Glücksverfluchte von Lazoo (Die Champions von Asteria) ================================================================================ Kapitel 9: Nachtschleicher -------------------------- Severa konnte nicht schlafen. Die Knie ans Kinn gezogen saß sie in ihrem dünnen Nachtgewand in dem Türrahmen zum Balkon gelehnt und starrte in die milde Nacht, die übersättigt war von so unzähligen Lichtern der scheinbar immer wachen Stadt, dass das aus Lyn'A'Tishal bekannte Sternenmeer komplett einer mattschwarzen Decke gewichen war, sah man mal von einem langgezogenen Strich einzelner blinkender Sterne und den freudig strahlenden Monden ab. Obwohl der Herbst auch in Asteria Einzug gehalten hatte, war es hier so viel wärmer als in der Heimat und wäre der kühle Wind nicht, würde es sie auch in diesem knappen Outfit nicht einmal ein bisschen frösteln. In der Ferne hörte sie Rufe, Gesang und Gelächter untermischt mit klirrendem Glas, Pferdegeklapper und einem seltenem lautem Knallen, das dann und wann durch die Straße hallte und eine kurzzeitige Welle des Schweigens mit sich zog, bevor das Treiben weiterging, als wäre nichts Sonderbares geschehen. Und während sie so dasaß, die Stille in sich aufnahm und den Tag Revue passieren ließ, zog die Zwergin ein schmerzhaftes Fazit: Sie mochte diesen Ort nicht. Nein, vielmehr fürchtete sie sich vor ihm und seinen Bewohnern und wollte am liebsten umgehend wieder nach Hause. Auch wenn sie in der Heimat von allen Seiten verachtet wurde, so genoss sie zumindest eine gewisse Immunität. Hier jedoch – das hatte sie schmerzlich selbst erfahren – war Cirdans schützende Hand vollkommen nutzlos und der Tod an jeder Ecke lauernd, bereit ihr ans Leder zu gehen. Nicht aus Hass oder Verachtung oder Ideologie, sondern einfach, weil sie gerade zur Verfügung stand. Kein Wunder, dass selbst ein so zartes Pflänzchen wie diese Elfin Mikkalia immer einen kleinen Dolch mit sich führte. Und dann war da noch Cirdans Geschäftspartner... ganz gleich, wie sehr Ezra Sterlinson sie auch an jenem Abend im Anwesen fasziniert hatte, ganz gleich seiner Ausstrahlung und seines Charmes, die sicherlich nicht wenige Damen um den Verstand brachten, gerade jetzt hielt sie ihn von allen am gefährlichsten. Hinter seiner überfreundlichen Fassade versteckte sich ein kaltblütiger Mann, der anscheinend mit Freude andere zu Tode quälte... sie hatte es im Funkeln seiner azurblauen Augen klar erkennen können. Die Bilder des rostroten Flusses auf dem Rinnsal, das klägliche Heulen und das matte, gar unwirkliche Klatschen, das in ihren Ohren widerhallte, schossen wieder in ihren Kopf, liefen ihren Hals hinunter und pressten auf die Magengegend, bis ihr davon schwindelig wurde und Tränen in die Augen schossen. Es wäre fast das erste Mal geworden, dass sie jemandem beim Sterben zugesehen hätte – angsterfüllt, hilflos und ohnmächtig. Sie kippte zur Seite und bemerkte den immensen Druck in ihr, welchen sie schon seit ihrer Ankunft beim Fuchsbau vehement zurückhielt und nun wie ein eiserner Schläger auf ihr Gemüt hämmerte, sie dazu zwang, ihren Schutzpanzer abzureißen. Es war ein Schwall, der sich in ihr breit machte und sie konnte ihn nicht mehr länger unterdrücken... Sie musste dringendst aufs Klo. Aus der Nähe vernahm sie das langgezogenen Schnarchen ihres Herren, mit dem sie sich tatsächlich das Zimmer teilte – eine Premiere, denn obwohl sie oft zur Bespaßung in seinem Bett lag, eine Übernachtung im gleichen Zimmer war bisher unvorstellbar gewesen. Dennoch hatte der Elf darauf bestanden und eigentlich würde sie sich darüber freuen, doch gerade war dies beim besten Willen nicht möglich. Aber immerhin war er in der Nähe. Langsam schlich sie sich zu ihm und legte die Hände an seine unbedeckte Schulter, hielt jedoch einen Moment inne. Sollte sie es wirklich wagen, ihn zu wecken? Ihr Herr war den ganzen Tag schon ungehalten und hatte sie vorhin mit einer derartigen Leidenschaftslosigkeit zu einem Stelldichein gezwungen, das er selbst auch noch vorzeitig abbrach, um sich hinzulegen. Er war frustriert von der ganzen Situation, da konnte diese elfische Hausdame sich noch so viel Mühe geben – insbesondere, wenn selbst seine liebste Sklavin von der Bettkante gestoßen wurde. Und nur der Himmlische wusste, was passieren würde, wenn sie ihn nun weckte. Egal, sie musste raus und sie wollte nicht allein gehen. Zu sehr fürchtete sie sich vor dem Unbekannten. „Master...“, flüsterte sie leise und rüttelte den Elfen sanft. Keine Reaktion. „Master...“ Severa trat näher an ihn, hauchte ihm fast ins Ohr und festigte den Griff an seiner Schulter. Der Elf räkelte sich kurz genervt und schlug die vom Schlaf zugeklebten Augen auf. „Was?“, grummelte er und funkelte sein Freudenmädchen an. Erste Erkenntnis: Wecken war keine gute Idee. „I-ich“, stammelte sie unsicher und zuckte einen kleinen Schritt zurück. „Ich muss mal...“ „Dann geh doch...“, antwortete der Elf mit knarrender Stimme und drehte sich wieder um. „A-aber...“, wollte sie noch ansetzen, doch wurde umgehend unterbrochen, wobei der Elf keine Anstalten machte, sie auch nur anzusehen. „Sevvi, ich bin totmüde und genervt und im Allgemeinen äußerst angefressen, falls du es nicht gemerkt haben solltest! Für das Klo brauchst du weder meine Zustimmung noch meine Unterstützung! Also halt die Klappe und verschwinde! Was für ein Ärger. Und das von der, die mich eigentlich aufmuntern soll...