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Selbstmord ist keine Lösung......oder?

von

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Zurück zu den Anfängen

Grauer Nieselregen erstreckte sich über London, als Carina mitsamt Grell und ihrer Tochter in der Hauptstadt erschien. Die Blondine schaute in den wolkenverdeckten Himmel und seufzte einmal laut. Das Wetter spiegelte ihre Stimmung eins zu eins wieder. Ihr Magen zog sich mittlerweile vor Nervosität schmerzhaft zusammen. Sie hatte absolut keine Ahnung, was sie gleich in dem Bestattungsinstitut erwarten würde. Fast fühlte sich die 19-Jährige wieder wie das kleine Mädchen von damals, das Hals über Kopf durch Cedrics Tür gestolpert war. „Aber das bin ich nicht mehr“, dachte sie und atmete tief ein, ehe sie Lily enger an sich drückte und in die entsprechende Straße einbog.
 

Der altbekannte Anblick des Ladens versetzte ihr dann doch tatsächlich einen innerlichen Schlag. Was allerdings, wenn man genauer darüber nachdachte, auch kein Wunder war. Immerhin hatte sie das letzte Mal, als sie hier gewesen war, erfahren, dass sie schwanger war. Keine sonderlich schöne Erinnerung, dafür hatte Sebastian nachhaltig gesorgt.
 

Carina zuckte zusammen, als Grell ihr eine Hand auf die Schulter legte. „Seit wann so schreckhaft?“, grinste der Rothaarige, doch das Lächeln verließ seine Lippen auf der Stelle, als er in das bleiche Gesicht der Schnitterin sah. Sofort wurde ihm sein Fehler klar. Crow hatte ihr das Genick gebrochen, also musste er sie ebenfalls vorher plötzlich in der Nähe der Schultern berührt haben. „Entschuldige“, murmelte er niedergeschlagen, als ihm erneut bewusst wurde, dass es noch sehr lange dauern würde, bis Carina das alles verarbeitet hatte. „Schon gut, ich hab mich nur kurz erschrocken. Keine Sorge.“ Sie lächelte, doch es erreichte ihre Augen nicht. „Also, wollen wir dann?“
 

Grell nickte, überholte seine beste Freundin und hielt ihr anschließend die Tür auf. Carina atmete innerlich noch einmal tief durch und betrat dann erneut den Ort, wo ihre Reise angefangen hatte. Es hatte sich nicht großartig viel seit ihrem letzten Besuch verändert. Der Eingangsbereich stand immer noch voller Särge, in der hinteren rechten Ecke stand nach wie vor das Skelett – über das sie an ihrem ersten Tag versehentlich gefallen war – und am anderen Ende des Raumes konnte sie den breiten Empfangstresen des Bestatters ausmachen. Lediglich eine Sache hatte sich grundlegend verändert. Carinas Augen huschten erneut durch den gesamten Raum und tatsächlich.
 

Es war sauber!
 

Kein Staub, keine Spinnenweben, nicht einmal mehr Kekskrümel konnte sie ausmachen. Automatisch wanderte ihre linke Augenbraue in die Höhe. Hatte Cedric etwa… geputzt? Allein schon der Gedanke kam ihr lächerlich vor, doch wenn der Todesgott keine Putzfrau engagiert hatte, schien das wohl die einzig logische Erklärung zu sein. „Na ja, so muss wenigstens nicht ich mich darum kümmern“, dachte sie, während Grell neben ihr trat und ein wenig die Nase rümpfte. „Nun ja, schick ist wahrlich anders“, gab er von sich, was die 19-Jährige unwillkürlich grinsen ließ. Das war doch wieder mal typisch für den Rothaarigen. „Ich wäre auch lieber in der Hütte geblieben, aber das ging ja nicht“, entgegnete sie, absichtlich ein wenig schnippisch, und stellte eine ihrer Taschen neben sich ab.
 

Sogleich vernahmen ihre Shinigami Sinne Geräusche aus dem oberen Stockwerk, dicht gefolgt von dem Knarzen der obersten Treppenstufe. Keine 10 Sekunden später betrat Cedric den Raum, sein altbekanntes breites Grinsen im Gesicht. „Hehe, da seid ihr ja~“, kicherte er fröhlich, woraufhin Carina beinahe die zweite Tasche aus der Hand gefallen wäre. War das sein Ernst? Wollte er wirklich wieder mit dieser Scharade anfangen? „Nein“, dachte sie gleich darauf. „Er liebt es einfach nur Leute an der Nase herumzuführen. Und ganz besonders mich, wie es scheint.“ Aber darauf würde sie sich nicht einlassen. „Ah, da bist du ja, Undy“, sagte Grell in diesem Moment, was Carina kurz schmunzeln ließ. Der Spitzname hatte schon etwas für sich, das musste sie ihrem besten Freund lassen. „Ehrlich mal, das hier ist alles viel zu trist. Du solltest etwas mehr Farbe an die Wände bringen“, gab der Reaper seine Meinung ganz offen kund. Der Undertaker hob beide Augenbrauen. „Das hier ist ein Bestattungsinstitut, Grell. Kein Hotel“, sagte er und musste bei dem bloßen Gedanken daran noch weiter grinsen. Angesprochener öffnete schon wieder den Mund, um darauf etwas zu erwidern, doch Carina hielt ihn zurück. „Fang jetzt keine Diskussion an, das bringt nichts“, meinte sie aus Erfahrung und suchte den Blick des Silberhaarigen. „Ich nehme mal an, ich bekomme wieder das Schlafzimmer von damals?“ „Sicher“, antwortete er, ging auf sie zu und wollte die Taschen vom Boden aufheben, doch Carina machte ihm einen Strich durch die Rechnung. „Danke, aber das schaffe ich selbst“, sagte sie und fasste gedanklich einen gewagten Entschluss. Mit einem Kopfnicken deutete sie auf Lily, die friedlich in ihrem Arm schlief. „Du kannst Lily nehmen.“
 

