Die Wölfe 1 ~Der Patenmörder~ von Enrico (Teil I) ================================================================================ Kapitel 3: ~Kekse und Eis für Antonio~ -------------------------------------- Das erste Licht des Tages weckt Antonio. Er sitzt noch immer an der Wand und hat die Beine angewinkelt. Auf seinem Schoß hat sich Snoflake eingerollt, er schnurrt leise. Antonio wischt sich den Schlaf aus den Augen. Sein Kater hebt den Kopf, er brummt erst leise, dann faucht er. In großen Sprüngen verschwindet er unter dem Bett. Nur seine gelben Augen leuchten aus der Dunkelheit hervor. Auf dem Flur bewegen sich Schritte, sie kommen immer näher, bis sie vor der Tür verstummen. Ein Klopfen ist zu hören. „Antonio, bist du wach?“ Butch? Die Stimme klingt nach dem Mann, mit dem Antonio gestern auf dem Dach war. „Ja?“, entgegnet er. „Dann komm ins Büro! Ich habe einen Job für dich.“ „Ist gut!“ Antonio erhebt sich, er streckt seine verspannten Glieder. Butchs Schritte verlieren sich auf dem Flur. Als kein Laut mehr zu hören ist, kommt Snowflake unter dem Bett hervor. Er schmiegt seinen mageren Körper an Antonio und folgt ihm, wohin er auch geht. Noch auf dem Weg zum Kleiderschrank entledigt sich Antonio seiner Klamotten. Aus seiner Hose kramt er den Schlüssel, dann faltet er seine Sachen ordentlich zusammen. Er legt sie auf das Fensterbrett und holt sich neue aus dem Schrank. Während er sie sich überstreift, miaut der Kater kläglich. „Keine Sorge Snowflake, heute bringe ich dir etwas Leckeres mit und wenn ich es stehlen muss. Versprochen!“ Er streichelt dem Kater noch einmal durch das weiche Fell, dann verlässt er sein Apartment. Dem Flur folgt er bis zu einer Bürotür, die bereits offen steht. An einem Schreibtisch, gut fünf Schritte entfernt, sitzt Butch, den Blick in irgendwelche Unterlagen vertieft. Er deutet auf eine Sporttasche, die auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch steht. „Bring das in den Park zum Denkmal. Dort wirst du dich um zehn Uhr mit einem Kunden treffen. Achte darauf, dass sich keiner den Inhalt ansieht, auch du nicht! Bis zehn Uhr hast du frei, aber sieh zu, dass du nach der Übergabe sofort wieder herkommst. Es gibt noch mehr zu tun.“ Ein Botengang, um diese Uhrzeit? Wie ungewöhnlich, normalerweise erledigt Antonio solche Dinge in der Nacht. Er geht zum Schreibtisch und hebt die Tasche vom Stuhl. Sie ist so leicht, dass er kaum glauben kann, dass sich darin etwas befindet. Aber es ist nicht seine Aufgabe sich darüber Gedanken zu machen. Mit der Tasche verlässt er das Büro. „Antonio!”, ruft Butch ihm nach. Antonio bleibt stehen und sieht durch den Türspalt zurück. „Schau bei Gelegenheit in der kleinen Tasche rechts außen nach.” Die rechte Tasche? Mit der Hand tastet Antonio hinter sich. Ja, irgendetwas ist da. Er zieht den Reißverschluss auf, ein kleiner Beutel kommt zum Vorschein. Kekse? Butch hat ihm Schokoladenkekse eingepackt? Ungläubig betrachtet er den Beutel, sein Blick geht zurück ins Büro. Butch schaut auch jetzt nicht auf, dafür hat er ein zufriedenes Lächeln im Gesicht. Der Tag beginnt reichlich seltsam und trotzdem, Antonio kann nicht anders, als über beide Ohren zu strahlen. Er öffnet den Beutel und fischt gleich zwei Kekse heraus. Im Ganzen schiebt er sich den Ersten in den Mund und bekommt ihn kaum zerbissen. Etwas Süßes hatte er schon lange nicht mehr. Wie gut das schmeckt. Er hat ihn kaum hinunter gezwungen, da schiebt er sich schon den nächsten nach. Das stechende Gefühl in seinem Magen wird erträglicher. Zufrieden setzt er sich in Bewegung und steuert den Fahrstuhl an. ...