Druckmittel einsetzte, was aber vollkommen in Ordnung ging.

Lyz zog dementsprechend vom Studentenwohnheim in meine Villa. Alexander, den ich zu meinem Berater erhoben hatte, ebenfalls. Eine abgebrochene Ausbildung bedeutete für meine Frau jedoch nicht, dass wir ihre Bildung hintanstellten. Da sie als Führungsperson über ein möglichst breites Überblickswissen verfügen musste, erhielt sie jeden Nachmittag Privatunterricht. Dabei ließ sich tadellos auf Alexanders Grundlagen aufbauen, die er ihr aus eigenem Antrieb beigebracht hatte.

Besonders große Fortschritte erzielte Lyz aber nicht während ihres nachmittäglichen Unterrichts, sondern vormittags, wenn sie mich bei Regierungsangelegenheiten unterstützte. In ihr schlummerte eine kühle Denkerin und Taktikerin, hervorragend für ihre zukünftige Position in einer Doppelspitze mit mir. Scheinbar verstand sie sich darin, Elisabeths Einfluss in eine positive Dynamik umzuwandeln, ähnlich wie sie es auf der Vollversammlung getan hatte. Schwere Entscheidungen unter großem Druck zu treffen sowie durchzusetzen, bereitete ihr kaum Schwierigkeiten. Sorgen darum, dass Lyz' Geist verdrängt werden könnte, machte ich mir von daher keine mehr.

Aus Mangel an Alternativen bezog ich Alexander von nun an in sämtliche Regierungsgeschäfte ein. Vicco, dieser hinterhältige Halunke, hatte mein Vertrauen missbraucht und unter all den Wölfen um mich herum, stellte mein Diener denjenigen dar, den ich am besten einschätzen konnte. Ich wusste inzwischen nicht nur, was von ihm zu erwarten, sondern auch, wie ich ihn zu nehmen hatte. Seine ungestüme Art führte zudem bisweilen zu erheiternden Momenten, die mich die Lasten meiner Bürde vergessen ließen. Ich empfand eine gewisse Faszination für die einzigartige Kombination seiner Eigenschaften. Eitelkeit, Gier sowie Zielstrebigkeit, gebündelt in einem kräftigen Körper und einem wachen Geist, allerdings kaum mentaler Macht. Selbstverständlich war er dem gemeinen Volk überlegen, interessanterweise aber auch dem Adel und in gewisser Weise sogar mir. Dieses nahezu unerschöpfliche Potential offenbarte er, wenn es darauf ankam. Ihn an seine Grenzen zu treiben, empfand ich stets als höchst unterhaltsam.

Der Tatendrang meiner beiden neuen Villabewohner war kaum zu bremsen. Meine Liebste organisierte ein Putzkommando, welches das Erdgeschoß in Ordnung brachte. Schnell stellte sie allerdings fest, dass es mit einer bloßen Reinigung nicht getan war und plante eine umfassende Renovierung, sowie neue Innenausstattung. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich auch den Garten und die Fassade vornehmen würde. Für mich fühlten sich ihre Aktionen wie eine Reinigung meines Geistes an. Etwas Befreienderes konnte ich mir kaum vorstellen. Unglaublich, aber wahr. Mir gefiel mein neues Leben, in dem ich zwar weniger Gelegenheit für die Forschung fand, sie aber mitnichten aufgeben musste. Konferenzen waren allerdings sehr wohl passé, schon wegen meiner ausbleibenden Alterung, die zunehmend Probleme verursachte. Ich wusste immer, dass dieser Tag einmal kommen würde.
 

Nach unserem ersten, überraschend erfolgreichen Familienrat in der Villa, nahmen Magna, Vicco und Daric an den folgenden Terminen lediglich per Video-Live-Schaltung teil, wobei dies den regen Diskussionen keinen Abbruch tat. Nach wie vor blieb ich gesetzlichen Veränderungen gegenüber skeptisch. Jede Öffnung bedeutete einen Machtverlust für uns Lucards und doch hatte ich einsehen müssen, dass die maximale Tragfähigkeit des alten Systems erreicht war.

Ich, meine Liebste und auch mein Berater saßen auf zwei elfenbeinfarben Couches verteilt gegenüber in meinem ehemaligen Gemach in der ersten Etage. Lyz hatte es zu einem modernen Büro für uns drei umgestaltet. Unsere Augen richteten sich auf die Videoleinwand neben uns, auf der gerade Daric ankündigte, sprechen zu wollen, ein seltenes Ereignis. Er hatte informellen Redeanteil angemeldet, den er unbedingt vor, statt wie üblich, nach der offiziellen Ratssitzung verkünden wollte. Irgendetwas musste ihm mächtig zusetzen. Ungeduld gehörte jedenfalls nicht zu seinen Eigenschaften.

So unvorstellbar es auch sein mochte, wirkte er noch steifer als sonst. Er sprach mit undeutbar versteinerter Miene, zunächst aber nicht mit mir, sondern mit Vicco.

"Victor, du hast einen bedeutenden Schritt zur Stärkung der Familie Lucard getan, den ich nicht nur respektiere, sondern gleichfalls unterstützte. Damit hast du mich und meine Frau Corella inspiriert."

Ich spürte, dass weder Lyz noch Alexander folgern konnten, worauf er hinauswollte, doch auch Vicco reagierte überrascht.

"Ein Lob aus deinem Munde ist eine wahre Rarität, David. Ich nehme an, du beziehst dich auf meine Kinder?"

Natürlich tat er das. Für seinen gemeinsamen Verrat mit Magna würde er wohl kaum Anerkennung vom integersten Mitglied der Familie ernten. Vicco konnte von Glück reden, dass eine von Darics Stärken darin lag, vergeben zu können. Anders als ich und somit sein größter Kontrast zu mir.

Worauf Daric also tatsächlich anspielte, war Viccos Schritt, all seine Nachkommen offiziell als Lucards anerkannt und unsere Familie deutlich vergrößert zu haben. Obwohl er mir niemals eines seiner zwölf Kinder vorgestellt hatte, sah auch ich einen schweren Fehler darin, ihnen unseren Namen zu verwehren. Kinder zur Ruhigstellung aufmüpfiger Frauen zu missbrauchen, empfand ich stets als Unart, die uns nicht würdig war. Mit der Korrektur dieses Fehlers hatte er das größte Unrecht seines Lebens aufgewogen.

Daric schien sich nun in seiner monotonen Erklärung eher mir, als dem vom Lob entzückten Vicco, zuzuwenden.

"Leichtfertiges Umgehen mit etwas unbezahlbar Wertvollem wie unseren Kindern, ist mir unverständlich. Wenn ich zurückblicke, teilt sich mein Leben in die Zeit vor und jene nach Sarinas Geburt. Sie war mein und Corellas größter Schatz, deshalb gedenken wir, diesen Schritt zu wiederholen."

Eine Ankündigung also. Ich erinnerte mich daran, wie der Erstgeborene auch schon vor Saris Zeugung vor 19 Jahren bei Alucard um Erlaubnis gebeten und uns darüber informiert hatte. Ich wusste, dass dies seine Art war, mit persönlichen Entscheidungen umzugehen. Warum er es tat, blieb mir jedoch schleierhaft.