“ Mit seinem zuletzt gefluchten Satz zog der Elf sich die Decke über den Kopf und ließ die Zwergin mit ihren Problemen zurück. Es war nicht so, dass Severa es nicht gewohnt war, angeschrien zu werden, doch genau in diesem Moment tat es ihr sehr weh, immerhin bat sie doch hilfesuchend um seinen Schutz. Warum verstand er das denn nicht? Ein zweites Grummeln ging durch ihr Becken. Es hatte keinen Zweck, wenn sie noch weiter zögerte, dann würde ihr noch ein Missgeschick passieren, was die Situation sicherlich nicht zum Besseren wenden würde. Langsam schlich sie los und tastete sich zur Tür, die in dem leeren Raum immerhin recht schnell zu finden war. Irgendwo musste sich doch noch eine dieser Papierlampen befinden, dachte sie noch und ergriff im letzten Moment den dünnen, geriffelten Stoff eben jener Lichtquelle. Wie hatte Mikki ihnen das noch einmal gezeigt? Einfach die obere Fläche antippen und entweder an Licht oder Finsternis denken? Vorsichtig legte sie den Finger daran und stellte sich vor, wie die Laterne aufhellte. Für einen Moment passierte nichts, dann jedoch flackerte ein schwaches Licht auf, viel stärker gedimmt, als sie es in Erinnerung hatte, aber hell genug, um den Konturen in nächster Nähe ein Gesicht zu geben und sich fortzubewegen, ohne über alles zu stolpern. Anders als ihr Master hatte sie das Prinzip der Papiermagie recht zügig verinnerlicht – eventuell auch, weil sie nie direkt mit den Kristallen von Lyn'A'Tishal in Berührung gekommen war – dennoch bedurfte es bestimmt einer nicht zu unterschätzenden Menge an Übung, bis man sie wirklich beherrschte. Noch einmal atmete sie tief durch, schob dann die hölzerne Tür zur Seite und trat auf den leeren Flur. Nach links und rechts erstreckte sich ein schier endloser Gang, dessen Finsternis alle Abzweigungen verschluckte und die Beklommenheit der Zwergin nur noch weiter verstärkte, denn viel mehr, als das vor dem Abgrund des Treppenhauses schützende Geländer und die Wände aus Holz und Papier sah sie nun wirklich nicht. Sie wusste, dass sie nach links gehen, dann die offenen Holzstufen nach unten bis zur sechsten Ebene hinabsteigen und ab da der Beschilderung zu den Latrinen folgen musste. „Ist an sich ganz gut zu finden“, hatte Mikki dazu gesagt... Sie hatte jedoch nicht erwähnt, dass man sich bis zum Erreichen des Stillen Örtchens mehrmals in die Hose gemacht hatte! Hier im Treppenhaus, dem durch unzählige Brücken und Stege verschlungene Zentrum des Fuchsbaus, wo noch wenige Stunden zuvor ein lautes Durcheinander die Hallen dominiert hatte, herrschte nun eine geradezu gespenstische Stille, die jedes Knarren der Dielen über unzählige Etagen hinweg widerhallen ließ, wie das gequälte Stöhnen verlorener Seelen, die ziellos umherwanderten, einsam darauf wartend, jemanden anzufallen. Und mehr noch wurde die Zwergin das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden, neugierig lauernd angestarrt... und es war definitiv kein Mensch oder Elf. Nein, dieses Wesen – wenn es das denn gab – musste etwas Wildes sein, etwas allzu Fremdländisches und je länger sie darüber nachdachte, bildete sie sich ein, ein Kratzen und Schaben über sich zu fühlen, gefolgt von einem seltsam angenehmen Geruch, der so überhaupt nicht zu der Bedrohung passen wollte. „Reiß dich zusammen, das ist nur deine Fantasie! Sorge einfach dafür, dass du schnell fertig und wieder im Bett bist“, ermahnte sich Severa zähneknirschend und huschte schnell aber bedacht die Etagen hinab, ignorierte, was links oder rechts von ihr passierte – wenn denn überhaupt was passierte, denn alles was sich an den Seiten abspielte, war tiefe Finsternis. Dennoch konnte sie sich nicht dem Gefühl erwehren, dass ihr etwas auf den Fersen war. Nichts sah sie, nichts, das sie angreifen würde, aber leider auch nicht die gewünschte Beschilderung. Verflucht, wo waren denn nur die rettenden Latrinen?! Hatte sie sich in ihrer Flucht jetzt auch noch verzählt und war in einem komplett anderen Stockwerk rausgekommen? „Mist Mist Mist Mist Mist!“ Panisch wirbelte sie zu allen Seiten, unsicher, was sie nun tun sollte. Sie brauchte das rettende Schild, irgendwo musste es doch sein! Was für eine dämliche Idee, überhaupt nur auf der passenden Ebene Wegweiser aufzustellen! „Moment...“ Severa hielt kurz inne. „Im Erdgeschoss gibt es doch auch noch einen Abort. Dann gehe ich dorthin.