Glücksverfluchte von Lazoo (Die Champions von Asteria) ================================================================================ Prolog: Das Ende der Welt ------------------------- Blut. Blut war das Erste, was er sah, als seine Augen sich langsam öffneten. Wie ein dünner, warmer Bach roter Tinte lief es seinen Arm entlang, der auf dem glühend heißen Boden lag, teilte sich in mehrere Deltas und tropfte in langen, klebrigen Bahnen aus seiner Handfläche. Es brauchte nicht viel, damit er erkannte, dass das sein Blut war. Verdammt viel von seinem Blut. Arme, Beine, Torso und selbst sein Gesicht waren zerschnitten und trieften nur so vom rostfarbenen Lebenssaft und in nicht wenigen Wunden steckten noch dünne Glasscherben und -splitter, die wie dünner Frost im Lichte schimmerten. Das metallische Aroma breitete sich in seinem Mund und seiner Nase aus, benebelte jeden seiner Sinne wie ein dünner, doch zugleich zentnerschwerer Schleier, versetzte ihn in einen Zustand melancholischer Trunkenheit und sägte an seinem letzten Quäntchen Verstand, das versuchte zu begreifen, was eigentlich geschehen war. Er versuchte aufzustehen, sich auf seine Arme zu stützen, doch nur die kleinste Belastung sorgte für unendliche Schmerzen, die sich in seinen Kopf fraßen und auf ihn mit aller Gewalt einhämmerten. Es brauchte einen Moment, bis er die Quelle dessen erkannte: Sein linker Unterarm war zur Seite abgeknickt und die zerborstene Schiene hatte sich einen Weg aus seiner fleischlichen Hülle gebahnt. Ihm wurde sofort speiübel und noch ehe er sich zurückhalten konnte, schoss ätzender Magensaft aus Mund und Nase auf den Boden. Das helle Sekret vermischte sich mit seinem Blut zu einer übelriechenden Masse. Von Schwäche übermannt fiel er zur Seite. Jeder noch so kleine Atemzug war anstrengend und schmerzhaft, als würde etwas auf seine Brust drücken und in ihn stechen. Wahrscheinlich waren einige Rippen zertrümmert und wenn er mit seiner Zunge über seine Zahnreihen fuhr, dann tauchten hier und da Lücken auf, die es vorher nicht gab. Deswegen pochte wohl auch sein Mund. Einige Momente blieb er so liegen und lauschte nur, zu schwach zum Aufstehen und Weitermachen... er wusste sowieso nicht, womit. Gerade starrte er nur auf die große, dunkle Wand aus Eisen, die sich vor ihm aufgebaut hatte. Wohin sollte er nur gehen? Was sollte er tun? Aber immerhin: Langsam, ganz langsam kamen die Erinnerungen daran zurück, was zuletzt geschehen war. Was geschehen war, bevor die Welt um ihn für eine unbestimmte Zeit in Schwärze getaucht wurde. Er schloss die Augen. In dem Moment der Finsternis tauchte ihr Gesicht vor ihm auf. Sie schob ihr langes Haar hinter die spitzen Ohren und grinste keck. Der Fahrtwind brachte die schwarzblauen Strähnen zum Tanzen. Sie lachte herzlich und starrte weiter aus dem Fenster, winkte in die Ferne, als wolle sie die Landschaft grüßen. Eine Zeit lang tat sie nichts anderes, aber dies mit einer fast schon kindlichen Freude. Dann beugte sie sich vor und schaute ihn mit ihren durchdringenden, fast schon farblosen Augen an. Das Gewand rutschte leicht von ihrer Schulter und lockerte den zuvor noch streng geschlossenen Ausschnitt. Er ließ es sich nicht nehmen, seinen Blick zu ihrem wohlgeformten Vorbau schweifen zu lassen und erhoffte noch mehr erkennen zu können. Sie rekelte sich, musste seine Neugier bemerkt haben und erfreute sich scheinbar dieser Aufmerksamkeit. Er fühlte sich dennoch ertappt und schnell huschten seine Augen wieder nach oben. Sie errötete. Ihre Lippen bewegten sich, formten unanständige Wörter, während ihre Hände zu seinem Schritt wanderten und sie langsam auf die Knie sank. Seine Hände krallten sich in das Holz, auf dem er saß und er warf den Kopf in den Nacken. Aus dem Augenwinkel nahm er noch ein rotes Schimmern wahr, das aus der Ferne auftauchte und in wahnsinniger Geschwindigkeit größer wurde. Plötzlich verblasste alles. Wieder tauchte die Gegenwart vor ihm auf. Unter dem dumpfen Rauschen in seinen Ohren vernahm er zorniges Donnergrollen und fremde Schreie, doch er konnte sie nicht orten. Sie konnten unfassbar nah sein – oder meilenweit entfernt. Es schien, als würden sie wandern – zu ihm hin, durch ihn durch, von ihm weg. Mit seltsamem Zischen und Rauschen, vorwärts und rückwärts, leise und laut. In regelmäßigen Abständen flackerte ein gleißender Funke auf, erhellte für einen Moment die sonst so finstere Welt um ihn in einem orangenen Licht. Die Luft waberte. Es musste schwülwarm sein, doch sein Körper fror so sehr, als läge er in einem Eisbad. Langsam drehte er sich auf den Rücken und starrte das erste Mal bewusst in den Himmel. Über ihn hatten sich dunkelgraue Wolken geformt, die wie Wellen bei schäumender See aufeinander schlugen und den Himmel komplett über sich bedeckten. Er wusste nicht, ob es darüber gerade noch mitten am Tag war, oder bereits finsterste Nacht. Sonne oder Mond, sie beide waren von den Schwaden verschluckt worden. Die einzige Lichtquelle waren jene sonderbaren, schweifförmigen Blitze, die aus den Wolken in regelmäßigen Abständen hervorzuckten und sich wie lange Bänder über den Himmel bewegten, während alles herum für den Hauch einer Sekunde in einem unheilvollem Rot-Orange erleuchtet wurde. Der Himmel brannte. Die Wolken waren Asche und Holz, die Blitze Glut und Flamme, der Donner Knistern und Knacken. Mit jeder verstrichenen Sekunde verschlechterte sich sein Zustand weiter. Etwas fraß ihn von innen auf, zerspaltete sein Inneres und verwandelte es sukzessive in Brei. Es kam von außen, wie ein Nebel, doch nicht nass. Er konnte nicht einmal sagen, ob es sich überhaupt nach etwas anfühlte, aber es war da, keine Frage. Er würde hier sterben, wenn er liegen blieb. Wahrscheinlich war er sowieso schon so gut wie tot, doch etwas trieb ihn dazu an, aufzustehen. Die Zähne zusammengepresst und mit der Unterstützung seines heilen Arms zwang er sich zu der Metallwand, klammerte sich an den kleinen Rillen in der Struktur und zerrte sich daran hoch. Unter ihm löste sich schmatzend sein Hemd vom Oberkörper, während er sich streckte. Es war verschlissen und entblößte eine dicke Fleischwunde, die sich gerade so anfühlte, als würde sie weiter aufreißen. Doch er ignorierte das, kämpfte sich weiter nach oben, bis er wieder auf seinen wackeligen Beinen stand. Sein Augenlicht verlor an Kraft, jede Bewegung zerrte seine Knochen in endlose Weiten. Während er auf seine Hand starrte, schien es ihm fast, als würde sie durchsichtig werden, als könne er direkt auf jede Ader und jeden Muskel starren. Sein Magen drehte sich nun endgültig auf links. Pause. Er brauchte eine Pause. Was er hier tat beschleunigte definitiv seinen Tod, doch je mehr er sich bewegte, desto klarer wurde sein Kopf. Und je klarer sein Kopf wurde, desto weiter verschwanden die Geräusche, die er noch zuvor zu hören gedacht hatte. Die Schreie, vorher noch allgegenwärtig, entpuppten sich als Echos aus der Vergangenheit, getragen von dem schemenhaften Nichts um ihn herum. Wenn es noch jemanden gegeben hatte, dann war dieser schon weit entfernt. Es gab nichts um ihn herum. Es würde ihn niemand retten, wenn er liegen blieb und es gab auch niemanden, der mit ihm hier zusammen sterben würde. Er war allein. Zumindest glaubte er das. Noch hatte er niemanden erkannt – sei es tot oder lebendig – und noch hatte er nicht mehr gesehen, als die kalte, stählerne Wand vor ihm. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie deplatziert diese hier doch wirkte. Bedacht setzte er einen Fuß neben den anderen, während er sich an die Wand presste und so langsam bis zur Kante vordrang. Die Mauer machte einen Knick und dahinter erstreckten sich weitere metallische Gebilde – Geländer und Rohre – und die Mauer schien eine große, rechteckige Kuhle zu besitzen, die an der oberen Seite eine Art Hebel besaß. Es dauerte einen Moment, bis er verstand, dass dies eine auf der Seite liegende Tür war und noch drei weitere benötigte er, um das große Ganze zu begreifen: Was er vor sich gesehen hatte, war keine Mauer – es war ein Dach. Und alles zusammen gehörte zu einem entgleisten Zugwagon, der auf der Seite lag. Er schaute sich um. Ein Teil des restlichen Zugs war schemenhaft in weiter Entfernung zu erkennen, ebenfalls von seiner angestammten Schiene gerissen. Welche Kraft konnte Züge so weit wegschleudern? Langsam stolpernd, drehte er sich um und starrte in eine karge Landschaft, ohne Bäume, ohne Häuser, ohne Täler oder Berge, die die Weitsicht hätten bremsen können. Einzig die restlichen Wagons – manch einer gar senkrecht in den Boden gerammt, wie ein schiefer Turm – und die Schienen auf dem Boden bildeten eine Art Orientierungsmöglichkeit. Doch abseits dessen, schien jene trostlose Umgebung sich bis zum Horizont in der Ferne zu erstrecken. Der Boden war mit Blut getränkt, eingefärbt in wirren, abstrakten Zeichnungen eines exzentrischen Künstlers und wie ein Haufen schwarzer Punkte lagen an allen Ecken und Enden deformierte Körper unterschiedlichster Lebewesen – manche noch frisch, andere halb verwest und wieder andere so verbrannt, dass sie kaum von Kohle zu unterscheiden waren. Und am Horizont, am Ende der endlosen Bahngleise, schoss ein rot-orangenes Licht in schwingenden Schwaden in den Himmel und brachte immer neue jener exzentrischer Wolken hervor, die sich donnernd scheinbar über den ganzen Kontinent ausbreiteten. Er hatte sich es sicherlich nie vorgestellt und noch weniger geglaubt, es jemals mit eigenen Augen sehen zu können. Und dennoch wurde es ihm immer weiter bewusst, während er die Schienen entlang humpelte, kontinuierlich auf die Flamme am Horizont zuwandernd: Das war das Ende der Welt. Kapitel 1: Die liebste Sklavin ------------------------------ „Autsch!“ Severa jauchzte unterdrückt auf, als das Metall in ihren Körper stach und sie versuchte, den pulsierenden Schmerz herunterzuschlucken. Es war nur ein kurzer Moment, doch sie konnte das Gefühl dieser dünnen Spitze einfach nicht ertragen, wie sie schnell durch ihre Haut drang und das Fleisch verletzte. Fast war es noch schlimmer als jenes festgeschnallte Joch, das man ihr verpasst hatte und sie dazu zwang, den Tag in einer quälerischen Haltung zu verbringen. „Hör auf zu heulen“, zischte Mandaniel und er schien ihr fast schon absichtlich die Nadel noch einmal in den Hintern zu stechen. Wobei das Wort „fast“ in besonders großen Anführungszeichen stehen musste, denn er hatte dies sicherlich nicht versehentlich getan. Hinter all seiner professionellen Fassade steckte ein kleiner Sadist, der nur darauf wartete komplett auszubrechen. Der Elf verstand sein Handwerk wie kein zweiter, was die Gepeinigte nur allzu oft am eigenen Leib spüren musste. Nadeln waren genauso sein Metier wie Scheren, Zangen und heiße Eisen. Selbst mit so manchem alchemistischen Mittel hatte er seinen Spaß. Ja... dieser Mann war absolut zum Schneidern geboren. „Bist du bald mal fertig?“, stöhnte Severa, als sie erneut einen Stich in Höhe ihres Steißbeins spürte, der sich in einem Reiz quer durch den Körper, bis in ihren Kopf und wieder zurück bemerkbar machte. „Ich sagte, du sollst die Klappe halten! Du tust ja gerade so, als sei das hier Folter.“ „Das ist Folter!“ Mandaniel verdrehte genervt die Augen und machte sich weiter an die Arbeit. Severa sagte nichts mehr, sondern schaute nur noch in den Spiegel und verzerrte leicht theatralisch das Gesicht, wann immer ein Stich ins Fleisch ging. Sie betrachtete das Stück Stoff, welches der Elf ihr gerade auf den Leib zuschneiderte - und wahrscheinlich auch gerade an den Leib schneiderte, so wie es sich anfühlte. Der bronzefarbene Samt zog vom Rock aus fünf Bahnen nach unten, jede ein wenig länger, als die vorhergehende und jede am Ende mit brauner Spitze verziert. Nach oben hin ging er in ein bronzenes, mit goldenen Ketten verziertes Korsett über, das an der Büste bewusst neckisch einen Teil des weißen Unterstoffs entblößte, der mit seinen fächerartigen Überstülbungen und der dünnen Spitze den Blick in ihr Dekolleté lenkte. Außer einem dünnen, dunkelbraunen Schal sollte nichts ihre Schultern bedecken, doch dieser hing gerade noch an der Garderobe. „Nun? Was sagst du?“, fragte Mandaniel endlich und richtete sich auf, jedoch nicht, ohne kurz einen Ausdruck des Schmerzes von sich zu geben und sich ans Knie zu fassen, denn immerhin stützte er sich darauf schon seit gut einer Stunde. Den Rock leicht angehoben drehte sich Severa vor dem Spiegel aus verspielt verziertem Ebenholz hin und her, posierte in allen einstudierten Haltungen, die sie für Festlichkeiten können musste. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie mochte das Kleid, keine Frage. Aber die Genugtuung, dies zuzugeben, wollte sie Mandaniel nicht gönnen. „Du weißt schon, dass es bereits maßgeschneidert war?“, fragte sie überspielt desinteressiert. „Darling, es gibt maßgeschneidert und es gibt maßgeschneidert. Das hier ist letzteres. Die Feierlichkeit ist Cirdan wichtig und er wünscht, dass du dort mit dem nötigen Schick auftrittst.“ „Da müsstest du mir aber noch die Ohren anspitzen und mich auf die Streckbank legen. Ich bin keine Elfin und eitle Stoffe machen mich auch nicht zu einer.“ „Es wird auch genügend Menschen beim Bankett geben.“ „Aber keine Zwerge.“ „Du siehst darin ein Problem, ich hingegen eine Chance. Sei versichert, dass alle Augen auf dir Ruhen werden. Und das nicht nur wegen dem, was du bist, sondern auch wegen dem, was du trägst. Und alle werden sagen: Nein, wirklich? Das Kleid ist wirklich von-“ „Alles klar! Ich versteh', worauf du hinauswillst.“ „Werbung ist das halbe Geschäft. Und wenn du dich sowieso nicht dagegen wehren kannst, umso besser. Ich glaube, du unterschätzt die Wirkung, die du auf uns Elfen hast.“ „Ach wirklich?“ „Cirdan wusste das ganz genau, als er dich in seine Obhut nahm.“ „Es wundert mich ja schon, dass man davor zurückgeschreckt hatte, mich bei meiner Geburt direkt zu töten. Was bin ich denn? Ein Mahnmal für euch?“ „Du weißt sehr gut selbst, was du bist...“ Severa hielt die Luft an. Um sie legten sich kalte, langgliedrige Finger, fuhren über ihren Hals, entlang die Schlüsselbeine und vergruben sich in ihren Busen, die sie zu kneten anfingen. Ein dürres Gesicht schmiegte sich an das ihre und küsste sie schnell auf die Wange, bevor die raue Stimme ihr direkt ins Ohr säuselte: „Du bist die schönste Zwergin von ganz Lyn'a'Tischal. Sei doch dankbar um deine Gene. Sie sind dein Kapital und damit ein Stück weit auch mein Kapital. Immerhin habe ich diesen Körper die letzten hundertzwanzig Jahre genährt. Was ist? Kriege ich denn gar keinen Kuss zur Begrüßung?“ Mit einem zuckersüßen Lächeln drehte sich die Zwergin um und schaute in das Gesicht ihres Herrn. Sein Zwicker wirkte mit jedem Tag nur noch schiefer und abgetragener und sie musste sich wirklich fragen, ob er durch das zerschlissene Glas überhaupt noch etwas sehen konnte. Eigentlich musste sie bei Elfen immer nach oben schauen und auch bei Cirdan vei Brith war das keine Ausnahme, doch der Weg zwischen den beiden war bedeutend kürzer als bei jedem anderen. Es war mehr als eindeutig, dass der Elf nebst irgendwelchen Potentials noch einen weiteren, wahrscheinlich viel banaleren Grund gehabt hatte, sie zu seinem ganz persönlichen Comfort Girl zu machen: Er musste seine Kleinwüchsigkeit kompensieren. Keine Elfin war kleiner als er und auch wenn er seine Nase bisweilen so hoch trug, dass sie sicherlich die meisten Köpfe überragte, konnte ihm das bei den Damen auch nicht weiterhelfen – eher im Gegenteil. Severa legte ihre Arme um den dünnen Hals, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste den Elfen sanft auf dem Mund doch ihr Gegenüber wartete nicht ab, bis sie mit der zaghaften Annäherung fertig war, sondern packte sie am Schopf und presste sie fester an sich, während er seine Zunge zu der ihren zwang. Seine andere Hand fuhr wieder zur Brust, fing an, sie zu begrabschen. Sie merkte, dass der Elf mehr wollte, an ihrem Kleid zog. Mandaniel räusperte sich und beendete die Zweisamkeit – zu Severas Dank, denn sie wollte nicht vor anderen entblößt werden. „Ich denke, meine Arbeit ist zu Eurer Zufriedenheit, der Herr?“, sprach er und drückte seinen Rücken durch. Selbst der aktuell erfolgloseste Minenbesitzer, war immer noch ein Minenbesitzer und verlangte allein durch seine Profession und seinen Besitz einen gewissen Respekt von seinem Umfeld, bauten sie doch immerhin jene wertvollen Kristalle in Massen ab, welche die Vorherrschaft der Elfen seit dem Tod des letzten Königs weiter gefestigt hatte. Unter Cirdans Grund fand man besonders die weißen Exemplare, die häufigste Variante. Das allein sorgte schon für eine große Konkurrenz und eine geringe Gewinnspanne, aber hinzu kam, dass die Mine hoffnungslos veraltet war. Außerdem musste er die Belegschaft regelmäßig kürzen – sprich, die Kräftigeren verkaufen – um nicht komplett ins Minus zu rutschen. Und da es an die 50 Jahre dauern konnte, bis ein Zwerg für die Arbeit geschaffen war, blieb der Nachwuchs aus. Es war ein Teufelskreis und nur eine Frage der Zeit, wie lange Cirdan das Unternehmen noch in der Solvenz halten konnte. Es war wie eine verschleppte Krankheit: Sein Vater hatte damals lieber in Prunk und ausladende Feste investiert, anstatt den Gewinn auf die hohe Kante zu legen, oder die Unternehmenszweige zu erweitern. Immerhin war es aber dessen Ruf, der dafür sorgte, dass die Familie vei Brith sich im Kesseltal noch immer einer gewissen Achtung erfreuen konnte. Vielleicht war auch das der Grund, warum Cirdan sich so viel von dem heutigen Bankett erhoffte. Nicht, dass sich Severa ernsthaft Sorgen um einen Elfen machte, aber sie hatte kein Interesse daran, verkauft werden zu müssen. Cirdan war schmierig, grimmig und arrogant, aber wenigstens wusste man bei ihm, woran man war. Viele andere Herren konnten unberechenbar sein; noch gestern hatten sie dir eine Extraration gegeben und am nächsten Tage hingst du am Galgen, einfach nur, weil ihnen danach war, jemanden baumeln zu sehen. Cirdan war nie nett – nicht einmal zu ihr, auch wenn er sie um Längen mehr respektierte als andere Sklaven – aber wenigstens konnte man sich sicher sein, dass er einen nicht einfach zum Spaß an der Freude hängen ließ. Für Fehler wurde man natürlich bestraft und auch Severa trug den ein oder anderen Peitschenschmiss am Rücken, den er ihr persönlich verpasst hatte, aber solange man keinen Aufstand anzettelte, würde einem schon nichts Schlimmeres passieren. Er konnte es sich sowieso nicht leisten, noch mehr Arbeiter zu verlieren. Langsam wanderte der Elf um seine Konkubine herum, ließ seine Hand über den Samt streifen und beäugte jeden Schnitt, jeder Verzierung und jedes Kettenglied genau. Nicht, dass er das Kleid nicht mochte, aber er suchte nach einem Punkt den er monieren könnte, einen winzig kleinen Fehler, über den er einen Aufstand machen würde, damit Mandaniel noch einmal im Preis runterging. Aber solche Strategien konnte man vergessen, wenn man den besten Schneider des Kesseltals engagierte. Der Stoff war ohne wenn und aber jeden Copper wert. „...und dir gefällt es auch?“ „Trägt sich einigermaßen.“ Der Elf nickte und richtete sich auf. „Na denn: Wenn die Trägerin sagt, es ist in Ordnung, dann wird es wohl auch so sein. Schickt die Rechnung an die übliche Adresse.“ „Sehr wohl, der Herr. Vielen Dank für Ihr Vertrauen.“ Mandaniel machte umgehend kehrt und bewegte sich mit langen, stelzenartigen Schritten aus der Wohnung, schloss leise die schwere Tür aus Temanholz hinter sich. „Ich brauche 'nen Drink“, knurrte Cirdan, kaum dass der Schneider aus dem Haus war, warf seine Jacke auf die Garderobe und zündete sich seine Pfeife an, während er aus dem Fenster den Tagebau beobachtete. Severa hatte nicht eine Sekunde gezögert – „Drink“ war das Stichwort – und sich zur Bar aufgemacht. Der bauchige Tresen aus dunklem, sauber verarbeiteten Holz beherbergte eine stattliche Auswahl bester Spirituosen. Von echten Klassikern, wie Drachentraum, einem hochprozentigem Kräuterschnaps, den man am liebsten mit einem dunklen Saft mischte, bis zu einzigartigen Exoten, wie der elfische Weincocktail Vin'i'Loreney, dem man nachsagte mit jedem Glas eine neue Geschmacksrichtung aus seinen fünfzigtausend Aromen zu kreieren, war für jeden überzeugten Alkoholiker etwas dabei. Träger des Tresens waren links und rechts zwei aufwendig geschnitzte Elfen – eine Frau und ein Mann – beide mit nicht mehr gekleidet als mit einem Blatt auf dem Schoß. Die Elfin hielt in ihrer Hand eine Weinflasche, die kaum erkennbar aus dem Holzschnitt abstand. Severa drückte die Weinflasche sanft und die Elfin sprang zur Seite auf und offenbarte ein Regal mit verschiedenen Gläsern dahinter – jedes passend für den richtigen Drink. „Was soll es denn sein?“ „Was Starkes.“ „Wüstenrum?“ „Was für Zeug?“ „Ich glaube, du nennst es 'Menschengesöff'.“ „Meinetwegen. Stillos aber wenigstens brennt es gut nach.“ Schweigend suchte die schöne Zwergin nach einem passenden Glas – ein flaches, aber dafür mit großem Durchmesser. Sie spürte die Spannung in der Luft, wollte aber keinen Ton sagen; immerhin war ihr das Sprechen sowieso viel zu sehr gestattet und sie wollte ihr Recht nicht endlos ausreizen. Wenn ihr Master erzählen wollte, was ihn bedrückte, dann würde er es von sich aus tun. Geübt füllte sie das Glas in optimaler Höhe und reichte es dem Elfen. Cirdan führte das Glas mit der schwappenden, braunen Flüssigkeit zweimal an seiner Nase vorbei, dann setzte er an und kippte den Inhalt runter. Vom brennenden Alkohol überrascht schüttelte er sich und musste sich zusammenreißen, das Zeug nicht wieder auszuspucken. Der Rum war gut nachgereift seit dem letzten Mal. Unwillkürlich zuckten Severas Mundwinkel nach oben, als sie den Elfen bei seinen Aufstand sah. Und nicht einmal einen Augenblick später fing sie sich dafür dafür eine schallende Ohrfeige ein. „Du hast gelacht.“ „Nein, Herr“, sagte sie still und senkte den Kopf. Eine zweite Ohrfeige. „Lüg mich nicht an, ich hab's gesehen.“ „Mein Herr ich würde nicht-“ Eine dritte. „Wie schön, dass mich jetzt schon nicht einmal mehr meine eigenen Untergebenen ernst nehmen! Bin ich zu einer Witzfigur mutiert?! Ist es jetzt schon dreckigen Zwergen erlaubt, über mich zu lachen, ist der Clan vei Brith schon so tief gesunken?! Sieh mich an... Sieh mich an!“ Cirdan packte grob ihren Kiefer und zwang sie, ihm ins Gesicht zu schauen. Seine Augen funkelten vor Wut und jeden langgezogenen Atemzug konnte man an seinen Nasenflügeln ablesen. „Hast du mir etwas mitzuteilen?“ Einen ganzen Augenblick lang reimte sich Severa ihre Worte zusammen, denn er würde sich mit einer gewöhnlichen Entschuldigung nicht zufrieden geben. Die Größe seines Stammes in Frage zu stellen wurmte ihn noch mehr als seine eigene. „Nun? Ich höre?“ „... Du scheinst mir etwas angespannt, soll ich dir einen blasen?“ Der Elf hob leicht die Augenbrauen, ließ dann aber ihr Gesicht wieder los und wandte sich seinem Drink zu. „Vielleicht später...“ „Magst du mir nicht erzählen, was los ist?“ „Sag mir bitte nicht, dass du dir ernsthaft Sorgen um mich machst.“ „Tue ich nicht, aber es interessiert mich trotzdem.“ „Du kennst doch diesen Menschen-Bankier aus Lynasa, nicht wahr? Enders von Blauswortd.“ „Schonmal gehört.“ „Für die Feierlichkeiten wollte ich eigentlich einen Kredit bei ihm aufnehmen, um das Privatvermögen nicht unnötig zu belasten. Aber anscheinend ist mein Name nicht mehr genug wert, um einen fairen Vertrag zu erhalten. Verdammter Halsabschneider. Der Gedanke an diese horrenden Zinsen hat mir den ganzen Tag verdorben.“ Cirdan wanderte zu einem Portrait seines Stammbaums und schaute gebannt darauf. Die Ausführung war gigantisch, um es möglichst bescheiden auszudrücken, und reichte bis zu den Anfängen des Kristallabbaus zurück. Er schnalzte mit der Zunge, kippte den Rest des goldbraunen Suds die Kehle hinab und haute das leere Glas geräuschvoll auf den Tresen. „Weißt du, was mir in diesem Moment klar geworden ist? Ich führe eine Dynastie zu ihrem unvermeidlichen Ende, Sevvi. Das hier... dieser Stammbaum existiert seit Jahrtausenden und jeder vei Brith vor mir konnte auf ein stolzes Imperium blicken. Und ich... gucke auf einen verdammten Schrotthaufen. Uns rennt das Geld weg und ich muss darüber nachdenken, den Kristallabbau loszulassen und mich anderweitig umzusehen – auch wenn es meinen Ruf kaputt machen wird. Aber ich bin lieber reich und unwichtig, als arm und angesehen.“ „Wusste gar nicht, dass dir dein Ruf so egal ist. Willst du deswegen den Ball heute Abend auslegen? Um neue Kontakte zu knüpfen? Aber wäre es nicht günstiger, einen fremden Ball dafür zu wählen?“ „Ich bin Aristokrat, kein Bettler auf der Suche nach Almosen! Wenn ich auf fremden Festen nach neuen Geschäftszweigen suche, sieht es aus, als hätte ich es nötig! Nein, ich will aus dem vollen Pool meiner werten Kollegen schöpfen und vielleicht den ein oder anderen Neuling von weit entfernt begrüßen. Eine großzügige Geste Cirdan vei Briths!“ Und wie ihm etwas an seinem Ruf lag. Severa konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, achtete aber darauf, dass er sie nicht sehen konnte, denn sie hatte keine große Lust, schon wieder eine geknallt zu bekommen. „Also sind die ganzen Ausgaben für dieses Bankett...“ „Investitionen. So wie dein Kleid.“ Cirdan kam auf sie zu, hob ihr Kinn dieses Mal sanft an und grinste berechnend. „Du bist meine Geheimwaffe, Sevvi.“ „Geheimwaffe?“, wiederholte Severa fragend und setzte eine unschuldige Miene auf. „Du weißt, warum ich dich in meine Obhut genommen und großgezogen habe?“ „Geht's hier wieder um meinen Vorbau?“ „Unter anderem. Schau in den Spiegel, und sag mir, was du siehst.“ Ihr Herr drückte sie zum großen Spiegel und hielt sie fest, strich sanft über Hals und Schulter, was ihr eine Gänsehaut verpasste. Sie gaben schon ein seltsames Pärchen ab: Er selbst, dürr, mit seiner leicht erschlafften, blassgelben Haut, dem grauen Haar und den müden, violetten, mandelförmigen Augen; Sie hingegen bedeutend stämmiger, ob zugleich dennoch wohlgeformt, mit ihrem langen, rotbraunen Haar, das an den Spitzen in weiten Locken lag, den ähnlich geformten, aber matschgrünen Augen und den leicht spitzen, aber doch deutlich kleineren Ohren. Ihre beiderseitigen Ursprünge konnte sie nicht verleugnen, doch sie verstand dennoch nicht, worauf Cirdan hinauswollte. Er spürte das und erklärte es ihr: „Du bist ein verbotenes Kind, ein Resultat aus einer grausamen Revolte. Jeder wollte dich tot sehen, deine Mutter ganz besonders. Und dennoch habe ich dich vor deinem Schicksal bewahrt und zu einem festen Bestandteil unserer Gesellschaft gemacht. Was denkst du, sagt all das über mich aus?“ „Dass... dass du großzügig bist?“ „Dass ich nach wie vor einen beachtlichen Einfluss auf alle Elfen im Kesseltal habe. Dass mein Name nach wie vor Gewicht hat. Dass du dich zu so einer exotischen Schönheit entwickelt hattest, war nur ein Tüpfelchen auf dem i. Und ich will heute Abend jede böse Zunge mit eben jener Schönheit verknoten. Ich kann doch auf deine Hilfe zählen, oder?“ „Master...“, hauchte Severa, setzte ein laszives Lächeln auf und drehte sich zum Elfen, drückte ihre Brust heraus und rekelte sich. Als Comfort Girl wurde sie Zeit ihres Lebens zum Sex gezwungen, aber das hieß nicht, dass sie es nicht gern tat. Sie liebte die Macht, die sie über den Elfen nur durch ihren Körper ausüben konnte und sie liebte die kontroverse Aufmerksamkeit, die ihr in der Gesellschaft der Adligen zuteil wurde. Gerade verspürte sie große Lust und sie wusste mittlerweile ganz genau, wie sie ihren Master dazu kriegen konnte, jetzt sofort mit ihr zu schlafen – zumal seine Willensstärke in dieser Hinsicht quasi nicht vorhanden war. „Euer Kompliment ist zu viel für mein kleines Herz. Selbstverständlich werde ich mein Allerbestes für Euren Erfolg geben.“ „Weißt du was? Ich glaube, ich würde doch jetzt gern deine Entschuldigung für vorhin in Anspruch nehmen“, sagte er grinsend, packte ihren Schopf und drückte sie in Richtung seiner Lenden. Sie zögerte nicht einen Augenblick. Kapitel 2: Rote Pfoten, kalte Federn ------------------------------------ Der Zug hielt außerplanmäßig. Inmitten einer trostlosen Pampa aus Wiese und einer handvoll Bäume kam er zum Stehen und rührte sich nicht mehr, was die Insassen nicht nur verwunderte, sondern regelrecht nervös machte. In der grünen Einöde hielt man nicht einfach grundlos an, insbesondere nicht, wenn man sich auf einer schwarzen Linie bewegte. Fragend tauschten die fünf Männer untereinander Blicke aus, bis sie wortlos einen unter sich ausgemacht hatten, der aussteigen und den Lokführer nach dem Grund der unverhofften Pause fragen sollte. Die Wahl fiel auf eine leicht untersetzte Gestalt mit einer Narbe quer über das Gesicht, welche ihr langes Haar zu einem Dutt gebunden hatte. Der jugendliche Mann hatte mit seinem Einsatz nicht gerechnet, versuchte mit einem letzten Blick die Aufgabe an jemand anderen abzugeben, doch die anderen hatten bereits ihre Entscheidung getroffen. Laut seufzend stand er auf, packte sich sein Gewehr, und verließ den Wagon über die Hintertür. Die Nacht war kühl und ruhig, sah man mal von den Lauten einiger Tiere in der Ferne ab. Am Himmelszelt lieferten sich die Sterne ein Funkeln um die Wette, doch sie alle wurden vom Südstern überstrahlt, dem leuchtenden Auge des Drachengottes Chi'Rayiu, der über dem Sternenmeer des weißen Schleiers seinen langen Schweif zog. Es war das hellste Sternenbild am Horizont und auch jenes, das jeder Laie mit bloßem Auge erkennen konnte. Der Mann legte das Gewehr an und schritt langsam an den Wagons entlang in Richtung Lok, wobei er darauf achtete, sich niemals zu weit vom Zug zu entfernen, sodass er aufspringen konnte, sollte es unverhofft weitergehen. „Hey!“, rief er, als er sich der Führerkabine näherte. Aus dem erleuchteten Fenster lugte der Kopf eines beschmutzten Kerls mittleren Alters. Ein Mensch, so wie er selbst. Mit müden Augen, einem Drei-Tage-Bart und einem recht abgetragenen Tuch um den Kopf gebunden. Missmutig schaute er den Passagier an. „Was ist?“ „Warum geht’s nicht weiter?“ „Guck doch selbst...“ Der Mann nahm den Ratschlag zähneknirschend an, bewegte sich weiter in Richtung Front und entdeckte dann düster, jedoch recht offensichtlich den Grund für ihren ungewollten Halt: Die Schienen hörten auf und zwar für ein gutes Stück, bevor sie wieder anfingen. Die dicken Eisenteile waren einzeln abgetragen worden, die Schrauben wurden sauber rausgedreht. Wütend schritt er zurück, erhob die Waffe und richtete den Lauf direkt auf den Lokführer. „Wo hast du uns hingeführt?!“ „Nimm die Waffe runter, Junge.“ „Verkauf mich nicht für dumm! Wir sind über die Süd-Avionar-Linie vor zwei Tagen Richtung Westen gefahren, da war alles in Ordnung und nun sollen spontan 50 Fuß tonnenschweres Eisen im Nichts verschwunden sein?!“ „...du bist neu im Geschäft, oder?“ „Wieso?“ „Weil so was andauernd passiert. Die schwarzen Linien werden nach und nach von den Karawanen abgetragen.“ „Was denn bitte für Karawanen?“, fragte der Bewaffnete ungläubig, senkte aber langsam sein Gewehr. „Die Schrottsammler, welche die Ruinen nach Wertsachen aus der alten Welt durchsuchen. Da aber nach 200 Jahren die Ausbeute geringer wird, haben diese Nomaden angefangen, sich an den Bahnlinien zu vergreifen, die nicht unter dem Schutz der ISE stehen. Eigentlich wissen sie, dass sie die Finger von den aktiven Schwarzen zu lassen haben, aber ihr durchgeknallter Kaiser... Hast du die echt nicht gekannt?“ Der Jüngere schwieg und schaute gebannt zum Lokführer hoch. Dieser wartete noch einen Moment, prüfte sein Gegenüber, bis er seine Vermutung abnickte: „Jep. Definitiv zum ersten Mal draußen. Wie dem auch sei, wir haben keine andere Wahl, als bis zum Sonnenaufgang zu warten.“ „Was? Warum das denn?“ „Damit wir uns zur stillgelegten Mei-Shindura-Linie aufmachen können und uns dort ein paar Schienenstücke... 'ausleihen'. Die liegt knapp 500 Schritt in diese Richtung. Ich habe hinten noch einen alten Karren dann geht das leichter.“ Der Lokführer zeigte hinter sich. Der junge Mann lief hinter die Lok und schaute an ihr vorbei in die Finsternis. Außer dem sich im Wind wiegenden Gras konnte er nichts weiter erkennen, zuckte dann aber mit den Schultern und wandte sich wieder an die Fahrerkabine. 500 Schritt? Das ist doch nicht weit. Wenn wir uns sofort aufmachen, dann...“ „Bist du irre?! Niemand, der halbwegs bei Verstand ist, wandert des Nachts durch das Ödland!“ „Och bitte, wir kommen gerade aus Beaumir Shomare, was soll dann bitte hier schon groß gefährlich sein?“ „Das ist doch was völlig anderes! In der gläsernen Wüste kann ja auch nichts leben, was einen töten kann, da hätte ich auch kein Problem des nachts umherzuwandern. Aber keine zehn Pferde kriegen mich hier zur Zeit der Entrissenen aus dem Zug!“ „Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd. Wir sind Männer von Hunter und...“ „Und wenn ihr die Liebhaber des Gouverneurs währt! Wenn ihr euer Leben wegwerfen wollt, bitte, aber ich warte bis zum Tag. Und jetzt mach, dass du wegkommst!“ Der Lokführer verschwand vom Fenster und erschien auch nach mehrmaligem Rufen nicht mehr. Dem Mann wurde mulmig zumute. Er wusste nicht viel über die Einöde, war bisher nur auf den bewachten Linien der Isla Shinju Eisenbahngesellschaft unterwegs gewesen. Das hier war seine erste Fahrt auf einer sogenannten Schwarzen Linie – jenen Eisenbahnlinien, welche aufgrund ihrer schlechten Qualität oder ihrer geringen Relevanz für tot erklärt und nur noch von Schmugglern benutzt wurden. Die Entrissenen... was damit wohl gemeint war? In Gedanken machte er sich wieder auf den Weg zum Wagon und stieg das knarzende Trittbrett hinauf. „Und? Was ist los?“, fragten die anderen gespannt. Der junge Mann legte das Gewehr wieder in die Ecke und setzte sich auf seinen angestammten Platz. „Die Schienen wurden geklaut.“ Kollektives Fluchen bei den anderen. „Und jetzt?“, murmelte ein Elf mit Irokesenschnitt, der seine Füße auf der gegenüberliegenden Sitzbank abgelegt hatte, nach einiger Zeit. Die Männer schauten sich fragend an. „Was sagt denn der Zugführer, Sunny?“, erkundigte sich Eisen, ein bulliger Kerl mit Überbiss, der aber abseits seiner einschüchternden Statur ein freundlicher Geselle war. „Er sagte, wir sollten uns am Morgen zur Mei-Shindura-Linie aufmachen und uns von dort das nötige Material holen. Heute Nacht wollte er nicht gehen, wegen der...“ „Der Entrissenen“, beendete ein älterer Herr mit Spitzbart und wehendem Haar, das lose am Kopf zusammengebunden war. Seine Brille und sein Shinjuer Gewand trugen deutliche Abnutzungserscheinungen. Er saß neben dem Elfen und wie auf einen Gehstock stützte er sich auf das gebogene Schwert zwischen seinen Beinen. „Komm schon, Jun“, lachte der Irokesenelf und schaute den älteren Herrn fast schon bemitleidend an, als würde er ihn für senil halten. „Das sind doch nur Schauergeschichten, die man Kindern erzählt, damit sie nicht nachts im Ödland spielen.“ Der Mann strafte die Bemerkung seines Sitznachbarn mit einem kühlen Blick. „Du bist fast so alt wie ich und trotzdem so naiv. Ich habe sie mehr als einmal gesehen. Und allein ihr Blick sorgt dafür, dass dir Mark und Bein erstarren.“ „Natürlich hast du das, Väterchen. Die Kaninchen im Gras mussten wirklich angsteinflößend gewesen sein. Wie dem auch sei. Wir machen wohl eine längere Pause, also hat wohl niemand was dagegen, wenn ich mich kurz erleichtere. Sollte ich schreien, wurde ich wahrscheinlich von einem Entrissenen gebissen.“ Der Elf ging und ließ die restlichen vier allein. „Vorlauter Bengel. Bei Elfen kommt die Weisheit wohl erst bei deutlich höherem Alter. Außerdem beißen Entrissene gar nicht.“ „Was... was sind denn diese Entrissenen?“, fragte Sunny unsicher. Er war mit Abstand der jüngste in der Runde, auch wenn der Elf zwecks seiner hohen Lebenserwartung nicht viel älter aussah, und lauschte nur allzu gerne, wenn die anderen – insbesondere Jun – von ihren Abenteuern außerhalb Shinjus erzählten. „Das sind die Seelen all jener, die bei der großen Explosion zu lange der magischen Verseuchung ausgesetzt waren und nicht das Glück hatten, zu überleben. Die Seelen wurden aufgespalten und langsam ihren noch lebenden Hüllen entrissen. Nun wandern sie des nachts als ziellose Schatten im Ödland umher, weil sie den Weg zum Jenseits nicht kennen, und krallen sich weinend an jeden Lebenden, der ihnen über den Weg läuft. Wer ihnen zu nahe kommt, dem bleibt vor Angst das Herz stehen. Wortwörtlich.“ Der Junge schluckte, als Jun seine Erzählung beendet hatte und versank schweigend auf seinem Sitz. Er musste daran denken, dass man ihn vorhin nur ausgewählt hatte, weil er am entbehrlichsten war? „Nun mach dir mal nicht ins Hemd, Kleiner“, lachte Eisen und entblößte eine Reihe von überdimensionalen Zähnen, dass man dachte, sie wären aus Stein gehauen. Es war, als habe er Sunnys Sorgen erraten. „Die Entrissenen trauen sich nur an einsame Wanderer und kleine Grüppchen. Ein hell erleuchteter Zug ist absolut kein-“ Ein lauter, furchterfüllter Schrei unterbrach ihn und ließ alle geschockt zum Ausgang blicken. „Das war Iley“, hauchte Jun und wollte sich bereits aufrichten, doch es kam ihm einer zuvor: Der schweigsame Herr in einem großen, sandfarbenen Umhang, dessen Kapuze weit ins Gesicht gezogen war und auf dem Kopf in zwei Ecken abstand. Er saß die ganze Zeit in einiger Distanz zu den anderen direkt am Eingang und hatte sich die gesamte Reise über kaum bemerkbar gemacht hat. Nun aber war er umgehend aufgesprungen und hielt sein Schwert am Gürtel fest im Griff, während er aus dem Wagon stieg. Ihre eigenen Waffen greifend folgten Sunny und Eisen dem Mann umgehend nach draußen und sahen sich in der Nacht um. Von dem Elfen fehlte jede Spur. Sunny kniff die Augen zusammen, in der Hoffnung, so besser sehen zu können. Plötzlich rauschte etwas an seinen Augen von oben hinab und knallte mit einem dumpfen Geräusch auf die Erde, nur wenige Fuß von der Gruppe entfernt. „Scheiße... es ist Iley“, knurrte Eisen, der sofort zu dem Geschoss gelaufen war. „Tot... Das Genick gebrochen. Aber wahrscheinlich schon vorher, sonst hätte er beim Sturz geschrien.“ Sunnys Nackenhaare stellten sich auf. Die schweißnassen Hände rutschten über das Holz seines Gewehrs und sein Herz klopfte bis in den Hals. Er verspürte den Drang, sich einzunässen und loszuheulen, doch zugleich lähmte seine Angst jeden Muskel. Er wollte weg; einfach nur weg. Der Mann im Umhang legte beruhigend eine Hand auf die Schulter des Jungen und sprach: „Komm mit. Wir müssen zur Lok. Eisen, du hältst die Stellung und passt auf den alten Sack auf. Die Munitionssperre ist bis auf weiteres aufgehoben. Erst schießen und dann fragen. Spring in den Wagon, wenn du merkst, dass wir losfahren.“ „Verstanden, Shiro“, gab der Schrank zurück, ging in die Knie und legte das schwere Handrohr an, ein großkalibriges Gewehr, das mehr an eine tragbare Kanone als eine einfache Flinte erinnerte. Sunny wurde vom anderen Mann währenddessen an den beiden Wagons vorbei zur Lok gezerrt. Der Vermummte blieb oberflächlich ruhig, doch sein verkrampfter Griff um Sunnys Hand machte deutlich, dass auch in seinem Gemüt die Anspannung nicht verborgen blieb. „Hey!“, brüllte er schon von weitem, doch es gab keine Antwort. Sie sputeten sich, stiegen auf das Trittbrett und rissen die Fahrertür auf. Der Zugführer fiel ihnen sofort entgegen und blieb reglos am Boden liegen. Die Augen waren schmerzerfüllt aufgerissen, seinen Hals zierte ein großer, blutroter Mund, zu einem verzerrten Lachen verformt. Die gesamte Führerkabine war mit Blut übersät und die Mechanik war komplett rausgerissen oder unbrauchbar gemacht worden. Sie saßen in der Falle. „Verdammt...“ „D-das waren keine Entrissenen, oder?“, stotterte Sunny und musste sich zusammenreißen, sich nicht zu übergeben. Der Mann, den Eisen Shiro genannt hatte, nahm die Kapuze ab und entblößte sein Gesicht; lange, dünne Barthaare, glühend gelbe Augen und ein Paar fellige, spitze Ohren, die am Kopf aus dem aschblonden Haar hervorschauten. Shiro war ein Kitzune – ein Fuchswesen. „Entrissene erschrecken einen zu Tode. Sie brauchen niemanden das Genick brechen oder die Kehle aufreißen. Und Sabotage klingt nach einer nur allzu diesseitigen Tätigkeit.“ Shiro griff nach seinem Schwert. Aus der schwarzen Scheide blitzte der blankpolierte Stahl hervor, der im Mondlicht bläulich leuchtete. Sunny versuchte das Gewehr anzulegen, konnte aber kaum seine Arme heben. „Darüber hinaus kenne ich nur ein intelligentes Wesen, das seine Opfer aus großer Höhe in den Abgrund wirft und das sind...“ „Harpyien!“, brüllte Eisen von hinten und fast zeitgleich löste sich der ohrenbetäubende Knall seines Handrohrs, gefolgt von einem schrillen Schrei und einigen umherfliegenden Federn. Ein Lichtblitz erhellte die Umgebung und man sah, dass der Zug umzingelt und seine Besatzung in der Unterzahl war. Es waren unzählige jener geflügelten Damen zu sehen: große, kleine, in unzähligen Varianten, manche mit Lanzen oder Naginatas bewaffnet, doch die meisten ließen ihre glänzenden Krallen für sich sprechen. Sie lachten euphorisch, in Hinsicht auf das blutige Spiel das gleich folgen würde. Da stürzte auch schon eine befiederte Kriegerin auf die beiden hinab und griff Shiro an. Dieser reagierte schnell, sprang nach hinten und zeichnete eine horizontale Linie mit seiner Klinge. Aus der Harpyie schoss entlang der Linie ein roter Schwall und sie krachte röchelnd in das hohe Gras. „Beeilung!“, rief der Kitzune und rannte in Richtung des Zugendes. Sunny folgte ihm. Die Ecke des letzten Wagons wanderte nach links und offenbarte den Kampf, den Eisen gerade mit drei Harpyien führte: Schnell griff er hinter sich und packte die Naginata der einen, die ihm einen Schlag von hinten versetzen wollte, wirbelte sie an der Stange umher, ließ sie in eine zweite krachen und zerfetzte beide mit der schweren, breiten Klinge seiner verzierten Axt. Die dritte schlug mit ihren Krallen nach ihm, doch er machte eine halbe Drehung nach hinten und nutzte den gewonnen Schwung für einen vertikalen Streich gegen seine Kontrahentin, der sie in den Boden rammte. „Sunny! In den Wagon und dann ganz nach hinten! Pass auf den alten Sack auf!“ , befahl Shiro, während er eine Pistole zückte und in die Luft schoss, gefolgt von einem Aufschrei, der aber unter dem perfiden Lachen des Frauenchors über ihnen beinahe unterging. Die Harpyien kämpften sich in Ekstase, ohne Rücksicht auf Verluste. Sie griffen den Kitzune an, doch wie in einem Tanz hüpfte der Fuchsmensch an ihnen vorbei und brachte sie mit sauberen und gezielten Hieben zu Fall, so schnell, dass man seinen Bewegungen kaum folgen konnte. Drei an der Zahl fielen binnen weniger Sekunden Shiros brillanter Kampfchoreographie zum Opfer. „Hast du nicht gehört?! Ich sagte du sollst in den Wagen!“, brüllte er hinter sich. Sunny schüttelte sich kurz und sprang in den Wagon, da sah er schon, wie eine ihrer Gegnerinnen das Fenster einschlug und zum alten Mann vorpreschte, der sein Schwert gezückt hatte und damit mehr schlecht als recht fuchtelnd dem Feind gegenüberstand. Die Harpyie beeindruckte das wenig, sie wehrte die Schwünge ohne große Probleme mit ihren Krallen ab, während sie den zittrigen Greis in die Ecke trieb. Der alte Mann würde verlieren, wenn Sunny nicht eingriff, das wurde ihm bewusst. Schweißgebadet hob er sein Gewehr und legte es an. Kimme und Korn schwankten unter der Aufregung so stark, dass er nur raten konnte, wohin er gerade zielte und die nassen Finger rutschten andauernd vom Abzug ab. Die Harpyie kam Jun immer näher, war nun in direkter Reichweite. Jetzt oder nie! Sunny presste den Lauf unter seiner Hand schon fast zusammen, hielt die Luft an und drückte ab. Die Kugel flog dicht an seinem Ziel vorbei und schlug in die hölzerne Wand dahinter ein. Wütend wirbelte die Harpyie herum. „Scheiße...Jun!“ Der Bruchteil einer Sekunde, für den die Harpyie abgelenkt war, reichte aus, damit Jun dem Wesen hinterrücks das Schwert durch den Körper rammen konnte. Die junge Frau riss ihre dunklen Augen schmerzerfüllt auf und starrte auf das blutige Metall, welche aus ihrem Brustkorb schaute, bevor sie von der Klinge rutschte und mit dem Gesicht zuerst zu Boden fiel. Sunny fragte den alten Mann mit einem kurzen Blick, ob alles in Ordnung sei, doch Jun schaute an ihm vorbei nach draußen und wurde noch blasser als er sonst schon war. Sunny drehte sich in seine Blickrichtung – und sah, wie gerade ein Speer in Eisens Rücken gerammt wurde. Dieser heulte auf und griff hinter sich, versuchte noch, den nicht allzu tief sitzenden Stab aus dem Fleisch zu ziehen, doch schon schossen mehrere Harpyien in seine Richtung. Er packte die erste Angreiferin im Gesicht und hämmerte sie gegen die Wagenwand, brach dann den Stab in seinem Schulterblatt ab und zog es einer weiteren mit eine solchen Wucht über den Kopf, dass sie um die eigene Achse taumelnd umfiel. Da überraschten ihn aber bereits zwei weitere von hinten und durchbohrten seinen bulligen Körper mit vier neuen Speeren, bis der riesige Kerl auf die Knie fiel und so, von den langen Waffen wie ein Zelt gehalten, verharrte. „Nein! Eisen!“ In einem Aufschrei rannte Jun zum Ausgang, sein Schwert hoch erhoben und sprang auf die erstbeste Vogeldame vor ihm. Doch etwas bremste seinen Vormarsch – es schien, als würde er stolpern – und er fiel vor der verdutzten Frau in den Matsch. Für einen kurzen Moment wusste sie nicht, ob sie den Angriff ernst nehmen sollte, dann jedoch riss sie eine der Speere aus Eisens Leichnam und stach ihn in die Erde, wo ein erschrockenes, dumpfes Aufröcheln alles blieb, was man noch von Jun hörte. Sunny konnte sich nicht rühren. Drei Männer, die so viele Abenteuer souverän gemeistert hatten, waren binnen weniger Minuten von einer schieren Überanzahl von Gegnern ausgelöscht worden. Er konnte nicht mehr. Die Geräusche von Stahl, das aufeinander schlug wurden immer leiser, bis sie in seinen Ohren endgültig verstummten und er die Kampfgeräusche nur noch als dumpfes Klirren im Hintergrund wahrnahm, während seine Sicht zu einem dunkelgrauen Einerlei verschwamm. Er bemerkte noch die Person, die sich ihm durch den Wagon näherte, doch sie war nicht mehr, als ein wabernder Schatten. Fast wie ein Entrissener. Er würde gleich sterben, wenn dieses Wesen bei ihm war, das war ihm bewusst. Er wollte es nicht, aber es gab auch nichts, was er dagegen tun konnte. Seine Beine bewegten sich nicht mehr, seine Stimme war verstummt. Der Schatten war genau über ihm und beugte sich zu ihm hinunter. „Hey... Hey, Kleiner! Kleiner, hörst du mich?!“ Aus den dumpfen Geräuschen, die an sein Ohr drangen, formte sich langsam eine Stimme. Sie kam von dem Schatten vor ihm, der ihn an den Schultern gepackt hatte und energisch schüttelte. Langsam wurden die Konturen klarer. „Komm zu dir, Sunny! Es ist vorbei!“ Sunny konnte nicht antworten. Shiro packte ihn am Kragen und hievte ihn auf die Beine. „Die Harpyien haben sich zurückgezogen... Die Verluste waren wohl zu groß. Aber die Biester sind nicht gerade dafür bekannt, einfach aufzugeben. Wir müssen verschwinden.“ Er packte Sunny am Arm und zog, doch der Junge blieb wie angewurzelt stehen. Seine Augen stierten geradeaus, bis aus ihnen zwei dünne Bäche liefen. Seine Lippen zitterten, aber er bekam kein Wort heraus. Erst eine schallende Ohrfeige brachte ihn wieder zur Vernunft. „Reiß dich zusammen, Mann!“, fauchte Shiro. „Sie sind... alle tot...“ „Ja. Aber wir haben keine Zeit zu trauern, zumindest jetzt nicht. Die Fracht müssen wir stehenlassen. Ist ja nicht so, als könnte sie gerade bewegt werden. Jetzt komm.“ Er zerrte Sunny aus dem Wagen in die kühle Nacht. Wo gerade hier noch das Chaos getobt hatte, war es nun totenstill – im wahrsten Sinne des Wortes. Vor ihm entblößte sich ein gigantisches Blutbad, gespickt von umherfliegenden Federn. Auch die Leichen seiner Freunde waren darunter, aber die Harpyien hatten bedeutend schwerere Verluste erlitten, das stand außer Frage. Shiro griff nach einem im Boden steckenden Speer und drückte ihn dem Jungen in die Hand. „Nur für den Fall...“ Sie bewegten sich von dem Massaker und den Schienen weg ins Ödland hinein. Sunny zitterte am ganzen Körper, obwohl er zugleich innerlich glühte. Tränen liefen ihm weiter über das Gesicht, rutschten vom Laufwind seine Wange entlang nach hinten weg. Innerlich war er gestorben, auch wenn sich seine Beine bewegten. Er folgte nur stumm dem weißhaarigen Fuchs vor ihm. „Shiro...“, murmelte er, nachdem sie eine gefühlte Ewigkeit nur schweigend in der Finsternis vorangeschritten waren. Wie viel Zeit genau seitdem vergangen war, konnte er nicht sagen. Aber am Horizont erschienen bereits die ersten Streifen, die die Nacht wegdrückten. „Jetzt nicht, Kleiner!“ „Es ist meine Schuld... Dass Jun... ich hätte ihn aufhalten müssen...“ „Zerfließ' nicht in Selbstmitleid! Es ist nicht deine Schuld. Eisen war Juns Ziehsohn. Du hättest ihn sowieso nicht retten können. Gegen eine Übermacht kann man nichts machen. Wir können von Glück reden, überhaupt lebend da raus gekommen zu sein.“ Leicht gesagt, immerhin hatte Shiro nicht einen Kratzer aus dem Kampf davongetragen. Fast konnte man meinen, man habe ihn absichtlich verschont. Doch warum hätten dann die Harpyien unzählige ihrer Kriegerinnen verbraten? Das Fuchsgesicht drehte sich zu seinem verheulten Gegenüber um und packte ihn grob an der Wange. „Noch einmal: Aktuell ist unsere einzige Aufgabe zu überleben und nichts anderes. Nicht der Zug, nicht die Fracht und auch nicht die Leichen unserer Freunde. Verstanden?“ „D-Du hast recht. Tut mir leid...“ Der Kitzune lächelte sanft und strich über Sunnys Wange. Langsam beruhigte sich der junge Krieger ein wenig und schüttelte die Gedanken ab, da vernahm er aus der Ferne ein fast lautloses Flattern. Sein Kumpane hatte es auch bemerkt. Schnell wirbelte Shiro herum und schaute in die Luft, dann weiteten sich seine schmalen Pupillen. Sunny tat es ihm gleich. Im Schein der ersten Strahlen landeten vor ihnen ein Rudel weiterer Harpyien, doch diese waren weniger und wirkten dafür aber bedeutend bedrohlicher, als jene, die die kleine Gruppe gerade überfallen hatten. Die am Zug waren in grobe, lederartige Rüstungen gekleidet, ihre Flügel abgenutzt und ihre Waffen – wenn sie denn überhaupt welche bei sich geführt hatten – von minderwertiger Qualität gewesen. Die Frauen vor ihnen – es war vielleicht ein halbes Dutzend - trugen teure Seide aus Shinju gepaart mit dem meisterhaften Leder aus den südlichen Gebieten von Cher Enfant. Wie von den Wilden der Berginseln nicht anders zu erwarten, waren beide Elemente von alten Kleidungsstücken etwas unwillkürlich zusammengenäht worden, doch mit ihren blitzenden Knöpfen aus Messing, den verzierten und aufwendigen Körpersteckern im Gesicht und an den Ohren und nicht zuletzt ihren auf Hochglanz polierten, wunderschönen Waffen, die in dem Zwielicht nur noch bedrohlicher schimmerten, wirkten sie fast schon kaiserlich erhaben. Und unter all jenen stach ihre Anführerin noch deutlicher heraus: Sie war bedeutend älter als ihre Gefährtinnen – das sah man sofort an ihren tiefen Falten im von Narben zerfurchten Gesicht – doch machte sie das nur umso erhabener, was vielleicht auch an dem ungebrochenen Respekt lag, welche die anderen für ihre Herrin unübersehbar empfanden. Ihre grauen Federn an den Armen wurden zur Spitze hin dunkler, sodass bei jeder Bewegung ein finsterer Schimmer über ihre Flügel ging. Das lange, graugrüne Haar ging bis zu ihren Hüften und wurde durch mit funkelnden Steinen besetzte Klammern im Zaum gehalten. In ihren schwarz glänzenden Krallen hielt sie eine lange Kette, an dessen Ende sich eine Art Greifhaken befand. Und aus dem offenen Dekolleté schaute die aufwendige, fast schon lebendige Tätowierung eines farbenfrohen Vogels auf einem Kirschblütenbaum, der die Beine übereinanderschlug und auf einer Flöte spielte. Es war Fiseau mi'Rou, Gott der Intrige und des Hofspiels. „Was zum... ist... ist sie etwa ein Champion?“, stotterte Sunny und erhob zitternd seinen Speer. Shiro stellte sich vor ihm und ritzte sich mit seiner Klinge die linke Handfläche auf. Das Blut trat in hell leuchtendem Rauch aus der Wunde und umschlang langsam den Körper. „Sunny... ich will, dass du rennst“, knurrte er. „W-was?“ „Lauf!“ Kurz darauf preschte ein gleißendes Licht aus Shiros Innern nach außen und er wuchs in rasendem Tempo heran, bis er zu einer gut zwanzig Fuß langen Bestie in Fuchsgestalt mutierte, deren Fell schneeweiß schimmerte und seine Beine mit hellroten Linien verziert waren. Er besaß drei Schweife mit roten Spitzen und seine Augen glühten wie Irrlichter. Eine Harpyie sprang auf und schoss auf die beiden zu, doch Shiro schlug nur einmal mit seiner gigantischen Pranke gegen die Frau, welche in rasender Geschwindigkeit zur Seite flog und laut krachend im Boden liegen blieb. Sunny hielt die Luft an, wusste nicht, ob er sich vor der Gestalt vor ihm fürchten oder sie anbeten sollte. Das war also die entfachte Macht der Kitzune, wie er sie bisher nur aus Geschichten kannte. Da erinnerte er sich an Shiros Worte, rappelte sich auf und stolperte in die entgegengesetzte Richtung, so schnell es ihm nur irgend möglich war. Er schaute nicht zurück, ließ sich nicht von den Geschehnissen hinter ihm ablenken. Immer weiter lief er, bis er stolperte und zu Boden fiel. Es gab mittlerweile kaum mehr eine saubere Stelle und die Ereignisse der letzten Stunde machten sich nur allzu stark in seinem Körper bemerkbar. Doch es half nichts. Er richtete sich auf und schaute hoch – dann erstarrte er. Vor ihm hatte sich eine recht kleine und junge Harpyie mit langem, rötlichem Haar vor ihm aufgebaut und grinste ihn an. „Hi“, sagte sie nur. Sunny schreckte zurück und richtete seinen Speer auf sie. Er versuchte furchtlos zu wirken, aber dafür zitterte er zu sehr und sie konnte es sicherlich durch ihre Vogelaugen nur allzu gut sehen. Sie lachte herzlich und hüpfte auf und ab. „Na du bist aber ein Süßer. Jemanden wie dich hätte ich gerne als Spielkamerad.“ Sunny verfolgte das Mädchen mit seiner Speerspitze und schritt in einem großen Kreis um die tanzende Vogeldame, die anscheinend diese Begegnung wie ein Spiel empfand. Aber das machte ihn nur noch nervöser. Harpyien betrachteten den Kampf als höchstes Vergnügen und ihre Opfer als wehrlose Spielzeuge. Selbst wenn sie einem Gegner haushoch unterlagen, verspürten sie keine Furcht. „Na komm schon...“ Die junge Harpyie zwinkerte keck und präsentierte sich in lasziven Posen. „Was ist los?“, gurrte sie. „Hast du so viel Angst? Magst du nicht mal etwas Wildes versuchen?“ Ihr fast schon kindlicher Körper war alles andere als anziehend und ihre blitzenden Klauen halfen dabei nicht besonders. Aber ihrer Besitzerin war das gleich. „Weißt du was? Ich mache dir einen Vorschlag: Wenn du mich streifst, benutze ich dich als meinen Brutpartner. Und? Was sagst du?“ Das Mädchen stemmte die Hände in die Hüfte und bedeutete Sunny mit ihrem Zeigefinger, dass er herkommen sollte. Sie würde ihm wirklich die Möglichkeit für den ersten Stich lassen. Sunny umfasste den Speer noch fester und schluckte den Klos in seinem Hals hinunter. Er durfte keine Angst zeigen. Er durfte sich nicht von einem kleinen Mädchen einschüchtern lassen. Dann sprintete er los, die Harpyie genau im Blick. Ein lauter, fast schiefer Schrei entwich aus seinem Mund. Das Mädchen rührte sich nicht. Sie wurde größer, immer größer. Er würde es schaffen. Er würde sie töten! Dann wurde sein Kopf plötzlich federleicht. Sein Mund füllte sich mit einer eisernen Flüssigkeit. Seine Beine bewegten sich nicht mehr und ein unerträglicher Schmerz schrie aus seinem Torso. Er schaute nach unten und sah einen überdimensionalen knallroten Riss, quer über seinem Bauch. Noch einmal blickte er in das erstaunte Gesicht seiner Kontrahentin. Dann wurde das Bild vor ihm schwarz, während er zu Boden fiel. Shiro benötigte nur einen Schlag mit seiner Pranke, um die Harpyie fast auseinander zu reißen. Es waren stärkere Kriegerinnen als die Banditen von vorhin, keine Frage, doch sie stellten trotzdem keine Gefahr für einen Fuchsgeist dar. Der Blutdurst stieg in seinen Verstand, doch er behielt trotzdem den Überblick. Die Kämpferin hatte sich gut gewehrt, war von links nach rechts gesprungen und seinen Angriffen immer wieder ausgewichen. Er hatte sie ein paar Mal fast am Boden getroffen, da war sie in die Luft geschossen, um ihn von oben zu attackieren. Doch zu spät. Die Bestie erwischte sie am Flügel und sie war zu Boden gefallen, wo sie von der Klaue fast entzwei gerissen wurde. Nun lag sie bluttriefend im Schmutz und kämpfte um jeden Atemzug. Shiro sprintete auf sie zu, bereit sie zu zerbeißen, da drückte sich ein schweres Metall um seinen Hals, schnitt ihm die Luft ab und zerrte ihn den Bruchteil einer Sekunde später nach hinten. Er fiel auf den Rücken und musste sich neu orientieren. Es war die Anführerin mit ihrer Kette gewesen, die sich in Windeseile um ihn bewegte und das schier unendliche Seil um Pfoten und Brust wickelte. Shiro schlug nach ihr, doch das war vergebens. Die alte Harpyie zog an der Kette und brachte ihn so zu Fall, dann wirbelte sie noch einmal die Kette herum und eine große Schlinge raste auf Shiros Maul zu und verschloss es. Er benutzte alle Kraft, um wieder aufzustehen, doch die Frau zerrte nur einmal an der Kette und ließ sie so tiefer in das Fell einschneiden. Er war gefangen. „Respekt, Shiro“, meinte die Herrin und ging gelassen auf ihn zu, ließ bei jedem Schritt ihre Hüften kreisen. Er versuchte, sich noch einmal aufzurappeln, doch mit einem einfachen Zug an seiner provisorischen Leine war er wieder zu Boden gegangen. Er jaulte auf, als die Harpyie ihren Fuß auf seine Schnauze drückte und die gebogenen Adlerklauen sich in sein Fleisch pressten. „Na na! Sei brav, Hündchen!“, befahl sie. Dann beugte sie sich runter und schaute direkt in die leuchtenden Augen des Fuchses. „Ich wollte dich doch gerade loben. Deine Inkarnation ist mittlerweile wirklich beeindruckend. Und du konntest sogar eine meiner Eliten umbringen. Naja... beinahe wären es zwei.“ „Was willst du?“, knurrte Shiro aus seinen Lefzen. Da nahm er zwei weitere Harpyien in seinen Augenwinkeln wahr, die gerade aus Sunnys Richtung angeflogen kamen. Shiro schwarnte Übles und als die größere den leblosen Körper seines Freundes vor ihn warf, wurde seine Befürchtung Gewissheit. „Celicaaa“, heulte die kleinere der beiden. „Arisa hat ihn kaputt gemaaacht.“ „Jetzt nicht, Teeza!“, brüllte die alte Harpyie, die Celica genannt wurde, genervt. Das heulende Mädchen verstummte sofort. „Ihr verdammten... er war doch nur ein Kind!“, brüllte Shiro und wollte sich aus dem Griff befreien, doch Celica konnte eine immense Kraft aufwenden, gegen die sich der Kitzune nicht wehren konnte. „Ihr hattet Asterid geladen, nicht wahr?“ Sie schaute in die Richtung des Zuges. „Das Zeug hat diese schöne Welt ins Unglück gestürzt. Sieh uns Missgeburten nur an. Hunter sollte es besser wissen.“ „Und das rechtfertigt, jeden einzelnen von uns zu töten?!“, brüllte Shiro. „Hättet ihr es uns denn freiwillig gegeben? Aber keine Sorge... dich töte ich nicht. Aus Nostalgie. Naja und auch aus praktischen Gründen. Irgendjemand muss Hunter ja davon berichten, was passiert ist.“ Celica zerrte Shiro an der Kette in Richtung des Zuges. Die Harpyie zückte ein Papierstück, auf dem etwas geschrieben stand. Die Schrift glühte hell auf und verblasste auf dem Papier. Dann erschien ein Lichtblitz gefolgt von einem ohrenbetäubendem Knall und einer Druckwelle, die Teeza zurückwarf. Aus dem Zug stieg eine orangene Flamme hervor, schoss mit gleißenden, schweifartigen Blitzen um sich herum gen Himmel. Für einen Moment wurde die grüne Einöde taghell. Auf Celicas Lippen spielte sich ein zufriedenes Grinsen. „So rettet man Asteria...“ Kapitel 3: Fremder Zauber ------------------------- Severa richtete sich im Bett auf und warf ihr Haar über die Schulter, kämmte es einmal gut durch. Ihr Unterleib pulsierte noch vom Stelldichein und sie fühlte sich, wie so oft nach dem Höhepunkt, ein wenig schläfrig. Am liebsten wäre sie liegengeblieben, aber sie wusste, dass sie aufstehen musste. Es würde nicht mehr lang dauern, bis das Bankett anfing und sie war noch nicht einmal angezogen – sah man mal von dem weißen Bustier ab, den Cirdan ihr in der Eile nicht mehr ausgezogen hatte. Aber das würde wohl kaum für diesen Anlass reichen, auch wenn ihr Herr sicherlich mit dem Gedanken spielte. Cirdan stand bereits vor dem überdimensionalen Spiegel seines Kleiderschranks und richtete das umgebundene weiße Seidentuch mit akribischer Genauigkeit, achtete darauf, dass die Falten symmetrisch zueinander lagen und den Stickereien die richtige Perspektive verliehen. Sein blanker Hintern begrüßte sie in voller Pracht, auch wenn an diesem dürren Gestell nur wenig sehenswert war. Außerdem machte es einen recht lächerlichen Eindruck, wenn er obenrum bereits die volle Montur aufgefahren hatte, dann aber nicht einmal eine Unterhose trug. Dennoch kam sie nicht umhin, länger draufzustarren. Unbewusst biss sie auf ihre Unterlippe. Sie liebte Cirdan nicht, beim Himmlischen, nichts wäre ferner von der Wahrheit entfernt und sie bezweifelte auch, dass er so etwas wie wahre Liebe für sie empfand. Diese Beziehung rauschte nicht auf ein glückliches Happy End zu; sie würden niemals heiraten und eine Familie gründen, wie man es von manchen Märchen las – und das lag nicht nur daran, dass Severa wahrscheinlich gar nicht schwanger werden konnte. Wenn er sie irgendwann nicht mehr attraktiv genug fand, war sie abgesetzt. Mit etwas Glück konnte sie danach noch den Haushalt schmeißen oder ihm weiter als Beraterin dienen, wahrscheinlicher aber würde ihr Leben dann beendet werden. Doch sie konnte nicht verleugnen, dass es eine gewisse Anziehung zwischen ihnen gab. Nicht zuletzt, da Cirdan bis heute sich dazu geweigert hatte, sie zu verkaufen. Sie warf sich noch einmal in die weichen, dunkelblauen Samtkissen seines großen Bettes und nahm den Duft seines herben Parfums auf, das in jede Faser gekrochen war, was ihr einen lieblichen Seufzer entlockte. Cirdan hatte es gehört und drehte sich halb zu ihr um. Sie lächelte ihn verschlafen an und hauchte einen Kuss in seine Richtung. Seine Mundwinkel zuckten kurz nach oben, bevor er sich wieder seinem Spiegelbild widmete. „Welchen Anzug willst du heute Abend tragen?“, fragte sie und machte sich auf, aus dem Bett zu steigen. Von selbst würde sie nicht eingekleidet werden. „Ich dachte an den Karmesinroten. Du weißt schon, den im Admiralsstil. Es sind einige Mitglieder des Militärs anwesend.“ „Sehr gut. Das Jackett gibt dir immer eine besonders stattliche Figur. Allerdings ist er mit seinen Kettchen und Manschetten schon etwas über vor Dekorationen, vielleicht solltest du dann eher nicht das Rüschenhemd tragen, sondern etwas Schlichteres.“ Severa schlüpfte in ihr auf dem Boden liegendes Höschen, ging zum Kleiderschrank und fühlte über den antiken Holzstich, der über die Entdeckung der Kristalle und den daraus entstandenen Aufstieg der Magie erzählte. Es war in einer Art Bildergeschichte verfasst. Sie erkannte den Himmlischen und die heilige Lyn, zwei der ersten Magieanwender des Landes, die rechts oben und links unten in doppelter Größe aus den Bilderreihen herausfielen. Für Religion hatte die Zwergin nie viel übrig gehabt, aber sie mochte die Geschichten dennoch. Als Kind hatte sie oft vor dem Schrank gesessen und Cirdan über diesen Holzstich ausgefragt, auch wenn er nur selten bis gar nicht eine Antwort gab und das nicht nur, weil er ihre Neugier als Last empfand. Der alte Elf wusste selbst nicht viel über die Figuren in dem Werk. Es war auch etwas seltsam, denn der Stich hatte ungewöhnlich scharfe Kanten, die Charaktere blieben allesamt recht eckig, mit großen Gesichtern und leicht überzogenen Posen. Eine Darstellungsweise, die es so in Lyn'a'Tischal eigentlich nicht gab. Mehr noch gab es einige Figuren, die sie auch in all den Jahren nie zuordnen konnte. Drachen mit langen, aber dennoch hundeähnlichen Körpern ohne Flügel, Menschen und Elfen mit seltsam gebogenen Schwertern und in der Mitte eine Art Mischwesen aus Frau und Seeschlange mit großen Flügeln statt Armen. Sie packte den großen Griff und suchte aus der Vielzahl unterschiedlicher Hemden ein einfaches altweißes raus, dass eng anliegend und in die Länge geschnitten war und den Träger so optisch um ein paar Zoll vergrößerte – ohne, dass man hierbei auf irgendetwas anspielen wollte. Cirdans Blick ging auf das hingehaltene Kleidungsstück und wanderte dann hoch zum Comfort Girl, das er ohne Worte fragte, ob das ihr verdammter Ernst wäre. „Sevvi, ich habe gerade das Tuch anständig gerichtet. Wenn ich jetzt das Hemd wechsle, kann ich wieder von vorne anfangen.“ Mit ihrer freien Hand griff die Zwergin wortlos in ein Fach in der Seite und hielt einen dunklen Matrosenknoten an die Brust ihres Herrn. Eine Sekunde starrte sie nur drauf, dann nickte sie ihre Entscheidung ab. Etwas genervt griff der Elf nach den Sachen murmelte noch etwas davon, was dieser Sklavin denn bitte einfiele, doch Severa wusste, dass er ihre Entscheidung respektieren würde. Anders als seine Artgenossen, die zu solchen Anlässen oftmals in traditionellen Roben aus zartester Seide, verziert mit goldenen und silbernen Stickereien herumliefen, war Cirdan ein begeisterter Anhänger der schlichteren, aber bedeutend moderneren Garderobe der Menschen. „Du solltest dich nun auch fertig machen. Ich möchte, dass alle Männer und mindestens die Hälfte der Frauen sich zu dir umdrehen.“ „Eine Herausforderung. Aber wie könnte ich Euch nur einen solchen Wunsch abschlagen, Master“, säuselte sie, zog sich Mandaniels Kleid wieder über und drehte ihren Rücken zu Cirdan, präsentierte den offenen Bund des Korsetts. „Allerdings... wenn Ihr mir kurz behilflich sein würdet?“ Ohne zu zögern zog der Elf die breiten Schnüre stramm und verknotete sie zu einer dekorativen Schleife die nur knapp über dem Hintern lag. Dann gab er eben jenem einen festen Klaps als Zeichen, dass sie nun gehen sollte. Dankend gab sie ihm dafür einen zarten Kuss auf die Wange, nahm ihre verbleibenden Sachen und verließ sein Zimmer. Das Schlafgemach befand sich in einem offenen Dachgeschoss, das hieß, wenn man Cirdans Zimmer verließ, stand man auf einer Art Balkon mit Blick auf den darunter liegenden Salon, in dem auch die Feierlichkeit stattfinden sollte. Aus den Räumlichkeiten drangen Geräusche der Vorbereitungen für das Fest. Es war angenehm kühl im Flur, was ihr eine willkommene Abwechslung zum aufgewärmten Bett ihres Herrn war. Auf der gleichen Seite lagen noch das Hauptbüro, ein Musikzimmer, das jedoch nie benutzt wurde, und eine kleine Bibliothek. Severas Gemach lag auf der anderen Seite des Raumes und konnte über eine kleine Brücke in der Mitte erreicht werden. Das Geländer ging wellenförmig auf und ab und formte eine Spirale an den jeweiligen Enden, wodurch der Eindruck von schäumender See entstand, was durch die eingeritzten Meerestiere nur verstärkt wurde. Langsam schlich sie über den Steg und fuhr mit dem Finger über das knochige Holz. Jede Kerbe, jeder Riss waren dabei Zeugen des Alters jener Architektur – immerhin steht sie hier schon einige Jahrhunderte, auch wenn durch gute Pflege das Holz noch immer in einem ausgezeichneten Zustand war. Sie war noch auf die Schnitzerei fixiert, da bemerkte sie jemanden vor ihr. Ihr entgegen kam eine der wenigen Hauszwerginnen; eine alte Dame, deren strehniges Haar und der dünne Flaum an der Oberlippe bereits grau waren, die aber dennoch ein Paar kräftige Arme besaß und ohne Mühe die beiden mehr als ausreichend gefüllten Wassereimer durch die Gegend trug. Severa versuchte ihrem Blick auszuweichen, doch die braunen Augen fixierten sie so fest, dass sie nicht anders konnte, als sie anzusehen. Das Augenpaar musterte ihr Gegenüber von unten nach oben und zeigte ohne Worte ihre tiefsitzende Abneigung, die Severa wie ein Dutzend feiner Nadeln stach. Sie zuckte leicht zusammen, als sie aneinander vorbeigingen und machte sich auf, über die Brücke zu kommen und die Tür von ihrem Zimmer hinter sich zu schließen, damit sie niemandem mehr begegnen musste. Sie fühlte sich – trotz ihrer überdurchschnittlichen Größe – eingeschüchtert, wann immer sie ihresgleichen begegnete und es war wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass sie Zwerge ein Stück weit hasste. Severa spürte ihre Blicke in ihrem Rücken, wann immer sie an ihnen vorbeiging – Missgunst warfen ihr die Frauen entgegen, sexuelle Gier hingegen die Männer. Nicht, dass es jemand jemals wagen würde, eine Hand an das Mädchen des Masters zu legen, doch sie wollte ihr Glück nicht ausreizen. Wer wusste schon, was passieren würde, wenn er nicht in ihrer Nähe war. Auch wenn sie gerne etwas anderes behauptete: Am Ende fühlte sich Severa mit ihren Elfenherren mehr verbunden, als mit ihrer eigenen Rasse. Und erstaunlicherweise respektierten auch die Elfen sie nach all den Jahren unter Cirdans Obhut zu einem gewissen Grad – vielleicht waren es wirklich die Gene. Den Rücken gegen die Tür gedrückt lies sie sich einige Atemzüge lang Zeit, bevor sie weitermachte. Dann löste sie sich vom Holz und ging zu ihrem alten Spiegel um sich um ihr Aussehen zu kümmern. Ihr Zimmer selbst war kaum größer als die Besenkammer direkt daneben und nur mit dem nötigsten ausgestattet. Sie besaß ein kleines, einfaches Bett mit einer einer recht bequemen Matratze und genug Decken für kalte Nächte, denn das große, kreisrunde Fenster war nicht mehr ganz dicht und ließ einen konstanten Luftzug hindurch. Am Nachttisch war ein dreizänkiger silberner Kerzenständer aufgestellt, der seine besten Jahre schon lange hinter sich hatte und dessen halb zerlaufene Kerzen sich bereits in die Halterungen eingefressen zu haben schienen, sodass es wohl einen Steinmetz brauchen würde, um sie bei Bedarf voneinander zu trennen. Der Kleiderschrank stand dem Rest in Zweckmäßigkeit in nichts nach: Ein einfach gezimmertes Stück, deren Türen mit abgefressenen Ecken genauso kämpften wie mit dem Halt an den Scharnieren. Immerhin war er schön groß, denn die Zwergin besaß mehr als genug Kleider für jeden erdenklichen Anlass, von der Auswahl an Reizwäsche ganz zu schweigen. Ihr Spiegel war ähnlichen Alters wie das restliche Mobiliar und hatte einen unschönen Sprung im oberen Bereich, wies aber eine erstaunlich schöne Schnitzerei am Rahmen in Form zweier sich ineinander windender Drachen auf. Wenn das Holz nicht von Rissen zerfurcht gewesen wäre, hätte man wohl fast von einem Sammlerstück sprechen können. Kurzum: Die Einrichtung erinnerte mehr an eine Abstellkammer, aber sie hatte es dennoch um einiges geräumiger und auch bedeutend luxuriöser als jeder andere Zwerg in der Miene – und wahrscheinlich auch in jeder anderen Miene von Lyn'a'Tischal. Langsam und gleichmäßig kämmte Severa ihr Haar über die linke Schulter und drehte die Bürste ein, sodass die Spitzen wie eine ausgeleierte Feder auf Brusthöhe sprangen. Mit einer kleinen Spange zwang sie die letzten widerspenstigen Strähnen hinter ihr rechtes Ohr, verzierte dieses vorsichtig mit einem aufwendigen, silbernen Anstecker in Form einer kleinen Fee, und machte sich zuletzt daran, ein wenig Schminke aufzusetzen. Dezent, denn man war ja keine gewöhnliche Gossenhure, doch gerade die Elfen mochten es, wenn man den Augen besondere Aufmerksamkeit schenkte und dafür die Lippen in ihrer Form minderte. Auch das Dekolleté wurde gepudert und mit einem sündhaft teuren Collier geschmückt, das Severa nur zu solchen Anlässen aus der Schatulle holen durfte, dazu noch ein paar passende Seidenhandschuhe und das mit Gold verzierte Schuhwerk. An jeder Stelle ihres Körpers blitzte und glänzte es nun. Ihre Garderobe entsprach wahrscheinlich gerade dem mehrfachen Jahreslohn des Durchschnittsbürgers, doch sie fuhr in diesem Fall wirklich alle Geschütze auf. Cirdans Anforderung, allen im Raum den Kopf zu verdrehen, meinte er ernst, auch wenn es nicht im sexuellen Sinne gemeint war – außer ihrem zu kurz geratenen Herrn gab es keinen Elf, der sie wirklich begehrte, dafür war sie zu sehr Zwergin. Hier ging es um etwas ganz anderes: sie war sein Aushängeschild. Wenn man seine Sklavin so reich schmückte, dann zeigte das eine derartige Dekadenz, dass jeder Anwesende zwangsläufig glauben musste, ihr Herr würde von seinem Reichtum ertränkt werden – auch wenn die meisten wussten, dass die Wahrheit ganz anders aussah. Mit einem tiefen Seufzer trat Severa einen Schritt zurück und betrachtete ihr komplettes Spiegelbild. Was ein wenig Schminke und Schmuck doch bewirkten: aus der Distanz konnte man sie wirklich für eine Elfin halten. Eine blasse, etwas dickliche, kleinwüchsige, rothaarige Elfin zwar, aber nichtsdestotrotz. Nur... würde das reichen? Sie wollte eigentlich nicht daran denken, aber... was war, wenn Cirdan versagte und die Firma unterging? Was wurde dann aus ihr? Sie konnte schon von Glück reden, wenn sie nicht an jemanden verkauft wurde, der sie sofort zu Tode folterte. Die Anzahl derer, die ihre Geburt allein als Verbrechen ansahen, war nach wie vor sehr hoch. Aber selbst wenn sie an einen gnädigeren Herrn ging, würde sie niemals ihre alte Position behalten. Und in einer Miene, zwischen anderen Zwergen, würde sie nicht lange überleben. Die Zwergin setzte sich auf die runde Fensterbank, welche fast mit dem Boden abschloss und schaute nach draußen. Die Herbstsonne verschwand langsam hinterm Horizont und die letzten Strahlen brachen sich im Metall der stählernen Zechengebäude und in den Kristallen, verwandelten so das Kesseltal in ein glitzerndes Meer aus purem Gold. So schön der Anblick auch war, sie konnte ihn gerade in keinster Weise genießen. Die Stirn kraftlos gegen die kühle Scheibe gedrückt, starrte Severa in die Ferne, bis sie sich dazu entschloss, das Fenster aufzumachen und sich komplett in den Rahmen zu setzen, wie sie es öfter tat, wenn ihr Herz schwer wurde. Sie sah in der Ferne einen kleine Ansammlung von Zwergen um ein Lagerfeuer vor ihren Baracken sitzen und ihr Abendmahl zu sich nehmen, einige andere wurden gerade noch mit Säcken auf den Rücken von ihren Elfenvorstehern durch die Gegend gehetzt. Einige der Männer schienen sie bemerkt zu haben und schauten interessiert zu ihr, also senkte sie ihren Blick ein wenig, um sie nicht ansehen zu müssen. Zwei Elfen in zeremonieller Kleidung schritten am Haus vorbei und unterhielten sich angeregt. Vieles davon war normal und sie erwartete auch nicht wirklich, unter den Passanten eine Lösung für ihren Kummer zu finden. Zumindest nicht, bis ihr eine Person auffiel, die zwischen allen anderen herausstach: An den Zaun am Wegesrand, der direkt am Grundstück verlief, lehnte rauchend ein großer Mann – vermutlich ein Mensch – mit dunkelblondem zurückgekämmten Haar und betrachtete interessiert die gigantischen Fördertürme, die aus den Mienen herausragten. Sein langer Mantel bestand aus grau melierter Wolle und machte mit seinen abstrakten, aber faszinierend schönen Stickereien am Rücken einen mehr als nur wohlhabenden Eindruck. Er hatte ihr den Rücken zugedreht, dennoch war sie sich ziemlich sicher, dass sie ihn hier noch nie zuvor gesehen hatte – und man kannte irgendwann die Herren und Damen, die im Kesseltal ein und aus gingen, insbesondere die wenigen Menschen. Sie lehnte sich weiter vor, um ihn genauer zu erkennen. Etwas zog sie fast schon magisch an - so sehr, dass sie auch nicht bemerkte, dass es für ihre Hand keine Haltemöglichkeit mehr gab und sie das Gleichgewicht verlor. Für einen Moment drehte sich die Welt vertikal vor ihren Augen, bevor sich ihre andere Hand in dem Fensterrahmen festkrallte und die Position stabilisierte. Sie drohte nicht wirklich zu stürzen, dennoch entfuhr ihr ein kurzer Schrei, den so ziemlich jeder in der Umgebung mitbekommen haben sollte. Von ihrer eigenen Dummheit peinlich berührt, rutschte sie sofort von der Fensterbank und schlug die Scheibe zu, atmete tief durch, die Hände noch gegen das kalte Glas gedrückt. Es war ihr grundsätzlich verboten, auf der Fensterbank zu sitzen und Cirdan würde sie sicherlich links und rechts ohrfeigen, wenn er davon erfuhr. Sie nahm noch einige tiefe Züge der von draußen hereingezogenen Luft, dann öffnete sie die Augen und sah wieder dorthin, wo ihr Blick zuletzt noch lag, bevor sie sich zum Affen gemacht hatte. Der Mann hatte sich umgewandt und schaute direkt zu ihrem Fenster hoch, in ihre Augen. Das leicht schmierige Glas und die darauf scheinende Sonne konnten unmöglich ihr Gesicht verraten, dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, als hätte der Fremde sie mit seinen azurblauen Augen genau anvisiert. Ein ruhiges Lächeln umspielte seine Lippen und er nickte kurz zur Begrüßung, was ihr das Blut in die Wangen schießen ließ. Er war relativ jung, obgleich sein Gesicht einige Falten besaß. Insbesondere die Krähenfüße an den Augen und die dünnen Lachfalten am Mund waren selbst aus der Distanz nicht zu übersehen. Doch es war sein Blick, der nur so vor kaltblütigen Tatendrang strotzte, und sein frisches und zugleich wölfisches Lachen, die jede Spur von potentieller Altersmüdigkeit wegbliesen. Das war kein einfacher Kaufmann, so viel war sicher. Gehörte er etwa auch zu den Besuchern heute Abend? Langsam schritt der Herr fort, vorbei an den beiden Elfen, die sich gerade auf Severas Kosten amüsierten. Sie spürte, wie bei diesem Anblick ihr die Scham nur noch weiter zu Kopf stieg. Und zugleich merkte sie, dass der Anblick dieses Fremden ihr ein Stück weit ihre Hoffnung zurückgab. Vielleicht sollte sie später Ausschau nach ihm halten... „Hast du Angst?“ Cirdan hielt ihr seinen linken Arm hin. Severa betrachtete ihn für eine Weile, dann atmete sie tief durch und hakte sich ein und lehnte sich einen Moment an seine Schulter, bevor ihr ein schelmisches Lächeln entfuhr. „Wieso ich? Du solltest Schiss haben, hier geht es um dein Geld.“ Sie spürte den kurzen Impuls des Schnippsers gegen ihre Stirn, den Cirdan ihr gab. Doch das war keine scherzhafte Geste, wie sie an seinem Gesicht erkennen musste. „Ich habe im Allgemeinen nichts gegen deine sarkastischen Bemerkungen, Sevvi, ich finde sie amüsant. Aber wage es ja nicht, mich heute Abend bloßzustellen. Du bist meine Begleitung. Du unterhältst die Gäste und angelst mir jeden an Land, der nach einem interessanten Geschäftspartner aussieht. Haben wir uns verstanden?“ „Ja, Herr... bitte verzeiht meine Arroganz...“, flüsterte die Zwergin und senkte ihren Blick. Cirdan zog sie kurz und bedeutete ihr, ihm aufrecht zu folgen, doch es war bei aller Strenge schon fast ein freundliches Ziehen. „So ganz nebenbei: du siehst bezaubernd aus, meine süße Lieblingssklavin.“ Das konnte Cirdan äußerst gut: Er musste nicht großartig ausfallend werden, es reichten kleine Zeichen um zu zeigen, ob er einem wohlwollend oder zurechtweisend gesinnt war. Für einen Elfen war er winzig, aber ganz sicher keine Witzfigur. Aus dem unteren Saal hörte man bereits amüsiertes Gelächter und angeregte Gespräche. Die Gäste waren zahlreich und offensichtlich mit guter Laune erschienen. Die vei Briths waren für ihre außergewöhnlich guten Feste bekannt. Ob er auch dort unten war? Sie würde es gleich erkennen. Langsam und würdevoll schritten die beiden die Wendeltreppe hinunter und wurden, als sie in das Blickfeld der Gäste gerieten, mit tosendem Applaus begrüßt. Cirdan genoss den Augenblick sichtlich, trennte sich ohne Umschweife von seinem Comfort Girl und gab einem Schwall reicher Elfen nacheinander die Hand. Um Severa kümmerte sich niemand – aber das kannte sie schon. Sie hob ihren Rock und schritt etwas schneller hinab, schaute sich im Saal um. Der Salon war von unnötigen Möbeln befreit und mit roten Bannern geschmückt worden, die das Familienwappen zeigten. Tische gedeckt mit unzähligen Leckereien waren aufgestellt worden und versorgten die Gäste, nebst Wein und Säften, mit kleinen Sauerrahmpasteten, Süßtomaten, diversen Obststücken und gebackenen Kräuterkartoffeln. Leichte, fleischlose Kost, denn mit Steinen im Magen ließ es sich nur schwer verhandeln. Es roch nach unzähligen würzigen Parfums, die sich Herren und Damen gleichermaßen zusammenmischten, gepaart mit dem Geruch vom Pfeifentabak der Plantagen aus Süd-Elblessa. Einige der Hauszwerginnen in Dienstmädchenkostümen gingen mit Silbertabletts herum und reichten den Elfenherren Gläser gefüllt mit stärkeren Spirituosen. Als sie Severa in ihrer Montur erblickten, verdunkelten sich ihre Gesichtsausdrücke. Doch sie ignorierte dies, konzentrierte sich stattdessen auf die Gäste. Der Großteil waren Elfen, gekleidet in den typischen weiten Roben der Clans, die mit unzähligen, verzierten Schals festgeschnürt waren. Die wenigen Menschen im Raum waren ähnlich zu Cirdan gekleidet - oder anders herum, je nach Betrachtungsweise. Obwohl sie in Sachen Wohlstand sicherlich den Elfen in nichts nachstanden, blieben sie dennoch bedeutend zurückhaltender als die Herrenrasse. Sicherlich nicht nur, weil sie in der Unterzahl waren. Im Kesseltal hatten die Elfen das Sagen. Severa konnte Cirdans Anforderung gut erfüllen. Jeder Gast der sie erblickte, hatte mindestens ein zweites Mal hingesehen und viele fingen an zu tuscheln. Sicherlich gab es einige, die mit gespaltener Zunge über sie sprachen, doch sie konnte ganz genau hören, wie viele ihr Kleid beneideten. Aber der seltsame Fremde war nicht zu finden. Vielleicht war er doch nur ein einfacher Passant gewesen. Sie wusste nicht wieso, aber sie war etwas enttäuscht über diesen Umstand. Aber selbst wenn er hier gewesen wäre: hatte sie sich wirklich ausgemalt mit ihm sprechen zu können? „Na wenn das nicht die kleine Severa ist“, meldete sich da plötzlich eine ihr bekannte Stimme von der Seite. Sie gehörte einer stattlichen Elfin mit langem honigblonden Haar, welche die Angesprochene mit einem eindeutig überheblichen, aber keinesfalls feindseligen Lächeln begrüßte. Sie war von sich aus schon größer als einige der anwesenden Männer, doch ihr grasgrünes, bodenlanges Abendkleid verstärkte den Effekt durch seine goldenen, senkrechten Schlangenmuster und den tiefen V-förmigen Ausschnitt nur noch mehr. Schmuck und Edelsteine rundeten das Gesamtbild ab und ließ so ihren männlichen Begleiter fast schon unsichtbar wirken, so einnehmend war ihr Auftreten. Dabei hatte auch dieser nicht mit Reizen gegeizt – wenn auch auf andere Art und Weise. „Dein Kleid ist ja ein richtiger Hingucker, meine Liebe. Ein echter Mandaniel, nicht wahr?“ „Euer Sinn für Mode lässt Euch wie immer nicht im Stich, Lady Atani. Ja, Meister Mandaniel hat es erst heute Vormittag zur Verfügung gestellt. Und Oberst Tirila, es lässt mein Herz vor Freude tanzen, euch zu sehen. Dem Himmlischen zum Gruß“, gab Severa untertänigst zurück und rundete ihre Begrüßung mit einem einstudierten Knicks ab, der ihre Unterwürfigkeit noch weiter präsentieren sollte. „Dem Himmlischen zum Gruß“, sprach der Oberst und richtete sein Monokel, um Severa genauer zu betrachten. Der pensionierte Feldherr und Kriegsmagier hatte für den heutigen Tage anscheinend seine alte, königsblaue Militäruniform rausgesucht und präsentierte stolz und für jeden erkennbar den Rang an seiner Schulterklappe und in bester patriotischer Manier das Wappen des Heers von Elblessa – eine blaue Blume hinter zwei gekreuzten Schwertern – auf dem daran befestigten Umhang. Abgerundet wurde der Aufzug mit seinem uralten, hölzernen Stab, der stetig vom Inneren her gelblich leuchtete. „Da hat mein alter Freund sich aber nicht lumpen lassen, wenn es um deine Ausstattung geht“, bemerkte er anerkennend und die Zwergin nahm das Lob dankend an, auch wenn sie nicht ganz wusste, ob es hierbei um ihre Garderobe oder ihren Vorbau ging. Wahrscheinlich ein bisschen von beiden, immerhin war letzterer für die meisten Elfen aufgrund ihrer Kleinheit sowieso unübersehbar und außerdem sagte man dem Oberst eine gewissen Drang nach. „Meinem Herrn ist die Schönheit dieser Welt keinen Copper zu teuer und Feste in den besten Kreisen sind da keine Ausnahme. Ich hoffe, der werte Herr und Mylady amüsieren sich gut.“ „Wir warten gerade auf den Ersten, der sich genug Mut für die da angetrunken hat“, erzählte Lady Atani lachend und zeigte in Richtung Bar. Eine Violine, eine Harfe, ein Cembalo und eine Gitarre waren dort platziert, blieben aber bisher noch unbenutzt. Es gab keinen angeheuerten Musiker, denn adlige Elfen lernten sowieso in der Regel bereits in frühester Kindheit zu musizieren und hielten sich in dieser Disziplin grundsätzlich für die Größten. Wozu Geld für einen Barden zum Fenster rauswerfen, wenn jeder im Saal ihn umgehend als unfähigen Kretin abstempeln würde? Allerdings waren es nicht nur freie Künstler, die sich der Kritik – eine vorsichtige Umschreibung für den zu erwartenden Spott – stellen mussten, sondern jeder im Saal, der es wagen würde, ein Instrument anzurühren. Dementsprechend war für Elfen das Musizieren auf Festen zu einer Mutprobe verkommen und es wurde bisweilen um stattliche Summen gewettet, ob und vor allem wer zuerst in die Saiten hauen würde. Aber wenn es denn nur dabei blieb: Böse Zungen behaupteten, dass schon so mancher als Rezension eine gehörige Tracht Prügel oder gar einen Schuss ins Knie bekommen hat – ein Spaß für die ganze Familie. Heute blieb die musikalische Untermalung noch aus, doch das war wohl nur eine Frage der Zeit, bis der Alkohol die Hemmungen gesenkt hatte. „Wie wäre es mit dir, Sevvi?“, schlug Lady Atani vor und sah die Zwergin erwartungsvoll an. Severas Herz setzte für einen Moment aus. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand sie wirklich vorschlagen wollen würde, aber es gab ein paar Dinge, vor denen sie sich wirklich sträubte. Für Elfen Musik zu machen gehörte ganz oben dazu, auch wenn sie den düstereren Gerüchten keinen Glauben schenkte – aber sie hatte kein Interesse, ihren Wahrheitsgehalt auf eigene Faust zu prüfen. Aber vor Allem wollte sie sich nicht zum Gespött machen lassen und im schlimmsten Falle Cirdan damit beschämen. Das würde er sicher als Boykott verstehen und nur der Abschwörer wusste, was ihr dann blühen würde. „L-Lady Atani, ich habe eine gar schreckliche Singstimme...“ „Na umso besser. Dann haben wir ja was zum Lachen.“ „E-ein unkultiviertes, kleines Wesen wie meine Wenigkeit wird doch nicht-“ „Das war kein Vorschlag, Severa... das war ein Befehl...“ Lady Atanis grünblaue Augen schienen schon fast vor giftiger Boshaftigkeit zu glühen, während sie sich mit einem gehässigen Grinsen über die junge Sklavin beugte. Langsam wanderte das Herz aus ihrer Brust und rutschte ihr gemächlich bis in den linken Fuß hinab. Ein dünner Film Angstschweiß entsprang ihrer Stirn. Sie durfte sich dem Befehl der Elfin nicht widersetzen, aber die Konsequenzen des Gehorsams waren sicherlich kaum weniger erträglich. „I-ich...“, fing sie an, da bemerkte sie das entzückte Lachen des Oberst in Lady Atanis Schatten. „Kommt schon, meine Hübsche, Ihr habt Severa wohl genug Angst eingejagt.“ Sofort erhellte sich die Miene der Adligen und voller Schadenfreude lachte sie aus, während sie Severa durch das Haar wuschelte, wie einem Kind, dem man gerade einen Streich gespielt hatte. „Das war nur ein Scherz, Sevvi. Aber dein Ausdruck war zu köstlich, um es nicht auszunutzen. Keine Sorge, so grausam bin ich nicht.“ Severa ließ es sich nicht anmerken, aber die Furcht, die sich in ihr aufgebaut hatte, war nicht zu unterschätzen gewesen. Sie rang sich ein gequältes Lächeln ab und dankte der Elfin für ihre "Gnade". „Naja... offensichtlich floss bisher noch nicht genug Alkohol, als dass hier jemand anfangen würde zu spielen“, meinte der Oberst, doch verstummte umgehend, nachdem er dies ausgesprochen hatte, während er in Richtung Bar schaute. Der gesamte Saal tat es ihm gleich. Auch Lady Atani drehte sich um und Severa linste an ihr vorbei. Jemand hatte sich tatsächlich zu den Instrumenten bewegt, die Gitarre gegriffen und sich auf die Bar gesetzt. Wo solch ein Verhalten normalerweise für erheitertes Getuschel unter den Anwesenden geführt hätte, wurde es nun unter den Gästen totenstill und die wenigen Wortwechsel waren Ausdrücke des Entsetzens. Kein Wunder, denn der, der sich hier anschickte die heiligen Instrumente in die Hand zu nehmen, war ein Mensch und dabei auch nicht irgendeiner: Es war der Fremde von vorhin. Seinen Mantel hatte wohl er bei der Garderobe gelassen und zeigte das darunterliegende zerknitterte und ausgefranste Hemd, das so überhaupt nicht in die feinen Stoffe der restlichen Gesellschaft passte. Aber darum ging es gar nicht. Auf einer Elfenfeier hatte es noch nie einen Menschen gegeben, der es gewagt hätte, ein Musikinstrument in die Hand zu nehmen. Und vielleicht war das auch der Grund, dass diesem sonst ach so gefassten Volk aus spitzohrigen Besserwissern die Worte fehlten. „Hey! Was glaubt Ihr, da zu tun?!