"Selbstverständlich begrüße ich die Aussicht auf ein weiteres Kind zwischen euch",

ermutigte ich ihn, obwohl mich seine Familienplanung strenggenommen nichts angehen sollte. Da ich Lyz' Unruhe neben mir spürte, fuhr ich ihr besänftigend über den Rücken. Sie musste begreifen, dass Daric keinen Groll mehr gegen sie hegte. Andernfalls hätte er dieses Thema nicht auf diese Art vor ihr angesprochen.
 

In der Sitzung klärten wir einige Details zur Prüfung von Konvertierungsanfragen, die auf Viccos Tisch, oder besser, dem seines Sohnes Octavian, lagen und abgewiesen werden sollten. Unerfreulicherweise kramte er danach erneut das Thema menschliche Partner zum Blutverzehr hervor, obwohl wir uns bereits in der ersten Sitzung dagegen entschieden hatten. Die meisten Wortmeldungen waren nicht der Rede wert, bis Lyz etwas beisteuerte.

"Wenn wir keine Kapazitäten haben, um jedermann zu prüfen, warum genehmigen wir dann nicht alle Anträge und reagieren erst, wenn es Verstöße gibt? Jeder erhält die Freiheit, einen menschlichen Partner zu haben. Wer sich richtig verhält, darf ihn behalten. Für Verstöße gibt es eine Meldepflicht. Jeder Mitwisser, der schweigt, verliert sein Anrecht ebenfalls."

Vicco ging zuerst darauf ein.

"Ein solches System schafft ein Klima des Misstrauens. Doch dies einmal außen vorgelassen, was tun wir deiner Meinung nach mit dem Menschen, der zuerst in unsere Gesellschaft eingeführt und dann wieder abgestoßen wurde?"

"Wenn ihn keiner will, ist er zu gefährlich für uns",

antwortete sie trocken, als habe sie die Tragweite dieser Aussage nicht verstanden. Auch Magna schien so zu denken wie ich, denn sie bohrte nach.

"Was soll das heißen, Lyz? Loyalisten machen keine Gefangenen, so wie ich es tue. Willst du etwas daran ändern?"

"Gefangene? Nein, ich meinte eigentlich, dass sie wie Verräter eingestuft werden sollten",

beantwortete meine Frau die Frage ihrer Mutter auf radikale Weise. Dass sie sich damit auf eine Exekution bezog, bewies auch ihre aufsteigend brodelnde Aura.

Das Schweigen lag länger auf uns als sonst. Alexander, der uns gegenübersaß, platze fast vor Besorgnis über diese Äußerung. Als stiller Berater hatte er während der laufenden Sitzung zwar eigentlich den Mund zu halten, doch das schaffte er nicht. Immerhin dämpfte er seinen Ton.

"Lyz! Du warst selbst ein Mensch und schlägst das ernsthaft vor?"

"Verstehst du nicht? Gerade, weil ich einer war, muss dieser Vorschlag von mir kommen. Nur ich war der Niedertracht der Menschen ausgesetzt. Ich weiß besser, wovon ich rede, als ihr alle zusammen. Ein fallengelassener Mensch wird alles daransetzen, uns eins auszuwischen. Was kümmert es ihn, dass es alle von uns trifft, wenn er uns verrät?"

Lyz' Wunden mussten tiefer sein als ich dachte, wenn sie so etwas ohne jedes Mitgefühl von sich gab. Gegen drei Ratsmitglieder und mein vernunftgeprägtes letztes Wort konnte sie sich mit ihrer Verbitterung jedoch nicht durchsetzen. Alles war besser, als Menschen zu exekutieren. Diese barbarischen Zeiten hatten wir wahrlich hinter uns. Ich fuhr ihr beschwichtigend über den Rücken, wodurch sie fröstelte.

"Der Graf hätte an diesem Vorschlag seinen Gefallen gefunden, aber nicht ich, Lyz. Lieber nehme ich Magnas Vorbild an und errichte Gefängnisse."

"Bleiben wir beim Thema Graf. Er verlangt seit deiner Machtübernahme nach dir. Du musst Vater langsam unter die Augen treten, Robert!",

überspielte Vicco und leitete damit ein Thema ein, durch das ich mir genervt an die Schläfe griff und fauchte:

"Ich weiß…"

"Auch mich erreichen seine Weisungen. Wöchentlich steht einer seiner Boten an meiner Schwelle",

meldete sich nun auch Daric, der sich wie immer nur dann steuernd einschaltete, wenn er meinte, dass er benötigt wurde. Die einzige Meinung zu Alucard, die mich interessierte, war allerdings die meiner Schwester. Nur ihr hatte er noch schlimmer mitgespielt als mir.

"Magna",

forderte ich sie auf, auch wenn ich wusste, dass sie am liebsten auf sein Grab spucken würde. In ihren Augen loderte die Flamme des Hasses heller als in mir. Sie hatte allen Grund dazu. Nicht nur meine, auch ihre Mutter hatte er getötet. Den Schmerz, den ihr dieses Scheusal darüber hinaus in ihrer Jugend angetan hatte, konnte ich aber nicht einmal ansatzweise nachfühlen. Mich hatte er nur vernachlässigt, sich an ihr jedoch tätlich vergangenen.

"Lass ihn verrotten!",

zischte sie, doch Lyz, die von all seinen Gräueltaten wusste, sogar selbst um ein Haar von ihm getötet wurde, schüttelte den Kopf.

"Ich musste mich meinen Eltern stellen, Rova, also musst du es auch!"

"Jop",

hörte ich gedämpft von meinem Berater.

"Also gut",

lenkte ich ein.

"Ich gehe, aber Magna, falls er es wagt, mir etwas befehlen zu wollen, bringe ich die Sache zu einem Ende."

"Das wirst du nicht!",

brüllten die Lautsprecher übersteuernd mit Viccos Stimme. Von meinem ältesten Bruder sah ich nur noch Brust- und Bauchpartie auf dem Bildschirm, als wolle er durch die Kamera hindurch zu mir springen. Meine Schwester nickte mir hingegen entschlossen zu. Da meine Brüder begannen, beide durcheinander zu brüllen, beendete ich die Übertragung kurzerhand. Videokonferenzen hatten ihre Vorteile. Keine drei Sekunden später erschallte das Klingeln meines Telefons, das ich auf stumm schaltete.

"Rova, überleg dir das gut",

riet Alexander, um Fassung bemüht, was ich mit einem Schnauben beantwortete. Was wusste er schon davon, wie es sich anfühlte, einen kaltherzigen Dämon zum Vater zu haben? Er ahnte nicht einmal, wie oft ich Alucard in meiner Vorstellung in seine Einzelteile zerrissen hatte und auch nicht, wie intensiv ich dies genoss.

Rova Bonus 2: Das Ende der Septem Lamiae

Ich war mitnichten bereit, mich dem Mann zu stellen, den ich mehr als alles andere verabscheute. Meine Zusage, ihn zu besuchen, nagte an mir und verhagelte meine Stimmung. Ich musste diese Last von mir werfen, die Höllenfahrt hinter mich bringen, also schnappte ich mir Lyz und Alexander schon am darauffolgenden Wochenende.