“ Schnell fand sie die Treppen wieder und stolperte hastig die knarzigen Stufen hinab, denn langsam wurde es wirklich allerhöchste Eisenbahn. Ein paar Mal rutschte sie über die Kante, schaffte es aber immer, den Sturz knapp abzuwenden, bis sie endlich den festen Steinboden der ersten Ebene unter ihren Füßen spürte. Und endlich zeigte sich auch das rettende Örtchen, in geschwungenen Zeichen für Frauen und Männer getrennt. Schnell trat die Zwergin durch die Tür, suchte sich die erstbeste Kabine und ließ der Erleichterung freien Lauf. Müde kippte ihr Kopf nach vorne, legte sich in ihre Handflächen, während sie sich auf die Oberschenkel stützte. Wie viele Jahre ist es wohl her, dass ein einfacher Stuhlgang so nervenaufreibend für sie war? Jedoch hatte sie wenigstens in diesem Moment noch einmal die Chance, nachzudenken... in Ruhe, ohne Druck auf der Blase... Gerade allerdings ging ihr eines besonders nicht aus dem Kopf: Wie Cirdan sie angefahren hatte. Es wurde ihr bewusst, dass der Elf sich schon den ganzen Tag, seit der Geiselnahme, ablehnend ihr gegenüber verhielt; wie Ballast, den er mitnehmen musste, nicht weil sie nötig war, sondern weil es sich geziemte sie mitzunehmen. Wie ein leidiges zweites Schuhpaar, von dem man ganz genau wusste, dass man es nicht tragen würde. Sie musste mit, weil man sie allein zuhause wohl gelyncht hätte, nicht weil Cirdan es wirklich wollte, sondern weil er sich in der Verantwortung sah, sie zu beschützen. Letzten Endes blieb sie nur eine minderwertige Sklavin, die für nicht mehr gut war, als die Beine breit zu machen, auch in den Augen ihres Masters... Lieblingssklavin war anscheinend auch nur eine bedeutungslose Floskel, die man mal so dahinsagte, wenn einem danach war. Missmutig stand sie auf und kippte etwas Wasser in die Öffnung aus einem dafür bereitstehenden Eimer. Dann verließ sie die Kabine, wusch sich kurz über Hände und Gesicht aus einem kalten Becken, und rieb sich etwas mit dem Stück Seife ein, das direkt daneben platziert war. Den Raum erfüllte umgehend ein intensiver, süßlich-frischer Duft, den sie nicht von Seifen aus Lyn'A'Tischal kannte. Es roch nicht parfümiert, sondern eher, als habe man frische Früchte und Kräuter in die Seife hineingearbeitet. Fester umschloss sie die Seife, ließ die glatte Oberfläche durch ihre rutschigen Finger gleiten und konzentrierte sich auf die unterschiedlichen Akzente in der Luft, eine Kombination aus fremden und vertrauten Gerüchen, die jedoch so eng miteinander verschachtelt waren, dass sie keinen einzigen wirklich klar herauslesen konnte. Ihre Gedanken verloren sich an die Glücksgefühle ihrer befriedeten Neugierde, als sie Shiros Ohren anfasste, durch die weichen Haare strich. Dann jedoch wurde das Bild gestört, unterbrochen von aufflackernden Blutschwaden und schmerzhaftem Geheul, untermischt mit dem eisigen Gefühl der Todesangst, das das Blut in den Adern gefrieren ließ. Schlagartig riss die Zwergin die Augen wieder auf und warf die Seife panisch von sich, als würde eine giftige Substanz austreten. Etwas drehte ihren Magen auf links und zwang sie in die Knie, presste allen Unmut so stark heraus, dass ihr ein paar dicke Tränen aus den matschgrünen Augen kullerten und sie wimmernd vor dem Waschbecken zusammenbrach. Sie wollte nach Hause. Einfach nur noch heim, weg von dieser boshaften Welt. Was wollte Cirdan überhaupt hier? Die Geschäfte liefen schlecht, ja, aber... es ging ihnen doch gut! Severa las ihm jeden Wunsch von den Augen ab und wurde dafür aus der Ferne vergöttert, mehr brauchte es doch nicht! Seit sie hier waren, lief alles mit jedem Moment nur noch schlimmer, in einer immer steiler werdenden Spirale hinab Richtung Katastrophe, das spürte sie genau. Asteria tat ihnen nicht gut... Ezra Sterlinson tat ihnen nicht gut! Eine ganze Weile lag sie so da und atmete tief durch, starrte ins dämmrige Nichts, bis sie ein lautes Rumoren vor der Tür hörte, zusammen mit schweren Schritten. Stimmen waren zu hören. Ruckartig richtete sie sich auf und glättete ihr Nachthemd, wollte schon die Tür aufschieben, da hielt sie aber einen Moment inne. Wer außer ihr würde sich denn mitten in der Nacht hier herumtreiben? Sie löschte die Laterne, stemmte sich mit aller Kraft gegen die Tür, damit sie niemand öffnen konnte, und lauschte gebannt. Zwei Männerstimmen konnte sie vernehmen, beide recht vertraut. „Ich bitte Euch, lasst mich gehen“, meinte die erste, mit einem eindringlichen, gar besorgten Unterton, auch wenn ihr Besitzer alles dafür tat, dies zu verbergen und möglichst neutral zu wirken. Sie gehörte dem weißhaarigen Fuchsmenschen von heute morgen. „Schlaft Euch aus, Ihr werdet die Kraft morgen brauchen. Ihr seht so aus, als hättet Ihr schon tagelang kein Auge mehr richtig zugekriegt.“ „Shiro, ich stehe vor einem Haufen Scherben, habe nichts in der Hand um diese aufzukehren und mindestens vier Paar Augen im Rücken, die mir aktuell genaustens auf die Finger gucken. Da werde ich sowieso nicht schlafen können und untätiges Warten ist so ziemlich das Widerlichste auf der Welt. Sogar noch vor eingelegter Rinderzunge und die ist ja schon wirklich grenzwertig..“ Die zweite Stimme war Sterlinsons, keine Frage. Was wollte er denn noch so spät hier draußen? Es klang, als habe er noch etwas vor... Fester presste sich Severa an die Tür, als könne sie das Gespräch so besser hören. „Die ganze Situation wird nicht besser, wenn ihr übermüdet eine Frau besuchen werdet, die jedem Mann ohne weiteres den Kopf verdrehen kann – auch Euren. Ich will nicht, dass sie Euch zu Dingen überredet, die uns noch weiter in Gefahr bringen.“ „Nun unterschätzt du aber gerade Belles Vernunft. Nichts auf der Welt ist umsonst, auch Informationen nicht, aber sie sollte realistisch genug denken können, dass ein Ausbruch aktuell keine Option ist. Und so schnell wird man sie schon nicht hinrichten, wenn sich der Palast mitten in den Vorbereitungen für Fräulein Nomizons Vermählung befindet. Ich werde sehen, was sie verlangt und was sie mir anbieten kann.