“, rief jemand von der Seite erzürnt und kämpfte sich durch die Menge. Es war Cirdan, der sich dem Fremden mit hochrotem Kopf entgegenstellte. Der Mann sah ihn verdutzt an – sicherlich hatte er noch nie einen Elfen von solch mickriger Größe gesehen – blieb aber ruhig und machte keinerlei Anstalten, sich von seinem Platz zu entfernen. „Seid Ihr der Hausherr?“, fragte er mit einer rauen Stimme durch seine Zähne, die die halbschiefe Zigarette in seinem Mund festhielten. Anders als der sanfte Geruch des elfischen Tabaks, der eine leichte Pfefferminznote mittrug, roch sein Gemisch mindestens so rau wie seine Stimme und drängte sich in die Mitte wie ein unerwünschter Gast, womit er seinem Konsumenten alle Ehre machte. „Das geht euch eigentlich nichts an, aber ja, der bin ich“, gab Cirdan zurück und drückte den Rücken durch, um größer zu wirken, was aber nicht ganz gelang, wenn ihn selbst dann sein Gegenüber noch immer um zwei Köpfe überragte. „Und aus diesem Grund solltet ihr mir schnell erklären, was Eure Absichten sind, ungeladen in mein Haus zu kommen, bevor ich die Stadtwache rufe und Euch in den Kerker werfen lasse! Ich dulde keine Schmarotzer auf meinem Bankett!“ „Das ist auch nicht meine Intention, wie Ihr seht.“ „Ich sehe Eure Intention, klar und deutlich, aber es gefällt mir mindestens genauso wenig, wie wenn Ihr Euch an Speis' und Trank laben würdet. Ihr verärgert meine Gäste. Stellt die Gitarre ab und geht Eurer Wege, Mister...“ „Sterlinson. Ezra Sterlinson“, sprach der Fremde und nickte zur Begrüßung. „Nun denn, Mister Sterlinson. Ich denke, Ihr wisst wo der Ausgang ist.“ „Das wäre aber sehr schade.“ „W-wie bitte?“, fragte Cirdan empört und bog sein Ohr zu seinem Gegenüber, als hätte er ihn tatsächlich nur akustisch nicht verstanden. „Ich sagte, dass das sehr schade wäre. Ich wollte Euch gerade von meinem Talent überzeugen.“ „Nun, ich bin mir sicher, dass das nicht nötig sein wir-“ Cirdan kam nicht mehr dazu weiterzusprechen, oder sich auf den Mann zuzubewegen, denn dieser schlug in diesem Moment eine Saite an. Und mit dem ersten Ton schwang eine Ruhe durch den Raum mit, die kaum zu beschreiben war. An die Ohren der Anwesenden traten die wenigen Akkorde, die er anspielte, wie das Zwitschern einer Nachtigall und umklammerte eines jeden Gemüts mit festem Griff. Es befiel jeden, das Fieber dieser dunklen, ausgeleierten Klänge und zwang die volle Aufmerksamkeit zum Spielenden, der mit seiner rauchigen Stimme zu singen begann: „Jeden Tag, oh jeden Tag, jeden Tag werd' ich von einem Knall geweckt, Blut klebt an der Mauer, welch Teufel ist wohl heute dort verreckt? Recht und Ordnung wollen wir, doch Diebstahl lockt zu sehr, das mancher nicht erkennt, dass wer zu viel vom Öl schluckt, alsbald lichterloh verbrennt. Jeden Tag, oh jeden Tag, jeden Tag sieht man die Gauner nah und fern, blitzendes Metall, ein Schuss, im Kopf ein roter Stern. Sag, hast du's nicht gewusst? Die Welt hat einen rabenschwarzen Kern. Sag, hast du's nicht gewusst? Die Welt hat einen rabenschwarzen Kern. Von oben Hass von unten Gier, das Leben wird kaum besser hier, so jagen wir für's Leben gern, die Sucht nach Fleisch wird uns verzehr'n. Sag, hast du's nicht gewusst? Die Welt hat einen rabenschwarzen Kern. Sag, hast du's nicht gewusst? Die Welt hat einen rabenschwarzen Kern.“ Wie in Trance hoben die Gäste ihre Hände und schlugen im Takt der Musik ein. Dabei war das Lied nicht einmal besonders anspruchsvoll oder lebhaft. Es war eine solide Komposition, die man auf Volksfesten wohl gerne hörte, aber für elfische Ohren eigentlich eine Beleidigung sein sollte. Doch auch Severa konnte sich der Melodie nicht erwehren und schon bald sang jeder im Saal den Refrain mit. Als der Mann, der sich Ezra Sterlinson nannte, den letzten Ton verstummen ließ, wurde er mit einem Applaus belohnt, den wohl noch niemand auf so einem Fest gehört hatte. Lady Atani, die sonst nie viel auf die menschliche Rasse gab, warf ihm einen schmachtenden Blick zu und Oberst Tirilas Lippen umspielte ein begeistertes Lächeln. Severas Blut kochte vor Leidenschaft und sie konnte die Augen von dem blonden Mann nicht lassen, dem gerade alle Aufmerksamkeit zugute kam. Sie drängte sich an den anderen vorbei nach vorn. Ezra verneigte sich vor der Menge, dann wandte er sich zu Cirdan, der ihm etwas zuflüsterte. Mit seinem Zeigefinger bedeutete der Elfenherr seiner Sklavin ihm zu folgen, während er sich mit seinem neuen Gast zusammen in Richtung Obergeschoss aufmachte. „Schließ' die Tür hinter dir“, befahl Cirdan seiner Zwergin, als diese zuletzt das angestaubte Büro betrat. Der Elf setzte sich in seinen alten, rotbraunen Lederstuhl und faltete die Hände auf dem Tisch. Er deutete auf einen der kleineren, aber nicht minder bequemen Holzstühle ihm gegenüber. „Bitte, Mister Sterlinson, setzt Euch doch. Darf ich Euch etwas zu trinken anbieten?“ „Danke, aber ich bevorzuge es, nüchtern zu bleiben.“ „Selbstverständlich, wie Ihr wünscht.“ Cirdan lehnte sich im Stuhl zurück und zündete sich seine Pfeife an. Severa blieb unterdessen bei der Tür stehen und wartete auf ihr Zeichen. „Jetzt steh da nicht rum wie bestellt und nicht abgeholt! Komm her!“, keifte ihr Herr sie an. Das war ihr Zeichen. Sie setzte sich auf den freien Platz neben Ezra, behielt aber einen guten Abstand zu ihm. Sie konnte ihn noch nicht einschätzen, fühlte sich aber dennoch zu ihm hingezogen. Gerade hier aus der Nähe, strahlte er eine noch stärkere Faszination aus, als am Fenster zuvor. Sie musste sich zwingen, nicht zu sehr zu starren, doch kam nicht umhin zu bemerken, dass etwas an ihm seltsam wirkte. Sie konnte aber nicht erkennen, was... „Nun denn, Mister Sterlinson. Aus Eurem extravaganten Auftritt schließe ich, dass Ihr wisst wer ich bin?“ „Lord Cirdan vei Brith. Herrscher über die hiesigen Stollen und findiger Geschäftsmann. Es ist mir eine Freude, Euch persönlich kennenzulernen.“ Schmeicheleien wie diese funktionierten bei Cirdan fast schon zu gut, aber darin unterschied er sich nur wenig von seinen Artgenossen. Dann wandte sich Sterlinsons Blick zu Severa. „Allerdings interessiert es mich auch, wer Eure reizende Begleiterin ist...“ Sein linker Mundwinkel zog sich leicht hoch und seine blauen Augen glänzten im Schein der Öllampen. Die Zwergin nickte stumm zur Begrüßung. „Das ist Severa, meine Lieblingssklavin. Und als Lieblingssklavin habe ich sie gerne so oft und so lang wie möglich in meiner Nähe. Ich hoffe doch, sie stört Euch nicht.“ „Keineswegs. Von guter Gesellschaft kann man nie genug haben.“ „Gut... aber kommen wir nun zum Geschäftlichen.“ Cirdan blies einen Schwall des Tabaks aus, der im flackernden Licht zu tanzen begann. „Nennt mich einen Zyniker, aber ich hege doch rechte Zweifel, dass die Reaktion auf Euren Auftritt einzig und allein auf Eurem Talent fußte. Nichts für ungut, aber so toll spielt Ihr nun auch wieder nicht.“ „Da habt ihr völlig Recht, Lord vei Brith. Ich bin kein Meister der Musik und besonders Euresgleichen würde mein Gossengeklimper sicher nicht beeindrucken.“ „Dann gehe ich doch recht in der Annahme, dass hier eine höhere Macht im Spiel war? Vielleicht... Magie? Allerdings hatte man keine magischen Einflüsse an Euch ausmachen können...“ Severa dachte darüber nach und kam zu dem gleichen Schluss. Jemand, der beispielsweise einen gelben Kristall zur Verbesserung seiner geistigen Fähigkeiten geschluckt hätte, hätte davon einen gelblichen Schimmer in seinen Augen bekommen. Ezra blieb hingegen völlig normal. Der blonde Mann lehnte sich gelassen zurück und griff in die Brusttasche seines Hemds. „Nun, Ihr lagt schon grundsätzlich richtig, aber die Magie, von der wir sprechen, funktioniert etwas anders. Nicht ich wurde verzaubert, sondern die Gitarre.“ Er legte auf den Tisch einen kleinen, recht stabilen Zettel und holte aus seiner Tasche noch einen Pinsel und eine dunkle Tinktur, die jedoch nicht so tiefschwarz wie richtige Tinte war. Ezra tunkte den Pinsel ein und zeichnete auf das Papier eine Reihe abstrakter Formen – Kreise, Vierecke, aber auch einzelne Striche – die aber scheinbar einem System folgten. Handelte es sich hierbei vielleicht um eine Schrift? Severa beugte sich etwas vor, um in den Formen vielleicht doch etwas zu erkennen, da fingen die Zeichen an, bläulich zu glühen, als würde Mondlicht daraus strahlen. Aus dem hellen Schein krauchten erst ein paar Blätter, dann ein Stiel und zuletzt eine wunderschöne, glühende blaue Blüte. Und dann noch eine und noch eine, bis aus dem kleinen Zettel ein ganzer Strauß wuchs und den Raum in blaues Licht hüllte. „Mondlichtenzian. Lädt sich über den Tag mit Sonnenlicht auf und leuchtet dann in der Nacht“, erklärte Ezra, pflückte eine Blume und steckte sie in Severas Haare. Ihr Herz schlug schneller, ob der Schönheit dieser fremden Pflanze. „Was für eine Magie war das?“, sprach Cirdan aus, was sowohl er als auch sie dachten. „Das nennt man Papiermagie. Eine fast verlorene Kunst vom fernen Kontinent Asteria. Mit einer magischen Tinte werden auf speziellem Papier bestimmte Begriffe, oder Sätze in einer alten Sprache aufgeschrieben. Das Ergebnis erfolgt, sobald es der Benutzer wünscht. In diesem Fall habe ich auf den Zettel 'Lun-saihana' geschrieben. Das alte asterische Wort für Mondlichtenzian. Mit der Gitarre war es ganz ähnlich. Aber ihr habe ich 'Wohlklang' verliehen, was ihre Wirkung zum positiven verstärkte.“ „Also ein netter Zaubertrick?“, bemerkte Cirdan sarkastisch. „Mehr als das: Papiermagie kann Gegenstände mit Elementarmagie verzaubern und mit ausreichend Siegeln ganze Orte verfluchen. Außerdem kann sie von jedem erlernt werden. Es gibt, anders als bei der Kristallmagie, keine körperlichen Beschränkungen. Lasst es mich vorführen. Miss Severa, darf ich bitten?“ Ezra reichte der Zwergin den Pinsel, den sie zitternd annahm. „Alles okay. Ich zeige es euch.“ Sanft umfasste der Mann ihre Hand und führte sie über das Papier eines zweiten Zettels, den Ezra rausholte. Er ließ sie die gleichen Zeichen aufs Papier schreiben, wie zuvor. „So... und nun befehlt dem Zettel mit euren Gedanken, dass eine Blume aus ihm sprießen soll.“ Wie sollte sie das machen? Sie zögerte einen Moment und schaute unsicher zu Cirdan, der ihr wortlos befiel, der Anleitung des Fremden Folge zu leisten. Sie dachte daran, wie es beim ersten Mal spross. Und tatsächlich: Die Schrift begann zu leuchten und eine kleine einzelne Blume kam langsam aus dem Zettel. Severas Herz – vorher eindeutig aufgeregt – schien nun aus ihrer Brust springen zu wollen. Auch Cirdan war beeindruckt. „So etwas habe ich noch nie gesehen...“, flüsterte er. „Das Geheimnis ist die Tinte. Oder besser: ein bestimmter Bestandteil. Eine Art Kristall, der aber denen von Lyn'a'Tischal meilenweit überlegen ist. Ein kleiner Stein bewegt Züge, größere können ganze Städte erleuchten.“ „...Du kannst viel erzählen“, knurrte Cirdan, aber jeder konnte sehen, dass er mehr als nur neugierig war. „Mein Schiff liegt im Süden an. Wenn Ihr wollt, brechen wir gleich morgen früh nach Asteria auf. Eine kurze Reise von einem halben Monat. Wenn Euch mein Wort nicht reicht, dann lasst Euch davon persönlich überzeugen.“ Ezra lehnte sich grinsend vor. Der blaue Schein verlängerte die Schatten in seinem Gesicht und verlieh ihm einen unheimlichen Eindruck. „Oder... wollt Ihr mir erzählen, dass die Feier nicht dafür da ist, Euren bevorstehenden Bankrott abzuwenden?“ Cirdan tat es seinem Gegenüber gleich und fixierte Sterlinson mit festem Blick. „Wir fahren noch heute.“ Kapitel 4: Zwischen Ost und West -------------------------------- „Land in Sicht!“, brüllte jemand vom oberen Ausguck gegen den Wind in die Nacht hinein. Die Eiserne Geisha beantwortete den Ruf mit ihrem charakteristischen Ächzen aus dem Rumpf und fing in ihren Segeln eine besonders große Ladung Wind ein, als könne das alte Schiff selbst die Ankunft in seinem Heimathafen kaum mehr abwarten. Ezra lief schnell an Deck, lehnte sich über die Reling und starrte zum schwarzblauen Horizont. Er musste seine Augen nicht anstrengen, um zu erkennen, was der Seemann wohl durch sein Fernrohr noch ein ganzes Stück besser gesehen hatte: Am flachen Rand, an dem sich das Meer fast kaum erkennbar vom nur geringfügig helleren Himmel trennte, sah er den taghell flackernden Punkt, den ein Fremder auf den ersten Blick sicherlich mit dem Sonnenaufgang verwechselte, bis ihm die Konturen der Landmassen auffielen. Aus seinem silbernen Etui zückte der Mann seine letzte halb zerknickte Zigarette, welche er sich zufrieden ansteckte. Langsam legte er seinen Kopf auf das knochige Holz der Reling und starrte wie gebannt auf die nur spärlich näher kommenden Lichter. Sie waren noch fast einen halben Tag vom Ufer entfernt, aber dennoch packte ihn bei diesem Anblick eine gewisse Sehnsucht. Wie lange war er nun weg gewesen? Sicherlich war ein halbes Jahr vergangen, bedachte man nur, wie lange er gebraucht hatte, um einen geeigneten Kandidaten zu finden. Da wurde es höchste Zeit, nach Hause zu kommen. Schnell holte er einen Zettel aus seinem Mantel sowie etwas Tinte und Federkiel und setzte ein kurzes Schreiben auf. Auf dem Rücken trug er das altasterische Zeichen für den Brieffalken ein. Die gebogenen, aufeinander zulaufenden Linien in Form eines V mit dem kleinen Haken und dem kleinen Quadrat an der Seite, in dessen Mitte sich ein Kreis befand, sollten an einen Vogel erinnern, der ein Paket im Schnabel trug – eben wie jene intelligente Raubvögel, die man einst in Massen für die Zustellung abgerichtet hatte. Kaum hatte er es geschrieben, fing die Schrift an zu glühen und das Schriftstück faltete sich in schnellen und präzisen Knicken wie von Geisterhand zu einem kleinen, minimalistischen Vogel, der erst etwas ungelenk abhob, doch dann in Richtung des Lichts schoss. „Mister Sterlinson!“, rief ihn jemand von hinten und als er sich umdrehte, erkannte er in der Dunkelheit sofort den kleinen Elfen vor sich, auch wenn dieser keine Laterne mit sich trug. „Ihr seid noch wach, Lord vei Brith?“, fragte er und blies genüsslich den kratzigen Rauch aus. Diese weichen, wohlriechenden Dämpfe, wie sie von den Elfen in Lyn'a'Tishal konsumiert wurden, waren ihm mit der Zeit gehörig auf die Nerven gegangen. Das Zeug war Parfum näher als Tabak und die angenehme Schwere des Rauchs ließen jene ätherische Kräuter fast komplett vermissen. Er hatte sich seine Zigaretten wirklich präzise einteilen müssen. „Ich besitze einen recht leichten Schlaf. Habe jemanden nach Land rufen hören. Es ist also endlich ein Ziel in Sicht?“ „Seht für Euch selbst“, meinte Ezra und zeigte einladend in Richtung Ufer. Cirdan gesellte sich zu seinem Geschäftspartner in spe, kraxelte an der Reling hoch und schaute angestrengt in die gezeigte Richtung, konnte aber bei bestem Willen, außer einem verschwommenem Schimmer am Horizont, nichts erkennen. „Da ist nichts...“, gab er missmutig zurück. „...Wirklich nicht? Na gut, bei unserer aktuellen Geschwindigkeit werden wir wohl erst zum Vormittag in Shinju landen. Schade eigentlich. Bei Nacht ist die Silhouette der Stadt mit ihren unzähligen Lichtern ganz besonders schön.“ „Das glaube ich gern. Große Städte haben aus der Distanz immer etwas Erhabenes. Dann sieht man nicht den Schmutz, der an ihnen klebt.“ „Aus der Nähe betrachtet klebt überall Schmutz. Da sind sich Städte wie Dörfer nicht unähnlich. Die Unterschiede liegen im Detail. Am Ende ist natürlich auch Shinju davon nicht ausgeschlossen, nur... Es kommt darauf an, ob man damit leben kann.“ „Und das könnt Ihr?“, fragte der Elf und hob skeptisch eine Braue. „Für jemanden, der die Freiheit des weiten Landes genießt, wird das vielleicht etwas schwer zu verstehen sein, Lord vei Brith, aber auch die Enge einer Stadt hat seine Vorzüge. Die vielen Leute, das geschäftige Treiben, die Nähe zum Geschehen... und ja, auch das Zwielicht, der Schwarzmarkt und die Gauner in der Gosse gehören dazu. Es macht die Stadt zu einem steinernen Urwald voller Leben. Shinju ist ein großes, stinkendes Biest, aber es gibt keinen anderen Platz, an dem ich lieber wäre.“ Die beiden Männer schwiegen sich wieder eine gewisse Zeit nur an und genossen die kühle Seeluft. Der feuchte Wind benetzte ihre Gesichter, trieb das trockene Aroma von Salz in ihre Nasen und wusch den Schlaf aus den Augen. „Jedenfalls...“, fing Cirdan wieder an und streckte seinen Rücken durch, „...bin ich froh, wenn wir wieder festen Boden unter den Füßen haben. Zwei Wochen lang dieses Geschaukel ist nun wirklich mehr als genug.“ „Ich muss schon sagen, für einen Elfen seid Ihr erstaunlich seefest. Miss Severa hat es ja bedeutend schlechter getroffen. Die Ärmste kommt ja kaum aus ihrer Koje.“ Cirdan steckte sich seine Pfeife in den Mund und kramte in den Taschen seines Nachthemds, fand aber kein Streichholz. Die hatte er wohl im Zimmer vergessen. Genervt nahm er das Mundstück wieder aus dem Winkel und wollte sich schon umdrehen, da empfing ihn ein flackerndes, hellblaues Licht von der Seite. Er wandte sich um. Trotz der allgegenwärtigen Feuchtigkeit brannte in Ezras Hand ein leicht eingerollter Zettel mit einer bläulichen Stichflamme an der Spitze, welche er ihm entgegenhielt. Die kleine Flamme zuckte zwar ein wenig im Niesel, blieb aber sonst davon unbeeindruckt. Dankend nahm der Elf die Einladung an, entzündete den Tabak und nahm ein paar tiefe Züge, bevor er antwortete: „Ich hatte einen Großonkel, Morenir vei Brith, der ein Faible für die Seefahrt besaß – und darin sicherlich auch erfolgreich war. Er hatte damals sogar eine kleine Handelsflotte aufgebaut, um die Kristalle besser zu vertreiben. Es hatte seine Vorzüge und brachte dem Clan einen satten Gewinn ein. Aber die Leidenschaft hatte auch ihre Kehrseite: Jeder freie Moment wurde von ihm auf hoher See verbracht und seine Pflichten an Land immer wieder nach hinten verschoben. In der Familiengeschichte ging er deswegen leicht spöttisch als Captain Morgen ein.“ Ezra lachte kurz auf: „Sehr gut! Ein Elf, der das Meer liebt! Eure Familie ist wirklich etwas Besonderes. Und was ist aus der Handelsflotte geworden?“ „Tja...“, seufzte der kleine Mann und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Geländer: „Nach seinem Tod gab es niemanden, der den Wert der drei Schiffe zu schätzen wusste. Es gab aber auch sowieso niemanden mit ausreichend nautischem Wissen, um die Leitung der Flotte zu übernehmen. Sein liebstes Schiff wurde daher von ihm noch zu Lebzeiten ausgeschlachtet und die Holzaufbauten bei der Stockwerkserweiterung unseres Hauses genutzt. Daher auch der maritime Stil meines Obergeschosses. Die anderen Schiffe wurden verkauft.“ „Bedauerlich. Nichts geht über ein gutes Seehandelsnetzwerk. Und wenn es nur entlang der Küste existiert.“ „Vielleicht ändert sich das ja jetzt... wobei ich mit Eurer bisherigen Geheimnistuerei nicht einverstanden bin, Mister Sterlinson. Ihr wusstet einiges über mich – insbesondere über meine finanzielle Situation. Aber wer Ihr seid... keine Ahnung. Ihr haltet bisher auch alles über Euch verschlossen...“ „Bitte verzeiht meine Diskretion, werter Lord. Ich verspreche Euch, zu gegebenem Zeitpunkt meine Intentionen offenzulegen.“ Ezra machte eine kurze Verbeugung vor dem Elfen, doch dieser knirschte nur lautstark mit den Zähnen und sah missmutig auf den blonden Mann. „Diskretion, hm? So nennt man solch Dreistigkeiten also in Asteria? Ich hoffe, Ihr versteht, wie viel es bedeutet, einem Wildfremden so mir nichts, dir nichts zu folgen.“ „Ich weiß es durchaus zu schätzen, dass ihr Euren eigenen Ball noch am gleichen Abend vorzeitig verlassen habt. Das wird Eurer Erscheinung sicherlich einen nicht zu unterschätzenden Knacks verpasst haben.“ „Keinen Knacks, einen irreparablen Sprung! Aber mir ist es Recht. Wenn auch nur eine Silbe stimmte, von dem, was Ihr sagtet... ich will es sehen. Ich will den Kristall sehen, der solch eine Macht innehat.“ Ein kühles Grinsen umspielte Ezras Lippen, als er die Worte hörte. Er hatte nicht ohne Grund mehrere Monate in Lyn'a'Tishal verbracht und sich über jeden großen Geschäftsmann in Sachen Kristallmagie gründlichst informiert. Die vei Briths waren alte Hasen in der Branche und hatten in der Geschichte schon oft mit Asteriern Geschäfte gemacht, auch wenn diese Beziehungen etwas eingerostet waren. „Ihr lacht?“ Cirdans Frage klang, als habe er die Mimik seines Gegenübers als Beleidigung empfunden. „Nur vor Freude, werter Lord. Ich freue mich über Eurer Vertrauen, das Ihr mir schenkt.“ „Das hat damit nichts zu tun. Ich werde nichts beschönigen, meine Situation ist nicht rosig. Nichtsdestotrotz habt Ihr mich noch nicht ermordet oder ausgeraubt, was schon mal dafür spricht, dass ihr kein einfacher Gauner seid.“ „Also haltet ihr mich doch für einen Gauner?“ „Ja, aber keinen einfachen.“ „Was ist denn Unterschied zwischen einem einfachen und einem komplexen?“ „Das tut doch gerade gar nichts zur Sache!... Wisst ihr, so langsam wundere ich mich schon. Ihr hattet mir während der Überfahrt erzählt, dass die Kristalle von ganz anderer Beschaffenheit als die unsrigen und noch dazu hochgiftig sind. Und dennoch soll ein Nutzen bestehen?“ Tatsächlich hatte sich Ezra geweigert, dem Elfen auch nur eine Silbe zu verraten, bevor sie zwei Tagesreisen von Lyn'a'Tishal entfernt waren – damit er es sich nicht mehr anders überlegen konnte. Er war fuchsteufelswild gewesen und hatte damit gedroht, jeden einzelnen Matrosen zurück in Lyn'a'Tishal wegen Entführung eines Aristokraten hängen zu lassen, sollten sie nicht sofort umdrehen. Seine Worte waren bei der Besatzung allerdings auf taube Ohren gestoßen, da jeder einzelne Ezra gegenüber absolut loyal war – das und weil es nach Asteria ging und nicht nach Lyn'a'Tishal. Im Land des Ostens hatte das Wort eines kleinwüchsigen Spitzohrs aus dem Westen kein Gewicht, insbesondere, wenn man den Westen genauso wenig kannte wie umgekehrt. Und nach zwei weiteren Tagen voller Tobsucht – und wahrscheinlich mehr als ausreichend Liebkosungen durch seine mitgezerrte Zwergensklavin – hatte er sich mit der Situation abgefunden und war seit jeher tatsächlich nur noch gespannter über das ferne Land und seine mysteriöse Macht. Es stimmte schon: Asterid – jener gefragte Kristall – war kein Zuckerschlecken. Im wahrsten Sinne des Wortes. Wo die unzähligen unterschiedlichen magischen Kristalle von Lyn'a'Tishal in gemahlener Form geschluckt wurden und so ihre Macht entfalteten, wäre bei Asterid das Einzige, was nach dem Verschlucken aus einem raus käme, ein Schwall des eigenen Blutes, bevor man Sekunden später das Zeitliche segnete. Selbst die Materialien für Papiermagie wurden aus einer stark gefilterten Form von Asterid geschaffen, um einem nicht um die Ohren zu fliegen, wenn man nur den Pinsel ansetzte. Der Kristall selbst war nur für eines gut: Energieversorgung. Das dafür besser als jeder andere Stoff in der bekannten Welt. Öl und Kohle konnten Asterid nicht einmal annähernd das Wasser reichen. Die Heimat der Heiligen Lyn hatte hingegen nie etwas für diese Energiequelle übrig gehabt. Aber es gab auch Berichte über Kooperationen zwischen Lyn'a'Tishal und Asteria und in alten Unterlagen gab es einige Erzählungen über die Möglichkeit mit Asterid die tishalischen Kristalle zu verstärken. In der richtigen Menge dosiert sollten die Kristalle enorm schnell wachsen und eine höhere Intensität entwickeln als unbehandelte. Ob das wirklich ohne Nebenwirkungen funktionierte, konnte Ezra nicht mit absoluter Sicherheit sagen, aber das Risiko musste er eingehen. „Mister Sterlinson! Ich rede mit Euch!“ Die Stimme seines Begleiters riss Ezra aus seinen Gedanken. „Verzeiht, ich war kurz abgelenkt.“ „Hab ich gemerkt. Ich hatte Euch gefragt, ob Asterid wirklich von Nutzen für mich sei. Ich werde immerhin dafür gut zwei Monate lang meine Geschäfte ruhen lassen. Wenn das ganze Mist ist...“ „Ihr erhaltet eine anständige Kompensation, versprochen.“ „Zügelt Eure Arroganz! Ja die Geschäfte laufen nicht gut, aber das gibt Euch nicht das Recht, auf mich herabzusehen! Die vei Briths sind nach wie vor eine große Institution mit viel Einfluss, selbst in solchen Zeiten. Also verspreche ich Euch, in aller Deutlichkeit, dass ich mich nicht zum Narren halten lassen werde. Insbesondere nicht von Euresgleichen. Habt Ihr das verstanden, Mensch?“ Ezra knirschte mit den Zähnen, verzog aber keine Miene. Er hatte schon fast vergessen, wie sehr er die tishalischen Elfen damals gehasst hatte. Langsam bekam er das Gefühl, dass er die Wahl seines Partners noch bereuen würde. Aber vielleicht sollte er auch endlich über seinen eigenen Schatten springen. Es war immerhin mehr als genug Zeit vergangen, seit er Lyn'a'Tishal Lebewohl gesagt hatte. Außerdem hatte er kaum eine andere Wahl. Mit seinesgleichen konnte er keine Geschäfte in dieser Hinsicht machen. Den Menschen gehörten 60% der Kristalle von Lyn'a'Tishal und ging es damit viel zu gut, um sich auf einen dubiosen Fremden einzulassen. Nein, er brauchte jemanden, der verzweifelt genug war, seinem Angebot Gehör zu schenken. Ezra wusste nicht, ob all das wirklich von Erfolg gekrönt sein würde, doch wenn weiterhin rohes Asterid genutzt wurde, dann würde auf kurz oder lang die Welt untergehen. „Ich verstehe Euch nur zu deutlich, mein Lord. Ich werde euch meine Geschäftsidee noch früh genug vorstellen, aber alles zu seiner Zeit“, antwortete er schließlich Cirdan mit resoluter Stimme, der mit einem abschätzenden Zucken seines Mundwinkel antwortete: „Ich werde warten. Meine Geduld wurde zwei Wochen lang strapaziert. Was sind da schon ein paar Tage?“ Dann machte er kehrt und sich auf den Weg unter Deck. Es war ja auch noch zu früh, um sich auf die Ankunft vorzubereiten. Erst jetzt bemerkten die beiden, dass sie nicht mehr allein waren. An der Tür lehnte eine gewisse verschlafene Zwergin mit offenem, rotem Haar, die wohl über den Krach wach geworden war. Sie streckte sich zu ihrem Master, als wollte sie sich nach seinem Wohlbefinden erkundigen, doch er wimmelte sie nur grob ab. Sie warf noch einmal einen Blick zu Sterlinson und beugte sich kurz vor, als hielte sie es für nötig, sich für ihren Herrn zu entschuldigen. Ezra reagierte darauf nicht, sondern schaute sie nur schweigend an. Für einen Moment blieb er an ihren matschgrünen, geschwungenen Augen hängen, während sie sich langsam umdrehte. Dann wanderte sein Blick vom breiten Kreuz über den kurzen Rücken und blieb an ihrem wohlgeformten Hintern hängen, der in rhythmisch-kreisender Bewegung nach links und rechts wanderte, während sie und ihr Herr das Deck verließen. Was für eine Verschwendung, dass diese auf der Welt wohl einzigartige Schönheit einem aufgeblasenem Spitzohr gehörte, dachte sich Ezra und biss sich kurz in die Hand, als müsse er damit einen Drang unterdrücken. Die exotische Anziehung nichtmenschlicher Frauen hatte auf ihn schon immer eine gewaltige Wirkung gehabt. Doch er würde sich nicht an der Sklavin seines Geschäftspartners vergreifen. Zumindest noch nicht. Noch ein letzter Zug, dann war der Glimmstängel in seinem Mund aufgeraucht. Der verglühte Rest wurde ins weite Blau unter ihnen geschnippt. Sterlinson stütze den Kopf auf seinen verschränkten Armen ab und seufzte sehnsüchtig aus, während er auf die Lichter am Horizont starrte, die seit seinem ersten Blick aufs Meer tatsächlich ein wenig näher gekommen zu sein schienen. Das Flackern waren bestimmt nur die Leuchttürme, doch in seiner Fantasie stellte er sich bei diesem Anblick die großen, bunten Leuchtröhren im Fuchsbau vor, gefolgt von den würzigen Düften der Küche und der warmen Stimmung an den Tischen, wenn arm und reich gemeinsam tranken bis zum Umfallen. Offiziell würde er es wohl niemals zugeben, doch er hatte seine Freunde wirklich vermisst. Wie es Shiro und den anderen wohl in der Zwischenzeit ergangen war? Doch eine Falte machte sich bei all den doch recht schönen Gedanken trotzdem unwillkürlich auf seiner Stirn breit. Cirdan hatte die Lichter noch nicht sehen können. Sicher, der Elf war ein wenig älter und ein Laie konnte sie leicht mit dem ersten Strahl am Horizont verwechseln, aber er musste nichtsdestotrotz besser aufpassen. Kapitel 5: Mutter ----------------- „Arisa!“ Der herausfordernde Ruf zerschnitt die ruhige, angenehme Stimmung in der Umgebung und ließ die angesprochene Harpyie von ihrem Buch aufschauen. Sie blickte in die Runde der noch jungen Artgenossinnen, die aufgehört hatten, sie gebannt anzuschauen und stattdessen ihre Aufmerksamkeit mit großen Augen hinter sie lenkten, zur Quelle des Rufes, der so abrupt die Vorlesung unterbrochen hatte. Die Frau seufzte laut hörbar, klappte die Lektüre – eine Abhandlung zur Fauna Asterias – zu und strich sich die hängenden Strähnen ihres violetten Haars hinter die befiderten Ohren, bevor sie in einem äußerst genervten Ton fragte: „Was willst du, Teeza?“ Sie konnte sich ziemlich gut vorstellen, wie die jüngere Harpyie gerade dort stand: Die Hände in die Hüften gestemmt, den Zug von draußen nutzend um ihr rötliches Haar wehen zu lassen, den Blick abwertend zu ihr gerichtet, als würde sie auf Arisa herabschauen und bestimmt hatte sie ihr verzogenes Grinsen aufgesetzt, zeigte die dünnen Fänge. Langsam drehte sie sich um und schaute hoch: Ihre Erwartungen wurden definitiv nicht enttäuscht, doch hinzu kam, dass die sonst so blassen Wangen beinahe glühten, was Arisa etwas verunsichert zurückließ: Wollte ihre Partnerin nun kämpfen oder vögeln? Wahrscheinlich war sie sich darüber selbst nicht so ganz im Klaren. Teeza war vielleicht 13 oder 14 Jahre alt, doch ihre Kampfeslust überstieg die von so mancher erwachsenen Harpyie. Hinzu kam der für jüngere Schwestern typische Sexualtrieb: eine unberechenbare und vor Allem einzigartige Kombination. Aber sie war schon früher so gewesen: Wo andere heranwachsende Harpyien fast so unschuldig waren wie Menschen- oder Elfenkinder, hatte Teeza immer wieder nach neuen Wegen gesucht, um ihren Körper zu stimulieren und nahm dabei auch Verletzungen in Kauf. An manchen Stellen hatte sie sich so oft ihre rosafarbenen Daunenfedern rausgerissen, dass diese nun nicht mehr nachwuchsen. Entsprach das Ergebnis nicht ihren Erwartungen, quälte sie aus Frust die Gleichaltrigen, denen sie in Sachen Stärke meilenweit überlegen war. Sie war Masochistin und Sadistin zugleich. Das war auch der Hauptgrund, warum sie so jung schon zu Celicas Elite gehörte und die meisten älteren Schwestern hegten keinen Zweifel, dass Teeza alsbald Mutters rechte Klaue werden würde. Die meisten... aber nicht Arisa. Sie konnte noch immer nicht verstehen, warum ausgerechnet sie dieser Rotzgöre als Flügelpartnerin zugeteilt war. Sie war egozentrisch, ungezügelt, dreist und zu allem Überfluss noch dumm wie ein Sack Flüstergras – aber der hatte ja wenigstens einen gewissen Nutzen. Harpyien wie Teeza waren der Grund, warum man ihre Rasse als Dämoninnen der Lüfte bezeichnete. „Was ist denn nun? Du störst mich beim Unterricht!“, zischte Arisa, nachdem ihr Gegenüber noch immer keine Antwort von sich gegeben hatte. „Da bist du selbst schuld, wenn du mir meinen Brutpartner wegnimmst. Dann musst halt du mich unterhalten.“ „Hör auf dieses dumme Wort zu benutzen. Du kannst keine Kinder kriegen, also sind deine Opfer auch keine Brutpartner. Außerdem hättest du den Jungen sowieso nach kurzer Zeit getötet“, antwortete die ältere Harpyie gleichgültig und drehte sich weg. „Natürlich, aber was spricht denn gegen den Spaß? Spielt aber auch gerade keine Rolle, ich bin hier, weil Mutter nach uns gerufen hat. Dein Unterricht ist für heute vorbei.“ „Mutter ruft nach uns? Nun gut, ich beende ihn sofort, sobald...“, murmelte Arisa seufzend und wollte sich schon zu ihren Schützlingen umdrehen, um die Lektion noch abzuschließen und die jungen Harpyien vor ihr in aller Ruhe zu verabschieden, da erhob sich die Stimme hinter ihr: „Nein, du beendest ihn nicht sofort, sondern sofort sofort! Was bedeutet jetzt. Was bedeutet, ihr macht einen Abflug, Küken!“ Die angesprochenen Mädchen erschraken vom herrischen Ton Teezas und sprangen wie von einer Zecke gebissen auf. Flugs nahmen die Schülerinnen Reißaus und ließen die beiden Elitekämpferinnen allein. Arisa biss sich schnaubend auf die Oberlippe, legte die Bücher grob zusammen und richtete beim Aufstehen ihr lockeres Dekolleté. Zweimal atmete sie durch, versuchte, sich an etwas Schönes zu erinnern, einen angenehmen Gedanken zu finden, an den sie sich klammern konnte. Keine Chance. Ihr Blut kochte. Wie der Wind wirbelte sie herum, zückte den Dolch an ihrem Gürtel und ließ die Klinge zielgenau auf ihre Partnerin zurasen, bis die Klinge auf das Metall von Teezas Stab traf, welchen die kleinere Harpyie in voller Erwartung bereits gezogen hatte und nun mit beiden Händen fest umklammert hielt. „Nanana...“, rief sie kichernd. „Wer wird denn hier gleich ausrasten? Aus, Arisa! Böse Arisa!“ „Wag es noch einmal, vor meinen Schülerinnen meine Authorität zu untergraben und...“ „Und was? Rennst du dann heulend zu den alten Schwestern? Ich kann nichts umgraben, was du nicht hast. Glaubst du wirklich, dein Unterricht wird mehr als nur schweigend erduldet?! Was interessiert uns dieser Quatsch den die Feigen vom flachen Land schreiben? Du solltest den Küken lieber wichtigeres beibringen. Zum Beispiel wie man hinterrücks jemanden angreift, das kannst du doch so gut!“ Arisa war ein gutes Stück stärker als ihre Partnerin, was man nur allzu deutlich am Zittern ihrer Hände sah. Aber das war Teeza offensichtlich kein Grund, einem Streit aus dem Weg zu gehen. In ihren grau-blauen Augen machte sich das Feuer des Kampfes breit und ihr Grinsen presste sich noch weiter bis zum Federansatz ihrer Ohren, offenbarte jeden einzelnen ihrer spitzen Zähne, als wäre sie drauf und dran, zu einem gewaltigen Biss anzusetzen. Und tatsächlich: mit einem Mal setzte sie alle Kraft in den Stab und riss den Dolch zur Seite, während sie sich mit aufgerissenem Maul auf Arisa stürzte. Diese reagierte schnell, ließ sich scheinbar nach hinten fallen, während sie zugleich mit ihren Läufen ausholte. Unter wehenden Laken taumelte Teeza aus dem mit unzähligen Flicken bestickte Zelt, stolperte über die hölzernen Planken des künstlichen Plateaus und stürzte rücklings in den Arbeitstisch, welcher der benachbarten Friseuse gehörte, die gerade noch einer Harpyie eine tiefrote Tönung verpasst hatte, bevor ihr die Utensilien wortwörtlich unter dem Pinsel weggezogen wurden. Erschrocken richteten die beiden Frauen ihren Blick auf den ungebetenen Gast, der sich aus den unzähligen bunten Fläschchen aufrappelte. Den Krach bemerkend, steckten einige Nachbarinnen die Köpfe aus den windschiefen Zelten und ehe sie sich versah, hatte Teeza eine ganze Zuschauerschaft um sich. „Was ist?“, stöhnte sie genervt und bemerkte noch den roten Film, der aus ihrer Nase lief, da schoss Arisa aus dem Zelt auf sie zu. Benommen holte Teeza zu einem langen Schlitzer aus, doch ihre ältere Waffenschwester, huschte galant zur Seite, packte sie am Gesicht und warf sie krachend auf den staubigen Boden. Ein Knie auf den rechten Arm gedrückt und mit der linken Hand den anderen Arm am Boden festhaltend hob sie ihren Dolch nach oben. Der dunkle Stahl blitzte in der brennenden Gebirgssonne so hell, dass manch einer ihn aus der Entfernung für einen seltenen Edelstein halten musste, während die Spitze bedrohlich über Teezas Gesicht schwebte. „Oha, spielen wir jetzt ernst? Wie aufregend...“, säuselte sie und schielte auf den kleinen Stern über ihr, der gerade ihr Ende prophezeite. Es war nicht so, als hätte Arisa kein Interesse, diesem kleinen Dämon einfach hier und jetzt die Kehle aufzuschlitzen. Sicher einige würden protestieren und es hatte einige Konsequenzen eine Stammesschwester zu töten, aber gemessen an ihrem Stand und der Tatsache, dass Teeza den Kampf provoziert hatte, würde die Strafe wohl nicht allzu hart ausfallen. Zumindest dachte sie das. „Was ist denn los? Tu es endlich! Dann wirst du Mutter richtig wütend erleben...“ Kaum hatte sie das gesagt, schoss der Dolch auch schon auf sie hinunter. Teeza wehrte sich nicht, sie schien es sogar fast noch auszukosten. Das überdimensionale Grinsen auf dem Gesicht festgebrannt schloss sie ihre Augen und erwartete freudig ihren Tod. Doch dazu kam es nicht. Statt Metall, das sich durch Haut und Fleisch schnitt, erwischte sie ein fester Schlag gegen die Wange, der ihr ganzes Gesicht durchrüttelte und ihre Sinne betäubte. Ein pulsierender Schmerz durchfuhr ihren Schädel, der von der Wucht zur Seite gerissen wurde. Die Augen unter einem schwachen Flimmer öffnend erkannte sie ihre Partnerin, die ihr den Rücken zugewandt hatte und den Staub von ihrem Gewand abklopfte. Arisa stemmte souverän die Hände in die Hüfte und schaute über ihre Schulter auf die besiegte Harpyie hinab. „Danke für den Tipp, du kleines Biest. Beinahe hätte ich Mutter vergessen.“ „Du bist doch nur feige!“, brüllte Teeza und spuckte auf den Boden. „Ich denke, mein Standpunkt war mehr als eindeutig. Ja, du bist stark Teeza, das muss man dir lassen. Es gibt sicherlich gute Gründe, warum du unsere Waffenschwester bist. Aber vergiss nicht, dass das Celicas Entscheidung war. Nicht meine. Und dafür gibt es auch Gründe. Und verstehe ich mich nicht falsch: Ich respektiere Mutters Befehl, aber dich muss ich nicht respektieren. Werde erst einmal flügge, dann reden wir weiter.“ Von den Worten angestachelt, rappelte sich Teeza auf und wollte gerade zum Angriff ansetzen, da umschlang etwas schweres Eisernes ihr Bein, zog sie nach hinten und ließ sie – mit dem Gesicht voran – wieder auf den staubigen Boden fallen. Arisa wirbelte erschrocken herum und erkannte sofort die lange Kette an Teezas Bein, folgte nervös dem Verlauf der Glieder am Boden, bis zur Klaue ihrer Besitzerin. Das narbenzerfurchte Gesicht war zu einem missbilligenden Ausdruck verzogen und in ihren schlohweißen Augen brannte eine so ungeheure Wut, dass man weiche Knie bekam, wenn man den direkten Kontakt zu lange aufrecht hielt. Celica ließ ihren Blick durch die Reihen schweifen und ermahnte stumm jeden, der versuchte sich zu entfernen, während sie eleganten Schrittes das Zentrum der Traube betrat - gefolgt von Rena, ihrer treuen Beraterin und einer fremden Person, die sich die Kapuze ihres bodenlangen scharlachroten Mantels tief ins Gesicht gezogen hatte und so keine Züge entblößte. Umgehend kniete sich Arisa hin und senkte untertänigst den Kopf. Ebenso taten es ihr alle Harpyien in der Nähe gleich – alte wie junge. Selbst Teeza, welche noch für einen Moment schimpfen wollte, welche Göre es doch wagen würde, sich hier einzumischen, legte ehrfürchtig die Ohren an und verstummte. Ihre beiden Begleiter blieben zurück, während die alte Harpyie durch die Reihen schritt, untermauert vom gleichmäßigen Klimpern der schier endlosen Kette, die mit jedem Schritt Celicas weitere Glieder hinzugewann. Ihre Tätowierung des Gottesvogels Fiseau im Dekolleté wippte bei jedem Schritt auf seinem Kirschblütenast mit und schien das Treiben mit großem Interesse zu verfolgen. „Was für ein Krach... wie soll ich denn bitte so meinen Gast vernünftig willkommen heißen? Also erzählt mir... was ist hier los?“, fragte sie schließlich mit ruhigem Ton, nachdem für eine viel zu lange Zeit eine bedrückende Stille die Szenerie beherrscht hatte. Niemand wagte es aufzusehen, geschweige denn, auch nur einen Ton über die Lippen zu bringen, solange Celica nicht die ausdrückliche Erlaubnis dazu gab. Ihre Frage war sowieso rein rhetorisch, immerhin wusste sie ganz genau, was passiert war, hatte vermutlich das meiste selbst mitbekommen. „Nun kommt schon... hat mir denn niemand etwas zu erzählen? Eine kleine Geschichte für mich...“ Arisa zögerte. Sie sollte aufstehen und sich entschuldigen. Sie wollte es auch. Unabhängig davon, ob sie allein für den Tumult verantwortlich war oder nicht, würde es Größe zeigen. Doch es fiel ihren Knochen unfassbar schwer, sich vom Boden wegzudrücken, fast so, als würde ein bleiernes Netz sie am Boden festhalten. Fester bis sie die Zähne zusammen, versuchte ihre Angst runterzuschlucken und drückte sich vom Boden ab. Jedoch nicht schnell genug, denn an ihr vorbei lief ein kleines Mädchen in die Traube hinein – eine Schülerin von ihr. Ein schockiertes Luftholen ging durch die Reihen und auch Arisa fühlte sich, als würde ihr Herz stillstehen. Sie konnte sich gut vorstellen, was die Kleine vorhatte, wollte sie noch aufhalten, hob ihren Arm und versuchte mit aller Kraft ein „Warte“ aus ihrer Kehle zu pressen, doch es war zu spät – Celica hatte sie bereits bemerkt und kniete sich mit einem sanften Lächeln zu ihr. „Hallo meine Kleine. Du bist... Erina, richtig?“, sprach Celica ruhig und strich dem Mädchen durchs Haar. Jede Harpyie in den Falkenbergen war ihr mit Namen bekannt – immerhin war sie es auch, die ihnen sie gegeben hatte. „Ja, Mutter“, antwortete sie brav und wollte schon einen Knicks machen, doch Celica hielt sie auf. „Nicht doch, Süße, nicht so förmlich. Immerhin bin ich doch deine Mutter, oder nicht? In der Familie sind Förmlichkeiten fehl am Platze. Aber es freut mich, wie wohlerzogen du bist. Du besuchst Arisas Unterricht, nicht wahr? Nun denn, dann erzähle mir, was du mir erzählen möchtest, mein liebes Kind.“ „Ja, Mutter... Ich... Ich wollte Euch sagen, dass Schwester Teeza angefangen hat. Sie hat Arisa provoziert. Deswegen kam es zum Kampf. Arisa hat damit nichts zu tun.“ Arisa wollte sich erheben, doch der Blick ihrer Meisterin befahl ihr das Gegenteil. Geknickt senkte sie sich wieder. Von ihrer eigenen Schülerin in den Schutz genommen worden... was für eine Blamage. Celica richtete sich auf und streichelte Erina durchs wuschelige, schwarze Haar mit seinen hellen Spitzen. „Gut meine Kleine, ich glaube dir. Du bist Arisa gegenüber sehr loyal.“ „L-Loyal?“, frage Erina unsicher und legte den Kopf zur Seite. „Das Wort hat sie dir anscheinend noch nicht beigebracht. Lass es mich dir möglichst einfach erklären: So nennt man jemanden mit ungebrochener Treue. Wer loyal ist, wird seine Herrinnen und Kameradinnen niemals verraten“, erklärte sie in aller Ruhe. „Tja von der kleinen Erina könnten sich Teeza und Arisa noch eine Scheibe abschneiden. Oder vielleicht auch zwei oder drei“, meinte Rena lachend, verstummte aber schlagartig, als ihre Herrin sie mit den Worten „Halt den Schnabel, Rena, du bist jetzt nicht dran!“, ermahnte. Kaum hatte sie die Aufmerksamkeit wieder, wandte sie sich an alle Anwesenden. „Das ist unsere Macht, Schwestern! Die Welt glaubt, wir seien blutrünstige Bestien ohne Kultur und Gesetz! Menschen, Elfen... sogar die Kitzune, die wie wir im Schein des Asterid geboren wurden, halten uns für Abschaum... Deswegen ist Loyalität in unserer Gesellschaft so wichtig! Denn wir haben sonst niemanden außer uns!“ Celica zog an der Kette. Langsam sammelten sich die Glieder und zogen sich von Teeza zurück, bis sie wieder ihre alte Länge angenommen hatten. Die junge Harpyie erhebte sich wieder auf ihre unsicheren Beine und lugte vorsichtig zu ihrer Mutter, in der Hoffnung, dass sie ihr nun wohlwollender gesinnt war. Und tatsächlich schien ihr Blick deutlich weicher geworden zu sein... fast schon traurig. „Ich weiß, wir können unsere Natur nicht unterdrücken. Wir lieben den Kampf und das ist auch gut so. Dann sind wir halt die blutrünstigen Wilden, für die uns die Welt hält! Aber bitte lasst eure Wut nicht aneinander aus. Denn nur in der Einigkeit können wir Furcht verbreiten! Sicher, einer Schwester allein kann man leicht die Flügel stutzen. Aber wie sieht es denn mit einer Legion aus?! Oder einem ganzen Volk?!“ Während ihrer Rede hoben immer mehr Harpyien den Kopf und schauten gebannt zu Celica. Die ersten sprangen auf und applaudierten, dann wurden es mehr und mehr, bis die komplette Zuschauerschaft in einen tosenden Jubel verfiel. Arisa klatschte begeistert und auch Teeza, die eigentlich nichts für Reden übrig hatte, konnte kaum anders, als in den Beifall einzusteigen. Celica grinste triumphal und schaute zu Rena und dem fremden Gast. Rena lächelte anerkennend und machte eine kurze Verbeugung. Die vermummte Gestalt hingegen blieb stumm – fast so, als habe sie nicht einmal bemerkt, was um sie eigentlich geschehen war... Weder Arisa noch Teeza hatten ernsthaft geglaubt, dass sie nach dieser Rede ohne eine Rüge davonkommen würden. Allein die Tatsache, dass sie nicht zu Mutter gekommen waren, sondern Mutter zu ihnen kommen musste, kam Blasphemie gleich. Celica war die größte aller Harpyien, die unangefochtene Anführerin. Und obwohl sie – trotz aller Falten – jünger aussah als die ältesten Schwestern, behaupteten nicht wenige, dass sie die erste Harpyie der Welt gewesen sein musste und einige waren sogar überzeugt, dass sie noch vor der großen Explosion vor 200 Jahren gelebt hatte. Und dann war da noch das Mal in ihrem Dekolleté – oder besser gesagt, die Tätowierung. Sie war der finale Beweis ihrer Größe, denn keine andere Harpyie trug das Mal eines Gottes von Asteria. Auch wenn niemand so wirklich wusste, welche Vorteile es brachte, dass der intrigante Hofsvogel Fiseau mi'Rou auf ihrer Brust saß. Schweigend, den Kopf leicht gesenkt, standen sie inmitten des großen Zelts, in welchem Celica residierte. Als Kriegerinnen im Elitecorps waren die beiden bisweilen schon dann und wann hier gewesen, dennoch fühlte es sich immer an, als würde man in eine andere Welt eintauchen. Und das lag nicht nur an seiner immensen Größe von drei ganzen Räumen. Die meisten Zelte waren aus groben Leder gefertigt, damit sie lange hielten. Aber dieses hatte dazu ein dünnes purpurnes Futter bekommen, welches mit langen weißen Bannern der alten Welt bestickt war; verziert mit Wappen von Ländern, die es schon gar nicht mehr gab. Arisa erkannte einige davon aus Geschichtsbüchern: Da gab es die östlichen Fürstentümer Shindura und Avionar, deren Überlebelnde heute die Isla Shinju bevölkerten, das bis heute bestehende Königreich Cher Enfant, dann die verlassene Republik Calais und zu guter Letzt das Kaiserreich von Ryushima, welchem man einst die Segnung des Himmelsdrachen nachgesagt hatte und wo sich heute der östliche Teil der gläsernen Wüste Beaumir Shomare erstreckte. Doch es gab noch unzählige weitere, welche sie nicht kannte - fast zwei Dutzend an der Zahl. Auf dem Boden war ein purpurner Teppich ausgerollt worden, der zu dem alten, aber schön verzierten Stuhl am anderen Ende des Raumes führte, von welchem aus Celica regierte. Dahinter waren einige windschiefe Regale aufgebaut worden, über und über gefüllt mit Büchern, Karten, Waffen und allerlei Kunstgegenständen aus der alten Welt – Dinge, die Celica bereits seit Jahrzehnten sammelte und wie einen Schatz behütete; ein weiteres Indiz dafür, dass sie schon vor der großen Explosion auf dieser Welt wandelte. Und an der Seite befand sich ein Tisch mit einer Karte des aktuellen Asterias, auf welche eine Vielzahl hölzerner Figuren gestellt wurden. Sie diente eigentlich zur Veranschaulichung von strategischen Lagebesprechungen, war jedoch so kryptisch und wirr angelegt, dass niemand außer Celica ernsthaft verstand was darauf eigentlich vor sich ging. Die fremde Gestalt saß im Nebenzimmer im Schneidersitz und nahm genüsslich einen Zug aus der blechernen Wasserpfeife, welche auf dem winzigen Tisch vor ihr stand. Noch immer hatte sie die Kapuze des scharlachroten Mantels nicht abgenommen, aber das war auch nicht nötig; Arisa war bereits klar, dass es sich bei dem Besuch um keine wilde Harpyie aus den Wäldern Cher Enfants handeln konnte, dafür passte zum einen nicht ihr Körperbau und zum anderen war ihr Verhalten viel zu kultiviert, ihr Auftreten zu stilvoll. Außerdem gab es keinen Grund, eine wilde Harpyie zu verschleiern. Nein, unter diesem zugegeben schönen Stück Stoff steckte eine Federlose. Wahrscheinlich ein Mensch; nur diese Halbstarken konnten Dummheit mit Mut verwechseln und es sich direkt neben ihrem sicherem Tod gemütlich machen. Und zu allem Unglück war dieses Exemplar offensichtlich keine Geisel sondern ein willkomener Gast, was Arisa beim besten Willen nicht nachvollziehen konnte, geschweige denn akzeptieren wollte. In Unbehagen und Abscheu verzog sie ihr Gesicht, doch wagte es nicht einen Ton zu sagen, denn Rena hockte neben dem Thron und schien die beiden – auch wenn ihre Aufmerksamkeit gerade einem Kleidungsstück gewidmet war, an dem sie nähte – nicht aus dem Auge zu verlieren. „Ein ganzer Tumult, nur weil ihr beiden Streithennen eure Differenzen nicht beiseite legen könnt!“, herrschte sie daraufhin eine Stimme an und die beiden Waffenschwestern zuckten zusammen, während Celica an ihnen vorbeischritt, sich auf ihren Thron setzte und stöhnend den Kopf auf der Hand abstützte. „D-damit ich dies einmal klar stellen darf“, fing Teeza an und zeigte auf die Harpyie neben ihr: „Sie hat zuerst zugeschlagen!“ „Nimm deine Griffel aus meinem Gesicht, du Plage. Außerdem hattest du es darauf angelegt“, entgegnete Arisa genervt und drehte ihren Kopf weg, damit sich Teezas Klauenspitze nicht weiter in ihre Wange bohrte. „Schwesterherz, wir reden von Teeza. Sie provoziert andauernd, das solltest du doch wissen...“, bemerkte Rena monoton, ohne von ihrer Näharbeit aufzuschauen. „Ha! Siehst du, Rena sieht das auch so. Du lässt dich einfach viel zu schnell produzieren“, bemerkte Teeza triumphierend. „Vielleicht würde es ja helfen, wenn du nicht so schrecklich nervig wärst, dass man dir beim bloßen Anblick eine reinhauen möchte. Und es heißt provozieren, du Vogel!“ „Na vielleicht würde ich dich weniger nerven, wenn du nicht meinen Brutpartner getötet hättest!“ „Fang nicht schon wieder mit diesem Menschenjungen an! Du hättest ihn doch sowieso getötet, ich hab ihm nur den Gefallen getan, dass er dich nicht ertragen musste.“ „Du hast doch keinen Schimmer! Der Kleine war total verrückt nach mir! Ich hätte den ganzen Tag nur auf ihm gelegen!“ „Verflucht Teeza, hast du denn überhaupt keinen Anstand?!“ „Davon hast du offensichtlich zu viel. Statt Anstand such dir lieber mal einen richtigen Stän-“ „Bei allen Göttern, Ruhe!“ Celicas laute Stimme zerschnitt die Luft, aber vielleicht war es auch der donnernde Schlag auf die Armlehne, der alle verstummen ließ. So oder so, reichte es aus, um dem Streit der beiden Harpyien ein Ende zu setzen und im Zelt scheinbar für einen Moment die Zeit stillstehen zu lassen. Lediglich der ausgestoßene Rauch der Wasserpfeife wagte es, sich seinen Weg durch den Raum zu bahnen. „Es interessiert mich nicht, wer zum Kampf angestachelt hatte, oder wer zuerst zugeschlagen hat. Ihr seid keine kleinen Kinder, sondern meine Elitekämpferinnen. Also benehmt euch auch so! Wenn ihr eure Wut auslassen wollt, dann geht Karawanen überfallen. Das nützt uns wenigstens.“ „Verstanden, Mutter... bitte verzeih unser Verhalten“, murmelten die beiden im Einklang und schauten wieder gen Boden. Celica atmete tief durch und schlug die Beine übereinander. „Ich weiß, es war meine Idee, euch zusammenzusetzen. Insofern dürfte ich mich nicht beschweren. Wir wollen es dabei auch belassen. Ich habe nämlich eine Aufgabe für euch.“ Schlagartig wurden die beiden hellwach und schauten die Harpyienmutter mit großen Augen an. „Geht es wieder um diesen Hunter?“, fragte Teeza leicht aufgeregt: „Ich war ja irgendwie enttäuscht von seinen Kriegern, bedenke man seinen Ruf als Schmuddelkönig von Shinju.“ „Schmugglerkönig, Teeza. Unterschätzt mir Hunter nicht, immerhin sind mehr als ein Dutzend unserer Schwestern gefallen, bevor wir seine Leute besiegen konnten. Und dabei war er selbst nicht einmal zugegen.“ „Dieser Kitzune... er hatte in seiner Fuchsgestalt sogar Lissa getötet und Tanya schwer verletzt. Das war ziemlich angsteinflössend...“, bemerkte Arisa nachdenklich. Sie wollte sich kaum vorstellen, wie gefährlich Hunter war, wenn diese fünf – zugegeben wehrhaften – Männer nur seine Untertanen waren. Noch dazu kam ihr der Name – Hunter – nur allzu bekannt vor, doch sie konnte ihn beim besten Willen nicht zuordnen. Doch etwas in ihrem Hinterkopf ermahnte sie zur Vorsicht. „Pfeif' auf diese beiden Schwächlinge. Keine Ahnung was die überhaupt in unseren Reihen zu suchen hatten. Gegen Celica hatte er keine Chance. Und wir beide hätten bestimmt auch keine Kratzer abbekommen.“ Die jüngere Harpyie hüpfte eifrig in die Luft und streckte ihre Glieder. Sie hatte es nicht mehr abwarten können, wieder auf die Jagd zu gehen, immerhin lag der Angriff auf den Zug schon einen Monat zurück. Celica gefiel diese Einstellung, weshalb sie die beiden nicht mehr länger auf die Folter spannen wollte. „Ich brauche euch um ein Kind abzuholen.“ „Ein Kind?“, fragte Arisa und verschränkte skeptisch die Arme. „Ist das nicht eher die Aufgabe der Ammenschwestern?“ „Nicht bei diesem. In den nächsten Monaten gebärt die einzige Tochter des Gouverneurs von Shinju ihr erstes Kind. Wie ihr sicher wisst, wird diese Stadt schon seit seiner Erbauung von einem einzigen Elfenclan regiert.“ „Also ich wusste das nicht!“, meldete sich Teeza und bekam von Rena für diese Unterbrechung eine Gürtelschnalle gegen den Kopf geworfen. Celica ließ sich davon nicht beirren, sondern fuhr mit ihren Ausführungen fort: „Der Gouverneur wird nun also auf einen stattlichen Enkel hoffen, der das Erbe seiner Dynastie fortführen wird. Doch diesen Gefallen tun ihm die Götter nicht. Es wird ein Mädchen. Ein ganz besonderes...“ Celicas Grinsen wurde immer breiter und finsterer. Alle Anwesenden wussten, was ihre Worte bedeutenden und bekamen große Augen. Nur der Besuch reagierte nicht. „Noch nie zuvor hatte ich das Harpyiengen so deutlich in einem Ungeborenen gespürt. Sie wird meine neue Tochter. Eure neue Schwester. Aber die Adoption ist doch ein Stück schwieriger als zuvor. Shinjus Herrscher wird seine Enkelin umgehend töten wollen, sobald die ersten Federn sprießen. Ich befürchte allerdings, dass er das Kind unzähligen Untersuchungen aussetzen wird und so noch viel schneller den Verdacht bekommen könnte, welches Schicksal seine vermeintliche Thronfolgerin ereilen wird. Deswegen müsst ihr den Säugling noch vor der Verwandlung an euch reißen und ich wette, das sie es euch dann erst recht nicht freiwillig geben werden. Zu allem Überfluss war sein Schwiegersohn – der Vater des Kindes – ein Offizier an der Seite von Generaloberst Celeste de Lacour aus Cher Enfant. Und aus diesen Gründen brauche ich zwei aus meiner Elite. Unsere Ammenschwestern können solchen Leuten keine so große Angst einjagen, dass sie ihnen freiwillig das Kind geben. Wir werden um unsere neue Schwester kämpfen müssen.“ „Was ist mit der Mutter des Kindes? Sie wird uns wahrscheinlich auch versuchen, uns aufzuhalten, oder?“, warf Arisa ein, welcher der Auftrag ein leichtes Grummeln in der Magengegend verpasste. Sie liebte den Kampf mindestens genauso wie jede andere Harpyie in den Falkenbergen, konnte jedoch die Lebensmüdigkeit ihrer Artgenossinen – insbesondere ihrer kleinen Waffenschwester – nicht teilen. „Höchstwahrscheinlich, aber macht euch um die keine Sorgen. Die Gouverneurstochter ist eine verzogene Gutelfin, die glaubt, dass das Unheil auf den Straßen dieser verrottenden Stadt mit ein bisschen Liebe gereinigt werden könnte. Ein richtiges Prinzesschen. Ihr könnt mit ihr umspringen, wie ihr wollt. Tötet sie, wenn nötig. Hauptsache, mein Mädchen bleibt unberührt. Immerhin ist sie eine von uns – selbst, wenn sie es noch nicht weiß.“ „Euren Mutterinstinkt in allen Ehren“, lenkte Rena ein: „Aber würden wir uns mit solch einer Aktion nicht zu einer großen Zielscheibe machen? Ganz zu schweigen von politischen Konsequenzen...“ „Politik spielte in unserer 200-jährigen Geschichte noch nie eine Rolle, meine liebe Rena. Wir sind wie die Sumpftiger: Eine einkalkulierte Gefahr auf Reisen. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.“ „Und genau das soll sich ändern...“, leuchtete es Arisa plötzlich ein. „Ihr wollt die Aufmerksamkeit, damit man uns als Volk anerkennt. Aber ist ein wenig Kindesentführung dafür wirklich ausreichend?“ Celica lehnte sich zurück und lächelte entspannt. „Unterschätze nicht die Macht etwas zu besitzen, was alle anderen vernichten wollen, meine schöne Arisa. Sie werden uns schon kennenlernen. Aber das lass nur meine Sorge sein. Ihr bringt mir nur das Kind. Also... werdet ihr den Auftrag annehmen?“ Die ungleichen Waffenschwestern zögerten und tauschten verunsicherte Blicke aus, bis ausgerechnet Teeza zuerst die Hand erhob. „Mutter Celica, glaubt Ihr wirklich, wir sind dafür die richtigen? Arisa und ich, wir... also wir...“ „Wir passen nicht zueinander“, beendete Arisa den Satz. „Zum ersten Mal bin ich mit dir einer Meinung. Hier geht es um eine riskante Unternehmung. Dies sollte ein Team machen, das gut miteinander auskommt. Wir sind dafür einfach nicht geschaffen.“ Langsam senkten die beiden demütig ihre Köpfe, um für ihre Widerworte hoffentlich nicht zu stark gerügt zu werden. Celica atmete tief durch und stand auf, schritt zu ihren Kämpferinnen und schaute sie einen Moment an, hob die Arme und schnippte beiden so hart gegen die Stirn, dass den beiden Harpyien ein kurzer Ausdruck des Schmerzes entwich. „Dummköpfe“, sagte sie mit sanfter Stimme: „Dabei seid ihr doch meine Lieblingstöchter.“ Die Stirn haltend schauten Arisa und Teeza irritiert erst zu Celica, dann wieder zueinander. „Wir sollen... Eure Lieblingstöchter sein?“, fragten sie fast zeitgleich. Rena legte ihr Nähzeug beiseite und schaute irritiert in die Gruppe. „Ja wer denn sonst?“, verkündete Celica lachend mit ausladenden Bewegungen. „Ich wähle euch, damit ich mich darauf verlassen kann, dass die Mission ein Erfolg sein wird. Ja ihr habt eure Differenzen, aber genau die machen euch unschlagbar. Es spielt keine Rolle, dass ihr erst kürzlich an meiner Seite kämpft und die jüngsten in der Truppe seid. Jetzt schon würde niemand behaupten, dass ihr dieser Aufgabe nicht gewachsen seid. Jede von euch ist eine Inspiration für unser Volk. Und nicht zuletzt...“ Celica trat noch näher an ihre Töchter und hob sanft ihre Kinne an, schaute tief in ihre Augen. „...Möchte ich, dass meine Lieblingstöchter sich vertragen. Ich vertraue darauf, dass eine schwierige Mission wie diese euch zusammenschweißt.“ Dann fuhr sie mit je einer Hand sanft über ihre Wangen, runter zur Schulter und drückte die beiden sanft an sich, streichelte über ihre Köpfe. Die beiden griffen nach ihrem Gewand und vergruben ihre Gesichter in ihrem Busen, als würden sie gestillt werden wollen. Fiseau fing geradezu an zu glühen. Dann löste sie sich und begab sich zurück zu ihrem Thron und nahm ihre alte, erwürdige Haltung ein. „Also noch einmal: Arisa, Teeza, wollt ihr diesen Auftrag annehmen?“ Fast zeitgleich fielen die beiden auf die Knie und wiederholten jenen Treueschwur den sie zum ersten Mal geleistet hatten, als sie der Elite beigetreten waren. Dann sputeten sie voller Tatendrang aus dem Zelt und flogen mit lauten Schlägen in Richtung ihrer Zelte, um sich vorzubereiten. Celica folgte ihnen nach draußen auf das Plateau und ließ ihren Blick über das Territorium schweifen, sah auf die ledernen Zelte an den Hängen, die mit unzähligen Heringen und Karabinern in die Felswände und die Holzplattformen gehauen wurden und deren herum wuselnden Bewohnerinnen. Eigentlich, so dachte sie sich, ging es ihrem Volk doch ganz gut. Die hängenden Gärten erblühten in vollem Glanz, sodass die Vorfreude auf die kommende Ernte stieg. Das Wild im Tal war reichlich und auch die ersten Viehzuchtversuche auf den unteren Ebenen konnten mittlerweile kleine Erfolge verzeichnen. Selbst der Bergwind hatte es in diesem Jahr gut mit ihnen gemeint und große Stürme auf Distanz gehalten. Die Mädchen hatten sich von ihren zurückgebliebenen Artgenossinnen im Südwesten immer weiter entfernt und dank ambitionierten Lehrerinnen wie Arisa angefangen, eine eigene Bildungskultur aufzubauen. Ja, man konnte sicherlich behaupten, dass die einstigen Dämoninnen der Lüfte zu einem gewissen Grad zivilisiert wurden. Celica war unheimlich stolz auf all das und zwar zu recht. Doch es reichte nicht. Nicht für ihre Pläne. Rena wartete geduldig, bis die beiden Harpyien weit genug entfernt waren, legte dann ihr Nähzeug beiseite und gesellte sich zu ihrer Herrin. „War es denn wirklich nötig, sie anzulügen?“, fragte sie scheinbar ruhig und gelassen, jedoch nicht überzeugend gelassen genug, als dass die ältere Harpyie den Funken Sorge nicht raushören konnte. „Wie kommst du darauf, dass ich sie angelogen hätte? Ihr alle seid meine Lieblingstöchter. Arisa und Teeza sind da keine Ausnahme – trotz aller Scherereien, die die beiden auch bereiten. Und ich vertraue absolut darauf, dass die beiden die Aufgabe erfüllen werden. Glaub mir, wenn ich wieder Tote in Kauf nehmen wollte, hätte ich nicht die beiden geschickt.“ „Ich warne dich lediglich davor, mit solchen Worten vorsichtig zu sein, Mutter. Jede Schwester in den Falkenbergen ist dir so oder so treu ergeben. Da bedarf es keinerlei Tricks.“ Grinsend streichelte Celica den Kopf ihrer Beraterin und begab sich wieder ins Zelt, nahm einen silbernen Becher aus ihrem Regal hinter dem Thron und schenkte sich aus einer blechernen Karaffe ein wenig des Sudes aus Wasser und vergorenen Klippentrauben ein, bevor sie auf Renas Frage antwortete: „Mit Tricks hat das nichts zu tun. Das war lediglich ein kleiner Motivationsschub für die Mädchen. Ein Stoß in die richtige Richtung, wenn man so will.“ „So wird man es Teeza vielleicht erzählen können, aber Arisa ist klug und könnte es als Verrat verstehen. Und auch wenn sie sich nicht wirklich leiden können: Wenn diese Mission sie so zusammenschweißt, wie du es erwartest, wird sich Teeza vielleicht auf die Seite ihrer älteren Schwester schlagen“, gab Rena zu bedenken und huschte ebenso wieder ins Zelt. Celica räkelte sich auf ihrem Thron und trank das Gesöff mit einem Zug aus. „Naja das ist doch gut“, meinte sie entspannt. „Ein Volk muss selbstständig werden und auch mal gegen ihre Könige rebellieren, das ist doch völlig normal.“ „Du willst, dass wir gegen dich... aufbegehren?!“ Rena war entsetzt, konnte sie sich doch niemals vorstellen, ihre geliebte Mutter zu verraten. Und noch weniger verstand sie die Ruhe, die Celica bei all dem ausstrahlte. „Von 'wollen' ist keine Rede. Aber es liegt im Rahmen des Möglichen. Und wenn es soweit ist... dann habe ich noch eine besonders wichtige Aufgabe für dich... aber dazu erst, wenn das Kind da ist. Geh jetzt bitte und lass eine alte Frau ein wenig in Gedanken schwelgen.“ Für einen Moment wollte Rena noch etwas erwidern, doch konnte bereits sehen, dass sich Celica – den Blick starr auf das verzerrte Spiegelbild im Silberbecher gerichtet – längst in einer anderen Welt befand. Auch wenn ihre Herrin es wahrscheinlich nicht mehr bemerken würde, verabschiedete sich die oberste Beraterin mit einem tiefen Knicks und verließ im verunsicherten Schweigen das Zelt. All das sah sich die fremde Person im scharlachroten Gewand aus der Distanz an und gab ein zufriedenes „Hmm“ von sich. Ansonsten sagte sie nichts weiter, sondern steckte sich wohlwollend das Mundstück in den Mund und blies einen großen Ring des graugrünen Rauches aus. Kapitel 6: Die größte Stadt der Welt ------------------------------------ Severa hatte in ihrem ganzen Leben nur wenig außerhalb des Kesseltals gesehen. Sie kannte zwar den riesigen Magierturm, der aus unerfindlichen Gründen sich dazu entschieden hatte, über dem Abgrund zu schweben, aber die verworrenen, stufenartigen Gassen Lynasas und die dekadente Architektur von Elblessa waren ihr nur aus Büchern bekannt. Doch jene detaillierte Beschreibungen begeisterter Besucher reichten aus, um ein gutes Bild für die Größe dieser beiden Giganten aus Stein, Holz und Stahl zu bekommen, wie sie wohl auf der ganzen Welt ihresgleichen suchten. Und dennoch war sie sich mehr als sicher, dass selbst die größten Städte in ganz Lyn'a'Tishal kaum größer als Dörfer wirkten, verglich man sie mit dem, was sie gerade sah. Auf dem Meer sah es bereits aus wie eine nie enden wollende Ansammlung von Häusern, die sich auf ein, für ihr Verhältnis, viel zu kleines Fleckchen Land drängten und nach außen wuchsen wie die Äste eines ausladenden Baumes. Fast konnte sie gar nicht glauben, dass diese ganze Insel nur aus einer einzigen Stadt bestand. Und doch gab es keine ersichtlichen Grenzen, während sie in einer rostigen Kutsche mit fächerartigem Dach, welche von Ezra als Rikscha bezeichnet wurde, durch die Straßen des Hafens in Richtung Innenstadt gefahren wurden. Waren die hölzernen Häuser mit den seltsam kurvigen Dächern aus rostigem Blech zu Beginn noch ein- maximal zweistöckig, wuchsen sie, je weiter man ins Landesinnere kam, zu immer schwindelerregenderen Höhen an, sodass die Zwergin fast schon dachte, sie würden gar nicht mehr enden; ganz zu schweigen davon, wie viele Einwohner wohl in nur einen dieser Türme passen würden. Natürlich gab es dazwischen auch viele kleinere Gebäude, doch diese verschwanden fast gänzlich in den Schatten der großen Brüder, oder saßen, wie Wurzeln an einem Stamm, direkt an deren Füßen, sodass sie sich oftmals gar nicht sicher war, ob es sich um ein eigenständiges Haus handelte. Aber es ging nicht nur in die Höhe, wie ihr schnell auffiel: Die Seitengassen führten über Treppen in unbekannte, aber belebte und hell erleuchtete Tiefen und unter den zahlreichen Brücken erkannte sie entlang der kleinen Bäche und Kanäle viele Bewohner, die aus Türen in den Seitenwänden kamen. Wie viele Stockwerke es tatsächlich nach unten ging, wagte sie nicht zu behaupten, doch sie konnte sich gut vorstellen, dass unter ihnen ein lebendiges Netz aus Gängen existierte, auch wenn sie sich nur wenig vorstellen konnte, warum jemand freiwillig an einen Ort hausen wollte, an dem kein Licht schien. Sah man auf die Architektur, entpuppte sich diese ebenso als undurchsichtiger Wildwuchs. Die Häuser trugen Elemente, die eins zu eins aus Lyn'a'Tishal kopiert zu sein schienen, wie die eisernen Schornsteine, oder den stufenartigen Aufbau mit vorgesetzter Veranda, behielten jedoch zugleich einen Charakter, der kaum fremder sein konnte. Weiterhin überraschte sie, dass die meisten Häuser aus Holz und Lehm gebaut waren. Stein gab es nicht und Metall wurde, nebst den Dächern, nur zur Stabilisation und für Regenrinnen benutzt. Die Beleuchtung bestand zum Großteil aus einfachen, kreisrunden Papierlaternen, die unter das Dach gehangen wurden, in der Regel je eine an jeder Hausecke. Doch es gab auch diese großen, dunklen Schilder und Röhren, welche die Zwergin zunächst nicht bemerkte, bis eines von Ihnen sie dann in den knalligsten Farben anstrahlte und Worte wie „Casino“ oder „Markt“ bildete, wobei die Schrift stark geschwungen war und nur allzu oft in ausladenden Spitzen endete – ähnlich der Schrift, die Ezra bei der Papiermagie nutzte. Die Türen waren nicht an Angeln befestigt, sondern wurden einfach zur Seite geschoben und aus den gekippten Fenstern krochen fremde Gerüche – von süß bis würzig wurde jeder Duft bedient – gepaart mit dem Klanggewitter eines eigenartigen Dialekts, und verspielter, minimalistischer Musik. Vor den Häusern fand sie oftmals kleinere Dekorationen: Kleine Brunnen aus Stein und seltsame, säulenähnliche Pflanzen, die viel größer als Menschen wurden, sowie kleine Statuen von Menschen und Elfen, aber auch Tieren und anderen Kreaturen aus Messing oder Gold mit großen, seltsam eckigen Köpfen, die ein wenig wirkten, wie die Schnitzereien in Cirdans Kleiderschrank. Bäume und Sträucher gab es nicht viele, aber wenn, dann waren sie ausladend und blühten – ganz zum Kontrast zu den rauen, dunklen Hölzern der Gebäude – in weichen Pastelltönen und auf ihren Zweigen saßen kunterbunte Singvögel mit extravaganten Kämmen und riesigen Schwingen, die dem allgemeinen Lärm der Straße eine eigene Note hinzufügten. Aus den Gassen dazwischen krauchten hingegen deutlich grauere Tiere hervor: ausgemergelte Hunde mit zerrupftem Fell; streunende Katzen, die scheinbar nur noch aus Haut und Knochen bestanden; dürre Füchse mit kaputten Zähnen; und nicht zuletzt auch gelbäugige Kreaturen, die teilweise so fremdartig und unheimlich wirkten, dass es der Zwergin den ein oder anderen Schauer über den Rücken jagte. Doch genauso fremd wie die Architektur, die Flora und Fauna, oder die Gerüche und Klänge waren die Einwohner. Zwar sahen die meisten Leute den Menschen und Elfen aus Lyn'a'Tishal recht ähnlich, doch es gab einige deutliche Unterschiede. So trugen alle Asterier einen sonnengereiften Teint, der von Gelb über Bronze bis hin zu Rotbraun reichte und dementsprechend dunkel war auch ihr Haar: Die meisten waren brünett bis rabenschwarz. Es gab zwar auch den ein oder anderen hellbraunen Schopf und mit dem Alter kamen auch grau oder gar schlohweiß hinzu, doch einen Ansatz von auch nur annähernd blondem Haar suchte man vergebens – sah man mal von Ezra selbst ab. Was beide Rassen gemeinsam hatten, war, dass sie ein gutes Stück kleiner als ihre tishalischen Brüder und Schwestern und beiderseits relativ zart gebaut waren. Beide Rassen trugen die gleiche Kleidung: Lange Gewänder, die mit einem großen Stoffgürtel festgemacht wurden und mit viel Liebe zum Detail bestickt waren – in etwa so wie Ezras Mantelrücken – doch es gab auch einige, die Kleidung trugen, welche auch aus Severas Heimat stammen konnte: Hemden, Hosen und Jacken oder Mäntel, sogar richtige Kleider tauchten hier und dort auf, wenn auch bedeutend seltener und wenn sie jemand trug, dann unterschied sie sich im Bereich Schnitt und Gestaltung doch sehr von der Mode ihres Heimatkontinenten – aber es war nicht zu verleugnen, dass man sich von dort inspirieren gelassen hatte. Was Severa nirgendwo fand, waren Zwerge und sie fragte sich, ob es sie in dieser Welt schlicht und ergreifend nicht gab, oder sie auch hier in irgendwelchen Minen versklavt wurden und daher nicht in der eigentlichen Gesellschaft zu sehen waren. Stattdessen fanden sich aber in regelmäßigen Abständen scheinbar menschliche Männer und Frauen, die jedoch auf ihrem Kopf ein Paar großer, spitzer Ohren aus Fell trugen und an deren Becken hinten ein buschiger Schwanz hinunterhing. Zunächst war sie sich nicht sicher, ob es sich hierbei nicht nur um Kostüme handelte, doch diese Illusion verwarf sich, als einer der Bestaunten ihren Blick wahrnahm und erwiderte – mit zwei so durchdringenden, animalischen Augen, dass Severa sich schnell wieder in ihren Sitz drückte und für sich entschied, ihre Neugierde etwas zu begrenzen. Ein Blick zur Seite verriet ihr aber, dass Cirdan nicht minder fasziniert von dieser fremden Welt war. Mit Interesse und Skepsis gleichermaßen verfolgte der kleinwüchsige Elf seine Umwelt, war auf der einen Seite begeistert von den eigenartigen Leuchtröhren und den beeindruckenden Wohnriesen, aber zugleich angewidert von den schmutzigen Bettlern am Straßenrand und den verdreckten Seitengassen – Dinge, die Severa zunächst gar nicht aufgefallen waren. Doch so langsam bemerkte auch sie, was ihren Herrn wohl am meisten beunruhigte: Die lebhaft gestalteten Geschäfte und Restaurants waren mittlerweile mit immer mehr zwielichtigen Hinterläden und verdächtigen, in Schatten gehüllten Gestalten bestückt worden, die in der Gasse und ihren langen Mänteln allerlei verstecken konnten. Die Leute schauten mit Interesse oder gar Ehrfurcht zu der Rikscha, was vielleicht auch daran lag, dass diese Gefährte immer seltener geworden waren, je weiter sie in die Stadt fuhren. Ezra hingegen schien nicht davon beunruhigt zu sein, im Gegenteil: Auf seinen Lippen lag ein entspanntes Lächeln, während er gedankenverloren am Geländer lehnte. Eines war klar: Der Mensch war nicht von hier, dafür war er zu groß und zu blond und sprach noch dazu nicht diesen eigenartig weichen Dialekt. Seine Wurzeln waren eindeutig tishalisch, aber er musste schon eine sehr lange Zeit in Asteria gelebt haben, denn dieses Lächeln sang unzählige Loblieder von der Erleichterung, endlich wieder zuhause zu sein. „Wir sind gleich da“, sprach er nach einer langen Zeit des Schweigens, in denen er nur auf die Fragen seiner Mitfahrer knapp geantwortet hatte und zeigte auf einen überdimensionalen Gebäudekomplex vor ihnen, der sich wie ein gigantischer Berg aufrichtete und auf den ersten Blick wirkte, als hätte jemand unzählige Häuser aufeinander geschichtet, bis sie mitsamt einiger Bäume zu einem großen Haufen verschmolzen waren. Sogar ein kleiner Bachlauf führte entlang der Dächer aus Blech und stürzte oftmals – direkt an Fenstern vorbei – einige Schritt in die Tiefe, bevor er in einen kleinen Teich platschte, in dem sich ein paar Personen gemütlich räkelten. Auch sonst herrschte um das ganze Gebäude reger Betrieb: Frauen und Männer aller Rassen schritten durch die gewaltige Eingangstür, auf den Balkonen standen Personen mit umgebundenen Handtüchern – besonders mutige sogar splitterfasernackt -, rauchten genüsslich oder unterhielten sich angeregt und aus jedem Fenster hörte man ein lebhaftes Durcheinander unterschiedlichster Stimmen, die von lauten Befehlen, bis zu lockeren Gesängen jeden Aspekt abdeckten. Über dem Eingang stand in gigantischer, typisch asterischer Leuchtschrift etwas geschrieben, was Severa mit einiger Anstrengung entziffern konnte: Willkommen im Fuchsbau hieß es dort in großen Lettern. Darunter stand rechts vom Eingang, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, einer jener seltsamen Tiermenschen mit schlohweißen Haar – oder sagte man hierzu Fell? Sein Ausdruck war steif und fest, besaß jedoch zugleich eine schwache Melancholie. Auf der anderen Seite lehnte an den Rahmen eine hübsche, schwarzhaarige Elfin im jungen Erwachsenenalter, die sich eine Art Schürze umgebunden und die Ärmel ihrer weiten Bluse bis über die Ellbogen gekrempelt hatte. Anders als ihr Wachpartner wirkte sie äußerst freundlich und einladend, was vielleicht auch ihrer Begleitung geschuldet war. Denn an ihre linke Hand klammerte sich ein Menschenkind von vielleicht zehn Lenzen, von dem Severa – der Distanz sei es geschuldet – nicht genau sagen konnte, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Sie bezweifelte, dass es sich tatsächlich um Mutter und Kind handelte, dennoch schien sich das Balg an die Elfin geradezu anzukuscheln, als würde sie genau jene gefragte Rolle in Anspruch nehmen. Doch seine Aufmerksamkeit kippte, als es die Rikscha erkannte. Der Kutscher hielt sein Pferd an und nahm dankend ein kleines Säckchen von Ezra entgegen. Erst dachte Severa, es würde sich dabei um Goldmünzen oder eine andere Art von Währung handeln, doch weit gefehlt: Der Kutscher öffnete die Schlaufe und betrachtete zufrieden einige kleine Kugeln aus Metall, welche die Zwergin noch nie zuvor gesehen hatte. Der blonde Mann sprang daraufhin aus dem Gefährt und half zuerst seinem Geschäftspartner, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen, bevor er um die Rikscha lief und der Zwergin die Hand anbot. Sie hatte sich schon früh darüber gewundert, mit welch vornehmer Art sie von Ezra behandelt wurde, obwohl ihm ihr Stand offensichtlich nicht unbekannt war. Er hatte auch nicht aufgehört, sie mit „Miss Severa“ anzusprechen, und das 'Miss' war nun wirklich keine Bezeichnung, welcher eine Zwergin würdig war – immerhin galt es schon fast als Privileg, dass man sie in Lyn'a'Tishal beim Vornamen genannt hatte. In der Regel hießen die meisten Zwerge nur „Hey“, oder „Du da“; wahlweise grüßte man sie auch, indem man die Schuhsohle in ihr Gesicht drückte oder sie anspuckte – was den hohen Herren halt so einfiel. Vielleicht... nein, sehr wahrscheinlich war dies auch der Grund, warum sie sich durch Sterlinsons unnatürliches Verhalten eher angegriffen als beflügelt fühlte. Mit Hass wurde sie fertig, aber diese Freundlichkeit war ihr mehr als suspekt, obwohl sie keine explizite Abneigung gegen den Menschen hegte. So oder so machte Cirdan keine Anstalten, das Treiben seines Geschäftspartners zu unterbinden und damit war Severa fast schon verpflichtet, es zu erdulden. Kaum, dass sie die wackelige Rikscha verlassen und zum zweiten Mal seit ihrer Ankunft die Füße auf asterischen Boden gesetzt hatten, zeigte Ezra auf das Gebäude vor ihnen: „Lord vei Brith, Miss Severa, wenn ich es nun einmal ganz offiziell sagen darf: Willkommen in Shinju, der größten Stadt der Welt. Vor ihnen liegt mein bescheidenes Heim, der Fuchsbau; die wohl bekannteste und schönste Freizeiteinrichtung der ganzen Stadt, auf mehreren Etagen ausgestattet mit einem Thermalbad, einem Theater, einem Restaurant mit Bar und einem Casino. Der Ort dient in den kommenden Wochen als Euer Wohnquartier und solltet Ihr den Wunsch nach Unterhaltung hegen, steht Euch selbstverständlich das gesamte Haus zur Verfügung. Ich hoffe, dass unser Angebot Euren hohen Ansprüchen gerecht wird.“ Die beiden Besucher standen mit großen Augen vor diesem riesigen Berg aus Lehm, Metall und Holz, waren absolut fasziniert von der eigensinnigen Architektur, der Verschmelzung aus Stadt und Natur, die an manchen Stellen frisch gebaut und an anderen schon hundert Jahre alt zu sein schien. Auf seine ganz eigene Art und Weise, war der Fuchsbau wunderschön. „Ich weiß wirklich nicht, was ich erwartet habe, Sterlinson, aber ganz sicher nicht, dass Euch ein ganzer Freizeitpark gehört“, gab Cirdan anerkennend und zugegeben beeindruckt zu – etwas, was er nur selten war... und noch seltener so offen zeigte. Vermutlich hatte er gerade etwas mehr Vertrauen in den Mann erlangt, dem er so überstürzt aus Lyn'a'Tishal gefolgt war. „Zugegeben, das alles gehört mir nicht allein. Ich teile mir die Leitung mit drei engen Partnern. Mir gehört der gesamte kulinarische Bereich, der – ohne angeben zu wollen – absolut ausgezeichnet läuft.“ „Und dann braucht Ihr tatsächlich noch einen zweiten Geschäftszweig?“, gab Cirdan verschmitzt zu denken. „Ein kleines Polster tut doch immer gut“, antwortete Ezra mindestens genauso verschmitzt. Die Neuankömmlinge hatten sich an dem Bau kaum satt gesehen, da erklang ein aufgeregtes „Meister Hunter!“ aus einer glockenhellen Jungenstimme vor ihnen. Das Kind hatte sich von der Hand der Elfin gelöst und war auf die Gruppe zugelaufen. Aus der Nähe wurde Severa schnell klar, warum sie den Jungen nicht als solchen aus der Entfernung hatte erkennen können. Der Knirps besaß zwar eine eindeutig jungenhafte Statur, doch sein weites Obergewand verschleierte diese und sein offenes Haar, das ihm bis weit über die Schultern reichte, glänzte so wundervoll, dass so manche Frauen in seiner Umgebung sicherlich neidisch werden konnten. Er grinste über beide Ohren zu dem großen Mann hoch, der sich ohne weiteres zu ihm nach unten kniete und ihm über den Kopf streichelte, wobei er mindestens genauso viele Zähne zeigte als würden die beiden um das breiteste Lächeln wetteifern. Severa ertappte sich dabei, dass sie den Anblick der beiden als liebenswert empfand und sich vorstellte, dass es sich um Vater und Sohn handelte, auch wenn sie keine Ähnlichkeit zueinander aufwiesen und Ezra auch nicht der Mensch zu sein schien, der Kinder hätte. „Grüße dich Touma! Schickt deine Mutter dich voraus?“, fragte Ezra und kniff dem Jungen kurz in die Wange, bevor er sich wieder aufrichtete. Der Junge nickte aufgeregt, dass sein Haupthaar mitwippte und lehnte sich vor, während er einen Zettel übergab. „Ich soll Euch vom schwarzen Tisch ausrichten, dass es eine Willkommensfeier im kleinen Kreise gibt.“ „Ach wirklich? Kann mir kaum vorstellen, dass die drei mich tatsächlich so sehr vermisst haben“, bemerkte Ezra lachend, doch seine Miene wurde schlagartig ernst, als er das Schreiben überflog. Touma schien das nicht bemerkt zu haben und sprach unbekümmert weiter. „Naja, Mutter sagte etwas über eine Krise und Ihr müsstet Euch dringend erklären für die Sache im Ödland. Aber bitte erzählt mir doch, wie war es auf der anderen Seite des großen Sees? Was habt ihr gesehen?“ „Touma, Schätzchen!“, rief eine Stimme hinter dem Jungen. Die Elfin war ihm hinterhergelaufen und hielt den Jungen an der Schulter. Ihr Haar glänzte mindestens genauso sehr, wie das des Jungen und ihr schüchterner, aber liebevoller Blick, gepaart mit dem spitzen Lächeln, verlieh ihrem Gesicht einen gewissen Zauber, auch wenn sie ansonsten zwar durchaus hübsch, aber dennoch reichlich unauffällig war. Nichtsdestotrotz konnte sich Severa nicht erklären, warum, doch auch bei ihrem Gesicht wirkte etwas unnatürlich oder seltsam, ähnlich wie es ihr bereits bei Ezra am Abend ihrer Begegnung aufgefallen war. „Magst du denn nicht wieder zu deiner Mutter? Sie vermisst dich doch ganz sicher.“ „Aber Tante Mikki, sie ist bestimmt noch mitten in ihrer Arbeit versunken. Wenn ich sie bei den Vorbereitungen für das Theater störe, schimpft Mutter bestimmt wieder. Darf ich nicht noch ein wenig bei Euch bleiben? Ich helfe auch beim Gemüse schneiden!“ „Vielleicht später. Geh jetzt erstmal spielen, ja? Lass Meister Hunter in Ruhe wieder zuhause ankommen.“ Missmutig verabschiedete sich Touma mit einer kurzen Verbeugung und trottete wieder zurück, an dem weißhaarigen Tiermenschen vorbei, der sich langsam der Gruppe näherte, die Augen auf den Boden gerichtet und die Hände beschämt vor dem Schoß gefaltet – eben jene Position nahm auch die Elfin ein und sah dabei äußerst traurig aus. Die beiden konnten sich wahrscheinlich denken, was in dem Brief stand. Severa wagte es nicht etwas zu sagen und auch Cirdan, der das Ganze zwar argwöhnisch beobachtete, ließ dennoch jeden Kommentar bei sich, denn es war mehr als offensichtlich, dass sein zukünftiger Geschäftspartner gerade keine Störung hören wollte. Wenn man es schaffen könnte, nur durch seine bloße Kraft ein Blatt Papier weiter zu zerdrücken, Ezra war in diesem Moment wohl sehr nah dran. Seine Hand zitterte vor Wut, während die Knöchel bleich hervortraten und man fast das Knirschen seiner Zähne vernehmen konnte. „Meister Hunter....“, fing die Elfin in traurigem Ton an, wurde jedoch umgehend vom Angesprochenen unterbrochen, der sofort seine fröhliche Miene aufsetzte und sich nicht anmerken ließ, was sich hinter jener „Sache im Ödland“ befand. Mit einer ausladenden Bewegung zeigte er auf die Elfin, während er sich lächelnd an seinen Besuch wandte: „Wo bleiben denn meine Manieren? Wenn ich vorstellen darf: Die beiden vor Euch sind meine treuesten Untergebenen und engsten Vertrauten. Zu Eurer Rechten, meine bezaubernde Hausdame Mikalia. Das Geschäft schlägt bisweilen auf den Magen, aber Mikki ist eine hervorragende Köchin. Außerdem hält sie Haus und Hof besenrein und kümmert sich um jeden Gast mit absoluter Hingabe. Der Herr in weiß hingegen ist mein Stellvertreter Shiro und bevor Ihr fragt: Ja, die Ohren und der Schweif sind echt. Er gehört zu den Kitzune, einer Mischrasse aus Mensch und Fuchs.“ „Ein... Kitzune?“, fragte Cirdan skeptisch und hob die linke Braue. Verständlicherweise, immerhin gab es dergleichen nicht in Lyn'a'Tishal. Der junge Mann nickte nur kurz, sagte jedoch kein Wort. Auch wenn er längst nicht so groß wie Ezra war, konnte man seine Statur durchaus als überdurchschnittlich bezeichnen, verglichen mit der Elfin neben ihm. Seine Kleidung - eine weite Hose und ein Hemd mit tiefem Ausschnitt und offenen Ärmeln, beide in einem dunklen Mitternachtsblau gehalten – saß, trotz aller Lockerheit, strengstens präzise und wurde durch einige Schnüre und Gürtel im Zaum gehalten. Sein aschblondes Haar war kurz geschnitten und auch das Fell, was anderen Vertretern seiner Art stellenweise deutlich aus den Ohren wuchs, war bei ihm auf ein Minimum reduziert worden. Auch dem schlanken Schwert an seinem Gürtel gewährte man keinen Spielraum, so präzise saß es am Bund, in perfekter Position, um jederzeit schnell gezogen zu werden. Severa schaute den Kitzune weiter an, verlor sich in den Details seines Gesichts, den zuckenden Barthaaren, den dichten Koteletten, die aus dem Haar bis zum Kiefer reichten und den durchdringenden animalischen Augen, die stur versuchten, geradeaus zu starren. Sie verlor sich in seinem Anblick sehr, dass sie gar nicht bemerkte, wie sie langsam vorangegangen war und die Hand nach ihm ausstreckte. „Sevvi!“ Mit dem Ruf ihres Namens verspürte sie zeitgleich einen festen Schlag auf dem Kopf und eine Kraft am Schopf, die sie ruckartig nach hinten zog und ihr große Schmerzen am Haupt verursachte. „Was fällt dir ein, so unverfroren vor unseren Gastgebern zu sein?! Entschuldige dich gefälligst“, zischte Cirdan und umfasste fest ihr Gesicht mit einer Hand. Sofort verfiel die Zwergin in ihre einstudierte Rolle der Unterwürfigen und legte die Hände vor den Schoß. „Entschuldigt, Master... ich war nur so neu-“ „Nicht bei mir, du dumme Nuss, sondern bei dem jungen Herrn, den du betatschen wolltest!“ Beim jungen Herrn? Severa sah auf und machte einen kurzen Knicks, wobei ihr nicht entging, dass die Elfin über das Geschehene doch etwas verunsichert, um nicht zu sagen geschockt aussah. Der Kitzune blieb hingegen unbekümmert, als habe er es gar nicht so direkt mitbekommen. „Bitte verzeiht mein frevelhaftes Verhalten, Herr Shiro. Ich wollte Euch sicher nicht bedrängen. Es ist nur... Eure Ohren...“ „Wollt Ihr sie vielleicht einmal berühren?“, fragte er darauf in einem, für sein strenges Erscheinen, erstaunlich sanften Ton, als hätte Severas Wunsch gar nichts Unhöfliches, obgleich es schien, als hätte er nur widerwillig jenen Vorschlag gemacht. Einen Moment zögerte die Zwergin, schaute erst zu ihrem Herrn, der nur genervt mit den Schultern zuckte und darauf zu Ezra. „Keine falsche Bescheidenheit, Miss Severa“, lud er sie lächelnd ein: „Kitzune wandeln erst seit zweihundert Jahren auf dieser Welt. Selbst in Asteria gibt es noch immer abgelegene Orte, in denen noch nie einer von ihnen vorbeigekommen ist. Mögt Ihr es nicht auch einmal versuchen, Lord vei Brith?“ Cirdan schüttelte kurz den Kopf: „Lasst gut sein, ich glaube das auch so. Aber wenn dir der junge Herr bereits so ein großzügiges Angebot macht, dann solltest du es auch annehmen, Sevvi. Beeil dich nur ein wenig!“ Das sagte er so leicht. Severa hatte in ihrem ganzen Leben kaum Tiere berührt geschweige denn einen Tiermenschen, wie er vor ihr stand. Eine neue Erfahrung, verbunden mit einer Aufregung, wie sie sie nicht mehr seit ihrer Entjungferung so klar und stark gespürt hatte. Seit sie von Lyn'A'Tischal aufgebrochen waren, hatte sie unzählige Male versucht sich vorzustellen, wie es auf einem anderen Kontinenten aussehen konnte, doch in ihren Träumen unterschied sich Asteria nur wenig von ihrer Heimat, was in ihr auch eine gewisse Ernüchterung hervorrief. Das änderte sich schlagartig mit dem ersten Fuß, den sie auf fremden Boden gesetzt hatte: Es war überwältigend, um nicht zu sagen übermannend. Die wenige Eindrücke, welche sie in den ersten Augenblicken aufgenommen hatte, überstiegen ihre kompletten vorherigen Erfahrungen ihres 120 Jahre langen Lebens. Und von all jenen Momenten, die sie mit Augen, Ohren und Nase aufgenommen hatte, war dieser hier eine ganz neue Stufe: Denn zum ersten Mal würde ihr die Fremde direkt durch die Finger gleiten. Der Kitzune lehnte sich vor und hielt seine Ohren hin. Langsam, mit zitternden Fingerspitzen, streckte sich die Zwergin nach oben und berührte das helle, buschige Fell an dessen Spitze. Wie aus Reflex zuckte das Ohr kurz und Severa zog erschrocken die Hand zurück, schaute sich um. „Macht Euch keine Sorgen. Ihr könnt Shiro nicht wehtun, solange ihr ganz sanft seid“, beruhigte sie Ezra, der ihre Aufregung wohl deutlicher vernommen hatte, als ihr eigener Herr, von dem sie nicht einmal wusste, ob dies fremde Land überhaupt eine Regung in ihm ausgelöst hatte. Langsam näherte sie sich wieder und berührte diesmal nicht die Spitze sondern umfasste direkt die breite Muschel. Obwohl es recht kurz geschnitten war, fühlte sich das Fell unfassbar weich und angenehm an, nicht so seltsam strohig wie das des ausgestopften Bären im Musikzimmer zuhause. Außerdem spürte sie sofort den warmen Hauch des Lebens, welcher durch jede einzelne Faser pulsierte, als könne sie im Fell selbst Shiros Puls erfassen. Sie konnte kaum begreifen, was dort zwischen ihren Fingern lag, hielt es fast noch für einen Traum, doch tatsächlich: Es war real. Eine reale andere Welt, die sie gerade in ihrer Hand hielt. So bemerkte sie es nicht, wie ruckartig Shiro sich wieder aufrichtete und seine Ohren massierte, während er ein genervtes „Das reicht dann aber auch“ murmelte. „Tut mir leid. Shiro kann manchmal etwas grob werden, denn eigentlich mag er gar keine Frauen...“, versuchte Ezra zu erklären, da fiel ihm bereits sein Stellvertreter ins Wort. „Das hat doch damit überhaupt nichts zu tun!“ „Und womit dann?“ „Es... es kitzelt, in Ordnung?