~*~... Die ersten Sonnenstrahlen blenden mich. Ist es schon Zeit zum Aufstehen? Die Zeiger meines Weckers stehen auf halb Sechs. So früh noch? Ich drehe mich auf die andere Seite, doch es gelingt mir nicht mehr einzuschlafen. Ob mein Bruder inzwischen nach Hause gekommen ist? Als ich kurz vor zwölf ins Bett bin, war er noch nicht zurück. Ich beschließe nachzusehen und stehe auf. Mein Weg zum Kleiderschrank wird durch etliche Bücher blockiert, die von meinem Schreibtisch gefallen sind. Ich muss über sie steigen, um mir frische Sachen zu holen. Zum Glück kann ich noch ein Hemd und eine Hose finden. Am Wochenende müssen wir unbedingt Waschen. Wenn Raphael auch dann wieder arbeiten muss, werde ich wohl allein den ganzen Tag in der Waschküche verbringen. Schon der Kram aus meinem Zimmer wird mich Stunden kosten. Ich gehe in den Flur. Obwohl ich versuche, so leise wie möglich zu sein, knarren die alten Dielen. Vor der rechten Wand steht ein großer Eimer, in dem sich das Regenwasser des letzten Sommergewitters gesammelt hat. Den müssen wir endlich mal ausleeren, auf der Oberfläche haben sich bereits grüne Algen angesiedelt, ein fauliger Geruch kommt aus seiner Richtung. Schnell wende ich den Blick ab und habe ihn im selben Moment vergessen. Langsam schleiche ich zum Schlafzimmer meines Bruders. Die Tür steht gerade weit genug offen, um Raphael quer auf seinem Bett liegend zu sehen. Er hat noch seine dreckige Arbeitskleidung an, selbst seine Hände und sein Gesicht sind ölverschmiert. Ich will nicht wissen, wie sein Bettzeug darunter aussieht. Das kann er auf jeden Fall selbst waschen. Wann er wohl gestern Abend heimgekommen ist? Es hat sicher keinen Sinn ihn zu wecken, zumindest nicht ohne einen guten Grund. Ich gehe weiter in die Küche und werde von einem widerlichen Gestank empfangen. Töpfe und Teller, dreckiges Besteck, alles türmt sich aufeinander. Wann haben wir eigentlich das letzte Mal abgewaschen? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Meistens kramen wir nur eine Pfanne oder einen Teller heraus und spülen den ab. Auf dem Herd steht ein Topf, der gestern Abend noch nicht dort war. Ich schaue hinein. Der Boden ist schwarz. In der ganzen Küche riecht es verbrannt. Ich öffne das Fenster. Kühle Morgenluft flutet den Raum, die Sonne leuchtet rot am Himmel. Es wird sicher wieder ein strahlend schöner Tag. Wenn ich Raphael nur dazu bringen könnte, wenigstens heute Nachmittag keine zweite Schicht einzulegen und einfach mit mir in den Park zu kommen. Sein lautes Schnarchen ist selbst hier zu hören. Er braucht endlich mal einen freien Tag. Ob wir irgendwo noch eine saubere Pfanne haben? In der Einzigen, die ich in diesem Chaos finden kann, tummeln sich noch die Überreste der letzten Mahlzeit, was es war, kann ich nicht mehr erkennen. Ich kratze die Reste heraus, spüle die Pfanne aus und stelle sie auf den Ofen. Den muss ich ja auch noch anheizen. Als ich mich nach der Luke in der Mitte bücke und sie öffne, kommt mir ein ganzer Schwall Asche entgegen, sie verteilt sich rauchend auf dem Küchenboden. Wie lange hat Raphael den nicht mehr ausgeleert? Mal ehrlich, wenigstens das könnte er hin und wieder tun. Ich kehre die Asche auf, dann fülle ich den Ofen mit Holz und feuere ihn ein. Während die Flammen einige Zeit brauchen werden, um die Kochplatte zu erhitzen, wende ich mich unserem Vorratsschrank zu. Der einzige Ort im Haus, der aufgeräumt und gut gefüllt ist. Eier, Milch, Wurst, ich