“ „...Und was, wenn sie Euch doch verführt? Bei mir könnte sie das nicht machen.“ „Shiro, du weißt, ich liebe dich und vertraue dir blind. Aber in diesem Moment muss ich das allein tun. Ich habe Lord vei Brith nach Asteria geführt und musste dafür einen Haufen Zusagen machen.“ „Verstehe“, antwortete der Fuchsmann nach einigem Zögern. „Was verstehst du?“ „Ich verstehe, dass ich Verantwortung für mein Versagen übernehmen und Euer Vertrauen erst wieder zurückgewinnen muss. Daher bitte ich Euch lasst mich, meinen Wert bewei-“ Shiro unterbrach plötzlich seinen Satz für einen Moment der Stille. Für einen Moment blieb Severa in einer unwirklichen Finsternis zurück, die sie fast daran zweifeln ließ, ob das hier wirklich passiert war. „Welchen Wert willst du denn beweisen?“, fragte Ezra. Seine Stimme war viel ruhiger als zuvor, fast schon sanftmütig und die Zwergin musste sich große Mühe geben, ihn überhaupt zu verstehen. „Du bist unbezahlbar, das weißt du doch. Und jetzt hör auf, dir Vorwürfe für den Überfall zu machen. Niemand hätte das vorhersehen können... Du willst Sunnys Tod rächen, nicht wahr? Ich weiß, der Kleine hatte es dir angetan.“ „Ja, Meister...“ „Dann werde ich dir auch die Möglichkeit dazu geben, aber vorher musst du mich tun lassen, was ich tun muss. Die ganze Geschichte war jetzt schon viel teurer als geplant. Ich akzeptiere nicht, nun wegen einem kleinen Vorfall zu versagen.“ „Dann reißt Euch mal besser am Riemen. Eine Schlägerei wie heute morgen hat das Vertrauen in Euch nicht verstärkt... Immerhin benutzt Ihr diesen Elfen doch nur, oder?“ Benutzen? Severa wurde hellhörig, drückte sich so fest gegen das kühle Holz, dass sie wohl gleich die Tür aus ihren Angeln reißen würde und spitzte die Ohren noch ein bisschen mehr, auf dass sie keinen Satz verpassen würde. Nichts anderes um sie herum, außer dem Gespräch auf der anderen Seite der Tür nahm sie noch wahr. Warum sie das tat, war ihr selbst nicht gänzlich bewusst. Vielleicht konnte sie durch spionieren ihrem Master beweisen, dass sie doch noch einen anderen Wert besaß, als nur zur Befriedigung. Ezra lachte kurz auf, bevor er seinem Adjutanten antwortete. „Wir benutzen doch alle einander, oder sehe ich das verkehrt? Ich brauche ihn genauso wie er mich benötigt. Ich werde ihn weder ausrauben noch übers Ohr hauen. Er wird das kriegen, was er verlangt, nämlich einen Ausweg aus seinen Schulden. Und ich werde kriegen, was ich will...“ „Vorausgesetzt, die Kristallfusion funktioniert.“ „Da mach dir mal keine Sorgen. Ich hätte nicht Haus und Hof aufs Spiel gesetzt, wenn ich nicht daran glauben würde, dass die Fusion mehr als nur ein Gerücht sei, zumal wir dies bereits in Lyn'A'Tishal testen konnten.“ „Also bleibt nur die Frage, ob wir ad hoc eine Ersatzquelle für Asterid finden? Was ist, wenn das schiefgeht?“ „Dann trage ich die Konsequenzen dafür, war schließlich alles meine Idee. Aber das geht dann nur mich was an, nicht euch oder den Schwarzen Tisch. Darf ich dich nur für den Fall der Fälle um etwas bitten?“ „Was?“ „Wenn alle Stricke reißen, schnappst du dir Mikki und verlässt mit ihr die Stadt. Flieht irgendwo hin, wo man euch nicht kennt.“ „Meister, das kann ich nicht...“ „Du kannst und wirst! Und hör endlich auf, mich Meister zu nennen, wenn wir unter uns sind...“ Severa löste sich von der Tür. Sie hatte nicht alles verstanden, aber eindeutig genug gehört. Wie es schien, stand es um Sterlinson schlecht und er konnte ihrem Herrn gar nicht die mächtigen Zauberkristalle zeigen, die er wollte. Was bedeutete, dass sie vollkommen umsonst nach Asteria gekommen waren. Die Zwergin knirschte mit den Zähnen ob jener Erkenntnis. Innerlich hoffte sie, Cirdan würde diesem Hochstapler die Leviten lesen, ihn denunzieren und dann umgehend kehrt machen. Eigentlich kam sie ihr doch entgegen, diese Wendung, aber es machte sie wütend, dass ihr Herr solchen Ärger hatte und den an ihr ausbadete. Da bemerkte sie es: Ein Schnauben, aufgeregt und kurzatmig genau hinter ihr, gepaart mit dem brennenden Stich eines Blickes, der jeden ihrer Schritte dokumentierte, geradezu in ihre Seele hineinstarrte. Es war ein ähnliches Gefühl, wie sie kurz zuvor hatte, diesmal jedoch so unheimlich nah, dass sie es nicht mehr als Illusion abtun konnte. Etwas war hinter ihr und es war eindeutig keine Person. Das kleine Herz der Zwergin wummerte tief und laut in ihrem Kopf wieder und schnürte ihr in seiner Raserei die Luft ab. Langsam, ganz vorsichtig bückte sie sich nach der Laterne zu ihren Füßen, deren Schein in ihren zitternden Händen die langen Schatten zum Tanzen brachten. Das Wesen kam ihr nicht näher, doch sie bemerkte ganz eindeutig die Anspannung in diesem Raum und dass das Tier nicht eine Sekunde zögern würde, sie anzugreifen, wenn sie nur eine falsche Bewegung machte. Eigentlich sollte sie die Tür greifen und sich einfach aus dem Zimmer bewegen, doch ein Impuls der Neugier zwang sie zu etwas, das sie definitiv nicht tun wollte; Stück für Stück drehte sie sich um, offenbarte wieder Teile des Raumes, denen sie besser den Rücken zudrehen wollte, doch ihre Füße gehorchten ihr nicht mehr. Schneller