“ Kurzes Kichern bei allen Beteiligten, bevor Sterlinson in die Hände klatschte und vorschlug, endlich das Gebäude zu betreten, bevor man noch anfinge Wurzeln zu schlagen. Severa schaute auf ihren Herrn und atmete erleichtert aus: Die Steifheit der letzten Tage und das grimmige Gesicht waren einem zwar nur sehr schmalen, aber dennoch unübersehbaren Lächeln gewichen. In einer Welt, die sie nicht kannte, schätzte sie sein präzises Gespür und so war auch das kleinste Zeichen von Entspannung für sie ein Symbol dafür, sich an diesem doch so komplett fremden Ort sicher zu fühlen. Jedoch sollte ihre Laune nur alsbald vergehen, als sie einen starken Zug an ihrem Halsband bemerkte, der ihr die Luft raubte. In den Augen der Anwesenden erkannte sie noch den Schrecken da wurde sie bereits nach hinten gezerrt, von einem Arm umgriffen und spürte kurz darauf etwas dünnes Kaltes, das gefährlich nah an ihren Hals gepresst wurde. Schlagartig wurde alles positive der letzten Momente, die Neugier und Freude in Angst und Panik umgekehrt. Sie fühlte sich wie gelähmt, bekam kaum Luft durch ihre Kehle gepresst. Severa hörte den feuchten Atem ihres Angreifers hinter sich. In ihre Nase stach eine Mischung aus fauligem Schweiß und brennendem Alkohol in unterschiedlichsten Nuancen, als habe jemand unzählige Liköre wahllos zusammengemischt und diesen Cocktail in einem Zug gestürzt – wahrscheinlich entsprach diese Vorstellung auch der Wahrheit. Doch trotz des bissigen Gestanks, der ihr die Galle hochtrieb, brachte sie es nicht fertig, zu würgen, dafür war ihre Angst zu groß, sich an der Klinge zu schneiden. Plötzlich wurde jeder Moment in eine unerträgliche Länge gezogen. Ihr Blick sackte nach unten und sie nahm ihre Begleiter nicht mehr bewusst wahr, lediglich die sich nähernde Stimme Ezras hallte in ihrem Bewusstsein wider. „Tetsuro...“, fing er an und ihr fiel auf, wie ruhig er klang. Sie sah hoch und erkannte, dass der kurze Schock aus dem Gesicht des Menschen gewischt worden war und seine Augen fest die Person hinter Severa fixierten – und dabei nicht einmal blinzelten. „Du bist sicherlich hier, um deinen Sohn zu rächen, nicht wahr?“ „Also wisst Ihr schon Bescheid?“ Die Stimme des Angreifers war rau und verzerrt, knirschte wie ein Ast und brach zugleich weg, wie ein furchtbar verstimmtes Instrument. „Ich habe es gerade erfahren. Der ganze Vorfall... Sunnys Tod war eine Tragödie.“ „Redet keinen Mist! Ihr wart nicht da, deswegen ist er tot! Ein toller Anführer seid Ihr ja! Einer Ladung unfähiger Hunde habe ich mein Kind anvertraut!“ Dann redete er sich weiter in Rage, wurde immer beleidigender und ausfallender, was sich auch in seiner Aussprache widerspiegelte: Mit jedem Wort sammelte sich scheinbar mehr Speichel in seinem Mund, welches in einem großen Schwall heraustrat und Severas Gesicht benetzte. Ezra indes ließ den Mann pöbeln, ohne ihm auch nur einmal in die Parade zu fahren. Er verschränkte die Arme vor der Brust und wartete in aller Ruhe, bis der Mann mit seiner Tirade abgeschlossen hatte. Die anderen hatten es nicht gewagt, näher zu kommen und obwohl Cirdan gerne eingreifen wollte – in seinem Blick blitzte eine ungeheure Empörung – hielt Shiro ihn vehement zurück. Sie erkannte, dass er sich Sorgen um sie machte und versuchte mit einem schmalen Lächeln, diese zu verwischen. Doch es wollte nicht über ihre Lippen kommen, dafür saß die Furcht noch immer einfach zu tief. Seit einigen Momenten war Stille eingekehrt. Der Angreifer hatte aufgehört, wüste Beschimpfungen loszulassen, atmete nun jedoch schwer. Ezra hatte sich in Mimik und Gestik nicht verändert und man hätte tatsächlich meinen können, dass er wirklich nicht ein einziges Mal geblinzelt hätte. Einige Schaulustige waren auf den Tumult Aufmerksam geworden, hielten jedoch einen äußerst großen Abstand vom Geschehen und wagten es nicht, sich einzumischen. Die allermeisten Passanten taten hingegen so, als würden sie nichts sehen. „Und? Sagt schon! Wie gedenkt Ihr das wieder gut zu machen?“, fragte der schmierige Morast hinter ihr und drückte mit dem umschlungenen Arm noch fester zu. Severa fühlte sich wie angekettet und spürte wie sie langsam die Kräfte verließen. Das Messer presste sich in ihr Fleisch und sie merkte, wie ein warmer, dünner Blutfilm heraustrat und die kalte Klinge hinunterlief. „Was soll ich wieder gutmachen, Tetsuro? Unser Trupp wurde von Harpyien überfallen. Und keine gewöhnlichen, sondern Celicas Elite. Samt Harpyienmutter höchstpersönlich.“ „Warum sollte mich das kümmern“, gab der Angesprochene mit einem süffisanten Lachen zurück. Für einen Moment lockerte er kurz den Griff und lehnte sich weiter vor, dass die Zwergin im Augenwinkel ein wenig ausgeblichene lederne Haut erkennen konnte. Der Gestank wurde so nah bei ihr nur noch unerträglicher. „Tatsache ist, dass Sunny tot ist, oder nicht? Also gehe ich zu seinem Meister und verlange nicht mehr als Genugtuung! Ich habe noch zwei andere Kinder zuhause! Die müssen auch ernährt werden!“ Zum ersten Mal verzog Ezra das Gesicht voller Missfallen, bevor er seine Antwort gab: „Und wenn Sunny stattdessen hier in Shinju auf offener Straße abgestochen worden wäre... was hättest du dann gemacht? Wärst du zum Gouverneur gegangen und hättest ihn um 'Genugtuung' gebeten?“ „Verflucht, was spielt das für eine Rolle?! Pass auf, Hunter, ich verlange umgehend als Ausgleich nicht weniger, als zwei von Sunnys Löhnen! Das steht mir zu! Andernfalls wandert auf die Liste derer, die wegen deinem Unvermögen gestorben sind, auch dieses unschuldige kleine Mä-“ Mädchen wollte er wahrscheinlich sagen, doch in genau diesem Moment griff er unter seinem Herumgefuchtel mit der Klinge und weiterer ausladender Gestiken versehentlich an Severas pralle Brust. Schlagartig wurde ihre angsterfüllte Leichenblässe in knallige Schamesröte verwandelt. Die Tatsache, dass ihr Entführer auch noch seine neue Entdeckung begutachten und fester kneten musste, trug auch nicht für ein besseres Wohlbefinden bei – immerhin war sie mit derlei Begrapschungen vertrauter als mit lebensgefährlichen Drohungen. „Sag mal“, fragte Tetsuro verwundert und linste tief in das Dekolleté der Zwergin: „Ist das überhaupt ein Kind?“ Eine Antwort bekam er nicht. Stattdessen nutzte Ezra die Sekunde der Ablenkung und sauste auf die beiden zu – schneller als irgndjemand hätte reagieren können – griff mit der linken Hand nach dem bewaffneten Arm und riss mit der rechten zugleich Severa vom Mann weg. Tetsuro wusste kaum, wie ihm geschah, da schoss die Faust bereits in sein Gesicht. Der Aufprall riss ihn von den Füßen und die Gestalt segelte in einem hohen Bogen zu Boden, wo sie mit einem schmatzenden Geräusch aufklatschte. Cirdan war zu seiner Sklavin gelaufen, sobald sie befreit wurde und presste sein Taschentuch auf die dünne Schnittwunde. Zum ersten Mal erkannte Severa ihren Angreifer; sie hatte sich vorgestellt, dass es ein boshaftes Monster gewesen sein musste, doch nun - stöhnend auf dem Rücken liegend und nur mit viel Mühe überhaupt fähig aufzustehen – stellte sich heraus, dass es sich dabei um ein dürres, ungepflegtes Männlein in schmutziger, liderlicher Kleidung und mit fahler Haut handelte. Die einzige Farbe im Gesicht hatte er von seiner Nase, die vom Schnaps geradezu glühte – vielleicht lag es aber auch am Schlag. So oder so war vom bissigen Ton zu Beginn nicht mehr viel übrig. Der Mann wimmerte noch ein heiseres „Verzeiht mir, Meister Hunter“, bevor Ezra ihm einen Tritt in die Magengrube verpasste, dann seinen Schopf packte und das Gesicht mit voller Wucht auf das schmutzige Pflaster rammte. Beim Aufschlag entwich aus dem Mund des Gepeinigten ein kurzes Aufheulen. Ezra kniete sich ganz nah das Gesicht seines Opfers und sprach ruhig mit rauer Stimme: „Also... du hast mich in aller Öffentlichkeit denunziert, wolltest den Tod deines Sohnes missbrauchen, um mich zu erpressen und hast noch dazu meine Gäste bedroht... Wie gedenkst du denn, das wiedergutzumachen?“ In jenem Moment versprühte Ezra eine Aura, so kalt, dass es einen das Blut in den Adern gefrieren ließ. „M-Meister Hunter ich wollte nicht...“, wollte Tetsuro noch anfangen, doch wurde zur Strafe wieder in den Dreck gepresst. „Sieh dich nur an, du liederlicher Säufer! Nur solange du jemanden unterdrücken kannst, fühlst du dich stark nicht wahr?! Kein Wunder, dass deine Frau vor dir geflohen ist! Und deine Kinder?! Tetsuro, ich weiß, nur allzu gut wie es um Sunnys Geschwister steht, immerhin gab er einen großen Teil seines Lohns dafür aus, ihnen etwas zum Essen und Anziehen zu kaufen, weil ihr nichtsnutziger Vater seine erschnorrten Groschen lieber für Alkohol ausgegeben hatte! Ich soll Sunny getötet haben?! Wenn Sunny nicht zu uns gekommen wäre, hätte er schon lange unter der Erde gelebt. Und du! Wagst es! Mich! Einen! Versager! Zu nennen!“ Mit dem letzten Satz hämmerte Ezra die Visage immer wieder auf das Pflaster. Das Klatschen hallte mit jedem Male lauter von den Wänden der nahen Gebäude wider, gemischt mit dem Stöhnen des Prügelknaben und die rote Spur auf dem grauen Stein wurde immer tiefer, während Tetsuro sein Gesicht auf dem Boden vergrub,das mittlerweile mehr an eine eingedellte Kartoffel erinnerte, die man gerade aus einem Schweinetrog gefischt hatte, sah man mal von dem Mix aus Tränen, Rotz und Blut ab. Knurrend griff Ezra wieder den Schopf, nachdem er ihm eine kurze Auszeit gegönnt hatte und reckte ihn noch höher als zuvor, streckte ihn gar in die Unendlichkeit. Tetsuro winselte etwas Unverständliches, flehte wahrscheinlich um Gnade, doch in den Augen seines Peinigers suchte er diese vergeblich. Und wenn er so weitermachte, dann war sicher, dass Ezra diesen Mann töten würde. Severa hielt sich vor Schreck beide Hände vor den Mund und wich zurück. Es war, als wäre von dem feinen Herrn der sich ihnen bei der Feier einst vorgestellt hatte, nichts mehr übrig gewesen. Vor ihr saß stattdessen ein blutrünstiges Raubtier – aber auch die wären wahrscheinlich weniger grausam. Während alles darauf wartete, dass Ezra den finalen Schlag ansetzen würde, vergrub sie angsterfüllt das Gesicht. Sie wollte es nicht sehen. „Das reicht, Mister Sterlinson!“ Kaum donnerte Cirdans Stimme über den Platz, herrschte völlige Ruhe. Die letzten Schaulustigen, die dieser Kampf noch nicht abgeschreckt hatte, wandten sich nun schnell ab, als wollten sie nicht hier gesehen werden. Ezra, der sich gerade noch wie eine wilde Bestie benahm, setzte augenblicklich eine Miene des Bedauerns auf und beugte sich zur Entschuldigung nach unten. „Lord vei Brith, ich bin für diesen Vorfall wirklich untröstlich...“, wollte er schon beginnen, doch der kleinere Elf unterbrach ihn harsch. „Ich würde vorschlagen, dass Ihr den heutigen Tag dazu nutzt, die Versäumnisse Eurer langen Abwesenheit aufzuarbeiten! Ich muss mich nach diesem 'Vorfall' auch erstmal um mein verstörtes Freudenmädchen kümmern. Und außerdem... habe ich gerade das Gefühl, dass ich nicht in Eurer Nähe sein möchte.“ „Natürlich... das verstehe ich“, murmelte der blonde Mann handzahm. Er wirkte wie ausgewechselt, bedachte man seinen vorherigen Ausbruch. Stumm, kontrollliert richtete er seine Jacke und fuhr durch seinen Schopf, bevor er sich an seine Untergebene richtete: „Shiro, begleite Tetsuro nach Hause und gib ihm einen Obulus für seinen Schaden... und besorge etwas Obst für seine Kinder. Und Mikki, zeige meinen Gästen doch das Haus. Wenn sie einen Wunsch haben, tu alles, diesen zu erfüllen. Lord vei Brith, Miss Severa, ich entschuldige mich zutiefst für die Unannehmlichkeiten. Bitte fühlt Euch trotzdem wie zuhause. Wir sehen uns dann morgen.“ Schweigend verabschiedeten sich Gäste und Untergebene in verschiedene Richtungen und ließen Ezra alsbald allein. Severa schaute über ihre Schulter noch einmal ins Gesicht des blonden Mannes, der versuchte sie freundlich anzulächeln, doch schreckte sofort zurück. Ezra atmete noch einmal tief durch, versuchte seine Gedanken zu sortieren. Aus seiner Tasche holte er einen silbernen Schlagring, betrachtete ruhig das glänzende Metall und die kerbenlosen Kanten, bevor er ihn anlegte. Dann schrie er wütend aus und schlug gegen eine nahe Steinwand. Unter einem krachenden Laut und einer weißen Staubwolke, machte er kurz darauf kehrt und schlich, die Hände missmutig in den Taschen vergraben in die Stadt zurück, vorbei an Passanten die einen deutlichen Bogen um ihn machten. Zu guter Letzt blieb als Zeuge jener Ereignisse nur die kleine Blutlache zurück, welche langsam im Rinnsal vertrocknete, sowie ein faustgroßer Einschlag in der Wand, der ein paar lange Risse durch die Fassade zog. Kapitel 7: Über Grafen und Gauner --------------------------------- Das Schloss von Shinju war beeindruckend. Kein anderes Wort wurde ihm sonst gerecht, denn es war eines der wenigen Orte Asterias, in denen man das Gefühl bekam, der Kontinent wäre noch immer der alte und die große Explosion hätte es nie gegeben, so sehr war die alte Dekadenz an diesem Ort noch spürbar. Die Bauweise der alten Meister von Shindura, welche den Charakter des dreistufigen Gebäudekomplexes mit seinen hohen Mauern aus klarem, weißen Kalkstein und den dunklen, komplex verstrebten Holzbalken aus uralten Eras-Eichen dominierte, hinterließ bei seinen wenigen Besuchern ein erdrückendes Gefühl der Unterwerfung, fühlte man sich doch unfassbar klein und unbedeutend an diesem Ort. Die hohen Decken wurden mit unzähligen Gemälden aus der schier endlosen Geschichte Asterias versehen, erzählten in den schillerndsten Farben die Balladen über Machtkämpfe, Heldengeschichten und große Entdeckungen und wurden lediglich von den riesigen, ausladenden Kirschblütenbäumen unterbrochen, die mit Siegeln an ihren Stämmen gezwungen wurden, das ganze Jahr über roséfarben zu blühen. Sah man hingegen zu Boden, wurde das helle Teakholz mit langen Läufern in saftigem Grün ausgelegt, die an den Seiten Stickereien minimalistisch gehaltener Blumen besaßen. Generell war es mit den teils offenen Gängen manchmal nur schwer zu verstehen, wo der Innenbereich aufhörte und der imposante Empfangshof mit seinen Wächterstatuen aus schwarzem Stein und dem überdimensionalen Mosaik des Gouverneurswappens – ein fünfblättriger roter Klee mit weißen Fasern auf grünem Grund – oder die schönen Bambusgärten mit den kleinen, künstlich angelegten Bachläufen anfingen. Und überhaupt verlor man sich schnell in der verwinkelten Architektur, an dessen Ecken es immer etwas zu bestaunen gab – sei es Kunst oder Natur – obwohl das Schloss ansonsten recht systematisch aufgebaut war: Jede der drei Stufen war etwa zwei bis drei Stockwerke hoch und wurde mit zunehmender Höhe immer kleiner, was die tatsächliche Fläche anging, zugleich jedoch auch wichtiger, was ihren Stand anbelangte. Und betrat man den Thronsaal im untersten Stockwerk der dritten Stufe, wurde man von der unglaublichen Offenheit und Weite des Raums, der so stark im Kontrast zu den doch recht engen Gängen stand, geradezu erschlagen und kam nicht umhin, vor dem fein säuberlich gearbeiteten Thron aus geschnitzten Glücksdrachenknochen und dem gigantischen Gemälde von Himmelsgott Chi'Rayu, welches die komplette hintere Wand bedeckte und einen mit seinen glänzenden Schuppen aus Gold und Silber anstrahlte, auf die Knie zu gehen. Ja, das Schloss von Shinju war durchaus beeindruckend... Doch das war, so musste Cher Enfants 7. Kommandantin Celeste de Lacour heute am Tag ihrer Abreise feststellen, das einzig Positive, was sie diesem Drecksloch aus Lehm und Holz abgewinnen konnte. In den Straßen siechte der Abschaum dahin und ging dem Tagesgeschäft von Dieben, Hehlern, Huren und Mördern nach. Die Streuner in den Gassen labten sich an Schnapsleichen vom Vorabend und schleckten die Löffel aus, in denen Traumblumensaft mit pulverisiertem Asterid gestreckt und erhitzt wurde. Und im Südwesten steuerte eine Gruppe Krimineller einen Schwarzmarkt in Form eines riesigen Badehauses – am hellichten Tage, wohlgemerkt, als sei es das Normalste auf der Welt. Und was tat der Gouverneur? De Lacour wollte es sich nicht erdreisten zu sagen, er würde in seinen Thron sinken, sich in der Nase bohren und den Schritt kraulen, aber auf der andere Seite könnte sie auch wirklich nicht behaupten, sie hätte ihn ernsthaft etwas unternehmen sehen. Doch mit weitem Abstand störte sie, dass unter all den degenerierten Gestalten, die den alten Glanz Asterias mit Füßen traten, die Champions frei herumlaufen durften und ihre Mächte dazu missbrauchen konnten, Chaos zu stiften – etwas, das im Westen undenkbar war. Champions gehörten an die Leine gelegt, ihre göttergegebenen Fähigkeiten der Allgemeinheit gespendet. Stattdessen vertraute man darauf, dass sie als große Heilsbringer schon das Richtige tun würden. Sicherlich, die große Explosion hatte im Osten bedeutend mehr Schaden angerichtet als im Westen, wo die Souciel-Gebirgskette einen großen Teil der magischen Strahlung abfangen konnte, dennoch stand dieser Schaden in keiner Relation zum geistigen Knacks seiner Bewohner. Wie konnten nur alle vergessen, dass die alten Götter sie alle im Stich gelassen hatten, als der Untergang kam? Nicht mehr als Relikte alter Zeit blieben sie. Und die Wahrheit über die Champions, ihre ach so großen Propheten, konnte sicher unzählige Schriftrollen füllen: Da gab es die durchgeknallte Harpyienmutter Celica, die neue Artgenossinen aufspüren konnte, bevor sie überhaupt zu Harpyien mutiert waren, den größenwahnsinnigen Neuen Kaiser der die plündernden Karawanen im Ödland anführte und angeblich unverwundbar war und Gerüchten zufolge sollte auch das in Cher Enfant wegen terroristischer Aktivitäten gesuchte Mädchen in Scharlachrot und ihr Komplize, der große böse Fuchs ebenso irgendwo im Osten Asterias untergetaucht sein. Und dann war da noch die genauso schöne wie kaltblütige Auftragsmörderin Mirabelle; eine Kitzune aus Shinju, die Männer und Frauen gleichermaßen mit nur einem Blick verführen konnte – und ihnen dann im Bett die Lebensenergie entzog. Schwarze Witwe so nannte man sie. Celeste befand es schon als befremdlich, Verbrechern einen Titel zu geben. Wahrscheinlich würde sie noch die ganze Stadt in Atem halten, wäre sie nicht vor kurzem festgenommen worden – aber auch dafür musste erst jemand aus dem Westen kommen, um in der Stadt aufzuräumen. „Colonel de Lacour!“ Wie aufs Stichwort, dachte sie sich. Wenn Celeste sagte, dass es außerhalb des Schlosses nichts und niemanden in Shinju gab, den sie positiv in Erinnerung behalten sollte, dann musste sie sich gerade korrigieren. Sie ließ sich den noch etwas frischen Herbstwind um die Nase wehen und hielt inne, halb in die Rikscha eingestiegen, die sie zum Bahnhof bringen sollte, während sie den Elfen beobachtete, wie er quer über den ganzen Schlosshof sputete. Stöhnend stieß sie ein wenig Luft aus und bedeutete dem Fahrer einen Moment zu warten. Eigentlich wollte sie einfach abreisen, ohne großen Tumult und ohne große Verabschiedungen, damit ihr Herz nicht zu sehr bluten würde. Das konnte sie nun vergessen. Leicht außer Atem, aber Haltung bewahrend, blieb der Elf vor ihr stehen, richtete seine Uniform aus eng anliegenden silbernen Kettengliedern, schwarzem Leder und roten Schulteraufnähern, die seinen Rang verdeutlichten, nahm den mit roten Federn geschmückten Helm ab und legte zwei Finger an die schweißnasse Schläfe. Sie tat es ihm gleich, sagte jedoch im gleichen Moment mit einem kühlen Lächeln: „Ihr mögt nicht mehr unter meinem Befehl stehen, Luren, aber es heißt noch immer Madame Colonel. Vergesst nicht die Etikette, nur weil ihr nun Oberst der Gouverneursgarde seid und wir damit ungefähr auf gleicher Stufe stehen.“ „Ein echter Sohn Cher Enfants würde niemals seine Liebe für das einzig Schöne in der Welt vergessen. Und einer Dame von Eurem Format kann man niemals genug den Hof machen“, säuselte der Elf, beugte sich tief vor und ergriff die Hand der Kommandantin um dieser drei Küsse zu geben: Einen spitzen auf die Fingerkuppen, um die Zuneigung zu ihr als Frau auszudrücken, einen angedeuteten auf ihren Siegelring als Zeichen der Anerkennung ihres adeligen Blutes und einen letzten direkt auf die Knöchel – eine Geste, die nur von Untergebenen in Cher Enfant gegenüber ihren Vorgesetzten praktiziert wurde. „Was für ein Schleimer Ihr doch seid...“, murmelte Celeste und verdrehte theatralisch die Augen, um so vielleicht zu verstecken, dass ihre Wangen heiß wurden. Sie mochte Luren Beauroux, sehr sogar. Seine für Asterier erstaunlich hellen Locken und der warme Glanz in seinen dunkelblauen Augen gaben ihm einen gar fremdländischen Charme und sorgten dafür, dass ihr so oft schon fast die Knie weich geworden waren, wenn sie auch nur ein Wort miteinander gewechselt hatten. Es war jedoch nicht nur seine bloße Erscheinung, die sie verrückt machte. Sie kannte ihn schon als Rekrut, hielt ihn damals aber erst für ungeeignet. Zu weich und zu inkonsequent, so lautete ihr Urteil. Und so bildete sie sich ein, dass sein inspirierendes Durchhaltevermögen auch dazu da war, um ihr zu imponieren. Vielleicht war es genau das: Einbildung. Nichtsdestotrotz hätte sie den Bruch mit der Etikette in Kauf genommen und ihm den Hof gemacht, doch Militärs durften in Cher Enfant untereinander keine Beziehung führen. Und nun, wo er in einer fremden Armee diente, nun war es leider schon zu spät dazu. „Schleimer oder nicht, für mich bleibt Ihr im Herzen immer meine verehrte Colonel.“ „Und Ihr bleibt für mich im Herzen ebenso immer der kleine Waschlappen, der nichts auf die Reihe bekommt.“ „Wollt Ihr uns einfach ohne Verabschiedung verlassen?“, fragte der Elf, ohne auf den Seitenhieb seiner ehemaligen Vorgesetzten und Mentorin einzugehen. Diese wiederum lachte mild und schulterte ihren überproportional großen Seesack. „Ich glaube nicht, dass die hohen Herren von Shinju meine Abwesenheit wirklich bemerken werden. Abseits dessen wird es allerhöchste Zeit, mich wieder bei Hofe zu melden und wenn ich den kommenden Zug heute verpasse, sitze ich zwei Tage fest. Aber keine Sorge, ich sehe Ihr habt den Laden unter Kontrolle.“ Kaum hatte Celeste das gesagt, war sie auch schon in die Rikscha gesprungen und wollte bereits abreisen, da hielt sie jedoch einen Moment inne: In Lurens Blick steckte ein Hauch von Bedauern oder Enttäuschung, jedoch nicht ihr gegenüber – sondern sich selbst. Deshalb lehnte sie sich vor und sprach, so mild wie es in ihrer durch die Jahre erhärteten Stimme möglich war: „Ferner möchte ich Euch sagen, Oberst Beauroux, dass ich sehr stolz auf Euch bin. Und außerdem...“ Ihr Blickfeld fing im Hintergrund eine Elfin ein. Eine, man konnte es nicht anders sagen, bildschöne junge Frau mit Zügen so glatt und exakt, silbrig glänzendem Haar und einem dahinschmelzend verführerischen Blick, dass man dachte, sie könnte nicht von dieser Welt sein. Ihr edles rotes Gewand – Kimono, wie es die Shinjuer nannten – umschmiegte im Wind flatternd ihre Konturen und setzte den dicken, kreisrunden Bauch, der den Nachwuchs der Gouverneursfamilie ankündigte so gekonnt in Szene, als habe ein Maler jenes Bild erdacht. „Außerdem...“, so setzte Celeste deprimiert fort, zwang sich jedoch zu einem süffisantem Lächeln: „Erwarte ich doch als Ehrengast bei der Hochzeit dabei zu sein. Die Feiern im Osten sollen ja ein... ganz besonderes Ereignis sein.“ Der Elf verneigte sich noch einmal tief und legte die Finger wieder an die Schläfe. „Selbstverständlich, Madame Colonel. Ihr seid stets willkommen.“ Mit der gleichen Geste und einem kurzen „Lebt wohl!“ verabschiedete sich Celeste von ihrem ehemaligen Schüler und bedeute dem Kutscher sich auf den Weg zu machen. „Liebster!“ Luren wandte sich um und lächelte mild. „Ist es nicht zu kalt? Wir waren uns doch einig dass, du im Palast bleibst. Denk doch... an eurer beider Gesundheit.“ Sanft strich er über ihren runden Bauch und erhielt als Antwort einen kurzen Impuls, der sein Herz aufspringen ließ. Er wusste, dass sein Schwiegervater in spe sich einen Jungen als Thronfolger wünschte, doch für ihn machte das keinen Unterschied. Es war sein eigen Fleisch und Blut, das in der Frau heranwuchs, die er am meisten liebte – was sonst war da schon von Bedeutung? „Wollte Madame de Lacour denn gar nicht frühstücken, bevor sie abreist?“, fragte die Elfin und schaute unsicher der Rikscha nach. „Sie sagte, sie muss unbedingt den Zug nach Cher Enfant erwischen“, antwortete Luren, interessierte sich schon gar nicht mehr für seine ehemalige Vorgesetzte, die gerade den Hof verließ. „Aber so ganz ohne Proviant...“ „Nun mach dir mal keine Sorgen, Liebste. Madame de Lacour weiß auf sich aufzupassen. Lass uns lieber wieder reingehen um noch ein paar Momente vor dem Dienst zusammen verbringen. „Aber hat es ihr denn nicht gefallen?“ „Mach dir keine Sorgen“, wiederholte Luren eindringlich zugleich aber im selben säuselnden Ton, mit der er zu seiner Mentorin gesprochen hatte und hob ihren Kopf am Kinn an. Ihre glasig hellen Augen schienen unruhig zu schimmern, entspannten sich jedoch bei dem Klang seiner Stimme, dessen Wirkung auf Frauen ihm wohlbekannt war. Sanft küsste er ihre Stirn. „Sie war sicherlich nicht von allem überzeugt, aber ich bin mir ziemlich sicher, sie hatte dich sehr gemocht.“ Noch einen kurzen Moment hielt sie ihre strenge Miene aufrecht, dann verlor Celeste jegliche Spannung, schlug die Beine übereinander und stieß einen Schwall Luft aus, während sie sich in die ranzigen Polster presste. Sie schloss die Augen und versuchte sich auf nicht mehr als die bloße Geräuschkulisse zu konzentrieren; das metallische Klappern der Rikscha, die gleichmäßigen Schläge der Hufe des Pferdes und dazu im Hintergrund das Treiben der Stadt. Sie dachte an die letzten Tage, den kalten Empfang des Gouverneurs, die vielen Augen, die in den unzähligen Besprechungen über den Aufenthalt des Mädchens in Scharlachrot auf ihr ruhten, der dauerhafte Schein des Unwohlseins, der nur durch Lurens Freundlichkeit überhaupt abgelöst wurde. Sie genoss die Zeit mit ihm und auch – sie musste es ungern zugeben – seine Verlobte war immer freundlich und einladend zu ihr gewesen. Und wahrscheinlich war eine Elfin auch einfach ein besserer Partner für einen Elfen, sah er doch wirklich glücklich mit ihr aus. Nicht zuletzt würde aus der Prinzessin, so war sich Celeste sicher, eine nicht allzu schlechte Herrscherin werden. Anders als ihr Vater missbilligte sie Gewalt und Verbrechen und wollte Shinju ernsthaft neue Lebensqualität geben – auch wenn ihre Pläne eher idealistisch, oder gar utopisch anmuteten. Doch Asteria hätte sich wohl auch nicht nach seiner Zerstörung wieder aufraffen können, wenn es keine Spinner gegeben hätte. Noch einmal atmete sie tief durch und so langsam hob sich ihre Stimmung. Vielleicht, so dachte sie sich, sollte sie nicht zu streng mit Isla Shinju sein. Was verstand sie schon von ihren Bewohnern und dessen Bräuchen? Da machte die Rikscha abrupt halt, riss sie nach vorne und ließ sie aus ihren Tagträumen hochschrecken. Der Ruck schüttelte ihre langen hellbraunen Locken nach vorne und riss fast das Barett von ihrem Kopf. „Was ist?“, fuhr sie den Kutscher an und richtete die marineblaue Mütze. „Warum halten wir? Ich habe es eilig.“ „Verzeihung, werte Dame“, sagte dieser und deute nach vorne: „Aber da gibt es einen Aufruhr.“ Celeste, bei diesen Worten aufgeschreckt, streckte sich aus der offenen Kabine, hielt sich am Dach fest und schaute in die gezeigte Richtung. Tatsächlich: Vor ihnen schien sich, durch einige Leute verdeckt, ein Kampf entwickelt zu haben, vor allem von einem in den Häuserschluchten widerhallendem Klatschen und Aufstöhnen eines Mannes dominiert, der seinem Gegner vollends unterlegen war. Langsam lichtete sich die Traube und Celeste erkannte einen Menschen von vielleicht Ende 30, mit fremdländischen Zügen und seltsam blonden, zurückgekämmten Haar. Seine Faust zog an dem Schopf einer zugrunde gerichteten Gestalt, dessen Gesicht in einem wütenden Geschrei seines Peinigers immer wieder gen Boden gerammt wurde, ohne Skrupel, ihn dabei vielleicht zu töten. Doch mehr als die Brutalität der Szene schockierte sie dieses beklemmende Gefühl, wenn sie den blonden Mann ansah, ein angsteinflössender Schwall der Macht, der ihr entgegenschlug, so gewaltig, dass sie eigentlich nur eine Quelle dafür kannte. „Warum unternimmt denn niemand was?!“, fragte sie geschockt den Kutscher und wollte bereits kampfbereit in ihren Militärmantel greifen, doch der Kutscher hielt sie zurück. „Gute Frau, was macht Ihr denn da?!“ „Egal was er getan hat, niemand sollte so zugerichtet werden! Ich werde dem Mann helfen.“ Mit diesen Worten griff sie aus der Rikscha springend nach ihrem Rapier und holte ein Bündel Siegel aus der Innentasche, bereit jenem Tyrannen vor ihr eine Lektion zu erteilen. „Ich bitte Euch, tut das besser nicht! Dieser Mann ist...“ „Es reicht, Mister Sterlinson!“ Der Ruf zerschnitt die Luft und ließ den blonden Mann wie erstarrt innehalten. Auch Celeste blieb stehen, während sie dabei zusah, wie sich die Szenerie augenblicklich auflöste. All jene, die das Grauen wie in einer Schockstarre mitverfolgt hatten, wandten sich – durch den Ausruf scheinbar aufgeweckt – um und versuchten, so schnell wie nur irgend möglich von dort zu verschwinden, als wollte niemand etwas mit der ganzen Sache zu tun haben. So kam es, wenn auch nur für einen kurzen Moment, dass sich mit der schwindenden Masse von Gaffern und dem so frei gewordenen Sichtfeld, die Blicke zwischen Celeste und ihrem Gegenüber kreuzten und sie in jener Sekunde nur umso mehr sich in ihrem Verdacht bestätigt fühlte. Der Mann mit dem hellen Haar schien das Gleiche zu denken, doch wandte sich wortlos ab und an die Quelle des Rufes: Ein seltsam kleiner Elf von ebenso fremdländischer Erscheinung, der ihm anscheinend trotz des gewaltigen Größenunterschieds ohne weiteres die Leviten lesen konnte. Der Geschundene wurde von einem schneeweißen Kitzune weggeführt und der Spuk schien vorbei. Die Masse löste sich gänzlich auf und auch die Gruppe um den blonden Mann ließ ihn nach der Schelte allein zurück. Es wurde seltsam still auf der gerade noch so belebten Straße, als sei sie von einem auf den anderen Moment komplett ausgestorben. Unsicher und – sie wollte es sich kaum eingestehen – auch ein wenig enttäuscht, ließ Celeste ihr Rapier sinken und wollte schon wieder in die Kutsche steigen, da erhaschte ein wütender Schrei gefolgt von einem krachenden Knall – das Geräusch erinnerte an zerberstendes Gestein – ihre Aufmerksamkeit. Der große Mann kam auf sie zu, enthob sich aus einer Wolke grauen Staubes, ausgehend von der Fassade in die er gerade geschlagen hatte, die Hände in den Manteltaschen vergraben, den Mund missmutig zu einem langen Strich gezogen. Die eisige Aura des Unheils war abgeflacht zu einem dünnen Schimmer, blieb aber dennoch präsent und gerade so nah bei ihr verstand sie, dass er ihr dennoch überlegen war. Sie sahen einander nicht an, als er an ihr vorbeiging, dennoch hielt er auf ihrer Höhe inne. „Ein hohes Tier aus Cher Enfants Militär. Eine Colonel, nicht war? Und noch dazu Vicomtesse... Welch seltener und ehrerbietiger Anblick in unserer bescheidenen Stadt. Man bekommt gar den Eindruck, dass die Himmelsgreifer vor Eurer Präsenz besonders gerade stehen wollen“, murmelte er von der Seite. Auch wenn er auf dem ersten Blick eher von der groben Sorte zu sein schien und die Rauheit seiner Stimme dies nur unterstrich, musste er über ein gewisses Maß an Bildung verfügen, dass er ihren Rang am Aufnäher an ihrer Schulter und den Stand am Siegelring ablesen konnte. Doch von ein bisschen Eloquenz ließ sich eine de Lacour nicht einschüchtern. Weiter stur geradeaus schauend streckte sie den Rücken durch und fragte mit klarer Stimme, darauf bedacht, jegliche Furcht zu verstecken: „Was zum Grand Patron seid Ihr?“ „Der Grand Patron? Ach richtig, ich vergaß; ihr Enfanter verachtet ja unsere alten Götter.“ „Beantwortet meine Frage.“ Ein überhebliches Lachen entwich seinem Mund und sie spürte, wie seine azurblauen Augen sie gar durchbohrten, sein Blick jedes Detail ihrer Züge aufnahm. „Ich muss gestehen, Ihr seid wirklich hübsch anzusehen, Madame Colonel. Wenn ich nicht viel eher ein Faible für nicht-menschliche Frauen hätte, wärt Ihr wohl genau mein Typ...“ „Ich warne Euch“, knurrte Celeste und festigte den Griff um ihr Rapier: „Macht Euch nicht über mich lustig! Was! Seid! Ihr?!“ „Ist die Frage nicht für Euresgleichen komplett hinfällig?“, fragte der Blonde, erwartete jedoch keine Antwort, sondern streckte sich kurz, bevor er fortfuhr: „Sagt, wusstet Ihr, dass man in Beaumir Shomare immer nur an der Oberfläche kratzt? Nur die oberste Schicht des Asterids wird großflächig abgeschabt, auch wenn das viel mühseliger ist, als eine Grube auszuheben.“ „Was sollte mich der Bergbau interessieren?“, gab sie zähneknirschend zurück, drehte den Kopf zu ihm – und bereute dies umgehend, denn sein Blick machte ihr klar, dass dieses Gespräch, obgleich seiner dreisten Antworten, ganz und gar kein Scherz und seine Intention mehr als eindeutig war. „Es gibt eine Faustregel: Niemand gräbt tiefer als bis zu den Knöcheln“, gab er in einem so knurrenden Ton zurück, als trüge er wahrlich ein wildes Tier in sich. „Denn wer tiefer gräbt, läuft Gefahr seine Lunge mit gläsernem Staub zu füllen, sodass Kristalle aus einem heraus wachsen und man eines grausamen und qualvollen Todes stirbt, von Asterid durchzogen wird und so aufgespießt und konserviert als entsetzliches Mahnmal in der Wüste stehen bleibt, bis in alle Ewigkeit.“ Kaum hatte er das gesagt, erhellte sich seine Miene wieder; der Mann räusperte sich kurz, richtete den Kragen seines grau melierten Wollmantels und fuhr sich durch den Schopf. „Und nun entschuldigt mich. Ich muss ein paar alten Freunden die letzte Ehre erweisen und brauche außerdem dringendst neue Zigaretten, sonst werde ich... unpässlich, könnte man sagen. Lebt wohl, Madame Colonel. Ich wünsche eine angenehme Heimreise.“ Stumm blieb Celeste zurück, sah dem Mann hinterher. Die Klinge vibrierte leicht in ihrer Hand ebenso erzitterte das Papier in der anderen. Wie zu einer Salzsäule erstarrt blieb sie stehen und sah dem Mann hinterher. Einen Moment war es totenstill um sie herum, bis der Kutscher, der die gesamte Zeit wie angewurzelt stehen geblieben war und es kaum gewagt hatte, auch nur zu atmen, nun doch das Wort erhoben hatte. „Werte Dame...“, fing er unsicher an: „Wollen wir dann nicht vielleicht weiter...?“ „Was fällt diesem überheblichen Stück Dreck eigentlich ein, so mit mir zu reden?!“, brüllte sie voller Empörung aus und stampfte ihre Wut in den Boden. „W-Werte Dame, bitte nicht so laut...“ „Ich soll nicht tiefer graben, sagt er?! Das werden wir ja noch sehen! Derart respektloses Verhalten kann und werde ich nicht dulden!“ „Madame!“, rief der Kutscher allen Mut zusammennehmend aus und erhaschte so die Aufmerksamkeit der Colonel, die ihn zunächst genauso zusammenpfeifen wollte, dann jedoch merkte, dass ihr Fahrer nicht verängstigt war, sondern durch und durch erbost. „Steigt umgehend wieder ein und verhaltet Euch ruhig! Ansonsten könnt Ihr zusehen wie Ihr zum Bahnhof kommt." Celeste verstand die Welt nicht mehr. Warum war er so wütend auf sie? Sie hatte doch nichts falsch gemacht. War denn in dieser verkommenen Stadt wirklich kein Platz für ein wenig Idealismus? Mehr noch kränkte es sie jedoch zutiefst, wie respektlos gewöhnliche Zivilisten mit ihr sprachen. Nichtsdestotrotz musste sie im Hinterkopf behalten, zeitnah zum Bahnhof zu kommen, wenn sie noch aus der Stadt verschwinden wollte und setzte sich so stumm auf ihren Platz zurück. „Ihr solltet Euch nicht so respektlos gegenüber Meister Hunter verhalten. Ich hoffe, es hat niemand gesehen, dass ich Euch mitnehme. Schädigt nur das Geschäft“, schimpfte der Kutscher weiter, während er das Gefährt wieder in Bewegung setzte. „Und Ihr glaubt, es ist besser es sich mit einem hohen Gast des Gouverneurs zu verscherzen, ja?“ „Natürlich“, kam es wie aus der Pistole geschossen und Celeste lehnte sich entsetzt vor, überzeugt, dass sie sich verhört haben musste. Der Kutscher schaute sie nicht an, konnte sich aber ihren Gesichtsausdruck scheinbar gut vorstellen. „Madame, Ihr seid nicht von hier, also urteilt nicht über uns.“ „Dann sagt mir wenigstens, was diesen Hunter ausmacht und was ihn dazu befugt auf offener Straße jemanden zusammenzuschlagen.“ Der Kutscher lenkte ein und atmete tief durch, während er sein Pferd zum Stehen brachte. Vor ihnen erstreckte sich der Bahnhof von Shinju, ein riesiger Unterstand von gut 1000 Schritt, der zu allen Seiten offen war und so Einblick gab über die riesigen Stahlrösser, welche auf sechs Gleisen aus der Stadt hinaus aufs offene Land und das Meer fuhren, zurück aufs Festland am Horizont, dessen Silhouette man an jenem klaren Tag wirklich gut erkennen konnte. Vor dem Bahnhof befanden sich nebst eines Ticketverkaufs vor allem kleine, oftmals sehr provisorisch aufgebaute Stände, die ihre Waren an die Reisenden bringen wollten – von Proviant, über Beschäftigungsmöglichkeiten bis hin zu Glücksbringern für die lange Reise wurde so ziemlich alles den Passanten versucht anzudrehen. Der größte Zug, ein pechschwarzer Gigant mit großem, verbeulten Pflug an dessen Spitze und einer immensen Reihe von fleckigen Waggons dahinter, welche so verwittert waren, dass man sich nicht mehr sicher war, ob es sich bei ihrem schmutzigen Rot nur um Rost oder doch ihre Grundfarbe handelte, war Celestes Ziel: Die Shinju-Enfant-Linie, welche die beiden Reiche auf direktem Wege miteinander verband. Drei Tage dauerte eine Reise von A nach B und führte durch die komplette Landschaft Asterias, ganz zum Leidwesen der Karosserie. Schnell sprang sie aus der Rikscha, nahm Seesack und Degen an sich und gab dem Kutscher eine kleine Menge Gold in die Hand. „Es gibt mehrere Gründe warum man ihm nicht in die Quere kommt“, erklärte der Kutscher, in einem Ton nun deutlich wohlwollender, als er das Geld entgegennahm und erkannte, dass Celeste der Vergütung ein anständiges Trinkgeld für seine Unannehmlichkeiten beigefügt hatte. „Meister Hunter ist einer der vier Besitzer des Fuchsbaus. Für die Shinjuer, die nicht zum feinsten Teil der Gesellschaft gehören, bedeutet dieser Ort die perfekte Flucht aus dem grausigen Alltag – nicht, dass Ihr die passende Kundschaft für diesen Ort wärt. Aber für unsereiner bedeutet der Fuchsbau noch viel mehr. Hunters Bar, aber auch die anderen Geschäfte des Fuchsbaus, beschert seinen Besuchern ein Angebot, das man sonst in Shinju vergeblich sucht. Ebenso ist der Fuchsbau Anlaufstelle für alle möglichen Sorgen und Ängste. Da möchte man ein immer gern willkommener Gast bleiben.“ Celeste stutzte, wie offen die Antwort des Kutschers war, doch zugleich gab sie ihr nicht die notwendige Zufriedenheit, die sie erwartet hatte. „Also ein tolles Angebot, ja? Und deswegen lässt man diesen Hunter alles machen, was er möchte?“ „Ich bin mir sicher, es gab einen guten Grund für seine Reaktion. Ich kannte den Geprügelten nicht, aber er musste ihn wohl sehr verärgert haben. Und dabei hielt sich Meister Hunter noch zurück.“ „Er... er hielt sich zurück?“, hakte Celeste ungläubig nach, auch wenn ihr durchaus bewusst war, dass dieser Hunter nicht viel seiner tatsächlichen Kraft genutzt haben konnte. Der Kutscher rutschte noch einmal etwas näher und sprach im Vertrauen: „Glaubt mir, seine Stärke ist nicht mit der eines normalen Menschen zu vergleichen. Was ihr dort saht, war nur eine Kostprobe. Es ist zwar nicht offiziell bestätigt, aber nicht wenige halten ihn für den stärksten Mann der Stadt. Und woher er das hat... naja, wir können uns das wohl denken.“ Mit diesen Worten lehnte sich der Fahrer zurück, nickte der Colonel zum Abschied noch einmal zu und fuhr mit der Rikscha unter geräuschvollem Rattern davon. Celeste blieb noch einen Moment wie angewurzelt stehen und dachte über die Worte des Kutschers nach. Sicher, die Leute wollten nicht eingreifen, weil er zu stark war, das verstand sie. Doch dass auch niemand die Wachen gerufen hatte, zeigte ein ganz anderes Problem mit dieser Stadt: Man schätzte derlei Personen - Kriminelle, anders konnte sie sie nicht bezeichnen – höher als die wahren Autoritäten... sicherlich besonders wegen ihrer Fähigkeiten, aber auch weil sie die einzigen waren, die sich der Sorgen des einfachen Volks wirklich annahmen. So nahm man auch die Willkür von Leuten wie Hunter billigend in Kauf. Wahrscheinlich konnte ein Führungswechsel dem nicht wirklich entgegenwirken und ihre Hoffnung in die Gouverneurstochter war anscheinend viel zu hoch angesetzt. Dafür war das Misstrauen in das Schloss Shinju einfach zu groß bei der einfachen Bevölkerung. Tatsächlich sah es so aus: Wenn jemand wie das Mädchen in Scharlachrot in diese Stadt föhe, so würde man sie wohl statt zu verjagen oder gar festzunehmen wärmstens empfangen. Und selbst im Angesicht ihrer echten Gefahr hätte man sie wahrscheinlich nicht bekämpft sondern in Ehrfurcht angebetet wie eine wütende Gottheit, die es zu besänftigen galt. Es wäre das Todesurteil für die größte Stadt der Welt. Aber wenn sie ehrlich darüber nachdachte, war Celeste dieser Untergang eigentlich ganz recht. Kapitel 8: Fuchsbaus Herrscher ------------------------------ „Vergiss, was alle sagen... du gehörst zu uns... zu mir...“, flüsterte sie und ihre zarte, verführerische Stimme floss zäh und langsam wie Kirschblütenhonig durch seine Ohren in seinen Körper, ertränkte jede Ader in jenem süßen Saft, dessen sonderbaren Geschmack er bis heute so sehr mit Asteria verknüpfte, wie nichts anderes. Ihr Duft umspielte seine Nase, zog in seinen Hals und band sich als Schlinge um ihn, während sein Arm zwischen ihre weichen, warmen Brüste gedrückt wurde und ihn so noch weiter an sie fesselte. Er spürte, wie ihre Präsenz alsbald sein ganzes Sein bestimmte, wie das warme Klingen ihrer Worte ihn umhüllte und er willig zu ihrer Trophäe werden wollte. Langsam drehte er sich zu ihr und sah in die bleichen, durchdringenden Elfenaugen, in denen er sich schon unzählige Male zuvor verloren hatte. Aus der Pupille schien ein zarter Glanz, der sein Herz noch höher schlugen ließ, während sie sich zu ihm reckte und ihre weichen Lippen auf seine rauen legte. Stärker als ihr Klang und intensiver als ihr Duft, überwältigte ihre rauchige Süße ihn in jenem Moment, als sie direkt seine Zunge berührte. Er verlor die Kontrolle über sich, der Schwindel übermannte ihn und lediglich der feste Griff um ihre schlanke Hüfte gab ihm den nötigen Halt, um nicht rücklings umzukippen. Sie stöhnte kurz auf und löste sich von ihm, legte ihren Kopf auf seiner Brust ab, als habe sie all das eine immense Kraft gekostet. „Ich liebe dich, Iri“, flüsterte er heiser, die Laute mehr krampfhaft aus seinem Hals pressend, als wirklich aussprechend. „Weiß ich doch“, gab sie mindestens genauso still zurück. „Ich weiß das ganz genau...“ „Was?“, antwortete er lachend. „Ist das alles?“ Sie schaute auf, kicherte kurz, schloss die Augen und spitzte erneut die Lippen und mit jedem Zoll dem er ihr näher kam, wurden die seinen immer wärmer und wärmer. Er vermochte es zu sagen, dass sie glühen mussten, oder gar lichterloh brannten. So musste sich die Liebe anfühlen... heiß... verdammt heiß... „Argh verflucht!“. schimpfte Ezra, spuckte den brennend heißen Glimmstängel aus seinem Mund, der vom hölzernen Gitter abtupfte, auf dem Boden fiel und seine restliche Asche in hohem Bogen auf dem hübschen Teppich verteilte und – obwohl nun wirklich nicht mehr viel Hitze in dem bisschen Glut hätte sein können – sich sofort daran machte den dünnen Stoff zu entzünden. Schnell hämmerte er mit seinem Fuß auf die Zigarette, zertrat den restlichen schwarz-weißen Tabak auf dem Boden, was ihn zwar löschte aber auch noch weiter zwischen den Fasern verteilte. Binnen kurzer Zeit war der dunkelrote Teppichboden so dermaßen mit weißen Sprenklern versehen, dass es ihn ein wenig an das sonderbare Fruchtfleisch der Schuppenfrucht erinnerte – und wahrscheinlich war er mindestens genauso geschmacksneutral wie dieses natürliches Vorbild. „Das ist ja mal wieder großartig gelaufen“, stöhnte er missmutig und rieb sich die Stirn. Für einen Moment umschwirrten ihn noch die Spuren ihrer Aura, bis ihm endgültig bewusst war, wo er sich befand, und ihr sanfter Duft dem kratzigen Restnebel der Zigarette gewichen war. Warum nur hatte er denn ausgerechnet jetzt an diese uralte Geschichte denken müssen? Mit einem leicht dröhnenden Zerren blieb der Aufzug stehen und hakte sich Stück für Stück in die vorgegebene Schiene ein, damit sich das gusseiserne Sicherheitsgitter endlich öffnen ließ. Um Fingerbreiten rückte die Kabine langsam vor, bis die eingebaute Glocke endlich das erlösende Bimmeln von sich gab. „Kommt es mir nur so vor, oder ist das alte Ding seit meiner Abwesenheit noch langsamer geworden?“, murmelte Ezra und blies genervt einen Schwall Luft aus, bevor er sich dazu entschied, die unverhoffte Wartezeit dazu zu nutzen, den Unrat vor seinen Füßen mit eben jenen etwas durch den Spalt zwischen Fahrstuhl und Gang zu schieben, was ihm nur mäßig gelang. Immerhin sah es so verteilt nicht mehr ganz so schlimm aus... dachte er wenigstens. In Shinju war der Abend mittlerweile angebrochen. Die Sonne quetschte sich zwischen die Wohnriesen und tauchte die Stadt in einen satten, orangefarbenen Stich, als würde eine kochend heiße Suppe in den Straßen zu brodeln anfangen. Durch die schmalen Schlitze der Kabine kroch die eigentlich angenehm warme Herbstluft und ließ die glühenden Sonnenstrahlen durch, sodass sie den hölzernen Schacht, welcher an der Seite des Fuchsbaus angebracht war, ordentlich aufheizten und man es nur kurzzeitig darin aushalten konnte. Doch Ezra war dieser Umstand eigentlich ganz recht. Nicht mehr lange und die Hitze würde bitterer Winterkälte weichen, die durch die Gitter zog. Im Allgemeinen war diese Konstruktion gelinde gesagt unpraktisch, doch als einziger Fahrstuhl im ganzen Haus fuhr dieser ins Dachgeschoss, dem Treffpunkt des Schwarzen Tisches und dieser war der Öffentlichkeit nun einmal nicht zugänglich. Daher wurde dieser uralte Schacht, welcher sowieso weit abgelegen von den Attraktionen des Hauses lag, mit einem komplexen Sicherheitsschloss versehen und als einziger Zugang zur obersten Etage des Fuchsbaus eingerichtet. Seinen Herrschern war er allerdings nicht wirklich würdig und man müsste sich eigentlich umgehend um eine Erneuerung des Aufzugs kümmern... Aber nicht jetzt. Endlich machte die Schiene jenes erlösende Einrastgeräusch und das Gitter wurde freigegeben. Ezra langte nach seinem Schlüssel, drehte ihn anderthalb mal links herum, drückte dann den Schlüssel tiefer hinein und machte noch einmal eine halbe Umdrehung nach rechts, bis er das gefragte Klicken vernahm, schob dann unter einem geräuschvollen Rattern das Gitter zur Seite und betrat den langen, schmucklosen Gang dahinter, der durch das dünne Sonnenlicht aus den gekippten Fenstern in das gleiche Feuer getaucht wurde, wie der Rest der Stadt. So weit oben war das geschäftliche Treiben der darunterliegenden Gänge kaum mehr als ein fernes Echo, das durch die Wände fast zur Gänze verschluckt wurde. Lediglich das dumpfe Stapfen seiner Schritte auf dem langen Teppich, aus dem gleichen tiefroten Stoff wie im Aufzug geschneidert, erfüllte den Raum. Gemächlich schlenderte er den Gang entlang, bis er zu seiner linken bei einer kleinen Schuhablage ankam, die sich direkt neben einer großen Schiebetür aus Papier befand, welches auf ganzer Fläche mit den wichtigsten der 1000 Götter Asterias bemalt worden war. Es war ein atemberaubendes Bild, an Detailgrad kaum zu überbieten. Seien es die schönen Schuppen des großen Drachen Chi'Rayu, welche auf seinen Flug über das Himmelszelt von ihm fielen und sich mal in bullige Wolken und mal in funkelnde Sterne verwandelten, sei es das weite Tuch der schönen Tänzerin Lunariko, das die Welt in Nacht hüllte, oder die kleinen Holzkabinen auf dem Rücken vom riesigen Schattenschleicher Shika'Res in denen die Toten ins Jenseits geleitet wurden. Doch am meisten gefiel ihm das Abbild des Heldengottes Hunter, der auf einem Berg gefallener Dämonen stand, seine blutverschmierte Klinge in der rechten triumphal nach oben gestreckt, den linken Arm hingegen in schwarz-rote Schatten gehüllt. Sein Gesicht blieb durch die grobe, lederne Kapuze in der Finsternis verborgen, lediglich die blitzenden Zähne seines gezacktes Grinsens und sein glutrotes Auge leuchteten den Betrachter an. Er hatte gegenüber allen anderen so einen süffisanten, herablassenden Ton, der seine Macht nur weiter zur Schau stellte – und dadurch auf Ezra nur umso inspirierender wirkte. Er trug nicht ohne Grund den Namen dieses Gottes als Titel. Einen Moment noch schaute er die unzähligen Figuren auf der Malerei an, versuchte sich, so gut es ging, an jeden einzelnen, der unzähligen Götter zu erinnern, da schob sich das Gemälde plötzlich in der Hälfte zusammen, denn jemand wollte den Raum dahinter anscheinend verlassen. Schnell schlüpfte Ezra aus seinen halbhohen Schuhen und stellte sie akkurat neben die anderen Paare, bevor er sich zur Seite drehte und das lange, dunkle Haar seiner Köchin bemerkte. „Wie immer zu spät, Meister Hunter!“, sagte Mikki amüsiert, als sie ihn bemerkte und lächelte mild. „Die hohen Herrschaften werden Euch dafür die Leviten lesen, das wisst Ihr, oder?“ „Ich bin gerne zu spät. Immerhin bleiben die Dinge am besten in Erinnerung, die zuletzt auftauchen“, entgegnete Ezra gelassen und streckte sich kurz. „Glaubt mir, an Euer ungehobeltes Verhalten würde man sich auch erinnern, wenn Ihr zur Abwechslung mal pünktlich wärt.“ „Aber du musst zugeben, meine Dreistigkeit macht auch meinen Charme aus.“ „Absolut“, bestätigte Mikki, fügte dann aber hinzu: „Aber man kann natürlich auch eine Axt im Walde als hübsche Dekoration bezeichnen.“ „Autsch!“Ezra hielt sich theatralisch die Brust „Welch grausame Worte, werte Dame! Sag bitte nicht, dass du mich nicht zumindest ein bisschen vermisst hast, sonst brichst du mir das Herz.“ Die schöne Elfin machte keine Anstalten darauf einzugehen, sondern legte die Hände vor den Schoß und setzte zu einer tiefen Verbeugung an, wobei sie niemals ihr Lächeln verlor, an dem Ezras Sprüche seit jeher abprallten, als würde man versuchen, Festungsmauern mit Kieselsteinen einzuwerfen. „Nun, ich wünsche Euch eine erfolgreiche Besprechung, Meister Hunter. Ich habe bereits Tee und Reiswein sowie einige leichte Knabbereien gebracht. Für Euch gibt es frittierte Taikanflossen, zur Feier Eurer Rückkehr. Reicht Euch das als Freudenbekenntnis aus?“ „Mehr als ausreichend. Was würde ich nur ohne dich machen?“ „Verhungern, mein Herr. Ihr würdet elendig verhungern.“ Beide lachten kurz, dann machte sich Mikki auf den Weg, das Dachgeschoss zu verlassen. Ezra nickte noch einmal kurz und wollte bereits die große Tür zur Seite schieben, da bemerkte er, dass seine Hausdame zögerte, das Schloss für den Aufzug aufzuschließen. „Wenn die Besprechung vorbei ist, triff mich auf der Elften“, sprach sie und schaute kurz über ihre Schulter. Die Schüchternheit ihres Blickes war dem schmalen Schein trauriger Nostalgie gewichen. Ezra legte die Stirn in Falten. „Du meinst den Außenbereich? Warum? Wenn du etwas sagen möchtest, kannst du das auch jetzt tun.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nicht einfach so, das muss in Ruhe passieren. Ich... ich habe noch ein Geschenk für dich...“ Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete Mikki das Tor und machte sich auf, den Aufzug zu betreten. Einen Moment blieb Ezra allein im Gang zurück. Ein Geschenk? Was sie ihm wohl geben wollte... Was auch immer es war, es musste bis später warten und er sollte nicht noch mehr Zeit verlieren. Sie hatten wohl das Gespräch gehört und wussten, dass er bereits hier war. Noch einmal sog er einen tiefen Schwall der verbrauchten Luft des Gangs ein und blies sie zwischen seinen Zähnen aus. Dann schob er die leichte Tür zur Seite, und übertrat die Schwelle. Der Raum war an allen vier Ecken mit großen Standlaternen aus weißem Papier und festen Holzgittern ausgestattet, die fast bis zur Decke reichten und eher schon wie eigene leuchtende Säulen wirkten, welche die Wände mit einem Fächer aus Licht bedeckten. Der Raum selbst war – im Vergleich zum restlichen Haus – relativ schmucklos eingerichtet, sah man mal von Vasen und Schwertern auf den Holzkomoden ab, aus denen die Schriftrollen quollen. Der größte Blickfang war wohl der kleine Götterschrein an der rechten Wand, bestehend aus einem Grabstein mit altasterischer Inschrift, der durch einen dunklen hölzernen Pavillon mit goldenen Ornamenten überdacht war, dessen vordere Beine wiederum geschnitzte Holzstatuen zweier Elfen – einem Jungen und ein Mädchen – darstellten: sie mit einem halben Dutzend Papierrollen unter dem Arm, er mit einem Zettel und Pinsel bewaffnet. Das waren die Zwillinge Lyra und Penn, die Schöpfer der Papiermagie und eben diesen Göttern war auch der Schrein gewidmet, in welchem zudem eine rituelle Papierpresse integriert war: Aus einem zähen Gemisch aus Wasser und Fasern von hellem Bambus wurden durch mehrere mit Asterid legierte Walzen lange Bahnen reißfesten Papiers gepresst; das angeblich beste magische Papier der ganzen Stadt, war es doch von den Göttern persönlich gesegnet. Sein Blick wanderte weiter nach links, tiefer in den Raum hinein, bis er an einem kreisrunden Tisch aus gusseisernem Metall hängen blieb, auf dessen schwarzer Marmorplatte Mikkis Stärkung platziert worden war. Er war so niedrig, dass man sich auf den Boden setzte, um an ihm zu speisen, zugleich aber überdimensional groß, dass er weite Teile des Raumes einnahm. An seiner rechten Seite hatte eine Menschenfrau Platz genommen, in einem blassrosanen Kimono, das mit weißen Tupfern besprenkelt wurde, welche wohl an umherfliegende Blüten erinnern sollten, dessen Thema auch die goldene Klammer in ihrem pechschwarzen, mit unzähligen Nadeln hochgesteckten Haar aufnahm, denn daran angebracht war eine große, schneeweiße Orchidee. Die ebenso bleiche Grundierung des Gesichts mit unzähligen Farbklecksen an Augen, Wangen und Lippen aufgewertet, die Augenbrauen genaustens gezupft und die Wimpern scheinbar bis in die Unendlichkeit verlängert, wollte man kaum glauben, dass es sich nicht nur um eine farbenfrohe Puppe eines exzentrischen, aber durchaus talentierten Künstlers handelte, hätten ihre Mundwinkel nicht kurz nach oben gezuckt und sie dem Neuankömmling zugenickt. Immerhin ein halbwegs freundliches Gesicht, allerdings auch das einzige; der bunt geschminkten Dame gegenüber sitzend begrüßte Ezra ein halb ergrauter Elf mit auffälligem Schmuck an seinen spitzen Ohren, der sein langes, faltiges Gesicht mit einer grimmigen Miene bestückt hatte und seine Schale mit Reiswein derart provokant von sich gestreckt hielt, sodass man schon fast hören konnte, wie er vorwurfsvoll ein „Hast du überhaupt eine Ahnung wie lange wir hier schon warten?“, von sich geben würde. Vor Kopf hingegen saß eine junge, leicht hagere Kitzune mit dünnem, kurzem Haar in kastanienbraun. Gegenüber den anderen beiden Figuren, denen man eine gewisse Extravaganz nicht abstreiten konnte, wirkte sie hingegen äußerst schlicht – selbst gegenüber Ezra, dessen Kleidung auch bei aller Abnutzung seinen ursprünglichen Wohlstand offen aufzeigte. Sie hingegen hüllte sich in einen schmucklosen, pechschwarzen Kimono, der anders als bei ihrer Sitznachbarin bis obenhin zugebunden war und keinen einzigen Blick auf das Dekolleté freigab, welches jedoch bei ihrer schmalen Brust ohnehin sehr gering ausgefallen wäre. Ihr ungeschminktes Gesicht zierten tiefe Augenringe und wilde Sommersprossen, die knittrigen Schnurrbarthaare gingen meilenweit zur Seite und aus ihren Ohren wuchs ein wilder Schwall weißen Fells. Kombinierte man dies mit der Tatsache, dass sie, anders als alle anderen im Raum, nicht gerade saß sondern eingeknickt mit leerem, nahezu lethargischem Blick auf das Essen starrte, während ihre Hände fast schon mechanisch über die weiße Spitze ihres Schweifs streiften, bekam man das Gefühl, dass sie so überhaupt nicht zu dieser Gesellschaft gehörte. „Hast du überhaupt eine Ahnung, wie lange wir hier schon warten?“, bellte der Elf vorwurfsvoll. Er hatte seinen Text gut einstudiert. „Lass mich nachdenken“, murmelte Ezra während er auf dem letzten verbleibenden Kissen der Kitzune gegenüber im Schneidersitz Platz nahm und sich direkt ein Stück des knusprigen Haifisches, den Mikki extra für ihn gemacht hatte, zwischen die Zähne schob. „Daran gemessen, dass Mikki das Essen gerade erst gebracht hat, in Kombination mit dem Errötungsgrad in deinem Gesicht und die Tatsache, dass Mirakos Schweif noch nicht die Haare vom ganzen Kämmen ausgefallen sind, gehe ich mal von knapp einer halben Stunde aus.“ „Sehr richtig!“, schimpfte der Elf weiter und wurde auch lauter, von der gleichgültigen Antwort offensichtlich provoziert: „Eine halbe Stunde! Eine halbe Stunde lässt du uns warten, trotz allem Versagens, dass du zu verantworten hast! Und dann kommst du hier hin, sagst keinen Ton und stopfst dir als erstes etwas zu essen in den Mund.“ „Alfo pfunäft mal“, wollte Ezra ansetzen und schlang ein besonders großes Stück des weißen Fleisches mit einem Bissen hinunter, ließ den intensiven Geschmack des Meeres mit dessen bitteren Nachgang sein ganzes Inneres genauso ausfüllen, wie das würzige Aroma des Teigs. „Kannst du dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich das Essen aus Asteria vermisst habe. In Lyn'A'Tischal ist alles so... widerlich deftig. Liegt wie Steine im Magen.“ „Und frittierter Taikan ist dann genau das richtige?“, fragte die Puppe zu Ezras Rechten und spielte darauf an, dass jener Hai, der im Ostmeer ein häufiger Fang war, zwar im allgemeinen recht mageres Fleisch besaß, die Flosse sich jedoch beim Frittieren mit ordentlich Fett vollsog, was zwar für ein tolles Geschmackserlebnis sorgte, aber dafür auch nicht gerade vorteilhaft für die Verdauung war. „Manchmal muss man seine Prinzipien ein bisschen verraten“, antwortete Ezra altklug und wollte sich schon wieder Nachschlag greifen, da wurde ihm die Schüssel unter seinen Essstäbchen weggegriffen. Langsam folgte er dem Arm, der ihn von seinem Glück abhielt, erwartete schon fast, gleich in zwei mandelförmige Augen zu schauen, die ihn zurechtweisen würden. Stattdessen jedoch war es die Kitzune, die ihm die Schüssel geklaut hatte, was er ihr dezent übel nahm. „Ezra... ich weiß, du sprichst nicht gern über schlechte Nachrichten... das tun wir alle nicht... und ich weiß auch, dass du so mit mir sprichst, weil es dir Spaß macht, anzuecken...“, murmelte der Elf erstaunlich ruhig und zeigte mit einer Handbewegung auf seine leere Pfeife. Schnell griff der Angesprochene in seine Taschen und nahm die Pfeife an sich, stopfte etwas weißen Tabak hinein und entzündete sie an einer Kerze auf dem Tisch. Dankbar nahm der Elf sie entgegen und einen tiefen Zug, bließ den dünnen, hellen Dunst aus, bevor er fortfuhr: „Aber du wirst die Verantwortung übernehmen, für den Überfall der Harpyien.“ „Nun sei nicht so hart zu ihm, mein lieber Goro. Immerhin war es Shiros Unvermögen, den Zug nicht zu beschützen“, wollte bereits die Menschenfrau sanft beschwichtigen, während sie sich eine purpurne Kirsche von der Dekoration eines gedünsteten Tintenfisches nahm, doch Ezra winkte ab: „Lass gut sein, Kazumi, er hat schon recht. Auch wenn Shiro sich mir gegenüber erklären muss, werde ich für den Vorfall geradestehen.“ „Und das tust du, indem du zu spät zur Krisensitzung kommst?“, grummelte Gonovyn Rovari wieder etwas deutlicher verstimmt, denn er hasste es, wenn man seinen Elfennamen in diese aus seiner Sicht unsäglichen Shinjuer Abkürzungen zwängte. „Ich habe das Gefühl du verkennst den ernst der Lage. Vier unserer Leute sind tot, dem Fuchsbau droht mit der Explosion eine Energiekrise und Mirabelle kann jeden Tag hingerichtet werden!“ Beim letzten Punkt wurde die Kitzune hellhörig und sah in die Runde, versuchte verzweifelt, den Blick Ezras einzufangen, doch dieser ignorierte sie komplett während er wütend auf den Tisch schlug und rief: „MEINE Leute! Diese Männer gehörten zu mir, sie sind nicht euer Inventar! Und falls es dich interessiert, Gonovyn, ich bin zu spät, weil ich den Nachmittag damit verbracht habe, ihnen anständig die letzte Ehre zu erweisen! Was ist denn aus dem schwarzen Tisch geworden, der höchsten Instanz des Shinjuer Südens, dass wir wegen ein paar Momenten Verspätung uns rechtfertigen müssen, wo wir doch ganz andere Probleme haben?! Hat die magische Strahlung um Asteria irgendwelche Zeitschleifen aufgebaut, dass ihr während meiner Abwesenheit zu kleinkarierten Tatagreisen geworden seid?!“ Schlagartig verstummten alle und sahen betroffen zu Boden. Ezra fuhr sich durchs Gesicht, bemerkte den dünnen Film von Schweiß auf seiner Hand. War er doch so nervös gewesen? Er wusste, dass die Lage schlecht stand und seine Abwesenheit, ausgelöst durch seinen überstürzten und unangekündigten Aufbruch in die alte Heimat, hatten sicherlich nicht zu einer Besserung beigetragen. Es ging nun um Schadensbegrenzung. „Wenn ich nun einen Tost aussprechen dürfte“, sagte er nach kurzer Überlegung und hob seine Keramikschale mit Reiswein an. Sie war noch warm und ebenso wohl die leicht trübe Flüssigkeit darin. „Auf die Toten. Auf dass sie sicher auf Shika'Res' Rücken über die Grenze reiten.“ Kazumi tat es ihm gleich, erhob ihre Schale und fügte noch hinzu: „Und auf unseren heimgekehrten Bruder. Es ist schön, dich in jener dunklen Stunde wieder bei uns zu wissen.“ Da erhoben auch die letzten beiden ihre Schalen, hielten sie einen Moment schweigend in die Luft, bevor alle gleichzeitig daran nippten. Der trocken-bittere Geschmack beim Ansetzen gemischt mit der brennenden Süße im Abgang brachte das Innere zum glühen und umgriff alle mit einer sanften Schläfrigkeit, die die Gemüter entspannte und das Gesicht rot färbte. Selbst Kazumis deckendes Weiß konnte die Auswirkungen der Hitze nicht komplett unterdrücken und ein rosa-roter Schimmer stahl sich um ihre Nase. „Reden wir nicht mehr um den heißen Brei herum“, fing Gonovyn an, stellte die Schale auf den Tisch und nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife. „Bei allen Verlusten, die uns der Überfall der Harpyien beschert hatte, wiegt der Verlust des Asterids am schwersten. Die Ladung war für das kommende Jahr gedacht. Unsere Ressourcen zur Energieversorgung reichen nur noch vielleicht einen Monat. Wenn wir bis dahin keinen Ersatz finden können – und sei es auch nur übergangsweise – dann werden wir uns beim Schwarzmarkt bedienen müssen...“ „Der wird uns nicht beliefern können und das weißt du auch“, grummelte Ezra. „Die Anlieferung von Asterid im großen Stil wird neben uns nur noch von der Diebesflotte in der Taikanbucht betrieben und denen ist unser Ausscheiden als Konkurrent doch ganz recht. Wir könnten zwar versuchen es ihnen abzukaufen, aber...“ „Keine Chance“, unterbrach Kazumi. „Auch die Diebesflotte hat bei einem Taifun vor drei Monaten schwere Verluste erlitten. Der Preis für ungeschliffenes Asterid auf dem Schwarzmarkt schießt immens in die Höhe. Energie ist ein richtiges Luxusgut geworden – sogar noch mehr als sonst.“ Entnervtes Ausatmen bei allen Anwesenden, gefolgt von einem langgezogenen Moment des Schweigens, indem jeder darauf hoffte, im Anstarren der Decke oder energischem Verschränken der Arme die Lösung aller Probleme zu finden. „Warum tut Celica überhaupt so etwas?“, zerriss da die junge Kitzune die Stille und schaute erwartungsvoll zu Ezra, der sich gerade eine neue Zigarette zwischen die Lippen schieben wollte. „Na warum wohl, Mirako? Sie hasst mich. Der Überfall ist ein toller Schlag ins Gesicht gewesen. Sie wird sich bestimmt nur ärgern, dass sie mich dabei nicht umbringen konnte“, antwortete der Schmuggler gleichgültig, denn er hatte schon lange aufgehört, in den Kopf der Harpyienmutter hineinzuschauen. „Das meine ich aber gar nicht. So wie Shiro berichtet hatte, waren doch die Verluste auf ihrer Seite viel höher. Und das nur, um ein paar Tonnen Asterid in die Luft zu jagen?“ „Gutes Argument. Vor allem verwundert es mich, wie sie davon erfahren hatte“, gab Kazumi zu und starrte ebenso den Angesprochenen an. Auch der Elf zu seiner linken drehte wieder den Kopf zu Ezra und kaute unzufrieden auf seiner Pfeife. Ezra indes lehnte sich vor und stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Tisch ab. „Ich weiß, worauf ihr hinaus wollt. Shiro hört sich bereits um, um den Verräter ausfindig zu machen. Aber das hilft uns erst einmal nicht weiter. In erster Linie müssen wir uns etwas einfallen lassen, unsere Ressourcen wiederzubekommen. Und aktuell fehlen mir die Leute und die Möglichkeiten für einen weiteren Raubzug in die gläserne Wüste. Niemand wird mir aktuell einen Zug samt Lokführer zur Verfügung stellen.“ Wieder schwiegen alle. Von den unteren Ebenen drang schwach der Klang des Treibens, jedoch kaum hör- geschweige denn definierbar. Ezra warf sich müde mit dem Rücken voran auf den Boden und starrte zur Decke. Die Asche der Zigarettenspitze rieselte sanft auf sein Gesicht hinab, doch die kurzen heißen Stiche ließen ihn gerade eiskalt. So hatte er sich all das nicht vorgestellt. Eigentlich wollte der Schmuggler einen Teil der Beute für sein Geschäft verwenden und die Macht der tishalischen Kristalle für seine Energierevolution nutzen, aber das konnte er jetzt vergessen. Wenn er Cirdan nichts vorlegen konnte, dann würde der Elf wohl abspringen und seine Entschädigung würde Ezra mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an den Rand des Ruins bringen. Fest presste er seine Zähne zusammen und blies laut Luft aus der Nase. Er hatte sich verzockt. Er hatte auf eine Karte gesetzt und verloren. Verdammte Celica. Verdammter schwarzer Tisch. Sollten sie doch alle an der Grenze verenden. Er brauchte Ruhe, musste Nachdenken, zumindest für einen Moment. Langsam schloss er die Augen, ließ alles schwarz um ihn werden. Im sanften Wind wehte ihr dunkles Haar, umspielte das spitze Gesicht, während sie sich lasziv an ihn räkelte, ihn durch ihre halbgeöffneten weißen Mandeln anschaute und auf den dünnen Lippen kaute. Seine freie Hand fuhr über ihren nackten Rücken bis sich die Finger in ihren straffen Hintern vergruben. Die andere Hand war in der ihren gefaltet, während sie sich mit allem Gewicht auf ihn legte und das Gefühl ihrer warmen Haut, so fest an die seine gepresst, ihn fast verrückt machte. „Musst du denn wirklich schon gehen? Ich will nicht, dass du fort bist“, säuselte sie lieblich jedoch mit einem Unterton, der ihren Unmut nur allzu deutlich zeigte. Er lächelte mild, lehnte sich vor und gab ihr einen spitzen Kuss. „Du bist manchmal wirklich wie ein Kind. Ich bleibe doch nicht lange fort. Nur eine einfache Lieferung.“ Dann drückte er sich hoch und sie rollte enttäuscht auf die Seite, verschränkte demonstrativ die Arme während er sich von der Bettkante hievte, um sich anzuziehen und dabei krampfhaft versuchte, ihren langgezogenen Schmollmund zu ignorieren. „Nun sei doch bitte nicht so. Du weißt doch am besten, dass man Eryn nicht gern warten lässt“, bat er sie, doch zur Antwort zog sie die Mundwinkel noch tiefer und drehte sich auf die andere Seite. Ein unbeholfenes Aufseufzen, dann ging er zu ihr und küsste die Spitze ihres Ohrs, fing an, die Ecke sanft zwischen seinen Lippen zu massieren. „Du Arsch“, fluchte sie kichernd und sich schüttelnd, wusste er doch ganz genau, dass sie dort besonders kitzlig war. Dann drehte sie sich auf den Rücken und fasste nach seiner Wange, bevor sie ihre Lippen auf die seine drückte und ihn wie so oft voll und ganz mit ihrem süßen Geschmack ausfüllte. Einen Moment nur schauten sie sich gedankenverloren mit seligem Blick an, dann legte sich ihre Stirn in Falten. „Wirst du es ihm heute sagen?“ Er nickte stumm, doch bemerkte sofort den leichten Schimmer der Angst in ihren Augen. „Mach dir bitte keine Sorgen“, fügte er hinzu. „Er wird es schon akzeptieren. Danach sind wir endlich eine richtige eine Familie.“ Sie strich noch einmal über seine von Bartstoppeln raue Wange und schlug die Augen nieder. „Ja... Das wünsche ich mir so sehr...“ „Was ist mit Mutter?!“ Der Ausruf Mirakos riss Ezra aus seinen Tagträumen. Schon zum zweiten Mal an diesem Abend waren seine Gedanken in jene verhängnisvolle Richtung abgedriftet. Er hatte schon lange nicht mehr so intensiv an sie gedacht... Hatte die Ankunft zuhause ihn mit wehleidiger Nostalgie erfüllt, oder waren es Celicas Taten, die seine begrabenen Gefühle wieder zu Tage förderten? Vielleicht bekam ihm aber auch einfach die neue Tabakmischung nicht besonders. Als er sich aufrichtete waren bereits alle Blicke auf die Kitzune gerichtet, die sich sichtlich unwohl fühlte und sich noch fester an ihrem Schweif festhielt. „Ich meine ja nur...“, murmelte sie und zuckte kurz mit den Schultern. „Vielleicht sollten wir uns auch mal um sie kümmern.“ Richtig, das hatte er schon fast verdrängt: Mirabelle Renarchasse, oder auch die schwarze Witwe genannt. Die wahrscheinlich schönste wie auch blutrünstigste Auftragsmörderin der Welt, Inhaberin von Fuchsbaus mehrstöckigem Badehaus, Mitglied am schwarzen Tisch und in diesem erlesenen Kreis auch Ezras engste Verbündete – auch wenn die Messlatte dafür zugegeben übersehbar niedrig lag. Laut dem Schreiben, dass ihm Kazumis Sohn Touma vorhin übergeben hatte, war sie von der Schlosswache bei einem riskanten Auftrag festgenommen und in den Todestrakt des Hungerkäfigs, Shinjus Hochsicherheitsgefängnis gesteckt worden, wo sie nun auf ihre Hinrichtung wartete. Mehr Details waren ihm bisher jedoch nicht bekannt. Und wie es am schwarzen Tisch üblich war, wurde für solche Fälle ein Stellvertreter ernannt. In Belles Fall war das ihre einzige Tochter Mirako, die aber außer der Namensähnlichkeit nichts mit ihrer Mutter gemein hatte. Soweit Ezra wusste, war das Verhältnis der beiden wahrlich nicht das beste, aber in Momenten wie diesen war Blut wohl dicker als Wasser... Entweder das, oder Mirako wollte wirklich nicht die Verwaltung des Badehauses übernehmen. Die Kitzune schaute erwartungsvoll, fast schon flehend in die Runde, zog die Augenbrauen fest zusammen. Alle wurden still, versuchten ihrem Blick auszuweichen, denn es wurde klar, dass jeder versucht hatte, das Thema zu ignorieren, denn wenn sie wirklich im Todestrakt saß, stand es außer Frage, dass Mirabelle gerettet werden konnte. Jeder Versuch eines Ausbruchs würde die Aufmerksamkeit unweigerlich auf den Fuchsbau lenken und das konnte man sich gerade jetzt nicht leisten. „Nimm es uns nicht übel, Mira, aber deine Mutter hat sich das selbst eingebrockt. Jeder weiß, dass man keine hohen Offiziere als Ziele wählt und wir können nur froh sein, dass sie bis jetzt den Mund hält“, brach Gonovyn zuerst das Schweigen, blieb dabei jedoch erstaunlich ruhig, während er einen tiefen Zug seiner Pfeife nahm. Ungläubig schaute das Mädchen den Elfen an und schüttelte den Kopf. „Aber wir müssen doch irgendwas tun können!“ „Wie ist es überhaupt so weit gekommen? Belle mag bisweilen etwas kurzsichtig sein, wenn das Gold im Kasten klingt, aber sie ist nun wahrlich nicht dumm“, wollte Ezra wissen, doch bekam dafür einen Schwall der Kälte ab. „Das fragst du noch? Das ist deine Schuld!“, keifte der Elf zurück, wofür er von Kazumi mit einem langen Seufzer bedacht wurde: „Also wirklich, Goro...“ „Was denn? Es stimmt doch! Wenn du es genau wissen möchtest, Sterlinson: Belle hatte nach dem Überfall versucht, den Stadtrat zu schmieren, um uns aus dem Hive kurzfristig mit Asterid zu versorgen. Als Preis dafür sollte sie den neuen Oberst der Schlosswache, diesen Cher Enfanter ermorden. Das ist dann jedoch schiefgegangen! Und wir halten wieder einmal fest: Wenn du nicht Hals über Kopf das Land verlassen hättest, wegen irgendeiner halbgaren Idee, dann...“ „Sekunde! Halte doch mal... die Luft an...“, unterbrach Ezra die Tirade seines Kollegen und lehnte sich wieder vor, was alle Anwesenden aufhorchen ließ, doch der Schmuggler ließ sie noch am Haken zappeln, zog einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und drückte den Stummel fest in seiner Sake-Schale aus. „Also... Belle hat mit einem Stadtratsmitglied einen Tötungsauftrag ausgemacht, um unser Asteridkonto aufzustocken, sehe ich das so richtig?“ Alle nickten vorsichtig. „Das bringt mich doch zu zwei Fragen. Erstens: Wer ist gefragtes Ratsmitglied und was ist seine Verbindung zum Oberst der Schlosswache? Und zweitens: Woher wusste er von unserem Energieproblem?“ Alle schauten sich fragend an. „Ich... ich denke wohl, Belle hat es ihm gesagt, den Kontakt in erster Instanz aufgebaut“. meinte Kazumi, doch Ezra schüttelte den Kopf. „Glaubst du wirklich, sie würde so etwas Unprofessionelles tun, ganz gleich wie aussichtslos die Situation war? Angenommen, sie wäre es gewesen, die den Kontakt aufgebaut hatte – was ich, um ehrlich zu sein, für sehr unwahrscheinlich halte – dann hätte sie ihm doch niemals von ihren Gründen berichtet. Das macht sie verletzlich...“ „Mirabelle, die schwarze Witwe und verletzlich? Wusste gar nicht, dass unsere Meisterschlächterin so ein zartes Pflänzchen ist“, gab Goro amüsiert zurück, was Ezra jedoch missfiel und er dem Elfen mit einem Funkeln bedeute, dass er bei der nächsten Bemerkung seine Zähne von der Straße aufsammeln könnte, denn auch wenn der Schmuggler gerne Leute für die ein oder andere Bemerkung unterbrach, sollte man es besser nicht wagen, ebendies bei ihm zu tun. Der Elf räusperte sich und fuhr fort, mit dem, was er eigentlich sagen wollte: „Ich verstehe, was du meinst: Du willst sagen, dass der Gouverneur vom Überfall Wind bekommen hatte und nun unsere Situation zu unserer Zerschlagung nutzen möchte. Wenn das stimmt, dann zeugt das von einem fast schon unheimlichen Scharfsinn für sein hohes Alter. Oder meinst du vielleicht...“ „Nein, ich glaube nicht, dass der alte Sack sich mit Celica zusammengetan hat, dafür hätte er nicht den Mumm in den Knochen. Aber wenn uns das jemand sagen kann, dann nur die Person, die aktuell auf ihren Tod wartet.“ Bei diesen Worten zuckten Mirakos spitze Fuchsohren auf dem Kopf und sie schaute hoffnungsvoll zum Mann ihr gegenüber. „Meister Hunter... Wollt ihr etwa sagen...“ „Ich kann nichts versprechen, Mirako, aber ich werde mich in jedem Fall mit ihr unterhalten“, sprach er und machte die ersten Anstalten aufzustehen. Gonovyn unterdessen blies den Rauch missmutig durch seine Zähne aus und grummelte: „Und wie willst du das anstellen, mein lieber Ezra? Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass sie jemanden wie dich reinlassen, immerhin herrscht im Todestrakt generelles Besuchsverbot.“ „Ganz einfach: Du bringst mich rein.“ „W-wie bitte?!“ „Du bist der Casinoleiter, Goro. Ich weiß, dass mehr als genug Wachmänner Haus und Hof bei dir verzocken, da wird sich bestimmt der ein oder andere über einen kleinen Schuldenerlass für einen Gefallen freuen, oder nicht?“ „Also jetzt hör mal“, zischte der Elf, sprang vom Tisch auf und stellte sich dem Menschen, der ihn um fast zwei Köpfe überragte, in den Weg, legte seinen Finger auf dessen Brust und schnauzte: „Zunächst einmal redest du mit mir in einem vernünftigen Ton! Wenn du etwas von mir möchtest – insbesondere einen solch... abstrusen Gefallen – erwarte ich, dass du mich anständig darum bittest! Und dann...“ „Und dann kommst du mal wieder runter, bevor gleich deine Ohren von Hitzewallungen zu flattern beginnen!“, brüllte der Mann zurück, so laut, dass der Elf seine Ohren anlegen musste und noch ein wenig weiter schrumpfte. Darauf lehnte sich Ezra weiter zu ihm hinüber und raunte ihm zu: „Damit wir uns ein für allemal verstehen: Ich werde dich nicht um irgendetwas bitten oder anflehen. Ich denke über Lösungen nach und werde diese vorstellen. Und solange du mir nichts besseres vorlegen kannst... dann bitte, bitte mit Kirsche oben drauf, tu was ich sage! Ich weiß sowieso, dass du das kannst.“ Gonovyn lehnte sich ebenso zu ihm: „Ich kann das tun, ja... und ich werde es tun, weil ich zugeben muss, dass mir aktuell auch nichts besseres einfällt. Aber damit wir uns wirklich ein für allemal verstehen: Du bist hier geduldet, aber das macht dich noch lange nicht zu einem festen Bestandteil unseres Kreises. Und ich bedauere es mittlerweile sehr, dass der alte Hunter tot ist. Gegenüber dir hatte der wenigstens Format. Dass jemand wie du nun an seiner Stelle stehst, ist eine Beleidigung.“ „Ach, wirklich?“ Ezra lachte kurz auf. „Amüsant, immerhin hast du ihn doch damals zusammen mit allen anderen Kitzune aus der Stadt gejagt. Wenn er dein Gesicht wiedergesehen hätte bei seiner Rückkehr, dann hätte er wahrscheinlich die ganze Stadt in Schutt und Asche gelegt und dich in der gläsernen Wüste begraben.“ „Tja...“, antwortete Goro und griff grob den Kragen seines Gegenübers, zerrte ihn so nah an sich, dass die funkelnde Glut des Hasses tief verborgen in seinen sonst so kühlen Augen klar zu erkennen war. „Dann kann ich ja beruhigt sein, dass der alte Hunter schon vor seiner Rückkehr aus dem Leben geschieden ist... mit deiner Klinge in seinem Rücken!“ Von Ezra wieder ablassend entfernte sich der Elf zurück zum Tisch und sagte nur mit einem hämischen Grinsen: „Ihr habt Glück, Meister Hunter. Wir haben regelmäßig einen Gefängniswärter bei uns, der seinen ganzen Soll verpulvert. Setzt bestimmt auch heute wieder auf die falschen Würfel und wird dankbar sein, wenn wir ihn ausnahmsweise mal nicht bis auf die Unterhose ausziehen. Wenn er heute Abend da ist, kann ich Euch eventuell noch diese Nacht Bescheid geben.“ Ezra indes verzog keine Miene, sondern lächelte nur sanft, war bereit das Spiel mitzuspielen. Eine tiefe Verbeugung machend sprach er mit der größtmöglichen Untergebenheit die er aufbringen konnte: „Das ist zu freundlich, Meister Rovari. Ich werde mich derweil vorbereiten. Ihr trefft mich auf der elften Ebene, wenn Ihr ein Ergebnis habt. Meine Damen, es war ein aufschlussreicher Abend. Wenn mein Treffen mit Meisterin Renarchasse erfolgreich war, werde ich Euch über alles weitere informieren. Ich wünsche Euch noch eine ruhige Nacht.“ Dann drehte er sich um und verließ das Zimmer. Die Tür war kaum verschlossen, da vergrub er seine Finger im Holz und schnaubte Luft aus, atmete tief ein und aus, um seinem Ärger Luft zu machen. Dieser Mistkerl...er untergrub seine Autorität und machte ihn vor allen Leuten lächerlich, wissend, dass Ezra ihm kein Haar krümmen konnte. Die ganze Situation entwickelte sich mit jedem Moment mehr und mehr in eine Richtung, die ihm absolut missfiel. Aber gut, man konnte es nicht ändern. Es kam darauf an, nun eine Lösung zu finden. Hoffentlich würde Mirabelle eine Idee haben – und nicht zu sehr um ihre Befreiung bitten. Cirdan sah nicht wirklich abgeneigt von dem Gästezimmer aus, das Mikki ihm zeigte, soviel konnte die Elfin mit ihrer langjährigen Erfahrung mittlerweile sehr gut sagen. Genaustens überprüfte der seltsam kleine Elf den gesamten Raum, kühl, jedoch nicht abweisend; selbst die Tatsache, dass er auf dem Boden schlafen sollte, da dies in Shinju so üblich war, nahm er kommentarlos hin und erfreute sich stattdessen über die Bequemlichkeit der zur Verfügung gestellten Laken. Im Allgemeinen hatte sich Ezras Geschäftspartner äußerst genügsam und über alle Maße höflich gegenüber Mikkalia gezeigt, während sie ihn durch die Hallen des Fuchsbaus geführt hatte. Und auch wenn ihn das teiloffene Badehaus und das explizit beworbene Glücksspiel, zwecks mangelnder Diskretion, offensichtlich befremdeten, so gab er sich den Sitten und Bräuchen interessiert hin und man erwischte ihn dabei, dass ihm der Fisch in Hunters Bar äußerst mundete. „Eigenlob stinkt“ hieß es grundsätzlich, aber Mikkalia wollte sich gerade durchaus selbstzufrieden auf die Schulter klopfen, denn als sie am Vormittag den Elfen in das Haus begleitet hatte, hatte sie nicht erwartet, den Schaden, den ihr Meister angerichtet hatte tatsächlich weitestgehend bis zum Abend repariert zu bekommen. Sie sollte bei Gelegenheit eine Gehaltserhöhung fordern. Zumindest dachte sie das, doch im Moment, als dass sie auf der Türschwelle stand und ihr dickstes Lächeln aufsetzte, da bemerkte sie die Kälte im Blick des Elfen, der so viel kleiner war als sie, aber dennoch die Welt zum gefrieren bringen konnte. „Nun, ich danke Euch für Eure Gastfreundlichkeit, Fräulein Mikki“, sagte er kühl und griff an die Tür. Nein, er war in keiner Weise zufrieden! Er wollte sie abwimmeln! Das sollte er nicht wagen! Fest krallte sie sich in den Türrahmen und lächelte ihn noch lieber an, als sie jemals zuvor einen Gast ansah. „Gibt es denn noch etwas, was ich für Euch tun kann?“, säuselte sie zuckersüß, doch spürte zugleich, dass der Druck gegen ihren Arm stärker wurde, wobei zugleich die Maske der Höflichkeit wie angeschweißt auf dem Gesicht dieses alten Mannes saß, der nur noch energischer wurde. „Ich denke, Ihr habt Euch eine Pause verdient. Sagt nur noch bitte Mister Sterlinson Bescheid, dass ich morgen früh von ihm erfahren möchte, wie es weitergeht. Gute Nacht!“ Mit diesen Worten riss er mit aller Kraft an der Tür, sodass die Elfin aus dem Rahmen sprang und das Holz mit einem lauten Klatschen aufeinanderschlug. Unbeholfen stand die fleißige Hausdame vor der verschlossenen Tür und wusste nicht so recht, was sie nun tun sollte. „Also... wenn ihr noch etwas braucht, dann... dann zögert nicht, nach mir zu rufen, mein Lord... in Ordnung?“ Keine Antwort. „L-Lord vei Brith?“, fragte sie zaghaft. Noch immer blieb das Holz still. Ob er sich beim Türschließen verletzt hatte? Vielleicht sollte sie ja mal nachsehen... Vorsichtig griff sie an der Klinke und schob die Tür ein kleines Stück zur Seite, gerade genug um hindurchzulinsen. „Ich sagte: Gute Nacht!“, hallte es von drinnen und die Tür schlug vor ihren Augen wieder zu. Vor Schreck fiel sie nach hinten und stieß sich den Hintern. Ein langgezogener Schmerz lief ihren Rücken hinauf und schnürte ihr die Luft ab. „Ärgerst du wieder unsere Gäste?“, fragte da eine bekannte Stimme von der Seite mit einem leichten Schwung von Amüsement. „Wie viel... habt Ihr mitbekommen, Meister Hunter?“ „Definitiv mehr als genug. Ich sage dir ja, du sollst nicht immer so zwanghaft sein“, bemerkte Ezra entspannt, aber auch mit seinem großen Grinsen konnte er vor seiner Vertrauten nicht verbergen, dass ihn eine innere Unruhe plagte. „Na komm, steh erst einmal auf.“ Müde ergriff Mikki die raue Hand ihres Meisters und ließ sich hochziehen. Dann legte der Schmuggler seinen Arm um ihre Taille und führte sie zu den nächstgelegen Treppen. „Verzeih mir bitte... ich dachte, ich könnte ihn um den Finger wickeln...“ „Keine Chance, Süße. Der hat schon jemanden, die ihn viel fester um den Finger gewickelt hat. Lass den beiden ein paar Stunden... ich glaube Miss Severa kann ihn viel besser beruhigen als wir beide zusammen.“ „Beruhigen? Aber wie denn? Ist sie nicht nur seine... Zofe?“ „Komm schon Mikki, sei doch nicht so verklemmt.“ „W-Was meinst du denn damit?“ Ezra schob die Tür zum Außengelände der elften Ebene auf und schaute die Elfin fast schon mitleidig an während er ein sehr dünnes, sehr stark mit Spitze verziertes... sehr, sehr aufreizendes Stück schneeweißen Stoff auf seinem Zeigefinger hochhob, das Mikkalia beim Anblick die Wangen rot färbte. Schnell griff sie danach, doch ihr Meister steckte es weg, bevor sie es auch nur berühren konnte. „Meister Hunter!“ , rief sie mahnend: „Ihr könnt nicht einfach die Wäsche von Damen entwenden. Was seid Ihr, ein Lustmolch?!“ „Jetzt beruhige dich doch, sonst platzt du noch vor Scham“, meinte er lachend und betrat das Außengelände. Die Elfte der insgesamt dreizehn Ebenen zeichnete sich durch seine große Aussichtsplattform aus, dessen Boden aus grauen Steinplatten gefertigt war und in den mehrere kleine, heiß dampfende Bäder eingelassen waren, an deren Rändern kleine Beete mit wildem Bambus, blauen Orchideen und Nachtschattenminze angebracht waren, wodurch der Wasserdampf einen stetig erfrischenden Minzduft in sich trug. Als Schattenspender in der Mittagssonne war in der Mitte ein Kirschblütenbaum gepflanzt, dessen Äste noch den letzten Fleck des wohl höchsten Gartens von Shinju abdeckten und dem Wasser mit seinen Blüten einen blassrosanen Schimmer verliehen. Die elfte Ebene war ausschließlich den besser Betuchten vorbehalten und unter den Gästen, die sich so entspannt im Wasser räkelten und dabei genüsslich ein Glas Cher Enfanter Rotwein schlürften, tummelten sich Großhändler, Meisterköche und Hauptmänner der Wache, aber auch Edelprostituierte und Tänzerinnen, die sich mit dem Vergnügungen an ihrem Körper eine goldene Nase verdient hatten. Für alle war dieser Ort ein kleines Stück vom Paradies in einer sonst so grauen Welt. Ezra trat an das lange Geländer und lehnte sich vor, starrte auf die flackernden Lichter der Stadt, die er eigentlich liebte, aber an diesem Tag konnte ihn der Schein nicht wirklich aufheitern. „Du warst früh fertig“, bemerkte Mikki. „Ja, es war ein schnelles, aber erquickendes Gespräch. Goro wird mir gleich Bescheid geben, ob wir unseren... Plan weiter verfolgen können.“ „Dann hätte ich ja gar nicht so viel zu essen machen brauchen...“ „Die Flossen waren dafür aber umso besser. Wenn auch etwas schwer im Abgang.“ Mikki kicherte kurz und wartete zögerlich mit ihrem Anliegen, während sie in die Ferne starrte, unwissend daran, wie sie fortfahren sollte. Sanft fuhr sie sich über die dünne Gänsehaut auf ihrer Hand, ausgelöst durch die erfrischende Windböe, die in diesen Höhen herrschte. „Nun sag schon, was du auf dem Herzen hast. Immerhin wolltest du mich ausgerechnet hier treffen.“ Ezras Worte holten sie wieder zurück aus der Ferne, in der sie sich verloren hatte und sie schaute den blonden Mann mit einer gewissen nostalgischen Sehnsucht in ihrem Blick an. Langsam griff sie in ihre umgebundene Dienstschürze und holte eine lange Stange hervor, um die ein Stück Stoff gewickelt wurde. Die Augen beschämt zu Boden gerichtet hielt die Elfin es ihm hin. „Eine...Zeichnung?“ „Eine Malerei! Ich habe sie von einem Künstler aus dem Drachenbezirk anfertigen lassen. Nun komm schon, sieh es dir bitte an.“ Ezra seufzte laut auf und öffnete die kunstvoll verschnürte Kordel. Eine Malerei, wie kitschig... Er hatte Mikki ja gern, aber manchmal war sie wirklich etwas zwanghaft. Und wahrscheinlich hatte sie einen großen Teil ihres Lohns dafür rausgeworfen. Langsam rollte er die Malerei auseinander, erwartete das Abbild einer leicht bekleideten Dame oder ein Stillleben, oder sonst etwas, was er als Dekoration in der Bar aufhängen konnte. Doch während sich vor ihm die fein geschwungenen Linien getrockneter Tinte in verschiedenen blassen Farben erschlossen, putzte sich allmählich der resignierte Ausdruck von seinem Gesicht und seine Brauen zogen sich zusammen. Auf dem Bild waren vier Personen abgebildet, zwei Männer und zwei Frauen, jeweils zwei zu einem Pärchen zusammengestellt. Die Frau beim ersten Pärchen war Mikki, die sich verliebt an einen jungen Elfen mit verschmitztem Gewinnerlächeln ankuschelte. Ezra war ebenfalls im Bild, starrte den Betrachter stumm und ernst an. Neben ihr, fast auf gleicher Höhe lehnte sich eine ebenso junge Elfin an ihn. Ihr langes schwarzes Haar, das nie zu enden scheinen wollte, schwang sich locker um ihren Körper, wie der Kimono den sie trug. Entgegen des festen Stands ihres Partners war ihre Haltung grazil geschwungen, ihre Konturen waren fein und aus einem Zug gezeichnet. Doch am meisten hing er an ihren Augen, dem milchigen Weiß, das selbst auf diesem flachen Bild ihn in eine unergründliche Tiefe zog. „Und? Gefällt es dir?“, fragte Mikki in sanftem Ton und legte den Kopf schief, doch ihr Meister schwieg. „Weißt du, ich hatte darauf gehofft, dass du es in dein Zimmer hängen würdest. Ich finde, es ist sehr gut geworden...“ „Süße, du weißt, dass nichts auf der Welt die beiden wieder zurückholen wird, oder?“, unterbrach Ezra die Elfin und schaute auf. Diese legte traurig die Ohren an und senkte den Blick wieder. „Entschuldige, Ez'... ich wollte keine Wunden aufreißen...“ „Nein, so meine ich das nicht. Es ist schön, wirklich. Ich habe nur Angst, dass du an meinen Plan die falschen Erwartungen knüpfst.“ „Ach, so sieht das also aus! Hälst du mich etwa für dumm?!“ Mikkalia riss den Kopf hoch und funkelte den Mann vor ihr beleidigt an. Die wenigen verbliebenen Gäste schauten teils sich gestört fühlend, teils interessiert in die Richtung der beiden und die stechenden Blicke blieben bei Ezra nicht eine Sekunde unbemerkt. „Beruhige dich doch... Die Leute gucken schon.“ Der Kommentar half, dass auch die Elfin der plötzlichen Aufmerksamkeit gewahr wurde und sich mit einer schnellen Verbeugung bei den Gästen für ihre Lautstärke entschuldigte. „Ich glaube, bei dir reißt dieses Bild doch viel eher Wunden auf, als bei mir, nicht wahr?“ Sie nickte kurz. „Vermisst du Eryn?