nehme von allem etwas. Zwei Omeletts werde ich braten, das ist eines der wenigen Dinge, die ich wirklich gut kochen kann. Ich stelle alles auf den Tisch. Aus dem Stapel mit dem Geschirr suche ich mir zwei Teller und Besteck, die ich sauber wasche. Ein Glas finde ich noch im Schrank und fülle es mit Milch. Für Raphael stelle ich einen Topf Wasser auf den Herd, er wird sicher einen Kaffee brauchen. Nachdem ich auch die Omeletts gebraten und alles auf die Teller verteilt habe, betrachte ich mein Werk. Das sieht gut aus. Seit langem wieder ein richtiges Frühstück. Vom Tisch wandert meine Aufmerksamkeit zum Zimmer meines Bruders. Er schnarcht noch immer, nur seine Haltung hat sich verändert. Er liegt nun auf dem Bauch, mit dem Kopf in der Decke vergraben, sein Kissen ist zu Boden gefallen. Ich schmunzle und gehe zu ihm. „Raph!“, spreche ich ihn an. Ich rüttle an seiner Schulter. Er brummt und rollt von einer auf die andere Seite. „Komm schon Bruderherz, wach auf. Ich habe Frühstück gemacht!“, versuche ich es noch einmal. „Geh weg Enrico! Ich bin erst um vier Uhr ins Bett“, nuschelt er. Ich schaue zum Wecker auf Raphaels Nachttisch. Es ist gerade mal sechs Uhr. Sinnlos ihn nach kaum zwei Stunden Schlaf aus dem Bett zu bekommen. Ich lasse es sein und kehre zum Frühstückstisch zurück. Raphaels Schnarchen wird zunehmend lauter. Ich stütze meinen Kopf in die Hand und stochere in meinem Omelett herum. Der Appetit ist mir vergangen. Wozu mache ich mir überhaupt noch die Mühe? Wahrscheinlich werden wir nie wieder zusammen am Tisch sitzen. Mein Blick fällt auf ein Bild, das auf der Anrichte im Flur steht. Es zeigt uns alle Vier, im Garten vor unserem Haus. Dad hat seinen Arm um Raphael gelegt, er lächelt in die Kamera, während ich auf dem Arm unserer Mutter sitze. Das ist schon so lange her, dass ich mich kaum noch an den Tag erinnern kann. Ich wende meine Aufmerksamkeit davon ab und stehe auf. Den Teller nehme ich mit. Mein Omelett lege ich auf Raphaels, dann werfe ich den Teller in die Spüle. Obwohl es noch viel zu früh ist, hole ich meine Schultasche und verlasse das Haus. ...~*~... Den letzten Keks schiebt sich Antonio in den Mund, die leere Tüte wirft er in einen der Mülleimer im Park. Hier, inmitten von gepflegten Grünanlagen, beginnt seine erste freie Zeit seit langem. Wohin soll er als erstes gehen, was unternehmen? Mit den Händen in den Hosentaschen schlendert er den Weg entlang, bis er an einem Basketballplatz vorbeikommt. Ein einsamer Ball liegt dort. Antonio sieht sich nach allen Seiten um. Hier sitzt nur ein Pärchen auf einer Bank und ein alter Herr führt seinen Hund spazieren. Basketball hat er nicht mehr gespielt, seit er ein Drache geworden ist. Noch einmal sieht Antonio sich um, doch niemand ist zu sehen, dem der Ball gehören könnte. Gut so, dann ist der ab heute seiner! Antonio läuft auf den Platz, die Tasche stellt er behutsam ab, seine Jacke zieht er aus und wirft sie darüber, dann holt er sich den Ball. Dieser sieht doch noch ganz in Ordnung aus. Zweimal prellt Antonio ihn gegen den Boden, zweimal springt er kräftig zurück. Antonio sieht zum Korb. Er geht die wenigen Schritte bis zur Dreipunkte-Linie. Der Korb ist jetzt gut sechseinhalb Meter von ihm entfernt. Das ist sicher zu weit weg, aber früher hat er auch von hier getroffen. Schulterzuckend versucht er es einfach. Sein Körper erinnert sich an die Bewegungen. Antonio visiert den Korb an und wirft. Der Ball fliegt weit, trifft den Rand, prallt ab und kommt zurückgerollt. Noch etwas zu