Wir flogen mit dem Jet des SOLV nach Siebenbürgen. An dieser Stelle nutzte ich meine Arbeitsmittel also sehr wohl für meinen persönlichen Vorteil, aber nur, da ein zweiter Flieger unwirtschaftlich gewesen wäre. Sprit, Pilot und Genehmigungen finanzierte ich selbstverständlich aus meinem Privatvermögen. Lyz verbrachte inzwischen die meiste Zeit damit, dem Piloten im Cockpit zuzusehen, denn dieses verrückte Ding war fest entschlossen, einen Flugschein zu machen.

So wie meine Laune, war auch Alexanders angespannt.

"Sprich!",

forderte ich ihn genervt auf, sich zu erklären.

"Du kennst meine Meinung schon",

behauptete er, aber das stimmte nicht, was ich ihm auch sagte. Er saß mir gegenüber, lehnte sich nach vorn und setze die Unterarme auf den Beinen ab. Während er sprach, sah er nach unten.

"In deinen Augen brennt Mordlust. Egal was du von ihm hältst, oder ob du ihn so nennst, ist er dein Vater. Ihn auszulöschen, bringt dir nicht zurück, was er dir genommen hat."

Er hob danach den Blick, sah mir sogar direkt in die Augen.

"Wenn du ihn jetzt tötest, nur weil du stärker geworden bist als er, macht dich das zu ihm."

Ich fletschte die Zähne und krallte mich in die Armlehnen vor Zorn, doch Alexander hörte nicht auf.

"Du rückst ihm auf die Position des einsamen Urvampirs nach, der vom Rest seiner Familie verabscheut wird."

Aggressiv packte ich in einer schnellen Bewegung seinen Oberarm, stand auf und zog ihn mit mir nach oben.

"Lyz wird es verstehen und Magna auch",

fauchte ich ihm direkt in sein nun doch verschrecktes Gesicht. Die Wucht hatte ihm einige Haare vor die Augen geweht, durch die er hindurch blaffte:

"Ich aber nicht!"

Ich warf ihn zurück auf seinen Sitz. Verdammt! Warum kümmerte es mich überhaupt, was ein Jüngling dachte, der in einer liebenden Familie aufgewachsen war?

Er richtete sich ein wenig auf und brachte seine Haare in Ordnung. Meine Drohung hatte ihn nicht ansatzweise eingeschüchtert.

"Du weißt ja noch nicht mal, warum er dich zu sich bestellt hat. Du gehst einfach vom Schlimmsten aus, denkst, dass er dich angreift, weil er dich nicht akzeptiert. Damit beherrscht er deine Gedanken und dich gleich mit."

"Schon wieder siehst du in meine Seele hinein. Wie ist das möglich?!",

brüllte ich ungehalten.

"Kapierst du das immer noch nicht? Ich habe mein ganzes Leben danach ausgerichtet, zu verstehen, wie du tickst."

Ja, das hatte er… und ich hatte meines nach Lyz ausgerichtet, was bedeutete, dass wir beide am Ende des Tages ihr folgten. Und in genau diesem Moment kam sie zurück.

"Rova! Ich hab dich bis ins Cockpit meckern gehört."

Ich hob die Hände in ihre Richtung.

"Ich weiß, ... es ist alles okay. Ich beruhige mich schon wieder."

"Sicher?",

fragte sie und sah Alexander an, der mit gekräuselten Lippen nickte. Danach fiel ihr Blick wieder auf mich und meine mitgenommenen Armlehnen.

"Arrww, mit mir schimpfst du, aber selber machst du mit deinen Nägeln alles kaputt!",

beschwerte sie sich und stellte sich dann, zu mir gewandt, zwischen mich und ihn. Sie legte eine Hand in meine Haare und schob meinen Kopf an ihren flachen, warmen Bauch. Ich schloss die Augen und ließ ihre Liebe in mich einströmen. Das war wunderbar. Es beruhigte meine angespannten Nerven. Alexander stand auf, der einen Arm um ihre Schultern legte. Nun verstand ich, was er meinte. Mein Leben war zu gut, als dass ich es durch einen Vatermord gefährden durfte.
 

Deutlich besänftigt, kam ich mit meiner kleinen Delegation auf Schloss Bran an, wo Daric schon am Eingang auf mich wartete. Meine Drohung musste ihn dazu bewogen haben, die etwas mehr als hundert Kilometer von Argisch bis nach Törzburg anzureisen, aber bereits meine ausgeglichene Aura beruhigte ihn. Chance hätte er gegen mich inzwischen ohnehin keine mehr gehabt. Es ging wohl eher um die Verdeutlichung seines Standpunktes, oder aber um die Befriedigung seiner Neugier.

Still, wie er war, wechselten wir kaum ein Wort miteinander. Ich legte meinen Arm um Lyz' Rücken und schob sie in das düstere Schloss hinein. Selbst an einem warmen und hellen Tag wie diesem, drang kaum Licht in dieses verfluchte Gemäuer. Kühl, feucht und dunkel empfingen uns die kriegerischen Relikte unserer Familiengeschichte vergangener Epochen, Zeitzeugnisse schwerer Schlachten um das Überleben des Geschlechts der Vampire. Mit einem unguten Gefühl schritt ich die mir verhassten Stufen empor zu Alucard, dem letzten Urvampir, meinem verhassten biologischen Ursprung.
 

Seine dicke Holztür stand einladend für mich offen, durch die mir seine bedrohlich lodernden roten Augen bereits entgegen flammten. Vorsichtshalber bat ich meine Familie, zurückzubleiben.

Erhaben stolzierte ich zu ihm, bevor sich die Tür hinter mir, wie durch einen Windhauch, von selbst schloss. Er beherrschte es wie kein Zweiter, seine Aura an einem Punkt zu verdichten und so einen kleinen Windstoß zu erzeugen. Eine Manipulation, die er erst in den letzten Einhundert Jahren perfektioniert hatte. Es musste langweilig sein, immer nur in diesem düsteren Raum zu hocken.

"Mein Sohn",

empfing er mich mit einer tief vibrierenden Stimme, untersetzt mit einer eleganten Handbewegung. Abscheulich, so von ihm genannt zu werden, nach all den Jahren seiner Ablehnung. Er saß auf dem einzigen Stuhl des Raumes, dessen übermannshohe Lehne einschüchternd wirken sollte. Weitere Sitzgelegenheiten wären überflüssig gewesen, wo er Gesellschaft doch verabscheute. Auch wenn ich noch immer weit von ihm entfernt stand, blickte ich von oben auf ihn herab. Dieser Mann war ein Nichts. Ich war es, der den SOLV zu Ruhm geführt hatte, nicht er.

Da er nichts mehr tat, außer unangenehm zu starren, wurde ich ungeduldig.

"Was wollt Ihr von mir, Alucard?"

Er fuhr sich mit beiden Händen den langen violetten Kragen entlang, den er dabei richtete.

"Als wahrer Erbe betraue ich dich mit den Hintergründen unserer Herkunft. Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Zukunft gestalten."