wurden die Atemstöße aus ihrem Mund, passten sich dem wilden Keuchen in ihrem Intervall immer weiter an, bis beide zu einer Masse verschwammen und sie einen Blick auf das Untier werfen konnte. Ihr Atem stockte: Zwei leere Onyxe starrten ihr direkt in die Augen, umgeben von einem pelzigen, rußfarbenen Gesicht, das zu je einer Hälfte einer Katze und einem Bären gehören musste und aus dessen schief grinsenden Maul ein paar spitze weiße Zacken und ein blutroter Lappen hervortraten. Der Rest des pechschwarzen Monsters war im Zwielicht kaum zu sehen, doch das schummrige Licht offenbarte eine Reihe gewaltiger Klauen, angewachsen an einen gar riesigen Körper aus filzigem Fell dessen Ende sich irgendwo in der Unendlichkeit befand. Geräuschlos ging die Papierlaterne zu Boden. Mit einem spitzen Schrei wirbelte Severa herum und riss die Tür auf, hechtete nach vorne, stolperte fast über die Schwelle und rannte zu den Treppen. In einem Mix aus Kratzen, Keuchen und Rascheln verfolgte die Bestie sie umgehend, blieb ihr fest auf den Fersen. Einen Sprung machend kämpfte sie sich die Stufen nach oben, nahm mehrere gleichzeitig, was mit ihren kurzen Beinen kaum möglich war, erwischte die nächste Kante immer knapper... bis das kam, was kommen musste: kurz auf der ersten Ebene angekommen, rutschte sie mit den Zehenspitzen ab, stürzte Bäuchlings auf die Stufen. Die spitzen Ecken pressten sich in ihre Haut und sendeten kleine Impulse dumpfen Schmerzes in ihren Kopf. Dann rutschte sie noch weiter, bekam die nächste Stufe nicht mehr zu greifen, versuchte mit dem linken Fuß an der unteren zu stoppen, doch verdrehte ihn dabei so stark, dass ein weiterer atemraubender Impuls durch ihren Körper schoss. Die Zwergin rutschte zur Seite und kullerte die restlichen Stufen hinab, direkt an dem Monster vorbei, während zahllose dumpfe Schläge auf sie einprasselten. Instinktiv rollte sie sich zusammen, versuchte ihren Kopf und ihren Oberkörper zu schützen, doch zog sich dafür zahllose Blessuren an ihren Armen und Beinen ein, bevor sie wieder auf dem kalten Steinboden zu liegen kam. Ihr Körper fühlte sich an wie von einer Kutsche überrollt und der taube Schmerz aus ihrem Fuß legte ihr noch immer eine feste Schlinge um den Hals, dass jeder Atemzug zu einem Kampf wurde. Für einen Moment blieb es totenstill um sie herum, nur ein dumpfes Rufen in der Ferne nahm sie war. Sie fühlte sich wie in einem ihrer Albträume, umringt von anderen Zwergen und Elfen, grün und blau geprügelt, kurz vor dem Moment, dass tausende Hände nach ihren Kleidern griffen und sie ihr vom Leib rissen. Normalerweise wurde sie spätestens dann wach... vielleicht... vielleicht war all das ja auch nur ein Traum... dann sollte sie doch jetzt wieder aufwachen, oder? Zur Antwort spürte sie den kalten, feuchten Atem der Bestie über ihr. Die Schnauze versenkte sich in ihrem Körper, tastete jede Stelle ihres Körpers ab, während die Barthaare über sie strichen. „Nein, das ist nicht real!“, redete sie sich ein. „Das ist nur ein Traum! Ein böser, böser Traum!“ Das Maul des Tieres richtete sich über sie, verströmte seinen feucht-warmen Atem, aromatisiert vom betäubendem Geruch des Todes, bevor seine raue Zunge in langen Bahnen über ihre Hände fuhr. „Geht weg!“, schrie sie und vergrub ihr Gesicht tiefer in der Armbeuge, kniff die Augen fester zusammen. „Verschwindet! Lasst mich in Ruhe!“ Die Zähne aufeinander pressend und das Gesicht von Tränen ertränkt, erwartete Severa bereits, wie das messerscharfe Gebiss sich in ihrem Fleisch vergrub, doch da bemerkte sie, wie das Gewicht auf ihr verschwand und die Zunge sich von ihr löste. Stattdessen griff eine warme Hand nach ihr und schüttelte sie. „Miss Severa! Geht es Euch gut?!“ Langsam wurde die dumpfe Stimme deutlicher und die Zwergin öffnete die Augen. Statt des Atems hing nun ein kratziger Tabakduft in der Luft und als sie nach oben sah, erkannte sie sofort den blonden Mann mit der Zigarette im Mundwinkel, welcher sich gerade über sie beugte. Wie mechanisch ließ sie sich von Ezra aufhelfen, aus dem gekrümmten Zustand in eine sitzende Position. Jedes Glied zitterte wie Espenlaub und unter ihrer Haut fühlte sich alles eiskalt an, als wäre der Umgebung plötzlich alle Wärme entzogen worden. Ein schwindelerregender Schleier der Apathie umgab sie, in derer sie auf Ezras Worte kaum reagieren konnte oder wollte. „Honigtopf muss sie ja ganz schön verängstigt haben... die Ärmste ist vollkommen weggetreten... und anscheinend hat sie sich bei dem Sturz auch noch den Fuß verletzt...“ „Dieser Vorfall bessert unsere Situation in keinster Weise“, murmelte Shiro und steckte scheinbar seine Waffe weg, dem metallischen Scharren nach zu urteilen. „Wem sagst du das... Aber das hat nun kleinere Priorität. Miss Severa muss erstmal versorgt werden.“ Mit einem kräftigen Ruck wurde die Zwergin hochgehievt und lehnte nun an der Brust des Menschen, den sie noch wenige Augenblicke zuvor so verabscheut hatte. Doch gerade hatte seine Anwesenheit etwas so beruhigend Vertrautes an sich, wie eine Zuflucht vor all dem Schrecklichen in dieser Welt... fast so wie bei Master Cirdan. „Und was wird aus Meisterin Renarchasse?