wenig Schwung. Antonio holt sich den Ball und versucht es weiter. Immer wieder verfehlt er den Korb nur knapp. Verdammt, dass muss doch zu schaffen sein. Seinen fünften Wurf versenkt er endlich. Jubelnd springt er in die Luft. Er holt sich den Ball und trippelt ihn bis zum Korb. Kurz vor ihm springt er hoch und hält sich mit einer Hand am Rand fest, mit der Anderen wirft er den Ball hinein. Wie lange hat er das schon nicht mehr gemacht? Ein Strahlen erhellt seine sonst so finsteren Gesichtszüge. „Hier treibst du dich also rum? Schwänzt wohl immer noch gern die Schule, was?”, spricht ihn eine Jungenstimme an. Antonio lässt den Korb los. Er landet auf seinen Knien und bleibt auf ihnen hocken. Suchend sieht er sich nach dem Jungen um, der ihn angesprochen hat. Der Kerl lehnt am Zaun, der den Platz eingrenzt, er hat die Arme verschränkt. Seine Lippen ziert ein spöttisches Grinsen, seine eisblauen Augen funkeln zufrieden. Den Typ hat er doch gestern schon gesehen, an seiner alten Schule. Antonio wendet seinen Blick ab und versucht wieder aufzustehen, doch seine Knie brennen fürchterlich. Er schiebt die Stoffhose von seinen Beinen. Blutstropfen bilden sich auf seiner Haut. Schritte kommen auf ihn zu. Der Blonde bleibt vor ihm stehen, er reicht ihm die Hand. Antonio schlägt sie weg, allein steht er wieder auf. „Hey, ich wollte nicht, dass du fällst“, sagt der Blonde und legt die Hände hinter den Kopf. Antonios Blick bleibt finster, doch der Kerl lässt sich davon nicht beeindrucken. Einen Moment lang sehen sie sich stumm an, bis der Blonde seine Aufmerksamkeit auf Antonios Tasche und die Jacke richtet. „Du hast die Jacke ja wieder mit? Darf ich sie mal anprobieren?“ Der Blonde setzt sich in Bewegung. Augenblicklich schießt Antonio die Warnung Butchs in den Kopf. Er eilt dem Jungen nach. Als dieser sich nach der Jacke bückt, stößt er ihn grob zur Seite. Der Fremde verliert den Halt, er fällt rückwärts auf den harten Spielfeldboden. „Pfoten weg!“, brüllt Antonio ihn an. „Ich will sie dir doch nicht klauen, sondern nur den Drachen auf der Rückseite anschauen.“ „Wozu?“, will Antonio harsch wissen. „Er gefällt mir eben. Wo hast du die Jacke gekauft?“, fragt der Blonde und steht auf. Lebt der Kerl hinterm Mond? So eine bekommt man nur, wenn man das Aufnahmeritual bei den Red Dragons besteht. Gerade noch kann sich Antonio zurückhalten, seinen Gedanken auszusprechen. „Die kann man nicht kaufen“, sagt er stattdessen. „Hast du sie selbst gemacht?“ „Nein, sie war ein Geschenk!“ Das scheint ihm noch die plausibelste Antwort zu sein. „Aha, darf ich sie jetzt anprobieren?“ Als Antonio nicht antwortet, hebt der Blonde die Jacke auf und zieht sie sich einfach über. „Na, wie sehe ich darin aus?“, fragt er. Die Ärmel reichen weit über seine Hände hinaus, seine Schultern gehen in dem Leder unter. „Sie ist dir zu groß.“ „Ja, leider!“ Der Fremde streift sich die Jacke von den Armen und gibt sie zurück. Antonio nimmt sie an sich und wirft sie achtlos wieder in die Ecke. Der Blonde bückt sich nach dem Ball, er jongliert ihn in der Hand und dreht ihn an, dann setzt er ihn sich auf die Fingerspitze. „Hast du Lust auf ein Match? Der Verlierer spendiert dem Gewinner ein Eis“, schlägt er vor. „Ich habe kein Geld!“, sagt Antonio schnell. Alles was er braucht, bekommt er von den Drachen, meistens zumindest. Eigenes Geld hat er lange nicht mehr in der Hand gehabt. „Dann spielen wir eben nur so. Du fängst an!