Das sah ich vollkommen anders, nicht nur deshalb, weil ich meinen Ursprung immer verabscheut hatte, sondern auch, weil mir Alucard eine Rolle aufzwang, die ich nicht erfüllen wollte. Im Herzen war ich ein Forscher, kein Anführer, tja und Historiker war ich auch nicht. Trotzdem musste ich feststellen, dass Alexander recht behalten hatte. Dem Grafen ging es um eine informelle Machtübergabe, keinen Kampf oder Vorwurf. Er erkannte meine Führung an. Grund, ihn zu töten, lieferte er mir mit seinem Verhalten somit überraschenderweise keinen.

"Ihr bedauert meine Geburt also nicht mehr, Graf?",

erkundigte ich mich.

"Das habe ich nie."

"Nur mein Geschlecht",

schnaubte ich, was er bestätigte.

"Nur dein Geschlecht. Heute jedoch nicht mehr. Ich habe auf der Suche nach dir mancherlei Fehler begangen. Der Größte lag darin, dich nicht zu lieben, den perfekten Sohn, den Einen, in dem sich die vortrefflichsten Eigenschaften meiner ehrwürdigen Mutter vereinen."

Seiner Mutter? Ich wusste, dass er sich mit Daric in grauer Vorzeit ein einziges Mal über die "Septem Lamiae", die sieben Urvampire unterhalten haben musste, von denen Alucard der Letzte war. Wir alle trugen ihr Andenken in unseren zweiten Vornamen: Valentin, Natalia, Constantin und Richard. Die Namen der verbleibenden zwei kannte ich nicht. Alle noch lebenden Vampire stammten von Natalia und Constantin ab und damit endete mein Wissen über sie. Ich verfolgte seine Rede also konzentriert weiter.

"Die Zeiten waren andere. Meine Geburt liegt nicht in der Antike, die im Zusammenhang mit meinem Namen oft genannt wird, sondern einem Zeitalter davor."

Vor der Antike… also vor mehr als 3000 Jahren. Bronzezeit? Laut unseren Geschichtsbüchern trat er im Fünfzehnten Jahrhundert das erste Mal in Erscheinung, jedoch mit dem Vermerk "wiedererstanden". Ein Begriff, den keiner hinterfrage. Sicher kam dieser Part noch. Ich lauschte seiner gemächlichen Erzählung also weiter.

"Ich und meine sechs Geschwister entstammen der Magna Mater Kybele, die in sieben Ländern, befruchtet vom Blut ihrer sieben Ehemänner, jedem ein Kind gebahr. Nach ihrem Verschwinden aus unserer Welt, blieben wir sieben Nachtkinder in alle Himmel verstreut zurück, doch wir spürten unsere Existenz und zogen uns gegenseitig an. Jeder von uns war einzigartig und doch alle vom gleichen Stamme. Phelia, die zweite Tochter Kybeles und edelste unter uns, erwies sich gar als ihr optisches Ebenbild."

Die große Mutter, befruchtet von menschlichem Blut, verstreut in alle Himmel - das waren sicher keine Metaphern, aber welche Art von Wesen konnte diese Frau sein? Alucard war darüber hinweg gegangen, also unterbrach ich seine Erzählung, auch auf die Gefahr hin, ihn damit zu verärgern. Darauf hoffte ich sogar insgeheim.

"Erzählt mir mehr von Kybele. Wer war sie?"

Er blieb ruhig.

"Eine Göttin, ohne Frage, deren Existenz von der Kirche später als heidnisch verunglimpft und verteufelt wurde. Darin liegt der Ursprungskonflikt begründet, zwischen uns und dem Glauben an eine göttliche Trinität."

Die Kirche machte also nicht nur Jagd auf uns, weil wir uns von Blut ernährten und das Licht mieden, sondern auch, weil wir in ihren Augen Ketzer waren, mehr noch, leibhaftige Götzen. Niemand von uns hätte Elisabeth aufhalten können, hätte sie dies zu Lebzeiten gewusst.

Davon abgesehen ließ sich eine heidnische Fruchtbarkeitsgöttin aus der Bronzezeit nicht wissenschaftlich erklären und befand sich damit außerhalb meines Verständnishorizonts. Tatsächlich traf das aber auch auf spontane Mutationen wie meine Flügel und Fingernägel zu.

Die Fähigkeiten, Auren durch Luftvibration und spezielle Pheromone zu erzeugen, diese zu wittern und auch mit unserem siebten Sinn zu spüren, war dagegen eine gut erklärbare Wissenschaft. Sich, wie in seiner Beschreibung, über Himmel, sprich, über große Entfernungen hinweg, finden zu können, schien mir nichts anderes als das zu sein.

Alucard bestätigte somit die Existenz höherer Wesen, die uns verlassen haben mussten. Dass ich noch nicht alles verstand, hieß keineswegs, dass ich es nicht glaubte, immerhin handelte es sich um, mit Tatsachen untermauerte, Zeitzeugenberichte. Nur ein Narr hätte seine Worte angezweifelt.

Nach meiner kurzen Denkpause setzte Alucard an, mir den Rest der Historie offenzulegen.

"Als Jüngster unserer Sippe ließ ich mich, so wie auch die anderen Fünf, von der mächtigen Phelia leiten. Diese Konstellation hielt Drei Jahrhunderte lang an, in denen die Differenzen wuchsen, bis unser göttlicher Bund zerfiel. Constantin als auch Natalia begannen sich mit Menschen zu vermehren, ein Frevel in Phelias Augen. Richard und Yanhje verschwanden miteinander, einzig ich und Valentin blieben bei unserer Königin, die weder mich noch ihn erwählte. Zu meinem größten Bedauern verhinderte sie die Geburt eines reinen Nachtkindes, das meine Ambition darstellte. Bevor ich den Ausgang der Geschichte erfuhr, versetzte sie mich in einen Schlaf, aus dem ich erst Zweitausend Jahre später erwachte."

Dieser ersehnte Nachwuchs stammte mit Sicherheit von ihm, unfreiwillig womöglich. Alucard musste Phelia so lange nachgestellt haben, bis sie keinen anderen Ausweg mehr sah, als ihn schlafen zu legen. Ich glaubte nicht, dass er großes Ansehen unter den Urvampiren besaß, sonst hätte er seine Position hervorgehoben. Zwischen den Zeilen verriet er mir damit, dass er vermutlich sogar der Schwächste unter ihnen allen war und doch hatte nur er überdauert.

Das Rätsel um die verschwundenen sechs Urvampire konnte demnach nicht einmal er lösen. Dieses Ergebnis war ernüchternd und aufschlussreich zugleich. Ich verstand gut, wieso er diese hochsensiblen Informationen nur seinem wahren Erben anvertrauen wollte.

"Ich verstehe, Alucard",

bestätigte ich, im Gegensatz zu seiner folgenden Anweisung.

"Mein Sohn, ich war 550 Jahre lang König. Beschreite du denselben Weg und sorge dann für eine EBENBÜRTIGE Nachfolge."

Sollte das etwa sein Ernst sein? Stelle er sich vor, dafür ein versöhnliches Lächeln von mir zu ernten? Das war lächerlich. Ich wusste, dass mich ein Auftrag aus seinem Munde, egal welchen Inhalts, wütend machen würde, aber nicht, wie sprunghaft impulsiv.

"Tse, ich habe lange genug nach Euren Regeln gelebt. Ein schwacher König, wie Ihr es wart, der sich von seinem 17- jährigen Sohn und seiner Enkelin übertrumpfen ließ, ist eine Schande für das göttliche Geschlecht der Lamiae."