“, fragte er und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Beinahe jeden Tag. Aber ich vermisse nicht nur ihn... Ich vermisse uns... Uns alle gemeinsam, verstehst du? Nur... wenn ich die guten Zeiten nicht festhalte, habe ich Angst, diese irgendwann zu vergessen.“ „Aber du kannst das Bild nicht behalten, weil es dir wehtut, nicht wahr?“ Mikki lachte kurz auf. Ihre Stimme war von der liebenswerten halbhohen Tonlage auf eine tiefere, ernste geschwungen, die Ezra manchmal etwas zu sehr an die Frau auf diesem Bild erinnerte. „Ist das selbstsüchtig von mir? Ein Bild malen zu lassen nur um es dann dir zu geben, weil ich es nicht ansehen kann?“ „Ein bisschen. Aber ich gebe zu, es ist gut. Nur du weißt, ich habe es nicht so mit Bildern an der Wand.“ „Wenn du es nicht magst, schmeiß es bitte nicht weg. Verwahr es einfach irgendwo, damit ich es mir wieder ansehen kann, in Ordnung?“ Ezra konnte sich in ihren Mandelaugen fast schon spiegeln, so dick saß der Wasserschimmer auf ihrer Iris, obwohl sie dennoch keinen einzigen Tropfen vergoss. Tief sog er die vom Dampf feuchte Luft ein und hielt das Minzaroma in seinem Kopf für einige Momente fest, bevor er es wieder den gleichen Weg nach draußen presste. Normalerweise konnte er gut mit Frauen, aber seit seiner Ankunft schien der Wurm drin zu sein und das wurmte ihn. Insbesondere bei seiner ältesten Freundin. „Versprochen. Ich verwahre es sicher.“ Dankbar stellte sich die Hausdame auf die Zehenspitzen und gab ihm einen kurzen Kuss auf die Wange, doch erschrak kurz, als sie sich wieder löste, griff nach ihrer Schürze mit beiden Fingern und setzte eine kurze Verbeugung in Richtung Tür an. Ezra schaute ebenfalls in die Richtung und bemerkte den alten Elfen sofort. Stumm verabschiedete er sich von Mikki und begab sich zu Gonovyn. „Nun machst du dich auch schon an deine Haushälterin ran?“, grummelte der alte Elf abwertend. Seine Pfeife versteckte er hinter dem Rücken, denn auf der elften Ebene war – anders als im Rest des Hauses – das Rauchen untersagt. „Was ich mit wem in meiner Freizeit tue geht dich einen feuchten Dreck an, Goro. Außerdem wäre es mir neu, dass dich meine Liebschaften interessieren. Sag mir lieber, ob du etwas für mich hast.“ Der Elf machte sich schon wieder bereit zum Gehen, sagte jedoch über seine Schulter. „Dein Mann heißt Saito Moji. Er hat heute Nachtwache und anscheinend darauf gehofft, vorher noch das große Geld zu machen, um sich vor dem Dienst zu drücken. Tja... ist dann wohl schief gelaufen. Des einen Freud des anderen Leid, nicht wahr?“ „Ist doch deine Lebenseinstellung, wenn ich mich nicht irre.“ „Moji wird am Eingang des Hungerkäfigs auf dich warten, wenn der Mond am höchsten steht“, erklärte der Elf weiter, ohne auf Ezras Bemerkung überhaupt einzugehen. Er wollte bereits die Ebene verlassen, doch dann drehte Gonovyn sich nochmal um und legte das gehässigste Grinsen an den Tag, das er aufbringen konnte. „Dann wünsche ich gutes Gelingen, Meister Hunter. Begeht besser keine Dummheiten, während Ihr dort seid. Aber wenn doch... keine Sorge, bis zum Todestrakt habt Ihr es dann ja nicht mehr weit.“ Kapitel 9: Nachtschleicher -------------------------- Severa konnte nicht schlafen. Die Knie ans Kinn gezogen saß sie in ihrem dünnen Nachtgewand in dem Türrahmen zum Balkon gelehnt und starrte in die milde Nacht, die übersättigt war von so unzähligen Lichtern der scheinbar immer wachen Stadt, dass das aus Lyn'A'Tishal bekannte Sternenmeer komplett einer mattschwarzen Decke gewichen war, sah man mal von einem langgezogenen Strich einzelner blinkender Sterne und den freudig strahlenden Monden ab. Obwohl der Herbst auch in Asteria Einzug gehalten hatte, war es hier so viel wärmer als in der Heimat und wäre der kühle Wind nicht, würde es sie auch in diesem knappen Outfit nicht einmal ein bisschen frösteln. In der Ferne hörte sie Rufe, Gesang und Gelächter untermischt mit klirrendem Glas, Pferdegeklapper und einem seltenem lautem Knallen, das dann und wann durch die Straße hallte und eine kurzzeitige Welle des Schweigens mit sich zog, bevor das Treiben weiterging, als wäre nichts Sonderbares geschehen. Und während sie so dasaß, die Stille in sich aufnahm und den Tag Revue passieren ließ, zog die Zwergin ein schmerzhaftes Fazit: Sie mochte diesen Ort nicht. Nein, vielmehr fürchtete sie sich vor ihm und seinen Bewohnern und wollte am liebsten umgehend wieder nach Hause. Auch wenn sie in der Heimat von allen Seiten verachtet wurde, so genoss sie zumindest eine gewisse Immunität. Hier jedoch – das hatte sie schmerzlich selbst erfahren – war Cirdans schützende Hand vollkommen nutzlos und der Tod an jeder Ecke lauernd, bereit ihr ans Leder zu gehen. Nicht aus Hass oder Verachtung oder Ideologie, sondern einfach, weil sie gerade zur Verfügung stand. Kein Wunder, dass selbst ein so zartes Pflänzchen wie diese Elfin Mikkalia immer einen kleinen Dolch mit sich führte. Und dann war da noch Cirdans Geschäftspartner... ganz gleich, wie sehr Ezra Sterlinson sie auch an jenem Abend im Anwesen fasziniert hatte, ganz gleich seiner Ausstrahlung und seines Charmes, die sicherlich nicht wenige Damen um den Verstand brachten, gerade jetzt hielt sie ihn von allen am gefährlichsten. Hinter seiner überfreundlichen Fassade versteckte sich ein kaltblütiger Mann, der anscheinend mit Freude andere zu Tode quälte... sie hatte es im Funkeln seiner azurblauen Augen klar erkennen können. Die Bilder des rostroten Flusses auf dem Rinnsal, das klägliche Heulen und das matte, gar unwirkliche Klatschen, das in ihren Ohren widerhallte, schossen wieder in ihren Kopf, liefen ihren Hals hinunter und pressten auf die Magengegend, bis ihr davon schwindelig wurde und Tränen in die Augen schossen. Es wäre fast das erste Mal geworden, dass sie jemandem beim Sterben zugesehen hätte – angsterfüllt, hilflos und ohnmächtig. Sie kippte zur Seite und bemerkte den immensen Druck in ihr, welchen sie schon seit ihrer Ankunft beim Fuchsbau vehement zurückhielt und nun wie ein eiserner Schläger auf ihr Gemüt hämmerte, sie dazu zwang, ihren Schutzpanzer abzureißen. Es war ein Schwall, der sich in ihr breit machte und sie konnte ihn nicht mehr länger unterdrücken... Sie musste dringendst aufs Klo. Aus der Nähe vernahm sie das langgezogenen Schnarchen ihres Herren, mit dem sie sich tatsächlich das Zimmer teilte – eine Premiere, denn obwohl sie oft zur Bespaßung in seinem Bett lag, eine Übernachtung im gleichen Zimmer war bisher unvorstellbar gewesen. Dennoch hatte der Elf darauf bestanden und eigentlich würde sie sich darüber freuen, doch gerade war dies beim besten Willen nicht möglich. Aber immerhin war er in der Nähe. Langsam schlich sie sich zu ihm und legte die Hände an seine unbedeckte Schulter, hielt jedoch einen Moment inne. Sollte sie es wirklich wagen, ihn zu wecken? Ihr Herr war den ganzen Tag schon ungehalten und hatte sie vorhin mit einer derartigen Leidenschaftslosigkeit zu einem Stelldichein gezwungen, das er selbst auch noch vorzeitig abbrach, um sich hinzulegen. Er war frustriert von der ganzen Situation, da konnte diese elfische Hausdame sich noch so viel Mühe geben – insbesondere, wenn selbst seine liebste Sklavin von der Bettkante gestoßen wurde. Und nur der Himmlische wusste, was passieren würde, wenn sie ihn nun weckte. Egal, sie musste raus und sie wollte nicht allein gehen. Zu sehr fürchtete sie sich vor dem Unbekannten. „Master...“, flüsterte sie leise und rüttelte den Elfen sanft. Keine Reaktion. „Master...“ Severa trat näher an ihn, hauchte ihm fast ins Ohr und festigte den Griff an seiner Schulter. Der Elf räkelte sich kurz genervt und schlug die vom Schlaf zugeklebten Augen auf. „Was?“, grummelte er und funkelte sein Freudenmädchen an. Erste Erkenntnis: Wecken war keine gute Idee. „I-ich“, stammelte sie unsicher und zuckte einen kleinen Schritt zurück. „Ich muss mal...“ „Dann geh doch...“, antwortete der Elf mit knarrender Stimme und drehte sich wieder um. „A-aber...“, wollte sie noch ansetzen, doch wurde umgehend unterbrochen, wobei der Elf keine Anstalten machte, sie auch nur anzusehen. „Sevvi, ich bin totmüde und genervt und im Allgemeinen äußerst angefressen, falls du es nicht gemerkt haben solltest! Für das Klo brauchst du weder meine Zustimmung noch meine Unterstützung! Also halt die Klappe und verschwinde! Was für ein Ärger. Und das von der, die mich eigentlich aufmuntern soll...“ Mit seinem zuletzt gefluchten Satz zog der Elf sich die Decke über den Kopf und ließ die Zwergin mit ihren Problemen zurück. Es war nicht so, dass Severa es nicht gewohnt war, angeschrien zu werden, doch genau in diesem Moment tat es ihr sehr weh, immerhin bat sie doch hilfesuchend um seinen Schutz. Warum verstand er das denn nicht? Ein zweites Grummeln ging durch ihr Becken. Es hatte keinen Zweck, wenn sie noch weiter zögerte, dann würde ihr noch ein Missgeschick passieren, was die Situation sicherlich nicht zum Besseren wenden würde. Langsam schlich sie los und tastete sich zur Tür, die in dem leeren Raum immerhin recht schnell zu finden war. Irgendwo musste sich doch noch eine dieser Papierlampen befinden, dachte sie noch und ergriff im letzten Moment den dünnen, geriffelten Stoff eben jener Lichtquelle. Wie hatte Mikki ihnen das noch einmal gezeigt? Einfach die obere Fläche antippen und entweder an Licht oder Finsternis denken? Vorsichtig legte sie den Finger daran und stellte sich vor, wie die Laterne aufhellte. Für einen Moment passierte nichts, dann jedoch flackerte ein schwaches Licht auf, viel stärker gedimmt, als sie es in Erinnerung hatte, aber hell genug, um den Konturen in nächster Nähe ein Gesicht zu geben und sich fortzubewegen, ohne über alles zu stolpern. Anders als ihr Master hatte sie das Prinzip der Papiermagie recht zügig verinnerlicht – eventuell auch, weil sie nie direkt mit den Kristallen von Lyn'A'Tishal in Berührung gekommen war – dennoch bedurfte es bestimmt einer nicht zu unterschätzenden Menge an Übung, bis man sie wirklich beherrschte. Noch einmal atmete sie tief durch, schob dann die hölzerne Tür zur Seite und trat auf den leeren Flur. Nach links und rechts erstreckte sich ein schier endloser Gang, dessen Finsternis alle Abzweigungen verschluckte und die Beklommenheit der Zwergin nur noch weiter verstärkte, denn viel mehr, als das vor dem Abgrund des Treppenhauses schützende Geländer und die Wände aus Holz und Papier sah sie nun wirklich nicht. Sie wusste, dass sie nach links gehen, dann die offenen Holzstufen nach unten bis zur sechsten Ebene hinabsteigen und ab da der Beschilderung zu den Latrinen folgen musste. „Ist an sich ganz gut zu finden“, hatte Mikki dazu gesagt... Sie hatte jedoch nicht erwähnt, dass man sich bis zum Erreichen des Stillen Örtchens mehrmals in die Hose gemacht hatte! Hier im Treppenhaus, dem durch unzählige Brücken und Stege verschlungene Zentrum des Fuchsbaus, wo noch wenige Stunden zuvor ein lautes Durcheinander die Hallen dominiert hatte, herrschte nun eine geradezu gespenstische Stille, die jedes Knarren der Dielen über unzählige Etagen hinweg widerhallen ließ, wie das gequälte Stöhnen verlorener Seelen, die ziellos umherwanderten, einsam darauf wartend, jemanden anzufallen. Und mehr noch wurde die Zwergin das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden, neugierig lauernd angestarrt... und es war definitiv kein Mensch oder Elf. Nein, dieses Wesen – wenn es das denn gab – musste etwas Wildes sein, etwas allzu Fremdländisches und je länger sie darüber nachdachte, bildete sie sich ein, ein Kratzen und Schaben über sich zu fühlen, gefolgt von einem seltsam angenehmen Geruch, der so überhaupt nicht zu der Bedrohung passen wollte. „Reiß dich zusammen, das ist nur deine Fantasie! Sorge einfach dafür, dass du schnell fertig und wieder im Bett bist“, ermahnte sich Severa zähneknirschend und huschte schnell aber bedacht die Etagen hinab, ignorierte, was links oder rechts von ihr passierte – wenn denn überhaupt was passierte, denn alles was sich an den Seiten abspielte, war tiefe Finsternis. Dennoch konnte sie sich nicht dem Gefühl erwehren, dass ihr etwas auf den Fersen war. Nichts sah sie, nichts, das sie angreifen würde, aber leider auch nicht die gewünschte Beschilderung. Verflucht, wo waren denn nur die rettenden Latrinen?! Hatte sie sich in ihrer Flucht jetzt auch noch verzählt und war in einem komplett anderen Stockwerk rausgekommen? „Mist Mist Mist Mist Mist!“ Panisch wirbelte sie zu allen Seiten, unsicher, was sie nun tun sollte. Sie brauchte das rettende Schild, irgendwo musste es doch sein! Was für eine dämliche Idee, überhaupt nur auf der passenden Ebene Wegweiser aufzustellen! „Moment...“ Severa hielt kurz inne. „Im Erdgeschoss gibt es doch auch noch einen Abort. Dann gehe ich dorthin.“ Schnell fand sie die Treppen wieder und stolperte hastig die knarzigen Stufen hinab, denn langsam wurde es wirklich allerhöchste Eisenbahn. Ein paar Mal rutschte sie über die Kante, schaffte es aber immer, den Sturz knapp abzuwenden, bis sie endlich den festen Steinboden der ersten Ebene unter ihren Füßen spürte. Und endlich zeigte sich auch das rettende Örtchen, in geschwungenen Zeichen für Frauen und Männer getrennt. Schnell trat die Zwergin durch die Tür, suchte sich die erstbeste Kabine und ließ der Erleichterung freien Lauf. Müde kippte ihr Kopf nach vorne, legte sich in ihre Handflächen, während sie sich auf die Oberschenkel stützte. Wie viele Jahre ist es wohl her, dass ein einfacher Stuhlgang so nervenaufreibend für sie war? Jedoch hatte sie wenigstens in diesem Moment noch einmal die Chance, nachzudenken... in Ruhe, ohne Druck auf der Blase... Gerade allerdings ging ihr eines besonders nicht aus dem Kopf: Wie Cirdan sie angefahren hatte. Es wurde ihr bewusst, dass der Elf sich schon den ganzen Tag, seit der Geiselnahme, ablehnend ihr gegenüber verhielt; wie Ballast, den er mitnehmen musste, nicht weil sie nötig war, sondern weil es sich geziemte sie mitzunehmen. Wie ein leidiges zweites Schuhpaar, von dem man ganz genau wusste, dass man es nicht tragen würde. Sie musste mit, weil man sie allein zuhause wohl gelyncht hätte, nicht weil Cirdan es wirklich wollte, sondern weil er sich in der Verantwortung sah, sie zu beschützen. Letzten Endes blieb sie nur eine minderwertige Sklavin, die für nicht mehr gut war, als die Beine breit zu machen, auch in den Augen ihres Masters... Lieblingssklavin war anscheinend auch nur eine bedeutungslose Floskel, die man mal so dahinsagte, wenn einem danach war. Missmutig stand sie auf und kippte etwas Wasser in die Öffnung aus einem dafür bereitstehenden Eimer. Dann verließ sie die Kabine, wusch sich kurz über Hände und Gesicht aus einem kalten Becken, und rieb sich etwas mit dem Stück Seife ein, das direkt daneben platziert war. Den Raum erfüllte umgehend ein intensiver, süßlich-frischer Duft, den sie nicht von Seifen aus Lyn'A'Tischal kannte. Es roch nicht parfümiert, sondern eher, als habe man frische Früchte und Kräuter in die Seife hineingearbeitet. Fester umschloss sie die Seife, ließ die glatte Oberfläche durch ihre rutschigen Finger gleiten und konzentrierte sich auf die unterschiedlichen Akzente in der Luft, eine Kombination aus fremden und vertrauten Gerüchen, die jedoch so eng miteinander verschachtelt waren, dass sie keinen einzigen wirklich klar herauslesen konnte. Ihre Gedanken verloren sich an die Glücksgefühle ihrer befriedeten Neugierde, als sie Shiros Ohren anfasste, durch die weichen Haare strich. Dann jedoch wurde das Bild gestört, unterbrochen von aufflackernden Blutschwaden und schmerzhaftem Geheul, untermischt mit dem eisigen Gefühl der Todesangst, das das Blut in den Adern gefrieren ließ. Schlagartig riss die Zwergin die Augen wieder auf und warf die Seife panisch von sich, als würde eine giftige Substanz austreten. Etwas drehte ihren Magen auf links und zwang sie in die Knie, presste allen Unmut so stark heraus, dass ihr ein paar dicke Tränen aus den matschgrünen Augen kullerten und sie wimmernd vor dem Waschbecken zusammenbrach. Sie wollte nach Hause. Einfach nur noch heim, weg von dieser boshaften Welt. Was wollte Cirdan überhaupt hier? Die Geschäfte liefen schlecht, ja, aber... es ging ihnen doch gut! Severa las ihm jeden Wunsch von den Augen ab und wurde dafür aus der Ferne vergöttert, mehr brauchte es doch nicht! Seit sie hier waren, lief alles mit jedem Moment nur noch schlimmer, in einer immer steiler werdenden Spirale hinab Richtung Katastrophe, das spürte sie genau. Asteria tat ihnen nicht gut... Ezra Sterlinson tat ihnen nicht gut! Eine ganze Weile lag sie so da und atmete tief durch, starrte ins dämmrige Nichts, bis sie ein lautes Rumoren vor der Tür hörte, zusammen mit schweren Schritten. Stimmen waren zu hören. Ruckartig richtete sie sich auf und glättete ihr Nachthemd, wollte schon die Tür aufschieben, da hielt sie aber einen Moment inne. Wer außer ihr würde sich denn mitten in der Nacht hier herumtreiben? Sie löschte die Laterne, stemmte sich mit aller Kraft gegen die Tür, damit sie niemand öffnen konnte, und lauschte gebannt. Zwei Männerstimmen konnte sie vernehmen, beide recht vertraut. „Ich bitte Euch, lasst mich gehen“, meinte die erste, mit einem eindringlichen, gar besorgten Unterton, auch wenn ihr Besitzer alles dafür tat, dies zu verbergen und möglichst neutral zu wirken. Sie gehörte dem weißhaarigen Fuchsmenschen von heute morgen. „Schlaft Euch aus, Ihr werdet die Kraft morgen brauchen. Ihr seht so aus, als hättet Ihr schon tagelang kein Auge mehr richtig zugekriegt.“ „Shiro, ich stehe vor einem Haufen Scherben, habe nichts in der Hand um diese aufzukehren und mindestens vier Paar Augen im Rücken, die mir aktuell genaustens auf die Finger gucken. Da werde ich sowieso nicht schlafen können und untätiges Warten ist so ziemlich das Widerlichste auf der Welt. Sogar noch vor eingelegter Rinderzunge und die ist ja schon wirklich grenzwertig..“ Die zweite Stimme war Sterlinsons, keine Frage. Was wollte er denn noch so spät hier draußen? Es klang, als habe er noch etwas vor... Fester presste sich Severa an die Tür, als könne sie das Gespräch so besser hören. „Die ganze Situation wird nicht besser, wenn ihr übermüdet eine Frau besuchen werdet, die jedem Mann ohne weiteres den Kopf verdrehen kann – auch Euren. Ich will nicht, dass sie Euch zu Dingen überredet, die uns noch weiter in Gefahr bringen.“ „Nun unterschätzt du aber gerade Belles Vernunft. Nichts auf der Welt ist umsonst, auch Informationen nicht, aber sie sollte realistisch genug denken können, dass ein Ausbruch aktuell keine Option ist. Und so schnell wird man sie schon nicht hinrichten, wenn sich der Palast mitten in den Vorbereitungen für Fräulein Nomizons Vermählung befindet. Ich werde sehen, was sie verlangt und was sie mir anbieten kann.“ „...Und was, wenn sie Euch doch verführt? Bei mir könnte sie das nicht machen.“ „Shiro, du weißt, ich liebe dich und vertraue dir blind. Aber in diesem Moment muss ich das allein tun. Ich habe Lord vei Brith nach Asteria geführt und musste dafür einen Haufen Zusagen machen.“ „Verstehe“, antwortete der Fuchsmann nach einigem Zögern. „Was verstehst du?“ „Ich verstehe, dass ich Verantwortung für mein Versagen übernehmen und Euer Vertrauen erst wieder zurückgewinnen muss. Daher bitte ich Euch lasst mich, meinen Wert bewei-“ Shiro unterbrach plötzlich seinen Satz für einen Moment der Stille. Für einen Moment blieb Severa in einer unwirklichen Finsternis zurück, die sie fast daran zweifeln ließ, ob das hier wirklich passiert war. „Welchen Wert willst du denn beweisen?“, fragte Ezra. Seine Stimme war viel ruhiger als zuvor, fast schon sanftmütig und die Zwergin musste sich große Mühe geben, ihn überhaupt zu verstehen. „Du bist unbezahlbar, das weißt du doch. Und jetzt hör auf, dir Vorwürfe für den Überfall zu machen. Niemand hätte das vorhersehen können... Du willst Sunnys Tod rächen, nicht wahr? Ich weiß, der Kleine hatte es dir angetan.“ „Ja, Meister...“ „Dann werde ich dir auch die Möglichkeit dazu geben, aber vorher musst du mich tun lassen, was ich tun muss. Die ganze Geschichte war jetzt schon viel teurer als geplant. Ich akzeptiere nicht, nun wegen einem kleinen Vorfall zu versagen.“ „Dann reißt Euch mal besser am Riemen. Eine Schlägerei wie heute morgen hat das Vertrauen in Euch nicht verstärkt... Immerhin benutzt Ihr diesen Elfen doch nur, oder?“ Benutzen? Severa wurde hellhörig, drückte sich so fest gegen das kühle Holz, dass sie wohl gleich die Tür aus ihren Angeln reißen würde und spitzte die Ohren noch ein bisschen mehr, auf dass sie keinen Satz verpassen würde. Nichts anderes um sie herum, außer dem Gespräch auf der anderen Seite der Tür nahm sie noch wahr. Warum sie das tat, war ihr selbst nicht gänzlich bewusst. Vielleicht konnte sie durch spionieren ihrem Master beweisen, dass sie doch noch einen anderen Wert besaß, als nur zur Befriedigung. Ezra lachte kurz auf, bevor er seinem Adjutanten antwortete. „Wir benutzen doch alle einander, oder sehe ich das verkehrt? Ich brauche ihn genauso wie er mich benötigt. Ich werde ihn weder ausrauben noch übers Ohr hauen. Er wird das kriegen, was er verlangt, nämlich einen Ausweg aus seinen Schulden. Und ich werde kriegen, was ich will...“ „Vorausgesetzt, die Kristallfusion funktioniert.“ „Da mach dir mal keine Sorgen. Ich hätte nicht Haus und Hof aufs Spiel gesetzt, wenn ich nicht daran glauben würde, dass die Fusion mehr als nur ein Gerücht sei, zumal wir dies bereits in Lyn'A'Tishal testen konnten.“ „Also bleibt nur die Frage, ob wir ad hoc eine Ersatzquelle für Asterid finden? Was ist, wenn das schiefgeht?“ „Dann trage ich die Konsequenzen dafür, war schließlich alles meine Idee. Aber das geht dann nur mich was an, nicht euch oder den Schwarzen Tisch. Darf ich dich nur für den Fall der Fälle um etwas bitten?“ „Was?“ „Wenn alle Stricke reißen, schnappst du dir Mikki und verlässt mit ihr die Stadt. Flieht irgendwo hin, wo man euch nicht kennt.“ „Meister, das kann ich nicht...“ „Du kannst und wirst! Und hör endlich auf, mich Meister zu nennen, wenn wir unter uns sind...“ Severa löste sich von der Tür. Sie hatte nicht alles verstanden, aber eindeutig genug gehört. Wie es schien, stand es um Sterlinson schlecht und er konnte ihrem Herrn gar nicht die mächtigen Zauberkristalle zeigen, die er wollte. Was bedeutete, dass sie vollkommen umsonst nach Asteria gekommen waren. Die Zwergin knirschte mit den Zähnen ob jener Erkenntnis. Innerlich hoffte sie, Cirdan würde diesem Hochstapler die Leviten lesen, ihn denunzieren und dann umgehend kehrt machen. Eigentlich kam sie ihr doch entgegen, diese Wendung, aber es machte sie wütend, dass ihr Herr solchen Ärger hatte und den an ihr ausbadete. Da bemerkte sie es: Ein Schnauben, aufgeregt und kurzatmig genau hinter ihr, gepaart mit dem brennenden Stich eines Blickes, der jeden ihrer Schritte dokumentierte, geradezu in ihre Seele hineinstarrte. Es war ein ähnliches Gefühl, wie sie kurz zuvor hatte, diesmal jedoch so unheimlich nah, dass sie es nicht mehr als Illusion abtun konnte. Etwas war hinter ihr und es war eindeutig keine Person. Das kleine Herz der Zwergin wummerte tief und laut in ihrem Kopf wieder und schnürte ihr in seiner Raserei die Luft ab. Langsam, ganz vorsichtig bückte sie sich nach der Laterne zu ihren Füßen, deren Schein in ihren zitternden Händen die langen Schatten zum Tanzen brachten. Das Wesen kam ihr nicht näher, doch sie bemerkte ganz eindeutig die Anspannung in diesem Raum und dass das Tier nicht eine Sekunde zögern würde, sie anzugreifen, wenn sie nur eine falsche Bewegung machte. Eigentlich sollte sie die Tür greifen und sich einfach aus dem Zimmer bewegen, doch ein Impuls der Neugier zwang sie zu etwas, das sie definitiv nicht tun wollte; Stück für Stück drehte sie sich um, offenbarte wieder Teile des Raumes, denen sie besser den Rücken zudrehen wollte, doch ihre Füße gehorchten ihr nicht mehr. Schneller wurden die Atemstöße aus ihrem Mund, passten sich dem wilden Keuchen in ihrem Intervall immer weiter an, bis beide zu einer Masse verschwammen und sie einen Blick auf das Untier werfen konnte. Ihr Atem stockte: Zwei leere Onyxe starrten ihr direkt in die Augen, umgeben von einem pelzigen, rußfarbenen Gesicht, das zu je einer Hälfte einer Katze und einem Bären gehören musste und aus dessen schief grinsenden Maul ein paar spitze weiße Zacken und ein blutroter Lappen hervortraten. Der Rest des pechschwarzen Monsters war im Zwielicht kaum zu sehen, doch das schummrige Licht offenbarte eine Reihe gewaltiger Klauen, angewachsen an einen gar riesigen Körper aus filzigem Fell dessen Ende sich irgendwo in der Unendlichkeit befand. Geräuschlos ging die Papierlaterne zu Boden. Mit einem spitzen Schrei wirbelte Severa herum und riss die Tür auf, hechtete nach vorne, stolperte fast über die Schwelle und rannte zu den Treppen. In einem Mix aus Kratzen, Keuchen und Rascheln verfolgte die Bestie sie umgehend, blieb ihr fest auf den Fersen. Einen Sprung machend kämpfte sie sich die Stufen nach oben, nahm mehrere gleichzeitig, was mit ihren kurzen Beinen kaum möglich war, erwischte die nächste Kante immer knapper... bis das kam, was kommen musste: kurz auf der ersten Ebene angekommen, rutschte sie mit den Zehenspitzen ab, stürzte Bäuchlings auf die Stufen. Die spitzen Ecken pressten sich in ihre Haut und sendeten kleine Impulse dumpfen Schmerzes in ihren Kopf. Dann rutschte sie noch weiter, bekam die nächste Stufe nicht mehr zu greifen, versuchte mit dem linken Fuß an der unteren zu stoppen, doch verdrehte ihn dabei so stark, dass ein weiterer atemraubender Impuls durch ihren Körper schoss. Die Zwergin rutschte zur Seite und kullerte die restlichen Stufen hinab, direkt an dem Monster vorbei, während zahllose dumpfe Schläge auf sie einprasselten. Instinktiv rollte sie sich zusammen, versuchte ihren Kopf und ihren Oberkörper zu schützen, doch zog sich dafür zahllose Blessuren an ihren Armen und Beinen ein, bevor sie wieder auf dem kalten Steinboden zu liegen kam. Ihr Körper fühlte sich an wie von einer Kutsche überrollt und der taube Schmerz aus ihrem Fuß legte ihr noch immer eine feste Schlinge um den Hals, dass jeder Atemzug zu einem Kampf wurde. Für einen Moment blieb es totenstill um sie herum, nur ein dumpfes Rufen in der Ferne nahm sie war. Sie fühlte sich wie in einem ihrer Albträume, umringt von anderen Zwergen und Elfen, grün und blau geprügelt, kurz vor dem Moment, dass tausende Hände nach ihren Kleidern griffen und sie ihr vom Leib rissen. Normalerweise wurde sie spätestens dann wach... vielleicht... vielleicht war all das ja auch nur ein Traum... dann sollte sie doch jetzt wieder aufwachen, oder? Zur Antwort spürte sie den kalten, feuchten Atem der Bestie über ihr. Die Schnauze versenkte sich in ihrem Körper, tastete jede Stelle ihres Körpers ab, während die Barthaare über sie strichen. „Nein, das ist nicht real!“, redete sie sich ein. „Das ist nur ein Traum! Ein böser, böser Traum!“ Das Maul des Tieres richtete sich über sie, verströmte seinen feucht-warmen Atem, aromatisiert vom betäubendem Geruch des Todes, bevor seine raue Zunge in langen Bahnen über ihre Hände fuhr. „Geht weg!“, schrie sie und vergrub ihr Gesicht tiefer in der Armbeuge, kniff die Augen fester zusammen. „Verschwindet! Lasst mich in Ruhe!“ Die Zähne aufeinander pressend und das Gesicht von Tränen ertränkt, erwartete Severa bereits, wie das messerscharfe Gebiss sich in ihrem Fleisch vergrub, doch da bemerkte sie, wie das Gewicht auf ihr verschwand und die Zunge sich von ihr löste. Stattdessen griff eine warme Hand nach ihr und schüttelte sie. „Miss Severa! Geht es Euch gut?!“ Langsam wurde die dumpfe Stimme deutlicher und die Zwergin öffnete die Augen. Statt des Atems hing nun ein kratziger Tabakduft in der Luft und als sie nach oben sah, erkannte sie sofort den blonden Mann mit der Zigarette im Mundwinkel, welcher sich gerade über sie beugte. Wie mechanisch ließ sie sich von Ezra aufhelfen, aus dem gekrümmten Zustand in eine sitzende Position. Jedes Glied zitterte wie Espenlaub und unter ihrer Haut fühlte sich alles eiskalt an, als wäre der Umgebung plötzlich alle Wärme entzogen worden. Ein schwindelerregender Schleier der Apathie umgab sie, in derer sie auf Ezras Worte kaum reagieren konnte oder wollte. „Honigtopf muss sie ja ganz schön verängstigt haben... die Ärmste ist vollkommen weggetreten... und anscheinend hat sie sich bei dem Sturz auch noch den Fuß verletzt...“ „Dieser Vorfall bessert unsere Situation in keinster Weise“, murmelte Shiro und steckte scheinbar seine Waffe weg, dem metallischen Scharren nach zu urteilen. „Wem sagst du das... Aber das hat nun kleinere Priorität. Miss Severa muss erstmal versorgt werden.“ Mit einem kräftigen Ruck wurde die Zwergin hochgehievt und lehnte nun an der Brust des Menschen, den sie noch wenige Augenblicke zuvor so verabscheut hatte. Doch gerade hatte seine Anwesenheit etwas so beruhigend Vertrautes an sich, wie eine Zuflucht vor all dem Schrecklichen in dieser Welt... fast so wie bei Master Cirdan. „Und was wird aus Meisterin Renarchasse?“ Mit der verletzten Dame in Nöten auf seinem Arm, drehte Ezra sich zu Shiro. Aus ihren Augenwinkeln erkannte sie Teile des weißen Fells, schimmernd im Schein ihrer Laternen. „Planänderung. Gehe du zu Belle“, murmelte Sterlinson und drückte die Zwergin noch fester an sich. Der strenge Tabak hatte sich in seinen Textilien mit einem wohlriechend herben Parfum vermischt, eine Duftkombination, die wohl den eigensinnigen Charme ihres Trägers unterstreichen sollte. Noch einmal atmete er durch, dann fügte er für seinen Untergebenen hinzu: „Versuche, alle notwendigen Informationen herauszubekommen, die sie hat. Namen, Orte, Ressourcen. Sie empfängt keine Besucher und die Wachen werden nicht viel mit ihr reden, also erwarte ich schon fast, dass sie den ein oder anderen Redebedarf haben wird.“ „Verstanden. Was darf ich ihr anbieten?“, antwortete der Fuchsmensch in straffem Ton. „Was sie will und wir liefern können. Nicht weniger, aber ganz sicher auch nicht mehr. Belle darf meinetwegen ruhig das Gefühl haben, dass sie uns ein wenig über den Tisch zieht, aber wir stellen ihr keinen Blankoscheck aus. Vor allen Dingen lässt du dich nicht zu ihrem Lakai machen. Du gehst nicht auf eigene Faust los und bringst dich nicht für sie in Gefahr. Ihre Forderungen werden erst mit mir besprochen. Wenn sie unter diesen Bedingungen nicht kooperieren will, dann ist das halt so. Ich erwarte deine Rückkehr noch bevor die Sonne am Horizont erscheint. Ist das soweit angekommen?“ „Laut und deutlich, Meister Hunter.“ „Dann geh. Ich kümmere mich solange um meinen Gast...“ Severa bemerkte jede Stufe in ihren Knochen, während Ezra schnell die Treppe hinaufstieg. Trotz aller Finsternis um sie herum konnte sie genaustens zählen, in welcher Etage sie sich gerade befanden. Der Mann beendete den Aufstieg in der zwölften – was bedeutete, dass er sie nicht sofort zu Cirdan brachte. Würde er sie nun zur Verschwiegenheit ermahnen, gar bedrohen, oder galt es nur zur Versorgung ihrer Wunden? Oder hatte er vielleicht noch ganz andere Dinge mit ihr vor? Gerade in diesem Moment konnte sie sich jede Möglichkeit ausmalen. Die Zwergin hatte in ihrem 120-jährigen Leben unzählige Blicke unterschiedlichster Intention ertragen und wusste daher von der ersten Sekunde an, worauf die blauen Augen des Menschen bei ihr starrten. Und so sehr sie sich auch fürchtete, so sehr konnte sie jedoch auch nicht die Anziehung für ihn verleugnen, die in diesem Moment nur allzu deutlich in den Vordergrund trat. Vielleicht spielte ihr aber auch nur das Adrenalin in ihrem Kopf einen Streich. Noch während sie darüber nachdachte, legte Ezra sie auf ein weiches Bett und verließ mit einem „Wartet kurz, ich bin gleich wieder da“ das Zimmer, wobei die Zwergin aktuell sowieso keinerlei Anstalten machen konnte, zu gehen. Der Raum war äußerst geräumig, wenn auch nur simpel und geradezu schmucklos eingerichtet: Nebst dem Bett, das sie sehr an all jene zuhause erinnerte, fand sich noch ein Schreibtisch mit Laterne und einem Haufen unzähliger Dokumente darauf, eine Zimmerpflanze, die ein wenig wie ein Miniaturbaum aussah und ein großer hölzerner Kleiderschrank – ähnlich dessen, den sie aus Cirdans Schlafzimmer kannte. Im Allgemeinen erkannte sie nur allzu deutlich den tischaler Stil, der ansonstenso dominant in Shinju gar nicht vorhanden war und damit war auch klar, wer hier für gewöhnlich hauste. Das war also Sterlinsons Gemach. Erstaunlich aufgeräumt, meinte sie noch in Gedanken, da fiel ihr eine kleine Rolle auf dem Nachttischchen neben ihr auf. Das versiegelte Band war entknotet worden und sie erkannte an dem leicht geöffneten Stück, dass es eine Zeichnung sein musste, zumindest machten die geschwungenen Formen diesen Eindruck. Auch wenn sie sich heute als äußerst schädlich herausgestellt hatte, so packte sie ihre Neugierde ein weiteres Mal am Schopfe und führte ihre Finger zu der Rolle. Doch gerade, als sie sich danach strecken wollte, zuckte sie zurück, denn das Rascheln vor ihr klang doch schwer nach Ezras Rückkehr. Er trug ein kleines Tablett, worauf sich ein Schälchen und diverse Tinkturen befanden. „Zeigt mir mal Euren Fuß her“, murmelte er, während er sich zu ihr setzte und ein Tuch mit Flüssigkeit aus einer der Flaschen zu tränken begann. Die Zwergin zögerte... sie wollte noch nicht so recht glauben, dass von ihm keine Gefahr ausging, zu groß saß der Schock. „Nun stellt Euch nicht so an. Ich werde Euch schon nichts tun“, sprach er daraufhin mit einer unüberhörbaren Ungeduld im Ton, griff nach dem vorsichtig vorgestreckten Bein und zog ein wenig daran, was mit rasender Geschwindigkeit einen stechenden Impuls in ihren Kopf schießen ließ, der ihr die Luft erneut abschnitt. Severa biss die Zähne zusammen, doch ließ den Mann in Ruhe das kühlende Tuch auf ihr Bein legen und verbinden. Das Mittel zog sofort ein und linderte den drückenden Schmerz. „Das ist ein altes Hausmittel. Es lockert das Gewebe und streckt die Muskulatur wieder, während es zugleich den Reiz unterdrückt. Ihr werdet wohl gleich wieder halbwegs normal laufen können. Die vollständige Heilung der Verstauchung wird aber ein wenig dauern. Ich sage morgen früh Mikki Bescheid, sie soll einmal am Tag den Verband erneuern.“ „Danke...“, flüsterte Severa so still, dass der Mensch ihre Worte wahrscheinlich nur erahnen konnte. Ihr war es nicht gestattet, sich ausladend mit Fremden zu unterhalten und Cirdan hatte sie noch ausdrücklich um Distanz zu Ezra ermahnt. Und dennoch saß sie – ein Freudenmädchen – nun hier auf seinem Bett und ließ sich von ihm anfassen und nach Kräutern und Alkohol riechende Paste auf ihre blauen Flecken auftragen. Und ihr entging nicht, wie lüstern der Mensch über ihre Haut strich, auch wenn er sich äußerlich nichts anmerken ließ. „Nicht dafür, Miss Severa. Das ist das Mindeste was ich gerade tun kann und außerdem hatte ich noch gar nicht die Chance, mich auch bei Euch für die Ereignisse zu entschuldigen. Im Übrigen...“ Er griff nach der Schublade seines Nachttischs und kramte ein schneeweißes mit Spitze besetztes Stück aus glänzender Seide hervor. „Ich denke, das gehört Euch. Das hattet ihr wohl bei Tetsuros Angriff verloren.“ Severa erkannte sofort ihr Taschentuch und griff danach. Es war frisch gewaschen worden, dennoch hatte sich ein Teil des Duftes des Blonden Mannes umgehend daran geheftet. „Es lag im Schmutz, deswegen wurde es einmal gereinigt. Leider hatte sich vorher noch keine Möglichkeit ergeben, Euch das Tuch diskret wiederzugeben. Aber jetzt habt ihr es ja wieder.“ Severa nickte kurz und drückte das Tuch fest an sich. Eigentlich hatte es keinerlei Wert, sie führte normalerweise noch weitere stets bei sich, aber Cirdan hatte sie belehrt, stets Dankbarkeit zu heucheln, selbst wenn die Geste unbedeutend war und sie wollte ihre gute Schule nicht vergessen. Ezra schaute sie einen Moment an tastete mit seinen Augen jeden Zoll ab, und lächelte mild, bevor seine Lippen etwas unverständliches formten. „W-was?“ „Ich wollte sagen, bitte entschuldigt auch, dass Honigtopf Euch solche Angst eingejagt hat“, korrigierte er und drehte sich von ihr weg. Auch wenn die Zwergin sein Hauchen nicht vernommen hatte, aber es war definitv nicht das, was er nun gesagt hatte. „Das ist eigentlich nicht seine Art, aber er muss wohl aktuell nicht viel Auslauf bekommen haben. Eigentlich wollte er Euch nur begrüßen.“ „H-honigtopf?“, wiederholte die Zwergin und legte den Kopf schief. Sprach Sterlinson etwa von diesem Ungetüm? „Der Schattenschleicher, der Euch so überrumpelt hatte.“ Er sprach definitiv davon! Schattenschleicher... die Bezeichnung sprach doch schon Bände. Warum gab man einer Bestie denn dann so einen harmlosen Namen, wollte sie noch fragen, doch da setzte ihre Stimme aus, denn geradeaus erkannte sie, durch den Spalt der Tür starrend eben jene leeren Augen. Wieder einmal zog sich alles in ihr zusammen. Fester presste sie sich gegen das Kopfende des Bettes und hielt den Atem an, als würden die wenigen Zoll zusätzlichen Platz irgendetwas an der Situation ändern. Auch Ezra bemerkte den ungebetenen Gast, doch machte keine Anstalten ihn wegzuscheuchen. Stattdessen stand er auf, schob die Tür komplett auf und schaute das Tier erwartungsvoll an. Und es starrte zurück. Sehr lang. „Was ist denn nun?“, fragte er und hob die Hände genervt. „Raus oder rein, aber entscheide dich mal.“ Langsam kroch das Wesen hinein, zog seine Bahnen im Zickzack über den Boden, fast wie eine pelzige Schlange. Im Schein des Lichtes konnte Severa es zum ersten Mal richtig in Augenschein nehmen und musste erkennen: von dem angsteinflößenden Ersteindruck blieb nicht mehr viel übrig. Sicherlich, das eigenartige Wesen, was scheinbar eine Mischung aus Katze, Bär und Hund darstellte, war mit seinen gut und gern fünfeinhalb Fuß alles andere als klein – sein schmaler, zugleich aber recht buschiger Schweif verdoppelte diese Länge sogar nochmal. Doch Gebiss und Klauen waren auch nicht viel beeindruckender als bei anderen Raubtieren, die Zunge schien weniger blutrot sondern eher wie ein sehr dunkles Rosa und die dunklen Knopfaugen schauten so desinteressiert in der Gegend herum, dass man das Gefühl bekam, es würde schlafwandeln. Einzig seltsam blieb die Tatsache, dass es nicht auf vier Beinen lief – sondern auf sechs. „Darf ich vorstellen: Honigtopf. Unser...“, Ezra hielt kurz inne und kraulte den Kopf des sonderbaren Tiers, das dies sichtlich genoss und dankbar schnaubte. „Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was Honigtopfs Aufgabe hier ist. Außer herumzuwuseln und unsere Mülleimer zu plündern.“ „Was ist das?“, rutschte es Severa raus. „Das ist ein Schattenschleicher. Ein in Ost-Asteria sehr verbreiteter Jäger. Er ist in der Dämmerung und in der Nacht am aktivsten und nutzt seine wendige Gestalt, um sich mit den Schatten zu bewegen. Daher der Name, auch wenn man sie genauso gut 'schlafraubende Bettvorleger' hätte nennen können, nicht wahr, du alter Chaot?“ Mit dem letzten Satz griff er tiefer ins filzige Fell und verwuschelte das Haupthaar, was Honigtopf zwar sichtlich genervt aber still ertragend zur Kenntnis nahm, wodurch auch in Severa langsam die Furcht abflaute und sie sich traute, näher an den Schattenschleicher heranzutreten. „Ist er... gefährlich?“ „Naja, die Tiere wissen sich schon zu wehren und ihre Zähne sind scharf genug, um bei einem Biss nicht unerhebliche Wunden zu hinterlassen. Aber keine Sorge: Schattenschleicher jagen nur Vögel und kleinere Tiere. Sie greifen niemanden mit Charakter an. Wahrscheinlich hat sich Honigtopf nur für euch wegen eures Duftes so interessiert.“ „Meines... Duftes?“ „Eure Hände riechen fruchtig-süß von der Seife und er hat eine Vorliebe für alles Süße in der Welt. Insbesondere Honig – wer hätte es gedacht – aber Vanille steht bei ihm auch hoch im Kurs.“ Umgehend spürte die Zwergin die Hitze in ihre Wangen schießen. Dass ein wildes Tier Düfte wahrnahm, die sie selbst nicht riechen konnte, war nicht weiter verwunderlich, aber wie nah musste Ezra ihr gekommen sein, um die Seife zu bemerken. Und vor allen Dingen, wann? Sterlinson selbst schien ihre Scham nicht zu bemerken und griff stattdessen sanft nach ihrem Arm. „Versucht es mal. Er ist ganz brav...“, säuselte er und führte sie langsam zu dem dunklen Schopf – ihr entging es nicht, dass seine andere Hand dabei langsam aber stetig in Richtung ihres Hinterns rutschte. Doch all das bemerkte sie gerade nur rudimentär, denn die Nähe ihrer Hand zu dem Untier bedurfte ihre ganze Aufmerksamkeit, ließ sie in einen Tunnelblick gleiten, aus dem sie sich nicht befreien konnte. In Honigtopfs leerem Blick sah sie ihr eigenes Spiegelbild, strudelförmig nach ihr streckend, je näher sie der kühlen Schnauze kam. Einen Moment noch zögerte sie, dann aber legte sie die Handfläche auf dem Kopf und kraulte das trockene Fell. Der Schattenschleicher ließ sich das sichtlich gefallen und drückte die Winkel seines Mauls so weit nach oben, dass die Zähne wieder zum Vorschein kamen. Ein braver Junge war er durchaus. Und noch etwas anderes fiel ihr auf, während ihre Finger durch die Härchen fuhren: „Was ist das für ein Geruch?“ Sie kam nicht umhin zu bemerken, dass von dem Tier eine wirklich angenehme Duftnote ausging. Es erinnerte sie an... gezuckerten Mais? „Das ist ihr natürlicher Duft. Anders als viele andere Tiere riechen Schattenschleicher für uns sehr angenehm. Manche Dinge sind halt einfach nicht so, wie sie auf den ersten Blick scheinen, nicht wahr?“ Severa nickte ruhig. Sie verstand, worauf der Mensch hinauswollte, auch wenn sie sich noch nicht sicher wahr, welches Fazit sie über ihn ziehen sollte. Ob Furcht oder Anziehung, dafür war es nun etwas zu früh und abseits dessen auch eigentlich nicht ihre Sache. Sie war halt nur eine Sexsklavin... eine verflucht hoch gestellte Sexsklavin mit unzähligen Privilegien, aber nichtsdestotrotz... In dem Moment griff Ezra nach ihrem Kinn und zwang sie dazu, ihn anzusehen. In der Nähe und im Flackern des Feuers glimmte das Blau seiner Augen anders als aus der Distanz, und hinter dem Schein des Meeres knurrte der Wolf, der anscheinend in ihm ruhte, nur darauf willens herauszukommen. Und etwas in ihr fühlte sich dazu äußerst hingezogen und wollte bereitwillig seine Beute werden. „Ihr versteht meine Intention, oder?“, säuselte er und lächelte ruhig. „J-ja... ich verstehe. Aber warum ist es Euch unbedingt so wichtig, ausgerechnet mich davon zu überzeugen?“ „Tja gute Frage... Vielleicht seid Ihr ja auch mehr als Ihr scheint...“ Dann ließ er ihr Kinn endlich los und lehnte sich zurück. Sie kannte nicht viele Menschen, hatte nur die getroffen, die bei Cirdans Feiern auftauchten, um die zweite Geige zu spielen, doch sie hatte bei vielen etwas ganz Natürliches entdeckt, was Elfen nicht so hinbekamen, denn ihr Edelmut stand ihnen im Weg: Sie waren gierig. Aber auf ganz besondere Weise. Sie sahen kein Eigentum in bestimmten Dingen oder Personen – anders als es Elfen taten und ihr selbsterklärtes Besitzrecht mit aller Macht verteidigten – sondern sie hungerten danach und streckten ihre Finger nach allem aus, was sie ihres nennen wollten. Das machte sie so mächtig, trotz ihres Mangels an Weisheit und ihrer lächerlich geringen Lebenserwartung. Und genau diese Gier sah sie gerade in Ezras Blick nur viel stärker als bei jedem anderen Menschen zuvor – vielleicht lag es aber auch daran, dass sie noch nie einem Menschen so nah war. „Ich sollte wohl besser gehen“, murmelte sie und versuchte vorsichtig wieder aufzutreten. Es tat noch immer weh, der drückende Schmerz raubte ihr kurz den Atem, doch wenn sie nicht voll auftrat, blieb es in einem erträglichen Rahmen. Sie drehte sich noch einmal um und setzte zu einer Verbeugung an. „Bitte entschuldigt die Störung.“ „Nicht doch. Ich wollte mich heute Abend sowieso nur von der Reise ausruhen, Ihr habt mich also von nichts abgehalten“, antwortete er, jedoch ohne Ironie in seiner Stimme. Er belog sie also, damit sie sich nicht schlecht fühlte und ging nicht davon aus, dass sie etwas wusste. Oder nahm er sie einfach nur nicht als Bedrohung wahr? Das musste sie sich nicht anhören. Nicht von jemandem, der ihr gerade auf den Hintern starrte und sich zurückhalten musste, nicht zu sabbern. Doch als sie die Tür verließ, sich eine Papierlaterne schnappte und auf dem Weg zum Schlafzimmer machte – begleitet von einem schwarzen Sechsbeiner, der auf sie aufpassen sollte und dies mit aller Freude tat – konnte sie es nicht mehr verleugnen, dass die Nähe dieses Mannes sie äußerst nervös gemacht hatte und zugleich einen mehr als nur bleibenden Eindruck hinterließ. Sie müsste wohl gleich doch einmal ihren Master wecken... und diesen Eindruck aus sich stoßen lassen... Kapitel 10: Sturz der schwarzen Witwe ------------------------------------- Zu behaupten, dass sich Saito Moji unsicher dabei fühlte, einen Fremden in den Hungerkäfig und noch dazu den Todestrakt einzuschleusen, war eine gewagte Untertreibung. Die Schweißperlen standen ihm auf der Stirn und das Kauen auf seinem Daumennagel zur Beruhigung funktionierte in keinster Weise. Er wusste auch nicht, was ihn mehr fürchtete: Die Tatsache, dass ein solches Vergehen ihn mindestens den Posten, eventuell sogar den Kopf kosten würde, wenn man sie erwischte oder die Person an sich, die ihn begleitete, während sie durch die feuchten Gänge des alten Kellergewölbes gingen, vorsichtig, auf dass niemand auf den plattgetretenen Treppen ausrutschen würde. „W-wisst ihr... M-Meister Rovari meinte, es wäre ein Mensch, der mich begleiten sollte“, stammelte er und schaute halb nach hinten in das finster dreinblickende Gesicht, das jede seiner Bewegungen genaustens festhielt. Er hatte diesen Mann – einen Kitzune mit schlohweißem Haar – schon des öfteren im Fuchsbau gesehen. Er beobachtete immer alles ganz genau und nahm sich verdächtig verhaltender Personen an, eine Art Wachmann. Und wie Saito es mitbekam, ein verdammt guter, der nie falsch lag und dem niemand entkam. Bei der Stadtwache würde er sicherlich sprunghaft Karriere machen, aber dort hielt man nichts vom Fuchsbau und diejenigen, die sich dort vergnügten, taten dies im Stillen. „Es gab eine Planänderung im letzten Moment“, grummelte der Besucher und deutete Saito, sich auf den Weg vor ihm zu konzentrieren. „Nichts worüber Ihr Euch Gedanken machen müsst.“ „A-aber Ihr wollt sie doch nicht rausholen, oder? A-aus dem Todestrakt meine ich. Ich will keinen Ärger!“ „Wenn Ihr keinen Ärger wolltet, hättet Ihr weniger spielen und mehr gewissenhaft arbeiten sollen. Oder zumindest Eure Schulden ehrlich bezahlen, dann würde Euch das alles erspart bleiben. Aber keine Angst. Wir werden keine Unschuldigen gefährden, sondern wollen nur ein Wort mit der schwarzen Witwe wechseln.“ Saito wusste nicht ob ein paar Worte wechseln vielleicht für etwas anderes stand, also hoffte er einfach darauf, dass der Kitzune genau das meinte, was er sagte. Er wollte sich nicht mit den Leuten im Fuchsbau anlegen... hoffentlich war gerade niemand vor Ort, um sich an Mirabelle zu vergehen. Wer wusste schon, wie ein Freund von ihr darauf reagieren würde. Die Wände des Todestrakts rochen nach dem Salz des Meeres und durch die offenen Zellmauern rauschte der Wind. Die Luft hier unten war für ein unterirdisches Gefängnis erstaunlich gut und auch gab es noch immer ausreichend Licht, denn man konnte guten Gewissens in jede Zelle ein offenes Fenster einbauen, ohne Angst zu haben, dass die Insassen flohen. Denn auf Fensterseite ging es in die todbringende Tiefe des Umikashu-Riffes und selbst wenn einen die spitzen Felsen, die einst singende Wassernixen waren, nicht zerstückelten, so taten es spätestens die Taikan im offenen Meer – wenn man denn nicht bis dahin von der Strömung ertränkt wurde. Ob aus dem Fenster oder aus der Tür – wenn man einmal im Todestrakt saß, war das eigene Ende nur eine Frage der Zeit. Und so warteten die meisten Insassen geduldig auf ihr Schicksal, denn es ging ihnen auch im Todestrakt relativ gut – insbesondere seit Folter an Insassen geächtet wurde und der neue Oberst befahl, dass auch Todeskandidaten zumindest eine anständige Mahlzeit am Tag zustand. Mirabelle Renarchasse indes – seit ihrer Verhaftung besser bekannt als die berüchtigte schwarze Witwe – war eine Ausnahme. Um einen Ausbruch zu verhindern, wurde sie nicht nur in einem isolierten Bereich mit mehrfach verschlossener Stahltür, sondern noch dazu mit magischen, von der Decke hängenden Bannketten an Armen und Hals festgeschnallt, die bei Bedarf hoch und runter gekurbelt werden konnten. Die meiste Zeit fristete die Kitzune so entweder kniend oder stehend. Sitzen oder liegen waren ihr nicht erlaubt. Und weil sie so wehrlos und zu ihrem Übel noch dazu nicht nur der erste weibliche Häftling seit einer langen Zeit, sondern noch dazu eine echte Augenweide war, hatten die Wärter am laufenden Band ihren sexuellen Frust an ihr ausgelassen. So kniete sie da, als die beiden Männer sie durch die verstärkten Stäbe aus Eisenbambus ansahen: Die nackte Haut von undefinierbarem Schmutz und Schmissen übersät, das schöne, rostrote Fell verfilzt und zerzaust, sichtlich ausgehungert, und das Kinn leblos auf der Brust abgestützt, sodass nur das schwache Auf und Ab ihrer Schultern einen Hinweis darauf gab, dass sie noch atmete. Aus ihrer Richtung stank es erbärmlich nach Schweiß, Blut, Fäkalien und abgestandenem Sex, sodass Saito die Nase rümpfte und sich kurz wegdrehen musste. Wussten die Dämonen, was der letzte mit ihr angestellt hatte. Der Kitzune hingegen verzog keine Miene, was ihn doch etwas verwunderte, sagte man den Fuchsmenschen doch verschärfte Sinne nach. „Weckt sie auf und wascht sie ein wenig“, befahl er kurz und bündig, aber mit einem Unterton, der nur allzu deutlich machte, dass Widerworte unerwünscht waren. Seufzend füllte der Wärter zwei Eimer mit kaltem Wasser aus dem Brunnen an der hinteren Wand, gab ein paar Seifenstücke in den ersten und wartete bis diese sich komplett aufgelöst hatten. Dann öffnete er die Zellentür und übergoss den ersten Eimer mit der Lauge direkt auf Mirabelle, die sofort aus ihrem Schlaf hochschreckte und sich prustend umsah. Der Wächter gab ihr keine Zeit sich zu orientieren, da erwischte sie schon ein zweiter Schwall, vor dem sie duckte, als wären es Schläge. Verängstigt kauerte sie zusammen und schrie einen spitzen Schrei aus, als das kalte Wasser sie fast ertränkte. Triefend zitterte sie am ganzen Körper und schluchzte laut auf. „Halt die Klappe und richte dich anständig auf, Miststück! Du hast Besuch, also benimm dich!“, knurrte Saito und zerrte sie an ihren Ohren nach oben, was die Kitzune vor Schmerz aufjaulen ließ. Die klaren, topasgelben Augen glitzerten hell, ob des Tränenfilms in ihnen, während sie den Raum absuchte und die Person vor ihr fixierte. „Sh-Shiro?“, stammelte sie kläglich und heiser, als hätte sie sich schon lange ihre Stimme aus dem Hals geschrien. Schwach streckte sie die Arme aus, als hoffte sie darauf, den Mann hinter dem Gitter so berühren zu können, auch wenn er unerreichbar war. „Lass den Mist!“, brüllte der Wärter und rammte seine Faust in ihren Bauch, sodass sie wieder zusammensackte. „Niemand hat Mitleid mit dir, also hör auf das gequälte Füchslein zu spielen!“ Mirabelle Renarchasse, die sonst den Inbegriff von Stolz, Eleganz und Stärke darstellte und als schwarze Witwe ohne Übertreibung mit dem Mädchen in Scharlachrot und Celica in Konkurrenz treten konnte, wenn es um den Titel „gefährlichste Frau Asterias“ ging, schien gebrochen und erinnerte in diesem Moment eher an ein verletztes Kind als an eine gestandene Mörderin. Und etwas daran machte Shiro äußerst misstrauisch... „Sie gehört ganz Euch“, antwortete der Wärter kleinlaut und wich dem Blick des Kitzune, der ihn ein gutes Stück überragte, eingeschüchtert aus. Die Dreistigkeit, die er bei Mirabelle an den Tag legte, war bei Shiro verloren, wahrscheinlich wiegte er sich in das verräterische Gefühl der Sicherheit, weil die schöne Kitzune in Ketten lag und so erschöpft wirkte. „Also wenn Ihr mit ihr reden wollt, dann...“ „Lasst uns allein“, unterbrach Shiro und funkelte den Wärter an. „M-mein Herr, ich bitte um Verständnis. Das ist zu riskant für mich, Euch mit ihr allein zu lassen...“ „Ich habe Euch mein Wort gegeben, oder nicht? Und mein Wort halte ich auch. Stellt Euch einfach vor die Tür, dann können wir nicht entkommen. Außerdem... es ist doch besser, wenn Ihr schmiere steht, oder sehe ich das verkehrt?“ Ohne weitere Widerworte machte Saito Moji auf dem Absatz kehrt. Es würde wohl am besten für seine Gesundheit sein, darauf zu hören. Still verließ er den Raum und verriegelte die große Tür. „Ist... ist er weg?“, presste Mirabelle heraus, als müsste sie die Tränen vehement zurückhalten. „Ja...“ „Na den Göttern sei Dank“, rief sie da plötzlich wie ausgewechselt, richtete sich auf, streckte sich einmal durch, als wollte sie nach der Decke greifen und legte sich dann mit einem lauten Seufzen in die Ketten, sodass sie in großen Bögen vor- und zurückschwang. Shiro schüttelte den Kopf, dennoch zuckten seine Mundwinkel kurz nach oben. Sie war anscheinend sehr wohl noch ganz die Alte. „Ich hatte schon die Sorge, ich müsste diese lächerliche Scharade die ganze Zeit aufrecht halten. Eins sage ich dir, das zarte Pflänzchen zu spielen ist wirklich anstrengend.“ „Warum tut Ihr das dann überhaupt?“, fragte der weißhaarige Fuchsmensch und lehnte sich die arme verschränkt gegen die Wand. Fast hätte er ihr das Schauspiel geglaubt, doch die flickenübersähte Tätowierung von Kiga, der Fresserin, prangerte nicht ohne Grund auf dem Bauch der schönen Kitzune. Sie hatte wahrscheinlich schon viel grausameres erlebt. „Weil ich Sex selbst mit Fesselspielen und Erniedrigung – was ja für gewöhnlich so gar nicht mein Stil ist – nach wie vor jeder Folter vorziehe. Zugegeben diese Jammerlappen sind in keinem von beidem wirklich gut. Weißt du, was das schreckliche an einfallslosen Sadisten ist?“ „Dass sie Sadisten sind?“ „Dass sie einfallslos sind!“, antwortete sie lautstark und riss die Arme genervt hoch. „Die Zeit zieht sich ins Endlose, wenn man ums Verrecken nicht anständig befriedigt wird! Und diese kleinen Mistkäfer wagen es noch dazu, mich zu verhöhnen und zu bespucken! Eigentlich sollten die Bengel mir die Füße küssen, dass ich sie auf meine Spielwiese lasse! Ich fühle mich gekränkt, kannst du dir das vorstellen?! Und dann noch diese götterverdammten Ketten! Rauben mir meine Kräfte und quälen Kigas Geist! Es ist zum Kotzen, Shiro! ZUM KOTZEN!“ „Meisterin Renarchasse, nicht so laut. Ihr wollt doch nicht, dass Euer Schauspiel vorzeitig auffliegt?“ Nach wie vor reagierte Shiro mit einer grenzwertigen Indifferenz der schönen Frau gegenüber, aber auch wenn sie ihm nicht auf einer erotischen Basis eine Reaktion entlocken konnte, so spürte sie nur allzu gut, dass der junge Mann sie trotzdem genau fixierte und jeden Schritt von ihr verfolgte. Er misstraute ihr, das wusste sie. „Nun, Shiro... So sehr ich mich auch über Besuch freue, der nicht meine unschöne Situation ausnutzen möchte, bin ich doch überrascht, dass ausgerechnet du hier stehst. Nicht einmal meine eigene Tochter hat sich hier blicken lassen.“ „Ich wäre auch nicht gekommen, das war Meister Hunters Idee.“ Die Kitzune zuckte aufmerksam mit den Ohren und bekam große Augen. Ein überdimensionales Grinsen der Freude machte sich auf ihrem Gesicht breit, das ihre erwachsene Eleganz in kindliche Jugend verwandelte und ihre zarten Sommersproßen aufleuchten ließ. „Ezra ist wieder zuhause?!“ „Er ist in der Frühe angekommen. Er wäre selbst gekommen, aber es gab eine spontane Planänderung.“ „Jetzt bin ich gekränkt! Eine Planänderung, die ihn dazu bringt, eine Freundin in ihrer größten Not nicht einmal zu besuchen?“ „So wie es aussieht... Ich rede nicht lang um den heißen Brei herum. Er braucht Eure Hilfe.“ „Ach wirklich?“, der Blick der Kitzune verdunkelte sich, während sie sich begierig über die Lippen leckte. „Nun... ich kann mir denken was er will... Aber das kostet was... Und du kannst dir doch denken, was ich will...“ Shiro knirschte mit den Zähnen. Von wegen Realistin. Sie würde um ihre Freiheit betteln. Nein, nicht betteln... sie würde sie verlangen. „In der aktuellen Situation können wir Euch nicht zur Flucht verhelfen. Das würde uns alle nur in Gefahr bringen.“ „Dann ist dein alter Herr aber von seiner Pilgerreise eindeutig nicht klüger zurückgekommen. Rache und sowas alles ist ja ein netter Preis, aber ich muss auch an meinen eigenen Hals denken... davon, dass der Verräter von euch abgemurkst wird, habe ich nichts. Wenn das also alles gewesen ist, langweilst du mich fast noch mehr als diese Dorftrottel und ich habe dir nichts mehr zu sagen“, antwortete die Kitzune gleichgültig, drehte dem Besucher den Rücken zu und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Shiro atmete schwer aus und fuhr sich durch das kurze Haar. Es verwunderte ihn in keinster Weise, dass sie nicht zur Kooperation bereit war. Mehr noch war er auch nicht die Person, mit der sie gerade sprechen wollte. Dass sie sich gekränkt fühlte, das war nicht einfach nur eine Behauptung. Sie und Ezra führten zwar mittlerweile eine rein geschäftliche Beziehung – mit etwas, das entfernt an eine Freundschaft erinnerte als Beisatz – jedoch war diese nach dem Verlust seiner ersten Frau eine äußerst intime gewesen und obwohl es sehr unwahrscheinlich war und Ezra keinerlei Anzeichen in diese Richtung zeigte, behauptete Mirabelle auch nicht selten, dass er Mirakos Vater sein könnte. Was sie allerdings wirklich störte, war nicht die Tatsache, dass er nicht hier war, sondern dass jemand anderes als er sie so schutzlos sah. Daher sprang sie mit Shiro auch gerade wahrscheinlich abweisender um, als gut für sie war. Und weil sie den Kitzune nicht so ohne weiteres um den Finger wickeln konnte. Aber wenn er ihr nichts entlocken konnte, unterstrich das nur seine Unfähigkeit als Hunters Adjutant und das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Wenn er sie an den Haken bringen wollte, musste er sich etwas überlegen... „Es war eine Frau“, fing er nochmal ruhig an und lehnte sich an die Gitterstäbe. Die Ohren der Kitzune zuckten kurz und sie blickte über ihre Schulter. „Was war eine Frau?“, fragte sie stöhnend, doch konnte ihren Anflug von Neugier nicht wirklich verbergen. „Eine Frau ist der Grund, warum Meister Hunter nicht kommen konnte.“ Ein lautes Lachen entwich ihr und sie drehte sich auf dem Absatz um. Ihr Grinsen war von lüstern in gehässig überheblich umgesprungen. „So ein Unfug! Du willst mir sagen, dass der alte Süßholzraspler dem Charme eines Weibes nun doch wieder erliegen konnte?“ „Ist das so schwer zu glauben?“ Es war vielleicht nicht die ganze Wahrheit, aber auch durchaus keine Lüge und so konnte Shiro seine wahren Absichten gut verstecken: Er musste Mirabelles Stolz angreifen, damit sie ihm half. Und wie es aussah, sollte sein Vorhaben von Erfolg gekrönt sein: Die Mine der Frau verdunkelte sich zunehmend und das Grinsen wich einem abwertenden Blick. Zwar würde es seinen Herrn in Meisterin Renarchasses Gunst rapide fallen lassen, doch wenn es dabei half, dass sie ihm selbst wohlgesonnener war, erschien es ihm nur recht und billig. „Und wer ist die kleine Schlampe?“ „Die Gespielin seines Partners aus Lyn'A'Tischal. Er wird nicht offen um sie buhlen, aber ich habe genau gesehen, wie er sie anschmachtet.“ „Du kannst viel erzählen...“ „Vor allem die Wahrheit“, sprach er siegessicher und drückte sich von den Stangen ab. „Ich dachte nur es interessiert Euch... Und keine Sorge: Laut Meister Hunter werdet ihr wohl noch bis nach der Hochzeit überleben. Vielleicht schafft er es ja mal unterdessen Euch zu besuchen. Wenn er nicht zu sehr beschäftigt ist mit... naja Ihr wisst was ich meine.“ „Shiro warte!“ Mirabelle hatte sich in die Ketten gehangen und atmete schwer. Mit der linken Hand, fuhr sie sich durch das verfilzte Haar und stöhnte leicht. Sie zögerte, lehnte sich wieder vor und schaute ihren Artgenossen mit einem resigniertem... fast schon traurigen Blick an. „...Was willst du wissen?“ „Ich würde erstmal damit anfangen, wissen zu wollen, wer Euch das alles angetan hat.“ Sie lachte abwertend und drehte den Kopf zur Seite. „Meinst du das hier?“, fragte sie und deutete auf ihren geschundenen Körper. „Das kannst du dir doch denken... glaubst du ich merke mir den Namen der ganzen hässlichen Vögel, die mich schon genommen haben? Ich habe ihnen Spitznamen nach ihren Deformationen gegeben, weswegen sie wahrscheinlich in diesem Keller arbeiten müssen. Fischauge, Krummbein, Zahnlückchen...“ „Zahnlückchen?“ „So heißt deine Begleitung. Ein verweichlichter Frühspritzer der mir eine verpassen muss, damit er sich nicht so jämmerlich danach fühlt. Und er steht auf Zungenküsse. Jetzt rate mal wie ich auf seinen Namen gekommen bin...“ „So... hatte ich das eigentlich nicht gemeint“, bemerkte Shiro kleinlaut und schaute zu Boden. „Du hast mich gefragt und ich habe dir Auskunft gegeben“, antwortete sie und einen Moment klang es so, als würde sie verächtlich lachen, doch dann verlor ihre Stimme den Ton und auch sie schlug die Augen nieder. „Ob du es glaubst oder nicht, aber das hier macht mir auch keinen Spaß, Shiro... Ich will hier einfach nur weg...“ Er hatte nie erwartet, dass so eine Tortur an jemanden spurlos vorübergehen könnte und sicherlich wäre jede andere Frau – und gewiss auch jeder Mann – schon längst in Pein, Verzweiflung und Schuld zerbrochen, aber dennoch... es hatte ihn fast schon erschreckt, dieses Zittern in der Stimme der schwarzen Witwe zu hören – eine Frau, die eigentlich niemals eine andere Gefühlsregung zeigte als vielleicht Lust. „Was war schiefgegangen?“, fragte er nach einem Moment betretenen Schweigens: „In der Nacht als Ihr das Haus verlassen hattet, sagtet Ihr noch zu mir, Ihr hättet einen Auftrag. Drei Tage später erfahren wir, dass Ihr im Hungerkäfig sitzt. Und was ist dazwischen passiert?“ Mirabelle stöhnte laut auf und legte sich in die Eisen. „Ich warne dich vor, das ist keine sonderlich ruhmreiche Geschichte... na ja, offensichtlich... kennst du Okabe Hangyaku?“ „ Okabe Hangyaku der aktuelle Geschäftsführer der Isla Shinju Eisenbahngesellschaft?“ „Nein, Okabe Hangyaku der Toilettenputzer der weißen Rose! Natürlich meine ich den Chef der ISE!“ Shiro umgriff das Gitter fester und kniff die Augen zusammen. „Wollt Ihr mir sagen... das er Euer Ziel in jener Nacht war?“ „Wo denkst du hin? Er war mein Auftraggeber. Mein Ziel war der aktuelle Oberst der Stadtwache... Luren Beauroux.“ „Nun glaube ich Euch nicht!“, gab Shiro zurück und verschränkte die Arme. „Also ich bin ja vieles, aber sicherlich keine Lügnerin. Was hätte ich auch davon?“ Darauf wusste der Kitzune keine Antwort, wollte sich aber auch nicht mit dieser Aussage zufriedengeben. Was Mirabelle hier beschrieb konnte mit Fug und Recht als Staatsstreich bezeichnet werden, immerhin war Oberst Beauroux der Gouverneurstochter versprochen worden. „Und was hat die ISE davon den Oberst der Stadtwache umbringen zu lassen? Noch dazu von der gefürchteten schwarzen Witwe?“ „Du glaubst, meine Auftraggeber würden mir großartig erzählen, warum sie diesen und jenen tot sehen wollen? Fakt ist, dass er von unserer misslichen Lage nur allzu gut Bescheid wusste und mir einen ganzen Haufen Asterid dafür bot. Aber warum er mich ausgerechnet auf Luren Beauroux angesetzt hat?“ Mit einem kurzen Schulterzucken beantwortete sie sich ihre Frage selbst. „Ich bin die Kugel Shiro, nicht der Abzug. Wenn euch derlei interessiert, werdet ihr ihn wohl selbst fragen müssen... Und bestellt direkt schöne Grüße von mir, wenn ihr das tut. Das muss reichen, mehr kann und will ich dir nicht sagen.“ Shiro verbeugte sich tief und murmelte einen kurzen Dank. Es war nicht viel, aber es würde wohl durchaus ausreichen, um weiterzukommen. „Was wollt Ihr nun von mir? Für diese Aussage?“ Die schöne Kitzune hob den Kopf und schaute Shiro zum ersten Mal richtig ins Gesicht, seit sie zu sprechen angefangen hatte. Ihre topasgelben Augen schimmerten in der Finsternis hell und klar, die Schultern bebten leicht. „Bring Mirako zu mir. Ich will sie noch einmal sehen, bevor ich sterbe. Und wenn du das tust... dann bring mir auch etwas, um mich zu bedecken. Ich will nicht, dass sie mich so sieht.“ „Ist das wirklich alles?“, hakte Shiro misstrauisch nach und kniff die Augen zusammen, was bei seinem Gegenüber zu einem süffisanten Schnappen führte. „Ich verstehe schon... Ich habe Mira nie irgendeine Form von Nähe gegeben, willst du jetzt sagen... mag schon sein, dass ich eine schlechte Mutter bin. Aber sie ist und bleibt mein eigen Fleisch und Blut. Und auch wenn ich mich niemals wieder Kinder haben will, heißt das nicht, dass ich sie nicht liebe... wirst du das für mich tun?“ „Natürlich... wenn das Euer Wunsch ist. Ich werde das möglich machen.“ „Danke...“, Belle nickte leicht. „Leb wohl, Shiro...“ „Ihr auch, Meisterin Renarchasse.“ Mit diesen Worten wollte sich Shiro schon umdrehen, da wurde er jedoch noch einmal aufgehalten. „Ein letzter kostenloser Tipp noch!“, sprach die Gefangene mahnend. „Nehmt euch vor dem Oberst in Acht! Er hatte meine Maskerade mit Leichtigkeit durchschaut und mich überwältigt. Er ist stark. Sehr stark sogar!“ „Stärker als Meister Hunter?“ „Es geht nicht immer nur um physische Kraft! Oberst Beauroux ist scharfsinnig und kompromisslos. Und anders als Ezra hat dieser Mann Prinzipien, denen er treu bleibt. Er und seine geliebte Prinzessin – und auch das Königshaus von Cher Enfant – führen vielleicht wirklich das ehrliche Bestreben, Asteria seine alte Ordnung vor der großen Explosion zu geben. Dann wäre die Zeit von Harpyienmüttern, Karawanenkaisern, rotgekleideter Terroristinnen... und auch unsere Zeit endgültig vorbei.“ Die Worte vernehmend huschte ein dünnes, fast schon mitleidiges Lächeln auf Shiros Gesicht und er schüttelte den Kopf, während er kehrt machte. „Ich halte mich da an Meister Hunters Worte“, sprach er zum Abschied: „Unter dem Mantel seiner Zivilisation war dieses Land schon immer wild. Und er muss es wissen.“ Erleichterung huschte auf Saito Mojis Gesicht, als er endlich das erlösende Quietschen der Tür hörte und sah, dass der Kitzune allein aus der Zelle trat. Jede Sekunde, die er in dieser Stille allein hocken musste, hatte ihn immer nervöser gemacht, ausmalend darüber, was geschehen würde, wenn man ihn nun doch belogen und der schwarzen Witwe zur Flucht verholfen hätte. „H-habt ihr soweit endlich alles besprochen?“, fragte er unsicher, nachdem der Kitzune nur einen Moment dastand und sich schnaubend die Augen rieb. Zur Antwort bekam er einen Blick aus den Winkeln der ihm einen Kloß tief in den Rachen schob. Das Animalische in den Augen der Kitzune war für alle anderen Rassen äußerst faszinierend, aber man konnte sich nicht sicher sein, ob sie einen nicht im nächsten Moment auffressen würden. Auch wenn sie von allen wilden Mutantenvölkern, die seit der großen Explosion das Licht der Welt erblickten, das mit Abstand zivilisierteste waren, so blieben sie dennoch genau das: Wilde. Und wer wusste schon, wozu sie fähig waren. „Haben wir...“, sprach der Weißhaarige schließlich und drehte sich weg. Die erdrückende Last fiel endlich vom Wachmann ab. Noch nie in seinem Leben hatte er seine Entscheidungen so sehr bereut wie an diesem Abend. Aber wenigstens war es nun vorbei... Dann riss ein plötzlicher Druck in der Leistengegend die Luft aus seinem Körper und ein blitzartiger Schmerz zerschoss seinen Verstand. Unter seinem Tränenfilm erkannte er ein Knie, das sich tief in seine Kronjuwelen bohrte. Dann verließ ihn jegliche Kraft und er kippte zur Seite, ringte um jeden Atemzug, als würde Kiga, die Fresserin, persönlich das Leben aus ihm saugen. „Wieso...“, keuchte er, während die befellte Hand ihn am Kragen packte und der minzige Atem des Kitzune ihm entgegenschoss. „Ich werde demnächst mit einer Freundin vorbeikommen, um Mirabelle zu besuchen. Bis dahin wird sie sich nicht mehr in diesem desolatem Zustand befinden.“ „W-w-wie soll ich das anstellen?“, wimmerte er. „Das ist mir egal. Das hier ist auch keine Anweisung, sondern eine Drohung. Macht daraus was Ihr wollt.“ Dann richtete der Kitzune den Mann auf und strich ihm über das Gesicht, schaute in seine Augen und fuhr mit dem Daumen über die rauen Lippen. Belle hatte eindeutig übertrieben mit Deformationen. Für einen Moment biss sich der Fuchsmensch auf die seinen, dann ließ er von ihm ab und warf ihn auf den Boden. „Zahnlückchen...“ schnaubte er: „Ein hübsches Gesicht wie das Eure sollte besser auf sich achten. Schade, dass ich Männer wie Euch nicht ausstehen kann...“ „Sch-schade?“ „Schade für Euch... Sonst würde ich nachsichtiger sein. Meine Drohung ist klar. Ich habe mir deinen Namen gemerkt...Saito Moji.“ Dann legte der Kitzune seinen Umhang um, zog die Kapuze tief ins Gesicht und ließ den Wachmann auf dem Boden kauernd zurück. Das hier... war definitiv der schlimmste Tag seines Lebens. In der wiederkehrenden Stille des pechschwarzen Käfigs, die nur durch das schwache Rauschen der Wellen und dem gelegentlichen Klackern der Ketten an Belles Körper unterbrochen wurde, schlich sich langsam ein giftiges Kichern, das sich mehr und mehr zu einem gehässigen Lachen entwickelte. Lüstern leckte sich die Kitzune über ihre Lippen und grinste schief. „Shiro... für jemanden, der Frauen misstraut, bist du erstaunlich gutgläubig, wenn man ein bisschen auf die Tränendrüse drückt...“, murmelte sie. Es war kein Zufall, dass sie ihre Tochter sehen wollte. Mirako wusste, was in solchen Fällen zu tun ist. Gut, Ezra wird es Belle wohl sicherlich übel nehmen, wenn sie seinen Schützling zum Komplizen machte, aber da muss er dann durch. Immerhin ist sie ja auch wegen Shiros Unfähigkeit erst hier gelandet. Unter keinen Umständen würde sie am Kreuz sterben. Die schwarze Witwe mag vielleicht gestolpert sein, aber gestürzt war sie noch lange nicht. Kapitel 11: Asterias Schätze ---------------------------- Cirdans Stöße waren gierig an diesem Morgen. Sein verschwitzter Körper rieb sich an ihrem Hintern, seine Küsse saugten ihren Schweiß von Severas Nacken und verliehen ihr ein wohliges Schauern. Er griff von hinten ihre Brüste und knetete sie, trat näher heran und schnaubte in ihr Ohr. Sein Rhythmus wurde noch schneller und sein Atem zu einem lauten Keuchen. Severa fing an, lüstern zu stöhnen, drückte sich gegen seine Lenden und umfasste ihren Master noch fester, auf dass er endlich zum Höhepunkt kommen würde. Sein Keuchen wurde immer stärker, die Stöße mit jedem Male wilder und seine Finger krallten sich in ihrer Haut fest, als wolle er so ein Abrutschen vorbeugen. Dann ergoss er sich mit einem lauten Grunzen in ihr, drehte ihr Gesicht zu seinem für einen letzten spitzen Kuss, bevor beide mit einem erschöpften Lächeln auf dem Laken zusammenbrachen. Gerade noch rechtzeitig. Nicht, dass ihr Master noch zu spät zu seinem Treffen mit Mister Sterlinson erscheinen würde. Einen Moment noch blieb er bei ihr, dann erhob sich Cirdan von seinem Freudenmädchen, schlug ihr noch einmal auf das zitternde Hinterteil, bevor er sich daran machte, sich anzuziehen. Die Zwergin indes blieb noch einen Moment liegen, wie so oft, und schaute ihm dabei zu. „Sagt Master...“, säuselte sie nach einer Weile und räkelte sich lasziv auf der Matratze, schaute ihn mit dem traurigsten Hundeblick an, den sie aufbringen konnte. Der Elf schaute sie über die Schulter an, betrachtete den wohlgeformten Körper, den er über die Jahrzehnte genährt hatte und der sich ihm nun so klar präsentierte. Er hatte noch kein Wort über ihre Bandage verloren, aber entgangen war sie ihm nicht. „Was willst du, Süße?“, fragte er kühl, aber nicht mehr so abweisend wie noch am Abend. „Habt ihr mich wieder lieb?“ Cirdan hielt einen Moment inne und hob eine Braue, dann entglitt ihm ein kurzes Lachen und er fuhr mit beiden Händen durch das dünne, strubelige Haar, um es etwas zu richten. „Nun, ich bin dir zumindest nicht mehr böse.“ „Und deine Laune scheint sich ja auch gebessert zu haben“, antwortete sie und rollte sich auf den Bauch, um sich betont langsam zu strecken und aufzustehen. „Wenn man so geweckt wird, geht es einem gleich viel besser und genau dafür hatte ich dich ja auch mitgenommen. Und gute Laune benötige ich sehr dringend. Sterlinson hat mich nun eindeutig lang genug auf die Folter gespannt.“ Sterlinson... Severa zögerte und verschränkte die Arme vor der Brust. Nun könnte sie ihm in aller Ruhe sagen, was sie über Ezra erfahren hatte, ihm von seiner misslichen Lage erzählen. Aber würde das ihren Master nicht nur wieder wütend machen? Und was, wenn dieser Shiro am gestrigen Abend doch noch eine Lösung für ihr Problem gefunden hatte? Problem... worum ging es da nochmal? Verdammt, sie verstand die Zusammenhänge noch immer nicht ausreichend! „Sevvi...“, grummelte da Cirdan und stützte sich an der Wand ab. „Ich will ehrlich sein: Sterlinson war der einzige an jenem Abend, der bereit war, mich zu unterstützen. Das habe ich gemerkt. Alle anderen haben sich nur am Bankett gefräßig getan und sich an meinem Schauspiel amüsiert. Für meine Kollegen bin ich wirklich nur noch ein besserer Hofnarr. Es ist doch kein Wunder, dass selbst meine eigenen Zwerge mich nicht mehr respektieren.“ „Aber Master, ich respektiere Euch doch...“, versuchte die Zwergin zu intervenieren und legte sanft eine Hand auf seine Schulter, um ihn zu beruhigen, doch der Elf drehte sich weg. „Lüg mich nicht an, du weißt, wie sehr ich das hasse. Es spielt aber auch fast keine Rolle mehr, ob mich Sterlinson aufs Kreuz legen will, oder vielleicht gar nichts für mich hat. Wenn ich ihm nicht begegnet wäre, dann wäre es sowieso vorbei...“ Severas Herz blieb stehen. Sie hatte es schon befürchtet, dass jener Abend Cirdans letzter Ausweg gewesen war, nun hatte sie Gewissheit. Und es war deutlich genug, was das für sie hieß, wenn er alles verkaufen müsste... „Master...“, fing sie an, doch zögerte dann, denn sie wusste nicht so ganz, was sie überhaupt sagen wollte. Hin und her tippelnd haderte sie darum, ihm von der aktuellen Lage zu erzählen. Vielleicht half es ihm ja. Ein höfliches aber bestimmtes Klopfen richtete die Aufmerksamkeit der beiden hinter sich. „Lord vei Brith, seid Ihr schon auf? Meister Hunter möchte Euch gern zum gemeinsamen Frühstück empfangen“, drang Mikkis Stimme dumpf durch die Tür. „Ist gut, ich komme sofort. Noch einen kurzen Augenblick“, sprach der Elf und richtete dann seinen Blick zu seinem Freudenmädchen. „Ich werde jetzt gehen. Du bleibst hier und machst keine Dummheiten. Nicht, dass du dich noch mehr verletzt.“ Mit einer ausladenden Bewegung zeigte er auf seine Kleidung und hob eine fragende Augenbraue. Instinktiv griff Severa nach dem halbschiefen Seidentuch am Kragen ihres Masters und fing an, es korrekt zu richten und den Kragen nachzufahren, was ihr auch einen Moment der Reflexion gab. Sollte sie ihn auf das ansprechen, was sie am Abend gehört hatte? Nein, jetzt war es sowieso zu spät. Vielleicht war es am besten, die Dinge einfach kommen zu lassen... „Wenn Ihr mit Euren Gesprächen fertig seid...“, fing sie an, als sie die letzten Handgriffe ansetzte, „Dann lasst uns doch die Bäder aufsuchen. Miss Mikkalia hatte uns doch die auf der elften Ebene empfohlen. Ich bin sicher, das wird Euch gut tun.“ Ein schmales Lächeln huschte auf Cirdans Lippen und er streichelte kurz über den Kopf der Zwergin, bevor er ihr Gesicht zu ihm zog und einen langgezogenen Kuss auf ihre Lippen drückte. „Eine ausgezeichnete Wahl. So machen wir es. Aber mach dich vorher hübsch! So halb verschlafen werde ich dich ganz sicher nirgendwohin mitnehmen.“ Mit diesen Worten schob der Elf die Tür beiseite und nahm die elfische Hausdame dahinter in Empfang. Für einen Moment schaute Mikkalia an ihm vorbei, bemerkte dann aber die noch immer komplett entblößte Zwergin und wich dem Blick beschämt aus, traute sich kaum, in die Augen des Gastes zu schauen, während sie ihn weg vom Zimmer durch die Gänge führte und Severa abermals allein gelassen wurde. Seufzend griff die Zwergin nach einem sauberen Höschen, kramte aus ihrer Reisetasche nach einem Spiegel und einem bläulich glänzenden Kamm aus Eisbärbein. Erst entwirrte sie die verknoteten Wirbel, um danach den Glanz herauszuarbeiten. Das stechende Kupferrot, so hatte Cirdan ihm erzählt, stammte von ihrem Zwergenvater, aber der klare Glanz, das lebhafte Schimmern der Strähnen, konnte nur von einer Elfin kommen. Und er liebte ihre Haare, denn seine trockenen Finger fuhren nur allzu gern dadurch. „Autsch, verdammt!“, fluchte sie und zuckte zusammen, als sie nicht aufpasste und einen zu festen Knoten erwischte. Eigentlich machte sie das jeden Tag, doch an diesem konnte sie sich nicht einmal darauf vernünftig konzentrieren. Immer wieder rissen ihre Gedanken weg, hin zu kurzen Schnipseln der letzten Nacht, aber auch weiter in die Vergangenheit, zurück nach Lyn'a'Tishal... Sie hasste es. Sie hasste es, wenn er sie allein ließ. Insbesondere hier. Schon als Kind hatte sich Severa immer davor gefürchtet, auch nur eine Sekunde allein zu sein, im Kreuzfeuer ihrer Artgenossen, ebenso wie mit den adligen Elfen im Rücken. Nur bei Cirdan, trotz all seiner Ausfälle und all der Schläge, die sie erdulden musste, fühlte sie sich wirklich sicher. Als er sie das erste mal nahm – da war sie vielleicht halb so alt wie jetzt – da fühlte sie sich von Schmutz und Scham ertränkt, jedoch zugleich zum ersten mal in seinen Armen wirklich gewollt. Hier, insbesondere ohne ihn, war sie angreifbar, eine Zielscheibe für jeden. Sie hatte darauf gehofft, dass er darauf bestehen würde, sie mitzunehmen, auch wenn es äußerst unwahrscheinlich gewesen war. Dabei hatte sie sich solche Mühe gegeben. „Konzentrier dich gefälligst!“, knurrte sie wütend zu sich selbst und zerrte den Kamm trotz aller Schmerzen und entgegen jeglicher Vernunft einfach durch, was aus ihr ein unterdrücktes Jaulen zwang, die Kontrolle über den Kamm nahm und ihn in hohem Bogen wegschleuderte. Mit einem unheilvollen Geräusch landete er hinter ihr und als sie sich umdrehte, sah sie den offenen Schlitz in der Papierlaterne. Der dünne Stoff hing in langgezogenen Fetzen hinunter und das Siegel dahinter war ebenso von den scharfen Zinken zerrissen worden. „Oh nein... was bin ich nur für ein Tollpatsch?“ Nebst allen Unzulänglichkeiten die ihr in den letzten Tagen passiert waren, war eben diese die mit Abstand katastrophalste, den was wusste sie schon, was solch wundersame Laternen kosteten? Schnell kroch sie dorthin und tippte sie an, um sie einzuschalten. Noch einmal flackerte die Laterne kurz auf, doch dann blieb sie dunkel und egal wie oft sie es noch versuchte, es änderte nichts an dem Ergebnis: Die Lampe war definitiv kaputt. Ezra nickte stumm und nahm einen tiefen Schluck des grünen Tees vor ihm, als Shiro seinen Bericht der gestrigen Nacht beendete. „Und sie will dafür wirklich nicht mehr, als Mirako zu sehen?“ „Sie hat mir nicht mehr gesagt. Sie klang... resigniert, würde ich sagen. Weiß Kiga, was sie mit ihr angestellt haben.“ „Tja, Kiga weiß das ganz sicher... Ich frage mich nur nach wie vor, was sie dazu verleitet hat, sich für uns so einzusetzen, als würde ihr am Fuchsbau irgendwas liegen.“ Shiro verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf: „Sie ist die schwarze Witwe. Ich glaube nicht, dass ihr Handeln auf mehr basiert als auf Willkür.“ „Ich habe dir schon einmal gesagt, du darfst sie nicht unterschätzen, mein lieber Shiro. Viel wichtiger ist, was wir aus ihrer Information machen. Wir werden wohl Lord Hangyaku dazu befragen müssen, er wird wohl am besten wissen, was er der schwarzen Witwe angeboten hat. Und ich weiß schon, wen ich damit beauftragen werde...“ Mit einem Grinsen goss sich Ezra etwas Tee nach und trank ihn in einem Zug aus. Shiro wurde aufmerksam und sogleich wich alle Farbe aus seinem Gesicht, wusste er doch ganz genau, an wen sein Herr dachte. Umgehend sprang er auf und rief: „Aber Meister! warum-“ „Ich weiß was du sagen willst, aber es ist beschlossene Sache. Enzo weiß am besten, wie man Leute aufspürt und festhält. Außerdem gibt es da noch eine offene Rechnung der letzten Lieferung, soweit ich weiß. Der Spaß sollte also nicht zu teuer werden.“ „Das kann doch nicht Euer Ernst sein! Das ist fast so, als würdet Ihr mit der Diebesflotte anbändeln! Hat Euch die Reise nicht gutgetan, dass Ihr sorglos mit Geld um Euch schmeißt?!“ „Nicht in diesem Ton!“, befahl Ezra ruhig aber deutlich, ohne sich die Mühe zu machen, zu dem Kitzune aufzuschauen. „Zunächst einmal setzt du dich wieder, wir unterhalten uns immerhin auf Augenhöhe.“ Ausgerechnet Enzo le Gourmet... Er führte die Weiße Rose, das wohl beste Lokal im Chévaviertel, ein von Cher Enfantern dominierter Bezirk. Doch im Hintergrund hatte er mit der Notre Chose eine kleine Organisation gegründet, die sich auf die Kunst der Einschüchterung und Erpressung verstand. Sie war eine neutrale Macht in Shinju, deren Dienste jeder in Anspruch nehmen durfte, aber der nur Cher Enfanter beitreten durften. Schnaubend ließ sich der Kitzune wieder in den Schneidersitz fallen, beugte sich aber kurz vor, als Zeichen der Entschuldigung. Sterlinson winkte ab. „Enzo wird das ganz sicher gut und sauber erledigen, immerhin ist er ein Profi. Und niemand wird Lord Hangyaku in der Weißen Rose suchen. Ich lasse den Kontakt über Kazumis Theater laufen, dann wird uns auch niemand verdächtigen.“ „Seid Ihr Euch sicher, dass das nicht zu riskant ist?“ „Mit Asterid zu spielen ist immer riskant, das solltest du ja wohl am eigenen Leib erfahren haben. Das alles hier sind... kleine Unannehmlichkeiten. Außer dir und mir bleiben nur noch Mikki, dieser begriffsstutzige Typ, der das Geschirr spült, die Gespielin aus dem Bad und die beiden Darsteller von Kazumis Theater. Und aktuell haben wir weder die Zeit noch die Mittel, um uns jemand neues zu suchen. Da muss man sich nun einmal auch außerhalb umschauen.“ Shiro schwieg einen Moment und wollte noch etwas entgegnen, da hörte er das dumpfe Schaben der Tür, die sich zur Seite schob. Die beiden erhoben sich, als Mikkalia mit dem kleinen Elfen den Raum betrat und einen tiefen Knicks vor den drei Männern tat. „Einen wunderschönen guten Morgen, Lord vei Brith!“, sprach Ezra in betont bester Laune und grinste breit. „Ich hoffe Ihr hattet eine angenehme Nacht.“ „Das Aufstehen war wahrscheinlich am schönsten, aber man gewöhnt sich daran auf dem Boden zu schlafen“, gab der Elf ebenso freundlich zurück und es schien gerade nicht mehr viel von der Anspannung des vergangenen Tages übrig zu sein, wobei das wohl eher nur Fassade war und jeder spürte, dass es heute ums Ganze gehen sollte. Es war kein Zufall, dass Ezra ein gutes Frühstück als Ausgangspunkt für die Gespräche gewählt hatte – mit leerem Magen machte man keine guten Geschäfte. Und der Tisch war reich gedeckt: mundgerechte Happen Fisch, Fleisch und Gemüse mit einem kleinen Grill, in der Mitte, um das Essen ganz nach belieben anzubraten, eine Schale mit Reis und glasigen Nudeln, diverse Kräuter zur Verfeinerung und nicht zuletzt eine ganze Auswahl an Früchten und Honig, um den Hunger nach Süßem zu stillen. Noch während sich Cirdan zu seinem Geschäftspartner setzte, flüsterte Ezra Shiro etwas ins Ohr und der Kitzune stand auf und verließ mit einem schweigsamen Nicken die Bar. Auch Mikki folgte ihm und so blieben die beiden Männer in der verlassenen Bar allein zurück. „Nun denn, Lord vei Brith“, fing Ezra an und zeigte mit einer ausladenden Geste auf die Köstlichkeiten vor ihm: „Möchten wir anfangen?“ Severa hatte die letzten Minuten damit verbracht, ratlos auf die Laterne zu starren und sich an den Fingernägeln zu kauen. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Magie kostete, auch nicht von zuhause, denn die Kristalle ihres Herrn hatte sie nie aus der Nähe betrachtet. Doch etwas so Mächtiges musste Unsummen kosten, das war ihr klar. Was sollte sie denn nur machen? Kaum, dass sie Cirdans Gunst wiedererlangt hatte, hatte sie wieder alles kaputtgemacht. Ihr war zum Heulen zumute, aber dafür war jetzt keine Zeit. Vielleicht konnte sie ja den Schaden noch irgendwie verstecken oder die Lampe austauschen, ohne dass es jemandem auffiel. Sie war noch mitten in ihren Überlegungen gefangen, da klopfte es auch wieder an der Tür. „Miss Severa?“ Das war Mikkalia, diese verdammte Elfin. Die kam ihr gerade überhaupt nicht recht. „J-ja?“ „Meister Hunter schickt mich. Ich soll eine Bandage an eurem Fuß wechseln.“ Richtig, die Bandage, das hatte Sevvi ja ganz vergessen. Ihr Fuß pochte noch ein wenig, aber sie spürte dank des Wundermittels kaum mehr etwas, das man Schmerzen nennen konnte. „E-einen Moment, ich ziehe mir kurz etwas über“, meinte die Zwergin, drückte sich stolpernd hoch und hastete zum Kleiderschrank. Ihre Kleider würden zu lange brauchen um mal eben schnell reinzuschlüpfen, doch da war noch dieses Stoffgewand aus dunkler Wolle, das schon vorher in der Gaderobe hing und von jedem Badegast getragen wurde. Er schien etwas groß auszufallen und schlackerte besonders um ihre Oberweite herum, aber für diesen Moment würde es wohl reichen. Schnell griff sie danach und warf es sich über, knotete den dazugehörigen Gürtel fest und schob die Tür auf. Die Elfin schaute lächelnd zu ihr herab, zog aber etwas zweifelnd die Augenbrauen hoch. „Sagt, tragt ihr zum ersten Mal einen Yukata?“ „Woher wisst Ihr das?“ „Daran angefangen, dass Ihr euch die Herrenvariante genommen habt, der Kragen halb auf links liegt und ihr anscheinend den Gürtel etwas schief angebracht habt, kam diese Erkenntnis schnell. Soll ich Euch vielleicht beim Anziehen helfen?“ „N-nicht nötig, danke, ich ziehe mir gleich meine Kleider an. Ihr sagtet, Ihr kommt wegen des Verbands?“ „Ja, das ist richtig“, sagte die Elfin und zeigte ein Tablett mit den notwendigen Tinkturen vor. „I-ich habe mich aber noch nicht gewaschen, Fräulein Mikki. Wäre es da nicht besser damit zu warten, bis dies getan ist?“ „Kein Problem, das Mittel zieht schnell ein und die Bandagen sind wasserfest. Sie dienen auch nur zur Stabilisation. Lasst mich nur kurz ran; ich bin auch ganz schnell fertig.“ Diese Elfin war auch an diesem Tag genauso freudestrahlend und höflich wie zuvor, während sie sich in das Zimmer schob, aber es war wie gestern, wenn Severa in ihr Gesicht sah: Irgendwas wollte nicht passen, doch die Zwergin wusste nicht genau, was... Vielleicht war es auch nur Einbildung und außerdem hatte sie gerade andere Probleme. Und nicht zuletzt kam sie nicht umhin zuzugeben, dass Mikki wahrscheinlich freundlicher war als alle Elfen, die sie jemals kennengelernt hatte. Fairerweise hatte sie aber auch noch nie eine elfische Bedienstete gesehen, insbesondere keine, die einem Menschen diente. Auf Geheiß ließ sich Severa wieder auf den Boden fallen und streckte das Bein vor. Sanft nahm die Elfin ihren Fuß, entwickelte die Bandage und reinigte ihn mit einem kühlen Lappen, ruhig und bedacht, tupfte vorsichtig über die Schwellungen. Severa hielt den Atem an: Nie hätte sie gedacht, dass einmal in ihrem Leben eine Elfin, sie so versorgen würde und obgleich es an der Beule etwas drückte, so fühlte sie sich dennoch eher betäubt von jenem Hoheitsgefühl, dass sie in diesem Moment übermannte. Sie fragte sich, wie sich dies für Mikki anfühlte: War sie angeekelt, fühlte sie sich erniedrigt? Oder sah sie diese Situation als völlig wertneutral, denn immerhin wusste Severa nach wie vor nicht, ob es ihresgleichen überhaupt in Asteria gab. Zumindest in Shinju und dem Fuchsbau war sie noch niemandem begegnet. So oder so, schien die Hausdame ihrer Berufung mit der größtmöglichen Höflichkeit nachzukommen und gab sich äußerste Mühe, es jedem Gast so recht wie möglich zu machen. „So...“, murmelte Mikki sanft, als sie die neue Bandage sicher verknotete und sich zufrieden ein paar Strähnen hinter das spitze Ohr klemmte. „Der Fuß sieht gut aus, aber wir werden wohl noch die nächsten paar Tage einmal die Salben erneuern.“ Die Zwergin nickte stumm und wich dem liebevollen Lächeln aus, das sie gerade anstrahlte, fühlte sie sich immerhin von der ganzen Situation etwas peinlich berührt. „Meister Hunter hatte mir erzählt, dass Euch Honigtopf in der Nacht erschreckt hatte und Ihr gestürzt seid. Aber die Schwellung ist halb so schlimm, es hätte wohl schlimmer sein können. Wie fühlt Ihr Euch?“ „G-ganz gut, würde ich sagen.“ „Habt Ihr große Schmerzen beim Laufen?“ Severa schüttelte den Kopf. „Dann ist ja alles gut“, meinte die Elfin erleichtert, stand dann auf und verbeugte sich erneut, die Hände im Schoß gefaltet. „Wenn Ihr sonst aktuell keine Wünsche habt, würde ich Euch dann erst einmal wieder allein lassen. Wenn ich etwas für Euch tun kann, lasst es mich wissen.