“ Irritiert sieht Antonio ihn an. Ist das Eis jetzt nicht mehr wichtig? Warum hat er dann erst darum wetten wollen? „Komm schon, wir werfen abwechselnd Körbe, wer zuerst Zehn hat, gewinnt!“ Das klingt leicht. Antonio nickt und folgt dem Blonden bis knapp zwei Meter vor den Korb. Von so nah will er werfen? Ist das nicht ein bisschen zu einfach? Fragend betrachtet Antonio den Fremden, dessen Blick auf den Korb gerichtet ist. Es ist ihm also wirklich ernst mit der Entfernung? Antonio zuckt mit den Schultern und wirft den Ball. Er fällt in den Korb. Die eisblauen Augen des Blonden weiten sich. „Anfängerglück!“, sagt er. Von wegen! Aus der Entfernung wäre es seltsam, wenn Antonio einen der zehn Würfe versauen würde. Als der Blonde mit dem Ball zurückkommt, verschränkt Antonio die Arme vor der Brust, er tritt einen Schritt beiseite. Mal sehen, ob der Kerl so gut ist, wie seine große Klappe vermuten lässt. Seine Haltung ist verkrampft, er visiert den Korb an und wirft. Der Ball springt mit Schwung an die Platte dahinter und prallt zurück. Ein flüchtiges Lächeln huscht Antonio über die Lippen. Der Blonde brummt in sich hinein, dann macht er ihm Platz. Wieder versenkt Antonio den Ball ohne Probleme im Korb. Die Gesichtszüge des Fremden Jungen versteinern. „Da gibt’s doch `nen Trick dabei, oder?“, fragt er. „Ja, zielen“, entgegnet Antonio. „Klugscheißer!“ Der Blonde ist dran, seine Haltung ist dieses Mal noch verkrampfter, sein zweiter Wurf verfehlt den Korb um einen ganzen Meter. Antonio muss schmunzeln. Der Kerl hat wirklich so gar keine Ahnung von diesem Spiel. „Sag nichts!“, murrt der Blonde. Auch seinen dritten Wurf versenkt Antonio im Korb. „Das gibt’s doch nicht! Wie machst du das?“, will der Blonde von ihm wissen. Antonio zuckt mit den Schultern. Das weiß er selbst nicht so genau. Alles, was mit Zielen zu tun hat, liegt ihm einfach. Um was es dabei geht, spielt eigentlich keine Rolle. Selbst beim Dart trifft er stets die Mitte. Es liegt ihm im Blut. ...~*~... Das gibt es doch nicht! So langsam geht mir der Kerl auf die Nerven. Wie kann es sein, dass er mit jedem Wurf einen Treffer landet? Fünf Mal hintereinander. Wenn ich meinen jetzt nicht versenke, hat er schon gewonnen. Ich atme tief durch und visiere den Korb an. „Du bist viel zu verkrampft!“, spottet er. Ja klar, er hat leicht reden, mit fünf Punkten Vorsprung. „Dann zeig mir doch wie es geht, anstatt nur kluge Sprüche zu klopfen!“, fordere ich. Er seufzt und löst die Verschränkung seiner Arme. Mit langsamen Schritten kommt er zu mir. „Du hältst den Ball schon ganz falsch“, tadelt er. „Ach ja? Wie soll ich ihn denn sonst halten? Das ist ein Ball, den nimmt man einfach nur in die Hand. Was gibt es da schon groß zu beachten?“, frage ich in einem genervten Unterton. Er kommt wortlos zu mir und stellt sich hinter mich. Seine Hand legt er auf meine, meinen Arm zieht er ein Stück zurück. „Aus dem Handgelenk, so“, rät er und bewegt meine Hand. Ich drehe mich zu ihm. Er ist gut einen halben Kopf größer als ich, ich muss aufschauen, um ihm in die Augen sehen zu können. Verdammt sind die grün! Ich habe noch nie eine so leuchtende Augenfarbe gesehen. Seine Hand ist warm und er riecht unglaublich gut. Sein Blick ist noch immer spöttisch, doch je länger ich ihn ansehe, umso mehr verschwindet es von seinen Lippen. Sein Atem ist so nah, dass ich ihn auf meinem Gesicht spüren kann. Mein Herz beginnt zu rasen. Seine Wangen werden rot, betreten wendet er den Blick ab und gibt meine Hand frei. „Jetzt wirf!