Ich ging auf ihn zu, sodass er Aufstand, um nicht von oben herab betrachtet werden zu müssen. Das erlaubte ich ihm, nicht aber zu sprechen, solange ich noch nicht fertig war.

"Seid nicht so überheblich, zu glauben, Ihr könntet mir noch Befehle erteilen, Graf Alucard! Ihr habt mir die Führung nicht übertragen, sie wurde mir von meinen älteren Geschwistern, von meiner Frau, meinem Berater und sogar von meinem Volk aufgezwungen, weil IHR ein Versager seid!"

Die zornige Aura, die er aufbaute, war lächerlich gegen meine. Auge in Auge mit meinem Erzfeind dauerte es nicht lange, bis meine Flügel in voller Größe herausbrachen, die leider mein Hemd und mein Sakko zerrissen.

"Du bist also gekommen, um mich zu richten",

kombinierte der Graf mit aufgerissenen Augen, in denen ich Todesangst aufblitzen sah, die mir das warme Gefühl der Genugtuung verschaffte. Hinter mir stieß Daric, das spürte ich, die Tür auf. An seinem Schritt hörte ich, wie stark ihm meine Aura zu schaffen machte, schwächlicher Erstgeborener, ganz der Vater.

Obendrein spürte ich Alexanders schwindende Aura und die erwartungsgemäß widerstandsfähige meiner Frau. Blitzschnell setze ich meine Krallen an Alucards Halsschlagader und drehte mich dann ins Profil zu ihr.

"Sag mir, was ich tun soll, ...Lyz!"

Sie brauchte einen Moment, bevor sie die Lage erkannte.

"Was hat er getan?"

"Sich entbehrlich gemacht",

stieß ich erheitert hervor. Ich erinnerte mich. Vor Einhundert Jahren stand ich schon einmal an diesem Punkt. Damals entschied ich mich dazu, ihn zu verschonen, aber nicht, weil er mein Vater war, sondern weil ich Respekt unserem König gegenüber empfand.

Natürlich hatte ich Lyz mit meiner Aufforderung maßlos überfordert. Entbehrlichkeit war offenbar kein ausreichender Grund für sie und doch dachte sie darüber nach. Auch sie hatte nichts als Abscheu für ihn übrig. Seinem Blick nach zu urteilen, empfand Daric etwas ähnliches, allerdings für mich, aber mit seiner Anfälligkeit für Hypnose, war er kein Gegner.

Die eigentliche Frage für mich lautete: Hielt mich Lyz für einen Vatermörder? Ich tat es, ohne Zweifel, aber ich musste sichergehen, dass sie mir danach noch in die Augen schauen konnte, immerhin hatte sie ihre eigenen Eltern verschont.

Sie überraschte mich mit einer Anklage, nein, einem Tribunal für den Dämonen, den ich mit meinen Krallen bedrohte. Verzweifelt schrie sie an mir vorbei zu ihm:

"Bereut Ihr Eure Taten, Graf Alucard? Bereut Ihr die Vergewaltigung Eurer eigenen Tochter, die ihr später auch noch verstoßen habt? Bereut Ihr den Tod von Mags und Rovas Mutter, die ihr billigend in Kauf nahmt? Um ein Haar wäre ich die dritte Frau gewesen, die Ihr für Eure ekelerregende Reinheitsobession geopfert hättet. Habt Ihr Eure Familie etwa nur erschaffen, um sie leiden zu sehen?"

Selbstverständlich bereute er nichts davon, doch darum ging es ihm nicht. Lyz fixiert, riss Alucard seine roten Augen noch weiter auf, die glasig wurden, als er stammelte:

"Sie… sie ist..."

"Sie ist es. Auch schon gemerkt?",

flüsterte ich grinsend. Es gab nichts Erfüllenderes, als seine Welt bersten zu sehen. Lyz in meine Angelegenheiten einzubeziehen, zahlte sich immer wieder aufs Neue aus. Ich liebte diese Frau über alle Maßen. Ihr angewiderter Gesichtsausdruck beim Anblick seiner Tränen war Balsam für alle Wunden, die mir jemals in meinem Leben zugefügt wurden.

"Bring es zu Ende",

hauchte Alucard gebrochen, doch nicht er bestimmte über sein Leben. Das lag allein in den Händen seiner wundervollen Enkelin Lyz, die seiner geliebten Enkelin Elisabeth in diesem Moment bis aufs Haar glich. Diesen einen Fehler, ihre wahrhafte Reinkarnation um ein Haar getötet zu haben, bereute er ganz offensichtlich zutiefst.

"Lyz?!",

forderte ich sie auf, ihr Urteil zu sprechen. Ich versuchte, ihre Körpersignale zu deuten. Sie stand, trotz des Drucks meiner Aura, komplett aufgerichtet vor uns und bleckte die Zähne, was sehr selten bei ihr vorkam. Ihre Fingernägel waren allerdings schon verhärtet gewesen, als Daric die Tür aufstieß.

Alexander stöhnte von schräg hinter ihr auf. Das löste ihre Starre und lenkte kurz ihren Blick auf ihn. Als sie zu mir zurücksah, hatte sie ihre Entscheidung getroffen.

"Lass! Lass ihn! Er hat den Tod verdient, aber nicht durch dich! Auf keinen Fall durch dich, Rova!"

brüllte sie unter dem Druck meiner Macht nach Luft japsend und sackte danach ebenfalls auf ihre Knie. In mir tobte ein Kampf. Alucard niederzustrecken war nicht weniger als der Wunschtraum meiner Jugend, doch mein Lächeln verschwand. Es war mir nicht mehr möglich, meine Krallen in seinem Hals zu versenken, wenn meine Frau sich dagegen ausgesprochen hatte.

Ich ließ meine Aura fallen und stieß den Dämon von mir, der nun, an seinen Stuhl geklammert, auf dem Boden hockte und keuchte, vernichtend geschlagen, dieses Aas.

"Elisabeth…",

röchelte er.

"Elisabeth, sag mir, ... was hast du am Ende empfunden?"

Wie wichtig musste ihm diese Frage sein, wenn sie die erste war, die ihm zu ihr einfiel. Auch mich hätte eine Antwort darauf interessiert, doch Lyz konnte sie gewiss nicht geben. Selbst wenn ihr dieselbe Seele innewohnte, so verfügte sie doch nicht über ihre Erinnerungen.

Lyz legte eine Hand über ihre Augen und weinte. Das alles war zu viel für sie. Ich faltete meine Flügel ein, ging zu ihr, hob sie auf die Beine und lehnte sie an mich. Danach reichte ich Alexander eine Hand, die er ergriff und mit wackligen Beinen aufstand. Auch in seinem Gesicht erahnte ich Tränen.

Wir ließen Daric hinter uns zurück, der sich taumelnd zu Alucard schleppte.
 

Je weiter wir uns von den beiden alten Vampiren entfernten, desto klarer wurden meine Gedanken. Im Hof empfingen uns unzählige Krähen, die entweder ich oder auch der Graf gerufen haben konnte. Wir verscheuchten ein paar davon und setzen uns auf einen erhöhen Steinwall, auf den lindernd wirkende, warme Sonnenstrahlen fielen. Ich nahm meine aufgelöste Liebste auf den Schoß. In sich gebeugt, lehnte sie sich an meine nackte Brust und wimmerte vorwurfsvoll:

"Warum musstest du mir diese Entscheidung aufbürden?"