“ Mit der verletzten Dame in Nöten auf seinem Arm, drehte Ezra sich zu Shiro. Aus ihren Augenwinkeln erkannte sie Teile des weißen Fells, schimmernd im Schein ihrer Laternen. „Planänderung. Gehe du zu Belle“, murmelte Sterlinson und drückte die Zwergin noch fester an sich. Der strenge Tabak hatte sich in seinen Textilien mit einem wohlriechend herben Parfum vermischt, eine Duftkombination, die wohl den eigensinnigen Charme ihres Trägers unterstreichen sollte. Noch einmal atmete er durch, dann fügte er für seinen Untergebenen hinzu: „Versuche, alle notwendigen Informationen herauszubekommen, die sie hat. Namen, Orte, Ressourcen. Sie empfängt keine Besucher und die Wachen werden nicht viel mit ihr reden, also erwarte ich schon fast, dass sie den ein oder anderen Redebedarf haben wird.“ „Verstanden. Was darf ich ihr anbieten?“, antwortete der Fuchsmensch in straffem Ton. „Was sie will und wir liefern können. Nicht weniger, aber ganz sicher auch nicht mehr. Belle darf meinetwegen ruhig das Gefühl haben, dass sie uns ein wenig über den Tisch zieht, aber wir stellen ihr keinen Blankoscheck aus. Vor allen Dingen lässt du dich nicht zu ihrem Lakai machen. Du gehst nicht auf eigene Faust los und bringst dich nicht für sie in Gefahr. Ihre Forderungen werden erst mit mir besprochen. Wenn sie unter diesen Bedingungen nicht kooperieren will, dann ist das halt so. Ich erwarte deine Rückkehr noch bevor die Sonne am Horizont erscheint. Ist das soweit angekommen?“ „Laut und deutlich, Meister Hunter.“ „Dann geh. Ich kümmere mich solange um meinen Gast...“ Severa bemerkte jede Stufe in ihren Knochen, während Ezra schnell die Treppe hinaufstieg. Trotz aller Finsternis um sie herum konnte sie genaustens zählen, in welcher Etage sie sich gerade befanden. Der Mann beendete den Aufstieg in der zwölften – was bedeutete, dass er sie nicht sofort zu Cirdan brachte. Würde er sie nun zur Verschwiegenheit ermahnen, gar bedrohen, oder galt es nur zur Versorgung ihrer Wunden? Oder hatte er vielleicht noch ganz andere Dinge mit ihr vor? Gerade in diesem Moment konnte sie sich jede Möglichkeit ausmalen. Die Zwergin hatte in ihrem 120-jährigen Leben unzählige Blicke unterschiedlichster Intention ertragen und wusste daher von der ersten Sekunde an, worauf die blauen Augen des Menschen bei ihr starrten. Und so sehr sie sich auch fürchtete, so sehr konnte sie jedoch auch nicht die Anziehung für ihn verleugnen, die in diesem Moment nur allzu deutlich in den Vordergrund trat. Vielleicht spielte ihr aber auch nur das Adrenalin in ihrem Kopf einen Streich. Noch während sie darüber nachdachte, legte Ezra sie auf ein weiches Bett und verließ mit einem „Wartet kurz, ich bin gleich wieder da“ das Zimmer, wobei die Zwergin aktuell sowieso keinerlei Anstalten machen konnte, zu gehen. Der Raum war äußerst geräumig, wenn auch nur simpel und geradezu schmucklos eingerichtet: Nebst dem Bett, das sie sehr an all jene zuhause erinnerte, fand sich noch ein Schreibtisch mit Laterne und einem Haufen unzähliger Dokumente darauf, eine Zimmerpflanze, die ein wenig wie ein Miniaturbaum aussah und ein großer hölzerner Kleiderschrank – ähnlich dessen, den sie aus Cirdans Schlafzimmer kannte. Im Allgemeinen erkannte sie nur allzu deutlich den tischaler Stil, der ansonstenso dominant in Shinju gar nicht vorhanden war und damit war auch klar, wer hier für gewöhnlich hauste. Das war also Sterlinsons Gemach. Erstaunlich aufgeräumt, meinte sie noch in Gedanken, da fiel ihr eine kleine Rolle auf dem Nachttischchen neben ihr auf. Das versiegelte Band war entknotet worden und sie erkannte an dem leicht geöffneten Stück, dass es eine Zeichnung sein musste, zumindest machten die geschwungenen Formen diesen Eindruck. Auch wenn sie sich heute als äußerst schädlich herausgestellt hatte, so packte sie ihre Neugierde ein weiteres Mal am Schopfe und führte ihre Finger zu der Rolle. Doch gerade, als sie sich danach strecken wollte, zuckte sie zurück, denn das Rascheln vor ihr klang doch schwer nach Ezras Rückkehr. Er trug ein kleines Tablett, worauf sich ein Schälchen und diverse Tinkturen befanden. „Zeigt mir mal Euren Fuß her“, murmelte er, während er sich zu ihr setzte und ein Tuch mit Flüssigkeit aus einer der Flaschen zu tränken begann. Die Zwergin zögerte... sie wollte noch nicht so recht glauben, dass von ihm keine Gefahr ausging, zu groß saß der Schock. „Nun stellt Euch nicht so an. Ich werde Euch schon nichts tun“, sprach er daraufhin mit einer unüberhörbaren Ungeduld im Ton, griff nach dem vorsichtig vorgestreckten Bein und zog ein wenig daran, was mit rasender Geschwindigkeit einen stechenden Impuls in ihren Kopf schießen ließ, der ihr die Luft erneut abschnitt. Severa biss die Zähne zusammen, doch ließ den Mann in Ruhe das kühlende Tuch auf ihr Bein legen und verbinden. Das Mittel zog sofort ein und linderte den drückenden Schmerz. „Das ist ein altes Hausmittel. Es lockert das Gewebe und streckt die Muskulatur wieder, während es zugleich den Reiz unterdrückt. Ihr werdet wohl gleich wieder halbwegs normal laufen können. Die vollständige Heilung der Verstauchung wird aber ein wenig dauern. Ich sage morgen früh Mikki Bescheid, sie soll einmal am Tag den Verband erneuern.“ „Danke...