“, sagt er. Ich erinnere mich daran, dass ich den Korb treffen wollte. Konzentriert richte ich meinen Blick nach vorn und werfe. Der Ball fliegt los, er kracht an den Rand des Korbes und rollt darüber hinweg. „Na ja, fast“, kommentiert er. Ich gebe mich geschlagen. Daneben ist daneben und Wettschulden sind Ehrenschulden. „Okay, du hast gewonnen. Gehen wir uns ein Eis kaufen!“ Ungläubig betrachtet er mich. „Was denn, willst du etwa Keines?“, frage ich. Er zögert, schließlich läuft er los und holt seine Sachen. Gemeinsam verlassen wir den Basketballplatz. Ich sehe mich im Park nach Fabio um. Er ist der Einzige, der auch um diese Zeit am Rande des Parks Eis verkauft. So kann er die Kinder auf ihrem Weg zur Schule abfangen. Auch ich schaffe es nur selten an ihm vorbeizugehen, ohne anzuhalten. Als wir den Wagen und seinen Besitzer erreichen, hat er ein breites Grinsen im Gesicht. Wir sind seine einzigen Kunden. „Guten Morgen, Enrico. Eine Kugel Vanille, wie immer?“, fragt er. Ich nicke und sehe hinter mich. Mit langsamen Schritten schleicht mir mein neuer Freund hinterher. Als er bei mir ankommt, steckt er die Hände in die Hosentaschen. „Was willst du haben?“, frage ich ihn. Unschlüssig sieht er in die Auslage und betrachtet die Zettel mit den Namen der Eissorten. Er braucht eine gefühlte Ewigkeit, sich zu entscheiden. „Schokolade?“, sagt er. „Eine Kugel Schokolade für meinen Freund!“ Der Eisverkäufer füllt die Hörnchen mit den gewünschten Kugeln. Ich krame einige Centmünzen aus meiner Hosentasche und tausche sie gegen das Eis. Das Hörnchen mit der Schokoladenkugel reiche ich weiter, doch der Junge zögert sie zu ergreifen. „Freund?“, fragt er mich. Ich nicke und lächle, doch er nimmt mir das Eis noch immer nicht ab. „Und ich muss auch nichts dafür tun?“, will er wissen. Was für ein seltsamer Kerl. Er hat doch schon etwas dafür getan, er hat unsere Wette gewonnen. „Jetzt nimm schon, bevor es schmilzt!“ Endlich greift er zu. Argwöhnisch betrachtet er die Kugel. Ich lecke über mein Eis, es schmilzt bereits, die ersten Tropfen laufen an dem Hörnchen herunter und mir über die Finger. Er sieht mir zu und ahmt mich nach. „Das schmeckt ja wirklich nach Schokolade!“, stellt er fest. Erstaunt betrachte ich ihn. Natürlich schmeckt das nach Schokolade, immerhin ist das die Sorte, die er wollte. Ich muss schmunzeln und kann schließlich nicht anders, als über ihn zu lachen. „Du bist schon in Ordnung!“, presse ich heraus und kann einfach nicht aufhören zu lachen. ...~*~... Was gibt es da so blöd zu lachen? Das ist eben das erste Eis in Antonios Leben. Es hat noch nie jemand für nötig gehalten, ihm eines zu kaufen. Er hat sich einfach nicht vorstellen können, dass etwas so Kaltes auch nach Schokolade schmecken kann. Grimmig betrachtet er den Blonden, doch dieser lacht einfach weiter. „Du bist schon in Ordnung!“, sagt er. Ehrlich? Das ist Antonio bisher für niemanden gewesen. Es gibt doch immer etwas an ihm auszusetzen. Ob der Kerl das vorhin wirklich ernst gemeint hat? Sind sie jetzt Freunde? Gedankenverloren leckt Antonio über das Eis. Es schmeckt wirklich gut. Jetzt kann er verstehen, warum alle immer davon schwärmen. Als der Blonde sich wieder in Bewegung setzt, folgt Antonio ihm. „Wie heißt du überhaupt?“, fragt der Blonde und lässt sich auf einer Bank nieder. „Antonio.“ „Das ist mir zu lang, ich werde dich einfach Toni nennen.“ Toni? War das gerade ein Spitzname? Ein anständiger? Nicht Feigling, Dummkopf oder Waschlappen? Einfach nur Toni? Das gefällt ihm. Er nickt. „Ich bin Enrico!“, stellt sich der Blonde vor. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)