Ich legte meinen Kopf sanft auf ihrem ab. Nicht nur ihr Herz schmerzte. Dies war meine bisher beste Gelegenheit, meinen Hass auf meinen Ursprung ein für alle Mal loszuwerden, doch ich hatte sie für sie und auch für Alexander vergeudet. Da er sich nun schneller erholte als Lyz, stellte er sich vor uns, sodass uns die Sonne nicht mehr blendete. Er bemerkte, dass ich gerade nicht zur Antwort fähig war und übernahm sie für mich.

"Weil er es sonst getan hätte."

Dieser Jüngling war nicht nur ein ausgezeichneter Beobachter, sondern auch ein treffsicherer Sprecher für mich, wenngleich er sich den anklagenden Unterton hätte sparen können. Seufzend legte er sanft eine Hand auf meiner Schulter ab, die sofort Wärme in meinen gesamten Körper ausstrahlte, mehr noch als die Sonne es tat. Ich hob den Kopf und sah nun Entschlossenheit in seinen Augen funkeln, die tröstlich auf mich wirkte.

"Es war die richtige Entscheidung, Rova, nicht nur für Lyz und mich, sondern auch für dich. Mit einer Last, wie einem Vatermord, hätten wir nicht nur uns, sondern noch dazu den Rest der Familie und die ganze Vampirgesellschaft unnötig gespalten. Diese alte Vogelscheuche ist es nicht wert, das alles zu zerstören."

Mit einem Hauch von Einsicht legte ich meine Hand auf seine. Kaum zu glauben, welches innere Eingeständnis diese Berührung nach sich zog.

Dieser Junge hatte sich, mit seinen läppischen 25 Jahren, von einem Angestellten, über meinen persönlichen Diener und schließlich meinem Adjutanten zu etwas noch Größerem entwickelt. Zu meinem Erstaunen war er zu dem geworden, was meine Frau mir schon vor Monaten ans Herz gelegt hatte, meinem ersten und einzigen wahren Freund. Vertrauen, … ein merkwürdiges Gefühl. Ich hatte ja nur lausige 119 Jahre dafür benötigt.
 

Zu viele verschwendete, rückwärtsgewandte Jahre der Trauer und damit einhergehend, der mentalen Isolation lagen hinter mir, die mein Leben in ein verkratertes Trümmerfeld verwandelt hatten. Mein erstes Leben endete mit Elisabeth, das sich in einem lodernden Hass gegen meinen Vater verzehrte in dem ich alles, mit Ausnahme der Forschung, verabscheute. Mein zweites Leben begann mit Lyz und Alexander, die mich etwas verloren Geglaubtes wiederfinden ließen: meine Jugend. Vicco meinte, ich opfere dafür meinen Stolz, doch wenn er sich künftig tatsächlich der bedingungslosen Liebe seiner Söhne und Töchter hingeben wollte, würde er begreifen, wie weit ich ihm inzwischen voraus war. Er würde spüren, welchen Reichtum uns die Jugend zu schenken vermochte.

Ellys und auch Alexander - Allein diesen beiden jungen Vampiren an meiner Seite hatte ich es zu verdanken, dass ich mich umblicken konnte, ohne ein von bodenlosen Kratern zerfurchtes Schlachtfeld um mich herum erblicken zu müssen, in dem jeder Schritt in einen Abgrund führte. Sie verfüllten einige der unüberwindlich scheinenden Löcher, womit sie mir einen sicheren Baugrund ebneten, den ich bereit war, konstruktiv zu nutzen. Ein weiteres Mal würde ich mich nicht der Zerstörung hingeben, sondern mich mit Muße dem Aufbau meiner geschundenen Seele widmen. Das war ich nicht nur mir selbst schuldig, sondern auch denen, die mir etwas bedeuteten.

Die Feuerrose

von Robert-Valentin Lucard

 

 

Mein Herz, das lässt ein Ros' erblüh'n

und sprießen sie zur Sonne hin.

Ihr Funken soll mich leicht verbrüh'n,

versengt schon von den Knospen bin.

 

Obgleich sie mir die Seel' verbrennt,

im Angesicht der Ewigkeit

bin ich's, den sie ihr Eigen nennt.

In Liebe endet Einsamkeit.

 

Begonnen hat's in falschem Tun,

doch ich beende meine Pflicht

als Advokat ganz ohne Ruhm.

Nun bringe ich das Strafgericht.

 

Als Richter trete ich nach vorn,

an meiner Seit' mein feurig Herz,

die Ros' mit ihren spitzen Dorn', 

brennt Sündern ein den Racheschmerz.

 

In ihrem Herz ein Ros' erblüht

das sprießet nun zum Lichte hin

und nicht erneut zu schnell verblüht.

Das ist des Aufstiegs Neubeginn.

 

 

 

Alex schob das mit Bleistift beschriebene Blatt zurück in Rovas Unterlagenstapel, aus dem es gerutscht war. An den zahlreichen Radierspuren konnte er erkennen, wie viele Versionen es gegeben haben musste, um zu diesem mittelprächtigen Ergebnis zu gelangen. Zumindest das Versmaß stimmte, dachte er, kräuselte belustigt die Lippen und tat so, als habe er nichts gesehen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Solltest du Mick und seinen ganz speziellen Charakter noch nicht kennen, dann kannst du dies hier ändern. Aber Vorsicht, er ist richtig frech und schießt gern über das Ziel hinaus ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Sooo, das war Alex' Part. Ich hoffe du hattest ebenso viel Freunde daran wie ich.
Beim nächsten Mal ist der mysteriöse Rova dran, mein komplexester Charakter, und auch er hat natürlich noch so eiiiniges zu verbergen, hmhm. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Das war zwar das letzte Kapitel der Fortune Files, aber eigentlich gibt es noch ein viertes, den Alucard Part.
Da er viel härter ist und eine in sich geschlossene Geschichte darstellt, veröffentliche ich sie einzeln unter dem Namen Draculas Kinder.
Vielleicht sehen wir uns in dieser Geschichte wieder, aber egal ob ja oder nein, vielen lieben Dank fürs Lesen. ❤️ Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (22)
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Von:  KritzelFuchsKurai
2021-04-04T07:54:45+00:00 04.04.2021 09:54
Nein was fürn tolles kapitel xD alex sein baby motor rennt auf hochtouren und verfrachtet ihn zurück in die Pubertät hahah und das wegen dem Vollmond mensch der arme tropf xD


Nawwww ihre reKtion aufs filme gugen is ja zucker T^T respeckt das et sich da zusamen reissen kan ich hätte sie glaub nieder geflufft xD
Antwort von:  Elnaro
06.04.2021 17:36
Vollmond schmeißt ihn komplett aus der Bahn. Er hat es wirklich nicht leicht :)