“ Die Zwergin zögerte einen kurzen Moment bevor sie aufsah. „Nicht direkt etwas tun, aber ich bräuchte etwas Unterstützung. Ich habe... ich glaube, die Laterne ist kaputt.“ Mit den Worten zeigte sie auf den offenen Fetzen an der Wand, den Mikki für einen Moment nur schweigend anstarrte, bevor ihr ein plötzliches „Oh!“ entwich und die Lampe einschlägig prüfte. „Nicht weiter tragisch, die Tinte wäre sowieso alsbald aufgebraucht gewesen. Dann müssen wir nur einmal das Papier erneuern und ein neues Siegel aufziehen. Kein großer Verlust, es war ja nur ein Lichtzauber. Aber das wisst Ihr ja sicherlich selbst, nicht wahr?“ „Sollte ich?“, fragte Severa unsicher was die Elfin verwundert aufhorchen ließ. „Gibt es denn gar keine Papiermagie in Eurem Land?“ „Magie an sich schon, aber Papiermagie? Nicht, dass ich wüsste.“ Die hübsche Elfin überlegte kurz dann kam sie zu Severa und griff sie an ihrem Arm. „Wollt Ihr Euch das nicht vielleicht mal ansehen? Ich übe gleich mit Meisterin Haiyus Sohn.“ „I-ich weiß nicht...“, wollte die Zwergin noch dankend ablehnen, da zog Mikki sie bereits auf die Beine. „Keine Angst, Miss Severa, das geht ganz einfach und macht viel Freude. Ist das nicht viel interessanter, als hier sich die Beine in den Bauch zu stehen?“ Warum eigentlich nicht? Die Papiermagie hatte von Anfang an, als Ezra ihre Hand mit dem Pinsel geführt hatte und aus dem Blatt Papier eine leuchtende Blume wuchs, eine gewisse Anziehungskraft auf die Zwergin gehabt. Wenn sie die Möglichkeit besaß, erneut dies faszinierende Wunder mit eigenen Augen und aus eigener Hand mitzuerleben, dann sollte sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen. Cirdan zog lang und zufrieden an seiner Pfeife. Das Essen hatte ihm mehr als nur gemundet, es hatte ihn rundum zufrieden gestellt, so zufrieden, wie er die gesamte Reise noch nicht gewesen war. Und die feine Teemischung, die im Zusammenspiel mit seinem Tabak noch die letzten aufgewühlten Nerven zu beruhigen wusste, taten ihr übriges. So lehnte sich der kleine Elf zurück und wartete geduldig auf seinen Sitznachbarn, der sich nun schon zum sechsten Mal vom Reis nachgenommen hatte. Gut, die Schälchen waren klein, doch in Zusammenhang damit, dass der Mensch, noch während er seine Schale erneut mit einer Portion Reis und gebratenem Fleisch samt Gemüse füllte, ganz nebenbei scheinbar ununterbrochen von Obst und Meeresfrüchten naschte, musste die Menge in der Summe dennoch beträchtlich gewesen sein. „Keinen Nachschlag mehr? Hat es Euch nicht geschmeckt?“, fragte Sterlinson mit halbvollem Mund und zeigte mit den Stäbchen auf die Schale seines Geschäftspartners. „Doch, es war sehr gut, aber mit Eurem Appetit kann ich nicht mithalten“, entgegnete Cirdan und zeigte mit dem Mundstück seiner Pfeife ebenso auf den noch reichlich gefüllten Platz seines Gegenübers. Dieser lachte kurz und schob sich zwischen den Sätzen weiter immer wieder etwas zwischen die Zähne. „Verzeiht die Unannehmlichkeiten. Das ist mir jetzt ein wenig peinlich. Mein Körper verbraucht relativ viel Energie. Ich habe daher eigentlich ständig Hunger, ich könnte den ganzen Tag essen.“ „Freut Euch doch, Ihr seid die Gesundheit in Person. Wer weiß schon, wie lange so etwas hält. Man soll das Essen genießen, solange es schmeckt, denn die nächste Fastenzeit kommt bestimmt. Das weiß ich aus eigener Erfahrung nur zu gut.“ Nickend nahm der großgewachsene Mann die Schale in beide Hände und kippte den Sud aus dünner Suppe, Fleischstückchen und restlichem Reis in einem Zug hinunter. „Wohl wahr“, sagte er darauf und lächelte selig, doch sein Blick schien zugleich absolut klar und fokussiert, während er fortfuhr und zeitgleich das verbleibende Buffet zur Seite schob: „Aber ich habe nicht vergessen, warum wir hier sitzen, mein Lord. Reden wir über das Geschäftliche.“ „So schnell? Möchtet ihr nicht bei ein wenig Verdauungstabak erst einmal alles sacken lassen?“ „Das würde ich normalerweise, aber wir wollen doch nicht die süßen Früchtchen unserer Beziehung so schnell wieder verderben lassen... Nur ein paar Kirschlein zwischendurch genehmige ich mir noch wenn es recht ist.“ Cirdan nahm einen tiefen Zug und hob beide Augenbrauen. Er hatte es schon bei ihrer ersten Begegnung gemerkt, aber hinter Ezra Sterlinson stand weit mehr als nur ein einfacher Mann. Und für jemanden, der noch am gestrigen Tage oftmals nervös und voller Erklärungsnot wirkte, schien er nun nur allzu klar und versiert zu sein, dass der Elf nicht umhin kam, noch einmal zuzugeben: Er war von diesem Menschen genervt, stellenweise angewidert und auch ein Stück weit erbost, aber nun durchaus auch beeindruckt und, beim Himmlischen, das schaffte nun wirklich nicht jeder. „Nun gut..“, sagte der Elf dann nach einer kurzen Pause des Schweigens. „Ich höre?“ An den Gästen vorbei und die Gänge des Fuchsbaus entlang stiegen die beiden Frauen in die vierte Etage ab. Als offensichtliches Hausmädchen gekleidet, wurde Mikki immer wieder kurz angehalten, wenn ein Gast nach dem Weg fragte. Auch wenn der Tag noch jung war, so durfte sich der Fuchsbau auch schon jetzt einiger Besucher erfreuen, die durch die Gänge wanderten, die meisten in einem ähnlichen Gewand gekleidet wie Sevvi, manche in Begleitung leichtbekleideter Herren und Damen – je nachdem, was dem Besucher gefiel. Auf der Vierten angekommen, bog Mikki sofort ab, ignorierte die große, offenstehende Bühne, auf der ein paar Darsteller ein abstraktes Stück probten, das von einigen Musikinstrumenten begleitet wurde, und ging direkt zu einer Tür daneben, an die sie zaghaft klopfte. „Herein“, befahl eine freundliche Frauenstimme durch das dünne Holz. Mikki schob die Tür auf und als Severa an der Elfin vorbeischaute, da sah sie in einer Art groß gestalteten Umkleidekabine auf einem Stuhl vor einem Spiegel einen Paradiesvogel in Menschengestalt sitzen, der von einer Dienerin, die wohl gerade erst dem Mädchenalter entwachsen war, vorsichtig mit immer neuen Federn geschmückt wurde. Die Frau war von so vielen Farbtupfern übersät, dass man darunter keine Haut mehr erkennen konnte und man sie eher für bunt bemaltes Porzellan hielt, doch zugleich wirkte dies in keinster Weise unwillkürlich oder chaotisch, sondern auf eine seltsame Art und Weise bei aller Exzentrik ästhetisch ansprechend. „Ah Mikkalia!“, begrüßte die Dame sanft und lächelte. Mikki tat einen tiefen Knicks und neigte den Kopf, sodass der Blick auf Severa frei wurde. „Du möchtest wahrscheinlich Touma zum Unterricht abholen, nicht wahr?“ „Korrekt, Meisterin Haiyu. Wir lernen heute ein paar neue Zeichen.“ „Na da wird sich Touma aber freuen. Und die junge Dame hinter dir?“ „Das ist die Begleitung von Meister Hunters Geschäftspartner. Sie möchte ein wenig über unsere Kultur lernen, daher begleitet sie mich heute.“ Die Puppe formte ihren blutroten Kussmund zu einem dünnen Lächeln und richtete ihr Wort an Severa. Fast schon verwunderlich war es allerdings dabei, dass sie weder auf Severas fremdländisches Aussehen noch ihre geringe Größe einging, wo doch sonst jeder Gast sie zumindest einmal schief von der Seite angeschaut hatte. „Dann heiße ich Euch ebenso willkommen. Meine Name ist Kazumi Haiyu, ich bin die Kuratorin des Quellen-Theaters, jener Bühne, an der Ihr gerade vorbeigekommen seid. Ich hoffe, es gefällt Euch im Fuchsbau.“ „Es ist sehr ansprechend, danke“, antwortete Severa knapp aber auf Höflichkeit und mit einem kurzen Knicks bedacht, denn immerhin war sie im Umgang mit Adligen geübt und die Frau vor ihr unterschied sich zumindest in Sachen Auftritt kaum von ihnen. Die Frau nickte kurz und schaute dann in den Spiegel an der Wand um ihr Antlitz zu überprüfen. „Wie schön. Kommt uns doch heute Abend besuchen, wir haben eine gar vorzügliche Vorstellung vorbereitet. Ich bin mir sicher es gefällt... Marie! Ich hatte doch schon so oft gesagt, nicht so viel Rot auf den Lippen! Was sollen denn die Leute denken?!“, fuhr sie mitten im Satz wie ausgewechselt ihre eingeschüchterte Visagistin an, griff nach einem Tuch und tupfte auf ihrem Mund herum, bevor sie sich wieder lächelnd an ihren Besuch wandte, wobei diesem aber beim besten Willen kein Unterschied zu vorher klar wurde. „Tut mir leid, wir müssen noch einiges vorbereiten, aber ich erwarte dann euren Besuch heute Abend. Macht Euch einen schönen Tag, ja?“ „Meisterin Haiyu“, entgegnete Mikki ruhig und in ihrer gewohnten Höflichkeit: „Was ist denn nun mit Touma?“ Für einen Moment blieb Kazumi nur starr sitzen, als habe sie den Namen ihres Sohnes zum ersten Mal gehört, bis sie nach einem kurzen „Ach richtig!“, dem Mädchen, das sie Marie genannt hatte, etwas ins Ohr flüsterte und diese zügig trippelnd den Raum durch eine hintere Tür verließ. Mikki indes verbeugte sich dankbar und schob die Tür wieder zu. „Sie scheint etwas...“, wollte Severa anfangen, doch war sich nicht so ganz sicher, wie der Satz weitergehen sollte. „Exzentrisch? Sonderbar? Es stimmt schon, Meisterin Haiyu ist etwas... spezieller. Eine Künstlerin eben. Aber ihre Vorstellungen sind durchaus ein Erlebnis, auch wenn man nur die Hälfte versteht.“ „Es wundert mich ein wenig, dass ihr auch sie mit Meisterin ansprecht. Ich dachte, Ihr wärt Mister Sterlinson unterstellt.“ „Das stimmt auch, aber die Herrscher des Fuchsbaus werden von allen als „Meister“ angesprochen. Der Fuchsbau ist so alt wie Shinju selbst und seine Gründer waren eben dies: Lehrmeister verschiedenster Schulen. Deswegen nennt man sie noch heute so. Sie sind Personen, zu denen man aufsieht. Und besonders Meister Hunter. Wenn jemand dieses Land retten kann, dann er.“ Severa spitze die Ohren und hob den Blick: „Warum denn retten?“ „Weil das Land krank ist. Verseucht mit dem, was so viele fälschlicherweise als seinen größten Segen ansehen.“ Cirdan lehnte sich bei Ezras Worten zweifelnd zurück und kniff die Augen zusammen, während er auf seiner Pfeife rumkaute. Dann nahm er einen tiefen Zug und bließ den Rauch auf dem Tisch aus. „Nur damit ich das richtig verstehe: Ihr wollt die weißen Kristalle aus Lyn'A'Tishal verwenden, um euer Wundermittel Asterid abzuschwächen?“ „Klingt wie das, was ich gerade gesagt habe.“ „Alles klar, verstehe, nur eine kurze Frage wenn ich mir diese Erlauben dürfte: Bekommt Euch der Tabak nicht gut?“ Ezra lächelte leicht und stützte den Kopf auf der Hand ab, bevor sein Blick wieder ernster wurde. „Lord vei Brith. Mitten in Asteria gibt es einen schäumend kochenden See, umgeben von einer Wüste aus Kristallen, die einen hochgiftigen Bodennebel hervorstoßen. Und all das ist entstanden durch eine Explosion, die so groß war, dass sie in einer Nacht den kompletten Kontinent in drei Teile zerrissen und neun Zehntel aller Lebewesen getötet hatte. Und dennoch ist das Dämonenwerk, das dafür verantwortlich war, noch immer in Nutzung.“ „Manchmal bringt der Fortschritt Opfer. In Lyn'A'Tishal würde niemand zögern, dieses Zeug zu nutzen.“ „Weil Lyn'A'Tishal die Risiken nicht kennt. Fortschritt bedeutet auch, sich weiterzuentwickeln und etwas Unkontrollierbares unter Kontrolle zu bringen. Das ist es, was dieses Land einst so groß gemacht hatte, auch wenn das viele vergessen haben. Wisst Ihr, in Asteria gibt es unzählige Götter- und Heldensagen. Eine der bekanntesten stammt aus einer Zeit, als die ersten Siedler das Land erreichten und die wilden Asterier langsam zu einer Mischlingsrasse wurden. Da gab es zwei junge Elfenkinder, die Zwillinge Lyra und Penn. Lyra, die Abenteuerlustige fand beim Spielen eine kleine Anzahl sonderbar leuchtender Steine unter einem großen Baum. Als sie einige davon mitnahm, fing der Baum Feuer und donnerte zornig, dass diese Steine der großen Erdenmutter Daii'ka gehörten und sie sie damit bestehlen würde. Ihr Bruder Penn wollte sie noch davon abhalten, doch sie ignorierte die Warnung und nahm sie mit nach Hause und legte sie sich unter das Kopfkissen, um sie am nächsten Tag auf dem Markt zu verkaufen.“ Der Mensch nahm einen kurzen Schluck, um seine Kehle zu befeuchten und warf einen Blick aus den Augenwinkeln, ob sein Gesprächspartner ihm noch aufmerksam zuhörte. Cirdan wusste nicht so recht, worauf Ezra mit dieser Geschichte hinauswollte, doch wartete geduldig darauf, dass es weiterging. „Als sie am nächsten Morgen aufwachte, fraß die Göttin Daii'Ka in ihrer gigantischen Wolfsgestalt das Dach von ihrem Hause und verlangte die Herausgabe ihres Eigentums. Allerdings waren die Steine unter dem Kopfkissen zu einer dünnen, klaren Paste gedrückt worden, was die Erdenmutter nur noch wütender machte und zur Strafe wollte sie die kleine Lyra mit Haut und Haaren verschlingen. Vor Schreck verschüttete das Elfenkind etwas Tinte vom nahe gelegenen Tisch auf die zerstoßenen Steine und in den wirren Formen schossen aus der Tinte kleine leuchtende Blumen. Und als die Göttin dies sah, wurden sie plötzlich still und ihre weisen Augen leuchteten vor Entzücken. Penn, der Besonnene griff sogleich nach einem Pinsel und malte noch mehr Blumen auf den Boden bis sie in einem Meer voller glasiger, glitzernder Blumen standen. Daii'Ka war begeistert und schenkte den Kindern noch mehr dieser Kristalle, auf dass sie die ganze Welt verschönern sollten. Die Steine waren Asterid und das was die Kinder dort geschaffen hatten, das waren die ersten Züge unserer heutigen Papiermagie.“ „Und genau deshalb sieht man Papiermagie in unserem Land auch als religiösen Ritus. Es ist eine Gabe der Erdenmutter und zugleich ein Geschenk an sie. Und indem wir sie weitergeben, ehren wir das Vermächtnis der Zwillinge“, beendete Mikki ihre Erzählung während sie auf dem Papier ihr Zeichen beendete und daraufhin das Papier antippte und die dunkle Tinte schlagartig in einem warmen, gelblichen Ton zu leuchten begann. Severas Augen wurden immer größer und sie schaute gebannt auf den hellen Schein, ignorierte völlig wie dies den jungen Touma neben ihr völlig kalt ließ und er sich gelangweilt aus seinem langen Schopf einen Zopf flocht. „Soviel zur Geschichtsstunde, aber können wir denn nichts Spannenderes malen als magisches Licht, Tante Mikki?“, quängelte der Junge und kippelte auf seinem Stuhl, was die Zwergin kein Stück nachvollziehen konnte. Sie fand diese Papiermagie faszinierend, gar wundersam, wie schon am ersten Abend, als Ezra ihre Hand geführt hatte und diese hell leuchtende Blüte aus dem Papier wuchs. Mikki jedoch verzog keine Miene, sondern antwortete lächelnd: „Du kannst dich ja an den Geistergeschöpfen versuchen, Touma. Deine Mutter wird sich darüber sicher freuen, wenn du ihr bei ihren Theaterstücken so weiterhelfen kannst.“ „Aber Tante Mikki“, wurde der Kleine noch lauter: „Ihr wisst doch, wie schwer das ist. Und außerdem ist das langweilig! Geistergeschöpfe können doch gar nichts, sie sind nur kompliziert. Kann ich nicht etwas Nützliches lernen? Wie Elementarverzauberungen oder komplexe Manipulationen?“ „Touma!“, gab sie zurück nun doch selbst etwas lauter, jedoch noch immer äußerst freundlich, sodass es in den meisten Ohren wohl eher wie eine Bitte klang als eine Aufforderung. „Bitte benimm dich! Wir haben einen Gast, der so etwas noch nie gesehen hat und von uns lernen möchte!“ Sofort verstummte der Junge erschrocken, als hätte er noch nie gehört, dass die Elfin so laut geworden war. Wahrscheinlich war ein solcher Tonfall für die liebevolle Frau äußerst untypisch. Er tat Severa schon fast Leid, doch zugleich war es ein seltsam beflügelndes Gefühl, dass jemand ihretwegen so zurechtgewiesen wurde und sie kam nicht umhin, Mikkalia immer mehr zu mögen. „Eine Frage hätte ich schon noch...“, warf sie dann aber ein, während sie vorsichtig nach dem Füllfederhalter griff und die glänzende Tinte langsam auf dem Papier nach Anweisungen der Elfin verteilte. „Wenn die Papiermagie für Euch doch so heilig ist, ist es dann nicht kontraproduktiv, ihre wichtigste Ressource abschwächen zu wollen?“, fragte Cirdan zweifelnd, aber in einem absolut rationalen Tonfall. „Manchmal muss man sich nun einmal von Dingen trennen. Ich glaube, dass Daii'Ka besonders deswegen so wütend war, weil sie die Gefahren des Asterids für ihre Schöpfungen fürchtete. Papiermagie war der erste Schritt zur Kontrolle über Asterid und ich will den nächsten einläuten. Hier geht es weniger um Revolution sondern um Evolution.“ Anerkennend hob der Elf die Augenbrauen. Er hatte den Menschen offensichtlich falsch eingeschätzt, zumindest schien hinter seinen Zielen zwar eine gehörige Portion Ambition, aber keine maßlose Selbstüberschätzung zu liegen. Doch noch war er nicht zufrieden. „Dann bleibt aber noch die Frage, wie ein einfacher Unternehmer aus dem weit entfernten Lyn'A'Tishal Euch dabei helfen kann und was dieser Unternehmer davon hat.“ „Es ist einfacher zu erklären, wenn ich es Euch zeige“, meinte Ezra und griff unter dem Tisch nach einer kleinen Schachtel aus hellem Holz, das von tiefen Maserungen durchzogen war. Er öffnete sie und holte dreierlei Kristalle heraus. Der erste war, das konnte der Elf schnell feststellen, ein tishalischer weißer Kristall, wie eben jene aus seiner Miene. Ein einfaches, aber formvollendet geschliffenes Stück, dessen milchige Oberfläche in der Sonne glitzerte, wie frischer Schnee und ihr spezifisches Funkeln pulsierte schwach, aber dennoch erkennbar. Fast schon zu schön für die Weiterverarbeitung, würde er sagen. Der zweite Stein hingegen war komplett durchsichtig mit einem hellen, bläulichen Schimmer, der das Licht in allen Facetten des Regenbogens brach, zugleich aber auch selbst schwache orangefarbene Strahlen in den Raum warf. So schon war er äußerst ansehnlich, doch hinzu kam eine starke Aura, die von ihm ausging, ein Wabern in der Luft, als würde er sie aufheizen, obgleich er nicht sonderlich warm schien. Doch am meisten Interessierte ihn der Dritte. Auf den ersten Blick war er gegenüber den anderen beiden abgrundtief hässlich: Sternförmig ragten unzählige Spitzen aus dem eher rundlichen Kern, die lange weiße Striemen an ihren Kanten entlang formten, als habe man ihn gewaltsam und abseits jedweder Vorsicht aus dem Stein geschlagen. Aus ihm pulsierte keine Aura, waberte keine magische Kraft, er schimmerte nicht einmal, dafür war seine kratzige Oberfläche viel zu trüb. Doch je länger der Elf das unvollkommene Stück betrachtete, nach seiner Brille griff und es aus der Nähe begutachtete, da bemerkte er eine immense Menge eingesperrter Macht in seinem Inneren, die durch die undurchdringbaren Wände hin und her geworfen wurde und sich langsam zu einer kleinen Kugel konzentrierter Magie pressen ließ. „Da spricht der Experte aus Euch“, bemerkte Ezra anerkennend. „Wie Ihr wahrscheinlich umgehend bemerkt habt, ist der erste Stein einer aus der Heimat. Woher genau, das kann ich Euch leider nicht sagen, er ist nämlich schon ein wenig länger in meinem Besitz. Leicht geschliffen aber ansonsten vollkommen unbehandelt. In der Mitte liegt der Schatz Asterias: Das Asterid. Oder besser gesagt: Das Asterid wie es bei uns aus dem Boden sprießt denn in den tiefen des Erdreichs – so sagen alte Schriften – soll es flüssig sein und in langen Strömen wie Blut durch die Adern der Welt fließen.“ „Man sieht ihm bereits an, dass er mächtig ist. Er verschleudert seine magische Energie, als würde es morgen verboten werden.“ „Und genau deswegen ist es auch so leicht, ihm diese abzuzapfen. Jedoch haben diese Dinge eben auch seine Kehrseite: er ist äußerst reaktionsfreudig und kann deswegen schnell außer Kontrolle geraten.“ Mit diesen Worten legte Ezra eine Metallplatte mit einem kleinen darauf fixierten Papieramulett unter den Stein und stülpte eine große gläserne Glocke darüber. Mit der einen Hand den Henkel der Glocke fest auf die Platte pressend, griff er mit der anderen nach einem zweiten Amulett, das ein ähnliches Zeichen, jedoch mit einem kleinen Haken als Anhängsel trug. Langsam verschwand die Schrift auf beiden Zetteln unter leichtem Glühen und ein schwaches Licht umfasste den kleinen Klumpen Asterid. Einen Moment lang geschah nichts und Cirdan lehnte sich etwas weiter vor, als habe er die Veränderung übersehen. Da schossen auf einmal wie aus dem Nichts helle, blutrote Flammen mit einem lauten Krachen aus dem Stein, rissen seine Struktur auseinander und vergruben die umherfliegenden Splitter wie Geschosse in dem schützenden Glas. Der Elf sprang erschrocken zurück und wich so weit von der Glocke weg, wie es nur irgend möglich war und auch Ezra drehte das Gesicht von dem Spektakel ein wenig weg, auf dass er nicht geblendet würde. Der Stein spuckte eine Flammensäule gen Himmel, die selbst durch die schützende Kuppel ein extrem lautes Rauschen verursachte und das Glas fing an, lange Risse zu formen. Doch bevor der Schutz in tausend Teile zerbrach, war der Spuk vorbei und der Stein schien verschwunden. Als Ezra die brüchige Glocke erhob, war von dem Asterid nichts mehr übrig geblieben. Lediglich der giftig-beißende Geruch, der den beiden in die Nase stieg, zeugte von dem, was einst sich darin befand. „Nächstes Mal warnt Ihr mich gefälligst vor, wenn Ihr der Meinung seid, irgendwelche waghalsigen Experimente zu machen“, knurrte Cirdan der sich die Brust fassend langsam wieder normal hinzusetzen wagte. „Aber Ihr müsst zugeben, die Wirkung hat es nicht verfehlt. Und nun stellt Euch das ganze nicht mit einem Stein sondern einer Wagenladung, oder gar einer ganzen Miene vor, die in die Luft fliegt und eine Kettenreaktion auslöst. Und trotzdem war niemand bisher auf die Idee gekommen, etwas dagegen zu unternehmen.“ „Aber Ihr?“, fragte Cirdan und hielt seinem Geschäftspartner demonstrativ den letzten Stein entgegen, den Ezra zur Hand nahm. „Dieser Kristall ist aus einer Fusion von zwei Teilen tishalischer Kristalle und einem Teil Asterid entstanden. Seine Eigenschaften sind dabei das genaue Gegenteil von seinen Ausgangsstoffen. Statt Energie abzugeben wird diese eher absorbiert und gespeichert und man kann sie nur durch Weiterverarbeitung wieder freigeben. In seiner reinen Form dient er als starke und sichere Energiequelle, doch in verflüssigter Form wird aus ihm ein mächtiger Katalysator. Besonders auf Eure Kristalle spricht das Mittel mit enormer Stärke an, verbessert die Magiewerte um ein Vielfaches. Seine Herstellung ist äußerst preiswert und zugleich schlägt er unserer beider Probleme: Wo er uns eine sichere Energiequelle gibt, wird er Euren Kristallen eine neue Macht verleihen. Ich nenne ihn daher den Asteria-Lyn'A'Tischal-Energiekatalysationskristall.“ Auf seine beschwörende Mimik und die ausladenden Gesten konnte Cirdan sich nach einer unangenehm langgezogenen Pause des Schweigens zu nicht mehr durchringen, als verwirrt eine Braue zu heben, was aber Sterlinsons Enthusiasmus keinen Abbruch tat. „Zugegeben, der Name ist noch etwas unausgereift. Ich bin für Vorschläge offen.“ „Mein erster Vorschlag wäre, dass Ihr mir vielleicht zeigt, wie er meinen Kristallen neue Macht verleiht.“ Mit einem ruhigen Lächeln nahm Ezra aus seiner Schachtel ein Reagenzglas mit einer klaren Flüssigkeit, die in hellem Licht pulsierte. Er öffnete den Korken und ließ etwas Flüssigkeit auf den tishalischen Kristall träufeln. Umgehend fing der Kristall an zu leuchten und die aus ihm pulsierenden Kräfte wurden zu einem klaren Herzschlag, so deutlich, dass man fast das Pochen zu vernehmen glaubte. Dann stand er auf, besorgte einen Mörser und zerstieß den Steins, gerade genug, um ein wenig Pulver herauszubekommen. Und obwohl dieses zumeist eher vollkommen glanzlos erschien, leuchtete diese Sorte nach wie vor zwar schwach, aber erkennbar von sich selbst heraus. Der Mensch schob das Pulver auf ein kleines Schälchen und übergab es Cirdan. Zögerlich nahm der Elf das Schälchen entgegen und beäugte das zwielichtige Material. Es sah noch immer aus wie der Kristall aus seiner Heimat, aber... sein Misstrauen konnte kaum größer sein. „Liebend gern würde ich es selbst vorführen“, meinte Ezra daraufhin, als er das Zögern seines Partner bemerkte, „Aber ich vertrage die Weißen nicht so gut. Als ich es das letzte Mal getestet hatte, musste ich mich danach übergeben. Schaut nicht so. Mir wäre es auch lieber, Ihr würdet eher die Blauen abbauen. Bessere Umsätze.“ Cirdan funkelte Ezra an und schnaubte hörbar. Was dieser hier verlangte, war schon recht dreist, aber dann... Bei aller Dreistigkeit, die dieser Jungspund an den Tag legte, hatte für ihn die Sicherheit des Elfen bisher immer oberste Priorität gehabt und er hatte ihn nie belogen. Zumindest nicht, dass Cirdan es bemerkt hätte. Nun gut, was soll's; Wer nicht wagt, der nicht gewinnt und etwas in ihm wollte einfach an Ezras Ambitionen glauben. „Wenn ich jetzt gleich vor Euren Füßen tot umfallen sollte...“, sagte er noch und führte die Schale zu seinem Mund: „Dann verfolgt Euch mein Geist bis ins Armenhaus.“ Kaum hatte er es ausgesprochen, warf er sich das Pulver ein und schluckte, ohne großartig darüber nachzudenken, die mit Speichel vermischte Paste runter, unterdrückte den Würgereiz, der ihn vor den Gefahren bewahren sollte. Einen Moment lang passierte nichts. Dann aber stieg in Cirdan eine Wucht auf, die er so noch nicht gespürt hatte. Weiße Kristalle gaben ihrem Nutzer die Kraft, die Luft zu manipulieren und waren im allgemeinen sehr schwach. Der Sturm, der sich in seinem Inneren auftürmte, ein Orkan, wenn man so wollte, war in Sachen Gewalt den gewöhnlichen Kräften der weißen Kristalle um Längen überlegen und als er einen Teil davon ausblies, drang aus ihm eine eiskalte Böe die Geschirr und Fensterläden zum Klappern brachte. Lediglich seine starke Beherrschung und jahrhundertelange Erfahrung schaffte es, diese Urgewalten halbwegs unter Kontrolle zu behalten, und doch hatte er in seiner ganzen Karriere noch nichts vergleichbares gespürt. Auch Ezra kniff die Augen vom Wind zusammen und lächelte zufrieden. Weitere Tests würden wohl nicht nötig sein. „Was sagt Ihr?“, fragte er und schaute den Elfen erwartungsvoll an, hielt ihm einen kleinen Spiegel hin. Cirdan stockte der Atem: Normalerweise sollten seine Augen nur mit einem schneeweißem Schleier belegt sein, doch gerade leuchteten sie und um seine Augen pulsierten die Adern an den dünnen Lidern in einem gleißend weißen Licht. „Was ich sage?“, fragte Cirdan und schaute den Menschen zweifelnd an, auch wenn sich zugleich ein Lächeln auf seine Lippen spielte. „Ich sage, das kann ich so nicht verkaufen. Das muss ich definitiv strecken, sonst bringt es noch einen Kunden um... oder der Kunde bringt jemanden um.“ „Aber wir kommen ins Geschäft?“ „Kommt darauf an“, meinte der Elf und griff mit zittrigen Fingern zu seiner Pfeife, konnte sich kaum beherrschen: „Wie lauten denn Eure Konditionen?“ Kapitel 12: Ankunft ------------------- „Vollkommen nutzlos...“, grummelte Teeza, während sie sich mit einem Fernglas in der Hand immer weiter nach vorne beugte, sodass sie fast über die dünne Brüstung fiel und nur von ihrem linken Bein gehalten wurde, das sich galant um eine Strebe geschlungen hatte. „Diese Dinger sind vollkommen nutzlos, Arisa“, wiederholte sie deutlich und drehte sich zu ihrer Waffenschwester um, während sie die Sehhilfe, die ihnen Celica aus ihrem Fundus zur Verfügung gestellt hatte, umherwirbelte. „Und warum?“, stöhnte Arisa und rieb sich die Augen, während sie der jüngeren Harpyie das Fernglas aus der Hand riss, bevor noch ein Unglück passierte und das wertvolle Artefakt der alten Welt in die tiefen Häuserschluchten stürzte. „Sieh es dir doch selbst an!“, meinte Teeza und drückte ihrer älteren Schwester das Fernglas vor die Augen. Arisa blickte hindurch und erkannte viele Details des Schlosses, von dem aus sie kaum 1000 Schritt entfernt waren. Sie erkannte die Patroullienwege auf den Mauern und einige wenige Adlige, die vor dem Schloss genaustens kontrolliert wurden, aber außer dem einem großen Fettfleck auf der rechten Linse konnte sie das meiste recht gut erkennen. „Und was soll nun kaputt sein?“ „Wie, was soll kaputt sein?“, knurrte die Jüngere, riss das Fernglas wieder aus Arisas Hand und sah selbst durch. „Fällt dir das nicht auf?! Alles ist viel zu klein und anders herum.“ Mit einem tiefen, fast schon verzweifelten Seufzer, verpasste Arisa ihr einen Schlag auf den Hinterkopf nahm das Fernglas und drehte es einmal herum. „...Oh.“ Arisa blies genervt Luft aus, schmiss sich wieder zwischen die Kisten des Speichers, auf den die beiden sich eingenistet hatten, und griff wieder nach dem Buch, das sie grade las. Seit sie in Shinju angekommen waren, war die Jüngere noch viel hibbeliger als zuvor. Vielleicht lag das auch daran, dass Teeza ursprünglich von der Insel stammte und sich anders als die anderen Harpyien zumindest etwas an die alte Heimat erinnern konnte, denn sie wurde erst im Kindesalter entdeckt und ihren biologischen Eltern abgenommen. Arisa konnte sich noch gut daran erinnern, sie hatte zu dem Zeitpunkt, als die Ammenschwestern mit ihrer zukünftigen Schwester ankamen, bereits neun oder zehn Winter hinter sich gebracht. Dass Elfen ihr Harpyienkind eher verstecken würden, als es zu töten, war sicherlich sonderbar und vielleicht sogar vom Gedanken her löblich, aber sie hatten ihr damit keinen Gefallen getan. Teezas geistiger Zustand, der schon fast an eine wilde Harpyie erinnerte, konnte nur daran liegen, dass sie nicht unter Celicas schützendem Flügel aufgewachsen war. Eigentlich also durfte sie Teeza keinen Vorwurf dafür machen, dass sie so einen Knacks hatte... aber ihre unaussprechliche Dummheit und ihre nervigen Eigenarten ließen bei Arisa keinen Platz für Mitleid. Sie waren vor wenigen Tagen auf der Isla Shinju angekommen, verdeckt eingeschleust durch einen Fährmann der sogenannten Diebesflotte, einem Schmugglerring in der Stadt, der den Seeweg kontrollierte. Die beiden hatten nicht ihr wahres Gesicht zu erkennen gegeben, sondern sich in dichte Umhänge gehüllt und die Klauen durch Handschuhe verdeckt. Bei der großzügigen Bezahlung hatte der Kapitän aber auch keine Fragen gestellt und da die Harpyien für das auf Raubzügen erbeutete Geld kaum Verwendung hatten, waren ihre Schatzkammern sowieso voll davon. In der Stadt hatten sie im Taikanhafen gewartet, bis die Nacht einbrach und sich dann ins Drachenviertel geschlichen, das höchste Gebäude in der Nähe des Schlosses ausgemacht und sich auf dem Speicher ganz oben eingenistet, zwischen den im Schatten liegenden Deckenbalken, zu denen niemand hochschaute und als Harpyien waren sie es sowieso gewohnt, auf hohen und schmalen Ästen zu übernachten. Seitdem beobachteten sie die Schlossmauern, studierten die Patrouillengänge und warteten... Sehr lang, denn wahrscheinlich würde es noch eine ganze Weile dauern, bis sie zuschlagen konnten. Das Baby war noch in Prinzessin Nomizons Bauch und wie die Harpyien gehört hatten, würde sich daran wohl auch noch in den nächsten Wochen nichts ändern. Unterdessen auf die Straßen von Shinju zu gehen und sich umzuhören war zu riskant und wurde nur im äußersten Notfall getan. Celica hatte sie dennoch jetzt schon los gesandt... „Zur Vorbereitung“, wie sie es nannte. Vorbereitung, so ein Quatsch, dachte sich Arisa, war sie doch selbst der Überzeugung, dass dieser Auftrag weniger eine ehrenvolle Aufgabe, als mehr eine Möglichkeit war, die beiden ewig Zerstrittenen mal eine Zeit lang aus der Siedlung zu halten. Sie sah es ja auch ein, dennoch fühlte sie sich gegängelt. Ihre ersten Beobachtungen haben besonders eines ganz klar gemacht: Das Schloss von Shinju war unfassbar gut gesichert. Niemand kam raus oder rein, ohne zweimal kontrolliert zu werden. Die doppelte, mit Papiermagie versiegelte Mauer hielt wahrscheinlich selbst den schwersten Angriffen unbeugsam stand und die Verteidigungsanlagen zerpflückten jeden Eroberer, noch bevor er auch nur ansatzweise in die Nähe kam. Und durch den stufenartigen Aufbau war es auch dann, wenn man die Mauer überwunden hatte, nicht garantiert, dass man sich auch nur annähernd der Gouverneursfamilie nähern konnte. Es sei denn, man kam von oben. Die Ballistae konnten nicht nach oben schießen, die meisten Wachen trugen keine Schusswaffen mit sich und wenn doch, dann waren es nur die Pistolen der wenigen Offiziere und diese wiederum hatten nicht einmal ansatzweise ausreichend Reichweite. Das Schloss schien durchaus gegen gewöhnliche Feinde gut gesichert zu sein, aber für die Dämoninnen der Lüfte würde es ein Leichtes werden, in die Gemächer einzudringen, ein paar Leibwachen zu überwältigen und das Kind ihrer Mutter zu entreißen. Da sie nur ein kleines Team waren, bestand keine große Gefahr, unnötig aufzufallen und man musste auch nicht irgendwelchen halbgaren Küken die Händchen halten. Über Teeza konnte man ja sagen was man wollte, aber sie nahm Aufträge immer ernst und tat immer das, was man ihr sagte, sofern man ihr in den Ausführungen keine Freiheiten für ihre Dummheiten gab. Auch in den Schlafsälen durfte es nicht zu allzu großen Schwierigkeiten kommen. Arisa hatte sich von den Ammenschwestern sagen lassen, dass die allermeisten kampflos das Kind herausgaben. Sie würde die Mutter aber sicherheitshalber in jedem Fall töten, damit keine losen Enden bestanden. Es war schon fast zu einfach. Und umso mehr verstand sie nicht, was sie jetzt schon hier wollte. „Sag mal Arisa...“, holte Teeza sie aus ihren Grübeleien heraus: „Warum haben die Federlosen eigentlich so viel Angst vor uns? Sie sind offensichtlich viel mehr als wir und anscheinend ja auch gut... Wie sagt man? Orientiert?“ „Organisiert. Wenn du in der Schule mehr aufgepasst hättest, dann wüsstest du dieses Wort und hättest auch schon die Antwort auf deine Frage“, meinte die Ältere, ohne von ihrem Buch aufzuschauen. „Pech, kann ja nicht jeder sich in seinem Zelt verkriechen und den lieben langen Tag den Kopf gegen Bücher schlagen.“ „Willst du, dass ich dir wieder das Maul stopfe, Grünschnabel?“ „Nein danke, eine Antwort auf meine Frage reicht völlig.“ Seufzend klappte Arisa das Buch wieder zu – sie schien heute wohl nicht mehr viel zum Lesen zu kommen – und lehnte sich tiefer in die Getreidesäcke auf denen sie saß, zupfte kurz an ihren Flügelfedern und sinnierte darüber, ob sie die Kleine nicht einfach im Unwissen lassen sollte. Aber gut, sie war Lehrerin und es war daher ihre Pflicht, den jüngeren Schwestern etwas beizubringen. Sie hatte es sich ja auch selbst ausgesucht. „Was denkst du denn, ist die Antwort?“, fragte sie schließlich und schaute zur Veranda. „Keine Ahnung, deswegen frage ich dich ja“, meinte Teeza, die sich mittlerweile Kopfüber vom Geländer hängen ließ, was auch immer sie beabsichtigte, so besser sehen zu können. „Versuch es bitte trotzdem.“ „Was versuchen?“ „Die Frage zu beantworten. Für dich selbst.“ „Soll ich nun etwa raten?“ „Du kannst es ja zur Abwechslung mit nachdenken versuchen...“, antworte Arisa, mittlerweile merklich verstimmt. Sie gab sich ja nun wirklich die beste Mühe, Geduld zu beweisen, aber Teeza wollte sie geradezu provozieren. Lediglich die krampfhafte Selbstermahnung nicht darauf einzugehen, hielt Arisa davon ab, ihrer Natur freien Lauf zu lassen. Vermutlich war es vergeudete Zeit, denn an diesem Hohlkopf perlten Weisheiten ab wie Schmutz und Wasser von den Blättern des Lotus aus den südlichen Bachläufen. Umso mehr überraschte es sie, dass die junge Harpyie ihre Akrobatik beendete, sich aufrecht auf das Geländer setzte und nachdenklich den Kopf auf den Händen abstützte. „Vielleicht weil wir viel stärker sind als sie?“, fragte sie nach einigen Momenten der Überlegung. „Gut möglich, dass wir es sind, aber das würde unsere zahlenmäßige Unterlegenheit nicht wettmachen. Und du hast es ja auch selbst beim letzten Einsatz gesehen: Es gibt viele Federlose, die durchaus wehrhaft sind und gegen einen Kitzune, der seine Fuchsgestalt beherrscht, sehen wir nicht allzu gut aus. Nein, unsere Stärke liegt in unserem Mythos.“ „Das klingt, als würdest du es dir gerade frei ausdenken.“ „Wenn du mich nur nerven willst, lassen wir es einfach, ich habe damit auch kein Problem.“ Wie zur Entschuldigung, sprang Teeza mit einem Satz vom Geländer hinunter und setzte sich im Schneidersitz vor ihre große Schwester, schaute sie mit den gleichen großen Augen an, die die Kleinen immer machten, wenn Arisa eine Vorlesung hielt. Nur mit dem Unterschied, dass es bei Teeza merklich gespielt wirkte; dennoch zog der Blick bei der Lehrerin und sie fing an, weiter auszuführen: „Wenn wir angreifen, kommen wir schnell und plötzlich, packen uns die Erstbesten, zeigen keine Gnade und lassen zufällig immer jemanden übrig, damit dieser flüchten und von uns berichten kann. Anders als die Feiglinge, die es sich auf ihren Schienen und in den Zügen gut gehen lassen, kennen wir das Ödland wie unser Daunenkleid. Und unser Hauptsitz ist für jemanden, der nicht fliegen kann, beinahe unerreichbar. Die Leute hier in Shinju aber auch in Cher Enfant und allen anderen befestigten Siedlungen verkriechen sich vor den Gefahren der Wildnis, die sie nicht kennen und nur wenige wie diese komischen Eisenbahner und die Schmuggler trauen sich überhaupt, aus ihren sicheren Bauten zu fahren. Deswegen werden junge Harpyien auch sofort getötet, sobald sie ihre ersten Federn bekommen – weil man solche Furcht vor uns hat.“ „Also sind die Federlosen einfach nur feige Hühner?“ „Das ist vielleicht etwas grob zusammengefasst, aber im Großen und Ganzen soweit richtig“, bestätigte Arisa und platzte fast vor Stolz, hatte man doch noch nie Teeza wirklich etwas beibringen können, das nicht mit Gewalt, Sex oder einer Kombination aus beidem zu tun hatte. „Du, Arisa“, fing sie da wieder an, nachdem sie über die Worte der Älteren nachgedacht hatte und spielte mit den Strähnen ihres Haars. Das Rosa wurde schon immer blasser und die Spitzen offenbarten das klare Grau – die Haarfarbe an der man eine jede Harpyie erkannte und die sich am schnellsten durch die Mutation herausbildete. Viel schneller als Federn, Augen oder die hakenförmige Nasenform. „Wäre es nicht einfacher, wenn die Leute keine Angst vor uns hätten?“ Nun musste Arisa ihre Braue besonders hoch ziehen, denn so einen Satz hatte sie von diesem kriegerischen Miststück nun wirklich nicht erwartet. Ob dieser Ort vielleicht in ihrem tiefsten Innern so etwas wie Wehmut auslöste? „Ich meine ja nur... Wir werden jetzt von Mutter zu einer Mission geschickt, ein Kind von seiner Mutter zu zerreißen-“ „Entreißen...“, korrigierte Arisa und brachte ihre kleine Schwester so erfolgreich aus dem Konzept. „Wir sollen es wegnehmen!“ „Weil es das Beste für unsere neue Schwester ist.“ „Und dafür muss sie ausgerechnet uns schicken, zwei aus ihren Eliten, weil ihre Ammenschwestern das nicht schaffen könnten. Ich beschwere mich nicht, versteh das nicht falsch!“ Einen langen Moment starrte Arisa ihre jüngere Schwester einfach nur an und wartete darauf, dass sie ihre Ausführungen weiterbrachte, bis sie schließlich fragte: „Und... worauf willst du dann hinaus?“ „Wäre es nicht viel einfacher, wenn die Leute keine Angst hätten und wir sie einfach fragen könnten, ob sie uns das Kind geben?“ Stöhnend schlug Arisa die Hand gegen den Kopf und rieb sich die Augen. Einen Moment hatte sie ja wirklich gehofft, dass aus Teeza mal ein halbwegs intelligenter Satz kam. „Teeza... wenn wir nicht gefährlich wären und uns die Federlosen nicht fürchten würden, dann gäbe es auch keinen Grund uns bei Ausbruch des Harpyiengens massenweise abzuschlachten. Mutter Celica entreißt die Kinder ihren Eltern nicht zum Spaß, sondern um uns zu beschützen. Sie nimmt uns nicht unseren Eltern weg, sie nimmt sie ihnen ab, weil wir sonst abgestochen oder ertränkt worden wären. Wir sind nicht die Monster, merk dir das!“ „Ach so... Wenn das so ist, dann will ich mich auch für Mutter anstrengen, damit sie stolz auf uns ist!“, meinte die Jüngere daraufhin, raffte sich wieder auf und stemmte voller Tatendrang die Hände in die Hüfte, ging mitsamt des Fernglases zurück zum Geländer. Arisa lächelte milde bei diesem Anblick, legte aber zugleich den Kopf nachdenklich schief. Teezas Eltern waren genau jene Utopie, die sie gerade beschrieben hatte: Liebende Eltern, denen ihr mutiertes Kind nicht einfach nur abgenommen, sondern weggenommen wurde. Arisa war damals noch zu jung um selbst dabei zu sein, aber sie hatte damals mitbekommen, dass Teezas Vater angeblich sogar zur Axt gegriffen hatte, um Frau und Kind zu beschützen. Zwar schlotterten ihm die Knie, denn er war kein Kämpfer, aber dennoch... die Ammenschwestern hatten einige Wunden davontragen müssen. Alle beide hatten Teeza bis zu ihrem Tod nicht rausrücken wollen. Ob das Mädchen das wohl wusste, tief in ihren Erinnerungen? „Hey Arisa!“, rief Teeza daraufhin ganz aufgeregt, wieder so stark über das Geländer gelehnt. Langsam ging sie ihr gehörig auf die Nerven. „Was ist denn nun schon wieder?“, stöhnte Arisa als sie zur Brüstung kam, doch da drückte ihre kleine Schwester ihr bereits das Fernglas auf die Augen, packte sie am Hinterkopf und richtete sie auf die Stelle aus, die sie vorher beobachtet hatte. Auf dem Platz des Hofes liefen einige Bedienstete aufgeregt um eine große Rikscha herum, bildeten eine Gasse. Dann erschien ein großgewachsener Elf mit hellen Locken, gekleidet in geradezu hoheitliche Gewänder, die dennoch etwas äußerst Militärisches hatten. „Wahrscheinlich dieser Enfanter Oberst, der sich das Gouverneurstöchterchen angelacht hatte“, murmelte Arisa und wollte schon enttäuscht das Fernglas senken, da bemerkte sie, wie sich plötzlich die große Pforte öffnete, die sonst fast den lieben langen Tag verschlossen blieb und nur selten aufgemacht wurde. Gut, das war zuweilen nichts Besonderes, aber der Aufwand, der hier betrieben wurde, ließ sie dennoch innehalten. Und das lohnte sich: Aus dem Schloss heraus betrat, unter einem Schwall weiblicher Bediensteter, die ihre Hand hielten, den Schweiß vom Kopf tupften und ununterbrochen auf sie einredeten, eine bildschöne Elfin mit silbrig grauem Haar die Szene, gekleidet in einem lockeren Morgengewand, das ihr fast von den Schultern fiel. Mit der einen Hand ließ sie sich auf unsicheren Füßen zur Kutsche führen mit der anderen hielt sie sich ihren kugelrunden Bauch. Auf halbem Wege verkrampfte sie und kippte fast nach vorn, doch ihre Mägde hielten sie fest und rappelten sie wieder auf. „Prinzessin Nomizon...“, flüsterte Arisa und nahm grinsend die Linsen von den Augen, „Sind die Wehen etwa doch früher eingetreten? Welch bezaubernder Zufall...“ „W-was ist los? Was hast du gesehen?“, fragte Teeza und griff nach dem Fernglas, um noch etwas vom Tumult zu erhaschen. Doch die große Schwester antwortete nicht darauf. Stattdessen griff sie nach ihrem Umhang, den sie sich tief ins Gesicht zog und legte ihre Handschuhe an, machte sich bereit, die Straße zu betreten. „Könnte sein, dass wir doch früher diese Stadt wieder verlassen können als gedacht. Ich höre mich mal in den Straßen um. Du bleibst hier. Wenn ich bis nach Abenddämmerung nicht wieder zurück bin, suchst du mich.“ Ohne Widerworte abzuwarten, schlich Arisa durch die Tür ins Treppenhaus und verschloss diese leise hinter sich, doch riss sie direkt darauf wieder auf. „Und Teeza... wenn ich hier nachher Tote, Geiseln oder tote Geiseln finde, findest du dich morgen an die Schiene der Shinju-Enfant-Linie gekettet wieder, damit das klar ist!“ Dann zog sie die Tür wieder zu und ließ die jüngere Harpyie zurück, die nur einen Moment verdutzt in Richtung Ausgang sah. Dann spuckte Teeza verächtlich aus und wandte sich wieder dem Fernglas zu. Kapitel 13: Feinschmecker und Festlichkeiten -------------------------------------------- Wenn man das Cheváviertel betrat, bekam man das eigenartige Gefühl, in eine andere Welt abzutauchen. Die geschwungenen Dächer, die starke Verbindung aus Holz und Papier und auch der weiche, helle Lehm wichen roten Ziegeln oder massivem Gestein, die im stabilen Fachwerkstil aufeinander gesetzt und mit viel schwarzem Eisen zur Verstärkung an den Querbalken und zur Verzierung auf den spitzen Dächern ausgestattet waren. Die Straßen waren gepflastert und mit blassroten Bergblumen in schönen hölzernen Blumenkästen am Wegesrand geschmückt. Lediglich die Papierlaternen und die hölzernen Fensterläden, sowie die eckig gestalteten Götterfiguren, die pastellfarbenen Bäume und die bunte Leuchtschrift an den Geschäften erinnerten Severa an die faszinierend fremden Eindrücke, die sie bei ihrer ersten Fahrt in einer Rikscha hatte. Ansonsten wirkte dieser Stadtteil – der sich um einen großen Platz mit einem stolzen Mosaik eines großen, schwarzen Pferdes mit eisblauen Augen und weißer, wilder Mähne in dessen Mitte erstreckte – Lyn'a'Tishal erstaunlich ähnlich... und damit schon fast befremdlich. Auch die Leute trugen hier eher Kleidung tishalischer Natur, auch wenn sie dem weiten asterischen Schnitt folgten und auch nicht wenige die langen, einteiligen Gewänder zu schätzen wussten. Und die Kitzune waren – schon im restlichen Shinju eine Minderheit – hier noch seltener anzutreffen. Aber auch die Menschen und Elfen wirkten so viel anders als außerhalb: Ihre Haare waren hell gebleicht, sodass manch ein Schopf hier schon fast als dunkelblond durchging, der sonnengebräunte Teint wurde mit viel Schminke bei Frauen wie Männern aufgehellt und die Damen vergrößerten sich zusätzlich die schmalen Augen mit langen Wimpern und stark geschminkten Lidern. Ezra hatte es erklärt, während sie zusammen mit Cirdan und in wachsamer Begleitung von Shiro durch die Straßen gingen: Das Cheváviertel war ein Bezirk, in dem sich die meisten Cher Enfanter der Stadt aufhielten. Cher Enfant war ein altes Königreich auf der anderen Seite des Kontinents, ein von einem hohen Gebirge durchzogenes Land, das stark durch tishalische Einwanderer geprägt worden war. „Das verwundert mich doch etwas, Mister Sterlinson“, gab Cirdan zu denken, der sich sichtlich wohl in einer zumindest etwas mehr gewohnten Umgebung fühlte. „Bevor ich euch kannte, habe ich noch nie etwas von Asteria gehört und ich wage zu bezweifeln, dass dies einer meiner üblichen Bekanntschaften tut. Und von denen hat immerhin so mancher 300 Winter und mehr hinter sich. Außerdem sieht außer Euch und mir hier nun wirklich niemand richtig tishalisch aus.“ „Das mag daran liegen, das Asteria zwar ein Einwanderungsland war, allerdings schon vor mehrere tausend Jahren. Viele kamen aus Lyn'A'Tishal und hatten sich besonders im Westen, jenseits des Souciel-Gebirges angesiedelt. So entstand dort nach einiger Zeit die Monarchie Cher Enfant, die älteste noch bestehende Zivilisation des Kontinenten und auch mit weitem Abstand die größte. Durch seine hohen Berge war es von der großen Explosion und dessen Nachwirkungen weitestgehend verschont geblieben. Es wird schon seit Generationen vom Geschlecht der Vilbeaux geführt.“ Cirdan erhob die Brauen, als er den Namen hörte: „Das klingt sehr nach Heimat.“ „Wen wundert es? Bis vor 1500 Jahren gehörte diesen Menschen eine untergehende Grafschaft im Süden Lynasas, bis sie von aufständischen Bauern vertrieben wurden und Lyn'A'Tishal verließen. Hier haben sie dann dank einer Mischung aus Handel, geschickter Heiratspolitik, Intrigen und Kriegen das Königreich Cher Enfant aus der Annektion von Fürstentümern erbaut. Ihr Wappentier, das Chevá, ist ein seltenes Wildpferd, das auf den hohen Plateaus des Souciel-Gebirges lebt und durch seine breiten Hufe so laut auf Gestein galoppiert, dass es wie Donnern klingt, weswegen man sie auch die Sturmboten nennt. Legenden nach ritt König Quentin I. auf einem Chevá in die entscheidende Schlacht.“ Der Elf lachte kurz auf und schüttelte erheitert den Kopf: „Und ich dachte schon, ich sei der einzige Tishaler, den dieses Land vor dem Ruin bewahrt.“ „Mitnichten. Asteria ist ein Schmelztiegel unzähliger Völker, die dieses Land erst reich gemacht haben. Entdecker und Forscher haben Asteria zu dem erhoben, was es heute ist und nicht zuletzt war dieser Ort auch für mich vor einigen Jahren ein rettendes Netz“, gab Sterlinson zu, winkte aber ab, als er nach den Hintergründen gefragt wurde, denn sie blieben vor einem großen, schneeweißen Haus stehen. Es war zweistöckig, wobei das zweite Stockwerk für eine große Terasse gekürzt wurde, auf der einige schick gekleidete Personen saßen und ein ebenso schick anmutendes Mittagessen zu sich nahmen. Anstatt der großen leuchtenden Lettern war über den Eingang – fast schon trotzig konservativ – ein großes Schild gehangen, an dem ein Rosengewächs mit großen, gepflegten Blumen herum kroch; die Blüten – wie könnte es auch anders sein – so weiß wie seine Fassade. Fast schon im Kontrast dazu stand der Name – pechschwarz eingebrannt in das Holz und in klaren, überhaupt nicht so typisch-asterischen Druckbuchstaben: Rose Blanche. „Ich dachte mir, so schön der Fuchsbau auch ist, wollen wir nicht den gelungenen Abschluss der Verhandlungen dennoch in einer etwas anderen Umgebung genießen? Und wo würde das wohl besser gehen als in der Rose Blanche, dem wohl besten Lokal im Cheváviertel.“ „Euer Hausmädchen wird aber sicher nicht so begeistert darüber sein, dass wir hierhin gehen“, bemerkte Cirdan, schien mit hämischen Grinsen darauf anzuspielen, wie die Elfin Ezra fast heulend vor die Füße gefallen war und ihn angebettelt hatte, doch nicht bei diesem aufgeblasenem Windbeutel zu speisen, nur weil er ganz akzeptabel kochen könnte. Er musste ihr versprechen, um das Viertel einen Bogen zu machen – nun standen sie vor dem Restaurant. „Bittet verratet es ihr nicht, sonst gibt es für mich die nächsten Wochen nur verkohlte Reste. Mikki ist eine sehr gute Köchin, keine Frage, aber manchmal braucht es etwas... wie könnte man sagen... Shiro, eine passende Beschreibung, bitte.“ „Das Essen spricht schon für sich, Lord vei Brith“, meinte der Kitzune nur, so absolut tonlos wie immer, und hielt der Dame und den Herren die Tür auf. Wie schon das Äußere klar machte, dass in diesem Laden nur wenig des fremdländischen Shinjuer Glanzes zu sehen sein würde, so war die Inneneinrichtung gar eine Bestätigung. Das Rose Blanche fühlte sich fast wie eine Heimkehr für die beiden Besucher an, mit seiner Theke aus dunklem Holz mit tiefen Maserungen, den gusseisernen, verschnörkelten Tischen, auf die schneeweiße Spitzendecken gelegt waren und dem massiven, über die gesamte Decke ragenden Kronleuchter, an dem Papierlaternen in Kerzenform angebracht waren. Akustik und Gerüche taten da ihr Übriges: In der Luft hing nicht das würzige Aroma, das zum Beispiel aus der offenen Küche von Hunters Bar drang, stattdessen kitzelte die Nase ein ganz und gar rustikaler Duft nach deftigem, mit schwarzem Pfeffer geröstetem Essen. Und von einer kleinen Bühne spielten zwei Musiker auf einem etwas verwitterten Klavier und einer angeknacksten Violine eine ruhige Melodie mit vertrauter Herkunft. Die Gäste kleideten sich in eine schlichte aber durchaus schöne Garderobe, die mit allerlei unsinnigen Knöpfen und Stickereien verziert und durch lange Stiefel aus groben Leder abgerundet wurde. Cirdan griff nach der Pfeife in seinem Mundwinkel, damit diese nicht aus seinem halboffenen Mund fiel. Severa zog ebenso eine Strähne hinter ihr Ohr während sie sich mit großen Augen umsah. Nie hatte sie erwartet, dass das Gewohnte sie mal so überraschen konnte. „Monsieur Sterlinson“, meinte da eine nasale Männerstimme vor ihnen und ein Ober mittleren Alters in adrettem Anzug und mit gezwirbeltem Schnauzer begrüßte die Gruppe mit einer knappen Verbeugung. Um seinen Arm war ein weißes Geschirrtuch gelegt. „Welch seltener, aber hocherfreuter Besuch. Möchtet Ihr zu...“ „Zu einem freien Tisch wäre nicht schlecht. Vier Personen. Ich habe aber keine Reservierung. Lässt sich etwas einrichten?“ „Ja, ich denke das sollte möglich sein...“, meinte der Portier, schaute aber seinen Gast etwas verunsichert an, während er in einem breiten Schmöker anscheinend die aktuellen Reservierungen prüfte. „Wir können den Tisch direkt hier vorn am Fenster anbieten, ist das in Ordnung?“ Er zeigte auf einen kleinen Platz, abseits des Geschehens, gerade groß genug für vier, an einem halboffenen Fensterladen, sodass man die Laute und die Gerüche der Straße besser mitbekam, als so manchem lieb war. Severa schaute ihren Master an, erkannte seine Ernüchterung. Natürlich, man hatte schon schlechter gespeist... aber auch besser. Und sie verstand Ezra über die Tage seit sie hier waren mittlerweile gut genug, dass ihr bereits klar war, dass der Mensch für derlei Dinge nicht gerade die besten Fühler hatte. Dabei lief es doch gerade so gut... Cirdan hatte am Nachmittag, als er sie zum Baden abgeholt hatte, bereits angedeutet, dass man sich langsam einig wurde und heute, am Ende der Verhandlungen schien es tatsächlich, als habe sich diese Reise gelohnt. Musste denn unbedingt jetzt so etwas der Stimmung einen Dämpfer verpassen? Doch zu ihrer Überraschung trat Sterlinson näher an den Mann heran und sprach leise aber deutlich: „Nein, das ist nicht in Ordnung. Meine beiden Gäste sind weit gereist, aus einem fernen Land, da kann ich Ihnen doch nicht den zweitschlechtesten Platz im besten Lokal der Stadt anbieten.“ „Dann tut es mir leid, aber wir können heute nichts Besseres ohne Reservierung anbieten. Immerhin ist Krönungstag, da will man sich auch hier im Cheváviertel mal wie seine Majestät fühlen.“ „So weit weg von der Heimat? Ich bin mir ziemlich sicher, dass mindestens die Hälfte eurer Gäste hier geboren wurde und in seinem ganzen Leben noch nie einen Fuß in Cher Enfant gesetzt hatte.“ „Das spielt für unser Volk keine Rolle. Mister Sterlinson, ich möchte Euch bitten, hier keine Szene zu machen. Wenn Ihr den Platz nicht wollt, dann ist da die Tür.“, antwortete der Bedienstete und zeigte auf selbige, setzte dann aber noch hinzu, „Und außerdem möchten wir ungern, dass unsere Gäste durch einen Fuchs belästigt werden.“ Der Portier ließ sich nicht unterkriegen, auch wenn Ezra ihn wie die meisten Asterier überragte. Aber vielleicht war die Bemerkung gegen Shiro doch etwas unglücklich gewählt, denn der blonde Mann fuhr sich schnaubend durchs Haar und haderte mit sich selbst, ob er seinem Gegenüber nicht doch einmal die Meinung geigen oder kleinlaut den Schwanz einziehen sollte – und Letzteres war nun wirklich nicht sein Stil. Cirdan spürte die Anspannung, schritt aber nicht ein und als Severa ihn ansah, war es fast, als würde ihm der Ärger, der sich anbahnte, eigentlich sehr gefallen. Vielleicht erfreute er sich sogar an Ezras Reaktion... oder er hatte sich bereits ausgerechnet, wie er daraus – unabhängig vom Ausgang – Profit schlagen könnte. „Gibt es ein Problem, François?“, erkundigte da eine Männerstimme hinter ihnen, höflich zurückhaltend, aber mit einem dröhnenden Bass, dass sich bei der Zwergin die Nackenhaare aufstellten. Als sie sich umdrehte, hatte sich vor ihr ein Berg von einem Mann aufgebaut, sogar noch größer als Ezra, gut genährt, aber zugleich mit breitem Kreuz und kräftigen Oberarmen, sodass man sich doch ernsthaft fragte, wie dieser Kerl durch eine gewöhnliche Tür passen konnte. Sein Gesicht zierten knallrote Wangen, Frisur und Bart waren genaustens gestutzt und von seiner Stirn perlten frische Schweißtropfen. Seiner Kleidung nach zu urteilen war er hier anscheinend als Koch angestellt, doch der Mangel an Flecken und der gewisse Schick, der mit all den Knöpfen und Verzierungen an der Jacke ausgestrahlt wurde, legte nahe, dass es sich um ein hohes Tier in der Küche, vielleicht sogar den Chef persönlich handelte. Francois, der Portier, wollte sich schon rechtfertigen, da fiel ihm Ezra jedoch ins Wort und breitete die Arme zu einem Willkommensgruß aus: „Enzo! Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen! Du siehst... gut aus! Bist du wieder gewachsen?“ „Das macht nur die Kleidung, darin sehe ich immer dicker aus. Aber schön dich zu sehen!“, antwortete der Koch lachend, erwiderte den Gruß und die beiden großgewachsenen Männer gaben sich zwei kurze Wangenküsse. Es wirkte seltsam komisch, jemanden zu sehen, der Ezra überragen konnte, dennoch sprachen die beiden auf Augenhöhe wie alte Freunde, obgleich man hinter der Fassade ein giftiges Kalkül von beiden Seiten aus klar spürte. „Also, wo ist nun das Problem? Ich bin sicher, das kriegen wir gelöst“, fragte Enzo geduldig und schaute in die Runde. Trotz seines schmalen, scheinbar freundlichen Lächelns, fuhr es Severa eiskalt den Rücken hinunter, als er sie ansah. Sie erkannte ein begieriges Funkeln in seinen kleinen, schwarzen Augen, die so wirkten, als würden sie einer Krähe gehören, war sich aber nicht sicher, ob das nur ihr galt, denn schnell wandte er den Blick jemand anderem zu. Shiro festigte den Griff um seine Klinge, ließ sich aber nichts anmerken. „Das Problem ist, dass ich meinen werten Gästen aus fernem Lande nicht den Platz am Pferdestall zumuten mag“, meinte Ezra und klang betont beleidigt, während er auf den berüchtigten Tisch zeigte. „So leid es mir tut, aber einen anderen Platz haben wir ohne Reservierung nun einmal nicht zur Verfügung“, beteuerte der Portier kleinlaut, denn auch wenn Ezra ihn nicht einschüchtern konnte, sein Boss konnte das umso besser. „Und du musstest ausgerechnet heute dafür kommen, Ez?“, stöhnte der menschliche Fels und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich kann mir den Vertragsschluss nicht aussuchen. Wir sind nun einmal heute zu einer Einigung gekommen. Kann ich ja nichts dafür, dass ausgerechnet heute Nationalfeiertag in einem Land ist, das sich auf der anderen Seite des Kontinents befindet.“ „Hier ist aber Cher Enfant näher als Shinju selbst, mein lieber Ezra, da zieht deine Argumentation nicht“, meinte Enzo unnachgiebig, schaute dann aber zu seinem Untergebenem. „François, die Gästeliste.“ Stumm übergab der Angesprochene das Buch und der Chefkoch schlug es instinktiv auf der letzten Seite auf, ließ den Finger über das Papier gleiten. Noch während er über die Liste flog und in seinem Kopf die Möglichkeiten durchging, fing er an, seinen Portier anzutraben. „Die Jeumonds waren heute nur mit halber Besetzung gekommen, du kannst also den kleinen Tisch, den wir rangeschoben haben, abnehmen. Dann frage ich mich auch, warum Madame Kizuna und Monsieur Letemps noch immer hier sitzen, die hatten den Tisch zur Mittagszeit bestellt.“ „Sie hatten noch Wein nachgeordert.“ „Wann war das letzte Mal?“ François zögerte: „Das... das war vor etwa 3 Stunden.“ Enzo klappte das Buch nickend zu und warf es schon fast dem winzigen Portier gegen die Brust, sodass dieser kurz aufkeuchte. „Dann wird es doch mal höchste Zeit, dass sie den Platz räumen. Wir sind ein Restaurant und keine Parkbank. Außerdem sind sie mir auch zu laut, ich höre sie bis hierhin.“ „J-ja aber die haben doch immer gut gezahlt und außerdem hat sich noch kein Gast beschwert.“ „Weil sie zu höflich sind. Die beiden können ja gern rumturteln, soviel es ihnen gefällt, aber nicht in meinem Haus. Nicht wenn ich Gäste habe, die einen Tisch wollen. Hier geht es nicht um Meister Hunter, sondern um die Tatsache, dass sie den Platz und damit auch unser Geld verschwenden. Und ich bin sicher, du willst die ganze Sache nicht in einem persönlichen Gespräch enden lassen...“, meinte Enzo und lehnte sich nach vorne, funkelte den Portier düster an. „Oder sehe ich das verkehrt?“ „N-nein Monsieur...“ „Also beweg dich!“ Noch einen Moment blieb François nur stumm stehen, als wäre er zu einer Salzsäule erstarrt, dann nickte er und huschte zu den Tischen. Severa atmete erleichtert aus. Es würde also kein weiteres Gezeter geben und sie musste nicht noch einmal das erleben, was sie am ersten Tag gesehen hatte. Ihre Furcht vor Sterlinson war abgeebbt und sie wollte sie nicht wieder auftürmen lassen. Aber das würde wahrscheinlich diesseits auch nicht passieren... der Koch war viel unheimlicher, als Ezra es jemals sein könnte. „Der Tisch wird dort drüben aufgestellt werden“, sprach Enzo daraufhin und zeigte inmitten der Tischgruppen auf einen freien Platz, unweit der Bühne entfernt. Besonders im Vergleich zu dem unterwältigenden Platz am Fenster mehr als nur eine Verbesserung. „Ich hoffe, das ist akzeptabel, Ezra?“ „Absolut.“ „Gut... Dann nur ein paar Punkte: Shiro bleibt stumm an der Bar stehen und benimmt sich. Die Waffen werden an der Garderobe abgegeben und er belästigt mir nicht die Gäste.“ „Shiro wird ganz sicher nicht-“, wollte Ezra bereits erwidern, doch diesmal war es ausgerechnet sein Adjutant, der ihm ins Wort fiel: „Ist schon in Ordnung, Meister Hunter. Ich hatte sowieso keinen Hunger.“ Der Koch nickte anerkennend, setzte dann aber hinterher: „Er darf natürlich sich auch an der Bar Essen und Getränke bestellen, aber er soll dort bleiben. Und was dich selbst betrifft, möchte ich dich bitten, einmal mit mir mitzukommen.“ Ezra legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. „Mich? Werde ich jetzt bestraft, weil ich meine Meinung sage, oder was?“ „Mitnichten. Aber dein Paket ist angekommen, ich dachte, du willst vielleicht die Ware begutachten, wenn du schon hier bist.“ Der blonde Mann wandte sich umgehend an seine Gäste und entschuldigte sich, bevor er Enzo in die Küche folgte. Shiro wollte ihn unbedingt begleiten, doch sein Herr winkte bestimmt ab. Er sollte eher auf Cirdan und Severa aufpassen, was der Kitzune nach einigen vergeblichen Versuchen, Widerworte zu geben, zähneknirschend so hinnehmen musste. „Shiro, was für Waren bekommt Euer Meister denn aus einem Restaurant?“, wollte Cirdan wissen, was Severa aufhorchen ließ, denn bisher schien sich ihr Master nicht für Ezras Geschäfte zu interessieren. „Unterschiedliches“, meinte der Kitzune nur, ohne mit der Wimper zu zucken. „Wir beliefern die Rose Blanche regelmäßig nebst Asterid auch mit Zutaten aus Cher Enfant, die ansonsten über die offizielle Einfuhr massivst verteuert werden würden. Zum Ausgleich bekommt Meister Hunter dann und wann auch mal ein Paket mit Feinkost geschnürt. Es wird wohl nur einen kleinen Moment dauern, bis er wieder zurück ist und mit Euch speisen kann...“ In diesem Moment brach eine lautes Streitgespräch inmitten der Speisenden aus, als François zwei offensichtlich mehr als nur angetrunkene Gäste freundlich aber bestimmt des Hauses verwies. Ezra folgte dem Koch durch eine Hintertür, vorbei an der Bühne in einen kleinen Gang, gerade schmal genug, dass eine Person hier durchpasste. Gegenüber den aufwendig gestalteten Lampen im Gästezimmer waren die kargen Steinwände hier nur durch einfache Leuchtröhren ausgebaut und das kalte, sterile Licht tat nicht gerade zur Besserung der Stimmung bei. „War denn der Aufruhr unbedingt notwendig?“, fragte Enzo, während sie eine Treppe in Richtung der Vorratskammer hinunterstiegen. „Welcher Aufruhr?“ „Der in meinem Restaurant. Die Gäste haben schon geguckt.“ „Die haben das doch nicht einmal gemerkt, du stellst dich auch manchmal an. Und ja, es war nötig. Ich brauche diesen kleinen Elfen für meinen Plan und der steht nun einmal auf Pomp. Da muss ich auch nach Abschluss der Gespräche jede Gelegenheit nutzen, um Eindruck zu schinden, wenn er mir nicht noch spontan abspringen will.“ „Ist das auch der Grund, warum du mich um diesen Gefallen gebeten hast?“, fragte Enzo und machte halt an einer Eisentür am Ende der Speisekammer, doppelt durch zwei komplizierte Schlösser gesichert, deren Mechanik derer am Fahrstuhl des Fuchsbaus nicht unähnlich war. „Wüsste nicht dass dich was angeht“, entgegnete Ezra und lehnte sich geduldig an eine der Kisten, in denen sich ein Haufen knallgrüner Äpfel tummelte. „Kann ich dir sagen: Absolut gar nichts. Es ist deine Sache. Aber es ist auch meine Sache, wenn du dich in meinem Lokal so lächerlich aufführst und alle Aufmerksamkeit erhaschst. Auch meine.“ „Weil dir aber auch nichts entgeht. Du bist einfach zu empfindlich.“ „Tja da hast du wohl recht... Sag, wie geht es Lady Renarchasse?“ „Die sitzt im Hungerkäfig.“ „Das weiß ich, aber du willst sie doch nicht sterben lassen, oder?“ „Ich lass mir was einfallen, aber alles nacheinander.“ „Wenn ich dir dabei weiterhelfen kann, lass es mich wissen. Du weiß, dass...“ „Ich weiß, ich weiß, Belle ist für euch so etwas wie eine Schutzheilige. Wenn ich deine Hilfe brauche, sage ich schon Bescheid.“ Enzo schnaubte grimmig, kramte nach zwei Schlüsseln und steckte sie beide in die vorgesehenen Löcher, drehte beide erst gegeneinander, dann den rechten eine halbe Umdrehung zurück, zog den linken ein Stück hinaus und drehte dann diesen zweimal um, während er den Bolzen immer tiefer einrasten ließ. Ein dröhnendes Klicken kam aus der Tür, was den Koch kurz zusammenzucken ließ. „Aber damit gehe ich also recht in der Annahme, dass diese beiden Fremden Teil deines Plans zur 'Rettung Asterias' sind?“ „Er ja. Sie... sie ist nur das Anhängsel.“ „Oh?“, meinte Enzo und schob die Tür auf. Ein Schwall eiskalter Luft kam den beiden entgegen, gefolgt vom eisernen Geruch frischen Blutes. „Was heißt hier 'Oh'?“, fragte Ezra und fuhr sich kurz über die fröstelnden Oberarme. „Nun, ich sehe, wie du sie anschaust. Und wer mag es dir verdenken? Ein Leckerbissen, auch wenn mich das schmiedeeiserne Halsband etwas irritierte. Ist sie etwa... eine kleine Zusatzprämie?“ „Nichts dergleichen. Sie ist einfach nur seine Begleitung... Können wir?“ Enzo bedeutete ihm sich in den Gang dahinter zu begeben. Ezra zögerte für einen Moment; er wusste, was sich dort befand und auch wenn er sicherlich einiges gewohnt war, so machten ihn diese Räume trotzdem nervös – wenn sie ihn nicht sogar verängstigten. Der penibel sauber gehaltene Gang führte links und rechts zu je zwei kleinen Stahltüren, aus denen laute Klopf- und Hackgeräusche ertönten, gefolgt von saftigem, fleischigem Klatschen, Reißen und Brechen. Erstmal war das relativ normal: das Rose Blanche verarbeitete das gelieferte Schlachtvieh noch selbst – ein Teil des Qualitätsanspruchs, die Waren so frisch wie möglich zu liefern, jedoch... ein spitzer Schrei aus einer der linken Türen, gefolgt von einem lauten, dumpfen Knall ließ Ezra bis ins Mark erschaudern und er blieb einen Moment stehen. „Keine Sorge, dein Paket haben wir unberührt gelassen“, meinte Enzo in einem fast schon gleichgültigen Ton. „Das ist mir schon klar. Und ich weiß, ihr habt keine andere Wahl... Ich werde mich aber trotzdem nie daran gewöhnen.“ „Ach? Und du hast in deinem langen Leben noch niemanden getötet?“ „Doch, aber ich esse sie danach nicht.“ „Nein, du lässt sie einfach nur liegen, oder gibst sie uns, weil du sie nicht verwerten kannst. Dennoch schaust du von deinem ach so schönen Fuchsbau auf uns herab. Aber gut, auch Hunter hatte Kiga einst für nicht mehr als ein nützliches Monster gehalten.“ Ezra senkte seinen Blick und fuhr sich über die trockenen Augen. Er hatte gerade genug um die Ohren; die versprochene Asteridlieferung für Cirdan, um endlich alles ins Rollen zu bringen, musste er erst noch besorgen, da war nun wirklich kein Platz für eine Grundsatzdiskussion. „Enzo... Ich weiß, dass ich gerade arrogant wirkte, aber ich verurteile euch nicht. Versprochen. Du bist ein enger Partner und ich will auch dass das so bleibt. Jetzt krieg dich wieder ein und zeig mir bitte Lord Hangyaku, bevor mir noch die Zehen abfrieren.“ „Ach richtig... tja deswegen... gab es ein paar unvorhergesehene Umstände.“ „Was denn für Umstände?“ Statt eine Antwort zu geben, entriegelte der Gourmet die linke hintere Tür und führte seinen Gast in einen kleinen Raum, beleuchtet mit dem gleichen spärlichen Licht. Der Raum war genauso steril wie der Gang davor und der Geruch von Eisen und abgestandenen Wasser war hier noch viel stärker. Mehr als ein Tisch mit einigem Schlachterwerkzeugen und einem großen Fleischhaken von der Decke befand sich hier nicht – bis auf die beiden Personen, die mit Säcken über den Köpfen an einen Stuhl gebunden waren und anfingen, sich in Panik hin und her zu winden, als sie den Lärm bemerkten. „Ich habe nach einer Person verlangt. Das hier sind... eindeutig mehr als eine“, meinte Ezra verunsichert, ging zu dem ersten Gefangenen und riss ihm den Sack vom Kopf. Angsterfüllt sahen zwei große, hellbraune Augen zu ihm hoch, während ein paar helle Strähnen in das schmutzige Gesicht fielen. Die junge Frau versuchte zurückzuweichen oder etwas Bettelndes aus ihrem Mund zu pressen, doch Fesseln und Knebel hielten sie in Schach. Wütend schaute er zu Enzo. „Willst du mich eigentlich verarschen?! Nie im Leben ist das Lord Hangyaku!“ „Natürlich nicht, das ist seine Begleitung. Sie hat uns gesehen, also waren wir gezwungen, sie mitzunehmen.“ „Das ist ja wohl nicht mein Problem, wenn ihr euren Job nicht gut macht!“ „Wir haben dir einen der wichtigsten Männer aus Shinjus hoher Gesellschaft wenige Tage nach Auftrag geschnappt, mit einer Lüge um eine spontane Geschäftsreise sein Umfeld ruhig gestellt und die einzige Zeugin war seine Geliebte. Das ist ja wohl ein mehr als nur großartiger Job!“ Ezra stieß genervt einen Schwall sichtbaren Atems aus, bevor er sich zur Frau kniete und sie in Augenschein nahm. Ihre Brust hebte und senkte sich in rapide kurzen Intervallen, während sie sich weiter in die Stuhllehne presste, um wenige Zoll zu gewinnen. Sie war, das musste er zugeben, schon hübsch anzusehen, keine atemberaubende Augenweide, insbesondere daher, weil sie ein Mensch war, aber dennoch schön, ohne wenn und aber und noch dazu fast ein Kind, vielleicht gerade 20 Jahre alt. Und das störte Ezra massivst. „Kann mir mal irgendjemand erklären, warum sich die schönen Damen immer an den erstbesten halbtoten Geldsack schmeißen müssen? Mich macht so etwas wütend...“ „Wie meinst du das?“ „Na wie soll ich das schon meinen? Ich will den Chef der ISE und siehe da, er wird von einem blutjungen Mädchen begleitet. Das ist doch ein Klischee.“ „...Du hast keine Ahnung, wer Okabe Hangyaku ist, oder?“, fragte Enzo, ging zu der anderen vermummten Person. Unter dem Sack befand sich ein Jüngling mit dunklem Haar, nicht viel älter als die Frau, aber anders als sie blieb er erstaunlich gefasst – so gefasst man bei einer Entführung halt sein konnte. Trotz allem Schmutz zeugte seine Kleidung von einem gewissen Adelsstand und auch seine Haltung spiegelte diesen Eindruck wieder. Als sich seine Augen an das kalte Licht gewöhnt hatten und er sich seiner Position bewusst wurde, fing er an durch den Knebel zu protestieren, rutschte hin und her, zetere schon fast, wenn man denn irgendwas verstanden hätte. Ezra ließ von der Frau ab und wandte sich dem Herrn zu, gab ihm eine schallende Ohrfeige, bevor er ihm den Knebel aus dem Mund nahm. „Ihr Idioten... Wisst Ihr eigentlich, was ihr da tut?!“, knurrte der junge Mann, während er seine Peiniger anfunkelte. „Seid ihr Lord Okabe Hangyaku?“, fragte Ezra, auch wenn in seiner Stimme nach wie vor eine gewisse Skepsis mitschwang. „Was? Wie dumm seid Ihr eigentlich?!“, keifte der junge Mann, was ihm eine zweite Ohrfeige, diesmal mit dem Handrücken, bescherte. Der laute Knall hallte wie ein Peitschenschlag durch den kleinen Raum und warf den Kopf zur Seite. „Ich habe doch wohl eine einfache Frage gestellt! Seid Ihr Lord Okabe Hangyaku, amtierender Präsident der Isla Shinju Eisenbahngesellschaft?!“ Der junge Mann hob langsam das Gesicht wieder an, präsentierte einen glühend roten Fleck an seiner Wange. Nach der ersten Aufmüpfigkeit folgte eine fast schon unterwürfige Ruhe. „Ich bin Lord Hangyaku... amtierender Präsident der ISE, korrekt“, murmelte er, was bei seinem Gegenüber für einige Verwirrung sorgte. „Das letzte Mal, als ich Lord Hangyaku gesehen hatte, war der aber gut 30 Jahre älter.“ „Das war vermutlich mein Vater. Ich führe die Geschäfte seit etwa zwei Jahren.“ Freudig schlug Ezra in die Hände, was seine Geisel kurz zusammenzucken ließ. „Na das ist ja perfekt! Wenn ich mich einmal kurz vorstellen darf: Ezra Sterlinson, der Name. Ich bin... tatsächlich auch in der Eisenbahnbranche tätig.“ „Ihr seid ein Schmuggler.“ „Ach Schmuggler ist immer so ein hartes Wort. Es klingt danach, als würde ich Traumblumensaft an die Leute bringen. Ich liefere das gleiche Material wie auch die ISE. Essen, Trinken...“ „Asterid... Ich weiß wer Ihr seid, Sterlinson. Oder bevorzugt ihr 'Meister Hunter'?“ Ezras freudig-höfliche Fassade rutschte von seinem Gesicht und offenbarte sein wahres, finsteres Grinsen, mit welchem er auf den Adligen vor ihm herabsah. Er hasste die ISE, aber nicht weil sie seine Konkurrenten waren, er hatte nichts gegen einen gesunden Wettbewerb. Die ISE aber schon. Seit 120 Jahren hielt sie in Shinju quasi das alleinige Recht der Wareneinfuhr, abgesegnet durch den Gouverneur, an dessen Rockzipfel sie sich klammerte – und als Gegenwert wurden die Warenpreise in die Höhe getrieben. Wenn sie nicht wäre, müsste Ezra auch nicht als Schmuggler agieren, so zumindest seine Meinung. Aber das trieb ihn grade nicht an. Seine Verwunderung der ersten Momente über das junge Alter von Lord Hangyaku – immerhin hatte er gut und gern ein Dutzend Lenzen weniger als Ezra auf dem Buckel – war verstrichen und es blieb nur der blanke Hass auf den Mann vor ihm, der immerhin seine ganzen Pläne in die Tonne getreten hatte. Und unbewusst hatte es der junge Mann gerade auch zugegeben: Er hatte nicht nur Belles Verhängnis in Auftrag gegeben, er stand auch hinter dem Überfall auf den Zug. „Gut...“, sagte er schließlich und knackte mit den Fingern. „Da Ihr bereits wisst, wer ich bin, wisst Ihr sicherlich auch, warum Ihr hier seid.“ „Ich denke, es geht um eure missliche Lage, nicht wahr? Wegen so etwas geht Ihr also so weit?“ „'Missliche Lage', was für eine Untertreibung! Habt Ihr überhaupt eine Ahnung, wie viel Geld ihr mich gekostet habt?!“ Mit diesen Worten rauschte Ezras Faust auf das Gesicht von Lord Hangyaku zu und traf die gerötete Wange mit voller Wucht. Unter einem dumpfen Klatschen wurde der junge Mann mitsamt seines Stuhls zur Seite gerissen und fiel stöhnend zu Boden. Ein Schwall hellroten Speichels schoss aus seinem Mund und verteilte sich auf dem Fußboden. Geschah ihm recht, was bildete sich dieser Knirps nur ein? Doch Ezra beließ es dabei, fuhr sich nur einmal schnaubend durchs Haar und ging ein paar Schritte hin und her, soviel man sich in diesem kleinen Raum halt bewegen konnte. Am Schopfe packend richtete er ihn wieder auf, griff dann nach einem freien Stuhl, um sich selbst zu setzen. „Entschuldigt“, seufzte er und suchte nach den Zigaretten in seiner Brusttasche. „Ich musste etwas Dampf ablassen. Enzo, willst du auch eine?“ Fragend drehte er sich zum Koch um, der aber schüttelte den Kopf. „Eigentlich will ich nicht, dass hier geraucht wird.“ „Das ist Medizin. Ich riskiere sonst noch, etwas zu tun, was ich später bereue.“ Enzo wollte noch etwas erwidern, da kam einer seiner Mitarbeiter auf ihn zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Es musste einer der Notre Chose sein, erkannte Ezra, denn er hatte die gleichen dunklen Augen, die für ihresgleichen typisch waren. Enzo nickte kurz, bevor er sich wieder an Ezra wandte. „Ich bin kurz weg. Meinetwegen rauche, aber nimm dir wenigstens eine der Schalen als Aschenbecher.“ Dann verschwand er und ließ die drei allein. Ezra schaute kurz zur Frau: Sie hatte sich weggedreht und kniff die tränenertränkten Augen zusammen. Ihre Atmung war schnell, unterbrochen durch immer wiederkehrende Schluchzer. Armes Ding... sie dachte wahrscheinlich, dass sie jetzt sterben müsste. Aber dafür gab sie sich verdammt tapfer. Doch er musste auch zugeben, dass ihre Begleitung sich nicht weniger respektabel verhielt. Lord Hangyaku war von der Tracht Prügel gezeichnet und stöhnte lauthals vor Schmerzen, aber er wimmerte nicht, klagte nicht sein Leid. Vielleicht gab es um den Gouverneur ja doch noch Personen, die etwas auf die Reihe bekamen. Nun musste er nur noch kooperativ sein. „Darf ich denn Euch eine anbieten?“, fragte er und hielt ihm eine Zigarette unter die Nase. Der Lord hob den Kopf und schaute mit fragendem Blick zu seinem Gegenüber. „Was in aller Welt stimmt denn mit Euch nicht?“, presste er noch heraus, bevor seine Stimme wegkippte. „Einiges. Gerade sind es vor allem schwerwiegende Existenzsorgen, der Grund, warum ich mich an Euch wende. Ich brauche gewissermaßen Eure Hilfe und wenn Ihr Euch nicht dagegen wehren könnt, umso besser. Wütend auf Euch war ich trotzdem, dafür die Schläge. Strafe muss nun einmal sein. Was ist denn nun? Wollt Ihr oder nicht?“ Hangyaku zögerte einen Moment, dann deutete er mit seinem Kopf nach hinten und rüttelte an seinen Fesseln. „Verständlich, einen Moment.“ Ezra schaute auf den Schlachtertisch und griff eines der Hackbeile mit dem er mit einem gezielten Schlag die Fesseln losschnitt. Dann übergab er seinem Gefangenen eine Zigarette und Feuer. Einen Moment rauchten die beiden Männer nur stumm, ohne sich dabei aus dem Blick zu verlieren. Das Beil lag unterdessen in Hangyakus Reichweite und nur einen einzigen Schwung entfernt von Ezras Hals. Doch dieser wusste genau, dass er nicht danach greifen würde, wenn ihm sein Leben lieb war. Wahrscheinlich war sie mit Absicht so offensichtlich plaziert. „Ziemlich starker Tabak“, meinte Lord Hangyaku nach einer Weile und klang danach, als hätte man ihm die Luft zugeschnürt. „Ich mag es etwas stärker. Das beruhigt die Nerven. Aber genug davon, lasst uns lieber beginnen. Vor etwas mehr als einem Monat wurde ein Zug auf einer schwarzen Linie von Harpyien überfallen, die Besatzung ausgelöscht und das komplette Asterid im Güterwagen vernichtet... Wisst ihr hierzu etwas?“ „Ich wüsste nicht, warum ich Euch das sagen sollte. Entweder jetzt sterben, oder Euch helfen und später sterben? Ich entscheide mich lieber für jetzt sterben.“ Ezra blies geduldig einen Ring des blaugrauen Dunstes aus und lehnte sich mit geradezu verletztem Blick zurück. „Ich habe nicht vor, Euch zu töten. Ihr habt es selbst gesagt, ich bin Schmuggler und zugegebenermaßen verletze ich dann und wann auch Leute... und ja, nicht jeder überlebt das, aber ein kaltblütiger Mörder bin ich nicht.“ „Was für eine verquere Art zu denken...“, grummelte der junge Mann und Ezra musste ihm durchaus zugute halten, dass er Mumm besaß, im Angesicht des vermeintlichen Todes. Nicht jeder würde derart rational handeln, in einer solchen Situation. Aber er konnte grade keine Dickköpfe gebrauchen. Und er wusste genau, wie man solche Männer brach. „Wirklich putzig, in mir ein Monster zu sehen, wenn man selbst den Tod von fünf Männern angeordnet hatte. Auch noch ausgeführt von den Dämoninnen der Lüfte. Ihr seid schon abgebrüht, das man zugeben...“ Volltreffer: Der junge Lord knirschte mit den Zähnen. „Das ist doch was völlig anderes...“ „Ach ist es das?“ „Das ist die Konsequenz, wenn man sich nicht an die Spielregeln hält.“ „Spielregeln, bei denen nur einer gewinnen kann, sind aber nicht das Papier wert auf dem sie geschrieben wurden. Nicht dass dies jemand verstehen könnte, der den Silberlöffel bereits seit seiner Geburt im Hintern stecken hatte.“ Ezra lehnte sich vor und blies den letzten Zug direkt in Lord Hangyakus Gesicht, während er den Stummel in der Schale ausdrückte. „Mein werter Lord, ich mache es Euch ganz einfach: Wenn Ihr mir helft, garantiere ich für Euer Leben. Ihr werdet wohl ins Exil verschwinden, nach Cher Enfant oder weiß der Totengräbervogel wohin, jedenfalls könnt Ihr nicht in Shinju bleiben. Aber wenigstens müsst Ihr nicht sterben.“ „Warum sollte ich mich darauf einlassen?“ „Weil Euer Leben nicht das einzige ist, das auf dem Spiel steht...“ Ezra deutete mit seinem Kopf kurz hinter sich; der Lord verstand den Wink umgehend. „...Also gut. Was wollt Ihr wissen?“ „Ich mache es einfach: Zwei Fragen, zwei Antworten, dann seid Ihr entlassen. Zunächst interessiert mich, warum Ihr uns aus dem Weg räumen wolltet und wie Ihr es geschafft habt dafür ausgerechnet die Harpyien der Falkenberge zu gewinnen.“ Ein kurzes, fast schon verächtlich mitleidiges Lachen entwich dem Gepeinigten. Sein Mund musste sich nach dem Schlag mit Blut gefüllt haben, denn seine Zähne waren mit einer dünnen, rostroten Spur überzogen. „Wirklich? Diese Frage? Und dafür diesen Aufwand? Dafür bringt Ihr Euch in Gefahr, indem Ihr einen der engsten Vertrauten des Gouverneurs entführt? Was glaubt Ihr denn? Es war rein geschäftlich! Das Schmugglergeschäft schadet der ISE! Und Ihr seid der Schmugglerkönig, oder etwa nicht? Ich wollte Euch aus dem Weg haben! Pech für mich, dass Ihr nicht persönlich in dem Zug saßt.“ „Glaubt mir, das war mehr Euer Glück als Euer Pech...“ erwiderte Ezra grinsend. „Aber ich verstehe ehrlich gesagt nicht, wie Ihr es geschafft habt, ausgerechnet mit Celica zu paktieren.“ „Habe ich nicht. Der Kontakt lief über einen Mittelsmann. Oder eher... eine Mittelsfrau.“ „Wen?“ „Weiß ich nicht. Ihr Gesicht habe ich nie gesehen. Unter dem weiten Staubmantel erkannte ich nur, dass es sich um eine Kitzune handelte.“ „Eine... Kitzune?“ Ezra legte nachdenklich die Stirn in Falten, schüttelte dann aber den Kopf. „Dann meine zweite Frage: Nachdem Ihr doch mit der Zerstörung des Zuges und der Ermordung meiner Leute Euer Ziel erreicht hattet, wie kommt Ihr dann dazu, die Schwarze Witwe – von der Ihr gewusst haben müsst, dass sie mit mir zu tun hat – zu beauftragen, den zukünftigen Schwiegersohn des Gouverneurs zu ermorden?!“ Einen Moment lang ringte der Lord um seine Worte, als würde er versuchen, Ezra nicht zu beleidigen. „Sagen wir einfach: Der Fuchsbau war auf einmal das kleinere Übel... und gewissermaßen auf einmal mein engster Verbündeter.“ „Glaube nicht, dass wir das genauso sehen.“ „Deswegen habe ich der schwarzen Witwe genau das versprochen, was Ihr am meisten brauchtet: eine Tonne reinstes Asterid, frisch aus Beaumir Shomare.“ „Woher der Sinneswandel?“, fragte Ezra und lehnte sich auf seine Oberschenkel, stützte das Kinn auf seinen gefalteten Händen ab. Lord Hangyaku nahm nun auch den finalen Zug aus seiner Zigarette, räusperte sich kurz und drückte sie in der Schüssel aus. „Oberst Luren Beauroux und Prinzessin Nomizon heiraten nicht aus politischen Gründen, sondern weil sie sich aufrichtig lieben.“ „Unerhört...“, meinte Ezra, doch der sarkastische Unterton funktionierte bei seinem Gegenüber nicht wirklich, denn dieser fuhr unbehelligt fort: „Ich wage zu behaupten, dass diese Liebe auf ihrem gleichen Sinn von Recht beruht. Und daher missfällt dem Oberst es auch, dass die ISE eine uneingeschränkte Einfuhrerlaubnis besitzt. Er will, dass der Asteridabbau reguliert, die Waren- und Energiepreise gedeckelt und die Schienennutzung geöffnet wird.“ „Verstehe... er greift Euer Monopol an.“ „Ein über 100 Jahre bestehendes Recht, immerhin haben wir Shinju mit aufgebaut.“ „Nein habt ihr nicht“, wollte Ezra sagen, behielt diesen Gedanken aber bei sich und wurde lieber konkreter: „Sagt Ihr mir, wie ich an die Ware komme?“ „Das wäre Frage Nummer Drei...“ „Und?“ „Das war nicht Teil des Plans. 'Zwei Fragen, dann seid Ihr entlassen', das waren Eure Worte, oder etwa nicht?“ „Seht Ihr? Fühlt sich scheiße an, wenn jemand anderes die Spielregeln ändert, wie er lustig ist, oder etwa nicht?“ „Dann war das Versprechen, uns leben zu lassen, auch nur leeres Gewäsch?“ „Ich lasse Euch gehen, dabei bleibe ich auch, aber erst, wenn ich sicher bin, dass Ihr mir alles erzählt habt, was Ihr wisst.“ Lord Hangyaku grinste schief und stütze sich nun ebenso auf seinen Oberschenkeln ab. „Sollen Euch die Dämonen holen, Sterlinson. Ihr macht mir keine Angst.“ „Wie schade... ich dachte wirklich, Ihr wärt vernünftiger.“ Mit diesen Worten griff Ezra nach dem Hackbeil, drehte sich um, zerschlug den Strick an den Handgelenken der Frau und griff ihren linken Arm und setzte die Klinge direkt am Gelenk an. Das Mädchen schrie und schüttelte den Kopf, versuchte, ihren Arm aus dem Griff des Mannes zu zerren, vergeblich. Ezra schien wie eine Steinstatue, schien ihr krampfhaftes Kämpfen nicht einmal im Ansatz zu bemerken. „Ich zähle jetzt bis zehn und wenn ich bis dahin nicht höre, was ich will, verprügel ich Euch mit ihrem Arm, bis Ihr krepiert! Eins...“ „Das würdet Ihr nicht wagen!“ „Gewillt es rauszufinden?! Zwei...“ „Wenn Ihr das tut...“ „Was dann?! Ihr könnt mir nicht drohen! Wisst Ihr was? Ich habe eine ganz tolle Idee. Ich lasse Euch zwischen jedem Schlag dabei zusehen, wie sie elendig verblutet! Klingt das gut? Fünf...“ „Ihr seid doch völlig wahnsinnig!“ Einen Moment hielt Ezra inne und schaute auf, die Klinge so fest an den Arm gepresst, dass eine dünne Blutspur hervortrat. Lord Hangyaku erkannte es sofort: Er sprach mit jemand komplett anderem, als nur wenige Momente zuvor. Das klare Azurblau seiner Augen wirkte nun eher wie blitzendes Eis und die weichen, klaren Züge waren einem harten Ausdruck gewichen, in dem nicht ein bisschen Platz für Mitleid war. Er kaute auf seiner Unterlippe, strich gierig erst über den zitternden Arm seines Opfers bis hoch zur Klinge, presste selbst seinen Finger an die Schneide, als hätte er nur auf eine Möglichkeit zur Eskalation gewartet. „Tja damit habt Ihr wahrscheinlich Recht...“, flüsterte Ezra und schaute einen Augenblick betreten zu Boden. „Es hat keinen Zweck, Ihr werdet mir nicht helfen. Schade, aber ich kann Euch ja schlecht zwingen. Aber Versprechen sollte man einhalten. Ich springe sofort zur Zehn.“ Dann holte er aus und ließ das Beil auf den Arm zurasen. Lord Hangyaku biss sich fest auf die Lippen, machte aber keine Anstalten einzuschreiten. Es war ein Bluff. Es musste einer sein. Er sah das Beil langsam näher kommen und wartete auf den Moment, dass die Klinge zum Stehen kommen würde, nur einen Zoll davon entfernt, die Haut des Mädchens zu verletzen... Bis die breite Klinge in das Fleisch schnitt und ein Schwall warmen Blutes das Hemd ihres Peinigers benetzte. Die Frau riss die Augen bis zum Anschlag auf und presste unter krampfhaftem Winden einen lauten Schmerzensschrei hervor, während sich das Metall immer tiefer in ihr Fleisch vergrub. Die Fliesen zeigten mit den hellen Spritzern abstrakte Werke des Schreckens, und Ezra und das Mädchen badeten bereits im roten Saft. „Verflucht, das reicht noch nicht...“, murmelte Ezra wütend, riss die Klinge wieder aus dem Arm und verteilte das Blut in langen Bahnen quer durch den Raum, holte erneut aus, um sein grausiges Werk zu beenden. Das Mädchen, für ein Zwinkern vor Schmerz gelähmt, schreckte sofort hoch, versuchte flehende Worte durch den mit Rotz, Blut und Tränen getränkten Knebel an Ezra zu richten, doch sie erreichten ihn in seiner Rage schon lang nicht mehr. Lord Hangyaku, von einigen Spritzern getroffen, saß da, kämpfte sich in seinem Stuhl nach vorne doch der blonde Mann war viel zu weit entfernt. Sein Arm war mittlerweile bis zum Ende gespannt würde jeden Moment nach vorn schießen und diesmal sein Ziel, das Abtrennen des Arms, sicher nicht verfehlen. Nur eines konnte er noch tun, um das Mädchen zu retten und stieß es lauthals aus: „Ihr habt gewonnen!“ „Entschuldigung, wie war das?“, fragte Ezra kühl und stoppte seinen zweiten Vorstoß, nur wenige Zoll von der klaffenden Wunde entfernt, über der nun bedrohlich die Klinge schwebte. Erschöpft sank Lord Hangyaku in sich zusammen. Er musste sich geschlagen geben. „Ich... ich sagte, ihr habt gewonnen... Ich besorge Euch so viel Asterid, wie ihr wollt...“ „Wo ist es?“ „Es gibt ein unterirdisches Lager, etwa auf halbem Wege zwischen Schloss und Hive.“ „Hab mich schon gewundert, wie man die Tonnen lagern konnte, ohne die ganze Stadt zu verstrahlen... Und wie komme ich zu diesem Lager?“ „Es gibt einen Zugang vom Schloss aus... Ich schleuse Euch ein.“ „Ich bin mir nicht sicher... Kann ich Euch überhaupt vertrauen?“ „Ich werde kooperieren... Versprochen. Nur tut meiner Schwester bitte nichts...“ „Eure... Schwester?“, fragte Ezra verwirrt schaute auf das verheulte, blutbeschmierte Mädchen, dann zu Lord Hangyaku und wieder zurück. „Ich dachte... Tut mir leid, aber Ihr seht Euch wirklich in keinster Weise ähnlich.“ „Sie wurde zu meiner Schwester, als Vaters zweite Frau sie mit in die Ehe brachte... Wir sind nicht blutsverwandt, ja, aber wir sind trotzdem Geschwister seit Kindesalter. Also bitte, verletzt sie nicht weiter!“, bat Hangyaku noch einmal und fügte demütig ein „Meister Hunter“ hinzu. „Oh da macht Euch keine Sorgen, das hatte ich sowieso nie vor...“ In diesem Moment schlug Ezra das Beil in eine Holzplatte und der Lord erkannte ein Papieramulett, angeklebt auf die Seite der Klinge, die von ihm weg gekehrt war. Langsam löste sich die dunkelrote Schrift auf und mit ihr verschwand auch das täuschend echte Blut restlos, welches sich noch wenige Augenblicke zuvor im ganzen Raum verteilt hatte. Hangyaku schaute zu seiner Schwester und erkannte auch dort, dass außer einem zwar großen, aber nicht sonderlich tiefen Schnitt nichts zu sehen war und Ezra griff umgehend nach einem sauberen, weißen Tuch und verband auch diese Verletzung sorgfältig. „A-aber was...?“ „Sprecht Ihr etwa kein alt-asterisch, werter Lord? Macht nichts, selbst wenn Ihr es könntet, würde Euch Falschblut wahrscheinlich nichts sagen, denn der Illusionszauber ist eine Erfindung von unserer werten Theaterkuratorin. Eigentlich wird er primär nur auf der Bühne benutzt, aber wie man sieht, verfehlt er auch in solchen Situationen nicht seine Wirkung.