“, flüsterte Severa so still, dass der Mensch ihre Worte wahrscheinlich nur erahnen konnte. Ihr war es nicht gestattet, sich ausladend mit Fremden zu unterhalten und Cirdan hatte sie noch ausdrücklich um Distanz zu Ezra ermahnt. Und dennoch saß sie – ein Freudenmädchen – nun hier auf seinem Bett und ließ sich von ihm anfassen und nach Kräutern und Alkohol riechende Paste auf ihre blauen Flecken auftragen. Und ihr entging nicht, wie lüstern der Mensch über ihre Haut strich, auch wenn er sich äußerlich nichts anmerken ließ. „Nicht dafür, Miss Severa. Das ist das Mindeste was ich gerade tun kann und außerdem hatte ich noch gar nicht die Chance, mich auch bei Euch für die Ereignisse zu entschuldigen. Im Übrigen...“ Er griff nach der Schublade seines Nachttischs und kramte ein schneeweißes mit Spitze besetztes Stück aus glänzender Seide hervor. „Ich denke, das gehört Euch. Das hattet ihr wohl bei Tetsuros Angriff verloren.“ Severa erkannte sofort ihr Taschentuch und griff danach. Es war frisch gewaschen worden, dennoch hatte sich ein Teil des Duftes des Blonden Mannes umgehend daran geheftet. „Es lag im Schmutz, deswegen wurde es einmal gereinigt. Leider hatte sich vorher noch keine Möglichkeit ergeben, Euch das Tuch diskret wiederzugeben. Aber jetzt habt ihr es ja wieder.“ Severa nickte kurz und drückte das Tuch fest an sich. Eigentlich hatte es keinerlei Wert, sie führte normalerweise noch weitere stets bei sich, aber Cirdan hatte sie belehrt, stets Dankbarkeit zu heucheln, selbst wenn die Geste unbedeutend war und sie wollte ihre gute Schule nicht vergessen. Ezra schaute sie einen Moment an tastete mit seinen Augen jeden Zoll ab, und lächelte mild, bevor seine Lippen etwas unverständliches formten. „W-was?“ „Ich wollte sagen, bitte entschuldigt auch, dass Honigtopf Euch solche Angst eingejagt hat“, korrigierte er und drehte sich von ihr weg. Auch wenn die Zwergin sein Hauchen nicht vernommen hatte, aber es war definitv nicht das, was er nun gesagt hatte. „Das ist eigentlich nicht seine Art, aber er muss wohl aktuell nicht viel Auslauf bekommen haben. Eigentlich wollte er Euch nur begrüßen.“ „H-honigtopf?“, wiederholte die Zwergin und legte den Kopf schief. Sprach Sterlinson etwa von diesem Ungetüm? „Der Schattenschleicher, der Euch so überrumpelt hatte.“ Er sprach definitiv davon! Schattenschleicher... die Bezeichnung sprach doch schon Bände. Warum gab man einer Bestie denn dann so einen harmlosen Namen, wollte sie noch fragen, doch da setzte ihre Stimme aus, denn geradeaus erkannte sie, durch den Spalt der Tür starrend eben jene leeren Augen. Wieder einmal zog sich alles in ihr zusammen. Fester presste sie sich gegen das Kopfende des Bettes und hielt den Atem an, als würden die wenigen Zoll zusätzlichen Platz irgendetwas an der Situation ändern. Auch Ezra bemerkte den ungebetenen Gast, doch machte keine Anstalten ihn wegzuscheuchen. Stattdessen stand er auf, schob die Tür komplett auf und schaute das Tier erwartungsvoll an. Und es starrte zurück. Sehr lang. „Was ist denn nun?“, fragte er und hob die Hände genervt. „Raus oder rein, aber entscheide dich mal.“ Langsam kroch das Wesen hinein, zog seine Bahnen im Zickzack über den Boden, fast wie eine pelzige Schlange. Im Schein des Lichtes konnte Severa es zum ersten Mal richtig in Augenschein nehmen und musste erkennen: von dem angsteinflößenden Ersteindruck blieb nicht mehr viel übrig. Sicherlich, das eigenartige Wesen, was scheinbar eine Mischung aus Katze, Bär und Hund darstellte, war mit seinen gut und gern fünfeinhalb Fuß alles andere als klein – sein schmaler, zugleich aber recht buschiger Schweif verdoppelte diese Länge sogar nochmal. Doch Gebiss und Klauen waren auch nicht viel beeindruckender als bei anderen Raubtieren, die Zunge schien weniger blutrot sondern eher wie ein sehr dunkles Rosa und die dunklen Knopfaugen schauten so desinteressiert in der Gegend herum, dass man das Gefühl bekam, es würde schlafwandeln. Einzig seltsam blieb die Tatsache, dass es nicht auf vier Beinen lief – sondern auf sechs. „Darf ich vorstellen: Honigtopf. Unser...“, Ezra hielt kurz inne und kraulte den Kopf des sonderbaren Tiers, das dies sichtlich genoss und dankbar schnaubte. „Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was Honigtopfs Aufgabe hier ist. Außer herumzuwuseln und unsere Mülleimer zu plündern.“ „Was ist das?“, rutschte es Severa raus. „Das ist ein Schattenschleicher. Ein in Ost-Asteria sehr verbreiteter Jäger. Er ist in der Dämmerung und in der Nacht am aktivsten und nutzt seine wendige Gestalt, um sich mit den Schatten zu bewegen. Daher der Name, auch wenn man sie genauso gut 'schlafraubende Bettvorleger' hätte nennen können, nicht wahr, du alter Chaot?“ Mit dem letzten Satz griff er tiefer ins filzige Fell und verwuschelte das Haupthaar, was Honigtopf zwar sichtlich genervt aber still ertragend zur Kenntnis nahm, wodurch auch in Severa langsam die Furcht abflaute und sie sich traute, näher an den Schattenschleicher heranzutreten. „Ist er... gefährlich?“ „Naja, die Tiere wissen sich schon zu wehren und ihre Zähne sind scharf genug, um bei einem Biss nicht unerhebliche Wunden zu hinterlassen. Aber keine Sorge: Schattenschleicher jagen nur Vögel und kleinere Tiere. Sie greifen niemanden mit Charakter an. Wahrscheinlich hat sich Honigtopf nur für euch wegen eures Duftes so interessiert.