Bei Lyz denk ich, dass man sich zwar bei ihr anfangs mehr bemühen muss, als bei anderen Mädchen, aber dann von ihrer weichen und lieben Seite belohnt wird.
Von:  KritzelFuchsKurai
2021-04-04T07:35:39+00:00 04.04.2021 09:35
Ohchnee jetzt taut sie ihm gegenüber etwas auf und nach ein paar schritten vor gehts gehfühlt 10 zurück T…T meno ....
Antwort von:  Elnaro
06.04.2021 17:23
Mich würde ja interessieren, wie du Mick fandest :D
Von:  KritzelFuchsKurai
2021-04-04T07:18:37+00:00 04.04.2021 09:18
Mwaas o.o alex pack dein kram schnapp dir das Mädchen und lauf da braut sich was zusammen !!!! Rova macht mir immer mehr angst und ich kan ihn null einschätzen >~< brrr
Antwort von:  Elnaro
06.04.2021 17:20
Kannst du dir vorstellen, wie viel Spaß es macht, solche Rova - Alex Szenen zu schreiben? :D
Von:  KritzelFuchsKurai
2021-04-04T07:12:12+00:00 04.04.2021 09:12
Naww arme lyz mit solchen eltern ist man wirklich bestraft. Ich bin froh heute wieder mahl lesen zu können Alex hat mir richtig gehfählt mit seiner lieben mitfühlenden art >\\\\< naww ich husche mahl schnell weiter
Antwort von:  Elnaro
06.04.2021 17:14
Hab mich riesig gefreut, als ich gelesen hab, dass du wieder fleißig gelesen und kommentiert hast! <3
Ja, Lyz hat es nicht leicht. Selbst Rova, der sich für die tragischste Figur überhapt hält, musste weniger erleiden als sie.
Von:  KritzelFuchsKurai
2021-01-21T09:48:17+00:00 21.01.2021 10:48
Oh nein ! Sari!!! Ich dachte mir schon dass die kleine nun so auf alex als lustknabe abfährt weil er eben alles an ihr ausgelassen hat was so nicht geht >\\\\\\< und jetzt ist sie weck? Rova is mir momentan echt nicht sympathisch muss ich gestehen ...... was sari wohl gemacht hat damit sie sterben musste T.....T snüff sie war mir echt sympathisch... so das waren mein zwei pitel für heute hihi morgen gehts weiter ❤️Freu mich schon 🥰


Antwort von:  Elnaro
21.01.2021 11:57
Die "Fortune Files" sind so aufbereitet, dass man versteht, was passiert, aber nicht unbedingt wie und warum. Dopplungen zur Hauptgeschichte "Forced Fortune" wollte ich weitgehend vermeiden, damit beide Geschichten interessant und spannend bleiben. Sollte es dich interessieren, was zwischen Rova, Lyz und Sari los war, kannst du das in Kapitel 4 der Hauptstory nachlesen. Für Alex spielt das allerdings keine allzugroße Rolle.
Wenn überhaupt, wird Rova erst später sympatischer, weit nach diesem Exkurs in Alex' Geist. Wir begleiten den jungen Diener nur über den ersten Spannungsbogen der Hauptgeschichte.
Ich freue mich auch total. Vielen lieben Dank!
Von:  KritzelFuchsKurai
2021-01-21T08:59:59+00:00 21.01.2021 09:59
Wow, der arme alex >....< den hats ja gleich voll erwischt!! Oh man und soweit ich schon weiss wird das nix mit dem Abstand der arme kerl >—< Ich hüpfe gleich mahl weiter ❤️
Antwort von:  Elnaro
21.01.2021 10:32
Oja, es wirft den armen Kerl komplett aus der Bahn. Wäre doch langweilig, wenn er sich komplett unter Kontrolle behalten könnte :)
Ganz, ganz lieben Dank für deinen Kommentar. Feedback zur Geschichte ist immer was ganz besonderes für mich <3
Von:  Nocti
2020-02-06T17:18:10+00:00 06.02.2020 18:18
Und wieder ist der Eindruck durch Lyzs Augen ein ganz anderer. Ich hätte Vicco aber auch ganz anders eingeschätzt. Wenn man betrachtet wie er selbst bei Elisabeth war, hab ich mir seine Sicht der Dinge doch etwas heißblüiger vorgestellt.
Antwort von:  Elnaro
06.02.2020 23:23
Vicco ist eigentlich ein familiärer Typ, der beide jüngeren Geschwister wie ein Vater aufgezogen hat. Er geht auch sehr liebevoll mit seinen Kindern in Bahrain um. Bei Elisabeth war er sexuell gesehen eigentlich eher im Normalbereich. Seine Vorliebe fürs Bluttrinken war damals überhaupt nichts besonderes. Erst nach ihrem Tod kamen seine sexuellen Eskapaden, dann einige Fehltritte mit Lyz und erst danach spielt dieser Dreiteiler. Er hat also schon eine ganz enorme Entwicklung durchgemacht, durch die er das hemmungslose Ausleben seiner Lust bereits überwunden hat. Deshalb malt er hier auch. Für ein sexuelles Halleluja hätte ich mir einen anderen Part in der Geschichte heraussuchen müssen, immerhin hat ihn Lyz hier schon fast gebrochen. Vielleicht wäre das unterhaltsamer gewesen :) Ich hatte diesen hier gewählt, um ihm den finalen Dämpfer zu verpassen.
Ich danke dir vielmals und hoffe ich nerve dich mit meinen Erläuterungen nicht, hihi.
Antwort von:  Nocti
07.02.2020 05:13
Nein, die Erläuterungen nerven absolut nicht, sondern helfen die Geschichte bzw. Entwicklung der Charaktere besser zu verstehen. Das er ein Familientyp ist, kommt auch gut rüber und ich hätte es auch nie infrage gestellt. Das hindert ja nicht an sexuellen Ausschweifungen. Nur wie er hier agiert, gebrochen trifft es, leider, ich hab mir ihn eher als sehr feurigen Charakter vorgestellt. In dem 3-Teiler ist da eher nur noch zartglühende Asche. Die dann noch mit dem Pinsel und von Lyz tot geklopft wird. Bei Lyz kam er eher als 24h-Lüstling rüber und auch Elisabeth hat sich ja darüber beschwert, das er am liebsten eine Menschenfrau mit ins Bett holen will. Das wirkte auf mich daher eher, als wäre es ein Grundcharakterzug von ihm und weniger eine Phase.
Antwort von:  Elnaro
07.02.2020 13:07
Das freut mich sehr. Auch, dass du dich mit seinem Charakter auseinander gesetzt hat. Es ehrt mich o///o Dann hau ich dir gleich noch ein paar um die Ohren :D (Oje..)
Ich verstehe jetzt besser, was du meinst und auch warum du enttäuscht von ihm bist. Für Vicco ist Lyz ein drastischer Einschnitt in seinem Leben, mit dem er niemals mehr gerechnet hätte. Man könnte sagen, er ist sich in Dingen unsicher geworden, die vorher vollkommen normal für ihn waren. Diese Momentaufnahme von ihm fand ich spannender, als wenn er mit sich im Reinen ist (und wild rumvöglet, hehe) Ich mag innere Konflikte. Wenn Viccos Eitelkeit verletzt wird, (was nur Elisabeth oder Lyz hin bekommen) zieht er sich in sich zurück. Das müsste auch aus "Die Macht des Vierten" heraus kommen, in der er schon gebrochen war, bevor Elisabeth starb, (nachdem sie ihn mit genau diesem Ziel vor der gesamten Familie vorgeführt hat.) Auch dort hat er eine solche Phase durchlebt.