“ „Das war... alles nur ein mieser Taschenspielertrick?!“ Der erste Schock war beim Gefangenen schnell blanker Wut gewichen. Wut auf Ezra, dass er ihn so vorgeführt hatte, aber vor allem Wut darauf, mit welcher Leichtigkeit er hinters Licht geführt wurde. Er hatte viel zu schnell seine verletzlichen Stellen präsentiert und nun war er dafür eiskalt abgestraft worden. Sterlinson indes säuberte sich beruhigt die Hände und grinste siegessicher. Endlich ging es wieder bergauf. Endlich war er wieder auf dem richtigen Weg. „Lord Hangyaku“, fing er an und machte sich fertig zu gehen. „Wir werde keinerlei Zeit mehr vertrödeln. Morgen werde ich Euch abholen und Ihr werdet mir und meinem Adjutanten Zugang zu dem Lager verschaffen. Wie Ihr es versprochen habt. Danach werde ich mein Versprechen einlösen und Euch und Eure geliebte... Schwester freilassen, auf dass wir alle unserer Wege gehen werden.“ „Was lässt Euch glauben, dass ich Euch jetzt noch helfen werde?!“, knurrte Hangyaku wurde dann jedoch am Kragen gepackt und von Ezra mit nur einem Arm am Stuhl hochgezogen, dass es ihm die Luft abschnitt und er ganz genau das unheilvolle Funkeln in seinen Augen erkennen konnte. „Weil, mein werter Lord, Ihr mich noch gar nicht richtig kennengelernt habt. Wenn Euch meine Taschenspielertricks schon an den Rand des Wahnsinns treiben, dann wollt Ihr gar nicht wissen, wie grausam ich sein kann!“ „...Vielleicht hättet Ihr es eher wie die schwarze Witwe probieren sollen und mir einen blasen, während Ihr mich beim Schlucken anfleht, Euch zu helfen... Ich hoffe, Ihr endet wie sie im Todestrakt.“ Ezra wollte noch etwas Geistreiches erwidern, da griff eine Hand an seine Schulter und riss ihn nach hinten. Während der blonde Mann am Tisch entlang zurückstolperte, über seinen Stuhl fiel und rücklings auf dem Boden aufkam, erkannte er die breite Statur Enzos wieder. „Du!“, brüllte der Koch und packte das Gesicht des Gefangenen, zerquetschte es geradezu unter seinen Handflächen. Hangyaku schrie laut auf. „Du hast Lady Renarchasse das angetan?!“ Enzo hob den Mann höher und höher, hielt ihn zur Seite, dass er sich den anderen im Profil zeigte. Ezras Herz blieb stehen: Die dunklen Augen des Kochs waren milchig weiß und von den Lidern traten lange, pechschwarze Adern hervor, wanderten in blitzförmigen Linien den Hals herab, bis sie am Arm entlang die Fingerspitzen erreichten, so als würde seine Haut in tausend Stücke zerfallen und eine schwarze Bestie dahinter freigeben. Der Kiefer senkte sich weit über jedes menschenmögliche Maß und offenbarte eine Reihe blitzender Fangzähne. „Nein Enzo, nicht!“, wollte er noch rufen, da versenkten sich die Spitzen schon gierig im Hals des Lords und riss einen Brocken Fleisch in langen Sehnen heraus, gefolgt von einer Fontäne roten Lebenssaftes und das schmerzerfüllte Kreischen ging nach und nach in einem gequälten Gurgeln unter. Es dauerte nur einen Augenaufschlag bis Ezra wieder auf den Beinen war, einen zweiten, dass er in den Kiefer des großgewachsenen Kochs griff und ihn mit all seiner Kraft, noch bevor er einen weiteren Bissen zu sich nehmen konnte, im hohem Bogen zur anderen Seite des Raumes warf, weit genug von Hangyaku weg. Doch es war bereits zu spät: Die rechte Seite des Gefangenen war bereits komplett in rot gefärbt, während er mit immer müder werdenden Armen krampfhaft versuchte, das maulgroße Leck in seinem Hals zu stopfen. „Scheiße, nicht doch... Haltet durch, Lord... Wir kriegen das wieder hin.“ Sterlinson griff nach dem erstbesten Lumpen und presste ihn auf die Wunde. Doch auch dieser färbte sich blitzschnell rot und entließ das Blut an Ezras Arm herab, wo er dunkle Flecken in seinem Hemd hinterließ. Die Haut wurde kreidebleich und der Funke der Todesangst, der gerade noch in den tränenerfüllten Augen aufschien, war schon erloschen und einer gleichgültigen Leere gewichen. Wenige Momente später fielen Hangyakus Hände, die sich zuvor noch in Ezras Arm verkrampften schlaff herunter, und der Lord kippte ermattet nach hinten, wo er reglos sitzen blieb, als hätte ihn ein tiefer Schlaf ganz plötzlich übermannt. „Scheiße...“ Ezra wankte nach hinten und stützte sich am Tisch ab. Sein Magen drehte sich gerade auf links und er empfing das Verlangen, sich hier und jetzt zu übergeben. „Verfluchte Scheiße!“, brüllte er, griff nach dem Aschenbecher und schleuderte ihn dem mittlerweile wieder nüchternen Koch direkt an den Kopf. Enzo wehrte sich nicht, griff nicht nach der Schale, zuckte gerade mal ein wenig, als sie von seiner verschmierten Stirn abprallte. „So nah! So nah war ich dran und jetzt ist er tot! Ihr Drecksghule! Ihr verfickten Drecksguhle und eure verfluchte Vernarrtheit in Belle!“ „Ezra, ich...“, wollte Enzo anfangen, doch der Blonde war aus seiner Tobsucht nicht mehr zu befreien. Dabei war Ezra nicht nur wütend... er war vor allen Dingen vom Anblick erschüttert. So viele Tote hatte er schon in seinem Leben gesehen... aber wirklich daran gewöhnen konnte man sich wohl nie... „Shiro hatte recht...“, murmelte er und fuhr sich durch das schweißnasse Haar. „Ich hätte dich nicht um Hilfe bitten sollen...“ „Er ist schuld an Lady Re-“ „Halt! Deine! Klappe! Ich will nichts mehr von Belle hören! Meinetwegen soll der Gouverneur persönlich ihr den Kopf abschlagen. Und deine Entschädigung kannst du dir sonst wohin stecken! Wir sind hier fertig...“ „Du hattest nie vor, sie zu retten, oder?“, knurrte der Koch und richtete sich wieder auf, stellte sich demonstrativ in die Tür. Ezra brodelte vor Wut... die Belange der Ghule von Notre Chose waren ihm einerlei, warum raffte Enzo das nicht? Er hatte keine Lust mehr. Am liebsten wäre er in einem Himmelfahrtskommando umgehend zum Palast marschiert... „Geh mir aus dem Weg... Du hast mich grade nur überrascht, bilde dir nicht ein, du wärst stärker als ich.“ „Ich will wissen, ob du Lady Renarchasse gerettet hättest!“ „Warum interessiert dich das?! Sie ist doch noch nicht einmal eine von euch, sondern trägt nur das Mahl einer Sagenfigur auf dem Bauch!“, schrie Ezra wütend und wollte den Koch zur Seite schieben, doch dieser packte den Arm und drückte mit aller Kraft dagegen. Ja, Enzo war ihm durchaus unterlegen, aber er war kein Leichtgewicht und würde es Ezra dementsprechend auch nicht einfach machen. „Hör mir zu Ezra... ich gebe zu, ich war gerade unbedacht vorgegangen...“ „Hätte ich kaum geglaubt, bei deinem blutverschmierten Gesicht.“ „Aber du hattest mich auch hinters Licht geführt. Ich werde dir jetzt sagen, wie du und ich aus der Sache rausgehen, ohne unser Gesicht zu verlieren.“ „Ich habe dazu keine Zeit, ich muss einen Weg in den Palast finden. Entweder das oder in den Hive einbrechen...“ „Dabei kann ich dir helfen. Komm morgen zusammen mit Shiro zu mir, dann besprechen wir alles weitere. Im Gegenzug wirst du mir helfen, Lady Renarchasse aus dem Hungerkäfig zu befreien.“ „Wie willst du mir bitte helfen, in den Palast zu kommen?“ „Ich bin eingeladen. Die Rose Blanche stellt einen Teil des Banketts für die Hochzeitszeremonie und dafür habe ich auch Einladungen zum Ball erhalten.“ Ezra hielt einen Moment inne und schaute verwundert hoch. Für einen Moment verschwanden die Sorgenfalten in seiner Stirn, aber ganz überzeugt war er noch nicht. Er schnaubte lautstark, dann bohrte er seinen Zeigefinger in die breite Brust des Kochs. „Morgen früh. Wir werden da sein.“ Er wollte schon den Weg zurück antreten, einfach nur weg von hier, da packte Enzo ihn am Arm. „Was denn noch?“, knurrte er. „Was ist mit dem Mädchen?“ Ezra drehte sich um. Lady Hangyaku hatte ihren freien Arm, um den noch das Tuch gewickelt war, zitternd vor ihre Augen gelegt. Ihre Schultern bebten unablässig, während sie krampfhaft versuchte, unter ihrem Schluchzen noch Luft zu bekommen. Aus den Mundwinkeln liefen dünne, hellbraune Fäden, die den Knebel fast komplett eingefärbt hatten und in ihrem Dekolleté waren ähnliche Flecken zu erkennen. Wahrscheinlich hatte sie sich beim Anblick ihres verblutenden Bruders von ihrem Mageninhalt entledigen wollen... Der blonde Mann seufzte laut, packte den Arm des Mädchens, riss ihn nach unten und entfernte den Knebel. Panisch versuchte sie, sich gegen den Griff zu wehren, doch wie zuvor war es zwecklos und als sie auf Ezras Schimpfen nicht hören wollte, verpasste er ihr eine schallende Ohrfeige. Als der Knebel zu Boden fiel, hustete sie trocken, spuckte den letzten Rest Magensaft gemischt mit Speichel, der sich noch im Mund befand, aus. Sie konnte sich kaum beruhigen, da hob Ezra ihren Kopf am Kinn an und schaute ihr tief in die Augen. „Tut mir leid, dass Ihr das mitansehen musstet. Ich wollte nicht, dass Euch oder Eurem Bruder etwas passiert, deswegen werden wir auch sichergehen, dass ihr lebend aus der Sache rauskommt. Niemand wird Euch töten, wenn Ihr tut, was ich sage, habt Ihr das verstanden?“ Die junge Frau starrte ihn mit leerem Blick an und schluchzte nur laut, bis sie sich zu einem zittrigen Nicken durchringen konnte. Sie hatte Angst und war mit den Nerven am Ende, aber wer mochte es ihr schon verübeln? Ezra blieb ruhig, redete mit ihr so sanft es nur ging. „Sehr gut. Ihr werdet die Stadt aber dennoch verlassen müssen. Wir werden Euch mit ausreichend finanziellen Mitteln in der grünen Einöde aussetzen, einen Tagesmarsch von der nächsten kleinen Siedlung entfernt. Da werdet Ihr Euch ein neues Leben aufbauen, aber das wird ein paar Tage dauern, bis es soweit ist. Wir werden alles vorbereiten und Euch wird kein Leid widerfahren.“ „W-w-warum tut Ihr das? Warum habt Ihr Okabe getötet? Er hat doch getan, was Ihr wolltet!“ „Seid ruhig wütend, aber wie gesagt, ich wollte ihn nicht töten. Ich brauchte ihn noch. Wenn Ihr einen Schuldigen sucht, bedankt Euch bei dem Herrn dahinten.“ „Das ist ein Monster! Und Ihr seid auch eines! Ihr seid alle Dämonen! Geht weg! Lasst mich in Ruhe!“, keifte die Frau ihn in ihrer Verzweiflung an. Dann schlug sie seine Hand weg und wischte sich mit den schmutzigen Händen die Tränenflüsse aus den Augen, die wieder aus ihr flossen. Schon klar, dass ein junges Ding wie sie das nicht verstand, aber Ezra würde sie auch nicht umstimmen können. Alles, was er jetzt noch machen konnte, war für ihre Sicherheit zu sorgen. Dass ihr Bruder keinen Deut besser war als er, das würde sie wohl ihr ganzes restliches Leben nicht in ihren Kopf kriegen. „Denkst du, das ist eine gute Idee? Sie wird sich rächen, wenn sie wieder bei Kräften ist“, meinte Enzo, als Sterlinson sich gerade an ihm vorbei durch die Tür schieben wollte, die Ärmel nach oben krempelnd und den Arm aufkratzend, damit der Eindruck entstand, er hätte sich versehentlich selbst verletzt. „Wenn sie kommt und euch bedroht, dann könnt ihr tun, was ihr wollt. Aber jetzt gerade ist sie nichts weiter, als eine unschuldige Zivilistin, deren Leben wir zerstört haben. Wir sind Verbrecher, Enzo, aber wir sind keine Monster... Oder... Zumindest weiß ich, dass du keines bist... Ich muss mich frisch machen und um meine Gäste kümmern. Wir sehen uns morgen, ich nehme den Hintereingang.“ Severa hielt die fesselnde Stille um sie herum nicht mehr aus. Das hatte nicht unbedingt etwas damit zu tun, dass die Gäste um sie herum ihren Master und sie misstrauisch beäugten, als hätte man zwei stark gealterte Kinder an einen Tisch gesetzt, wo noch zuvor normale Gäste saßen, so etwas war sie bereits gewohnt, wie auch das Tuscheln über das eiserne Halsband, das sie trug. Es war auch egal, dass ihr Master etwas genervt an seinem Fleisch herumkaute, das er vorgesetzt bekommen hatte, obwohl es wahrscheinlich meisterhaft zubereitet war, wenn es auch nur halb so gut schmeckte, wie ihr Fisch. Und es störte auch nicht, dass Shiros kühler Blick von der Bar aus die gesamte Zeit auf ihnen lag. Aber die Summe all dessen und ohne Ezras laute Art, die die ganze Stimmung sicherlich auflockern und wieder in die Feierlichkeit verwandeln würde, die sie eigentlich anstoßen wollten, schlug auf ihren Magen und ließ die Forelle vor ihr zügig auskühlen. Der blonde Mann war schon viel zu lang weg und das machte beide nervös. Auch Cirdan, der es sich aber mit eisenharter Disziplin in keinster Weise anmerken ließ, alles unter einem schmallippigen Lächeln versteckte. Er vertraute Sterlinson nicht, nach wie vor. „Du solltest ihn beruhigen“, schoss es ihr durch den Kopf, während sie ein weiteres Stück des Fleisches auf die Zunge legte, wo es vor Zartheit fast von selbst zerfiel. Sie zögerte kurz. War das wirklich, was er gerade brauchte? Doch der Gedanke scheiter an einer Überzeugung: Am Ende gehörte es zu ihrer Aufgabe, denn sie war sein Freudenmädchen. Und Freude kam in vielen Tönen. Einen Moment noch zögerte sie, dann streckte sie sich, um seinen Oberschenkel unter dem Tisch zu streicheln, wie sie so oft es getan hatte, wenn er genervt war. „Schmeckt dir der Fisch nicht?“, fragte Cirdan da plötzlich in einer fast schon tonlosen Schwingung, sodass man die Frage wohl kaum neutraler stellen konnte. Severa hielt inne, hatte ihn noch nicht einmal berührt, da schreckte sie wieder hoch und streckte den Rücken gerade, starrte stumm geradeaus. „D-doch!“, antwortete sie knapp und griff wieder nach der Gabel, um sich ein Stück hineinzuzwingen. „Dann iss ihn, solange er noch warm ist. Kalt schmeckt er nicht“, befahl Cirdan in einem fast schon schmerzlich ruhigen Ton. Für jemanden, der schon phasenweise cholerisch anmutete, war diese Ruhe fast schon beängstigender. Wieder stach sie in den Fisch. Wo blieb Ezra denn nur? Für ein kleines Paket war er schon viel zu lange weg... „H-Habt ihr etwas auf dem Herzen, Master?“, fragte sie schließlich um die Stille zu bezwingen, doch Cirdan blockte umgehend mit einem „Ich wüsste nicht, was du meinen könntest, meine Hübsche“ ab. „Na was werde ich wohl schon meinen, du alter Esel?! Sieh dich doch an!“, wollte sie am liebsten schimpfen, aber nicht einmal zu denken wagte sie sich so etwas. Außerdem war es klar: Es war noch nichts in trockenen Tüchern. Und das machte ihrem Herrn Angst, denn es konnte nach wie vor mit einem Fingerschnippen alles vorbei sein. Doch das Schlimmste war, dass Cirdan mittlerweile nicht mehr den Frust der Anreise besaß, nicht den Zorn auf seinen Geschäftspartner, sondern einen ehrlichen Funken Hoffnung in sich trug, dass dieser ihn und das Familienunternehmen vei Brith aus ihrer Krise retten könnte. Sterlinson sollte sich was schämen, ihn so baumeln zu lassen... „Ich... gehe mich kurz frischmachen“, meinte sie schließlich und stand zügig auf, drehte sich um und verließ den Tisch, ohne noch ein Widerwort abzuwarten. Durch die Tischinseln schwankend huschte sie an all den Gestalten und Gerüchen vorbei, die sie fast schon ersticken ließen. Fester wurde der Griff um ihren Rock, auf dass sie schneller wegkam, bis sie das rettende Zeichen des Bades erkannte. Grade wollte sie den Knauf der Tür ergreifen, da zögerte sie. Warme Impulse breiteten sich auf ihrem Rücken aus, verbrannten ihr fast die Haut und sie wusste genau woher das kam. Wieder einmal war sie vor Cirdan geflohen. Das war immer mal wieder in ihrem Leben passiert, dass ihr nur die Flucht blieb, sie sich oft im Studierzimmer zwischen den Bücherbergen versteckte und in den Romanen verlor. Ihre Lage hatte das nie verbessert, es hatte viel eher dazu geführt, dass ihr Herr dann nur noch wütender wurde und sie noch härter bestraft hatte. Mit den Jahrzehnten jedoch wurde sie klüger: Die Narben vergangener Peitschenhiebe, die ihren Rücken bis heute zierten, ermahnten sie in Momenten der Angst daran, dass sie nicht wegrennen konnte und es ihr später nur mehr Schmerzen bereiten würde. Eigentlich hatte sie sich eingeredet, dass sie das gar nicht vorgehabt hatte, aber ihr Unterbewusstsein wusste es wohl einfach besser. Sie atmete tief durch und wollte schon wieder umkehren, da vernahm sie einen wohlbekannten Schrei, gefolgt von lautem Klirren aus dem Raum hinter ihr. Wie vom Blitz getroffen riss sie an der Tür und lugte hinein. „M-Mister Sterlinson?“, fragte sie schüchtern, konnte aber nichts erkennen, denn der Gang machte einen scharfen Knick und verdeckte das Bad. Richtig war sie aber auf jedem Fall, denn es roch stark nach fruchtigen Seifen, einen Geruch, den sie bereits aus dem Fuchsbau gut kannte. Vorsichtig schritt sie hinein und ging auf die Ecke zu, fuhr mit dem Finger über den kalten Stein, als müsste sie sich herantasten, auch wenn es taghell war. An der Ecke angekommen drehte sie sich schnell nach rechts, gespannt was sie sehen würde. Ezra beugte sich über den Wasserkübel, vor einem zerbrochenen Spiegel. Von seiner Hand lief in mehreren Rinnsalen hellrotes Blut hinab und tränkte seinen weißen Ärmel, während er selbst fast schon teilnahmslos dem Schauspiel beiwohnte. Gut eine Stunde war vergangen, seit er die drei allein gelassen hatte, aber er sah so aus, als wäre er um Jahre gealtert. Sein sonst so straffes Gesicht hing schlaff hinab und an seinen Augen zeichneten sich tiefe, pechschwarze Ränder. So schaute er halb auf seine zerschnittene Hand, halb auch einfach in die Leere, als sei er gerade ganz weit weg. „Ist alles in Ordnung?“, fragte sie schließlich als er noch immer nicht reagierte. Langsam wachte er aus seinem Schlaf auf, schüttelte sich kurz und schaute zur Seite. „Oh, Miss Severa, ich habe Euch gar nicht bemerkt!“, meinte er und rang sich zu einem schmalen Lächeln durch. Die Zwergin zögerte... „Ihr seid verletzt...“, sprach sie schließlich und deutete mit dem Kopf auf seine Hand, aus der noch einige Splitter hingen, die er langsam herauszog. „Stimmt auffallend. Ein kleiner Unfall, tut mir leid, dass ihr das mit ansehen müsst.“ Ein Unfall, natürlich... Er wollte sich an ihr vorbei zwängen doch die Zwergin blieb standhaft und versperrte ihm den Weg... Was tat sie da eigentlich? Wollte eine halbe Portion wie sie wirklich Ezra einschüchtern? „M-Mister Sterlinson...“, fing sie mit zittriger Stimme an: „Bitte begebt Euch wieder zum Tisch zurück. Ich fürchte, dass es sonst zu einem Disput kommen könnte.“ Ihr Hände vergruben sich tiefer im Saum und sie schaute fest zu Boden, bemerkte jedoch, wie der Mensch sich zu ihr kniete und ihr Kinn mit seiner verletzten Hand anhob. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte, da packte er die Zwergin am Hinterkopf und drückte ihre Lippen fest auf die seinen. Erst registrierte sie es gar nicht, verstand nicht, was passiert war, als die rauen Lippen des Mannes die ihren berührten, bemerkte kaum, wie seine Zunge sich den Weg zu ihrer bahnen wollte, wie der Griff um ihren Hinterkopf an ihren Nacken vorbei den Rücken hinunterlief und es langsam zu einer Uarmung führte. Einen Moment lang war sie von seinem Aktionismus einfach zu überwältigt und glaubte fast, dass das, was grade passierte, völlig normal sei, legte selbst ihre Hände auf seine Brust und ging näher heran. Dann schreckte sie auf und kämpfte dagegen an. Ezra, scheinbar auch aus seiner Trance aufgewacht, lies sie umgehend los. „E-entsch...“, wollte er noch anfangen, doch dann richtete er sich stattdessen auf und verließ das Bad, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Severa blieb zurück, stolperte gegen die Wand und rutschte zu Boden, während sie mit zitternden Fingern über ihre Lippen fuhr. Kapitel 14: Der schönste Tag ---------------------------- Luren Bearoux nahm seinen Helm ab, lehnte sich erschöpft an das Außengelände und atmete tief durch, während er in den wolkenlosen Nachthimmel starrte. Der Kartograph, Leitstern des Grand Patron, war in Shinju nicht zu sehen und nicht wenige Cher Enfanter hielten dies für den Beweis, dass der Schutz ihres Gottes nicht in dieses Gebiet hervordrang, in dem man noch in heidnischer Unwissenheit den alten Göttern diente. Doch der Oberst der Stadtwache, seines Zeichens selbst gebürtiger Enfanter, wusste, dass dies nicht der Wahrheit entsprach, beachtete man, dass er ja auch nicht im Cheváviertel zu sehen war. Warum dem so war, das konnte er nicht beantworten, aber sicherlich hatte es etwas damit zu tun, dass man im Allgemeinen nicht viele Sterne am Shinjuer Himmel sah. Und es war ihm eigentlich auch ziemlich gleich, er hatte schon genug um die spitzen Ohren. Die Tage wurden immer länger, je näher die Heirat kam und obwohl er sich darauf freute, machte es ihm vor allen Dingen eines: Eine ganze Menge Arbeit. Er hielt seine Leute doppelt und dreifach an, die Sicherheit zu verstärken, jeden Besucher und Lieferanten bis auf die Unterwäsche zu kontrollieren und ordnete noch zusätzliche Trainingseinheiten an, wo es notwendig war. Der Hofmagier war schon seit Tagen damit beschäftigt, die dritte Mauer – die Magische Barriere zwischen den beiden physischen Mauern des Schlosses – auf Schwachstellen zu prüfen und die Wagenladung neuer Waffen für die Leibgarde der Gouverneursfamilie verzögerte sich, aufgrund von Schäden an der Shinju-Enfant-Linie. Das waren seine Sorgen als Sicherheitschef des Schlosses, aber auch seine als Bräutigam. Immerhin war es nicht irgendeine Hochzeit, sondern seine eigene. Als erster Prinz ohne Adelsstamm und noch dazu Ausländer wurde er von den hohen Tieren der Stadt misstrauisch beäugt und auch sein zukünftiger Schwiegervater – der Gouverneur persönlich – musste noch immer von seinem Wert überzeugt werden... nicht als Oberst oder Soldat, aber als Ehemann seiner einzigen Tochter. Für Luren waren Etiquette und Hofspiel Dinge, die ihm nichts sagten und mit denen er sich noch nie zuvor auseinandergesetzt hatte. Wie denn auch? Sah man mal von seiner ehemaligen Colonel, Celeste de Lacour ab, so hatte er vorher nie mit Adeligen zu tun gehabt und hätte es auch gern dabei belassen, aber mit seiner Liebe für Nomizon kam doch alles anders. Nun war ihr erstes Kind geboren und er konnte definitiv nicht mehr zurück. Er wollte es auch nicht. Aber etwas weniger Arbeit würde ihm schon ganz guttun. Aber immerhin würde es nicht mehr lang dauern, nur noch eine Nacht, bis zum schönsten Tag seines Lebens, bis er endlich auch offiziell mit der Frau seiner Träume liiert war. „Du siehst müde aus“, meinte eine wohlbekannte, glockenhelle Stimme und seine Aufmerksamkeit wich vom Himmel zurück zum Flur. „Ja, durchaus. Es wird auch Zeit, dass ich ins Bett komme. Aber was ist mit dir? Solltest du dich nicht auch mal so langsam hinlegen?“, fragte er mit müdem Lächeln, konnte sich die Antwort aber schon denken. Nomizon trug bereits ihr Schlafgewand, aus dessen Schlitzen nackte Haut hervorlugte. Das lange, silberne Haar war offen, einige Strähnen standen undamenhaft in alle Richtungen ab. Die golden glänzenden Augen schmückten dunkle Ringe der Übermüdung und der Grund dafür lag in ihrem Arm und schnarchte leise. „Entschuldige...“, meinte der Elf demütig, während er der Prinzessin einen spitzen Kuss gab und sanft den fast haarlosen Kopf des in Decken eingewickelten Bündels streichelte. „Ich sollte mich wirklich mehr um euch kümmern und dich nicht mit den elterlichen Pflichten so allein lassen.“ „Nicht doch. Du hast gerade mehr als genug zu tun, da könnte ich dir nicht auch noch aufbürden noch den letzten Rest Schlaf aufzugeben. Dafür haben wir genug Zofen, die mir unter die Arme greifen können, wenn nötig“, antwortete die Gouverneurstochter und zeigte ein schwaches Grinsen. Zwar stimmte das mit den Zofen, doch Luren wusste ganz genau, dass seine Zukünftige wahrscheinlich niemals deren Hilfe annehmen würde. Das Mutterdasein war für Nomizon das größte Geschenk, das sie sich in ihrem Leben je erhofft hatte und wollte auf keinen Fall auch nur eine Sekunde davon verpassen. Vielleicht war es aber auch nur ihre Befürchtung, eines Tages, wenn sie einen Jungen gebähren würde, nicht mehr so für sie da sein zu dürfen... So sehr sie auch Cariléy liebte, sie hatte die Enttäuschung bei der Geburt nicht verbergen können, dass sie nicht als Junge zur Welt kam, denn einen Stammeshalter hatte sich der Gouverneur mehr als alles andere gewünscht, nachdem er nur mit einer Tochter von seiner verblichenen Frau beschenkt wurde. Und Luren kam nicht umhin zu glauben, dass auch er damit im Ansehen seines zukünftigen Schwiegervaters gesunken war... umso mehr durfte es bei den Feierlichkeiten keine Zwischenfälle geben! „Komm. Lass uns gemeinsam zu Bett gehen“, meinte er schließlich und bot seinen linken Arm zum Einhaken an, während er mit dem rechten Cariléy nahm, sodass Nomizon sich etwas entspannen konnte. „Musst du denn nicht mehr arbeiten?“, fragte sie verwundert, nahm aber zugleich dankend das Angebot ihres Mannes an. „Nein, ich war gerade fertig geworden und wollte sowieso zu euch stoßen.“ Da bemerkte er auch etwas auf Distanz die Wache, die sie wahrscheinlich während des Spaziergangs begleitet hat und bedeute ihm mit einem kurzen Nicken, dass sie zurück auf seinen Posten könnte. Ochako, Nomizons Leibwächterin war eine Menschendame von fast 50 Jahren, die aber erst vor kurzem diesen Posten bezogen hatte. Sie zögerte kurz, drehte sich dann aber um und ließ die beiden allein. Dass er sich hinlegen würde, das war zwar eine Lüge und er würde wohl zumindest noch die Nachtposten kontrollieren, nachdem sie wieder eingeschlafen war, aber er wollte jede Sekunde mit den beiden genießen. Cariléy gab einen seligen Seufzer von sich, als sie in seinen Arm glitt, räkelte sich kurz und schlief dann weiter. In Asteria hieß es, dass die Kinder, die in der Abenddämmerung geboren wurden, wenn die ersten Sterne aufwachen und am Himmel blitzen, ein Stück des endlos langen Schleiers von Lunariko, der Hüterin der Nacht, abreißen und sich im Traum daran kuschelten, was für einen besonders tiefen und erholsamen Schlummer sorgte. Als Cher Enfanter gab er nicht viel auf diese Erzählungen, war im Allgemeinen nicht sonderlich gläubig und da seine Tochter genauso wach wurde wie jedes andere Kind, waren das sicherlich auch nur Mythen, aber dennoch gab ihm dieser Anblick ein tiefes Wohlbefinden und innere Ruhe. „Sie ist so friedlich“, meinte er, so leise es nur ging. „Sie merkt, dass du da bist, um uns zu beschützen. Natürlich schläft sie gut.“ „Das sagst du so leicht. Manchmal fürchte ich, dass sie mich gar nicht richtig kennenlernen wird...“ „So ein Unsinn“, beruhigte Nomizon ihn und klammerte sich noch fester an seinen Arm, kuschelte ihr Gesicht daran, was sein Herz fast schon zerfließen ließ. „Sieh doch nur, wie wohl sie sich bei dir fühlt. Mindestens genau so sehr wie ich.“ Oberst Beauroux lächelte mild während sie durch die fast schon ausgestorbenen Gänge des Schlosses schritten, langsam, gemütlich, denn eilig hatten sie es wohl wirklich nicht. Wenn ihnen wenige Wachen oder Bedienstete noch begegneten, dann verbeugten sich diese kurz oder standen stramm und salutierten, aber niemand sprach sie an, jeder blieb weit genug auf Distanz, um sie in diesem gemeinsamen Moment nicht zu stören. So fühlte sich Luren wie einst damals, als er Nomizon kennengelernt hatte, als er noch ein einfacher Soldat war und nichts über ihren Stammbaum wusste. Ein wenig vermisste er die wohlige Einsamkeit und das Abenteuer, als die beiden nach einer Entgleisung den Fußmarsch aus der grünen Einöde bis nach Shinju unternommen hatten. Trotz aller Gefahren, die auf dieser Reise auf sie gewartet hatten. Und trotz dessen, welches Schicksal die alten Götter für seine Geliebte bereit gehalten hatten. Er schaute sie an, erkannte Teile des Mals von Shika'Res, dem Todesgott, dessen langer, schwarzer Körper sich um ihr rechtes Bein schlängelte und bei jedem Schritt nach vorn aus dem Gewand hervorlugte. Der Tod... allein der Gedanke an die letzten Vorfälle bereitete ihm Magenschmerzen. „Du solltest nicht so lüstern in meinen Ausschnitt starren, was sollen denn die Diener denken?“, meinte Nomizon da schnippisch und Luren schreckte hoch, konzentrierte sich wieder auf den Weg vor ihm. Er war wohl etwas zu tief in Gedanken versunken gewesen. „Hat das irgendwer gesehen?“ „Hast du denn nichts mitbekommen? Also wirklich, du solltest aufpassen, wohin du läufst, zumindest mit Cari im Arm.“ „Mach dir mal keine Sorgen, ein Soldat stolpert nicht einfach so“, antwortete Luren souverän, lehnte sich dann aber etwas unsicher vor. „Ernsthaft, hat es jemand gesehen, oder nicht?“ Nomizon schnippte ihm kurz mit einem süßen, zugleich aber äußerst hämischen Kichern gegen die Stirn, wurde dann aber ernster. „Du dachtest wieder an diese Nacht, nicht wahr?“ Ein kurzer, tonloser Laut der Bestätigung war alles was sie als Antwort bekam. Diese Nacht war der Moment an dem er dem Tod so nah war wie noch nie zuvor. Die Nacht in der er der schwarzen Witwe begegnet war – und ihr beängstigendes Geheimnis erkannte, eine einzigartige Macht, hervorgeholt durch das Mal auf ihrem Bauch. Fast hätte es auch so funktioniert, fast wäre er dem dämonischen Zauber erlegen, wenn Nomizon nicht zur Stelle gekommen wäre, denn so konnte die Farce durchschaut werden. Ein beschämendes Gefühl, das ihn bis heute noch begleitete – auch wenn er nichts dafür konnte. Dennoch hielten die beiden die Umstände der Ergreifung von einer der gefährlichsten Frauen Asterias geheim. So wollte es Nomizon, um keinen Skandal auszulösen. Und ganz nebenbei hatte sie ihm damit wieder das Leben gerettet. „Weißt du was mir wirklich zu denken gibt?“, fing er schließlich an, um sein schlechtes Gewissen zu verdrängen. „Die schwarze Witwe tötet nicht zum Spaß, sondern weil es ihr Beruf ist. Das macht es nicht besser, aber sie hegt keinen persönlichen Groll gegen mich.“ „Hast du einen Verdacht?“, fragte die Prinzessin, schaute ihrem Mann tief in die Augen. „Keinen einzigen... deswegen möchte ich aktuell mit so vielen Leuten der hohen Gesellschaft sprechen, jedem, dem ich auf die Füße getreten war. Und umso mehr stört es mich, dass ausgerechnet Lord Hangyaku der Meinung war, sich kurz vor unserer Hochzeit auf Geschäftsreise abzusetzen.“ „Aber macht ihn das nicht verdächtig?“ „Nein, dem traue ich so etwas nun wirklich nicht zu. Seinem Vater vielleicht, aber er selbst will nur nicht mit mir über die Sanierung der ISE sprechen.“ Nomizon gefiel die Antwort nicht, aber die gesamte Situation an sich machte ihr zu schaffen und auch Luren selbst war es lieber, wenn all dies nie passiert wäre... Es war nicht auszudenken, hätte Mirabelle nur eine Sekunde sich nicht auf ihn konzentriert, wäre sie auch nur einen Moment von ihrem eigentlichen Ziel abgekehrt, dann hätte sich ihre Klinge in Nomizons Brust versenkt... Mehr noch umfing ihn die Angst, dass es jederzeit zu einem zweiten Angriff kommen könnte. Vielleicht nicht heute, vielleicht auch nicht morgen, aber was wäre, wenn er doch auf der Hochzeitsfeier passieren würde, wenn alle ungeschützt sind? Er wollte die schwarze Witwe am liebsten ausquetschen, doch kein Angebot der Welt wollte sie dazu überreden, die Person hinter den Kulissen zu erkennen zu geben. Wenig verwunderlich: Wenn sie das tat, war sie wahrscheinlich schneller tot, als wenn sie hier und jetzt die Klappe hielt und auf ihre Hinrichtung wartete. Die Frau war – bei allem Blutdurst und Wahnsinn, den sie ausstrahlte – eine durch und durch professionelle Auftragsmörderin und wie das mit den besten in dieser Branche so war, war sie alles andere als dumm. Und er wollte es ungern zugeben, aber selbst in magischen Ketten all ihrer Championsmacht beraubt, strahlte die Kitzune etwas ganz und gar Furchteinflößendes aus. Wahrscheinlich plante sie sogar schon einen Ausbruch, oder suchte nach einer Fluchtmöglichkeit bei der Hinrichtung... weswegen es ihm lieber war, das Spektaktel aufzuschieben, so weit es auch nur ging, zumindest bis alle Feierlichkeiten abgeschlossen waren und man wusste, wer der Verräter war. Warum musste der Gouverneur auch darauf bestehen, das ganze öffentlich zu machen, nur um ein Exempel zu statuieren? Das brachte alle wahrscheinlich mehr in Gefahr als notwendig. Aber er würde ganz sicher nicht seinem Schwiegervater widersprechen, insbesondere nicht in der jetzigen Lage. Hinzu kam der Bericht aus Cher Enfant, die Flucht des Mädchens in Scharlachrot gen Osten. Luren glaubte zwar nicht, dass die meistgesuchte Frau des ganzen Kontinents ausgerechnet in der größten Stadt der Welt untertauchen würde, aber... bei den Durchgeknallten konnte man sich nie ganz sicher sein. Versunken in seinen Gedanken, hatte er kaum bemerkt, wie Nomizon den Blick gesengt hatte und sich angespannt auf den Lippen kaute, der Blick glasig verschwommen, als müsste sie gleich in Tränen ausbrechen. „Mach dir keine Sorgen“, sagte er schließlich und strich ihr durch das samtige Haar, das so sanft durch die Finger glitt, als wäre es ein Luftstrom. „Ich glaube nicht, dass man nach dem Fehlschlag so schnell einen zweiten Attentat versuchen will.“ „Ich will überhaupt nicht, dass es noch einen Attentat auf dich gibt! Weder jetzt noch später!“, rief sie erzürnt und klammerte sich fest an ihn, wollte ihn gar wachrütteln, was sie aber schnell bereute, denn Cariléy wurde von dem Aufruhr wach und gab ein gequältes Klagen von sich. Einige Entschuldigungen murmelnd nahm sie ihr Kind wieder an sich und wiegte es zurück in den Schlaf, bevor sie Cari wieder in Lurens Arme übergab. „Geht es mit den Vorbereitungen denn voran?“, versuchte sie das Thema wieder auf etwas Angenehmeres umzulenken. „Darf ich nicht sagen, das weißt du doch.“ Es hatte in ganz Asteria Tradition, dass ausschließlich die Familie des Gatten die Hochzeit plante. Die Ehefrau durfte bis zuletzt nichts davon erfahren, nicht einmal ihr Hochzeitsgewand wurde ihr vorher gezeigt, lediglich Maß nehmen durfte der Schneider. Da Luren keine Familie besaß – oder zumindest keine, mit der er noch zu tun hatte – blieb die Planung damit an ihm hängen, nebst seinen beruflichen Verpflichtungen. „Komm schon, nur ein bisschen! Was hast du vor? Nur einen Tipp!“ „Na schön...“, seufzte er und grinste verschlagen, denn Nomizon nervte ihn schon eine ganze Weile damit. „Es gibt ein Bankett.“ „Schon klar, aber was für eines?“ „Ein gutes.“ „... Idiot...“, meinte sie nur und blies beleidigt die Backen auf. „Hey, es ist nicht gelogen“, verteidigte sich Luren, hatte vielleicht sogar etwas untertrieben. Auf der Liste der Lieferanten standen hochkarätige Gaststätten aus ganz Shinju mit unzähligen Geschmacksrichtungen, die ihr bestes gaben, um die Hochzeit zu der Feier des Jahres zu machen, einer zukünftigen Herscherrin angemessen. Gerade noch war er unter anderem dem Chefkoch des Rose Blanche, Enzo Le Gourmet, über den Weg gelaufen, der einige Kisten mit Speisen persönlich in das Vorratslager brachte. Doch nebst dessen fanden sich noch viele andere Köche auf der Lieferantenliste um dem Thema der Vereinigung zwischen Asterias Osten und Westen in Form des Buffets Gestalt zu geben. Er hoffte, dass auch Colonel de la Cour pünktlich erscheinen würde. Ein Eilbrief war heute angekommen, in welchem sie ihre Anwesenheit bestätigte, doch auf der dreitägigen Reise durch die grüne Einöde konnte so viel Unvorhergesehenes passieren, selbst auf den Schienen der ISE. Gemessen daran, wie lang die Anreise war, hätte sie eigentlich direkt bleiben können, aber sie hatte darauf bestanden, nach dem Treffen mit dem Rat wieder abzureisen. Fast war ihm jeder Gast auf der Liste einerlei, aber den Segen seiner früheren Vorgesetzten stellte er auf fast die gleiche Stufe wie die Anerkennung seines künftigen Schwiegervaters. So oder so würde es aber der schönste Tag seines Lebens, selbst wenn die beiden mutterseelenallein wären... Die drei hielten vor einer breiten Doppeltür aus dünnem Holz, auf die eine große Kirschblüte gemalt war. Die Wache, die die Prinzessin begleitet hatte, war bereits wieder auf ihren Posten zurückgegangen und stand umgehend stramm, als die beiden vor sie traten. Nomizon schob die Tür beiseite, auf dass sie das Schlafzimmer betreten konnten. Ihr Futon am Boden lag noch komplett verwuschelt dar, so wie sie es verlassen hatte, nicht einmal die Laterne hatte sie ausgemacht. Ansonsten blieb das Zimmer leer, sah man mal von einem Tisch und einigen übergroßen Vasen ab, aus denen eine Reihe schlohweißer Orchideen krochen und sich ihren Weg zum Boden bahnten, einem Shamisen in der Ecke und einiger Kinderspielzeuge aus Bambus, die wie Stolperfallen auf dem Boden verteilt worden waren. Alles andere wurde sorgfältig in den großen, grasgrünen Schrankwänden verstaut, denn in Shinju schätzte man traditionell einen gewissen Grad an bescheidenem Minimalismus, auch wenn er in einem Schloss wie diesem fast deplaziert wirkte. Nomizon legte Cariléy in die Krippe, streichelte noch einmal über ihre geröteten Wangen und gab ihr einen spitzen Kuss. Aus der geöffneten Balkontür wehte ein kühler Abendwind, der ihr Nachtgewand zum Flattern brachte und mehr ihrer Haut darunter entblößte. Luren hätte sich des Anblicks nicht einmal erwehren können, wenn er es versucht hätte, und so betrachtete er ganz ungeniert die nackten Kurven seiner Angebeteten, trat an sie und umschlang ihren weichen Körper, vergrub das Gesicht in ihrem silbernem Haar, nahm den sanften Duft von Vanille und Lavendel wahr. Langsam rutschte er zu ihrem schlanken Hals und gab ihm einen spitzen Kuss, der sie erschaudern ließ und sie sich kichernd aus seinem Griff befreite, als seine Hand zu ihre Brust rutschte. „Nicht jetzt, Luren“, meinte sie, krallte sich aber zugleich in seinem Rücken fest und ließ ein kurzes, halb unterdrücktes Stöhnen heraus, als er weiter ihren Rücken entlangfuhr und die entblößte Schulter mit Küssen bedeckte. Er wollte mehr, wollte sie besitzen und er spürte, dass sie ähnlich fühlte. Ganz gleich, wie sehr sie versuchte, ihn zurückzuhalten. Die Distanz und die wenige gemeinsame Zeit in den letzten Tagen war für beide zu einer Qual geworden. Nur einen Moment inniger Zweisamkeit, das war alles was er verlangte... Es war ein plötzliches, langgezogenes Quietschen, gefolgt von einem dumpfen Aufschlag und etwas, das an Flügelschläge erinnerte, was ihn aufschrecken und die Küsse unterbrechen ließ. Cariléy indes hatte glücklicherweise nichts mitbekommen und schlief tief und fest weiter. „Was ist los?“, fragte Nomizon, noch etwas benommen vom Überfall ihres Gatten, doch eine Antwort bekam sie nicht. Geistesgegenwärtig schob Luren sie hinter sich und marschierte – die eine Hand an den Griff seines Schwerts gelegt – zum Balkon und lauschte in die Finsternis, versuchte schemenhaft etwas zu erkennen, das außerhalb des kleinen beleuchteten Radius der Papierlaternen lag, doch so konnte er nichts erkennen. Auf dem Hof sah er ein paar leuchtende Punkte, die sich um etwas zu versammeln schienen. „Ist alles in Ordnung?“ Nomizon war hinter ihn getreten und legte beide Hände auf seine Schultern. „Ich weiß nicht... vielleicht waren es nur ein paar Vögel, die sich auf eine verrostete Dachrinne gesetzt hatten, aber wir wollen kein Risiko eingehen. Die Tür bleibt verschlossen und deine Leibwache wird die Nacht bei dir bleiben“, meinte er nur, verschloss die Balkontür sicher, schritt durch den Raum und winkte Ochako herein. „Luren...“, wollte die Prinzessin anfangen, wurde aber sofort durch einen Kuss auf ihren Mund unterbrochen. „Mach dir keine Sorgen, vermutlich ist es nichts. Bleib einfach hier und ruh dich aus. Dir passiert nichts und ich werde nur in Begleitung meiner Männer auf dem Hof unterwegs sein.“ Einen Moment überlegte sie etwas zu erwidern, dann jedoch nickte sie nur kurz und flüsterte ein „Komm schnell zurück...“ Luren verließ das Zimmer schnellen Schrittes, zog die nächstbeste Wache, die er traf, als seine Begleitung ab und machte sich auf den Weg in den Innenhof. Er hatte es auch so gemeint, als er sagte, dass es vermutlich nichts wäre, aber so kurz vor der Hochzeit wollte er einfach sichergehen. Dennoch konnte er nicht verstecken, dass mit jedem Schritt seine Furcht, es würde vielleicht doch zu einem Angriff kommen, immer weiter wuchs. Vielleicht sollte er doch noch mehr Leute im Hungerkäfig stationieren... Arisa senkte das Fernglas, das auf die Traube aus Papierlaternen, die sich gut 200 Fuß unter ihnen gebildet hatte, gerichtet war und knirschte wütend mit den Zähnen. Verdammte Dachrinne, was musste die auch ausgerechnet dann wegbrechen, als sie sich daran hangelte um möglichst leise die unzähligen Etagen nach unten zu gelangen? Nun saßen sie hier erstmal auf dem Dach fest, bis sich der Aufruhr gelegt hatte. „Hast du ja gut hingekriegt“, murmelte Teeza und gab sich nicht einmal den Hauch einer Mühe, ihren Sarkasmus zu verschleiern. „Ich warne dich, Schwesterherz, mach mich nicht böse!“ „Was? Ich soll dich böse machen? Wegen wem sitzen wir denn gerade hier oben fest?!“ Es war ein seltenes Phänomen, aber Teeza hatte schon recht: Es war Arisas mangelnder Vorsicht geschuldet, dass ihr Plan ins Leere gelaufen war... Sie wollte einfach nur ins Schlafzimmer eindringen, wenn alle schliefen und das Kind entwenden. Ganz heimlich still und leise, was ja eigentlich nicht die Art der Harpyien war und Teeza nur umso wütender gemacht hatte. Jetzt würde sie es ihr wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit vorhalten, dass der Plan Mist gewesen war – auch wenn sie wohl kaum einen eigenen, geschweige denn einen besseren, gehabt hatte. „Es ist der Süßkram...“, murmelte die Jüngere da und nickte kurz, als müsste sie sich für diese Erkenntnis selbst bestätigen. „Wie bitte?!“ „Du isst zu viel Süßkram, seit wir hier sind und du bewegst dich kaum. Du gehst schon komplett aus dem Leim.“ „Dir geht’s wohl zu gut!“ „Ich mein das ernst, guck doch mal an dir runter!“ „Pass auf, was du sagst, sonst stopfe ich dir deinen Süßkram so tief in dein Maul, dass du ihn aus den Ohren pflücken kannst“, drohte Arisa und schlug ihrer kleinen Schwester mit der Rückhand in die Magengrube, dass diese mit einem Aufstoßen kurz nach vorne sackte. Doch zugleich schaute sie an sich herunter, ob sie nicht doch irgendwo schon Fettpolster entdeckte. Einige Zeit saßen die beiden nur mit missmutigem Ausdruck nebeneinander und gaben ein abwertendes Grunzen von sich, sobald sich ihre Blicke kreuzten. „Hast du im Übrigen gehört, wie sie sie genannt haben? Cariléy... was für ein dämlicher Name. Die Federlosen haben einfach keinen Geschmack.“ Es würde Arisa doch sehr wundern, wenn überhaupt irgendjemand auf der Welt Teezas Geschmack für irgendwas teilte, aber sie gab zu, dass sie den Namen ebenso schrecklich fand. Mutter wüsste schon etwas Besseres für sie, aber dafür mussten sie es erst einmal bis zu ihr schaffen. In ihrem Kopf arbeitete es unablässig, doch eine Lösung für das Problem wollte ihr beim besten Willen nicht einfallen. Vor allen Dingen wusste sie nicht, wie schnell sie handeln musste. Die ersten eindeutigen Mutationen traten in der Regel erst nach etwa einem Jahr auf, doch da Celica ihr Harpyienblut schon vor ihrer Geburt gespürt hatte, konnte es gut möglich sein, dass sich die kleine Cariléy schon viel früher verwandelte. Einmal konnte Arisa in den letzten Tagen einen flüchtigen Blick auf das Kind werfen, aber das reichte schon aus, dass sie ihr das Herz gestohlen hatte. Diese großen, goldenen Augen, wissbegierig die Welt begreifend, der selige Gesichtsausdruck... Sie konnte sich Cari sehr gut als kleine Schwester vorstellen. Wenn ihr was passieren würde, könnte sie sich das niemals verzeihen – aber wahrscheinlich wäre ihr Schicksal dann sowieso schon besiegelt. „Und was machen wir jetzt?“, fragte da Teeza, während sie ihr Federkleid richtete. „Erstmal warten wir ab, bis die Luft rein ist, damit wir von hier verschwinden können.“ „Und wenn das den ganzen Tag dauert? Hattest du nicht mitbekommen, dass die beiden morgen irgendein Fest feiern?“ „Ihre Hochzeit“, bestätigte Arisa. Eigentlich wollte sie den Angriff noch während der Vorbereitungen durchführen und heute Nacht hätte ein guter Tag sein können. Ihr war es auch schon durch den Kopf gegangen, dass die Möglichkeit zur Flucht im schlimmsten Fall frühestens am Höhepunkt der Feierlichkeiten bestand, was bedeutete, sie müssten sich über den Tag hinweg einen Unterschlupf im Schloss suchen. Eine gefährliche Situation. „Aber vielleicht auch eine Chance...“, murmelte sie, was Teeza aufhorchen ließ. „Wenn du einen Plan hast, dann hoffe ich doch, er ist besser als... das hier.“ „Zur Abwechslung könntest du dir ja auch einen ausdenken.“ „Ich hatte einen. Wir spielen das alte Rein-und-Raus-Spiel. Aber das wolltest du ja nicht!“ „Weil es dumm ist! Wir können nicht einfach uns den Eltern entgegenstellen und ihr Kind einfordern, dann ist direkt eine Hundertschaft auf uns angesetzt und wir gefährden die Unversehrtheit unserer neuen Schwester!“ „Wer sagt denn, dass wir kämpfen müssen? Wir ziehen beiden eines über die Mütze und verschwinden, bevor die Krawalle anreitet.“ „Die Kavallerie! Aber vielleicht ist die Idee gar nicht mal so schlecht...“ „Was?!“ „Was 'was'?!“ „Was hast du da grade gesagt?“, fragte Teeza erstaunt, was ihre große Schwester aus dem Konzept brachte. Einen Moment musste Arisa über ihre Wortwahl nachdenken und meinte dann: „Ich sagte, die Idee sei vielleicht gar nicht so schlecht.“ „Ach so... kannst du das nochmal wiederholen?“ Zur Antwort knallte Arisas Handfläche gegen den Hinterkopf der Jüngeren, die direkt mit einem Faustschlag antworten wollte; doch nach einem kurzen Handgemenge drehte Arisa Teezas Arm auf den Rücken und rammte ihr Knie in ihr Steißbein, was ihr einen unterdrücktes Quieken hervorlockte, während sie so auf das Dach gepresst wurde. „Wo war ich? Ah richtig: Herzlichen Glückwunsch Teeza, wir werden deinen Plan zumindest in Teilen durchsetzen. Am Höhepunkt der Feierlichkeiten werden wir nicht nur von hier verschwinden, sondern im Zuge dessen auch das Kind mitnehmen.“ „Was? Vor versammelter Mannschaft?“, presste Teeza knurrend heraus, denn in dieser Position fiel ihr das Atmen ein ganzes Stück schwerer. „Nicht doch. Du kannst das nicht wissen, denn wir kennen derlei Bräuche nicht, aber bei der Hochzeit geht es um die offizielle Vermählung zweier Seelen, „Bis dass der Tod sie scheidet“... oder einer durchbrennt.“ „Und warum sollten mich derlei sinnfreie Bräuche dann interessieren?“ „Weil dies bedeutet, dass das ganze Schloss nur auf den Oberst und die Prinzessin achten wird. Außerdem scheint es so, als sei der Bräutigam Ziel eines Anschlags gewesen und so werden die Wachen an jenem Tag ihn ganz besonders im Blickfeld haben. Wenn dann niemand auf die süße kleine Tochter aufpasst...“ „Dann schnappen wir sie uns, ohne Rücksicht auf Verluste“, beendete Teeza den Satz. Auf ihre Lippen spielte sich ein sadistisches Lächeln, bei dem Gedanken, dass sie nun doch noch ihren Kampf bekommen könnte. Am Horizont schimmerten die ersten noch weit entfernten Flecken der Sonne. Es würde ein verdammt langer, aushungernder Tag werden, das war den beiden Waffenschwestern bewusst. Vielleicht aber auch der schönste ihres noch so jungen Lebens. Kapitel 15: Eisen und Gold Teil 1 --------------------------------- Der Mond stand hoch am Himmel und sein Schein drang bis in die tiefsten Häuserschluchten von Shinju hervor, als die Kutsche vor dem Fuchsbau hielt. Enzo zog von innen den Vorhang auf und ließ die Wartenden ein, staunte jedoch nicht schlecht, als nebst seinen erwarteten Gästen noch eine weitere Person hinzustieg. „Miss Mirako, welch ein seltener, aber wundervoller Anblick. Ihr seid so bezaubernd wie immer“, begrüßte er die Kitzune mit fast schon schnurrender Stimme, griff umgehend nach ihrer Hand, der er einen kurzen, fast schon angehauchten Kuss der Ehrfurcht gab, bevor er ihn in einen zweiten, direkten auf die Finger übergehen ließ. „Die Freude ist ganz meinerseits, Gourmet...“, antwortete sie schüchtern, bevor sie die Hand wieder zurückzog. Als Tochter von Mirabelle besaß sie einen ähnlich hohen Stellenwert für die Ghule der Notre Chose wie ihre Mutter und nachdem Enzo klar wurde, dass er bei letzterer keine Chance in absehbarer Zeit haben würde, nutzte er jede Gelegenheit, um um Mirako zu buhlen. Zwar machte ihm niemand seinen Chefplatz streitig, aber die Liaison würde es noch weiter festigen, auch wenn sie leider nicht annähernd an die Schönheit ihrer Mutter herankam, selbst wenn sie sich heute wirklich herausgeputzt hatte. Aber man musste nehmen, was man kriegen konnte, das war schon immer Enzos Devise gewesen, sonst hätte er auch niemals das Guhldasein über all die Jahre überlebt... „Mirako wird ihre Mutter besuchen“, meldete sich da Ezra und schloss die Vorhänge, auf dass sich die Kutsche holpernd in Bewegung setzen konnte. Mittlerweile sah man diese Gefährte immer häufiger auf den Straßen Shinjus, sie verdrängten die mit Personenkraft angetriebenen Rikschas, denn es ging einfach schneller und man war dank des halbwegs geschlossenen Wagens unter sich. Für heute war es das optimale Fortbewegungsmittel. „So kurz davor?“, wollte Enzo wissen. Mirako verstand nicht, worauf er hinaus wollte, schaute unsicher zu Ezra, der jedoch ihrem Blick auswich. „Kurz vor was?“, fragte sie ihn, doch bevor er antworten konnte, ergriff Enzo das Wort. „Hat Meister Hunter es euch nicht erzählt. Heute Nacht werden wir...“ „... den Gouverneur um eine halbe Tonne reines Asterid erleichtern. Das hatte ich dir doch erzählt“, unterbrach Shiro ihn und funkelte den Gourmet finster an, der mit einem hämischen Grinsen antwortete. „A-ach so... ja, das hattest du mir erzählt. Ich wünsche im Übrigen den anwesenden Herren auch im Namen des schwarzen Tisches viel Erfolg bei der Mission.“ Das Fuchsmädchen verbeugte sich kurz, so gut es in der engen Kabine ging, und die drei Männer nickten ihr dankend zu, bevor Ezra weiter ausführte: „Shiro wird sie begleiten und später zu uns stoßen, wenn wir das Asterid gefunden haben.“ „Verstanden“, antworte Enzo tonlos, behielt sich Ezras Kommentar aber im Hinterkopf. Sie hatten eigentlich geplant, zusammen das geheime Asteridlager zu finden, damit Shiro sich in seiner Fuchsgestalt durch den Boden gräbt. Wenn er aber nicht dabei sein würde, dann war der Plan nicht durchführbar... „Wir sind da“, kam es von vorne. Durch den Schlitz der Vorhänge baute sich der Felsen auf, in den aus Holz, Stein und Metall das boshafte, schwarze Monster, das die Shinjuer angsterfüllt Hungerkäfig nannten, gehauen wurde. Stumm verabschiedeten sich die Kitzune und ließen die beiden allein. Doch noch wollte Enzo sein Gegenüber nicht konfrontieren. Erst als die Kutsche sich wieder in Bewegung setzte und sie langsam in Richtung Schloss losfuhr, fing der Koch an, als er wusste, dass die anderen definitiv außer Hörweite waren. „Du hast ihr also wirklich nichts erzählt...“ Bewusst wählte er seine Frage als Vorwurf, denn Mirakos Reaktion hatte klar gemacht, dass sie nichts von ihrer Befreiungsaktion wusste und diese Planänderung auch Enzo störte. Nachdem das Asterid geborgen sein würde, sollte ein Teil davon im Tunnel und ein anderer Teil in der Nähe des Hives, das große Kraftwerk der Stadt, gesprengt werden, um für Verwirrung zu stiften und einen Einbruch vorzutäuschen, wodurch niemand den Hungerkäfig bewachen würde und man Mirabelle aus dem Todestrakt befreien würde – zusammen mit allen anderen Gefangenen, um einen Aufstand anzuzetteln. Das sollte die Stadtwache lang genug beschäftigen. All das stand nun auf der Kippe und Mirako war zudem ein Faktor, der bisher noch nicht in der Gleichung aufgetreten war. Ezra indes ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, während der Glimmstängel in seinem entspannten Grinsen langsam die Kutsche mit dünnen Schwaden füllte. „Wenn wir sie einweihen ist das riskanter, als wenn wir sie außen vor lassen. Ich kenne Mira schon viel länger als du und weiß daher auch, wie nervös sie in solchen Momenten wird. Wenn sie sich vor lauter Aufregung gegenüber Belle verplappert, dann kann es passieren, dass ihre Mutter sich irrational verhält. „Warum sollte sie das tun, wenn wir sie rausholen wollen?“ „Weil Belle bei aller Professionalität bisweilen zur Willkür neigt und von dem, was Shiro ihr so erzählt hat, kann es sein, dass sie aktuell nicht gut auf mich zu sprechen ist. Nicht zuletzt war es aber auch Belles Wunsch, ihre Tochter zu sehen, denn sie glaubt nicht daran, dass ich ihr helfen werde. Unserer Partnerschaft zuliebe will ich ihr diesen Wunsch auch erfüllen.“ „Wie ritterlich“, knurrte Enzo sarkastisch, lehnte sich zurück und fuchtelte den Rauch vor seinem Gesicht weg, bevor er fortfuhr: „Und was steckt noch dahinter? Jetzt ohne Märchen, wenn möglich? Nein, lass mich raten: Du willst Shiro aus der Schusslinie nehmen.“ Ezras Grinsen wich umgehend einem ernsteren Gesichtsausdruck. Er nahm die Zigarette aus dem Mund und blies den Rauch in einer dicken Wolke aus seinen Nasenlöchern. Die Frage beantwortete er aber nicht. „Also doch... Du liebst diesen Jungen.“ „Ich wüsste nicht, was dich das angeht. Aber ich weiß, dass Shiro sich selbst in einem Ansturm von Dämonen noch schützend mit dem Schwert vor mich stellen würde. Und das will ich nicht. Er soll nicht wegen meiner Fehler draufgehen. Wir ziehen das gemeinsam durch, du und ich, niemand sonst. Mehr werden wir auch nicht benötigen.“ „Und wie wollen wir uns aus dem Tunnel graben?“ „Das lass ruhig meine Sorge sein.“ Enzo kniff die Augen zusammen. „Heißt das... ich werde dich endlich mal in Aktion sehen?“ „Vielleicht. Wenn es sich nicht vermeiden lässt.“ Bei diesen Worten überkam den Koch ein breites Schmunzeln und ein klangloser Lacher, dann griff er in sein Gewand und holte zwei Masken hervor; die eine bedeckte nur die Augen und kontrastierte ihr tiefes Schwarz mit silbernen Verzierungen und spitzen Ausläufern, die andere war für das komplette Gesicht gedacht und zeigte ein goldenes, ausdrucksloses Gesicht, dem man Lippen und Augen in einem Mitternachtsblau geschminkt hatte. „Welche willst du?“, fragte er und hielt sie seinem Gegenüber zur Auswahl hin. Die Hochzeit sollte die Verbindung zwischen Ost und West darstellen, also gab es einen Maskenball nach Cher Enfanter Vorbild, jedoch sollte man dazu Shinjuer Garderobe tragen, was auch der Grund war, warum beide in langen Yukatas in dieser Kutsche saßen. „Spielt das wirklich eine Rolle?“, meinte Ezra nur missmutig und griff sich die Augenmaske, setzte sie sich sofort auf, denn das Schloss konnte nicht mehr allzu weit sein. „Sag bloß du magst keine Feiern.“ „Nicht solche, auf denen ich arbeiten muss. Du magst dich ja vielleicht in der hohen Gesellschaft halbwegs auskennen, aber für mich ist das gerade die Höhle des Tigers. Und noch dazu tragen wir beide das Blut eines Lords an unseren Fingern... Was ist eigentlich mit seiner Schwester passiert?“ „Die haben wir an die Karawanen verkauft.“ „Was?!“ „Du wolltest doch, dass sie verschwindet! So hat sie ein gesichertes Leben, immerhin kennen die Karawanen die grüne Einöde so gut, wie niemand sonst.“ „Ja, aber ich wollte nicht, dass sie in die Sklaverei geschickt wird!“ „Das ist dein Problem. Du hast sie doch auch nur nicht töten wollen, weil sie so hübsch war. Deine Schwäche für schöne Frauen wird dich eines Tages noch ins Grab bringen, das sage ich dir.“ Ezra knirschte wütend mit den Zähnen. Es war ein Fehler gewesen, Enzo hierfür zu verpflichten, das wurde ihm mittlerweile immer mehr bewusst, auch wenn er nicht umhin kam, die Wahrheit seiner Worte anzuerkennen. Wäre zumindest nicht das erste Mal gewesen, dass ihm eine Augenweide zum Verhängnis wurde. Aber dennoch: Nach dieser Geschichte würde er wohl die Zusammenarbeit mit der Notre Chose massivst einschränken. Man folgte einfach nicht mehr den gleichen Überzeugungen. Die Kutsche hielt und der Fahrer setzte die beiden darüber in Kenntnis, dass sie am Ziel angekommen waren. Vor den beiden baute sich das gigantische Schlosstor aus Ebenholz auf, größer als dass es von nur einem Mann bewegt werden könnte. Normalerweise fest verschlossen, blieben die beiden Tore heute aber geöffnet und unzählige Schaulustige hatten sich davor versammelt, um einen Blick in das zu erhaschen, was sonst dem gemeinen Volk verschlossen blieb. Rein kam trotzdem niemand ohne eine Einladung, dafür sorgte ein halbes Dutzend Wachen, unterstützt von einigen Nebelhunden, deren graues, leichtes Fell schlaff herunterhing und bei jeder noch so kleinen Bewegung umher wehte wie dicke Nebelschwaden – daher der Name. „Einen schönen guten Abend, edle Herren. Wenn ich um Eure Einladungen bitten dürfte?“, säuselte einer der Diener, der auf sie zugekommen war, gekleidet in einem für diesen kühlen Abend viel zu dünnen Gewand, das wohl absichtlich so viel seiner unbehaarten Brust freigab. Für Ezra und Enzo, als Leute der Unterhaltungsbranche, kein ungewöhnlicher Anblick: Man musste nun einmal jeden Geschmack treffen, wenn man die Gäste zufriedenstellen wollte. Und eigentlich war der junge Elf in allen Facetten sicherlich nicht unattraktiv. Shiro würde er sicherlich gefallen, dachte sich Ezra, ließ sich davon aber nicht weiter ablenken, immerhin hatten sie etwas zu erledigen. „Ah Enrico du Carré, Chefkoch des Rose Blanche. Und wer ist Eure... stattliche Begleitung?“ Der junge Mann betrachtete Ezra von unten nach oben, biss sich leicht auf die Lippen. Wie schön: bei den passenden Herren hatte seine Ausstrahlung ähnliche Wirkungen wie bei der Damenwelt. Auch wenn das nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber für seine Maskerade jetzt gerade könnte das ganz nützlich sein. „Jean Bordeaux, Winzer aus den südlichen Gebieten der ehemaligen Republik Calais. Monsieur du Carré hatte mich als seine Begleitung zu dieser hohen Festlichkeit erwogen. Leider war es sehr spontan, doch damit ich nicht mit leeren Händen hier stehe, habe ich einen großartigen Jahrgang aus eigener Kelterei mitgebracht, als Zeichen meiner Dankbarkeit. Ich hoffe er mundet dem Paar“, stellte er sich in dem charmantesten Ton vor, den er aufbringen konnte und zeigte eine Flasche Wein vor. Das Etikett an sich, mit seinen goldenen Verzierungen triefte geradezu vor Exklusivität und Luxus, ebenso der teuer verzierte Korken aus Gold, sodass der Diener große Augen bekam. Dass der Inhalt an sich nur zweitklassiges Gesöff war, musste er ja nicht wissen. „Welch eine erlesene Aufmerksamkeit. Aber Geschenke für das Brautpaar sind überhaupt nicht vorgesehen, werter Herr.“ „Ich bestehe darauf, dass er übergeben wird. Ein guter Wein sollte immer geteilt werden.“ Der Bursche verbeugte sich lächelnd und sagte: „Ich hoffe, Ihr versteht, dass wir ihn vorkosten müssen, aber ich werde ihn sehr gern vorbeibringen.“ „Das wäre mir eine große Ehre“, antwortete Ezra ebenso mit einer Verbeugung, als der Diener die beiden mit einer Handbewegung zum Eintreten aufforderte. „Alle Achtung... der hatte dir ja aus der Hand gefressen“, meinte Enzo annerkennend, als sie den Hof betraten, auf dem bereits viele Gäste unterschiedlichster Rassen versammelt waren, allesamt maskiert und in Shinjuer Mode gekleidet. Die einzig unmaskierten waren die Diener, die mit Tabletts umhergingen und den Gästen Knabbereien reichten und die leicht bekleideten Tänzer und Tänzerinnen (auch hier war bei Geschlecht, Alter und Rasse für jeden Geschmack etwas dabei) sowie die Musiker, die mit einer faszinierenden Komposition östlicher und westlicher Traditionen die Aufmerksamkeit der Gäste erhaschte. Auch Unterhaltungskünstler waren zu finden, wie ein Feuerschlucker, ein Papierpuppenspieler oder diverse Artisten. Es waren große Fackeln aufgestellt worden, die den gesamten Hof erhellten. Dazu leuchtete das Mosaik des Familienwappens strahlend hell; das rot der Blüten kam in hellen Pastelltönen besonders zur Geltung. Ob die Steine gläsern waren und mit Leuchtröhren von unten angestrahlt wurden, oder ein komplexer Zauber sie zum Leuchten brachte, konnte man nicht erkennen, aber beide Techniken mussten eine ziemliche Arbeit gemacht haben. Im Hintergrund wurden anscheinend die letzten Vorbereitungen für ein großes Abschlussfeuerwerk getroffen, das wohl mit dem Prädikat „Gewaltig“ ausgezeichnet werden würde, denn es wurde genug Schwarzpulver angeschafft, um eine Hundertschaft auszurüsten. Ezra beobachtete auch die Wachleute, die an jedem strategischen Posten aufgestellt waren und alles und jeden im Blick behielten. „Wenn nötig, müssen wir den ein oder anderen kampfunfähig machen. Hoffentlich geht das auch ohne Waffen...“, murmelte er. „Hast du in den letzten Tagen eine Ahnung bekommen, wo der Zugang versteckt sein könnte?“ „Ja, ich habe mich ein paar Mal im Schloss 'verlaufen'. Es gibt eine verschlossene Tür im hinteren Teil des Kellers. Unscheinbar, aber viel zu gut gesichert und bewacht, als dass es sich um eine Vorratskammer für Reis handeln könnte. Lass uns erst einmal aufteilen und unter die Leute mischen, bis wir eine passende Gelegenheit gefunden haben, dorthin zu gehen“, meinte Enzo und wollte sich gerade aufmachen, da fügte er hinzu: „Und Ezra, sei auf der Hut, wenn du dem Brautpaar begegnest. Insbesondere vor der Prinzessin solltest du aufpassen, was du sagst...“ Dann drehte sich der Koch um und marschierte in Richtung einer Gruppe von Herren und Damen, die ihn anscheinend bereits trotz Maske erkannt haben. Ezra verdrehte die Augen und stöhnte genervt, während er nach einem Canapé griff, das ihm eine hübsche Menschendienerin auf einem Silbertablett darreichte: „Aufpassen was ich sage... Was soll schon groß passieren? Soll ich zu viel sabbern, oder was?“ Colonel de Lacour konnte den Griff um den schwarzen Gürtel ihres himmelblauen mit Wolken bestickten Kimonos, der am Rücken zu einer breiten, schmetterlingsförmigen Schleife gebunden war, einfach nicht lockern. Zu sehr machte sie es nervös, an jener Stelle nicht ihr Rapier zu wissen und im Hinterkopf hatte sich der Gedanke, dass etwas passieren könnte, festgesetzt wie ein quälender Nachtmar, der ihr Wohlbefinden ganz und gar auffraß. Es half da auch weder der vorzügliche rote Cher Enfanter Tropfen in ihrem Glas, noch das umfangreiche Unterhaltungsangebot, das von Inhalt als auch Kostümen her wirklich jeden erfreute (selbst sie kam nicht umhin, einem der Artisten hinterher zu schauen, der nicht mehr trug, als eine Reihe Ledergurte, die nun wirklich nur das nötigste bedeckten). Auch die Kulisse, die im Wirbelwind umherbewegten Kirschblüten, welche ja eigentlich gar nicht zu der Jahreszeit passten und umso mehr einen gewaltigen Kontrast zwischen den rostroten Blättern der Laubbäume standen, die festlich bemalten Terrakottakrieger und liebevoll gestalteten Stehtische mit kleinen, pyramidenförmigen Papierlaternen konnten sie aufheitern. Den Abend genießen, sich für ihren besten Rekruten freuen, das konnte sie einfach nicht, auch wenn die Wachen an jedem wichtigen Standort platziert, wie es nur ein gelernter Stratege konnte, ihr ein trügerisches Gefühl vermitteln wollten. Dass alle Gäste noch dazu maskiert waren, machte die Sache nicht wirklich besser. „Ist alles in Ordnung, Madame Colonel?“ Die Stimme gehörte ihm, das wusste sie umgehend, denn der zart-jugendliche Unterton ließ sie erschaudern. Sie war ihm nur kurz heute morgen begegnet, danach hatte er alle Hände voll zu tun gehabt und so hatte sie ihn noch nicht in seinem Hochzeitsgewand gesehen. Und obwohl sie sich fest vornahm standhaft zu bleiben, ihr Gesicht als Soldatin zu wahren, stockte ihr Atem, als sie ihn ansah: Lurens Anzug bestand aus einem weißen Hemd aus Cher Enfanter Stoffen, das jedoch in den Ärmeln nach Shinjuer Stil weit geschnitten war, einer nachtschwarzen Anzughose, die in blankpolierten hohen Militärstiefeln endete und einem ebenso schwarzen Umhang der über seiner rechten Schulter hing und so seinen Arm und die zeremonielle Klinge verdeckte, die er am Gürtel trug. Mit der verstärkten Weste und einer dicken Eisenschnalle mit dem eingravierten Familienwappen, die seinen Bauch zierte, ebenso der langen, goldenen Kordel über der Brust, den Aufnähern an seiner Schulter und einem großen Orden in Form einer Kirschblüte am Revers kam auch seine militärische Herkunft heraus und jeder, der ihn ansah, spannte unbewusst alles im Körper an. Seine aufwendig gestaltete Maske, die er zur Seite geschoben hatte, war ein goldener Wolf, der eine Mähne aus schwarzen Federn besaß. Sie musste es wohl ihrer eigenen Maske danken, dass man ihre Erötung nicht sah, denn der mehr als nur stattliche Anblick ihres Schützlings versetzte ihr wieder einen Stich in die Kniekehlen, dass sie aufpassen musste, nicht einzusacken. „Wenn Ihr schon hier seid, dann wird der Höhepunkt wohl nicht mehr lange auf sich warten?“, fragte sie und streckte ihre Hand aus, damit Luren sie im gewohnten Enfanter Chic mit seinen Lippen liebkosen konnte. Eigentlich schmerzte sie dies mehr als es ihr guttat, doch wie Traumblumensaft die Gossengestalten trotz allem Unglücks, in das es sie warf, anzog wie die Motten das Licht, so konnte sie auch einfach nicht genug davon bekommen. Spitz auf die Knöchel, angehaucht auf den Siegelring, direkt auf die Fingerkuppen; mit jeder weiteren Berührung schlug ihr Herz immer schneller, doch sie hielt an sich, sich nicht zu verraten, bewahrte Haltung. „Nomizon... Entschuldigung, die Prinzessin wird alsbald auf den Hof geführt, zusammen mit ihrem Vater. Wir werden dann mit der Trauungszeremonie beginnen. Aus Respekt beider religiöser Ansichten, die hier vertreten sind, werden wir aber auf einen Hohepriester verzichten. Stattdessen soll der Gouverneur persönlich uns den Segen erteilen. Als höchstrangiges Wesen auf der Isla Shinju steht ihm dieses Privileg zu, auch wenn ich mir sicher bin, dass wir heute einen Präzedenzfall schaffen.“ „Verstehe... Ihr habt sie noch nicht im Kleid gesehen, richtig?“ Luren schüttelte den Kopf, doch seine Augen schienen geradewegs zu leuchten vor Freude. „Ich weiß allerdings wie ihr Gewand aussieht und ich bin mir sicher, dass es sie auch für den letzten Zweifler zu der schönsten Frau der ganzen Stadt machen wird.“ Unter Celestes Maske, in Form einer weißen Katze, spielte sich ein trauriges Lächeln. Natürlich würde die Prinzessin alles überstrahlen und natürlich würde Luren ihr so nur noch mehr verfallen. Aber vermutlich war es bei all dem Schmerz auch für sie besser so, denn vielleicht half es ihr dabei ihr Hirngespinst, sie könnte ihn doch noch für sich gewinnen, endlich aufzugeben... „Ich weiß, wie ihr euch fühlt“, meinte da der Elf und schaute seine ehemalige Vorgesetzte ernst an. Celeste blieb der Atem weg. Hatte sie sich nun doch verraten? „Ach wirklich?“, fragte sie und zwang sich zu einer noch souveräneren Haltung, um Luren klarzumachen, dass er sich irrte. Doch dieser nickte nur. Wusste er etwa von ihren Gefühlen? „Als Soldat fühlt es sich immer unangenehm an, seine Waffen abzulegen und sein Leben als Zivilist in die Hände anderer zu geben.“ Die Colonel atmete erleichtert aus: Er hatte keinen Schimmer. Nichtsdestotrotz musste sie ihm Recht geben: Ohne ihre Waffe fühlte sie sich nackt. In ihrem Ärmel hatte sie zwar ein paar Beschwörungsamulette versteckt, aber der Bannzauber ums Schloss, die sogenannte dritte Mauer, machte sie vollkommen nutzlos. Ihr Leben lag im Zweifel in den Händen von Leuten, die sie nicht kannte... und einer Person, von der sie sich eigentlich niemals retten lassen wollte. „Macht Euch keine Sorgen“, versuchte Luren sie zu beruhigen. „Wir haben in den vergangenen Wochen jedes mögliche Szenario durchgesprochen und uns dagegen abgesichert. Im Schloss stehen nur meine besten Leute. Ihr könnt Euch beruhigt zurücklehnen und alles uns überlassen.“ „Ich weiß, Oberst Beauroux“, antworte sie daraufhin. „Immerhin habe ich Euch auch ausgebildet.“ Just in diesem Moment erschien ein Diener und betrat das kleine Holzplateau, das für die Ehelichung vorbereitet wurde, streckte den Rücken durch und kündigte mit stolz geschwellter Brust seine Hoheit, Gouverneur Arnwyn von Shinju und seine bezaubernde Tochter Nomizon an. Luren erstarrte schlagartig zu einer Salzsäule, seine Atmung wurde flach, die Pupillen weiteten sich und es schien, als müsste er sich zusammenreißen, nicht in Ohnmacht zu fallen. Schnell schob er seine Maske wieder an den angestammten Platz und wollte sich gerade in Richtung des Altars begeben, da hielt Celeste ihn noch kurz am Arm fest: „Macht Euch keine Sorgen, Luren. Meinen Segen habt ihr. Und auch alle in Shinju werden Euch alsbald als Gouverneurssohn feiern.“ Dankbar nickte der Elf ihr zu und schritt dann, neuen Mut schöpfend, zu seinem Platz um seine Angebetete zu empfangen. Celeste blieb allein zurück. Ihr war zumute, sich in die nächste Ecke zu verziehen, um unbemerkt eine Träne vergießen zu können, aber das sollte warten. Sie würde noch durchhalten, ganz gleich, wie schmerzhaft es war. Und aufpassen, dass die Liebenden heute nichts störte, das machte sie zu ihrer ganz persönlichen Aufgabe. Arisa griff ihren Dolch, zog ihn aus der Lederscheide und fuhr mit einer Kralle über die im Mondschein violett blitzende Klinge. Ein helles Surren kam aus dem scharfen Metall. Sie konnte sich das Lächeln nicht verkneifen: Die Waffe war bereit, Blut zu trinken. Teeza prüfte ebenso ihren Schlagstock, schlug das Zündrad an der Seite an, bis kleine, hellblaue Funken heraustraten, machte ein paar Testschwünge damit und ließ zuletzt die blitzende Kugel kurz ihre Handfläche berühren, was sie zusammenzucken ließ und ihr jegliche Federspitzen aufstellte. Ein kurzer Laut des Schmerzes gefolgt von einem giftigen Kichern entfuhr ihr und sie gab ihrer großen Schwester mit verzerrtem Grinsen das Zeichen , dass sie bereit war. Die ältere Harpyie fuhr sich noch einmal durch ihr schulterlanges Haar, das sie sich schon am Vorabend zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Mittlerweile waren ein paar Strähnen aus dem Zopf geraten, doch er saß noch immer sicher genug, dass ihr die Haare nicht im Weg standen waren. Teeza hatte sie ebenso ein Haarband angeboten, doch die hatte verzichtet und stattdessen nach dem Doch ihrer Schwester gegriffen, um damit ihr Haar komplett abzuschneiden. Nun stand sie da mit einer zerzausten Kurzhaarfrisur, die im Wind tanzte wie kleine Flammen. Und wie Feuer kochte auch eben das Blut in ihren Adern, auf das die Luft um sie herum vibrierte. Nur noch wenige Momente, dann würde ihre Mission beginnen. „Es ist soweit!“ Nomizons spitze Ohren zuckten kurz, als sie die raue, knarzende Stimme ihres Vaters hörte und ein Funke der Anspannung ging durch ihren Körper, auf dass sie die Luft so tief einsog, wie das Korsett aus weißer Seide es zuließ. Durch ihren Spiegel sah sie ihn im Türrahmen stehen, eine zeremonielle Robe in schwarz und rot tragend, auf deren Brust mit goldenen und silbernen Fäden diverse Blüten und Blätter eingewebt waren. Seine langen, schlohweißen Haare hatte er zu einem Dutt, gestärkt mit goldenen Stäben, binden lassen, aus dem ein paar Strähnen herausschauten. Auch war er mit allerhand Goldschmuck bestückt und sein Gesicht war mit dezenten Farbtupfern geschminkt worden, gerade genug, um die arbeitsbedingten Falten zu kaschieren. Das Gold in den Augen des Gouverneurs war matt und kalt, ganz anders zum warmen Glanz im Blick seiner Tochter, dennoch konnte man ihre Verwandtschaft nicht abstreiten. „Bist du fertig?“, fragte er mit einer fast schon zu monotonen Rationalität. Noch dazu richtete sich die Frage weniger an sie selbst, sondern an die Bediensteten, die die letzten Handgriffe an ihr vornahmen, Bänder schnürten, Haarschmuck anbrachten und die letzten Akzente in ihrem Gesicht setzten. „Wir sind sogleich fertig, mein Lord“, berichtete eine ältere Hausdame, die gerade mit präzisen Fingerfahrten die Seidenbänder ihrer Sandalen anlegte. „Gut. Die Zeremonie beginnt gleich und ich will ja meine Tochter auf ihrem Weg begleiten.“ „Was ist mit Cari?“, fragte Nomizon, bewegte zwar nicht ihren Kopf, damit die Bedienstete ihre Schminkarbeit ungestört zu Ende führen konnte, ließ es sich aber nicht nehmen, mit ihren Augen die Umgebung abzusuchen. Ihre Tochter war nicht hier und ihr fehlendes Beisein machte sie unruhig. Sie sollte dabei sein, wenn Mutter und Vater endlich offiziell zusammengehörten. „Cariléy wird viel zu unruhig, bei den Menschenmassen. Die Welt sollte sie auch noch nicht sehen. Offiziell seid ihr noch kinderlos“, ermahnte ihr Vater sie. „Das ist doch lächerlich. Jeder wusste, dass ich schwanger war. Ihr könnt doch in dieser Stadt nichts geheim halten, Vater.“ „Und dennoch halten wir uns an das Protokoll. Du wirst noch genug Zeit zum Kinderkriegen und Erziehen haben, genieße den einen Abend mit dem Oberst.“ „Luren. Sein Name ist Luren. Er ist Euer Schwiegersohn, fangt doch bitte an, ihn mit seinem Namen anzusprechen“, protestierte Nomizon, doch sie wusste, dass sie bei ihrem Vater damit auf taube Ohren traf. „Ich werde ihn noch früh genug so ansprechen. Bist du endlich fertig?“ Die Hausdamen taten einen Schritt von ihr weg, legten die Hände in den Schoß und verbeugten sich kurz. Der Gouverneur prüfte sie von Kopf bis Fuß und lächelte zufrieden. „Du hast wahrlich die Anmut deiner Mutter geerbt. Ein Anblick, der der Prinzessin von Shinju würdig ist. Nun komm, wir wollen die Gäste nicht länger warten lassen.“ Er bot seinen Arm zum Einhaken an, auf dass sie gemeinsam an den Bediensteten vorbei durch das Schloss schreiten konnten. Nomizon zögerte noch einen Moment, tauschte Blicke mit ihrer Leibwächterin aus: „Pass gut auf Cari auf, ja?“ Ochako verbeugte sich kurz und verließ den Raum, machte sich auf zur oberen Etage. Noch einmal atmete Nomizon tief durch, dann ergriff sie den Arm ihres Vaters, streckte den Rücken durch und hob den Blick gerade, bevor sie langsamen, ehrwürdigen Schrittes in Richtung des Schlosshofs aufmachten. Mirabelle konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Es war erst ein schmallippiges Grinsen, das sich mehr und mehr zu einem gehässigen Kichern entwickelte. „Hey! Was ist so lustig?!“, brüllte Saito Moji sie an und schlug ihr in den Bauch, dass die Kitzune vor Schmerzen krümmend zusammensackte, aber ihr Amüsement konnte das nicht wirklich bremsen. Schon seit einigen Tagen war sie ihm immer unheimlicher geworden. Statt einer gebrochenen jungen Frau schien sie bei den Vergewaltigungen (natürlich hatte er die restlichen Wachen nicht überzeugen können die schwarze Witwe in Ruhe zu lassen – er hatte es auch nicht einmal versucht) weniger Schmerzen sondern fast schon an Ekstase grenzenden Spaß zu verspüren. Und heute war sie noch ein ganzes Stück aufgedrehter, als würde sie sich auf den Besuch freuen... oder vielleicht sogar noch mehr erhoffen... Saito wollte sie heute nicht einfach nur mit dem Wassereimer zweimal übergießen, sondern ließ sich besser Zeit, die Kitzune anständig zu waschen und einzukleiden; zu sehr war die Furcht vor dem Weißhaarigen, der ihn das letzte Mal mit einem blauen Auge und schmerzendem Schritt hat davonkommen lassen. Wenn heute auch noch ihre Tochter mitkommen sollte... ihre Tochter... irgendwie konnte er sich nicht vorstellen, dass eine kaltblütige Mörderin wie die schwarze Witwe am Ende des Tages heimkam, um sich um ihre Kinder zu kümmern. Was für ein kaputtes Wesen musste denn die Tochter dieses Monsters sein? Kaum dass sie wieder Luft bekam, fing Mirabelle wieder an zu kichern, sog tief die feuchte Meeresluft ein, hing sich in die Ketten und räkelte sich lasziv. „Ich frage nochmal: Was ist so lustig?!“ „Glaube mir, Zahnlückchen, du würdest das nicht verstehen.“ Eine weitere Faust versenkte sich in ihrer Magengegend. Mit einem kurzen Aufstöhnen brach die Kitzune wieder zusammen und sackte zu Boden. „Was heißt hier Zahnlückchen?! Auch wenn du heute nicht angegangen wirst, heißt das nicht, dass du anfangen kannst, dich hier aufzuspielen!“ „Es ist alles gut, Zahnlückchen...“, keuchte die Kitzune und leckte sich über die Lippen. Sie war geschwächt, keine Frage aber nach der monatelangen Folter und Tortur hätte wahrscheinlich ein normaler Gefangener nicht einmal mehr stehen können. Und einen Moment lang fragte sich Saito, ob vielleicht das ganze gebrochene Leiden der letzten Wochen nur gespielt worden war. „Das ist eine besondere Nacht... Ich spüre das... Heute Nacht werden sich viele Schicksale entscheiden... Auch unser beider.“ Saito kniff die Augen zusammen, packte die Kitzune an den Ohren, sodass sie sich mit einem gequälten Jaulen aufstellen musste und ihn genau ins Gesicht sah. „Wenn du etwas weißt, dann tust du gut daran, es mir zu sagen, Schlampe!“ Doch statt eines eingeschüchterten Blickes, den er haben wollte, bekam er nur ein mitleidiges, fast schon entwürdigendes Grinsen. „Ich weiß gar nichts. Aber Kitzune haben eine gute Nase. Außerdem hör auf, dich hier so wichtig zu machen, du kannst einer gefolterten Todgeweihten nicht drohen. Deswegen mein Rat: Spiel einfach deine Rolle und genieß die Show...“ Kapitel 16: Eisen und Gold Teil 2 --------------------------------- Als Nomizon und ihr Vater durch die Pforten schritten, herrschte eine gar gespenstische Stille auf dem Hof; allen war der Atem gestockt, als der Engel der Stadt in einem Kleid zu ihnen trat, das eines Himmelswesens würdig war. Das Silber ihrer Haare schmeichelte dem weißen Tüll, der als langer, vierlagiger Rock hinunterging bis zu einer weiten Schleppe aus feiner Spitze, die sie hinter sich herzog. Das Oberteil indes ging hinter dem Korsett mit Bustier in den Schnitt eines offenen Kimonos über, dessen Ärmel halb durchsichtig waren, und weit über ihre Fingerspitzen reichten, wodurch ihre Arme zu geisterhaften Schemen wurden. Das Korsett war mit weißer Seide geschnürt worden, so engmaschig und so oft übereinanderliegend, dass der Anschein eines Obi, des zum Kimono passenden Stoffgürtels entstand. Das restliche Band wurde an ihrem Rücken zu einer komplexen, mehrfach gebundenen Schleife, die in ihrer Form einer weißen Blume ähnelte. Anders als beim Gouverneur war nicht Gold die vorherrschende Farbe des Schmucks, sondern Silber und Blau: Das großzügig präsentierte Dekolleté schmückte ein großes Collier aus purem Silber besetzt mit unzähligen Steinen aus Kobalt und Saphiren, am Rock hingen blitzende silberne Ketten, die mit Saphirstaub gesprenkelt waren und in ihrem Haar waren unzählige leuchtende Blumen der Nacht wie eine Krone eingewoben worden; Mondlichtenziane, violette und schwarze Orchideen, Sternenblüten... die Liste war lang und so mancher Pflanzennarr würde wohl bei dem Anblick einen Herzanfall erleiden. Zuletzt rundete ihre Maske alles ab: Eine schneeweiße Augenmaske mit einem langen, silbernen Schnabel, die nur an der Stirn eine große, buschige Feder besaß, die im Grundton hellblau schimmerte, aber unzählige silberfarbene Akzente besaß. Und während sich die Schleppe über den Boden in Richtung Altar bewegte, erblühten aus den Rillen des Holzstegs unzählige Nachtblumen, die die stumm staunenden Beobachter in ein mystisch-bläuliches Licht hüllten, bevor sie kurz darauf wieder erstarben. Hätte jemand in diesem Moment behauptet, man hätte es mit dem Herabstieg einer Göttin zu tun, dann wären seine Worte sicherlich nicht angezweifelt worden... Ezra hatte in seinem Angriff auf die Canapés innegehalten, und er hielt noch das eine in der Hand, während er mit dem Zerkauen des anderen aufgehört hatte und nun mit halboffenem Mund auf die Schönheit starrte, die an ihm vorbei schritt. Er kannte schöne Prinzessinnen ebenso wie hässliche und daher gab er nur wenig auf den Ruf des Adelstitels einer Person, doch noch nie zuvor war er jemals der Gouverneurstochter von Shinju begegnet... Vielleicht war es seiner Nervosität, wahrscheinlich dem umwerfenden Outfit und ganz sicher der einzigartigen Inszenierung ihres Auftritts geschuldet, aber langsam verstand er, warum Enzo befürchtet hatte, dass er sich verplapperte – oder gar schlimmeres machte. Aber was sollte er schon machen, sie traf leider genau seinen Geschmack: Stolz, grazil und doch mit diesem Hauch der schüchternen Unbeflecktheit versehen. Bei aller lüsterner Gafferei, war ihm aber zugleich bewusst, dass er sich möglichst schnell aus diesem Schloss bewegen sollte. Denn in der Nähe dieser Frau konnte er wahrlich nicht garantieren, immer einen klaren Kopf zu bewahren... Celeste konnte sich des Neids kaum erwehren, als die Prinzessin unter den minimalistischen Klängen eines Shamisen ihr zunickte. Warum nur hatte sie ihre Maske nach oben geschoben, damit sie besser sehen konnte? Denn nun musste sie Nomizon direkt in ihre goldenen Augen schauen und an sich halten, das Wasser in den ihren zu unterdrücken. Sie wollte sie hassen, sie wollte sich sagen, dass die Unschuld der Prinzessin nicht mehr als eine Farce war. Doch gerade musste sie vor allem darauf achten, ihrem Anblick nicht selbst zu verfallen, musste den Wunsch unterdrücken, vor ihr auf die Knie zu fallen und für all jene schlechten Gedanken um Verzeihung zu bitten. Es war außer Frage, dass sie in jenem Moment das schönste Geschöpf des ganzen Hofes war, aber noch mehr verkörperte sie in diesem Moment den letzten Rest lieblicher Unschuld, den diese Stadt noch besaß und sie wurde, wie die Steine, die um ihren Hals hingen, zu einem Juwel, das es zu beschützen galt... Luren sog tief Luft ein, als seine Angebetete langsam zu ihm schritt, im gleichmäßigen Hüftschwung einen Fuß vor den anderen setzend, als habe sie nie etwas anderes als diese Sandalen getragen. Er hatte sich kaum vorstellen können, wie das Kleid an ihr wirken würde, aber seine Erwartungen waren in jedem Fall übertroffen worden. Sie war nicht einfach nur bezaubernd oder gar atemberaubend, vielmehr beschrieb nur unbeschreiblich sie wirklich. Vor diesem Moment hatten ihn Zweifel geplagt, ob der Zeitpunkt der richtige war, ob er sich wirklich ausreichend um die Sicherheit gekümmert hatte und nicht zuletzt, ob er für diesen Schritt bereit war, alt genug war, ob er es überhaupt jemals sein würde und noch viele andere negative Gedanken hatten auf seinen Kopf eingetrommelt. Doch niemals auch nur eine Sekunde hatte er an seiner Liebe zu Nomizon gezweifelt und wenn er sich ob des Schritts in Richtung Ehe (zu dem er nach Caris Geburt ja auch ein wenig gedrängt worden war) vielleicht kurz unsicher war, so blies dieser Anblick alle restlichen Sorgen davon. Und wenn er Nomizons Lächeln so sah, dann wurde ihm auch klar, dass sie genauso fühlte... „Es geht los...“, murmelte Arisa und überreichte ihrer kleinen Schwester das Fernglas. Die beiden Harpyien waren auf dem Bauch liegend bis zur Dachkante vorgerobbt und starrten nun auf das Spektakel von oben, um den besten Zeitpunkt abzuwarten. Teeza nickte anerkennend. „Na bei allen staubdummen Ödniskanninchen, da weiß jemand, wie man investiert.“ „Inszeniert“, wollte Arisa sie bereits korrigieren, merkte dann aber, dass ihre Version auch nicht allzu unpassend klang und fuhr stattdessen fort: „Fällt dir was auf?“ „Das sind alles ziemliche Schnösel...“, meinte Teeza, mit hochkonzentrierten Blick auf das Geschehen, was bei ihrer Schwester aber allemal ein lauthalses Stöhnen hervorlockte. „Ich wollte darauf hinaus, dass ihr süßes Baby nicht bei ihnen ist. Was bedeutet, es muss sich noch im Schloss befinden...“ „Die machen uns es wirklich viel zu einfach. Lass uns loslegen!“, raunte Teeza und wollte schon im gleichen Moment aufspringen und sich losmachen, da packte ihre ältere Waffenschwester sie an ihrer Schulter und drückte sie wieder nach unten. „Nur nichts überstürzen. Aktuell sind alle Augen auf das Paar gerichtet und dort unten ist es mir außerdem viel zu ruhig. Wenn wir uns jetzt dazu bewegen, einzubrechen, wird man uns bemerken. Lass uns noch ein wenig warten, bis zum passenden Zeitpunkt.“ Mit den letzten Worten schaute Arisa auf die Feuerwerkskörper im Hintergrund. Sie hatten den ganzen Tag ausgeharrt, was waren da noch die wenigen Momente... Nomizon legte ihre Hände in Lurens, ließ ihn über den weichen Samt streichen. Sie spürte, wie er zitterte und auch wenn seine Maske seinen Mimik verdeckte, hatte sie das Gefühl, dass er vor Aufregung fast in Ohnmacht fiel. Aber ihr ging es nicht anders: Sein Anblick in dem klar geschnittenen Anzug machte sie schwach, am liebsten würde sie sich direkt in seine Arme werfen und ihn nie wieder loslassen. „Bist du zufrieden?“, fragte er, während er sie langsam zur Plattform führte und ihr hochhalf. Zwei Diener kamen an, um ihnen die Masken abzunehmen und die beiden schauten sich an, als hätten sie sich grade zum ersten Mal gesehen. Nomizon drehte sich noch einmal hin und her, nahm die Atmosphäre des Hofs tief in sich auf. „Zufrieden ist gar kein Ausdruck. Es ist wunderschön, Luren.“ „Genauso wie du.“ Sie lachte kurz, aber das strenge Räuspern ihres Vaters ließ sie verstummen. Das Brautpaar kniete sich nieder, Luren griff nach der Klinge und reichte sie seinem zukünftigen Schwiegervater. Der Gouverneur nahm das Katana an, reckte es in die Lüfte, sodass das Metall im Mondlicht schimmerte. Stumm blieb die Masse und lauschte dem Stadtherren als er mit seiner Ansprache anfing: „Das Band der Ehe zu schmieden bedarf eben gleicher Fürsorge und Geduld, wie bei einem guten Schwert. Und selbst wenn es geschmiedet ist, braucht es Pflege, um die Qualität des ersten Tages für alle Zeiten zu erhalten. Diese beiden Seelen haben sich in schweren Prüfungen bewehrt und wollen ihr Leben und ihre Ehe der Beziehung zwischen Asterias großen Zivilisationen widmen. Heute Nacht knien sie nun vor dem geschmiedeten Band, um es mit dem finalen Schlag zu vollenden.“ Der Elf drehte das Katana mit der Spitze nach unten und schlug es vor ihnen in den Boden nur wenige Zoll von zwei Ringen entfernt, die aneinander geschmiedet waren. Dann reichte er jedem der beiden je eine Hand und half ihnen auf. Zitternd legte Luren als erster eine Hand um den Griff, dann umfasste auch Nomizon den unteren Bereich des Griffs. Beide schauten einander in die Augen, lächelten leicht. Die Ringe waren das einzige, was die Prinzessin bereits vor der Hochzeit gesehen hatte, denn sie hatten sie zusammen nach alter Tradition geschmiedet – oder zumindest in Auftrag gegeben. Das Schwert hingegen stammte aus Lurens Familienerbe. Sie schauten zum Gouverneur, nickten ihm zu, dass sie bereit waren. Er fuhr fort, hob beide Hände in die Luft: „Die Ringe sind der Beweis für eure bisherigen Mühen und werden zur Erinnerung an das unsichtbare Band, das euch verbindet, in guten wie in schweren Zeiten. Und in der dunkelsten Stunde wird die Klinge, die die Ringe befreit, euch vor allen Gefahren beschützen.“ Der Hof hielt den Atem an, starrte gebannt auf die im Mondschein blitzenden Goldstücke. Luren und Nomizon hoben die Klinge hoch über ihren Kopf und rammten sie dann nach unten. Mit einem kurzen, hellen Klirren zerriss es die Ringe an der Bruchstelle auseinander, doch das Katana war scharf genug, dass sie nicht durch die Gegend flogen, sondern nur sauber voneinander getrennt wurden. Ein ehrfürchtiges Raunen ging durch die Masse. Luren nahm die Ringe auf, übergab seiner Gattin einen der beiden und zeitgleich steckten sie sich die Ringe an den Finger der anderen, legten zitternd die Hände ineinander und beendeten mit einem langen Kuss das Ritual. In voller Inbrunst applaudierten die Gäste dem Brautpaar, die Bediensteten warfen Nachtblumen zu ihm und auch der Gouverneur besiegelte mit ein paar letzten, fast schon wohlwollenden Worten den Schwur. Doch davon bekamen die beiden nicht viel mit. Ineinander verschlungen vergaßen Luren und Nomizon die Welt um sich herum; in ihrem Kuss blieb die Zeit stehen, obgleich sich die Welt in diesem Moment um sie zu drehen schien. Auch wenn eine scharfe Windböe sie gerade frösteln ließ und auch wenn die scharfen Kanten der Ringe, die erst noch abgeschliffen werden mussten, sich etwas unangenehm anfühlten, waren das Nichtigkeiten und der Moment sollte niemals enden. Ezra hatte schon seit langer Zeit nur noch wenig für die Liebe übrig und eine Feier wie diese war im besten Falle ein ganz nettes Ereignis, das man mal so mitnahm, wenn es denn sein musste. Dennoch konnte er sich gerade nicht dagegen wehren, sich von dem Getöse mitreißen zu lassen, selbst in die Hände zu klatschen und sich vom Schauspiel da vorne auf der Bühne angezogen zu fühlen, was wohl sicherlich auch am Blickfang in Weiß lag, Shinjus kleiner Halbgöttin Nomizon. Aber auch ihr Ehemann, dieser enfanter Elf, schien ein guter Kerl zu sein und bei allem was Recht und billig war, hässlich war er definitiv nicht. Nein, er musste zugeben, sie waren ein schönes Pärchen, aber dennoch konnte er sich schlecht vorstellen, dass diese beiden einmal die größte Stadt der Welt, den Schmelztiegel der Unmoral, leiten und sogar bekehren sollten.Vielleicht war das ihr Problem: Sie strahlten zu viel Güte aus, als dass sie irgendjemand hier ernst nehmen würde. Aber eigentlich dachte er daran grade gar nicht, während er das Paar so umschlungen sah... Viel eher spukte in seinem Kopf der Kuss, den er von Severa gestohlen hatte und der erschreckte, fast schon verängstigte Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie sich voneinander gelöst hatten. Er hatte sich bei ihr noch gar nicht dafür entschuldigen können und sie schien es auch nicht anzusprechen – natürlich tat sie das nicht, denn das konnte nur zu bösem Blut zwischen ihm und Lord vei Brith führen. Ezra konnte nicht sagen, dass er sich unter Kontrolle hatte, als er seine Lippen auf ihre gelegt hatte, hatte wahrscheinlich einfach nur eine Ablenkung und etwas Trost nach den Geschehnissen in Enzos Schlachthaus gesucht, aber... Verdammt, diese Elf-Zwergin gefiel ihm einfach, das konnte er nicht beschreiten. Sie war die wohl exotischste nicht-menschliche Frau, der er jemals begegnet war. Und sie war schön, ohne wenn und aber, mit ihren tiefgründigen Elfenaugen, dem funkelnd roten Haar und dazu dieser kleine, aber durch und durch erwachsene Körper... Wenn er sie nur einmal verführen könnte... nein, das stand nicht zur Debatte! Vielleicht könnte sich die Möglichkeit eines Tages ergeben, aber jetzt gab es anderes zu tun. Wenn der Deal mit ihrem Master platzte, dann konnte er sich seine Träumerei schneller abschminken, als ihm lieb war. „Amüsierst du dich gut, ja?