“ „Meines... Duftes?“ „Eure Hände riechen fruchtig-süß von der Seife und er hat eine Vorliebe für alles Süße in der Welt. Insbesondere Honig – wer hätte es gedacht – aber Vanille steht bei ihm auch hoch im Kurs.“ Umgehend spürte die Zwergin die Hitze in ihre Wangen schießen. Dass ein wildes Tier Düfte wahrnahm, die sie selbst nicht riechen konnte, war nicht weiter verwunderlich, aber wie nah musste Ezra ihr gekommen sein, um die Seife zu bemerken. Und vor allen Dingen, wann? Sterlinson selbst schien ihre Scham nicht zu bemerken und griff stattdessen sanft nach ihrem Arm. „Versucht es mal. Er ist ganz brav...“, säuselte er und führte sie langsam zu dem dunklen Schopf – ihr entging es nicht, dass seine andere Hand dabei langsam aber stetig in Richtung ihres Hinterns rutschte. Doch all das bemerkte sie gerade nur rudimentär, denn die Nähe ihrer Hand zu dem Untier bedurfte ihre ganze Aufmerksamkeit, ließ sie in einen Tunnelblick gleiten, aus dem sie sich nicht befreien konnte. In Honigtopfs leerem Blick sah sie ihr eigenes Spiegelbild, strudelförmig nach ihr streckend, je näher sie der kühlen Schnauze kam. Einen Moment noch zögerte sie, dann aber legte sie die Handfläche auf dem Kopf und kraulte das trockene Fell. Der Schattenschleicher ließ sich das sichtlich gefallen und drückte die Winkel seines Mauls so weit nach oben, dass die Zähne wieder zum Vorschein kamen. Ein braver Junge war er durchaus. Und noch etwas anderes fiel ihr auf, während ihre Finger durch die Härchen fuhren: „Was ist das für ein Geruch?“ Sie kam nicht umhin zu bemerken, dass von dem Tier eine wirklich angenehme Duftnote ausging. Es erinnerte sie an... gezuckerten Mais? „Das ist ihr natürlicher Duft. Anders als viele andere Tiere riechen Schattenschleicher für uns sehr angenehm. Manche Dinge sind halt einfach nicht so, wie sie auf den ersten Blick scheinen, nicht wahr?“ Severa nickte ruhig. Sie verstand, worauf der Mensch hinauswollte, auch wenn sie sich noch nicht sicher wahr, welches Fazit sie über ihn ziehen sollte. Ob Furcht oder Anziehung, dafür war es nun etwas zu früh und abseits dessen auch eigentlich nicht ihre Sache. Sie war halt nur eine Sexsklavin... eine verflucht hoch gestellte Sexsklavin mit unzähligen Privilegien, aber nichtsdestotrotz... In dem Moment griff Ezra nach ihrem Kinn und zwang sie dazu, ihn anzusehen. In der Nähe und im Flackern des Feuers glimmte das Blau seiner Augen anders als aus der Distanz, und hinter dem Schein des Meeres knurrte der Wolf, der anscheinend in ihm ruhte, nur darauf willens herauszukommen. Und etwas in ihr fühlte sich dazu äußerst hingezogen und wollte bereitwillig seine Beute werden. „Ihr versteht meine Intention, oder?“, säuselte er und lächelte ruhig. „J-ja... ich verstehe. Aber warum ist es Euch unbedingt so wichtig, ausgerechnet mich davon zu überzeugen?“ „Tja gute Frage... Vielleicht seid Ihr ja auch mehr als Ihr scheint...“ Dann ließ er ihr Kinn endlich los und lehnte sich zurück. Sie kannte nicht viele Menschen, hatte nur die getroffen, die bei Cirdans Feiern auftauchten, um die zweite Geige zu spielen, doch sie hatte bei vielen etwas ganz Natürliches entdeckt, was Elfen nicht so hinbekamen, denn ihr Edelmut stand ihnen im Weg: Sie waren gierig. Aber auf ganz besondere Weise. Sie sahen kein Eigentum in bestimmten Dingen oder Personen – anders als es Elfen taten und ihr selbsterklärtes Besitzrecht mit aller Macht verteidigten – sondern sie hungerten danach und streckten ihre Finger nach allem aus, was sie ihres nennen wollten. Das machte sie so mächtig, trotz ihres Mangels an Weisheit und ihrer lächerlich geringen Lebenserwartung. Und genau diese Gier sah sie gerade in Ezras Blick nur viel stärker als bei jedem anderen Menschen zuvor – vielleicht lag es aber auch daran, dass sie noch nie einem Menschen so nah war. „Ich sollte wohl besser gehen“, murmelte sie und versuchte vorsichtig wieder aufzutreten. Es tat noch immer weh, der drückende Schmerz raubte ihr kurz den Atem, doch wenn sie nicht voll auftrat, blieb es in einem erträglichen Rahmen. Sie drehte sich noch einmal um und setzte zu einer Verbeugung an. „Bitte entschuldigt die Störung.“ „Nicht doch. Ich wollte mich heute Abend sowieso nur von der Reise ausruhen, Ihr habt mich also von nichts abgehalten“, antwortete er, jedoch ohne Ironie in seiner Stimme. Er belog sie also, damit sie sich nicht schlecht fühlte und ging nicht davon aus, dass sie etwas wusste. Oder nahm er sie einfach nur nicht als Bedrohung wahr? Das musste sie sich nicht anhören. Nicht von jemandem, der ihr gerade auf den Hintern starrte und sich zurückhalten musste, nicht zu sabbern. Doch als sie die Tür verließ, sich eine Papierlaterne schnappte und auf dem Weg zum Schlafzimmer machte – begleitet von einem schwarzen Sechsbeiner, der auf sie aufpassen sollte und dies mit aller Freude tat – konnte sie es nicht mehr verleugnen, dass die Nähe dieses Mannes sie äußerst nervös gemacht hatte und zugleich einen mehr als nur bleibenden Eindruck hinterließ. Sie müsste wohl gleich doch einmal ihren Master wecken... und diesen Eindruck aus sich stoßen lassen... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)