Noch was anderes. Ist dir aufgefallen, dass er und Lyz die selbe Vorliebe fürs Bluttrinken haben? Zudem würde er besser für sie sorgen und somit Rova als auch Alex ersetzen können, die sich ergänzen müssen, damit Lyz glücklich werden kann. Vicco hat sich in der Kennenlernphase allerdings so ungeschickt angestellt, dass sie es nicht bemerken will. Sie fühlt es tief in sich und das macht sie wütend auf ihn.
Antwort von:  Nocti
07.02.2020 13:30
Ah, natürlich, die verletzte Eitelkeit*Hand an die Stirn klatsch* den Aspekt habe ich ja total außer acht gelassen. Das kann natürlich an jemanden der so von sich überzeugt ist, wie er, ganz schön nagen.

Ungeschickt angestellt schmeichelt ihm aber noch, ich würde mal sagen er ist nicht nur mit der Tür ins Haus gefallen, er hat, mit seiner Aktion im Schloss, gleich die ganze Fasade mitgerissen. Da ists nur logisch das jetzt nur noch Trümmer sind.
Von:  Nocti
2020-02-05T14:45:20+00:00 05.02.2020 15:45
Man hat das Gefühl aus Alex seiner Sicht eine ganz andere, neue Geschichte zu lesen.
Seine Emotionen, die so gegensätzlich zu Lyzs sind Spiegeln sich wunderbar in deiner Schreibweise wieder.
Wenn ich ehrlich bin, gefällt mir der Alex-Erzählstil auch ein wenig besser, als der von Lyz.
Antwort von:  Elnaro
06.02.2020 15:56
Dass es wie eine andere Geschichte wirkt, war Ziel des Perspektivwechsels. Sonst wäre es ja auch langweilig.
Dass Alex' Sicht stärker fesselt als Lyz' (was ich jedenfalls glaube), war allerdings überraschend. Aus dieser Erkenntnis heraus soll sich der Doji auf ihn konzentrieren... die Idee überhaupt einen Doji machen zu wollen, wurde daraus geboren. Alex hat mich beflügelt. Ich glaube, das liest man in der Metaebene auch aus dem Text heraus.

Ich danke dir sehr für deinen Kommentar! Das ist unglaublich lieb von dir und bedeutet mir auch sehr viel. :)

Falls du es noch nicht entdeckt haben solltest, (was ich ein wenig bezweifle,) Lyz' Ex Mick setzt diesem Erzählstil das Krönchen auf. Hehe ;)
Antwort von:  Nocti
06.02.2020 18:13
Irgendwie wirkt Alex auf mich lebendiger. Lyz ist so, wie sag ich's jetzt richtig, irgendwie stumpf. Zumindest am Anfang. Klar man versteh die Begleitumstände, aber zumindest etwas inneres Feuer fehlt mir bei ihr. Gegen Ende hin wird sie zwar lebendiger aber an Alex kommt sie nicht ran. Umd bei Rova blick ich überhaupt nicht durch, selbst nach seinem Kapiteln hier bin ich nicht schlauer.
Antwort von:  Elnaro
06.02.2020 23:01
So wie du sie beschreibst, ist Lyz charakterisiert. Kennst du Menschen, deren Herz verschlossen ist? Sie spüren das Leid nicht so stark, aber auch keine Freude. Das soll verdeutlichen, dass sie unter den Menschen wie ein Alien lebt. Sie ist auch nicht als Sympathieträger gedacht. Dafür habe ich Alex entwickelt und in die Geschichte eingebaut. Rova hingegen ist der Antagonist mit tausend Persönlichkeitsstörungen, was ihm etwas Unberechenbares gibt. Damit Rova trotzdem immer IC bleibt, gibt es für ihn ein psychologisches Profil in einem sehr viel größern Umfang als für meine anderen Charaktere. Du beschreibst sie alle also ganz genau so, wie sie sein sollen. Die Geschichte wird dadurch allerdings nicht besser. ^^
Antwort von:  Nocti
07.02.2020 04:45
Nein, nein, nein, im Gegenteil, das ist ja gerade das gute bei deiner Geschichte. Die Protagonisten sind eben nicht nur schwarz/weiß oder wahnsinnig kompliziert. Okay, außer Rova, aber einer darf das sein und das du für ihn ein umfangreiches Psychoprofil brauchst kann ich gut verstehen. Ich denke auch, das es durchaus Leser gibt, bei denen du damit die Neugier und Sympathie weckst.
Im übrigen ist mir gerade aufgefallen, das es so klingt, als ob ich Lyz nicht nicht mag. Nein, eher im Gegenteil. Mir gefällt sie wahnsinnig gut, weil sie eben weder Tendenz zur Dramaqueen, noch zur Mary Sue hat. Nur im Erzählstil fesselt mich Alex's lebendige Art mehr.
Von:  Schwabbelpuk
2019-06-20T13:34:42+00:00 20.06.2019 15:34
Ein großartiges Kapitel! Ich mag es sehr, wenn sich Rova und Alex an die Gurgel gehen oder viel mehr wenn Rova Alex an die Gurgel geht. xD Teilweise hat sich das etwas...ähem...seltsam gelesen, so zärtlich wie Rova mit Alex umgesprungen ist, dazu noch das "erregt". Naja, aber das mal nur am Rande.
Die Folterszene fand ich toll, aber ich mag solche Szenen ohnehin sehr. ^^ Und das Kapitel war eine wunderbare Ergänzung, da man das in der Hauptstory ja so nicht mitbekommen hatte. Rovas sadistische Ader hast du hier auch wunderbar eingefangen, gerade indem er ihm auch noch seine Blutration weggenommen hat.
Hat mir sehr gut gefallen!
Antwort von:  Elnaro
21.06.2019 11:18
Haha, freut mich sehr, dass du die Szene mochtest. Ich habe sehr lange an den Dialogen gefeilt.

Das sind die Auswirkungen des Vollmonds auf Rova. Dann zeigt der Gute mal seine romantische Seite. <3 xD
Von:  Schwabbelpuk
2019-06-20T13:17:21+00:00 20.06.2019 15:17
Endlich finde ich die Zeit weiterzulesen! ^^ Auf die Szene war ich tatsächlich schon gespannt sie aus Alexs Sicht zu erleben. Auch wenn ich finde, dass hier ein Vorwissen tatsächlich sehr zu empfehlen wäre, im Gegensatz zu den bisherigen Kapiteln, da wirklich viel über Dinge geredet wird, die man sonst nicht wissen konnte. War für mich allerdings kein Problem und ich bin sogar froh, nicht alles doppelt und dreifach gelesen zu haben. Ich mag Alex zu Vollmond...er ist so schön ungebändigt, frech und wild. Gerne mehr davon! xD
Antwort von:  Elnaro
21.06.2019 11:07
Das freut mich sehr! Juhu! Ich hatte das Kapitel ursprünglich mit viel mehr Dopplungen versehen, fand es dann aber so gähnend langweilig, dass ich (fast) die kompletten Dialoge rausgehauen habe. Ich glaube so ist es viel besser. Bei Interesse sind sie schließlich nur ein paar Klicks entfernt.


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