“, haute ihn da Enzo von hinten an, legte die Hand auf seine Schulter und zog ihn ein wenig aus der Masse. „Die beiden machen was her, das muss ich zugeben“, meinte Ezra und sein Partner stimmte ihm mit einem Kopfnicken zu. „Sie sind wohl sicherlich gute Leute, tüchtig noch dazu, zumindest nach dem was ich die letzten Tage von unserem Herrn Oberst gesehen habe, aber... vielleicht ist genau das nichts, was die Stadt braucht: Ein Paar Heiliger, die auf das kriminelle Fußvolk herabschauen. Einige Gäste scheinen sich auch zu einer eher 'ironischen' Bewunderung für das Brautpaar hinzureißen, von dem, was ich an mancher Stelle gehört habe.“ „Davon habe ich nichts mitbekommen, muss aber auch diesem Eindruck zustimmen. Aber lassen wir das. Haben wir uns jetzt lang genug unter die Leute gemischt?“ „Noch nicht. Aber in wenigen Momenten beginnt das Feuerwerk, dann nehmen wir einen der Hintereingänge, an der südlichen Seite und schleichen uns zum Vorratskeller... und wie aufs Stichwort.“ Der Nachthimmel wurde mit einem Knall von einer hellroten Fontäne erleuchtet, die nicht nur den Palast sondern viele Teile des Drachenbezirks in seine satte Farbe tauchte, bis sie kurz darauf durch ein strahlendes Weiß, ein knalliges Grün und ein tiefes Blau ersetzt wurden. Viele Anwohner und Besucher, die es auch nicht in den Palast geschafft hatten, starrten wie gebannt in den Nachthimmel, bestaunten das vergängliche Kunstwerk, denn oft sah man Feuerwerke auch hier nicht. „Jetzt?“ Teeza schaute zu ihrer großen Schwester und streckte die Flügel aus, stellte sich an den Rand des Dachs. Ihre Silhouette wurde von den Lichtern in buntes Flackern gehüllt, man bekam fast das Gefühl, als würde sie in Flammen stehen. Arisa stellte sich neben sie, spürte unter ihren Krallen die Leere des Abgrunds, von der sie nicht einmal einen Schritt entfernt war. Ein Gefühl innerer Aufregung stieg in ihren Kopf, ließ ihren Herzschlag bis hinauf in den Hals klettern. Es machte sie betrunken und zugleich dürstend nach Gewalt. Sie gab sich oft sehr weise und kontrolliert, aber wie jede Harpyie liebte sie ihn abgöttisch: den Moment, wenn ihr Blut zu kochen begann und ihre animalische Seite zum Vorschein kam. Im Angesicht der Gefahr fühlte sie sich am lebendigsten. „Jetzt!“ Mit einem Klaps auf Teezas Rücken und einem hämischen Grinsen auf den Lippen ließ sich die Harpyie nach vorne fallen, stürzte ein paar Fuß, bis der Wind ihre Federn erwischte und sie langsam, dicht gefolgt von ihrer kleinen Schwester zum Balkon des Brautpaars hinunterglitt. Celeste hatte sich geschworen nicht in Tränen auszubrechen und sie hielt sich auch dran, obgleich sie einen salzigen Tropfen, der aus ihrem rechten Auge die Wange herunterfloss, gewähren ließ. Sie freute sich für beide, wünschten ihnen in diesem Moment alles Glück der Welt. Dies hieß aber nicht, dass sie nicht unglücklich war. Langsam ging sie zurück, setzte sich etwas ab von der Masse an Leuten, die Schulter an Schulter aneinander standen, denn jeder wollte etwas von dem Zauber des Paares mitbekommen. Sie brauchte aber grade frische Luft, konnte die Schwüle nicht mehr ertragen. An einen Holzpfeiler gelehnt nahm sie ein paar Züge der angenehm kühlen Herbstluft, um ihr Herz zu beruhigen. Es war vorbei. Gut, sie hatte schon seit langer Zeit keine Chancen mehr bei ihm, aber nun war es auch hochoffiziell besiegelt. Und trotz allen Schmerzes war sie darüber eigentlich erleichtert. Vielleicht, so dachte sie sich, war das hier ein guter Moment sich einen Mann zu suchen, fernab von der Heimat, wo man sie als strenge Kommandantin und unnahbare Comtesse fürchtete. Hier konnte sie vielleicht noch allein mit ihrer Schönheit punkten und musste sich nicht zu sehr verstellen. Wenn es auch nur für diese Nacht war. Sie schloss die Augen und atmete tief durch, ließ sich von dem Lärm der Umgebung entführen. Langsam wurde ihr wieder angenehmer zumute und sie konnte sich wieder beruhigen, einen freien Kopf kriegen. Gerade wollte Celeste sich wieder vom Holz lösen und ihrem Plan Form verleihen, da fuhr ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken, ungeahnt, als habe ihr jemand einen Eiswürfel in den Nacken gelegt. Und es kam ihr seltsam bekannt vor: das gleiche Gefühl hatte sie schon einmal gehabt, als sie das erste Mal in Shinju war... als sie in ein paar fremdländisch blauer Augen schaute, die einen Mann fast auf offener Straße zu einem Klumpen Blut geprügelt hatten. Aus den Augenwinkeln erkannte sie zwei recht große Männer, die sich an den Bambusgärten vorbei hinter das Schloss schlichen, scheinbar unbeachtet von den Wachen. Von der Statur konnte einer der sein, dem sie damals begegnet war – und von dem was sie über ihn wusste, war er ganz sicher nicht hier, um dem Paar zu gratulieren. Aber sie sollte noch nicht die Wachen alarmieren, solange sie sich nicht sicher war. Verdammte Masken... Langsam schlich sie sich zur Ecke, an der sie die Männer zuletzt gesehen hatte, doch dahinter waren sie nicht mehr zu sehen, lediglich eine Tür, die zufiel. Sie wollten ins Schloss?! Bestimmt war ihr Ziel, die Schatzkammer zu plündern. Oder hatten sie etwa vor, der kleinen Cariléy etwas anzutun? Celestes Herz schlug schneller, während sie um die Ecke bog. Unter ihrem Kimono spürte sie ihre Amulette. Vielleicht sollte sie versuchen, eines zu verwenden, damit sie nicht völlig wehrlos war. Ihre Hand fuhr in ihren Ausschnitt und griff nach dem Papier, fühlte die raue Oberfläche und die Unebenheiten, wo die Feder die magische Tinte hineingekratzt hatte. Zielsicher griff sie nach einem Beschwörungszauber, „Infanterie des Nichts“... wenn er funktionierte, dann sollte sie so eine Reihe von Gewehren und Pistolen aus dem Amulett ziehen können... naja, falls er funktionierte... aber so fühlte sie sich zumindest etwas gerüstet. „Hey, was wollt Ihr hier?!“, ertönte es da von ihrer Seite und eine Wache baute sich vor ihr auf. Noch bevor sie sich erklären konnte, packte der Wachmann ihren Arm, in dem sie das Amulett hielt, und riss es aus ihren Fingern. „Ist das ein Angriff auf unseren Gouverneur?! Identifiziert euch!“ Der Mann war eindeutig nicht in der Stimmung, lange Erklärungen zu bekommen. Celeste kannte das und war bereit möglichst knapp Auskunft zu geben. Mit der freien Hand nahm sie ihre Maske ab und sprach: „Colonel Celeste de Lacour, sechstes Batallion der Armee von König Gibert II. von Cher Enfant. Zwei verdächtige Männer haben sich gerade durch einen Seiteneingang Zugang zum Schloss verschafft. Ich bin ihnen gefolgt, um herauszufinden, was sie vorhaben.“ „Und das hier?“, fragte der Wachmann mit strengem aber rationalen Ton und deutete auf das Amulett: „Das ist ja wohl eindeutig ein Angriffszauber. Und Ihr wollt noch dazu eine Soldatin im Dienste von Cher Enfant sein? Ich bringe Euch zum Hauptmann, er soll entscheiden, wie mit Euch verfahren wird.“ „Was? Nein, das geht nicht! Bitte schaut Euch die Tür da vorn an, ich bin sicher, hier wurde eingebrochen!“, protestierte Celeste und versuchte sich aus dem Griff um ihr Handgelenk zu winden, aber sie fürchtete, dass die Wache zu viel Gegenwehr als gewalttätige Handlung einstufen könnte und als man ihr den Arm dann noch auf den Rücken drehte, blieb ihr kaum etwas anderes übrig, als sich zu fügen. Sie war unvorsichtig gewesen, wahrscheinlich ihrem Gemütszustand geschuldet. Wenn es nun zu einer Katastrophe kam, dann würde sie die Schuld daran tragen, weil sie irrational gehandelt hatte. „Was ist denn hier los?!“ Im weißen Gewand war es ausgerechnet die Prinzessin, die angelaufen kam, gerade, als der Wachmann nach seinem Vorgesetzten gerufen hatte. „Prinzessin, diese Frau hat sich im Schatten des Bambusgartens aufgehalten und scheinbar Papiermagie in die Schlossmauern geschmuggelt. Bitte begebt Euch wieder zum Ball zurück, wir haben die Lage unter Kontrolle“, gab der Wachmann routiniert Auskunft, doch Nomizon schüttelte den Kopf und herrschte ihn an: „Lasst sie augenblicklich los, das ist die ehemalige Mentorin meines Mannes und ein hoher Gast aus dem Cher Enfanter Militär.“ Der Wachmann erschrak, als er verstand, dass Celeste die Wahrheit gesagt hatte, nahm umgehend die Hände von ihr und kniete sich nieder, sprach eine unterwürfige Entschuldigung aus, die Celeste aber ohne weiteres akzeptierte. Sie hätte wohl kaum anders gehandelt. „Aber bitte erklärt mir, warum schleicht ihr hier herum, Madame Colonel? Ist etwas passiert?!“ „Verzeiht Prinzessin, ich hätte mich direkt an die Wache wenden müssen. Es scheint, als hätten sich zwei zwielichtige Gestalten ins Schloss geschlichen. Ich wollte ihnen folgen, habe sie aber bei einem Seiteneingang verloren.“ Nomizons Augen wurden groß und Celeste konnte sich vorstellen, dass sie vor Allem um ihre Tochter fürchtete. „I-ich hole Luren!“, meinte sie schnell, doch Celeste hielt sie auf. „Ich werde vorausgehen und die Sicherheit eures Kindes gewährleisten, wenn ihr mir die Erlaubnis gebt und eine Waffe zur Verfügung stellt.“ „N-Natürlich. Cari liegt im Oberhaus auf der zweiten Etage, Westflügel. Hauptmann, gebt der Colonel eine Waffe und begleitet sie.“ Der am Ort des Geschehens eingetroffene Hauptmann gehorchte umgehend und nahm seinem Untergebenen das Katana ab, übergab es an Celeste. Schnell machten die beiden sich auf und ließen die Prinzessin zurück, die noch einen Moment schwankte, bis sie erschöpft zusammenbrach, gerade noch vom Wachmann aufgefangen. Schnell baute sich eine Traube um Nomizon auf, Bedienstete betupften ihre Stirn mit Wasser und auch Luren nahm sie zu sich, rüttelte an ihr, fragte den Wachmann, was vorgefallen war. „Deine... Tochter...“, flüsterte Nomizon noch, bevor sie ohnmächtig wurde. Lurens stockte, gab die Prinzessin zurück in den Arm des Wachmanns und eilte selbst ins Schloss, den Griff fest um sein Schwert gepresst. Warum nur hatten sie sie nicht mit zur Feier gebracht, in seine unmittelbare Nähe? Doch daran konnte er nun nichts ändern. Er hoffte nur, dass es noch nicht zu spät war. Arisa entriegelte die Balkontür ohne Mühen. Sie waren nicht speziell mit einem Schloss gesichert, sondern nur mit einem Haken eingerastet, um nicht bei jedem Windstoß sofort aufzugehen, so wie die meisten Balkontüren in Shinju. Man ging wirklich nicht von einem Angriff von oben aus. Das Zimmer vor ihnen war stockfinster, man erkannte kaum die schemenhaften Umrisse des Mobiliars. Und es war still, lediglich der Lärm des Hofs trat nach innen. Langsam kroch die Harpyie voran, wuselte sich nach vorn, bis zur Zimmmertür. „Toll, wir sind ja komplett falsch“, zischte Teeza, die sich nur kurz hinter ihr bewegte. „Nein sind wir nicht.“ „Aber das Kind ist doch gar nicht da...“ „Natürlich nicht, du Vollpfosten! Das Zimmer unserer Turteltauben liegt auf der Hof-Seite, wo jeder gehörnte Affe uns gesehen hätte. Wenn wir das gewollt hätten, hätten wir uns auch die ganze Tortur sparen können!“ Sie konnte ihre kleine Schwester nicht sehen, war sich aber mehr als nur sicher, dass sie gerade genervt die Augen verdrehte, aber Arisa gab sich ganz sicher nicht die Mühe, ihr die Logik dahinter jetzt zu erklären. Vorsichtig lauschte die Harpyie an der Tür, schob sie dann, als sie keinen Laut von der anderen Seite vernahm, auf und schaute in den spärlich beleuchteten Gang. Gut, es war niemand hier. Schnell huschten die beiden durch die Tür, machten mit einem Flügelschlag einen Satz nach oben und hangelten sich die Holzbalken entlang. Keine Patrouille störte sie, nur vor einer Tür, zwei Ecken weiter, waren zwei junge Wachmänner platziert, die müde in den leeren Gang starrten, kurze Worte miteinander wechselten und vor allen Dingen die im Schatten liegenden Kriegerinnen über ihren Köpfen nicht einmal ansatzweise bemerkten. Eindeutig das Zimmer der Prinzessin. Und nur zwei kleine Schachfiguren im Weg. Es war schon zu einfach. Mit einigen kurzen Gestiken sprachen die Waffenschwestern sich ab, dann griff Arisa zu ihrem Dolch und die beiden ließen sich fallen, direkt vor die Füße der Männer. Noch bevor sie die Zeit hatten, zu registrieren, wer oder was da von oben angerauscht gekommen war, sauste ein Silberstreifen beim ersten am Gesicht vorbei und eine rote Fontäne schoss aus seinem Hals, während Arisa ihm mit der linken Hand den Mund zuhielt, um seine Todesschreie zu unterdrücken und der Dolch in der rechten immer wieder in seine Brust stach. Der zweite hatte noch einen Hilferuf starten wollen, während er seine Klinge zog, doch ein Tritt gegen seinen Kehlkopf ließ es zu einem krampfhaften Röcheln werden, während er zurückstolperte und auf die Knie fiel. Der Mann rang noch nach Luft, da entlud Teeza aus ihrem Schlagstock einen Blitz in den Arm des Mannes, griff nach der freigewordenen Waffe und enthauptete ihn aus der Drehung mit einem Streich... noch bevor er die Chance bekam, um Gnade zu betteln. Binnen Augenschlägen war der Boden mit Blut getränkt und die Wachleute lagen ermattet in ihrem eigenen Saft, während ihre Mörderinnen auf sie herabsahen. Teeza, vom ersten Angriff dem Tatendrang verfallen, wollte bereits die große Doppeltür aufschieben, da sprang sie zurück und ließ sich rücklings gen Boden fallen, denn ein blitzendes Stück Metall schoss aus dem Schlitz hervor, jagte der Stirn der jungen Harpyie hinterher und stoppte nur kurz vor ihr. Teeza fühlte, wie ein dünner, warmer Bach zwischen ihrem Pony hervortrat und starrte, ebenso wie Arisa, die mit dem Angriff nicht gerechnet hatte, auf die schöne, sauber gearbeitete Klinge eines Katana, die durch den kleinen Schlitz geschoben wurde. Einen Moment passierte nichts, dann zog sich die Waffe zurück und mit einem festen Tritt wurde die Doppeltür aus ihrer Schiene gerissen und aus dem Zimmer sprang mit einem schnellen Schwertschwung auf Teeza eine ältere Frau in voller Rüstung zu, verfehlte die sich wegrollende Harpyie wieder nur knapp und baute sich mit schweigendem, eiskaltem Blick zwischen den Schwestern und ihrem Ziel auf, das sich, nun vom Lärm geweckt, mit einem gequälten Plärren bemerkbar machte. Celicas Elitekämpferinnen begriffen sofort, dass diese Frau vor ihnen ein anderes Kaliber als ihre Kollegen war und das hier alles andere als einfach werden würde. Doch die Hitze, die in ihrer beider Wangen stieg, das Feuer, das in ihren Augen brannte, war der Beweis, wie viel Freude ihnen dieser Kampf bereiten würde... Es war ein kleines Geräusch, ein Klackern, wie das Fallen eines Steins, das den Soldaten von seinem Posten aufschauen ließ, hinein in die Finsternis. Der Schein seiner Laterne erhellte den fahl beleuchteten Gang nur geringfügig mehr und so konnte er nebst dem bisschen Holz links, rechts vorne und hinten nicht mehr erkennen. „Ist da wer? Jiro? Ken? Seid ihr das?“, fragte er in die Nacht hinein, doch erhielt keine Antwort, was ihn nur noch nervöser machte. Er hasste den Posten in der Vorratskammer, besonders nachts. Da wurde ihm nur noch mulmiger, inmitten dieses Labyrinths aus Kisten, als es ihm schon vorher auf nächtlicher Patrouille war. Und noch dazu vor dieser Sicherheitstür, die nur einmal alle paar Monate geöffnet wurd, um das Asterid, das die ISE angeliefert hatte, in das unterirdische Lager zu bringen. Sie befand sich ganz am Ende des Gangs, wodurch alles nur noch weiter erschien, wie ein endloser Tunnel, dessen Ausgang man nicht einmal erahnen konnte und jeder Ton wurde von den hohen Decken vielfach zurückgeworfen. Ein zweites Klackern, diesmal von weiter rechts. Zwei weitere folgten. Langsam machte es ihn sichtlich nervös. „Wenn hier jemand ist, dann möge er sich umgehend zu erkennen geben!“, ermahnte er die Finsternis, aber eine Rückmeldung bekam er auch beim drohenden Ton nicht. Stattdessen klackerte es noch einmal. Jetzt musste er sich bewegen. Er griff nach der Laterne hielt den Daumen am Schwertgriff bereit, um im Zweifel schnell die Klinge zum Kampf ziehen zu können. Er stellte sich an die Kreuzung, von der aus er das Geräusch vermutete, schwenkte aber erst in die entgegengesetzte Richtung, um nicht auf den ältesten Trick der Welt reinzufallen. Da war aber nichts, also machte er sich auf in Richtung der Geräuschquelle. „Letzte Warnung! Gebt Euch zu erkennen! Ansonsten kann ich für nichts garantieren.“ Einen Moment herrschte nur Stille. Dann ein letztes Klackern. Er wollte schon weiter vor, da bemerkte er ein Tippen auf seiner Schulter, schrie wie von der Eisspinne gebissen auf, wirbelte herum und riss das Schwert aus der Scheide, nur um das Gelächter seiner Kollegen zu hören, die im Schein der Laterne vor ihm standen. „Ihr blöden Wichser!“, war alles was er rausbekam, bevor er das Schwert wieder wegsteckte. „Hab ich es dir nicht gesagt, Jiro? Seba reißt die besten Grimassen, wenn er sich in die Hosen scheißt!“, meinte einer der beiden und zeigte auf das Ziel seiner Scherze. „Sehr witzig, Ken. Ich hätte dir auch den Kopf abschlagen können, dessen bist du dir bewusst?“ „Ganz locker bleiben. Ein Spaß unter Kollegen muss doch auch mal sein, außerdem ist es doch sonst hier unten so sterbenslangweilig“, verteidigte Jiro seinen Streichpartner. „Stimmt schon“, musste Seba knirschend zugeben. „Gerade heute ist hier unten wahrscheinlich noch weniger los als sonst. Aber das macht einen so nervös. Und das habt ihr Ärsche eiskalt ausgenutzt!“ „Komm endlich wieder runter, Mann“, versuchte Ken zu beschwichtigen, als er es schaffte, das Lachen endlich einzustellen. „Außer uns Dreien ist doch keine Seele hier unten.“ „Wirklich? Sonst niemand? Den Göttern sei Dank!“ Die raue Stimme erklang hinter Seba und kaum dass er sich wieder umgedreht hatte, schoss eine Faust aus der Finsternis, traf ihn seitlich an der Wange, so hart, dass es ihm ein Stück seines Backenzahns herausbrach. Der Wachmann taumelte für einen Moment um die eigene Achse, dann landete er ermattet mit dem Gesicht zuerst vor den Füßen seiner Kollegen. Jiro und Ken konnten kaum reagieren, da griffen zwei Hände sie von hinten an den Köpfen und rammten sie gegeneinander. Die Ohren beider klingelten furchtbar und das Bild wurde langsam schwarz, bis sie nur wenige Augenblicke später den Halt verloren und zusammenbrachen. „Hatte schon fast befürchtet, ich müsste noch mehr von euch umnieten...“ Ezra riss die Laterne aus Sebas Händen und hielt sie in Richtung der Sicherheitstür. Die unzähligen Schlösser waren nicht zu knacken, das wurde ihm umgehend bewusst, während er an seiner Zigarette zog. „Mit dem Schlag hättest du ihm auch das Genick brechen können, das weißt du schon?“, fragte Enzo hinter ihm und prüfte den Puls des Soldaten, den sein Partner gerade aus den Sandalen gehauen hatte. Aber es schien alles gut, das Herz schlug noch und ein schwacher, feuchter Atem kam aus seinem Mund. „Mach dir mal keine Sorgen, mittlerweile weiß ich, wie hart ich jemanden schlagen muss, um ihn nicht zu töten. Das ist alles nur eine Frage der... Übung!“ Mit dem letzten Wort trat Ezra gegen die Tür. Ein lautes Dröhnen hallte durch den Raum, gefolgt von verräterischen Rascheln herunterfallenden Putzes. Enzo kniff zähneknirschend die Augen zusammen, ob des unangenehmen Geräuschs, das durch seinen Körper fuhr. Hoffentlich hatte das niemand gehört. Der massive Stahl war deutlich eingedrückt, an der Stelle, wo Ezras Fuß gelandet war, aber die Tür hatte stand gehalten. Nein, hier wurde definitiv kein Reis versteckt. Wütend warf der Schmuggler seine Zigarette weg, tat einen Schritt zurück und setzte zu einem zweiten Tritt aus der Drehung an, so schnell, dass sein eigener Schatten ihm kaum folgen konnte. Ein lautes Krachen ertönte und brachte den Keller zum Zittern, als sein Fuß die gleiche Stelle traf wie zuvor. Die Tür selbst hielt stand, riss aber mitsamt seines Rahmens aus dem deutlich schwächeren Gemäuer, schlug gegen eine Wand an der Seite und landete dann mit einem dumpf ächzenden Schlag auf dem Boden. Einen Moment hielten die beiden inne, und lauschten in die Finsternis hinein, doch es rührte sich nichts, kein laut klapperndes Stampfen der Wachen, kein Rufen oder ähnliches. Sie waren schon ziemlich tief hier unten, da schluckten wohl die Wände einen Großteil des Lärms und was dann nach oben drang, wurde hoffentlich vom Feuerwerk übertönt. „Hättest du sie nicht erst nach den Schlüsseln durchsuchen können?“, warf Enzo ihm vor, als er sich sicher war, dass sie niemand gehört hatte. Doch der Gegenangriff folgte auf dem Fuße: „Ihresgleichen hat ganz sicher keinen Schlüssel für diese Tür. Der wird wohl nur im Besitz einiger hoher Tiere der ISE und der Gouverneursfamilie verbleiben. Was bedeutet, wir hätten uns eine Menge Stress sparen können, wenn Lord Hangyaku noch leben würde.“ „Das wirst du mir noch bis zum Ende deiner Tage vorhalten, oder?“ „Mindestens noch bis zum Ende diesen Abends.“ „Na dann hoffen wir mal, dass das nicht das Gleiche ist...“, meinte Enzo und gesellte sich zu seinem Partner. Er hatte alle drei Wachleute durchsucht und tatsächlich hatte niemand einen Schlüssel bei sich getragen, was ihn doch etwas missmutig stimmte, denn er wollte Ezras impulsivem Verhalten nur ungern recht geben. Sie mussten sich wohl mit den Waffen zufrieden geben, die die Männer bei sich getragen hatten... Sie starrten in den schmucklosen Tunnel vor ihnen, der breit und hoch genug war, dass ein großer Karren ohne Probleme hindurchkam. Ein Hebel an der Seite ließ ein paar Leuchtstoffröhren aufflackern, die die gewaltige Länge des Gangs aus rotem Stein nur noch deutlicher machte. „Dann wird es wohl Zeit...“, seufzte Ezra und machte sich auf, den unebenen Weg zu begehen. Zwischen dem Schloss und dem Hive lagen Luftlinie an die 8.000 Schritt, und das Asterid-Lager würde sicherlich näher an letzterem liegen als am Schloss – so zumindest würde es Ezra halten, wenn nicht ihr eigenes Lager seit der Gründung direkt unter dem Fuchsbau wäre. Sie hatten in jedem Fall einen anständigen Fußmarsch vor sich, aber dennoch fühlte sich der blonde Mann wie auf der Zielgeraden. Nicht mehr lang und er könnte endlich mit Asterias Rettung fortfahren... Kapitel 17: Eisen und Gold Teil 3 --------------------------------- Saito Moji hatte sich nur schwer vorstellen können, wie die Tochter der schwarzen Witwe aussah. Und nun, wo sie vor ihm stand, war er sich noch immer nicht sicher, ob die beiden wirklich blutsverwandt waren. In vielerlei Hinsicht kam das Fuchsmädchen in den Gesichtszügen und dem Teint zwar schon sehr nah an die Gefangene heran, aber den Schein der Schönheit und Eleganz konnte sie auch mit dieser Menge an Schminke nicht so umsetzen, wie es ihre Mutter selbst in ihrem maroden Zustand schaffte. Hässlich war sie sicherlich nicht, unscheinbar traf es da schon eher. Am ehesten war es aber ihre Ausstrahlung: Eine mörderische Tendenz blieb bei ihr einfach nicht auszumachen. Sie wirkte eher schon fast... unschuldig... Doch eigentlich hatte Saito auch eher Augen für ihre Begleitung, wenn auch nicht im schönen Sinne. Er hatte sich vorgenommen, die Reaktionen des weißhaarigen Kitzune genaustens im Blick zu behalten, denn dieser hatte bereits gezeigt, wozu er fähig war und er wollte, wenn möglich, aus der Schusslinie bleiben, wenn es zu einem Wutausbruch kam. Sie waren bereits auf dem Weg zum Todestrakt, durch die unzähligen Türen, immer tiefer in den Felsen hinein. Und je tiefer sie kamen, desto finsterer wurden die Kammern und desto gefährlicher wurden auch die Insassen, denen sie begegneten. Im äußersten Ring saßen Diebe und andere Kleinkriminelle, jeder, der zwei Jahre oder weniger zu verbüßen hatte. Dahinter kamen Zuhälter, Hehler, brutale Schläger und Drogenverkäufer, die bis zu zehn Jahre einsaßen. Der letzte Ring vor dem Todestrakt war für Mörder und Vergewaltiger reserviert, all jene, die in ihrem Leben vielleicht nie wieder die Luft der Freiheit schnuppern würden. Jeder, der auch diesen Ring durchquerte und seine letzten Wochen im Todestrakt fristete, war aber selbst für die Schwerverbrecher des letzten Rings eine Nummer zu groß. Im Todestrakt warteten aktuell vier Leute auf den Tag ihrer Hinrichtung: Ein verrückter Mörder mit verschmierter Schminke, der insgesamt drei Kinder in die Straßen des Hafengebiets gelockt und sie dort wie Fische an einem Fleischhaken aufgehangen hatte; ein hoher Kommandant des neuen Kaisers, der sich einen Namen als berüchtigter Zugräuber gemacht und mindestens zehn Personen auf dem Gewissen hatte; ein Attentäter, dessen Anschlag auf den Gouverneur höchst selbst nur knapp durch seinen neuen Oberst und Schwiegersohn vereitelt werden konnte. Und zuletzt eine gewisse Kitzune, die über die Jahrzehnte hinweg mit mehr als fünf Dutzend Morden in Verbindung gebracht wurde. Selbst unter dem grausamsten Abschaum war sie noch ein anderes Kaliber – was auch an ihrer Position als Champion von Asteria lag. Mit einem kleinlauten: „Gehen wir“, öffnete Saito die Sicherheitstür und ließ die beiden ein. Ihm wurde langsam klar, dass das noch eine sehr lange Nacht für ihn werden würde und er nahm sich fest vor, danach seinen Posten als Wachmann an den Nagel zu hängen, das Glücksspiel bleiben zu lassen und sich eine hübsche Frau zu suchen, mit der er eine Familie gründen könnte. Es war an der Zeit, dieses schmutzige Leben endgültig hinter sich zu lassen. „Wie lang sind wir schon unterwegs?“ Enzos Frage kam zu einem Zeitpunkt, als Ezra schon lang aufgehört hatte, die Schritte zu zählen. Der Tunnel schien immer geradeaus zu gehen, dennoch war das Ende noch nicht in Sichtweite. Es schien, als würde man in die Unendlichkeit laufen. Die beiden Männer hatten links und rechts von sich Ausschau nach versteckten Türen oder besonderen Schaltern gehalten, die in die Wände eingelassen waren, doch davon war nichts zu erkennen. Nur weißer Putz, angestrahlt von diesem unsäglich hellen Licht, das die langen Röhren über ihnen abgaben und allmählich aufs Gemüt drückte. Tatsächlich aber verstand Ezra, dass sie noch gar nicht so lang hier unten sein konnten, dennoch kam es ihm vor, als zöge sich die Zeit hier in die Länge. „Vermutlich die magische Strahlung...“, murmelte er. Er hatte solche Phänomene auf seinen Besuchen in der Gläsernen Wüste schon öfter beobachtet, dieses Gefühl, auf der Stelle zu treten. Die Strahlung, die Asterid abgab, konnte die Wahrnehmung verzerren: Man verlor sein Gefühl für Zeit und Raum, sah Erscheinungen, hörte Stimmen... Es gab viele Regeln, die man beim Abbau des wertvollen Kristalls beachten musste. Die wichtigste aber war, nebst dessen, immer nur bis zum Knöchel zu graben, um sich nicht den giftigen, tief hängenden Dämpfen auszusetzen, niemals allein und niemals zu weit über die Grenze zu gehen, damit man nicht wahnsinnig wurde. In jedem Falle musste dies heißen, dass sie ihrem Ziel doch schon näher waren als gedacht – und dass die ISE absolut nichts von Isolation verstand. Wie gefährlich die Arbeit in diesen Tunneln war, das konnte er nur erahnen, aber das Schicksal der Arbeiter interessierte ganz oben vermutlich niemanden. Ein Grund mehr, warum Ezra diese Leute nicht respektierte. Und umso weniger schlecht sollte er sich fühlen, sie auszunehmen... Celestes Lungen brannten, während sie die Treppen hoch hastete, dicht gefolgt vom Hauptmann. Der Kimono bremste sie aus, sie musste ihn stets festhalten, damit er nicht von ihren Schultern fiel. Und zugleich riefen sie auf jeder neuen Etage Wachen zur Unterstützung zu sich; je mehr sie waren desto besser. Aber alles im vollen Lauf und die unzähligen Treppen hinauf hechtend brachte auch eine gestandene Soldatin wie sie ins Schwitzen. Verflucht, es war, als hätte sie geahnt, dass etwas Schlimmes passieren würde. Sie musste anfangen, ihrer Intuition wieder mehr zu vertrauen, so wie sie es früher getan hatte. Doch tatsächlich drängte sie sie gerade nur zurück. Wenn die Gestalt, die sie gesehen hatte, tatsächlich jener Meister Hunter von ihrem letzten Besuch war, dann standen die Chancen erschreckend gut, dass sie einen Kampf nicht überleben würde... Denn dass er sich nur zurückgehalten und im Kampf vielleicht ein Zehntel seiner Kraft – eventuell sogar noch weniger – verwendet hatte, das war ihr schon damals bewusst gewesen. Und zu allem Übel kämpfte sie in Kleidung, die sie nicht schützte und mit einer Waffe, die sie nicht beherrschte... „Auf ein Wort, Colonel“, ächzte der Hauptmann hinter ihr, für den der Lauf in voller Montur sicherlich noch unangenehmer war. Sie waren ungefähr auf der Hälfte des Weges. Es lag noch ein ganzes Stück vor ihnen, war das Schloss immerhin ein eigenes kleines Dorf inmitten dieser riesigen Stadt. „Hat das nicht Zeit, bis wir da sind? Eure künftige Gouverneurin ist in Gefahr!“ „Das ist mir bewusst, aber was ist, wenn das alles nur der Ablenkung dient? Wir haben einige wertvolle Orte im Schloss, die der Plünderung wert sind... Einschließlich des Zugangs zum Asteridlager der Stadt. Die Folgen könnt ihr Euch denken, wenn es die Verdächtigen darauf abgesehen haben.“ Verdammt, warum hatte sie das nicht bedacht? Sie war heute wahrlich nicht auf der Höhe. Im Nachgang erschien es ihr auch noch viel logischer, als ein purer Anschlag auf Lurens Kind. „Was schlagt Ihr vor, Hauptmann? Ihr kennt Euch hier besser aus als ich, Ihr solltet das Kommando übernehmen.“ Der Soldat nickte kurz: „Ich werde meine Männer in vier gleich große Gruppen aufteilen. Eine davon wird Euch und mich begleiten, die anderen werden versuchen, die verbleibenden Orte des Schlosses abzusuchen. Ist das in Eurem Einverständnis?“ Celeste zögerte. Sie hatte eigentlich all die Leute mitgenommen, gerade weil es so riskant werden würde, aber der Einwand des Hauptmanns war mehr als nur nachvollziehbar. „Also gut. Beeilt Euch mit der Einteilung. Ich werde schon einmal vorlaufen.“ „Madame Colonel, das kann ich nicht-“, wollte er sie noch aufhalten, doch Celeste bog da bereits um die Ecke. Hätte sie warten sollen? Unterschrieb sie gerade ihr Todesurteil? Möglicherweise. Aber daran konnte sie gerade nicht denken. Sie hatte sich selbst in die Pflicht genommen, heute Nacht auf Luren und Nomizon aufzupassen. Nun musste sie auch liefern. Nur knapp rutschte Arisa unter der horizontal sausenden Klinge vorbei, rollte sich ab und ließ ihren Dolch nach vorn zum Schienbein der Wachfrau schnellen, doch diese wich zur Seite aus und trat nach ihr. Die Harpyie drückte sich vom Boden ab, sprang über den Fuß und vorbei an dem blitzenden Schlagstock ihrer Waffenschwester. Die Frau selbst konnte dem Schlagstock nicht ausweichen, wollte ihn mit dem eigenen Arm parieren und jaulte auf, als die kleinen Blitze ihr einen betäubenden Schlag verpassten, doch ausbremsen konnte es sie nicht wirklich. Die Klinge der Soldatin sauste schnell wie ein Lichtblitz durch die Luft, mehr als einmal haarscharf an den Schwestern vorbei. Doch nicht nur die Waffe ihrer Kontrahentin war Arisa ein Dorn im Auge: Nur knapp war sie mehrmals den aggressiven Schwüngen ihrer Schwester ausgewichen, sodass sie das Knistern und das Wabern der Luft vernehmen konnte. „Kannst du nicht besser aufpassen?! Du triffst noch mich mit deinem Gefuchtel, du blindes Huhn!“, knurrte sie Teeza von oben herab an, während sie sich nach einem Sprung am Deckenbalken festhielt. „Was aufpassen? Pass doch selber auf! Ich hätte sie schon längst, wenn ich nicht immer meine Schwünge abbremsen müsste, weil du im Weg stehst!“ „Klar, als ob dein Spielzeug irgendjemanden beeindrucken würde“, hatte Arisa noch entgegnet, doch da bemerkte sie zeitgleich, dass die Angriffe definitiv nicht spurlos an ihrem Gegner vorbeigegangen waren: Von ihrer Stirn rollten dicke Schweißperlen, die Klinge in ihrer Hand vibrierte gering ob des winzigen Zitterns ihrer Hände und ihr Stand hatte einiges an Festigkeit eingebüßt. Sicher, auch die Schwestern konnten sich das Schnaufen nicht verkneifen, doch außer Atem waren sie noch lange nicht. „Verschwindet von hier...“, presste die Soldatin aus ihren Zähnen, mit einer Stimme, so rau, dass sie auch einem Mann gehören könnte, und festigte den Griff um ihr Schwert. Doch vor den beiden Harpyien konnte sie nicht verstecken, dass ihre Worte mehr Bitte als Drohung waren. Sie war stark, viel stärker als die meisten Menschen, denen die beiden bisher begegnet waren, aber dennoch... Es blieb völlig unmöglich, dass ein Federloser jemals einer Dämonin der Lüfte ebenbürtig war. „Wie wäre es, wenn du stattdessen verschwindest? Wir verraten dich auch nicht, versprochen...“, schnurrte Teeza. Ihr Grinsen war vorhin kurz verschwunden, kam dafür aber nur umso breiter zurück. Sie war nach wie vor Feuer und Flamme. Und auch Arisa verspürte trotz allen Ärgers eine enorme Freude, gab sich ihrem wallenden Blut voll und ganz hin. Aber zugleich ging dieses Spiel mittlerweile schon zu lang und sie sollten langsam wieder ihrer Arbeit nachgehen. Die Soldatin bewegte sich nicht, sondern wartete auf den nächsten Schlag ihrer Gegnerinnen, wollte nicht riskieren, durch einen blinden Frontalangriff eine der beiden in ihrem Rücken zu haben. Aber das würde ihr nichts nützen; Arisa wusste genau, wie sie ihre Schwester steuern konnte. „Hey, Teeza! Bleib schön stehen, jetzt habe ich freie Bahn!“ „Was soll das heißen, DU hast freie Bahn?!“, brüllte sie noch, doch Arisa drückte sich schon von der Wand ab, um direkt auf ihrer Gegnerin zu landen. Die Soldatin reagierte schnell, riss die Klinge hoch, sodass sie die Harpyie in der Luft zerschneiden könnte – und ließ Teeza für eine Sekunde außer acht. Genau in dem Moment, als die Jüngere – provoziert vom Aktionismus ihrer Schwester – ihren Schlagstock gegen ihren Hals hämmerte. Die Funken rasten die Halsschlagader hinab, ließen Herz und Atmung für einen Moment stillstehen und die Wachfrau zu einer Salzsäule erstarren. Nicht einmal einen Augenblick später stürzte Arisa auf sie, packte sie im Gesicht und legte die Klinge an ihre Kehle. Für Ochako begann der letzte Moment ihres Lebens. Das wurde ihr klar, als sie den Fehler gemacht hatte, die Kleine für einen Moment zu ignorieren. Während die ältere Harpyie sie zu Boden warf, spürte sie in ihrem betäubten Körper nichts außer einem unangenehmen Kribbeln, das sie bis in die Fingerspitzen begleitete. Unfähig sich zu bewegen, musste sie in einem ewig gezogenen Moment mit ansehen, wie das blitzende Metall an ihren Hals gesetzt wurde, bereit, ihr die Kehle durchzuschneiden. In ihrem Kopf ging sie jede Bewegung durch, die sie hätte besser machen können, jeden Schritt, der klüger gewesen wäre, jeden Atemzug, der präziser hätte sitzen müssen, wissend, dass es wahrscheinlich nichts am Ergebnis geändert hätte. Dass die beiden scheinbar noch so blutjungen Mädchen ihr mehr als nur ebenbürtig waren, das hatte sie zügig begriffen. Sie hatte nur gehofft, durchzuhalten, bis Verstärkung eintraf. Nun hingegen blieb ihr nichts anderes übrig, als mit ihrem letzten Atemzug ihre Herren im Stillen um Verzeihung zu bitten... Ezra staunte nicht schlecht: Außer in der Gläsernen Wüste hatte er noch nie so viel Asterid auf einem Haufen gesehen. Über und über mit dem wertvollen Material gefüllt bauten sich riesige schwarze Kisten vor ihm auf, die aus ihren Rillen leuchteten, als wären es eigenständige kleine Häuser; als würde er hier Shinjus Silhouette wiedererkennen. Was hier lagerte war vermutlich mehr als genug, um die ganze verdammte Stadt weit über ein Jahr mit Energie zu versorgen – inklusive dessen, was für die Papiermagie verwertet werden würde. „Diese Vollidioten...“, murrte er und rieb energisch seine Augen, als wünschte er sich, sie würden ihm einen Streich spielen. Dass sie ihn noch nie getäuscht hatten, musste er sich aber auch jetzt eingestehen. „Haben die denn nichts gelernt? Keine verstärkten Wände, gewöhnliche Holzkisten und... was in aller Welt ist das denn?!“ Er zeigte auf einige Metallstäbe, die in die Wand gebohrt waren und wie eine Leiter in einen Schacht über ihnen führten. „Zweihundert götterverdammte Jahre und sie verstehen noch immer nicht, wie scheißgefährlich Asterid ist?! Wozu sind denn alle gestorben, wozu mache ich mir die ganze Arbeit, wenn diese dämlichen Wichser noch immer den gleichen Mist machen wie damals?! Meinen die wirklich, wir hätten Lust auf dieser Insel zu krepieren, oder ist das einfach nur ein schlechter Scherz?!“ „Beruhige dich Ezra... Es kann nun einmal nicht jeder deinen langlebigen Weitblick besitzen. Lass uns lieber das Asterid einsacken und zusehen, wie wir von hier verschwinden... Wohin wohl die Leiter führt?“ Enzo machte sich daran, die Gitterstäbe nach oben zu steigen. Ezra griff nach seinem Gürtel und legte sein Oberteil ab, verknotete Ecken und Ärmel miteinander und zog den Gürtel mehrmals durch die offenen Enden, um einen einfachen Beutel mit Schnürfunktion zu schaffen. Auch wenn der Mann selbst für tishalische Verhältnisse relativ groß war und seine Garderobe sich seiner Statur anpasste, so blieb in der provisorischen Tasche dennoch kaum mehr Platz als für vielleicht zwei dutzend Kristalle. „Nun frage ich mich aber schon, ob du mich verarschen willst.“ Enzo beäugte misstrauisch das Stück Stoff. „Wir haben doch nicht die ganze Tortur durchgemacht, nur um jetzt mit Kleinkram nach Hause zu gehen.“ „Mitnichten, Partner.“ Ezra nahm einen seiner hölzernen Sandalen auf und schlug ihn mit dem Absatz gegen die erstbeste Steinkante. Der Balken brach sofort und offenbarte einen Hohlraum, in dem eine Papierrolle eingerollt lag – Papieramulette mit Wandlungsmagie. Auf allen war nicht mehr abgebildet, als eine auf die Seite gelegte Acht, in die ein Paar simple Augen gesetzt waren. „'Scheinbare Unendlichkeit'?“, murmelte Enzo, während er mit stets weitenden Pupillen dabei zusah, wie er die Amulette in der Innenseite des Beutels anlegte. Ein violetter Schein trat aus seiner Öffnung, der mit jedem weiteren Amulett immer stärker wurde. „Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist? Soweit ich weiß, verdoppelt dieser Zauber doch nur die Füllmenge.“ „Ja, aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Die Menge wird verdoppelt aber pro Zauber. Bei zwei Amuletten ist es also bereits die vierfache Menge, bei drei die achtfache und so weiter. Einfache Mathematik.“ „Einfache Mathematik, am Arsch“, knurrte der Koch. „'Scheinbare Unendlichkeit' ist von sich aus schon ein instabiler Zauber und du willst ihn exponentiell mit sich selbst verstärken? Wie viele hast du darein gelegt? Vier? Fünf?“ „Sieben“, antwortete Ezra klanglos, als könnte es ihm kaum egaler sein und begann, die wertvollen Steine in den Beutel zu schaufeln. Er kniff die Augen zusammen und hielt die Luft an, um nicht eventuellen Kristallstaub einzuatmen. „Eine Schutzmaske hätten wir mitnehmen sollen...“ Enzo hörte ihm nicht zu. Mit jedem weiteren Kristall, der in diesem tragbaren Niemandsland verschwand, kaute er sich fester auf der Lippe, bis sich ein schwacher Eisengeschmack auf seine Zunge legte. Er verstand nicht viel von Papiermagie, hatte aber mehr als genug Geschichten über Unfälle mit diesem Exemplar gehört: Amulette, die sich versehentlich in Hosentaschen aktiviert und ihren Besitzer aufgesaugt hatten, explodierende Taschen von Schmugglern, die die Kurzlebigkeit unterschätzt hatten, deformierte Mordopfer, auf deren Stirn das dämonische Zeichen gemalt worden war... Es gab einen Grund, warum man diesen Zauber verboten hatte. „Ich glaube einfach nicht, dass du das wirklich tust. Und ausgerechnet du redest über Sicherheit im Umgang mit Asterid?“ „Ja, aber ich weiß auch, worauf ich mich einlasse. Mach dir keine Sorgen, es wird so ja nur für kurze Zeit gelagert. Wird schon nichts Schlimmes passieren. Sag mir lieber, wohin der Schacht führt, vielleicht hilft uns das ja.“ Enzo wollte noch etwas sagen, verstand aber, dass es keinen Zweck hatte, mit Ezra zu diskutieren. Außerdem hatte er seine eigenen Pläne. Während Ezra ihm den Rücken zudrehte griff er zu der Pistole unter seinem Gewand, die er schon vor einigen Tagen in die Vorratskammer geschmuggelt und gerade die Chance genutzt hatte, sie beim Angriff auf die Wachen aufzunehmen. Langsam strich er darüber, prüfte die Komponenten: Lauf, Hahn, Sicherung, Abzug... Alles einwandfrei. Langsam hob er die Waffe und zielte mit der riesigen Mündung auf seinen Partner, drückte den Hahn nach unten. „Tja, du wirst es nicht glauben... Aber wie der Zufall es will, steht über uns der Hungerkäfig.“ Mirabelles Augen weiteten sich, als sie die Personen erkannte, die da vor ihr standen. Ruckartig stand sie auf und richtete – so gut es in ihren Ketten überhaupt ging - ihr Haar und die Lumpen, mit der man ihren Körper bedeckte. Ein fast schon lieblich anmutendes Lächeln spielte sich über ihre Lippen und verblasste den Schauer, den sie sonst ausstrahlte. „Du hast dein Wort gehalten, Shiro“, säuselte sie und klang dabei mehr als nur glücklich, wischte sich über die Augen, bevor sie sich an den neuen Besucher wandte. „Mein liebstes Töchterchen... wie sehr habe ich dich vermisst.“ „M-Mutter...“, stotterte Mirako und trat ans Gitter. Saito hatte sie wirklich hergerichtet, aber ihr Leid hatte er nicht verdecken können. Die schwarze Witwe sah in ihrem jetzigen Zustand einfach erbärmlich aus und kein Bad der Welt würde etwas daran ändern. Mirako stand den Tränen nahe, blieb aber gefasst – für ihre Verhältnisse. Obwohl die beiden sich nur bedingt leiden konnten, war ihre Verbindung im Blute doch stärker als jeder Zwist. „Was hast du nur getan, Mutter?“, schluchzte sie schließlich und griff mit einer Hand durch die Stäbe, doch auch wenn sich Belle streckte, fehlte eine Haaresbreite, dass sie sich berührten. Saito wollte eingreifen, doch die bleiche Pranke auf seiner Schulter hielt ihn zurück. „Na was denkst du? Mama war ein böses Mädchen... hast du mich denn nicht vermisst?“ „D-doch...“ „...Und willst du, dass ich nach Hause komme?“ Die Frage, scheinbar wie selbstverständlich von Belle gestellt, sorgte dafür, dass in diesem Moment in der Zelle die Zeit stillstand. So unscheinbar diese Worte klangen, so sehr lösten sie in Mirako etwas aus, das spürten alle Anwesenden. Shiro bekam ein flaues Gefühl im Magen. Etwas stimmte nicht, doch er konnte beim besten Willen nicht erkennen, was. Langsam nickte die junge Kitzune, was ihrer Mutter ein erwartungsvolles Lächeln entlockte. „Dann...“, fing Belle an und warf einen finsteren Blick zu Shiro und dem Wärter, der ihre Intention mehr als deutlich machte. Verdammt, dachte sich Shiro, als er verstand, was vor sich ging. Das Miststück hatte ihn doch hinters Licht geführt. „...tu, was getan werden muss.“ „Mira, nicht!“ Shiro wollte Mirako noch aufhalten, sie am Arm packen, der unter ihrem Kimono verschwunden war, da wurden er und Saito schon von einer Druckwelle gegen die Wand geschleudert. Sein Schädel stieß ein tiefgehendes Brummen aus, als würde ihm jemand mit einem Hammer dagegen schlagen. Als er wieder zu Sinnen kam, erkannte er die transparente Wand aus alt-asterischen Zeichen, die sich um Mirako und ihre Mutter gebildet hatte – und sah, wie Mirako die Stäbe mit einigen Zaubern zersetzen ließ, als wären sie nicht viel mehr als brüchiges Papier. „Mirako, lass das! Du bringst uns alle in Gefahr!“ Die Kitzune hörte nicht. In Ruhe legte sie einen Ring aus Amuletten dicht an die Verankerung der Kette, die nur wenige Momente darauf mit einem kurzen Zerren aus dem Gemäuer brach, als wäre sie kaum darin befestigt gewesen. Shiro konnte nichts tun, als zuzusehen. Letzten Endes hatte die schwarze Witwe genau das bekommen, was sie von Anfang an gewollt hatte: Freiheit. Mit einem genüsslichen Grinsen starrte sie den großen Kitzune an, bis ihr Blick voller Ekel zum Wärter vor ihr schweifte. „Öffne es“, befahl sie ihrer Tochter mit kühlem Ton. „Kiga hungert nach frischem Blut...“ Ein Schuss unterbrach Arisas Angriff und der Schmerz, der sich kurz darauf durch ihren Unterarm zog, schien beinahe unerträglich. Sie schaute zur Quelle und sah den dünnen Rinnsal roten Saftes aus ihrem Fleisch treten. Es war nur ein Streifschuss, aber brannte trotzdem höllisch. Und mehr noch interessierte sie, wer es wagen würde, auf sie zu feuern. Da stand sie vor ihr am Ende des Ganges: Sie war nicht aus Shinju, das erkannte man vom weitem, obgleich sie die Kleidung der Einheimischen trug. In der rechten Hand führte sie ein Katana, während um ihren linken Arm Papieramulette schwirrten und einen geisterhaften Schemen einer Schusswaffe in ihrer Hand nährten. Schnell hob die Unbekannte die Waffe an und feuerte eine Salve auf die Harpyien ab, der die beiden nur knapp ausweichen konnten und sich bis zum Ende des Gangs zurückziehen mussten. „Wer ist denn die Schlampe?“, knurrte Teeza. „Eine mit der wir nicht spielen sollten...“ „Und was machen wir jetzt?“ „Wir werden sie wohl auch töten müssen. Aber gib Acht, Teeza, sie ist ganz sicher kein Zuckerschlecken.“ Die Jüngere schenkte ihrer Schwester einen verächtlichen Blick und antwortete: „Überschätz mich nicht... Anders als du, habe ich den Willen zu tun, was nötig ist.“ Mit diesen Worten schoss sie los, wich mit Wandläufen, kurzen Sprüngen und Rutschbewegungen galant den unzähligen Schüssen der dubiosen Waffe aus, die scheinbar niemals nachgeladen werden musste und preschte dann – nicht etwa zum Feind, sondern in das Schlafgemach! „Diese kleine...“ Arisa wurde schlagartig klar, was ihre Schwester vor hatte und was sie mit dem „Willen zu tun, was nötig ist“ gemeint war: Teeza wollte sich das Kind krallen und dann allein aus dem Staub machen – und sie zum Sterben zurücklassen. So viel Gerissenheit hatte Arisa nicht erwartet. Und noch mehr störte sie, dass das eigentlich ihr Plan gewesen war. Celeste hämmerte den Abzug ihrer Geisterpistole, bis sich die Finger verkrampften, dennoch schaffte sie es nicht, das Biest vor ihr zu treffen. Eine verdammte Harpyie. Was in aller Welt hatten Harpyien hier verloren, wie konnten sie unerkannt ins Schloss einbrechen? Die kleine Befiederte hatte sich schnell bis in ihre Nähe gestohlen, konnte sie jetzt ohne weiteres anspringen. Celeste tippte auf ein Amulett an ihrem Arm, das sich schlagartig vor sie setzte und eine stabile Barriere aufbaute. Doch sie rechnete falsch: Statt auf sie zu, huschte die Harpyie nach rechts durch die Tür in das Schlafgemach. Sie wollte zu Cariléy? Celeste beschlich ein ungutes Gefühl. Schnell pflückte sie ein weiteres Amulett aus der Luft und schlug es gegen die Wand, stellte sich Cariléys Krippe vor und einen leuchtenden Bannkreis, der sie einhüllte. Kaum, dass sie die Augen öffnete, erreichte sie die Gewissheit, dass es ja noch eine zweite Harpyie gab. Schnell festigte sie den Griff um das Katana auf ihrer Schulter, doch als sie sich im Gang oben und unten umsah, war von der Großen nichts mehr zu sehen. Für den Moment eines Wimpernschlags war es schon beängstigend still... Ihr Atem stockte: War sie zu langsam gewesen? Dann aber vernahm sie ein lautes Poltern aus dem Schlafgemach, gefolgt von einem: „Mieses Miststück!“ Kaum, dass Celeste durch den mittlerweile türlosen Rahmen schaute, erkannte sie die Quelle der Unruhe. Die größere Harpyie hatte die kleine an den kurzen, grob geschnittenen Haaren gepackt und hämmerte ihr Gesicht gegen den Boden. „Aufschlitzen sollte ich dich! Hier und jetzt! Dachtest du wirklich, ausgerechnet du kannst mich verarschen?!“ Sie wollte zu einem weiteren Stoß ansetzen, da rammte die Kleine ihr den Ellenbogen in den Bauch und verpasste ihr einen saftigen Kinnhaken. „Du und mich aufschlitzen?! Wer hat hier denn wen verarscht? Erst schleichst du dich durch das Schloss wie ein feiges Huhn und dann versuchst du, mir den Sieg gegen diese Soldatin zu stehlen? Ich hab den Schnabel geschliffen voll von deinen Plänen! Du bist nicht Mutter, Arisa, ich muss nicht auf dich hören!“ Sie holte zu einem erneuten Schwinger aus, wurde aber von der Größeren an beiden Armen gepackt und bekam eine saftige Kopfnuss spendiert. „Es heißt gestrichen! Glaubst du wirklich, Mutter würde dich auch nur eine Sekunde aus den Augen lassen, du wandelnde Katastrophe?!“ Die Colonel verstand nur wenig, was diese beiden Harpyien da taten, doch zu ihrer Erleichterung erkannte sie, dass Cariléys Wiege durch den Zauber abgeriegelt war. Das Elfenkind plärrte zwar lauthals, wie man es bei diesem Lärm auch von einem Baby erwartete, aber sie war zumindest in Sicherheit. „Madame Colonel?“ Neben Celeste ertönte eine Stimme, weiblicher Natur, aber so rauchig kratzend, dass sie auch einem Mann gehören könnte. „Ochako, richtig? Es ist gut zu sehen, dass Ihr am Leben seid.“ „Das verdanke ich Euch. Aber diese beiden... Was wollen die hier?“ Auch darüber hatte Celeste schon nachgedacht und war zu einem klaren Entschluss gekommen: Sie musste nachfragen. Solange die beiden Streithennen ihren Kampf austrugen, tippte sie ein Amulett an. Eine kleine, bläulich schimmernde Tür öffnete sich aus dem Blatt heraus und präsentierte den schimmernden Griff einer neuen Geisterpistole, die sie umgehend zog und auf die Harpyien richtete. Das laute Klicken lenkte Teezas und Arisas Aufmerksamkeit von ihrem Streit weg zu den zwei Frauen in der Tür. „Bevor wir euch ins Jenseits schicken, beantwortet mir eines: Wer schickt euch und wie lautet euer Auftrag?“ Es wurde still, während die beiden Harpyien untereinander Blicke austauschten, dann wieder zu ihren Gegnerinnen schauten, immer im Wechsel. Dann prusteten die beiden los. „Verzeih, Schätzchen“, begann die Größere in ihrem Lachanfall und präsentierte mit einem hämischen Grinsen ihren Mittelfinger. „Aber das ist alles, was wir dir verraten werden.“ „Arisa, sind die Federlosen immer so dumm? Als ob wir denen Mutters Plan verraten würden!“, lästerte die Kleine, die sich bereits die Seiten hielt und zu spät ihren Fehler bemerkte, denn Arisas Faust landete umgehend in ihrem Gesicht. „Wer ist hier dumm, du dummes Huhn?! Magst du nicht direkt noch alles ausplaudern?!“ „Wartet... ihr kommt von Celica?“, warf Ochako ein und Celestes Augen weiteten sich vor Schreck, denn ihr war bewusst, was dies bedeutete. Die Harpyien schluckten kurz, dann trat die Ältere vor. Gegenüber der Kampfbereitschaft zuvor, hatte ihr Blick jetzt etwas schon fast Weises und Verantwortungsvolles an sich. Es wirkte wie der Ausdruck einer Lehrmeisterin oder einer Diplomatin, in jedem Fall nicht wie der einer Wilden aus dem Niemandsland. Und da sie ihre Waffe wegsteckte und bereitwillig kampflos vortrat, tat es ihr Celeste gleich. „Arisa, Kriegerin in Celicas Elite, und liebende Lehrerin der jungen Schwestern“, stellte sie sich mit stolz geschwellter Brust vor. Celeste legte militärtypisch zwei Finger an die Stirn. „Colonel Celeste de Lacour. Sechstes Batallion der Armee von Cher Enfant.“ „Für eine Federlose kämpfst du erstaunlich gut, Colonel. Ohne Verluste werden wir dich nicht töten können. Ich wäre erfreut, wenn wir eine gewaltlose Einigung erzielen.“ „Und für eine Harpyie bist du erstaunlich redegewandt. Aber ich kann euch Cariléy nicht überlassen. Sie ist keine von euch – offensichtlich.“ „Noch nicht. Aber Mutter hat bereits ihr Blut gespürt. Je schneller unsere neue Schwester zu uns kommt, desto besser für alle Beteiligten.“ „Das kannst du vergessen. Sie ist nicht deine Schwester.“ „Deine Tochter ist sie aber auch nicht“, erwiderte Arisa und verschränkte die Arme. „Warum also so viel des Aufhebens? Spätestens, wenn die ersten Mutationen auftreten, wird man darüber nachdenken, sie zu töten - wenn wir das nicht zu verhindern wissen und sei dir versichert, dass es so sein wird. Du rettest sie nicht mit deiner Sturheit, du verlängerst nur das Unausweichliche.“ Celeste knirschte mit den Zähnen. Diese Harpyie war doch kaum dem Mädchenalter entwachsen, dennoch sprach sie mit ihr wie mit einem kleinen Kind – und behielt mit vielem, was sie sagte, noch dazu recht. Aber sie hatte sich geschworen, Lurens Familie zu beschützen und das bedeutete, die Angreifer zurückzudrängen. „Ich gebe euch eine Möglichkeit zu verschwinden und nie wiederzukommen“, gab sie Arisa zur Antwort und brachte sich mit dem Katana in Kampfstellung. Auch Ochako an ihrer Seite hielt ihre Klinge bereit. Zitternd noch vom Blitzschlag, aber wild entschlossen. „Schon allein für den Mord an zwei Wachen und dem versuchten an einer dritten hättet ihr den Tod verdient. Und selbst wenn ihr es schaffen solltet, mich zu besiegen: Es wird nur wenige Momente dauern, da ist der ganze Saal mit Soldaten gefüllt, angeführt vom Oberst persönlich. Wenn ihr noch lebend aus der Sache kommen wollt, verschwindet jetzt und sagt eurer geliebten Mutter, dass sie sich diese Adoption abschminken kann.“ Teeza sah wenig Grund darin, sich einschüchtern zu lassen und wollte schon vortreten, doch Arisa hielt sie zurück, spitzte die Ohren. In zügiger Geschwindigkeit näherte sich das verdächtig gleichmäßig klappernde Geräusch, das nur Militärs in voller Montur machten. Mindestens zehn Mann, wie sie vernahm. Verfluchte Schlampe, spukte es ihr durch den Kopf. Die Colonel hatte sie absichtlich in ein Gespräch verwickelt, um ihr Zeitfenster zu verringern. Jetzt blieb ihnen wirklich nur die Flucht. Aber ganz sicher nicht, ohne eine Nachricht zu hinterlassen... Aus dem Stand heraus preschte die Harpyie hervor, glitt ohne weiteres unter dem Schwert der überraschten Colonel hindurch und rammte den Dolch in ihren Bauch. Celeste spürte den gleißenden Schmerz, der ihr jeden Muskel bis zur Erstickung zusammenzog, stieß einen verkrampften Schrei aus, als sich die dunkle Klinge weiter durch ihr Fleisch nach oben zu ihrer Brust fraß. Ihr Kimono ertrank in einer tiefroten Pfütze und sie spürte, wie ihr bei diesem Anblick schwindelig und speiübel wurde. Benommen holte sie mit ihrem Schwert aus, da wich Arisa schon von der sausenden Klinge Ochakos zurück, griff sich ihre kleine Schwester und sprang mit einem gehässigen Grinsen vom Balkon. Noch einen Griff zur triefenden, pulsierenden Wunde schaffte Celeste, blickte auf die rotgefärbte Hand, bevor ihre Beine die Kraft verloren und sie zusammenbrach. „Madame Colonel!“, rief Ochako, kniete sich zur Verletzten und prüfte ihren Bauch. „Es... geht schon. Ich glaube nicht, dass sie lebenswichtige Organe getroffen hat.“ „Atmet ruhig. Die Verstärkung ist gleich da. Ich werde sie umgehend über den Tatbestand unterrichten.“ „...Nein...“, presste Celeste heraus. „N-nein?“ „Ich bitte Euch... Erzählt dem Oberst und... der Prinzessin nicht... erzählt ihr nicht, was wir erfahren haben... Ihr wart bewusstlos und als Ihr zu Euch kamt, habt ihr mich so vorgefunden.“ „Ja, aber Madame Colonel...“, wollte Ochako widersprechen, doch Celeste legte eine Hand auf ihre Schulter. „Ich übernehme jegliche Verantwortung... Aber bitte... lasst den Oberst und die Prinzessin im Ungewissen. Das würde Ihnen sonst das Herz brechen.“ „...Verstanden...“ Gerade als Ochako ihre Unterstützung zusagte, ertönten aufgeregte Rufe und schnelle Schritte zu den beiden Frauen. Celeste nickte der Soldatin noch zum Dank zu, bevor sie von anderen Wachleuten gestützt aus dem Zimmer eskortiert wurde. Die meisten Stimmen konnte sie nicht zuordnen, doch die lauteste war – und das machte sie auf eine verrückte Art und Weise glücklich und traurig zu gleichen Teilen – die von Luren. Sie wusste nicht, ob die Harpyien die Wahrheit gesagt hatten und ob Caris Schicksal damit besiegelt schien, aber sie wusste sehr wohl, dass sie Luren und Nomizon ins Gesicht lügen würde... und dass sie am Ende damit an Caris Zukunft nichts ändern könnte. Ihr Instinkt und ihr Verstand ermahnten sie dazu... doch auf die beiden hatte sie schon den ganzen Abend nicht gehört. „Hast du das gehört?“ Ezra horchte auf in Richtung des Gangs, aus dem sie gekommen waren. Hatte er sich das nur eingebildet? Nein, die kahlen Wände gaben den Klang ganz deutlich wieder: Soldaten. Mindestens ein halbes Dutzend, wahrscheinlicher aber ein ganzes. Und sie waren schnell unterwegs, wenig verwunderlich, wenn man daran dachte, was sie in der Vorratskammer vorgefunden hatten. „Scheiße, Enzo! Wir müssen hier umgehend -“ Weiter kam er nicht, denn in dem Moment, als er sich umdrehte, ertönte ein lauter Knall, gefolgt von einer kleinen Explosion, die direkt aus der Hand des finster dreinblickenden Kochs kam. Und der Explosion folgte ein ganzer Schwarm kleiner Kugeln. Ezra reagierte schnell, sprang zur Seite, doch die bleierne Wolke war schon zu weit fortgeschritten und zu groß, traf ihn im Flug und zerfetzte seine rechte Seite. Ein beißender Schmerz erfasste ihn, gefolgt von weiteren zerrenden Stößen, die jeden Atemzug zur Qual machten. Sein ganzer Körper wurde von dem Brand aus seiner Seite angefacht, mit jedem Zoll, den sein Blut weiter vor strömte. Durch die kahlen Wände wurde der Knall so oft hin und her geworfen, dass seine Ohren bis zur Taubheit klingelten. „Du... mieses Arschloch“, jaulte er auf und versuchte wieder auf die Beine zu kommen, doch Enzo hatte das dampfende Metallstück in seiner Hand bereits mit einer zweiten Ladung gefüttert und richtete die Waffe wieder auf ihn. „Nicht so schnell, Ezra. Es wundert mich wenig, dass du einen Schuss aus meiner abgesägten Donnerbüchse überlebst, aber einen zweiten wage ich doch selbst bei dir zu bezweifeln.“ „Verdammt, wir hatten doch einen Plan!“ „Das stimmt nicht ganz. Wir hatten zwei komplett eigene Pläne. Und verkauf mich nicht für blöd: Du hättest dich genauso wenig an Lady Renarchasses Flucht beteiligt, sondern mich stehen gelassen, in dem Moment, in dem du dein geliebtes Asterid hast.“ „...Und was jetzt? Willst du mich umbringen?“ Der Koch zog noch einmal den Hahn durch, kam langsam näher. Er konnte es nicht riskieren, mit dem zweiten Schuss zu verfehlen, das war ihm klar. „Ich kann schlecht riskieren, dass du mich verrätst. Nimm es nicht persönlich... Ich hab dich wirklich gemocht, Ezra.“ „Na, das ist wirklich schade... Ich konnte dich nämlich noch nie wirklich leiden.“ Enzo sah es nicht schnell genug, das glänzende Stück, das in Ezras Hand lag und mit immenser Geschwindigkeit zu ihm geschnippt wurde. Gerade als er abdrücken wollte, bohrte sich die Scherbe in seinen Unterarm und riss ihn so hoch, dass die Kugeln an ihrem Ziel vorbeiflogen und die Mauer über Ezra perforierten. Seine dunklen Krähenaugen wurden riesig vor Schreck, als er erkannte, was ihn da getroffen hatte: Es war eine Asteridscherbe. Umgehend machte sich ein Feuer in seinem Arm breit, im Einklang mit einem reißenden Krachen, als würde jemand seine Knochen bis zum letzten Rest zermahlen. Die Haut des Guhls wurde aschfahl und es brachen helle Kristalle heraus, die im fahlen Licht blutrot schimmerten. In rasanter Geschwindigkeit platzten weitere Kristalle aus seiner Schulter, seiner Brust und Bauch und noch eher er bemerkte, dass seine Schreie der Todesangst verstummten und er keine Luft mehr bekam, weil ein riesiger Stein von innen heraus seinen Hals zerquetschte, wurde ihm vom unerträglichen Schmerz pechschwarz vor den Augen. Wie Pilze auf totem Geäst breiteten sich die Kristalle auf Enzos Leichnam aus, verzweigten sich immer weiter, bis ein glasklarer, schaurig schöner Baum aus ihm gewachsen war und die Luft mit seiner Strahlung erdrückte. Ezra hörte, wie die Wachen gefährlich nahe kamen. Der Lärm musste sie noch weiter aufgescheucht haben. „Wird wohl wieder eng...“, murmelte er und versuchte, sich aufzurichten, doch die Wunde in seiner Seite war größer als gedacht. Blut tropfte in langen Bahnen durch seine Finger hindurch und ließ ihn wieder zusammenbrechen. „Scheiße...“ „Es wird wohl Zeit. Oder willst du hier sterben, Sieben?“ Ezra sah auf, erkannte die Quelle der grimmigen Stimme in einem schwarzen Rauch, der die Silhouette einer kleinen, stämmigen Person mit spitzen Ohren angenommen hatte, die in verschränkten Armen vor ihm stand und auf ihn mit glühend roten Augen bemitleidend herabsah. Die Welt um ihn herum war in ein dunkles Nichts getaucht worden, die Zeit schien an dem Ort, an dem er sich befand, keine Rolle zu spielen. Hinter der ersten befand sich eine zweite Rauchsilhouette, deutlich größer aber zugleich auch zierlicher und antwortete mit sanfter Stimme, die nur in Ezras Kopf zu hallen schien: „Hab Nachsicht, Zwei. Er fürchtet Fünfs Einfluss und ich kann ihn sehr gut verstehen.“ „Danke, Sechs, aber ich muss Zwei in diesem Fall schon Recht geben. Ich bin wohl auf eure Hilfe angewiesen, wenn ich hier lebend rauskommen will.“ „Du brauchst unsere Hilfe nicht, Sieben“, meinte die kleine Silhouette nun bedeutend wohlwollender: „Du hast bereits alles von uns bekommen, was du benötigst. Und nun steh auf, du hast eine Mission zu erfüllen.“ In dem Moment verflog der Rauch von Zwei und ließ Ezra mit der größeren Figur allein. „Fürchte dich nicht zu sehr“, säuselte die helle Stimme, die die aufgewühlten Gedanken des Schmugglers mit ihren weichen Tönen zur Ruhe brachte. „Auch ich war einst in deiner Situation, vergiss das nicht. Doch anders als ich, die seine Macht gemieden hat, kannst du sie in dir aufnehmen, ohne daran zu zerbrechen.“ „Vielleicht... vielleicht bin ich ja eines Tages darauf angewiesen. Aber heute wird mir dein Wissen viel eher helfen.“ „Bedien dich, wie es dir beliebt. Und bevor ich es vergesse: ich habe noch ein kleines Geschenk für dich.“ Der Rauch konzentrierte sich auf eine der Kisten in Ezras Nähe, nahm erst eine ungenaue Gestalt an, bis sie sich nach und nach zu einer hölzernen Figur entwickelte; eine Art Wildhund in Würfelmeister-Montur mit einem Zwicker auf der Schnauze und einem einfachen, aber wohlgepflegten Bart, der das große Maul zierte. „Inutarot, Hund des Schicksals und Schutzpatron der Glücksspieler?“, fragte Ezra etwas verwirrt, denn er könnte sich sicherlich viel Nützlicheres in seiner Situation vorstellen, was Fünf ihm hätte schenken können, anstatt eines hölzernen Götzen. „Ein bisschen Glück hat noch nie jemandem geschadet.“ Mit diesen Worten und einem unschuldig heiterem Lachen verschwand auch die zweite Silhouette so plötzlich, wie sie erschienen war. Der Trupp war nun ganz nah, das konnte Ezra spüren. Viel Zeit hatte er sicherlich nicht mehr. Der Mann sog tief Luft ein und mit einem langgezogenen Ziehen setzten sich die Fasern der Haut langsam wieder zusammen, verschlossen die offenen Kanäle und stoppten so die Blutung. Es schmerzte noch immer tierisch – kein Wunder, immerhin steckte die ein oder andere Kugel in ihm – aber das spielte er mit einem trockenen: „Für den Anfang reicht's“, herunter, stemmte sich hoch und lief zur Leiter. Saito Mojis letztes Gefühl war eine unerklärliche Wärme, die ihn ganz und gar einfing. Er konnte nicht ausmachen, ob es am Urin lag, der sich in seiner Hose gesammelt hatte, am Blut, das von seinem Hals hinabregnete, oder doch an Mirabelles zarten Handflächen, die liebevoll, fast schon bemutternd sein Gesicht streichelten, während sie von Ekstase gepackt jeden Tropfen aus ihm saugte. Die Todesangst, kurz bevor sie ihn gepackt und gebissen hatte, war schon längst nur noch eine blasse Momentaufnahme in seinen bröckelnden Erinnerungen. Es hatte nicht einmal wirklich wehgetan, nur ein erster Stich hatte ihn aufschreien lassen, dann hörte er auf zu reagieren und verlor langsam aber sicher jeglichen Blick für die Welt um ihn herum und seine eigene Existenz, während er in ein tiefes Loch fiel, an dessen Ende nur ein riesiges Maul saß, das seine Seele mit einem Biss verspeiste. Shiro zerrte an den Haaren der Kitzune, versuchte sie von dem Wachmann wegzustoßen, schlug am Ende sogar auf sie ein, doch er hätte genauso auf ein Stück Metall prügeln können, das Ergebnis wäre das Gleiche: Die schwarze Witwe hatte sich an Saito festgebissen und würde ihn nicht mehr loslassen, bis ihr Hunger gestillt war. Und während sie da stand und trank, zuckten ihre Fuchsohren aufgeregt, wippte der Schwanz auf und ab und bei jedem Atemzug, den sie von sich gab, entlockte es ihr ein verzücktes Stöhnen, sodass man glauben könnte, sie würde gerade ihren lang ersehnten Liebsten küssen. „Lass es, Shiro! Sie wird dich nicht hören“, versuchte Mirako, ihn abzubringen, zog an seinem Arm, aber der Kitzune schlug sie nur zur Seite, keifte sie an: „Das ist deine Schuld! Ich habe dich gewarnt, du hast sie trotzdem befreit! Was hast du erwartet?!“ Mirako kauerte in einer Ecke zusammen und hielt sich die Ohren zu, wollte nicht hören, was Shiro ihr vorwarf. „Ich wollte doch nur... meine Mutter...“, versuchte sie sich zu erklären, aber das machte Shiro nur noch wütender. Mirako hatte gewusst, dass sie nicht ohne Grund einsaß, sie wusste von den Taten ihrer Mutter. Sie hätte auch wissen müssen, was eine Befreiung für den Fuchsbau, insbesondere für Meister Hunter, bedeutete. Und dennoch hatte sie in blindem Egoismus das Schlimmste getan, was sie hätte tun können. Letzten Endes, so war es in diesem Moment klar, war sie nicht besser als all die anderen Miststücke in dieser Welt. Er packte sie am Kragen ihres Kimonos und war bereit, dieses Fuchsmädchen für ihre Sünden grün und blau zu schlagen, doch als er zum Schlag ausholte, packte etwas sein Handgelenk, zerrte es nach unten und verdrehte den Arm auf den Rücken, sodass er vom Schmerz gepackt Mirako loslassen musste, die sich panisch erneut in eine Ecke verkroch. „Was tust du denn da mit meiner Tochter, Shiro?“, säuselte eine Stimme an sein Ohr und als er sich umdrehte, sah er, wie Belles Augen einen boshaft roten Schimmer erhalten haben. „Ihr... habt mich reingelegt!“ „Nimm es nicht persönlich, aber ich hatte keine Lust auf eine Hinrichtung. Keine Angst, ich verstehe Ezra und hege weder gegen ihn noch dich einen Groll.“ Shiro versuchte mit seinem freien Arm nach der schwarzen Witwe zu greifen, doch sie trat in seine Kniekehle, um ihn zu Boden zu ringen und bohrte dann ein Knie in seinen Bauch. Trotz dessen, dass sie vor wenigen Momenten ihrem Gefängnis entkommen war, besaß sie dennoch eine immense Kraft, warf Shiro über ihre Schulter, als wäre er nicht gut und gern zwei Köpfe größer. Als der Kitzune aufsah, wurde ihm klar, dass die schöne Frau wieder ganz und gar der Dämonin Kiga verfallen war, deren Tätowierung sich auf ihrem Bauch räkelte. Monster wie Mirabelle waren der Grund, warum die Champions von Asteria in Ketten gelegt wurden und nur die Götter wussten, was gerade im Kopf dieser Wahnsinnigen vorging. „Sag Shiro“, fing sie wieder an, in einem Ton, der schon abartig unschuldig anmutete. „Du weißt nicht zufällig, wo sich der Generalschlüssel für die Tore befindet? Ein kleiner Massenausbruch ist die perfekte Ablenkung.“ Eine ausformulierte Antwort sparend, sammelte der Kitzune seinen letzten Rest Speichel und spuckte in das Gesicht seiner Artgenossin. „Das dachte ich mir. Schade, dann muss ich mir eine Alternative...“ Weiter kam sie nicht, denn in diesem Moment unterbrach sie ein dumpfer, aber dennoch entsetzlich lauter Knall, gefolgt von einem Erdbeben, so stark, dass man das Gefühl bekam, es würde die Wände zerreißen. Lautes Stimmengewirr trat in die Isolationszelle, das langsam überging in panische Schreie und Geräusche, die an einen Kampf erinnerten und immer weiter zu ihr drangen. „Was war das?“, fragte Mirako erschrocken und sah zu ihrer Mutter, die nach dem ersten Schreckmoment langsam anfing zu lächeln. In jenem Moment, stürzte eine Wache in die Zelle, doch bevor sie die Situation richtig begreifen konnte, war Belle an ihre Stelle gehuscht, packte sie am Kopf und brach der jungen Frau augenblicklich das Genick. „Was auch immer es war, es kommt mir gerade recht. Komm Mirako, wir gehen.“ Sie hielt ihrer Tochter die Hand hin. Mirako schaute auf und wollte sie schon ergreifen, warf dann aber einen unschlüssigen Blick zu Shiro, was ihre Mutter umgehend bestrafte und sich von ihr abwandte, auch wenn ihr Zögern nicht mehr als einen kurzen Augenblick gedauert hatte. „Dann verrotte halt hier drin. Ich habe keine Zeit für Kindereien.“ „Mirabelle, ich kann Euch nicht gehen lassen!“, keifte Shiro und rappelte sich wieder auf. Die Kitzune hielt noch einmal inne, während sie die Sicherheitstür aufsperrte und den Lärm des Aufruhrs in die Zelle ließ. „Und wie willst du mich aufhalten?“, knurrte sie mit einem boshaften Funkeln in ihren Augen. Dann griff sie nach dem Schwert der Wache, die sie grade getötet hatte und fuhr sich kurz durchs Haar. Mit dem Strich der Finger verschwanden ihre Fuchsohren und ihr rotbrauner Schopf wurde pechschwarz und verformte sich, bis er die schulterlange Frisur der Leiche angenommen hatte. Stück für Stück passte sich auch ihr restlicher Körper dem Vorbild an, das Gesicht bekam menschliche Züge, ihre Augen verloren ihr starres Gelb und verwandelten sich in ein unscheinbares Braun, der Fuchsschwanz verschwand, das Fell an Armen und Beinen ging zurück und ihre Gliedmaßen wuchsen. Binnen kurzer Zeit war sie nicht mehr von der Getöteten zu unterscheiden, sah man mal von der Kleidung ab. Die Gestaltwandlung, die Macht der Dämonin Kiga, welche so über Jahrhunderte hinweg die Geschicke des Kontinents untergraben hatte, bis sie vom Heldengott Hunter erschlagen wurde, beherrschte ihr Champion Mirabelle Renarchasse nach ihrer kurzen Stärkung wieder so, als wäre sie nicht noch bis vor wenigen Momenten bis zur Vernichtung getrieben worden. „Ihr solltet verschwinden, solange noch das Chaos herrscht... Ich habe ein wenig was zu tun“, sprach die schöne Kitzune in Gestalt dieser unscheinbaren Menschenfrau, bevor sie sich umdrehte und davonmachte. Shiro rappelte sich auf und wollte ihr schon hinterher, da vernahm er die lauten Rufe aus dem Gang vor ihm, gefolgt von einigen halb erstickten Todesschreien. Belle war offensichtlich in allerbester Laune. Dem Kitzune war klar, dass er nicht da lang konnte, wenn er unentdeckt bleiben wollte. Es blieb ihm nichts anderes übrig als sich eine Ersatzroute zu graben. Seufzend schnitt er sich mit Saitos Klinge in die Hand, ließ die rote Flüssigkeit über seine Haut laufen, bis sie in einen rosafarbenen Nebel überging, der ihn ganz und gar einhüllte, seinen betörenden Duft in seine Nase steigen ließ, auf dass er von einem Schwächeanfall übermannt zu Boden fiel und dabei zusah, wie seine Gliedmaßen wuchsen und mit hell leuchtendem Fell überzogen wurden, die Hände und Füße zu großen Pranken wandelten und er langsam aber sicher die Begrenzungen des kleinen Raums zu spüren bekam. Es war nicht die höchste Stufe seiner Fuchsgestalt, dafür reichte die Größe des Raums nicht, aber sie war in jedem Fall groß genug, um durch die Wände zu brechen. „Steig auf“, knurrte er Mirako an, die ihn mit großen Augen ansah, und lehnte sich nach unten. Die Kitzune zögerte, stand aber langsam auf und tat einen vorsichtigen Schritt vor, streckte die Hand aus. „Damit du das nicht falsch verstehst: Ich verachte dich nach wie vor. Aber ich habe dem schwarzen Tisch und insbesondere Meister Hunter versprochen, dich wohlbehalten zurückzubringen. Also beeil dich, es ist so schon schwer genug abzuschätzen, wie viel Zeit wir noch haben. Wir werden über die Seeseite klettern, das ist sicherer.“ Mirako nickte schnell, griff in das weiche Fell der Gestalt, deren Geheimnisse nur die wenigsten Kitzune kannten (sie beherrschte die Verwandlung ebenso wenig wie ihre Mutter) und hievte sich auf Shiros kräftigen Rücken. Sie nahm ein Amulett und warf es gegen die Seite, die zum Meer führte. Ein kurzer Blitz entrann dem Gestein und als Shiro dagegen trat, brach die Wand weg, als wäre sie nur lose zusammengeschoben worden. Der Fuchs schaute die steile Klippe hinauf, fuhr seine Krallen aus und rammte sie in den von der salzigen Luft brüchig gemachten Stein. Es würde ihn halten, das war klar, aber sicherlich nicht für lange. Er musste sich beeilen. „Halte dich besser gut fest, es könnte holprig werden.“ Langsam aber sicher bekam Ezra das Gefühl, die ganze Mission wäre schrecklich aus dem Ruder gelaufen. Als er mit der Sprengung eines Stückes Asterid den Tunnel verschüttet hatte, um ihn von den herannahenden Truppen abzuschneiden, war anscheinend auch das Fundament des Hungerkäfigs beschädigt und die linke Seite komplett freigelegt worden. Selbstverständlich hatten die Insassen die unverhoffte Lücke in ihren Zellen nicht ungenutzt gelassen und so wie es aussah, hatten die Wachen alle Hände voll zu tun, einen Massenausbruch zu verhindern, was ihnen aber kläglich misslang. Etwa jeder sechste schaffte es, über die Mauer zu entwischen. Seine Leiter hatte ihn selbst zu einem Geheimraum geführt, der etwas abseits auf Meerseite lag und von dem aus er ohne Probleme aus dem Gefängnis schleichen konnte, ohne dass ihn jemand aufhielt – wobei aber auch wahrscheinlich niemand den Gang kannte. Nun stand er davor und sah sich das Schauspiel an, als plötzlich auf dem Dach eine riesige, leuchtend weiße Bestie auftauchte und mit gewaltigen Sprüngen an den panisch schreienden Zeugen vorbeiflog, die wahrscheinlich glauben mussten, ein leibhaftiger Halbgott oder ein Dämon wäre hinabgestiegen. „Dieser Idiot...“, murmelte Ezra und lief in Richtung des Fuchses, der sich gen Osten abgesetzt hatte, holte das stürmende Tier nicht allzu weit vom Gefängnis in einer leeren Seitengasse ein. Shiro hatte sich wieder zurückverwandelt und keuchte schwer. Jede Nutzung der Fuchsgestalt kostete immense Kraft und musste wohlüberlegt sein – selbst wenn das gerade nur eine kleine Verwandlung gewesen war. „Warum auch diskret, wenn es offensichtlich geht, nicht wahr?“ „M-meister Hunter?! Was tut Ihr hier?!“ Shiro konnte den Anblick seines Chefs kaum glauben, dachte wohl, seine Augen würden ihm einen Streich spielen. „Ich bin schon fertig mit meiner Aufgabe. Ging schneller als erwartet. Und wie ich offensichtlich sehe, bei euch auch.“ „W-Wo ist der Gourmet?“, fragte Mirako, die mit zittrigen Knien an eine Wand gelehnt war. „Tot“, berichtete Ezra kühl und ohne auch nur den winzigen Zweig einer Gefühlsregung zu zeigen, als könnte es ihm nicht egaler sein. Indes verloren die beiden Kitzune umso eher ihre Fassung. „Tot? Warum das?“ „Naja, es hieß er oder ich. Herzlichen Glückwunsch Shiro, du hattest Recht: Es war eine schlechte Idee, die Ghule um Hilfe zu bitten. Aber das Thema hat sich wahrscheinlich in Zukunft erledigt... Und wie lief es bei euch?“ Mirako schaute kurz zu ihrem Artgenossen, wich dann aber seinem Blick aus, als sie sein finsteres Funkeln bemerkte, bevor Shiro berichtete, was geschehen war: „Die... schwarze Witwe ist... geflohen. Mirako hat die Zelle ihrer Mutter aufgebrochen und sie nutzte die Erschütterung um zu entkommen.“ Ezra schaute die beiden für einen Moment kurz an, sah wie die junge Kitzune eine erstickte Entschuldigung zu stammeln versuchte, dann aber zuckte er mit den Schultern und sprach: „Na so ein Glück, ich dachte schon, ich wäre allein für ihre Flucht verantwortlich. Aber hätte mich auch gewundert, wenn Belle sich so gleichgültig mit ihrem Tod abgefunden hätte. Lasst uns lieber zusehen, dass wir ungesehen nach Hause kommen. Bei dem aktuellen Chaos sollte das nicht zu schwer werden.“ Mit diesen Worten drehte sich Ezra um und wollte schon losmarschieren, als vor ihm zwei Gestalten auftauchten, beide kaum größer als junge Frauen und auch ähnlich gebaut. Doch was ihn irritierte, das war nicht ihr Alter, sondern das Federkleid, das sie trugen. „Auch das noch... Harpyien? Hier in Shinju? Was ist nur mit den Gesetzen der Welt in letzter Zeit los?“ Die Größere der beiden stellte sich nach vorn und präsentierte ihre Krallen. „Lasst uns durch, dann passiert auch nichts. Wir hatten eine ziemlich beschissene Nacht.“ „Ich auch, Mädchen... Wenn du willst, gehen wir beide unserer Wege und tun so, als hätten wir einander nicht gesehen.“ Die Harpyie wollte schon zustimmen, da schob sich Shiro nach vorn, Saitos Schwert fest umfasst. Das wutentbrannte Knirschen seiner Zähne, das den Eindruck hinterließ, sie würden gleich unter dem Druck zerbersten, war in der stillen Gasse mehr als deutlich zu hören und sein starrer, mordhungriger Blick sprach Bände. „Das sind sie... Das sind die Monster, die Sunny und die anderen getötet haben. Die sind aus Celicas Elite, Meister Hunter!“ „Was?“, Arisa hob den Blick und schaute entgeistert zu dem großen Mann mit den seltsam hellen Haaren vor ihr, wechselte zu dem schlohweißen Kitzune und versuchte sich zu erinnern, wo sie diesen Blick schon einmal gesehen hatte... Natürlich, der Zugüberfall! Und... wie hatte er den Menschen neben ihm genannt? „Das ist doch ein schlechter Witz... Das ist doch nicht euer Ernst! Mutters Erzfeind... der berüchtigte Meister Hunter, Schmugglerkönig von Shinju... ist ein Mensch? Ein mickriger, unbedeutender Mensch?!“ „Naja, mickrig ist er jetzt nicht unbedingt...“ „Halt deine Klappe, Teeza! All die Jahre habe ich in Mutters Blick diese Mischung aus Hass und Ehrfurcht gesehen, wann immer jemand den Namen Hunter auch nur erwähnte und dann...“ Arisa konnte nicht einmal mehr geradeaus sehen, so sehr verfiel sie der Wallung ihres Blutes, färbte alles um sie herum rot. Doch bei all der kochenden Wut setzte sich vor allen Dingen ein Gedanke fest: Wenn sie Mutter Hunters Kopf brachte... Dann würde sie ganz schnell Renas Platz an ihrer Seite einnehmen. Sie hatte zwar nicht mehr ihren Dolch, der steckte noch in dieser hoffentlich mittlerweile elendig verbluteten Celeste, aber es war doch nur ein Mensch! Ein sehr großer zwar und kräftig gebaut, aber dennoch: Wie schwer konnte das schon sein? Ihre messerscharfen Krallen präsentierend stürmte die Harpyie vor, ließ ihre kleine Schwester in einer Staubwolke zurück, sprang ohne Mühe über den unbeholfenen Schwertangriff des Kitzune hinweg, direkt auf Hunter zu, bereit, ihm die rechte Klaue direkt zum Todesstoß in die Kehle zu rammen. „Wie einfach“, schoss es ihr durch den Kopf, während der Blondschopf sie noch überrascht anstarrte, ihren Angriff offensichtlich nicht hat kommen sehen. Sie war ihm jetzt nahe genug, in Reichweite seiner Kehle und ließ die Klaue aus dem vollen Flug auf ihn schnellen. „Ich werde ihn töten... ich durchbohre Hunters Hals... einfach so!“ Dann wurde ihr schwarz vor Augen. Als Arisa wieder aufwachte, sah sie einen langen Tunnel mit einer großen, weißen Scheibe an seinem Horizont. Es brauchte einen Moment um zu realisieren, dass sie auf dem Rücken lag und die Häuserschluchten entlang in den Himmel starrte. Aber... warum lag sie auf dem Rücken? Kaum dass sie ihre aktuelle Position verstanden hatte, registrierte sie auch den pulsierenden Schmerz aus Mund und Nase kommend und schmeckte das metallische Aroma. Sie blutete? Aber wo war Hunters Kopf? Als sie sich aufrichtete, fand sie ihn schnell: Am Hals seines Besitzers, der seine Knöchel knacken ließ und den beiden anderen bedeutete, zu verschwinden. „Verdammt, ihr Harpyien habt wirklich einen Dickschädel. Es ist wohl nicht nur Mythos, dass ihr robust gebaut seid.“ „W-wie?“, knurrte Arisa , taumelte wieder zurück auf die Beine und fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Eine langgezogene rote Spur machte sich breit. „Wie hast du das gemacht?!“ „Ich war Preisboxer, da gehören Schläge ins Gesicht zum Standard.“ „Das meine ich nicht. Ich habe sie nicht gesehen!“ „Wen?“ „Deine Faust! Ich war dir so nah, niemals hättest du so schnell ausholen können.“ „Ach das... tja...“ Mit einem Satz, dem ihre Augen nicht folgen konnten, hatte Ezra die zehn Schritt bis zu ihr überwunden und noch ehe sie reagieren konnte versenkte sich seine Faust in ihrem Magen, dann packte er Arisa an ihrem Kragen und warf sie gegen die erstbeste Wand. Teeza versuchte einzugreifen, holte mit ihrem Schlagstock aus, traf Ezras am Arm und lenkte einen Blitz in seinen Körper, viel stärker, als sie es bei jedem anderen machen würde, doch der Schmuggler zuckte gerade einmal ein wenig. Verwirrt schaute die Harpyie hoch und lenkte noch mehr Energie in seinen Arm. Gleiches Ergebnis. War der Stab kaputt? Teeza packte testweise die Kugel selbst an, ein Versuch, der ihr einen Schock verpasste, dass ihr Herz beinahe stehen blieb. Gefolgt von einem Tritt gegen die Brust, der sie zurückschleuderte. „W-Was bist du?“, stöhnte Arisa und rappelte sich wieder auf, konnte sich aber kaum mehr auf den Beinen halten. Und das nach drei Treffern. Nicht einmal Celica hatte sie beim Kampftraining so hart verprügeln können. „Ein Mensch, was denkst du denn?“ Das süffisante Grinsen, das Hunter ihr entgegenwarf, machte sie nur noch wütender. „Lüg mich nicht an. So stark ist kein Mensch!“ „Nun, zugegeben kein normaler...“ Mit diesen Worten drehte er sich um und präsentierte seinen blanken Rücken, auf dem nach und nach ein Muster aus schwarzen, adrigen Linien hervortrat; vom Steißbein bis zu den Schulterblättern. Das verwirrende Einerlei wirkte anfangs mehr wie Narben von Peitschenschlägen, doch dann erkannte Arisa in den vertikalen und horizontalen Linien altasterische Zeichen, die sie aber in dem kurzen Moment nicht entschlüsseln konnte. „Was... ist das?“ „Das? Das ist mein Fluch und mein Segen. Oder glaubt ihr, ich trage den Titel 'Hunter' nur zum Spaß?“ Arisa schaffte es nicht, sich zu wehren, als der große Mann ihr Gesicht packte und sie am Kopf haltend nach oben hievte. Krampfhaft versuchte sie, den Arm zu zerkratzen oder mit Schlägen zu verletzen, doch der fühlte sich an, als wäre er aus festem Stein. „Du bist ein Monster!“ „Und das von einer Dämonin der Lüfte, wie nett.“ Mit diesen Worten rammte er die Harpyie wieder in die Wand, so tief, dass kleine Steine aus dem Putz bröckelten. Arisa spürte die Wucht in jedem Knochen, aber am meisten in ihrem Schädel, der unter dem Druck dröhnte, als hätte man ihn in einen Schraubstock gepresst. „G-glaubst du, das tut mir weh?“, knirschte sie und holte zu einem langgezogenen Kratzer aus, direkt quer über Ezras Gesicht. Sie traf nicht, doch der Mann war gezwungen, sie loszulassen und Arisa nutzte den Moment, um zurückzuspringen. Auch Teeza kam zu ihr, wirkte vom Treffer genauso zermürbt. „Wollt ihr abhauen?“ Die Frage entlockte bei den beiden nicht viel mehr als ein schiefes Grinsen. Sie hätten wohl gelacht, wenn sie nicht so fertig wären. „Eine Harpyienkriegerin rennt nicht weg. Erst recht nicht, wenn sie zu Celicas Elite gehört“, zischte Arisa voller Stolz und Teeza setzte noch hinzu: „Genau das ist völliger Quatsch! Wir fliegen höchstens weg!“, wofür sie jedoch mit einem entnervten Schlag auf dem Hinterkopf umgehend abgestraft wurde. „Na das wollte ich hören“, lachte Ezra und ließ jeden Knochen in seiner Hand so laut knacken, dass es in der ganzen Stadt zu hören sein musste. „Denn dafür, dass ihr meine Leute abgeschlachtet habt, muss ich mich noch revanchieren...“ Arisa wurde klar, dass sie gegen diesen Gegner kein Land sehen würden... und das, obwohl er sich gerade nur wenig Mühe gab, das verriet ihr Instinkt. Wahrscheinlich würde er sie beide töten können, ohne auch nur einen Kratzer abzubekommen. Aber ihr Stolz verbot es ihnen zu fliehen. Zum ersten Mal in ihrem Leben, zum ersten Mal in einem Kampf verspürte Arisa nebst der gewöhnlichen Aufregung und der erblindenden Mordlust vor allen Dingen eines: Angst. Vielleicht sogar Todesangst, wenn sie wüsste wie sich diese von normaler unterschied. Aber es gab nun kein Zurück mehr. Ezra brachte sich in Kampfstellung und ballte die Fäuste. Die Harpyien machten sich ebenso bereit, obgleich sie das Wanken und Zittern nicht unterdrücken konnten. Dann sog der Mann tief Luft ein und schoss nach vorn. Arisa schloss die Augen und presste die Zähne aufeinander, wartete auf den Einschlag, den sie sowieso nicht aufhalten konnte und der ihr wahrscheinlich mehrere Knochen brechen würde – aber da kam nichts. Stattdessen ertönte vor ihr ein lauter Knall. Als sie die Augen öffnete, baute sich Ezras gewaltige Gestalt vor ihr auf. Aufgehalten von einer vermummten Gestalt – einem Kitzune, wie sie an der Form der Kapuze und dem buschigen, pechschwarzen Schweif mit grauem Tupfer erkannte – deren große, bestienhafte Klauen Ezras Faust festhielten. Zwar unter deutlicher Anstrengung und er benötigte beide Arme dafür, aber dennoch hatte der Fremde etwas geschafft, was sie selbst nicht als möglich erachtet hatte: Er konnte Hunters Angriff vorhersehen und abwehren. „Ist das ein Freund von euch?“, fragte er, sichtlich genervt davon, immer wieder mit neuen Steinen konfrontiert zu werden. „Wir haben keine federlosen Freunde...“ „Schade, dann hat er ja gar nichts von eurer Hilfe.“ Ezra ließ seine Linke vorschnellen, doch der Kitzune tauchte unter dem Schlag hinweg und setzte zu einem Kinnhaken an, was Hunter aber sofort voraussah, den befellten Arm griff und seine Faust aus direkter Nähe in das Gesicht ihres Beschützers rammte. Ein kurzes, helles Stöhnen ertönte, jedes Mal, wenn der Schlag auf das Fleisch traf. Einmal. Zweimal. Dreimal. Ezras Augen weiteten sich vor Schreck, als sich seine Faust nach dem dritten Schlag nicht mehr vom Gesicht löste und er einen spitzen Schmerz in seinen Fingern spürte. Die fremde Gestalt hatte sich in seine Hand festgebissen. Doch das war es nicht, was ihn schockierte; während seine Faust sich vergrub, rutschte die schützende Kapuze herunter und offenbarte das Gesicht des Kitzune – oder besser der Kitzune. Ihr schwarzes Haar fiel aus dem Umhang und ihre blassblauen Augen fixierten ihn boshaft. Die überdimensionalen, gar monsterhaften Klauen bildeten sich wieder zurück und wurden zu den gewöhnlichen, die er auch von Mirako und Shiro kannte. Sie war hübsch, auch wenn ihr leicht kantiges Gesicht einige Blessuren und Narben trug. „Nein... das ist unmöglich...“, Ezra ließ die junge Frau los und taumelte zurück. „Du? Aber... was tust du hier?“ Die Kitzune antwortete nicht, sondern wandte sich von ihrem Gegner ab, verpasste den geschwächten und perplexen Harpyien einen letzten Schlag in ihre Hälse, sodass die beiden ohnmächtig zusammenbrachen, packte sich beide unter je einen Arm und rannte nach einem letzten funkelnden Blick in Richtung Ezra weg. „Nein, warte!“ Die Kitzune hörte ihn nicht. Ezra wartete noch einen Moment, allein in der Stille, dann übermannte auch ihn eine immense, unvorhergesehene Erschöpfung und mit Tränen in den Augen fiel er auf die Knie und ließ einem lauten Schrei des Schmerzes und der Verzweiflung freien Lauf. Es war eine schreckliche Nacht, für alle. Und er wollte nur noch nach Hause. Kapitel 18: Licht am Ende der Nacht Teil 1 ------------------------------------------ Ermattet lagen Arisa und Teeza auf dem schmutzigen Holzboden ihres Verstecks, atmeten die abgestandene Luft in krampfhaft schnellen Zügen ein und aus, während der fingerdicke Staub ihre halb gebrochenen Nasen kitzelte und bei beiden ein schmerzvolles Niesen provozierte, was sich anfühlte, als würden ihre Nasenhöhlen auseinander reißen. Arisa blinzelte ein paar Mal, versuchte, den Kopf frei zu kriegen und die zehrenden Schmerzen in ihren Knochen auszublenden, doch der Erfolg blieb, bei aller Disziplin, die sie an den Tag legte, aus. Zu sehr quälten sie ihre Blessuren und erinnerten sie an die Schmach, die sie erlitten hatte. Und so ging es schon die ganze Nacht. „Glaubt ihr, ich trage den Titel 'Hunter' nur zum Spaß!?“ Sterlinsons Worte wollten nicht aus ihrem Kopf verschwinden. Hunter... woher kannte sie den Namen nur? Die wirren Linien auf dem Rücken des großgewachsenen Menschen hatte sie so noch nie zuvor gesehen. Es war kein Championsmal, wie es Celica trug, eher erinnerte es an hervortretende Adern, obgleich sie dafür wiederum viel zu geradlinig verliefen. Jetzt zumindest verstand sie, warum ihre Mutter so großen Respekt vor diesem Mann besaß. Ein Normalsterblicher war das ganz sicher nicht. „Steht auf...“, knurrte die Kitzune, die die beiden zurückgeschleppt hatte. Sie lehnte an der Brüstung und starrte in die endlose Stadt, hatte seit ihrer Ankunft nicht einen Moment damit verbracht, etwas anderes zu tun. Nun jedoch drehte sie sich zu den beiden ramponierten Harpyien und betrachtete sie voller Missachtung mit einem Paar blass-blauer Augen. So fühlen sich also die Federlosen, dachte sich Arisa, wenn sie einer der ihren begegneten. Im fahlen, kalten Schein der ersten Sonnenstrahlen, die den Morgen einläuteten, erkannte die Harpyie zum ersten Mal richtig das Gesicht ihrer fremden Lebensretterin. Ihr Fell und die langen, zerzausten Haare waren schwarz wie die Nacht, lediglich die Schwanzspitze trat mit ihrem silbergrauen Tupfer geringfügig hervor. Ihr Gewand hatte sie abgestreift und trug darunter nicht mehr als eine Art Einteiler, aus einem Tuch gebunden, der sie von Brust bis Schritt bedeckte. Ihre schwach getönte Haut war übersät mit Narben und Blessuren, einige zeugend von Schlägen, andere von Bissen, Schnitten und Kratzern und sogar das ein oder andere Einschussloch meinte die junge Harpyie auszumachen. Die Kitzune war groß und ausgesprochen kräftig: In der Sonne bekamen ihre definierten Arme und Schultern schroffe Konturen, was ihre Muskulatur nur noch stärker hervortreten ließ. Arisa wollte nicht warten, bis die Füchsin sie dazu ermahnte sich aufzurichten und so kämpfte sie sich allen Schmerzen zum Trotze in eine sitzende Position. Diese Frau hatte sie vor dem sicheren Tod bewahrt, sie wollte nicht ihre Wohltat bis aufs Äußerste ausreizen. Teeza indes blieb liegen. Und schien sich auch nicht besonders für die anderen zu interessieren. Die Kitzune schnalzte genervt mit der Zunge, hockte sich zu der kleinen Waffenschwester und packte sie am Schopfe, zog sie daran nach oben. Sicherlich tat das ziemlich weh, aber Teeza machte keine Anstalten, zu reagieren, sondern verschränkte auch noch demonstrativ die Arme und zog die Schultern hoch, so lang, bis die Füchsin aufgab und sie losließ, sodass ihr Kopf mit einem dumpfen – böse Zungen würden 'hohl' sagen – Geräusch auf dem Boden aufschlug. Sie hatte anscheinend irgendwann in dieser Nacht für sich entschieden, bockig zu sein, was bei Arisa nur ein seufzendes Augenrollen entlockte und der Fremden sicherlich auch nicht gefiel. „Ich habe gesagt, steh auf!“, herrschte die Füchsin sie an und Arisa setzte noch ein entnervtes „Bitte Teeza, tu doch einfach, was man dir sagt...“ hinzu, aber auch das änderte nichts an ihrer Haltung. „Ihr habt mir nichts zu befehlen...“, murrte sie, so leise, dass man es kaum verstand. Die Kitzune wollte darauf noch etwas erwidern (und es wäre definitiv nichts Nettes) da vernahmen alle das laute Klicken des Türschlosses. „Sieh an. Ihr seid also alle schon wach“, meinte eine helle, fast schon kindliche Stimme von der Seite und die Kitzune hob den Blick, der augenblicklich signifikant sanftere Töne annahm. Arisa schaute hinüber und sah eine junge Menschenfrau – nein, Frau war zu viel gesagt, denn die Besagte war noch gar nicht dem Mädchenalter entwachsen; vielleicht ein oder zwei Jahre älter als Teeza, wenn überhaupt. Ihr Gesicht hatte sie in den Schatten einer grauen, abgewetzten Kapuze versteckt, die an einem ebenso zweckmäßigem Staubmantel hing. Darunter kleidete sie sich aber sonst äußerst adrett, mit der hochgeschlossenen, burgunderfarbenen Spitzenbluse, der langen Hose mit Nadelstreifen und den zwar abgetragenen, aber mit ihren unzähligen vergoldeten Schnallen dennoch imposanten, knielangen Stiefeln. Westlicher Stil, hätte Arisa vermutet, obgleich ihr Outfit etwas fast schon Befremdliches ausstrahlte. Die Harpyie hatte so etwas schon einmal gesehen und als sie einige Momente darüber sinnierte, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Zu wenigen hohen Anlässen – meistens der Adoption einer neuen Schwester – trug Mutter Celica solche Kleidung, entstammend aus ihrer persönlichen Schatzkammer. Das war Kleidung aus der Zeit vor der großen Explosion. In ihrer linken Hand trug sie einen kleinen Korb aus dem der Duft frischen Essens strömte. Die Rechte unterdessen versteckte sich in ihrem Ärmel. So dachte sie erst, wurde dann jedoch eines besseren belehrt, als sie versuchte, die Kapuze mit dem ganze Arm vom Kopf zu ziehen, stattdessen jedoch lediglich der Ärmel zurückrutschte. Statt einer Hand trug das Mädchen eine Prothese, genau genommen eine kleine, silbrig glänzende Pistole, die mit ihrem Stumpf fest verwachsen schien. Genervt seufzend legte sie den Korb zur Seite und griff mit ihrer anderen Hand an die Kapuze und streifte sie ab. Zum Vorschein kam das mit Sommersprossen gesprenkelte Gesicht einer Jugendlichen. Ihr schulterlanges, rotblondes Haar war zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden, aus dem mehrere Strähnen wild herausbrachen. Mit ihren blass glänzenden Lippen, dem straffen Wangen und dem kecken Blick ihrer jadegrünen Augen, war sie nicht nur eine ausgesprochene Naturschönheit, sie wirkte auch äußerst fremdländisch, vielleicht sogar einzigartig in Asteria. Und Arisa wurde langsam klar, woher sie diesen Unschuldsblick kannte. „Du... bist doch Mutter Celicas Gast. Wir haben dich in den Falkenbergen gesehen.“ „Du erkennst mich also“, meinte sie grinsend, streifte den Staubmantel ab und setzte sich in einer fließenden Bewegung im Schneidersitz hin. „Freut mich, euch beide kennenzulernen. Ich bin Amara, aber die meisten im Land kennen mich einfach nur als das Mädchen in Scharlachrot.“ Das Mädchen in Scharlachrot, die unbesiegbare Schlächterin von Cher Enfant, die in allen Ecken des Kontinents gefürchtete Terroristin... sollte ein kleines Mädchen sein? Arisa hatte sich schon gewundert, was diese Halbstarke bei Celica zu suchen gehabt hatte und die Welt war ein verrückter Ort, das musste sie sich eingestehen – dennoch wollte sie das nun wirklich nicht glauben. „Erzähl keinen Scheiß...“, knurrte sie Amara an und richtete sich trotz aller Schmerzen auf, um die halbe Portion ihr gegenüber einzuschüchtern. „Aber es ist die Wahrheit“, meinte sie nur kleinlaut und schaute fast schon enttäuscht drein, was Arisa aber nur noch wütender machte. „Du willst also das Mädchen in Scharlachrot sein, ja? Die Frau, die im Alleingang auf dem Platz von Concardia 58 Cher Enfanter umgebracht hat?“ „45. Die anderen 13 sind erst später ihren Verletzungen erlegen. Und auch nicht im Alleingang. Die Geschichten um jenen schwarzen Tag sind... maßlos übertrieben. Stimmt's Noir?“ Sie wandte sich an die Kitzune, die sich zu ihnen setzte und in einem fast schon routinierten Ton seufzte: „Wenn Ihr das sagt, Herrin...“ „Du darfst dazu ruhig eine eigene Meinung haben. Findest du, wir waren zu grausam?“ „Ihr kennt meine Meinung dazu, also hört auf, mich zu fragen! Den Tod hatten sie alle verdient, auch diese liederliche Soldatin, die ihr verschont hattet!“ „Na so was... sind wir noch angefressen wegen des Kampfs gegen Ezra? Würde mich nicht wundern, wenn man bedenkt, dass-“ Weiter kam Amara nicht, denn die Kitzune, die sie Noir nannte, rammte ein großes, rostiges Küchenmesser direkt vor ihr in den Boden. Arisa stellten sich die Nackenhaare auf, doch das Mädchen, dem der Angriff galt, blieb ungerührt, grummelte nur ein: „Kratzbürstig wie eh und je...“ Dann stellte sie den Korb in die Runde und präsentierte eine stattliche Auswahl an Speisen: Fisch in Reisrollen, leichtes Obst und Gemüse, ein Stangenbrot nach Cher Enfanter Art, dazu Räucherschinken und zum Herunterspülen zwei große Flaschen Wasser und eine kleine mit Reiswein. „Wo... hast du das alles her?“, fragte Arisa mit leuchtenden Augen, denn in ihrem Leben hatte sie noch nie so viel unterschiedliches Essen auf einem Haufen gesehen. Ein Festmahl, dem Gouverneur würdig, wollte sie meinen. „Na vom Markt. Ich habe mir ein wenig von eurem Geld genommen, ihr Harpyien braucht es ja nicht.“ „Du hast was?!“ Langsam machte die Kleine Arisa ziemlich wütend. Sie wollte schon das Mädchen am Kragen packen und zu ihr hinüber ziehen, um ihr gehörig das Fell über die Ohren zu ziehen, doch da wurde ihr Arm von der befellten Hand der Kitzune fest umgriffen und auch das Mädchen selbst richtete den Lauf der Pistole auf ihre Stirn. „Entspann dich. Sieh es einfach als unseren Lohn, weil Noir euch beiden den Arsch gerettet hat. Aber weißt du, das kommt mir gerade recht, dass du dich nicht wehren kannst...“ Schnell griff das Mädchen in einen Beutel an ihrem Gürtel, beförderte eine Spritze hervor und rammte die Nadel mit einem präzisen Stich in Arisas Vene. Die Harpyie, so überrumpelt, dass sie den Sachverhalt erst verstand, als die Nadel wieder ihre Haut verließ, versuchte sich umgehend aus dem Griff zu befreien, packte den Arm der Kitzune und versuchte, sich von ihm loszureißen, doch diese ließ nicht ein bisschen locker. „Ihr Mistkröten! Was habt ihr mir gegeben?“, knurrte sie mit Schaum vor dem Mund, doch noch während sie ihren Kampf fortführen wollte, überkam sie ein seltsames Gefühl. Ein Zerren ging durch ihre Knochen und ihren Kopf, befremdlich, aber nicht unangenehm oder schmerzhaft. Langsam merkte sie, wie ihre angeknacksten Knochen wieder zusammenwuchsen, ihre Nase sich wieder richtete und der Blutgeschmack sich aus ihrem Mund wusch. Langsam lockerte Noir ihren Griff und ließ Arisa los, als sie sich sicher war, dass die Harpyie keine Anstalten machen würde, erneut anzugreifen. „Wie gesagt, entspann dich. Das war nur... Medizin, wenn man so möchte. Lasst uns erst einmal frühstücken und den Schrecken der letzten Nacht verarbeiten“, meinte Amara einladend und stupste Teeza an, die sich jedoch nur weiter wegdrehte. „Lass mich...“, quängelte sie und ihre große Schwester schüttelte den Kopf. „Vergiss es. Mit der wirst du bis auf Weiteres nicht sprechen können.“ „Wieso? Ist sie etwa beleidigt?“ „Ich bin frittiert!“, brüllte Teeza und drehte sich zum ersten Mal zornentbrannt zu ihrem Gast. „F-frittiert?“ „Frustriert“, korrigierte Arisa. „Teeza hat es nicht so mit Worten. Wir Harpyien sind Verluste gewohnt, aber keine Niederlagen.“ „Verständlich, unter der Führung eurer Mutter habt ihr es weit gebracht. Sie gehört durchaus zu den ganz Großen in Asteria. Aber gegen Ez' hättet ihr selbst zu zehnt keine Chance.“ „Was macht dich da so sicher?“ Amara griff nach einer der Reisrollen und schob sie sich zwischen die Lippen, machte ein seliges Gesicht, während sie den Happen genüsslich kaute. Sie ließ sich Zeit, schien sie schinden zu wollen, um in aller Ruhe darüber zu entscheiden, was sie erzählte und was verschwieg. „Ich kenne Ezra Sterlinson schon ziemlich lange und wenn er sich selbst nicht so sehr zügeln würde... dann wäre die Welt schon längst unter seinen Stiefeln zu Schutt getreten worden“, meinte sie schließlich und schaute etwas zu Boden. Obwohl ihr Ton ernster wurde, blieb ihre Mimik voller kindlicher Freude, was zu einem seltsamen Kontrast führte. Wie ihre Gefühlslage in Wirklichkeit aussah – ängstlich, ehrfurchtsvoll, hasserfüllt oder vielleicht sogar verliebt – darüber konnte man nur mutmaßen. „Mutter hätte ihm sicher schon längst den Hals umgedreht...“, zischte Teeza missmutig und verkrampfte sich bei dem Kommentar noch mehr. Wahrscheinlich nicht, um Amara Paroli zu bieten, sondern um ihr eigenes Unvermögen zum Ausdruck zu bringen. Sie war nicht bockig. Sie war wütend auf sich selbst, das wurde Arisa nun langsam bewusst und so beschloss sie, sich zumindest für einen Moment wie eine große Schwester zu verhalten, rutschte zu ihr herüber und streichelte sanft tröstend ihren wilden Schopf. „Ich kann dir versichern, das selbst die große Celica gegen Meister Hunter keine Chance hat.“ „Mutter ist ein Champion von Asteria“, warf Arisa ein, doch auch das ließ das fremde Mädchen völlig unbeeindruckt. „Ja ich kenne Ihr Mal von Fiseau Mi`Rou, immerhin stellt sie es ja auch auf ihrem... wirklich... beeindruckenden... Vorbau zur Schau...“ Amara schaute an sich selbst herunter und seufzte laut, bevor sie fortfuhr: „Aber ein Champion, ein von den Göttern Auserwählter, ist absolut gar nichts... gegen einen echten Gott.“ Arisa musste kurz schlucken. Nun fiel es ihr wieder ein, woher sie den Namen Hunter kannte. In einem ihrer unzähligen Büchern hatte sie ihn gelesen, schon vor einigen Jahren. Es hatte auf sie damals nur wie eine Anekdote gewirkt, nun jedoch war ihr klar, was dahinter stand: Hunter, der verstoßene Heldengott. Zum ersten Mal erschien er, als die Dämonen und Schatten das Land überrannten und die Sterblichen reihenweise abschlachteten. Er und seine Legion tauchten als Söldner eines fremden Landes auf und führten die Schlacht an. Sein Gefolge wurde zum allergrößten Teil ausgelöscht, doch er selbst wurde von den Göttern zum Dank als erster Heldengott der Geschichte in den Himmel eingeladen. In den folgenden Jahrtausenden traten immer wieder Hunters Inkarnationen auf, wenn Asteria einen Helden und Feldherren benötigte... „Aber Hunter ist doch von den Göttern ausgelöscht worden“, warf die Harpyie ein, was Amara auch so mit einem kurzen Nicken bestätigte. „Richtig. In seiner fünften Inkarnation, vor etwas mehr als 2000 Jahren, verfiel Hunter dem Größenwahn und ermordete fünf Götter, um Lunariko, der schönen Beschützerin der Nacht, zu gefallen. Die Strafe war seine Vernichtung durch die Erdenmutter Dai'Ka persönlich. Aber wie es schien, war er doch nicht so tot, wie alle dachten...“ „Und... Ezra ist nun also die sechste Inkar...dings?“, fragte Teeza, die nun doch langsam Interesse an diesem Gespräch fand und sich zu ihnen drehte. Vielleicht war es aber auch nur der Hunger, der sie in die Knie zwang, denn sie griff umgehend in den Korb und stopfte sich eine ganze Ladung Trauben in den Mund. „Die siebte“, korrigierte Amara unterdessen, winkte jedoch zugleich ab: „Nummer Sechs war eine junge Elfin, die das Leid ihres Vorgängers beendete und dafür zum Dank mit Asterid gepfählt wurde, aber das ist eine andere Geschichte. Fakt ist, Ezra Sterlinson wandelt als Gott Hunter auf dieser Welt und aus diesem Grund werdet ihr in keinster Weise gegen ihn brillieren. Zumindest nicht ohne Hilfe...“ Das Grinsen des Mädchens wurde immer breiter, verzog sich zu etwas Boshaftem und präsentierte ihre blitzenden Eckzähne wie bei einem Raubtier. Obwohl sie fast die Jüngste und mit weitem Abstand die physisch gesehen Schwächste in der Runde war, hatte sie eine Aura, die alles und jeden einfing. „Und... wie willst du das anstellen?“, durchbrach Arisa letzten Endes das Schweigen, jedoch nicht in einem sarkastischen, sondern durch und durch faszinierten Tonfall. Ob sie das Mädchen in Scharlachrot nun war oder nicht; Arisa konnte sich nicht erwehren, zuzugeben, dass sie – für eine Federlose – eine äußerst mächtige Verbündete war. „Alles nacheinander. Wir werden zunächst Celicas Wunsch erfüllen müssen. Und ich habe das Gefühl, auch damit könntet ihr beiden unsere Hilfe benötigen...“ Kapitel 19: Licht am Ende der Nacht Teil 2 ------------------------------------------ Fahler Sonnenschein stahl sich durch das kleine, zur Lüftung gekippte Fenster und erhellte den Raum in gleißendem Licht. Von draußen drang nichts außer dem sanften Rauschen des Schaummeers, untermalt vom Schreien der Möwen, die sich am angespülten Fisch gütig taten. Celeste lauschte dem Schauspiel einige Zeit, ohne die Augen zu öffnen, genoss das Nichts um sie herum. Die Meeresbrise kühlte die Luft um ihr Gesicht ab, obgleich die mehrlagige Decke ihren restlichen Körper angenehm wärmte. Lediglich ein klebender, zerrender Schmerz zog von ihrem Unterleib nach oben bis kurz zur Brust, aber auch der hielt sich in Grenzen. Die Schrecken der letzten Nacht hingen noch in ihrem Kopf, doch die Situationen, in denen sie sich befunden hatte, klangen in ihrem Verstand so befremdlich, dass es auch ein böser Traum hätte sein können. Nur in Fetzen erinnerte sie sich an diese pechschwarze Klinge in ihrem Körper, die sie aufriss, als wäre sie nur ein Stück Papier. Bewusst war ihr jedoch, dass Arisa sie ohne weiteres hätte töten können. Wer weiß, vielleicht war sie es auch und befand sich schon auf der Fähre nach Perdita, der immergrünen Stadt... Doch ihr war bewusst, dass ihresgleichen niemals das Reich des Grand Patron jenseits des Nebelmeers betreten dürfte. Im Schock der Wunde und ihrer immer schwächer werdenden Lidern war sie sich zum ersten Mal seit langem nicht mehr sicher gewesen, ob sie überleben würde. Nun jedoch besaß sie diese Gewissheit. Die Kommandantin atmete tief durch, ignorierte den Schmerz, als sich ihr Brustkorb hob, und öffnete ihre verklebten Augen. Es wunderte sie herzlich wenig, dass sie noch im Schloss von Shinju lag, erkannte die hohen Decken und die ausgefeilten Verstrebungen aus Teakholz schnell wieder. Sie lag auf dem Boden in einem weitgefassten Raum, vermutlich in einer der oberen Etagen, denn es gab einen großen Balkon. Sie richtete sich vorsichtig auf und wollte sich gerade umsehen, da vernahm sie ein tiefes Schnarchen aus eine der hinteren Ecken und zuckte erschrocken zusammen. Auf einem Stuhl zusammengesackt, die Arme auf den breiten Beinen abgestützt und den Kopf nach unten gerichtet, saß Luren in seinem Hochzeitsgewand und schlief so tief und fest, als wäre das die bequemste Haltung überhaupt, um ein Nickerchen zu halten. „L-Luren?“, fragte sie vorsichtig, als sich der Elf nicht bewegte. Langsam zuckten seine spitzen Ohren und er hob seinen Kopf, als habe man ihn aus seinem Grab geholt. Sein Blick wirkte etwas verloren, schaute kurz nach links und rechts, bevor er Celeste fixierte. Die sonst so großen Elfenaugen waren stark eingefallen und mit langen Tränensäcken untermalt, das Gesicht farb- und glanzlos. Zumindest bis zu dem Moment, als er die Colonel entdeckte. Schnell wurde er wach, sprang auf und überbrückte die drei Schritt zu ihr mit einem Satz. Zu ihr kniend stütze er ihren Rücken und legte prüfend eine Hand auf ihr Gesicht. Er wollte lediglich wissen, ob sie Wundfieber bekommen hatte, das war der alteingesessenen Soldatin bewusst, doch als seine weichen Hände ihren Stirn berührten, wurde ihr trotzdem etwas schwindelig und ihr Atem stockte. „Wie fühlt Ihr Euch, Colonel?“, fragte er und nahm die Hände beruhigt weg, als er bemerkte, dass ihre Temperatur normal war. „Es heißt Madame Colonel“, knirschte sie mit einem schiefem Grinsen und der Elf lächelte beruhigt, hielt für sich fest, dass sie noch ganz die Alte war. Eigentlich ging es Celeste alles andere als gut und an die Rüge ihrer Vorgesetzten wollte sie kaum denken – immerhin hatte sie ihr Leben für einen Ausländer eingesetzt. Ein Loyalitätsbruch erster Güte, auch wenn sich Shinju und Cher Enfant weiter annähern wollten. Aber so schlimm wie an jenem schwarzen Tag würde wohl das alles nicht werden... „Unverwüstlich wie eh und je“, lachte der Oberst, wich dann aber mit ernstem Blick zurück legte beide Handflächen auf den Boden und verbeugte sich so tief, dass er bereits mit seiner Stirn den Holzboden küsste. „Madame Colonel... ich kann mich für die vergangene Nacht bei Euch nicht einmal ansatzweise genug entschuldigen, geschweige denn bedanken. Nicht auszudenken, was ohne Euren Einsatz passiert wäre. Und noch weniger, wenn ihr dabei...“ Celeste lief bis zu den Ohrläppchen rot an, als sie den Elfen so vor sich knien sah. Vom Anblick berührt und auch ein wenig traurig gestimmt, denn ihr war klar, wofür er sich bedankte. Und je länger sie ihn ansah, desto mehr bemerkte sie das Beben seiner Schultern und hörte in kurzen Intervallen einige unterdrückte Schluchzer. „Luren... nein, Lord Beauroux. Bitte erhebt Euch wieder“, befahl sie peinlich berührt und wich seinem Blick aus. „Ich... ich habe nur meine Pflicht getan.“ „Das war nicht Eure Pflicht. Es ist ein Zeichen unserer Freundschaft. Ihr habt unserer beider Dank für Euren Einsatz. Wenn es irgendetwas gibt, was ich für Euch tun kann...“ Celeste fielen so einige Dinge ein, die Luren für sie tun könnte, dann aber wiederum war ihr klar, dass sie ihn gerade anlog und im Unklaren über den Zustand seiner Tochter ließ. Sie hatte sich in ihren Träumen eingeredet, dass Celica sich irrte und das Kind keine Harpyie war. Nun, im Lichte des Tages betrachtet, sah sie dieses Szenario als mehr als nur unwahrscheinlich. In all den Jahren, in denen Celica ihre Gefolgschaft losgeschickt und unzähligen Elfen ihre Kinder entrissen hatte, hatte sie nicht ein einziges Mal falsch gelegen. Früher oder später würde Cariléy eine von ihnen werden... In jenem Moment als sie diesen Gedanken hegte, schob sich die Tür auf. Die Blicke der beiden ruhten auf den müden, goldenen Augen, die zuerst die ihres Mannes suchten. Hinter Nomizon war auch ihre Leibwächterin zu sehen, die Cari auf dem Arm sanft wiegte und Celeste kurz anerkennend zunickte. Sie beantwortete die Geste, konnte sich aber nicht erwehren, dass in Ochakos Blick etwas Entschuldigendes lag. Luren stand umgehend auf und wollte seiner frisch gebackenen Gemahlin bereits die Hand als Stütze reichen, doch sie winkte ab und wandte sich stattdessen direkt an die Colonel vor ihr. „Prinzessin...“, murmelte Celeste und versuchte sich kurz etwas nach vorn zu beugen. „Madame Colonel... Es erfreut mich sehr zu sehen, dass Ihr wohlauf seid. Luren hat es wahrscheinlich bereits ausgesprochen, aber auch von meiner Seite gebührt Euch mein voller Dank“, sprach die Gouverneurstochter, legte die Hände vor dem Schoß und verbeugte sich selbst so tief, wie es ihrem Stand nun wahrlich nicht gerecht war und Celeste fühlte sich davon nur noch mehr in die Enge gedrängt. „Vater will dich sehen“, sprach Nomizon und wandte sich wieder an ihren Gatten. „Es geht um die Ereignisse im Hungerkäfig...“ „Verstanden“, meinte Luren und richtete sich auf, setzte zwei Finger zum Salut an seine Stirn, hielt dann jedoch noch einmal inne. „Wie... ist seine Laune?“ „Den Umständen entsprechend. Ich denke schon, dass ihm bewusst ist, dass dich keine Schuld trifft. Aber es ist dennoch deine Verantwortung, so seine Worte.“ „Da hat er auch völlig Recht. Verzeiht, Madame Colonel, aber die Pflicht ruft. Ich werde den Gouverneur auch darum bitten, Cher Enfant mitzuteilen, dass Ihr einen 'unvorhergesehenen Unfall' hattet, der Euch zwingt noch etwas zu bleiben, bis es Euch besser geht.“ Celeste nickte, dankbar darüber, dass Luren als ehemaliger Soldat des Königs genau verstand, dass es besser war, ihren Einsatz zu verschweigen. Zuletzt drückte der Elf seiner Gemahlin noch einen spitzen Kuss auf die Lippen, die ihm ein kurzes „Pass auf dich auf“ entgegenhauchte, und verschwand durch die Tür, die er hinter sich auch wieder schloss. „Was... ist denn im Hungerkäfig vorgefallen?“, wollte Celeste wissen und nahm dankbar die Tasse Tee entgegen, die Nomizon ihr von einem Tablett überreichte. Das leicht säuerlich-würzige Aroma weckte langsam wieder ihre Lebensgeister und sie ließ sich dementsprechend viel Zeit, das heiße Getränk zu genießen. „Es tut mir leid, aber darüber darf ich nicht sprechen“, berichtete die Prinzessin in einem für ihre Verhältnisse äußerst schroffen Ton, was bei Celeste nur noch weiter den Verdacht verstärkte, mit ihr würde etwas nicht stimmen. „Es gab heute Nacht eine Eruption unterhalb des Gefängnisses, die das Fundament schwer beschädigte und in diesem Zusammenhang für einiges an Chaos sorgte. Als Sicherheitschef der Stadt, ist es Lord von Shinjus Aufgabe, den Status Quo wiederherzustellen. Mehr steht mir nicht zu, Euch als Außenstehender mitzuteilen. Ich bitte um Verständnis.“ Die Colonel nickte stumm und verzog den Mund zu einem langen Strich. Sicherlich, solch eine kurz angebundene Informationspolitik gehörte zum Selbstschutz eines Landes, - immerhin hielt es das Königreich auch nicht anders – aber Celeste konnte sich dem Gedanken nicht erwehren, dass der Ton der Prinzessin einen gewissen Vorwurf mit sich brachte, weswegen sie sich dazu entschied, den Tee wegzustellen und dort anzusetzen: „Lady von Shinju, wenn ich Euch irgendwie beleidigt haben sollte...“ „Verzeiht mir“, nahm die Prinzessin ihr das Wort aus dem Mund, jedoch wie ausgewechselt in ihrem lieben, glockenhellen Tonfall, den man von Shinjus Lieblingstochter so gewohnt war. Kurzerhand ergriff sie die Hand der Colonel, umfasste die Finger ganz fest. „Es steht mir gar nicht zu, böse mit Euch zu sein, nach dem, was Ihr für meine geliebte Cariléy auf Euch genommen habt. Habt bitte Nachsicht, ich bin einfach nur verzweifelt.“ Wahrscheinlich aus Furcht um einen weiteren Angriff, so dachte sich Celeste und das ja auch aus gutem Grund. Doch Nomizon hob den Kopf, drückte die Hand der Soldatin ganz fest an ihre Brust, sodass sie ihren aufgeregten Herzschlag fühlen konnte. Ihr Blick spiegelte ihre Besorgnis gut wieder, blieb jedoch trotzdem klar und gefasst, strahlte eine resolute Sicherheit aus, die Celeste von der sonst eher zurückhaltenden Elfin so gar nicht gewohnt war. „Bitte seid ehrlich zu mir, Madame de Lacour: Waren es wirklich Harpyien, die Cari entführen wollten?“ Celeste entglitten jegliche Gesichtszüge. Woher nur? Woher wusste... Natürlich, ihre Leibwächterin. Es lag nahe, dass sie ihrer Herrin alles erzählt hatte. Vermaledeite Shinjuer, dachte sich Celeste, während sie die Zähne aufeinanderpresste. Auf ihr Wort war einfach kein Verlass. „Ochako hat Euch nicht verraten. Sie hat sich mir anvertraut, als ich sie unter Druck gesetzt hatte. Im Boden waren Klauenspuren und es fanden sich mehrere Daunenfedern in unserem Gemach. Ich bitte Euch, mir zu sagen, was vorgefallen war, im Vertrauen von Frau zu Frau“, erriet Nomizon die Gedanken der verletzen Soldatin und drückte die Hand noch fester. Celeste zögerte einen Moment, öffnete ihren Mund einen Spalt weit, doch dann riss sie ihre Hand aus den schlanken Elfenfingern und antwortete grob: „Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht, Lady von Shinju. Es waren vermummte Banditen. Ihr solltet Euren Umgang überdenken, wenn Eure engste Vertraute Euch solch liederliche Lügengeschichten auftischt.“ Nomizon zitterte vor Aufregung, schien fast den Tränen nahe und senkte ermattet den Kopf. „Ich verstehe...“, murmelte sie und Celeste drehte verwundert den Kopf wieder zu ihr, sah die bebenden Schultern und wartete fast eine Unendlichkeit, bis der Satz weiterging. „ Ihr müsst wissen, es gibt niemanden, dessen Meinung mein Mann mehr schätzt, als die Eure. Ich wollte daher immer, dass Ihr mich mögt, habe so sehr versucht, Euch zu gefallen. Aber schon seit einiger Zeit gibt es diese böse Gewissheit... Ihr haltet nichts von mir, richtig?“ „Prinzessin...“ Es entsprach nicht der Unwahrheit. In ihren Augen war die Elfin zu schwach, zu wohlwollend und viel zu nett, um eine fähige Herrscherin zu werden. Aber wahrscheinlich sprach auch die Eifersucht aus ihr und außerdem stand Nomizon in der Hierarchie weit über der Colonel. Es stand ihr nicht zu, so mit ihr zu sprechen. Das zum rein gesellschaftlichen Standpunkt, aber auch sonst taten ihre Worte ihr leid, denn obwohl die Elfin sicherlich älter war als sie, erschien sie deutlich jünger. Äußerlich, doch vor Allem im Wesen. Sie war eigentlich noch immer ein halbes Kind. Zögerlich hob Celeste die Hand, um die junge Frau zu berühren, doch als habe sie in eine scharfe Mausefalle gefasst, wurde ihr Handgelenk grob gepackt. Nomizon sah in Sachen Kraft kein Land gegen eine Frau des Militärs, kassierte auch einen Schlag ins Gesicht, der sie zurückwarf, aber mit beiden Händen und dem Element der Überraschung an ihrer Seite schaffte sie es, vorher den Verband um Celestes linken Unterarm zu lösen. „Dachte ich es mir doch...“, meinte die Elfin, wischte sich über die rote Nase und starrte auf die farbenfrohe Tätowierung des unbekleideten Elfenjungen mit leuchtenden Augen, dem lodernden Schopf und der lang geschwungenen Schreibfeder in der Hand, die einige leuchtende Kreise in die Luft zeichnete. „Ich hatte mich schon immer gefragt, wie eine Soldatin so bewandert in der Papiermagie sein konnte. Aber wen wundert das schon, wenn man von ihren Schöpfern, Lyra und Penn persönlich, gesegnet ist. Ich gehe doch recht in der Name, dass seine Schwester auf Ihrer Rechten Platz genommen hat?“ „Und nun? Wollt Ihr mich erpressen?“, knurrte Celeste und bleckte die Zähne. Sie wusste genau, was mit ihr passieren würde, wenn man in ihrer Heimat herausfinden würde, dass sie ein Champion der alten Götter war. Ganz sicher würde sie sich nicht von dieser Elfin in die Mangel nehmen lassen, nicht wegen einem Paar verfluchter Tätowierungen. Dafür hatte sie es zu weit gebracht und noch zu viel vor. Doch Nomizon schaute nur an sich herab und krempelte ihren Kimono nach oben, entblößte ihr Bein – und mit Ihr eine sich darum schlängelnde Tätowierung. „Das ist Shika'Res der Todesgott. Er begleitet mich, seit ich einen Bund mit ihm einging, um Luren das Leben retten zu können.“ „Was hat er dafür bekommen?“, fragte Celeste und starrte darauf, um zu vermeiden, der Elfin in ihr blutverschmiertes Gesicht zu schauen. „Das weiß ich noch nicht. Bisher stellte er nie eine Forderung, lenkte nie meine Hand. Und ich hoffe, dass er mich weiter einfach nur stumm begleitet. Aus diesem Grund, Madame Colonel, seid Euch versichert, dass dies ein Geheimnis zwischen uns bleibt.“ „Und das soll ich Euch glauben?“ „Niemand kann das Schicksal eines Champions wirklich verstehen, wenn er nicht selbst einer ist. Wenn ich nicht Eure Freundin sein darf und Ihr mich weder als Frau noch als Blaublüterin respektieren könnt... so hoffe ich zumindest darauf, dass Ihr in mir eine Leidensgenossin seht. Indes: Ich liebe Cari und werde alles für sie tun. Und aus diesem Grund...“ Nomizon rutschte einen halben Schritt auf den Knien zurück, presste ihre Handflächen auf den Boden und rammte ihre Stirn so energisch dagegen, dass es beim Aufprall eine dumpfes Schlagen gab. So kniete sie nun vor ihr, noch tiefer und untergebener, als ihr Gatte zuvor. „Aus diesem Grund bitte ich um Verständnis, dass Ihr so lange mit mir hier eingesperrt seid, bis Ihr mir die Wahrheit über vergangene Nacht sagt! Niemand sonst muss es erfahren, nicht einmal Luren, wenn Ihr das nicht möchtet! Ich bitte Euch inständig, Celeste!“ Celeste konnte ihren Kiefer nicht davon abhalten, nach unten zu klappen, entgegen ihrer guten Erziehung.Zu sehr hatte sie die Sprachlosigkeit getroffen. Sie hatte die Prinzessin unterschätzt – bei weitem, wie Ihr nun klar wurde. Das war kein halbstarkes, verzogenes Gör vor ihr. Das war eine junge, stolze Dame, die bereit war, bis zum Äußersten zu gehen, ohne dabei ihre eigenen Prinzipien zu verraten. Eine geborene Herrscherin, wie sie zugeben musste. „Na schön...“, meinte sie seufzend und wartete, bis sich ihr Gegenüber erhob. „Es waren Harpyien von Celica, die Cariléy an sich nehmen wollten. Zwei junge Kriegerinnen, nicht einmal völlig ausgewachsen. Aber stark waren sie... Stark, hinterlistig und erbarmungslos, wie man es von ihnen kennt.“ Nomizon sog tief Luft ein. Ihr Atem zitterte, so wie vermutlich auch ihr komplettes Inneres, doch ihr Blick blieb gefasst und sie verbot sich, auch nur eine Träne zu vergießen. „Was wollten sie von Cari?“, fragte sie nach einer langen Pause, in der sich die beiden nur angestarrt hatten, etwas im Gesicht der jeweils anderen suchten; ob sie fündig wurden, das behielt jede der beiden Frauen für sich. „Sie haben es ganz klar und deutlich gesagt: Sie wollten die junge Lady mitnehmen und zu ihrer neuen Schwester machen. Ich weiß nicht, woher Celica glaubt, dass Eure Tochter zu einer Harpyie werden würde. Aber ihresgleichen entführt keine Kinder zum Spaß. Sie muss etwas wissen, was uns noch verborgen ist. Stand jetzt kann man nicht davon ausgehen, dass sie lügt.“ „Verstehe... Ich danke Euch vielmals, dass Ihr mir das gesagt habt.“ Nomizon erhob sich und verbeugte sich erneut vor der Soldatin . „Ich verspreche Euch bei meiner Ehre, dass aus meinem Mund niemand von diesem Gespräch erfahren wird – oder von Eurem Geheimnis.“ „Was... was habt Ihr mit dieser Information nun vor?“ Nomizon hielt an der Tür kurz inne, Sie hatte sie bereits ein wenig aufgezogen, schlug sie dann aber erneut zu und wartete einen Moment, bis sie wusste, dass niemand lauschen würde. „Ich weiß es nicht. Aber ganz gewiss werde ich niemandem gewähren, mir Cari wegzunehmen. Weder Celica noch meinem Vater. Sie ist meine Tochter. Mit oder ohne Federn.“ Kapitel 20: Der neue Schatz --------------------------- Das Glitzern des Colliers, das ihren Hals schmückte, spiegelte sich in Severas Augen wider wie Kerzenschein. Das Gold und Silber der einzelnen sündhaft teuren Glieder machte sich erstaunlich gut mit der Spitze ihres Kleids und brachte ihr gepudertes Dekolleté zum Leuchten. „Gefällt es dir?“, fragte Cirdan kühl und streichelte ihr Gesicht, fuhr durch ihre weichen Strähnen. „Es ist hübsch“, antwortete die Zwergin und verzog den Mund zu einem betont neutralen Strich. „Hübsch, wirklich? Mehr fällt dir dazu nicht ein?“ Die Zwergin gab ein neckisches Lachen von sich und gab ihrem Herrn einen spitzen Kuss auf die Wange. Sie konnte es sich nur schwer abgewöhnen, Cirdans Geiz zu bedienen und ihm einen Grund zu geben, an jedem Einkauf herumzumäkeln, um noch ein paar Copper rauszuholen. Dass sie das nun nicht mehr nötig haben würden, daran musste sie sich nach fast einer Dekade des Sparens erst wieder gewöhnen. „Ah, Mikkalia!“ Der Elf packte Severa an ihren Schultern und drehte sie zur Elfin, die mit ihrem gewohnt herzlichen Lächeln und die Hände brav vor dem Schoß gefaltet im Türrahmen zu Cirdans Schlafzimmer stand und geduldig darauf gewartet hatte, dass der alte Hausherr ihr seine Aufmerksamkeit schenkte. Sie stimmte mit einem stummen Nicken der Schönheit des Schmucks zu, bevor sie ihren Bericht begann: „Lord vei Brith, der Saal ist nun hergerichtet und das Buffet steht. Ferner ist eine Eilnachricht von Meister Hunter angekommen. Die Eiserne Geisha ist in Lyn'a'Tishal gelandet und er wird fast pünktlich zum Bankett erscheinen.“ „Fast… pünktlich?“ „Gewöhnt Euch besser daran. Meister Hunter ist nie "pünktlich" pünktlich“, antwortete Mikkalia mit trockener Routine auf Cirdans zweifelnden Blick, was der Elf nur mit einem etwas verwirrten Nicken akzeptieren konnte. „Wie dem auch sei. Wärt Ihr so gut und würdet Severa eine hübsche Flechtfrisur verpassen? Sie muss heute noch besser aussehen als sonst.“ Ein Satz, den er immer sagte. Severa musste immer noch hübscher sein als am Tag zuvor, der Lidschatten noch graziler, die Hüften noch breiter, das Dekolleté noch betonter. Er trieb sie zum Superlativ an, hatte sich aber auf der anderen Seite seit Jahren nicht mehr über ihr Aussehen beschwert, also musste sie ja irgendwas richtig machen. Die Elfin verbeugte sich leicht und bedeute Severa zu folgen. Die Zwergin gab ihrem Herrn einen dankbaren Kuss auf die Lippen, hob den Rock ihres neuen Kleids – ein echter Mandaniel aus teurem Samt und mit viel Spitze im Dekolleté und am Saum versehen, so wie es sein sollte – und huschte zur Elfin. „Ich werde Euch sehr vermissen, Mikki“, hielt der alte Elf die beiden noch kurz auf und polierte seine neue Brille, durch deren Gläser sich die Sonnenstrahlen nach all den Jahren der Kratzer und Schlieren endlich wieder ungehindert bewegen konnten. „Kann ich Euch nicht doch dazu bewegen, zu bleiben? Ganz gleich, wie hoch Euer Lohn bei Sterlinson auch war, ich würde Euch das Dreifache zahlen.“ „Meister Hunter bezahlt mir keinen Lohn. Und das Dreifache von Null ist bedauerlicherweise das Gleiche“, gab die Elfin in ihrem gewohnt überhöflichen Ton als Ablehnung preis und wartete keine Antwort mehr ab, sondern nahm Severa bei der Hand und führte die Zwergin zu ihrem Schlafgemach. Drei Monate war die Abreise aus Asteria her; drei Monate, in denen alles so irrsinnig schnell ging, wie Severa es sich nie erträumt hatte. Als sie zusammen mit Mikkalia wieder zuhause angekommen waren – Sterlinson musste sich um den Fuchsbau kümmern und Shiro hätte in Lyn'a'Tishal zu viel Aufmerksamkeit erregt – hatte es um die Miene noch schlechter gestanden als zuvor. Die Abwesenheit des Gutsherren hatte Aufseher, Verkäufer und zuletzt auch die Sklaven selbst zum Müßiggang angetrieben, was bei der Ankunft des Chefs für einen ganzen Haufen Sanktionen für die Angestellten sorgte und für die Zwerge so viele Peitschenhiebe, dass Cirdan sich einen bösen Muskelkater zugezogen hatte. Doch immerhin konnte man dank der daraus entstandenen Übermenge an Kristallen sofort mit der Synthese anfangen. Mikki kannte die Formel fast so gut wie Ezra und nach wenigen fehlerhaften Ergebnissen, die man an einer Hand abzählen konnte, war das perfekte Mischverhältnis gefunden. Trotz dessen, dass die neuen Schätze zwar stark mit reinen Kristallen gestreckt wurden, war ihre Wirkung deutlich stärker als bei allen Konkurrenzprodukten im gesamten Land, was den Markt komplett aus dem Gleichgewicht riss – und dem Hof der vei Briths den erhofften Geldsegen schneller als erwartet brachte. Binnen kürzester Zeit waren die Bestände bis auf ein geringes Restmaß geleert und Sterlinsons Ankunft am heutigen Tage war mehr als willkommen, versprach er doch, zwei Tonnen Asterid mitzubringen. Cirdan vei Brith – dieser Name hatte endlich wieder echtes Gewicht im Kesseltal. Mehr noch: Er war scheinbar der gefragteste Mann in ganz Lyn'a'Tishal, zog Neider und Stiefellecker in Rekordzeit heran, die allesamt schon fast freiwillig in seiner Kreide stehen wollten. Und wie es sich gebührte, stellte man Macht und Reichtum mit einem zünftigen Ball zur Schau. Darin waren die vei Briths sowieso Landesmeister, ob nun mit oder ohne Wohlstand. Es sollte alles geben: Haxen vom großen Boar an Preiselbeeren, Erdapfelspalten mit Silberrosmarin an Trüffelmayonäse, die größte und extravaganteste Auswahl von Käse und Obst, die sich Liebhaber von Käse und Obst nur vorstellen konnten, eine Tankladung besten Craftbieres aus der Staatsbrauerei von Lynasa und Gin, Whiskey und Wein im Überfluss. Dazu keine freistehenden Instrumente, sondern professionelle Musikanten, die sie spielten (Mikki hatte zur Sicherheit jedes Instrument mit dem Papierzauber „Wohlklang“ aufgerüstet, um dem pingeligen Geschmack der Elfen Paroli zu bieten). Fast schon selbstverständlich würde er da seine Lieblingssklavin wieder präsentieren wie eine Anziehpuppe. „Wie hätte die Dame es denn gern?“, fragte Mikki mit einem gekünstelt eitlen Ton, während sie bereits anfing die Bürste durch das kupferrote Haar zu ziehen. „Ich verlasse mich da auf deine Expertise. Mein Herr will nur, dass mich wieder jeder sieht“, antwortete Severa lachend. Sie kannte niemanden, der so gut – und vor allem schmerzfrei – frisieren konnte, wie die Elfin. Zudem genoss sie die Momente in ihrer Nähe wie kaum etwas anderes auf der Welt, obgleich sich die Freude mit ihr allein zu sein, stets wie etwas Verbotenes anfühlte. Schon in Asteria hatte sie Mikkis liebenswertes Auftreten zu mögen gelernt, doch zurück in der Heimat wurden die beiden etwas, was Severa unter dem Begriff „Freundinnen“ verstand – ein für sie noch völlig neues Konzept, von daher zweifelte sie noch ein bisschen daran, ob Mikki ebenso empfand. In jedem Fall würde sie die Elfin wohl am allermeisten vermissen, wenn sie wieder zusammen mit Mister Sterlinson in Richtung Asteria aufbrach. „Freust du dich, wieder nach Hause zu kommen?“, fragte die Zwergin nach einigen Momenten der Stille, in denen sie dabei beobachtete, wie die schlanken Finger mit wenigen präzisen Handgriffen Strähne um Strähne nach oben beförderten und festmachten. Sie entschied sich wohl für einen Dutt, oder etwas in der Art. „Natürlich empfinde ich ein gewisses Heimweh. Und in meinen Alpträumen stapeln sich im Fuchsbau bereits die Staubschichten übereinander.“ Ein kurzes Kichern, dann wurde der Blick Mikkis aber umso trauriger und sie hörte für einen Moment auf, mit den Haarklammern herumzufuchteln. „Um ehrlich zu sein, mache ich mir Sorgen um dich. Wie es für dich sein wird, wenn du wieder ganz allein mit deinem Herrn bist... Ich weiß, dir macht das alles nichts aus, du bist es ja schon dein ganzes Leben gewohnt, aber...“ „Aber was?“, wollte Severa fragen, konnte sich aber Mikkis Einwand gut vorstellen – immerhin verabscheute sie die Sklaverei und Severas Aufgabe im Speziellen war ihr besonders zuwider, als 150 Jahre alte Jungfrau. Sie zeigte es zwar nicht offensichtlich, dafür war sie viel zu höflich, aber Cirdan stellte für sie ein Feindbild sondergleichen dar. Sie wartete ab, bis die Elfin von sich aus weitererzählte, aber vermutlich war in der Vergangenheit diesbezüglich schon alles gesagt worden. Severa war dort wo sie hingehörte: bei ihrem Herrn. Und der würde sie genauso wenig gehen lassen, wie Ezra es bei Mikkalia tat – mit dem einzigen Unterschied, dass Mikki aus freien Stücken bei ihrem Meister Hunter blieb. „Ich kann ja vielleicht mit Meister Hunter sprechen, ob er nicht doch -“ „Mikki, bitte versteh doch“; unterbrach Severa die Elfin, obgleich es mehr wie ein Flehen klang. „Wenn Mister Sterlinson mich kaufen wollte, dann hätte er es tun sollen, als mein Master kein Geld hatte und einen Verkauf in Erwägung ziehen musste. Solange er lebt, bin ich sein Eigentum, mit dem er tun und lassen kann, was er will. Das ist einfach so bei uns.“ „Die gegebenen Umstände sind aber nicht immer die richtigen...“, meinte Mikki in einem melancholischen Ton und fing an, die Frisur weiter zu bearbeiten. Der Blick der Zwergin sank nach unten auf ihre Finger, die sich ineinander verschränkten, als wollte sie mit sich selbst Händchen halten. Obwohl Severa sich in den letzten Wochen immer wieder dabei erwischt hatte, wie ihre Gedanken zu der riesigen Stadt in der Fremde, dem Berg von einem Haus mit den unzähligen Wasserfällen und nicht zuletzt zu dem blonden Mann, der sie bei jeder sich bietenden Sekunde umgarnt hatte, abgeschweift waren, wusste sie ganz genau, wie die Welt sich drehte. Und wohin sie solche Gedanken brachten. Nach ihrem Kuss in der Rose Blanche hatten die beiden nicht mehr miteinander gesprochen, abseits kurzer Höflichkeiten. Und obgleich sie es freuen sollte, dass Ezra ihr nicht mehr nähergekommen war, so konnte sie trotzdem nur spärlich den Stich in ihrem Herzen ausblenden. Insbesondere, als sie sah, wie er Mikki einen letzten Abschiedskuss auf die Wange gegeben hatte. Sprach da etwa Eifersucht aus ihr? Als Mikkalia erwähnte zu glauben, dass Ezra die Zwergin noch kaufen wollte, hatte sie eine gar schwindelerregende Hitze in ihren Wangen gespürt. Und heute, wo sie ihn wiedersehen sollte, machte sie das alles nur noch nervöser… Obgleich das alles völlig egal war. Wenn Ezra und Severa sich heute treffen würden, dann würde das die erste und letzte Begegnung für eine sehr lange Zeit sein. Ihr Platz war hier. „Hast du ihn vermisst?“, fragte die Zwergin schließlich, um die Stille zu unterbrechen, die ihr nur noch weniger gefiel als das Streitthema, das Mikkalia anschneiden wollte. „Wen meinst du?“ „M-Mister Sterlinson.“ Mikki zog die letzte Schlaufe im Schopf fest und betrachtete den hochgesteckten Dutt, den sie Severa gebunden hatte. „Ich vermisse sie alle. Shiro und die Bar… die unzähligen Besucher, die Mitarbeiter, sogar die anderen Meister. Und ja, natürlich vermisse ich Ezra auch.“ Severa wurde hellhörig. Sie konnte sich zwar nicht genau erinnern, aber war das nicht das erste Mal, dass Mikki ihn bei seinem Vornamen nannte? „Wie…wie steht ihr eigentlich zueinander?“ Ihre Finger verkrampften sich noch fester. Warum verunsicherte sie diese Frage nur so? „Ezra und ich? Er ist mein ältester Freund. Nicht weniger… aber auch nicht mehr“, antwortete die Elfin und versuchte Severas Blick einzufangen und zu erkennen, worauf sie mit der Frage hinauswollte. Doch die Zwergin ließ sich das nicht anmerken und wich ihrem Blick nur aus, sodass Mikki seufzend fortfuhr: „Ich lernte ihn als den Geschäftspartner meines damaligen Verlobten kennen und wir verstanden uns von Anfang an sehr gut.“ „Du bist verlobt?“ „Ich war es. Aber das ist schon lange her…“, Mikki schaute kurz zu Boden, mit traurig-glasigem Blick. Severa konnte sich denken, was das hieß und bevorzugte es, nicht weiter nachzuhaken. „Jedenfalls hat Ezra sich danach um mich gekümmert und im Umkehrschluss habe ich mich dazu entschieden, für ihn da zu sein, wann immer er mich braucht und ihn bis zum Schluss auf seiner Mission zu begleiten.“ „Also aus Dankbarkeit.“ „Aus Überzeugung. Ezra Sterlinson ist ein impulsiver, bisweilen überheblicher Frauenheld, der nur viel zu oft mit dem Kopf durch die Wand geht. Aber er hat trotzdem das Herz am rechten Fleck und seine Ambitionen verfolgt er aufrichtig. Ich weiß zwar, dass dieser Fall niemals eintreten wird, aber.… Wenn sein Plan zu Asterias Rettung eines Tages mein Leben aufs Spiel setzen würde, wäre ich bereit, es zu geben.“ Den letzten Satz sprach die Elfin fast schon mit stolz geschwellter Brust, und so loderndem Blick nach vorn, dass er Severa beinahe Angst machte. Sie schien wirklich überzeugt von dem, was sie sprach; bereit für die Überzeugung eines anderen zu sterben. Severa konnte das beim besten Willen nicht verstehen. Sicherlich, auch sie würde für ihren Herrn ihr Leben geben, aber auch nur, weil sie es musste. Warum sollte man dies freiwillig machen? „Sag Sevvi“, fragte Mikki nach einiger Zeit erneuten Schweigens, in denen sie die letzten Handgriffe an der Frisur vornahm, stand auf, ging zu ihrer Tür und linste in den Flur. Severas Herz schlug langsam schneller, denn sie wusste genau, was ihre Freundin vorschlagen würde. Wie gut, niemand schien sie zu beobachten. Zwar vertraute Cirdan der Elfin blind, aber sie wollte ihm auch nur ungern Anlass zum Gegenteil geben. Und was sie vorhatte, würde ganz sicher nicht in seinem Sinne sein. „Wie es aussieht, sind wir noch einige Zeit unter uns… und das hier ist unser letzter Abend“, flüsterte die Elfin schon fast und grinste dabei aufgeregt. „Also… wollen wir es tun?“ Mit diesen Worten holte sie eine Papierrolle, ein kleines Tintenfass und zwei abgenutzte Federn hervor. Severa konnte sich ihr breites Lächeln nicht verkneifen und nickte so heftig, dass es fast ihre Frisur wieder zunichtemachte. In den letzten Monaten hatte Mikkalia ihr bei jeder sich bietenden Gelegenheit Papiermagie beigebracht und Severa hatte sich mehr und mehr in die eigenwillige und in gewisser Weise auch äußerst vergängliche Kunst regelrecht verliebt. Sie war zwar nicht besonders gut – zumindest im Vergleich zu ihrer Lehrmeisterin – doch die Zwergin lernte zügig und mit großem Eifer, was Mikki regelmäßig mit einer ordentlichen Portion Anerkennung belohnte – etwas, das sie im Alltag nur allzu selten erfuhr. „Hast du etwas Bestimmtes im Sinn?“ „Etwas ganz Besonderes“, bestätigte die Elfin, wurde zugleich aber auch wieder ein wenig traurig. „Nun, wo wir uns bald für eine lange Zeit nicht mehr sehen werden, möchte ich trotzdem den Kontakt beibehalten. Deswegen möchte ich versuchen, dir einen halbwegs simplen, aber äußerst nützlichen Beschwörungszauber beizubringen: den Brieffalken.“ Kaum hatte sie das ausgesprochen und zugleich den letzten Strich auf dem Papier gezogen, verglühte auch schon die Schrift und faltete sich zu einem kleinen Vogel, der Aufstieg und langsam zur Zwergin flatterte, dann wie angewurzelt vor ihrer Brust stehen blieb, als würde er auf etwas warten. „Mach die Hand auf“, meinte Mikki und tatsächlich: als die Zwergin die Hand öffnete, landete der kleine Papiervogel darin und entfaltete sich von selbst. Severa machte es nicht bewusst, merkte aber ganz deutlich, dass sie wieder dieses übergroße Lächeln auf ihren Lippen hatte, was sie sonst aus ästhetischen Gründen versteckte, denn es ließ ihre Zwergengene zu stark herauskommen. Bei Mikki durfte sie es zeigen. Die Elfin streckte ihr die Feder zu und sagte: „Jetzt du. Es muss nicht perfekt sein, aber für den Anfang gut genug, damit du meine Briefe empfangen kannst. Wie einst der Brieffalke muss auch der nach ihm benannte Zauber Sender und Empfänger gleichermaßen kennen. Ist das gegeben, kann er aber selbst Ozeane überbrücken.“ „Aber gerade hat es doch auch geklappt.“ „Nur weil wir direkt hier zusammensitzen. Aus der Distanz heraus muss der Empfänger die halbe Strecke selbst übernehmen“, erklärte Mikkalia und fing an, Severas aufgeregt zitternde Schreibhand zu führen, wie es bereits Sterlinson damals getan hatte. „Keine Sorge. Aller Anfang ist schwer. Aber das weißt du ja mittlerweile.“ „Lord vei Brith. Wie sieht es aus?“, fragte Mikki und präsentierte stolz die Zwergin, die in aller Langsamkeit die Treppe hinunter stolzierte, direkt in den reich gedeckten und schick dekorierten Ballsaal. „Der Saal, die Speisen… und meine Lieblingssklavin… alles wunderbar“, meinte er mit zufriedenem indes auch äußerst enttäuschtem Blick. Er würde Mikki nicht noch einmal das Angebot unterbreiten, für ihn zu arbeiten. Cirdan war dafür zum einen zu stolz, zum anderen kannte er die junge Elfin mittlerweile gut genug, dass er die Endgültigkeit ihrer Antwort gut einschätzen konnte. „Würde es Euch etwas ausmachen, mich kurz mit Sevvi allein zu lassen?“, fragte er stattdessen und erhielt zur Antwort nur ein stummes Nicken, bevor Mikki sich wieder nach oben auf ihr Zimmer begab. Immerhin musste sie sich ebenso noch hübsch machen, denn den Elfen durfte sie sich nicht als Hausdame zeigen. Man durfte so viele Hauszwerginnen halten, wie man wollte und die durften auch alle aussehen, wie man wollte. Aber eine Elfin war ganz sicher keine Dienerin. „Sie wird uns beiden fehlen, nicht wahr?“, sprach er dann, als Mikki definitiv außer Hörweite war. Severa wusste nicht, wie sie darauf antworten sollte, also blieb sie nur sitzen und starrte ihren Herrn fragend an. „Du darfst offen mit mir sprechen, Sevvi. Ich weiß, dass du sie magst“, antwortete er gelassen, steckte sich seine Pfeife in den Mund und deutete auf die Mündung. Severa ging umgehend zur Bar und holte eine Schachtel Streichhölzer aus einer Schublade und entzündete die Pfeife ihres Herrn. „Das sagt der Richtige. Man könnte meinen, dass du um ihre Hand anhalten willst“, meinte Severa neckisch und erntete dafür ein unbestimmtes Brummen. „Die steht nicht auf mich. Ich bin ihr wahrscheinlich zu klein, aber… naja, das wäre nichts Neues. Indes schneidest du da aber das richtige Thema an. Severa, ich werde mir eine Frau suchen.“ Die Zwergin musste aufpassen, dass sie nicht die Streichhölzer fallenließ, als sie das hörte. Ihre Hände fingen an zu zittern und der Schweiß wurde immer stärker. „Nein…“, murmelte sie und musste sich beherrschen, einen Schluchzer zu unterdrücken. Wie kam er gerade auf diesen Gedanken? Warum ausgerechnet jetzt, wo es bergauf zu gehen schien? „Wie war das? Sprich gefälligst deutlich, wenn du mir was zu sagen hast.“ „Was willst du denn mit einer anderen Frau?! Du hast doch mich!“ „Severa, nicht in diesem Ton“, antwortete Cirdan ruhig, zeigte aber mehr als deutlich, wie ungehalten er der Ausdrucksweise seines Freudenmädchens gegenüberstand und so hielt sich die Zwergin zurück, noch etwas zu sagen. „Ich brauche einen Stammeshalter, verstehst du? Und den kannst du mir nicht bieten, zumal ich das auch nicht will. Weiß der Himmlische, was dabei rauskommen soll.“ „Darüber hast du dir die letzten Jahrzehnte aber beim Sex keine Sorgen gemacht…“ „Weil ich in dem Moment auch ganz andere Probleme hatte. Wenn ich kein Imperium habe, das ich vererben kann, brauche ich auch niemandem einen Schuldenberg hinterlassen. Dann wäre es besser, wenn das Geschlecht der vei Brith ausstirbt.“ „Und nun, wo ich dich all die Jahre durch dein Leid begleitet habe, soll mich einfach irgendeine dahergelaufene Schlampe…“ „Ich habe gesagt, nicht in diesem Ton!“, rief Cirdan erbost, im gleichen Moment, als seine flache Hand im Gesicht der Zwergin landete und einen glühenden Abdruck hinterließ. Severa war Ohrfeigen gewohnt, dennoch brannte diese viel mehr als eine Gewöhnliche, obgleich er nicht besonders stark zugeschlagen hatte. Ergeben, aber auch innerlich verletzt schlug sie die Augen nieder und verstummte. Der Elf fuhr sich durchs Haar, wandte sich von ihr ab und ging zu dem großen Gemälde seines Stammbaums, zog mehrmals an seiner Pfeife und hüllte so die Luft in den Dunst des kräuterlastigen Elfentabaks. „Ich habe weder vor, dich rauszuschmeißen oder zu verkaufen, noch dich in meine Minen zu verfrachten“, fing er an und klang dabei fast so, als müsste er sich für etwas entschuldigen – ein Tonfall, den seine Lieblingssklavin von ihm so gar nicht kannte. „Du bist und bleibst an meiner Seite, bis zum Ende meiner Tage. Hast du das verstanden?“ „Ja, mein Herr“, antwortete Severa unterwürfig, doch stockte dann und schaute auf. „Aber was soll ich denn sonst machen? Ich kann doch nichts anderes als… dich zu beglücken.“ „Darüber mache ich mir Gedanken, wenn es soweit ist…“ sagte er und gab ihr einen Kuss auf die rote Wange. Seine Lippen heizten die Glut unter der Haut wieder an, dass Severa vom Brand das Gesicht verzog. „Heute Nacht werden wir uns erst einmal feiern. Also geh dich schminken.“ Mit diesen Worten verpasste er ihr einen sanften Klaps auf den Hintern und Severa machte einen kurzen Knicks, drehte sich um und eilte nach oben, dass er nicht sehen konnte, wie sich zwei dicke Tränen aus ihren Augen stahlen. Auf den ersten Blick wirkte der Ball kaum anders als noch vor wenigen Monaten, kurz vor ihrer Abreise: Viele Elfen, einige Menschen und eine Handvoll Hauszwerginnen, die alle Hände voll zu tun hatten, die Wünsche der Gäste zufrieden zu stellen. Für Speis war gesorgt, für Trank sogar noch mehr und die angeheuerten Musiker schafften es tatsächlich, mit der Hilfe von „Wohlklang“ den pingeligen Spitzohren gerecht zu werden – so gerecht, dass man sogar dem ein oder anderen Pärchen einen Tanz aus den Rippen leiern konnte. Wie so oft war nur die beste Gesellschaft eingeladen und jeder, der Rang und Namen besaß, hatte sich es nicht nehmen lassen, der Einladung Folge zu leisten. Doch eine Sache war heute ganz anders als zuvor: Wo Cirdan in früheren Tagen damit beschäftigt war, auch nur einen halbwegs willigen Gesprächspartner zu finden, tummelten sich heute die Stiefellecker vor ihm und buhlten geradezu darum, seine blank polierten Gamaschen noch weiter zum Glänzen zu bringen. Und das gefiel ihm sichtlich. Er fühlte sich wie der neue König von Lyn’a’Tishal und suhlte sich in all dem Beifall, schüttelte wohlwollend jede Hand, die ihm entgegengehalten wurde und verteilte auch an die ein oder andere Dame einen zarten Handkuss – etwas, das er nun seit gut und gern drei Dekaden nicht mehr gemacht hatte. Severa rang sich zu einem lieblichen Lächeln durch, wann immer sich ihre Blicke trafen. Sie sollte sich für ihn freuen. Sie wollte es auch. Zugleich jedoch quälte sie der Gedanke an seine Worte, so sehr, dass sie nicht eine der Leckereien vom Buffet runterbekam. Und so verkroch sich die Zwergin ins Abseits und versuchte, den bekannten Gesichtern so gut es ging auszuweichen. Die neidischen Blicke auf ihr neues Kleid, die sie sonst nur animierten, noch mehr zu posieren, stärkten ihre Furcht am heutigen Tage zu einem Punkt, an dem sie sich lieber einfach nur noch in ihrem Zimmer einschließen wollte. „Na so etwas, Sevvi! Ich habe mich schon gefragt, wo du dich versteckt hattest!“ Die Frauenstimme ließ sie für einen Moment zusammenzucken wie ein Eiszapfen, der in ihren Nacken gelegt werden würde. Die hatte der Zwergin gerade noch gefehlt. Sie zwang sich zu einem unterwürfigen Lächeln und schaute in Richtung der Quelle, direkt auf Al‘ney Attani. Wie immer war die großgewachsene Elfin selbst in der Gesellschaft der Reichen und Schönen am meisten herausgeputzt: Ihr Mandaniel aus rotem Hermelin– der Schnitt verriet den begabten Schneider drei Meilen gegen den Wind – besaß einen mit teurem Pelz ausgestatteten V-Ausschnitt, der weit über das Dekolleté hinausging und jeden Betrachter fragend zurückließ, was in aller Welt ihre Brüste in dem Stoff hielt. Die Hüfte war mit allerlei Ketten und Knöpfen aus Grün- und Rosengold geschmückt, die ihre verführerische Taille nur noch mehr betonten und der rote Seidenrock war so dünn, dass man fast glaubte, einen Blick auf ihren nackten Unterleib erhaschen zu können. Ihr langes, fast goldenes Haar hatte sie zu einer aufwendigen Hochsteckfrisur gebunden, die selbst Mikkalias Frisierkünste wie die Arbeit eines Amateurs aussehen ließ. Nach Severa sah sich sicherlich jeder Zweite, wenn nicht sogar noch mehr Leute um, doch bei Lady Attani blieb wahrlich kein einziges Auge trocken. Sie überstrahlte die Zwergin vor ihr um ein Vielfaches und obgleich bereits ihre kalte Aura ausreichen würde, um Severa einzuschüchtern, wirkte dieser Aufzug nur noch bedrückender auf das Gemüt der jungen Zwergin. Doch das ließ sie sich nicht anmerken. „Du siehst gut aus. Unser liebster Lord kann es wirklich nicht lassen seine Lieblingstrophäe vor allen Nasen bis aufs Äußerste zu polieren“, meinte die Elfin mit einem süffisanten Grinsen und stemmte die Hände in die Hüften. „Gegenüber Euch bin und bleibe ich dennoch nur ein Mauerblümchen, Mylady“, säuselte Severa, hob ihren Rock – ebenso aus bester schwarzer Seide – an und machte einen tiefen Knicks. „Dein Kompliment nehme ich immer gern an, auch wenn du wahrscheinlich alles sagen würdest, um unsereins zu gefallen. Zugleich wundert es mich schon: Jetzt, wo dein Herr doch wieder Geld hat, hat er dir da nicht gesagt, dass du die Schleimereien einstellen darfst?“ „Seid Ihr heute nicht mit Oberst Tirilla unterwegs, Mylady?“, versuchte Severa abzulenken, denn egal was sie sagen würde, es würde die Elfin sowieso nicht zufrieden stellen – sie kannte die Marotten der Bewohner des Kesseltals nach all den Jahren gut genug. Lady Attani spürte das sicherlich, ließ sich aber dennoch darauf ein und schaute in Richtung der Bar, wo ein älterer Elf sich einen Whiskey nach dem anderen hinunterkippte, um kurz darauf langsam auf die Traube um Cirdan zuzutorkeln. „Der arme Tropf hat sich in den Kopf gesetzt, deinen Herrn auf einen Versogungsauftrag für die elblesische Armee anzusprechen. Und dass, obwohl in den Staatskassen gerade gähnende Leere herrscht. Männer und ihre Arbeit, ich sage es dir. Keinen Funken Taktgefühl für die schönen Dinge im Leben…“, seufzte Lady Attani und griff wie selbstverständlich nach dem Glas Wein, das eine der Hauszwerginnen eigentlich gerade auf einem Silbertablett einem anderen Gast bringen wollte. Für einen Moment hatte die Frau im mittleren Alter sie darauf ansprechen wollen, doch als sie bemerkte, wer gerade vor ihr stand, drehte sie sich schnell weg – so schnell, dass es nicht mal mehr reichte, Severa mit dem gewohnt giftigen Blick zu begrüßen – und huschte zurück zum Tresen, um dem eigentlichen Empfänger ein neues Glas zu holen. Die Attanis waren eine der einflussreichsten und wohlhabendsten Dynastien von ganz Lyn’a’Tishal. Die Elfen hatten ihre Finger in allem: Der Industrie, dem Militär, dem Handel und Zoll gleichermaßen und natürlich auch nicht zuletzt in der Politik. Al’ney Attani, Großnichte der Matriarchin, war, soweit Severa wusste, vor allem an Kristallen interessiert, weswegen sie auf Festen der Minenbesitzer ein immer wieder anzutreffender Gast war. Severa kannte sie schon, als die Zwergin noch ein junges Mädchen war, doch seit ihrer ersten Begegnung war die verführerisch schöne Elfin scheinbar um keinen Tag gealtert, sodass man nur schwer sagen konnte, wie lange sie schon auf der Erde wandelte – und gemessen daran, dass ihre Großtante einem Mythos nach schon ein halbes Jahrtausend lang auf dem Clanthron sitzen würde, wirkte das gar nicht so abwegig. „Sag Severa…“, fing die Elfin an und schaute angestrengt in Richtung der Traube. „Sucht Lord vei Brith heute… jemand bestimmtes?“ „Wie meint Ihr das?“, fragte die Zwergin, so unschuldig, wie sie klingen konnte, doch bei Lady Attani zog das nicht. Sie hatte Cirdans Versuche, bei den Damen anzubändeln, natürlich längst bemerkt. „Du weißt genau, was ich meine und wie ich es meine. Kann es sein, dass dein alter Herr… auf Frauensuche ist?“ Severa spürte, wie sich bei diesen Worten etwas in ihr zusammenzog und sie hoffte inständig, dass Lady Attani nur einen ihrer dummen Scherze machte. Aber nicht heute. Als Severa wieder den Blick hob, schaute die Elfin sie noch immer erwartungsvoll an und hatte ihre Brust so weit herausgedrückt, dass man sich nun doch ernsthaft fragen musste, welcher verbotene Zauber dieses verdammte Dekolleté zusammenhielt. Severa wollte ihr nichts sagen, sie wollte sich eigentlich auch gar nicht mit dieser Frau unterhalten. Die Elfin, die jedem gegenüber freundlich und charmant blieb, gab sich nicht einmal ansatzweise die Mühe, ihr wahres Wesen vor der Sklavenrasse zu verstecken. Soweit man wusste, besaß sie nicht einmal eigene, aber unter den Zwergen wurde ständig über ihre herrische, beinahe sadistische Ader hinter hervorgehaltener Hand getuschelt – so sehr, dass selbst die isolierte Severa es mitbekam. Hinzu kam das Gefühl, dass Attani sie als persönliche Lieblingszwergin ausgemacht zu haben schien und sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit belagerte. Severa würde es sich niemals ansehen lassen, doch die Elfin wusste ganz genau, was für eine Angst sie vor ihr hatte. Und eines war sicher: Al’ney Attani würde sich nicht einmal große Mühe machen müssen, um ihren Master zu bezirzen. Severa wollte sich schon mit einer halbgaren Lüge aus den Fängen winden, da legte sich eine weiche, warme Hand auf ihre Schulter und ein mildes Lächeln empfing die Zwergin, so rein und ehrlich wie nichts anderes in diesem Saal. „Da bist du ja! Ich habe dich schon gesucht!“, meinte Mikki erfreut und Severa merkte, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel. Die Elfin hatte sich in ein schönes aber durchaus schlichtes, dunkelblaues Kleid nach Tishaler Schnitt gezwängt und ihr langes Haar zu einem biederen Zopf gebunden, mit einigen Strasssteinen geschmückt und über ihre Schulter geworfen. Gerade im Gegensatz zu Attanis Prunk war sie die Bescheidenheit in Person, obgleich sie nicht wirkte, als habe sie in diesem Aufzug nichts hier verloren. „Und… wer seid Ihr, wenn ich fragen darf?“, erkundigte sich Lady Attani mit einem genervten Zischen, denn sie war es nicht gewohnt, dass man sich einfach so in ihre Gespräche einmischte – und dann auch noch, ohne sich zu entschuldigen! Die Empörung über dieses Verhalten stand ihr mehr als deutlich ins Gesicht geschrieben und gemessen an der Abscheu in ihrer Stimme, hätte jeder andere seinen Fauxpas umgehend bemerkt – Mikkalia indes hielt es am besten, sich kurz zur Begrüßung zu verbeugen und in ihrer natürlichen Höflichkeit zu antworten: „Gestatten, Mikkalia Bordeaux, werte Dame. Es freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen, Lady...“ Lady Attani machte sich nicht die Mühe, ihrem Gegenüber zu antworten, sondern prüfte Mikki stattdessen von oben bis unten mit argwöhnisch zusammengekniffenen Augen. „Bordeaux? Was für ein einzigartiger Name. Sagt… woher kommt Ihr?“ Ihr Ton wurde nicht freundlicher, doch Severa wusste mittlerweile, dass so ziemlich alles an Mikki abprallte, was man ihr an den Kopf warf. Die Elfin legte ihren Kopf schief, schenkte der Frau vor ihr ein so sonniges Lächeln, dass Attani aufpassen musste, sich nicht blenden zu lassen und antwortete: „Bitte verzeiht, aber ich habe Euren Namen nicht verstanden.“ „Den wisst Ihr nicht?“ „Sonst würde ich nicht fragen.“ „Aber in Gespräche platzt Ihr einfach so rein.“ „Tut mir leid, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass Ihr einen Dialog miteinander führt.“ „Nun, den führten wir aber. Stimmt’s Sevvi?“ Attanis Augen legten sich wieder auf die Zwergin, ermahnten sie mit strafender Miene dazu, jetzt bloß nichts Falsches zu sagen. „W-Wir hatten uns unterhalten“, stimmte sie eingeschüchtert zu und versuchte ihrerseits ihrer Freundin mit Blicken mitzuteilen, dass sie besser gehen sollte. Doch Mikkalia dachte gar nicht daran. Man sah es ihr vielleicht nicht an, aber für ihre Verhältnisse brannte eine ungewöhnlich starke Streitlust in ihren Augen. Noch immer überfreundlich lächelnd griff sie an den Saum ihres Kleids und machte einen kurzen Knicks. „Wenn dem so ist, entschuldigt bitte vielmals meine Unhöflichkeit. Ihr müsst wissen, Mylady, ich bin fremd in diesem Land und lerne noch die Étiquette…“ „Das habe ich gemerkt.“ „… aber ich weiß bereits, dass es hochgradig beleidigend ist, anderen den Namen vorzuenthalten, wenn diese sich bereits vorgestellt haben. Wärt Ihr also bitte so freundlich, mir Euren Namen zu verraten?“ Es war noch nie vorgekommen, dass Mikkalia je fordernd oder boshaft geklungen hätte. Ihre Stimme gab vermutlich derlei Tonlagen nicht her und selbst jetzt schien sie wie die sanfteste und freundlichste Person im ganzen Raum. Doch aufmerksamen Zuhörern entging sicherlich nicht der veränderte Unterton und die stechende Akzentuierung. Severa und Lady Attani fielen in genau diese Kategorie. „Lass es gut sein, Mikki. Die Dame vor dir ist eine Attani. Ihresgleichen benimmt sich gegenüber dem Pöbel immer so.“ Mit diesen Worten legte sich eine Hand auf die Schulter der Elfin und in Severas Nase stieg ein ihr nur allzu bekannter, leicht kratzender Tabakgeruch. „Meister Hunter!“, rief Mikkalia mit heller Stimme und für einen Moment wollte sie den blonden Mann neben ihr bereits umarmen, tat dann aber einen Schritt zurück, legte die Hände in den Schoß und machte eine kurze Verbeugung, bevor sie in einem ruhigen Ton weitersprach: „Ich freue mich sehr, Euch wiederzusehen. Hattet Ihr eine gute Anreise?“ „Unspektakulär, aber wenigstens sicher. Ich habe dich auch vermisst“, meinte er, nahm die frisch angebrochene Zigarette aus dem Mund und gab Mikki auf die rechte und linke Wange einen kurzen, angedeuteten Kuss, den sie ebenso erwiderte. Eine Begrüßung, wie man sie auch aus Teilen Lyn’a’Tishals gut kannte, aber eigentlich nur engen Freunden vorbehalten war. Darauf nahm Ezra Severas Hand und küsste sanft den Rücken mit seinen rauen Lippen, wobei seine azurblauen Augen sie fest fixierten. Severa kam nicht umhin, kurz zu lächeln, während das laute Wummern ihres Herzens bis hoch in ihren Hals ihre Aufregung nicht verbergen konnte. Das lag sicherlich auch daran, musste sie zugeben, dass Sterlinson an diesem Tage noch besser aussah als in ihrer Erinnerung. Wo er bei seinem ersten Besuch in seiner letzten, bereits abgewetzten Alltagskleidung ins Fest geplatzt war, war er heute im feinsten Zwirn unterwegs, hatte sich über sein Hemd mit Tuch eine weinrote Seidenweste geworfen und zwei Spritzer besten Parfums aufgetragen, die die Nase der Zwergin unaufhörlich kitzelten. Die Pomade in seinem blonden Schopf verlieh diesem einen fast schon goldenen Schimmer und die Wärme seiner Hand griff nur allzu schnell auf sie über. „M-Mister Sterlinson…“, begrüßte sie ihn und merkte wie ihre Stimme dabei fast wegbrach. „Es freut mich ebenso, Euch wiederzusehen, Miss Severa“, antwortete er in seinem gewohnt charmanten Ton, bevor er sich aufrichtete und an die letzte Frau in der Runde wandte, jedoch bedeutend weniger umgänglich. „Ihr seid also der Herr von Miss Bordeaux?“, fragte Lady Attani und betonte das „Miss“ nur allzu deutlich. „Lady Bordeaux“, berichtigte Ezra scharf, „ist eine meiner engsten Vertrauten und ältesten Freunde. Sie ist nicht meine Dienerin.“ „Dennoch mache ich Eure Hausarbeit“, erwiderte Mikki fast schon gleichgültig, worauf Ezra die Elfin stumm bat, ihm doch nicht ausgerechnet jetzt in den Rücken zu fallen. „Und… wer seid Ihr nun, Mister Sterlinson?“ Langsam verlor Lady Attani ihre Geduld, doch behielt zumindest einen Funken an Höflichkeit gegenüber den beiden Fremden, auch wenn in ihre Mimik „Was beim Himmlischen stimmt denn mit den beiden nicht?“ schrie. „Ein Geschäftspartner des Gastgebers“, bemerkte Sterlinson und schob sich wieder seine Zigarette in den Mund. „Also seid Ihr für den plötzlichen Reichtum Lord vei Briths verantwortlich…?“ „War das eine Frage oder eine Feststellung?“ Lady Attani gab darauf nur ein maues Lächeln als Antwort preis, nickte kurz und machte auf dem Absatz kehrt. „Seltsame Frau…“, murmelte Mikki. „Gefährlich vor allem“, fügte Ezra hinzu und blies mit unsicherem Blick eine Ladung grauen Rauchs zur Decke. „Es wäre besser, wenn du dich von ihr fernhältst. Mit den Attanis ist nicht zu spaßen… musste ich schon am eigenen Leib erfahren…“ Severa wunderte sich, was er damit meinte, wagte es aber nicht, nachzufragen. Generell traute sie sich nicht, wirklich etwas zu sagen, schaute dem Menschen nur lang ins Gesicht, beobachtete den sanften Glanz in seinem Blick, das gleichmäßige Dehnen und Stauchen der Gesichtszüge, während er genüsslich rauchte. Doch sie war nicht einmal zur Hälfte verglüht, als er sich entschied, die Zigarette doch auszudrücken und die Hand erneut der Zwergin entgegenzustrecken. „Miss Severa, verzeiht meine plötzliche Frage, aber dürfte ich Euch zum Tanz bitten?“ Severa stockte der Atem. Sie wollte gerne tanzen, hatte immer das Gefühl, dass es der Inbegriff von Freude war. Und gerade heute, wo auch die Musik zum ersten Mal den Festlichkeiten beiwohnte und die Gäste die Möglichkeit nutzten, sich rhythmisch zu bewegen, wollte sie es nur umso mehr. Aber niemand hatte sie gefragt. Natürlich nicht: Cirdan konnte es nicht und sonst würde niemand eine Zwergin zum Tanz auffordern – aus gutem Grund. „Mister Sterlinson…“, antwortete sie zögerlich, während sie noch immer auf die Hand starrte. „Ihr wisst schon, dass man das nicht macht? Eine… ich meine… Wenn mein Master das mitbekommt…“ „Lord vei Brith wird es mir wohl verzeihen, wenn ich seine Lieblingssklavin für einen Moment auf die Tanzfläche entführe“, antwortete er mit einem Augenzwinkern, griff ihre Hand und zog sie so schnell zwischen die Massen, dass sie sich nicht hätte wehren können. Der Mensch drückte sie an sich, griff sie an der Schulter – denn tiefer kam er nicht – und führte sie behutsam zu den sanften Klängen des Cembalos. Etwas ungelenk setzte die Zwergin zunächst einen Schritt vor den anderen, stolperte einige Male und schaute sich aufgeregt zu allen Seiten um, ob jemand sie beobachten würde. „Entspannt Euch. Niemand interessiert sich für uns. Lasst euch… einfach fallen“, säuselte er in ihr Ohr. Und tatsächlich: Die ersten erstaunten Blicke waren schnell verschwunden und man schien die beiden hier zu dulden – oder eher nicht zu bemerken. Langsam fühlte Severa sich sicherer und ließ die Hüfte im Takt auf und ab wippen. Eine gewisse Peinlichkeit konnte sie nicht ausblenden, fühlte die Rötung in ihren Wangen, doch zugleich fühlte sie sich davon so beschwingt, als wäre sie angetrunken. Langsam kuschelte sie sich an Ezra, ließ sich voll und ganz von ihm und der Musik führen. „Wollt ihr denn nicht lieber mit meinem Herrn sprechen?“, fragte sie irgendwann aus Höflichkeit, doch insgeheim wünschte sie sich, dass sie noch weiter so zusammen zwischen all den Leuten hin und her wiegen könnten. „Keine Sorge, die Förmlichkeiten sind bereits beseitigt. Euer Herr sagte, das Fest sei mir zu Ehren, ich solle mich amüsieren. Was liegt da näher, als mit einer schönen Frau Arm in Arm…“ „Und Mikkalia?“ „Die hat dafür vollstes Verständnis, glaubt mir. Außerdem ist sie keine begeisterte Tänzerin.“ Severa atmete tief durch, ließ sich weiter von der Musik treiben und schloss die Augen. Sie nahm Ezras Nähe und seinen Duft, diese anziehende Mischung aus kratzigem Tabak und betörendem Parfum, ganz in sich auf. Cirdan ausgenommen war sie einem Mann noch nie so nah gewesen und obwohl sie ihre Unschuld schon so früh verloren hatte, teilte sie mit diesem Fremden nun etwas, dass ihr Herr ihr gar nicht mehr nehmen könnte: ihren ersten Tanz. „Miss Severa“, begann Ezra nach einiger Zeit und hielt kurz an. Severa schaute halb verschlafen nach oben, als hätte man sie aus einem tiefen, schönen Traum geweckt. Ezra kaute kurz auf seinen Mundwinkel und kratzte sich am Hinterkopf – eine Geste, die er öfters tat, wenn ihm etwas unangenehm war. „Ich hatte es noch nicht geschafft, mich anständig bei Euch zu entschuldigen. Für den Kuss in der Rose Blanche. Es war Euch sicherlich unangenehm…“ Die Zwergin wich seinem Blick aus, spürte das nervöse Klopfen in ihrem Hals und fuhr sich kurz über die Lippen. Sie hatte es über den Tag hinweg schon fast verdrängt und selbst in seiner Nähe war es ihr nicht mehr in den Sinn gekommen. Dass der Mensch es nun ansprach, mitten aus dem Nichts, kam wie ein Platzregen und erwischte sie vollkommen ungeschützt. „Es ist in Ordnung…“, murmelte sie nur, wollte sich zugleich aus dem Tanz lösen, Abstand gewinnen. Ihr war klar, dass sie den Geschäftspartner ihres Masters nicht in Schwierigkeiten bringen durfte. Aber Anziehung konnte man nicht einfach abschalten. „Bitte nehmt das nicht auf die leichte Schulter“, antwortete der Mensch so kleinlaut, wie man es von seinem einnehmenden Charakter nun wirklich nicht gewohnt war. „Ganz gleich, ob ihr nun eine Sklavin seid, oder eine Adlige, es geziemt sich nicht. Es war einfach… Ich bitte Euch um Verzeihung. Und ich danke Euch vielmals, dass Ihr niemandem davon berichtet hattet.“ Severa war sich bewusst, dass er damit nicht einfach nur den Kuss meinte. Sie hatte Ezra in einem Moment der Schwäche erlebt, einer Situation, die nicht in das Bild von ihm passen wollte. Und so langsam wurde ihr klar, dass seine Annäherungsversuche weit mehr als bloße Neckereien waren. Dieser großgewachsene Charmeur mit Augen, so blau wie die See, der sicherlich in seinem Leben bereits die ein oder andere atemberaubende Liebschaft hatte, hatte sich doch ausgerechnet in eine Zwergin mit Elfenblick verguckt. „Kommt mit“, flüsterte sie, machte auf dem Absatz kehrt und zwängte sich durch die Leute hindurch, auf zur Treppe. Ein letzter Blick fiel auf Cirdan, als sie den ersten Schritt die Treppe hoch tat; insgeheim hoffte sie darauf, er würde sich umdrehen, sie aufhalten, fragen, was sie denn oben wollte und für ihr Vorhaben rügen – wenn nötig auch mit der Peitsche – aber der Elf verschwendete nicht eine Sekunde, sich zu ihr umzudrehen. Er hatte sie also bereits abgeschrieben… Jetzt gab es kein Zurück mehr. Langsam schlich sie hinauf, spürte mit jedem weiteren Schritt, wie sich mehr in ihr zusammenzog, zugleich aber auch ihr Herz schneller schlug. An das Geländer krallend blieb sie stehen und schaute gebannt auf das bunte Treiben im Ballsaal, erkannte schnell Ezra in dem ganzen Rummel, der sich noch mit Mikkalia unterhielt, aber schnell verabschiedete und die Treppe langsam nach oben schritt. Vorsichtig und diskret, wie man es von einem Gentleman erwartete. Kaum dass er oben war und sich ihre Blicke gekreuzt hatten, lief Severa weiter, direkt zu ihrem Zimmer, öffnete die Tür und huschte zum Fenster, legte die Handflächen auf dem kalten Glas ab und schaute nach draußen. Draußen war es bereits lange finsterste Nacht, lediglich die Lichter aus dem Erdgeschoss drangen auf die Straße, erleuchteten die dünne Schneedecke, die sich frisch daraufgelegt hatte und in der Ferne funkelten die letzten Lagerfeuer aus den Minen. Doch statt des schwarz-blauen Mantels, der sich sonst um diese Zeit auf das Kesseltal legte, schimmerte die Welt für sie in einem orangefarbenen Feuer, getaucht in die letzten Strahlen der untergehenden Herbstsonne – so wie vor einigen Monaten, als sie Ezra zum ersten Mal begegnet war. „So müsst Ihr also hausen?“, fragte seine Stimme, begleitet vom langgezogenen Knarzen der Tür. Sterlinson hatte sich in den Rahmen gelehnt. Seine streng geknüpfte Weste hatte er geöffnet und auch der Hals wurde vom Kragen befreit. „Für eine Zwergin ist mein Leben unvorstellbarer Luxus“, antwortete sie und versuchte ihm in die Augen zu schauen, doch erwischte sich selbst dabei, wie ihr Blick immer wieder zur Seite abdriftete und verstohlen auf das leicht entblößte Schlüsselbein huschte. Er schritt zu ihr. „Das will ich nicht beurteilen, aber für eine Dame ist es unwürdig.“ „Ich bin doch keine Dame…“, murmelte die Zwergin und konnte sich nicht erwehren etwas verlegen zu lächeln. Obgleich die Schläge in ihrem Hals nicht aufhören wollten, kippte so langsam ihre Furcht in Richtung Aufregung. „Miss Severa…“, begann der große Mann erneut und strich mit seinem Handrücken über ihr Haar. „Für meinen Überfall möchte ich Euch erneut um Verzeihung bitten. Ich muss aber gleichzeitig gestehen, dass ich den Kuss genau so meinte.“ „Ihr… habt also wirklich Interesse an mir?“ „Wer hätte die denn nicht?“ „So ziemlich jeder!“ Sterlinson stieß einen kurzen, fast schon beleidigten Lacher aus und ließ kurz von ihr ab, als hätte er sich an ihrer Nähe verbrannt. Dann schob er sie zum Bett und setzte sich, sodass sie auf Augenhöhe waren. Seinem Gesicht so nah erkannte die Zwergin jeden einzelnen Zug seiner markanten Muskulatur und obwohl sie wieder das Gefühl überkam, dass etwas damit nicht stimmte, war sie eher von der Nähe zu diesem Fremden fasziniert. Seine Hände glitten über den samtigen Stoff, entlang der Hüften, bis hoch zur Brust und seine Finger – das spürte sie sehr deutlich – begannen, an den Haken und Knoten ihres Korsetts zu spielen. Doch sie machte keine Anstalten, es zu unterbinden und ließ die Arme nur ermattet nach unten hängen, als wäre sie nur eine Anziepuppe. Genau das traf Ezras Geschmack: Er war in Spiellaune, wollte die Frau vor ihm ein wenig necken und erfreute sich an Severas williger Natur. Doch auch die Zwergin traute sich langsam, ihn anzufassen, legte die Hände auf seine Brust, rieb an dem harten Stoff des Hemds und fuhr mit den Daumen zwischen den offenen Kragen, berührte seine glühende Haut. „Was passiert jetzt?“, flüsterte sie mit zittriger Stimme. „Was immer Ihr wollt. Ich zwinge Euch nicht.“ „Hattet Ihr das geplant?“ „Ich wollte darauf hinarbeiten“, gab der Mensch zu, seine Mundwinkel verschmitzt nach oben ziehend. „Aber das ging alles viel schneller als erhofft…“ „Ich liebe Euch nicht, Ezra.“ Sie erschrak etwas über sich selbst – über ihr Gesagtes, wie auch die Tatsache, dass sie ihn beim Vornamen ansprach – aber er nahm es ihr nicht übel. „Macht Euch darum keine Gedanken. Ich bin der Romantik mittlerweile ebenso überdrüssig.“ Ezra griff nach ihrem Kinn und legte schnell seine Lippen auf die ihren. Er schmeckte nach Rauch, einem Schuss Alkohol und einer Prise Minze, die er sich wohl vor dem Besuch auf die Zunge gelegt hatte; Eine für sie nicht unbekannte Mischung. Doch Ezra küsste ganz anders als ihr Master und auch ganz anders als in der Rose Blanche: erobernd, leidenschaftlich und mit einer gehörigen Prise Selbstvertrauen. Er führte ihre Zunge, wie er sie selbst bereits auf dem Parkett geführt hatte. Und wie beim Tanz ließ Severa sich fallen, gab freiwillig die Kontrolle zusammen mit ihrer Furcht vor den Konsequenzen ab. Eine Strafe würde es sicherlich mit sich ziehen und ihr war bewusst, dass sie äußerst schmerzhaft werden würde… Aber das war ihr gerade egal. Ihr Unterbewusstsein hatte es schon länger gefordert, mittlerweile konnte sie aber auch selbst nicht mehr verbergen, wie sehr sie sich an diesem Abend nach etwas Zärtlichkeit sehnte. „Und was passiert jetzt?“, fragte sie erneut, da lösten sich die oberen Haken am Korsett und das Kleid glitt geradezu von ihren Schultern, die Hüfte hinunter zu Boden. Die Zwergin war nun mit nicht mehr bekleidet als der dünnen Wäsche, die sie darunter trug und spürte den kalten Luftzug durch ihr undichtes Fenster, der sich mit seinen eisigen Fingern um ihre Beine legte. Gerecht fand sie es nicht, ganz allein entblößt zu sein, griff forsch zu den Knöpfen und riss das Hemd geradezu von den Schultern des Mannes vor ihr, setzte sich auf seinen Schoß und dirigierte seine Hände zu ihrem Hintern, bevor sie sich wieder küssten, Brust an Brust gepresst. Sie wusste nicht so ganz, ob sie das so geplant hatte, aber bei diesem Tanz würde sie sich ganz sicher nicht nur führen lassen. Wie beim Kuss war Ezra auch im Bett ganz anders als Cirdan. Das lag sicherlich an seiner schieren Größe, mit der er sie übermannte, seinem kräftigen Griff und seinen rauen Lippen, die sich auf ihre Haut legten. Doch da war noch etwas Anderes... Mit jedem Stoß hungerte er nach mehr und tat alles dafür, dass auch sie sich nicht trennen wollte, liebkoste und küsste sie unablässig an jeder freien Stelle, zu der er sich beugen konnte, dass ihr von der Stimulation langsam aber sicher schwindelig wurde. Wann immer Severa mit ihrem Master geschlafen hatte, fühlte es sich an, als würde er sein Besitzrecht ihr gegenüber deutlich machen. Cirdan war kompromiss- und rücksichtslos und zeigte ihr das nur zu deutlich, auch wenn es ihr dennoch Freude bereitete. Frust und Lust entluden sich gleichermaßen beim Sex mit dem Elfen und er würde sie nicht ruhen lassen, bis er befriedigt war. Sterlinson indes hatte kein Besitzrecht und das wollte er auch nicht. Für den Menschen stand nur eines im Mittelpunkt: Sie zu erobern, sie zu Seinem zu machen. Und so langsam gelang ihm das auch. Mit jedem Mal, dass er sie küsste, streichelte oder gar leckte, sehnte sie sich nach dem nächsten und tat (unbewusst) alles dafür, dass er sich nicht an ihrem Körper sättigen konnte. Obgleich sie sich so leise verhielten, wie es nur möglich war und selbst das viel zu kleine Bett sich kaum regte, hallte in den Ohren der Zwergin nur das Stöhnen der beiden wieder und übertönte jegliche äußeren Geräusche, als wären sie in ihrer eigenen Welt gefangen. Severa liebte Sex. Sie liebte alles daran, empfand es als den besten Zeitvertreib der Welt. Doch in diesem Moment, als sie sich immer fester umschlungen, ihr Wippen immer weiter an Fahrt aufnahm und ihre aufgestaute Lust stetig nach oben stieg, bereit, in einem phänomenalen Höhepunkt aus ihr herauszubrechen, wurde dieser Zeitvertreib zu einer Obsession. Und sie hatte nicht einmal etwas dagegen. „Denkst du, sie vermissen uns so mittlerweile?“, fragte Ezra und lauschte den dumpfen Geräuschen, die nach oben drangen, während er genüsslich an seiner Zigarette zog. Severa kuschelte sich an seine verschwitzte Brust und zog die lange Decke enger, die der Mensch um seine Schultern gelegt hatte und sie wie ein Vorhang verdeckte. Sie saß auf seinem Schoss, hörte das ruhige Pochen seines Herzens und nahm den kratzigen Duft des Tabaks auf. „Mich vermisst man nicht. Als Zwergin wird man schnell übersehen. Aber Mikkalia und mein Master werden sich sicherlich fragen, wo Ihr bleibt…“ „Das geht die Welt nun wirklich nichts an.“ „Ist das Eure allgemeine Einstellung? Ihr… taucht ungefragt auf Banketts auf, verprügelt Leute auf offener Straße… schlaft mit einer Zwergin, obwohl Ihr ganz genau wisst, welchen Ruf Euch das einbringt…“ „Gerade wirktest du nicht, als würde es dich stören“, säuselte er und küsste ihren Hals, dass sie ein wohliger Schauer überkam. „Ich frage mich nur… warum? Was habt Ihr davon?“ Ezra schwieg und nahm einen kräftigen Zug, verteilte den schwarz-weißen Dunst im Raum. „Wahrscheinlich nichts, außer einer Menge Ärger. Aber für dich nehme ich den gern in Kauf… Du bist so wunderschön, Severa. Und anders als alle, denen ich jemals zuvor begegnet bin.“ Severa konnte es nicht unterbinden, rot zu werden, doch schlug zugleich traurig die Augen nieder. „Anders, ja? Manchmal wünschte ich mir dem wäre nicht so…“ „Du redest von deinem Leben zwischen den Stühlen? Halb Zwergin und halb Elfin. Ich kann mir nicht in Ansätzen vorstellen, wie viel Ärger dir das einbringt. Darf… ich dich fragen, welcher Teil von wem vererbt wurde?“ Eigentlich wollte die Zwergin mit niemandem darüber reden. Vielleicht war es die Anziehung, vielleicht der Umstand, dass sie beide nackt in ihrem Bett lagen, aber die Worte kamen ihr langsam aus dem Mund, während sie sich fester an ihn drückte und er sie noch enger umschloss: „Mein Vater war ein Zwerg, meine Mutter eine Elfin. Es gab einen Aufstand, irgendwo im Kesseltal. Meine Mutter war damals als Aufseherin angestellt und als Erste am Ort des Geschehens. Die Arbeiter übermannten sie, zerrissen ihre Kleidung und ihr Anführer… Sie war für Elfenverhältnisse nicht sonderlich schön, aber im Vergleich zu Zwergen liegen da immer noch Welten dazwischen. Aus dieser Nacht war ich entstanden.“ Severa machte eine kurze Pause. Sie hatte nie viel über ihre Mutter nachgedacht, hatte sie nie kennengelernt und hegte daher auch keinen Groll ihr gegenüber. Sie konnte es sogar verstehen, dass ihre Mutter sie nach der Geburt hatte umbringen wollen. Trotzdem tat es ihr weh, darüber zu sprechen. Ezra spürte das, streichelte sanft ihr Gesicht und drehte sie zu ihm, um ihr einen beruhigenden Kuss auf die Lippen zu geben. „Du musst darüber nicht sprechen, wenn du nicht willst“, flüsterte er und machte Anstalten aufzustehen und sich anzuziehen. „Wo wollt Ihr hin?“ „Wieder nach unten, bevor es verdächtig wird. Bleib du ruhig noch ein wenig hier.“ Mit diesen Worten griff er in seine Westentasche und beförderte eine nicht einmal faustgroße, hölzerne Figur hervor. Sie zeigte eine Art Wildhund, der in klassischer Shinjuer Tracht im Schneidersitz vor einem saß, und eine Art Würfelbecher in der Hand hielt. Severa beäugte die schöne Schnitzerei neugierig, fuhr über das knochige Holz mit den tiefen Maserungen. „Was ist das?“, fragte sie schließlich, kurz bevor sich Ezra aufmachte zu gehen. „Eine altasterische Gottheit; Inutarot, der Hund des Schicksals. Es heißt, dass seine Götzen Glück bringen.“ „Fürchtet Ihr Euch, vor den Konsequenzen?“ „Ich fürchte mich davor, was dir blüht, nicht mir. Es mag etwas abergläubisch wirken, aber ich glaube, er hat mich schon vor einigem bewahrt. Bestimmt tut er das auch für dich.“ „Aber… warum ich?“ Ezra drehte sich noch einmal um, ging auf sie zu, griff in ihren Schopf und küsste sie ein letztes Mal, lang und innig. Die Zwergin schloss die Augen und träumte sich zurück zu den Momenten zuvor, eng umschlungen und in der Hitze vereint. Doch zu schnell löste sich diese Erinnerung wieder auf, als seine Lippen die ihren verließen. „Ganz einfach: Weil du für mich der wahre Schatz von Lyn’a’Tishal bist.“ Mit diesen Worten ließ er sie allein, übermannt von der Glut in ihren Wangen. Severa nahm den Götzen an sich und drückte ihn fest gegen ihre Brust, spürte ein schwaches, kaum vernehmliches Wummern, das von dem Holz ausging. Dann, als sie sich selbst wieder einkleiden wollte, bemerkte sie, dass Ezra in der Eile seine Weste vergessen hatte – und sie erkannte ein gefaltetes Papierstück in ihrer Innentasche. Als der letzte Gast ging, neigte sich die Nacht bereits ihrem Ende zu. Draußen war es noch stockfinster, doch die Sonne kroch bereits langsam über die Gipfel am Horizont, noch verschüchtert, doch es würde wohl nicht mehr lang dauern, bis der Tag startete. „Lasst es stehen, Mikkalia. Die Hauszwerginnen werden es gleich wegräumen. Ruht Euch besser aus“, meinte Cirdan zu der Elfin, die bereits anfangen wollte, noch in der Abendgarderobe in bester Gewohnheit das Buffet abzuräumen. Mikki schaute kurz auf, dann nickte sie, winkte Severa noch einmal schwach und mit kleinen Zug zu und stieg langsam die Treppe hoch. „Sie sieht müde aus“, bemerkte der Elf und schaute zu seinem Freudenmädchen, das ihm gerade noch einen letzten Schlaftrunk mischte. „Ich denke, wenn jemand immer nur die Gastgeberin spielt, ist der Gast eine anstrengende Rolle“, meinte Severa und überreichte ihrem Herrn den Cocktail aus schwerem Wein einem Schuss Eiswasser, viel Minze und einigen passierten Beeren für die Süße. Sie lächelte mild und sagte: „Ich denke, das Fest war ein großer Erfolg, Master.“ „Wie immer. Sterlinson hat mir einen äußerst zuvorkommenden Preis zugesagt, dass ich mir fast Sorgen machen müsste, ihn über den Tisch zu ziehen.“ „Er hat sich halt gut amüsiert.“ „…So, hat er das?“, fing Cirdan an und kniff die Augen argwöhnisch zusammen. Severa biss auf ihre Zähne, ließ sich aber nichts anmerken. „Ich… denke schon.“ „Soso… Und du hast damit nichts zu tun? Sevvi, halte mich nicht für dumm. Ich habe gesehen, wie er dir ins Obergeschoss gefolgt war.“ Die Zwergin schaute betroffen zu Boden. Ihr wurde klar, dass sie ihn nicht anlügen konnte und versuchte es gar nicht. Den gesamten Abend hatte Cirdan sich nichts anmerken lassen, nun also fiel seine Maske. Der Götze hatte ihr kein Glück gebracht. Doch zu ihrer Überraschung stellte der alte Elf nur seufzend das Glas ab und gähnte lang, bevor er meinte: „Du meinst es wahrscheinlich nur gut, deswegen lasse ich dir das durchgehen. Aber ab sofort hältst du dich von Sterlinson fern, hast du das verstanden? Er ist nicht das, wofür er sich ausgibt.“ „Ich habe verstanden, Master…“ „Gut. Dann geh dich gründlich waschen, du stinkst nach seinem Rauch.“ Severa verneigte sich tief. Cirdan klang alles andere als erfreut, doch vermutlich lief der Abend zu gut, als dass er nun wirklich wütend sein wollte. Aber er würde das so nicht stehen lassen, das war nur eine Frage der Zeit. Vielleicht… vielleicht sollte sie doch ihren Trumpf ausspielen. Sie griff in ihr Dekolleté und holte den Zettel hervor, schaute noch einmal darauf, bevor sie sich an den Elfen wandte. „Ich habe noch etwas für dich.“ Cirdan riss es ihr genervt aus der Hand und für den ersten Moment wollte er nicht mehr als einen flüchtigen Blick darauf werfen. Dann jedoch hielt er inne. „Das ist… eine Seekarte mit der Route nach Asteria. Wo hast du… vergiss es, ich frag besser nicht.“ Geistesgegenwärtig faltete er das Papier zusammen und streichelte wohlwollend die Wange der Zwergin, bevor er ihr bedeutete, jetzt zu gehen. Severa wollte bereits die Treppe nach oben steigen, da hielt Cirdan sie ein letztes Mal auf. „Was ich dir gestern Nachmittag gesagt habe, meinte ich auch so. Du bleibst an meiner Seite. Also sei so lieb und schau dich nicht woanders um.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)