Beinahe glaubte Carina zu sehen, wie sich Cedrics Adamsapfel einmal nach oben und wieder nach unten bewegte, als er schluckte. Sie hob erneut eine Augenbraue. „Das kannst du doch… oder etwa nicht?“, fragte sie zweifelnd. „Sicher kann er“, beantwortete Grell die Frage und zwinkerte dem Bestatter vielsagend zu. Dieser nickte einmal langsam und streckte seine Hände nach dem Baby aus. Carina ließ ihn dabei nicht aus den Augen und zog ihre Hände erst zurück, als sie sich sicher war, dass er ihre Tochter richtig in den Armen hielt. Kurz richteten sich ihre verwandelten blauen Augen auf das Bild, verweilten darauf und nun musste sie selbst einmal schwer schlucken, als ihr Herz einen kleinen Satz nach oben machte. Die beiden Wesen, die sie auf dieser Welt am meisten liebte, so zusammen zu sehen, war für sie wie ein Sechser im Lotto. Und dann stand Cedric das Baby überraschenderweise auch noch so gut…
 

Sie räusperte sich einmal und fragte mit versucht ruhiger Stimme: „Gehst du vor?“ Er nickte, drückte Lily ein wenig enger an seine Brust und drehte sich dann wieder in Richtung Treppe um.
 

Grell folgte den Zweien stillschweigend die Treppe hoch. Er wollte sich vorerst nicht mehr einmischen als nötig, dafür fand er es einfach viel zu interessant, wie die beiden Todesgötter momentan miteinander umgingen. Für ihn war die Sache klar. Sie liebten sich, kein Zweifel. Aber er wusste nicht, wie er es ihr sagen sollte und Carina hatte keine Ahnung, was sie überhaupt sagen sollte. Ein kleines Lächeln schlich sich auf Grells Lippen. Das würde sicherlich noch witzig zwischen den beiden werden, wenn er erst einmal weg war…
 

Im oberen Stockwerk gab es fünf Türen, je zwei links und rechts und dann noch eine hinten in der Mitte. Für Carina war es keine Überraschung, dass der Bestatter die zweite Tür auf der linken Seite ansteuerte, immerhin hatte sie dort einmal regelmäßig ihre Nächte verbracht. Generell war ihr dieses Bestattungsinstitut erstaunlich scharf im Gedächtnis geblieben. Nun ja, wenn sie genau darüber nachdachte, hatte ihr dieser Ort damals das Leben gerettet. Wie Crow bereits gesagt hatte, viele Zeitreisende hatten sich wegen ihrer ausweglosen Lage umgebracht. Wer wusste schon, was aus ihr geworden wäre, wenn Cedric ihre keine Zuflucht gewährt hätte?
 

Auch hier war alles gesäubert worden, was die 19-Jährige irgendwie ein wenig rührte. Für ein Baby waren Staub und Dreck keine Option. Scheinbar hatte der Silberhaarige sich wirklich seine Gedanken gemacht…
 

In ihrem neuen Schlafzimmer angekommen, stellte sie die Taschen neben ihrem Bett ab und beäugte eben dieses kritisch. Sie hatte vorher noch nie so wirklich darüber nachgedacht, aber es handelte sich um ein Doppelbett. Dies schien auch Grell aufgefallen zu sein, denn als sie vorsichtig zu ihm herüberschielte, zwinkerte er ihr in eindeutiger Manier zu. Carina stieg daraufhin Hitze in die Wangen und sie musste an seine Worte kurz vor ihrem Aufbruch zurückdenken.
 

„Ich liebe Lily, das weißt du, aber ich denke mal nicht, dass du in nächster Zeit noch ein Geschwisterchen für sie geplant hast, oder etwa doch?“
 

„Verfluchte Scheiße“, dachte sie, als sich automatisch ein Bild in ihren Kopf schlich, das sie und Cedric auf dem Doppelbett zeigte. Aufeinander. Nackt. „Das darf ja jetzt wohl nicht wahr sein. Reiß dich zusammen, verdammt nochmal!“ „Möchtest du das Kinderzimmer sehen?“, fragte der Bestatter sie in diesem Moment und riss Carina somit aus ihren Gedanken. „Kinderzimmer?“, fragte sie irritiert, da sie bisher gedacht hatte, dass Lily mit ihr in diesem Raum schlafen würde. Er nickte. „Das Zimmer links von hier, in der Mitte. Ursprünglich war es einmal eine Art Abstellraum, aber ich habe die unnötigen Sachen weggeworfen und den Rest im Keller verstaut.“ „Und ich habe den Raum vorgestern gestrichen. Eigentlich sieht er jetzt fast genauso aus wie das Kinderzimmer in der Hütte“, warf Grell ein. „Das klingt doch gut“, meinte sie und tatsächlich sah das Kinderzimmer dem vorherigen sehr ähnlich, als sie es wenige Sekunden später betraten. Es entspannte sie ein wenig und vielleicht würde es Lily so leichter fallen, sich an diesen neuen Ort zu gewöhnen. Wobei sie ohnehin nicht so genau wusste, wie Babys zu einem Umzug standen.
 

„Danke, dass ihr euch solche Mühen gemacht habt. Ich weiß das wirklich zu schätzen“, sagte sie und beobachtete Cedric dabei, wie er seine Tochter vorsichtig in die Wiege legte und zudeckte. Seine Augen verweilten währenddessen die ganze Zeit auf dem Säugling und es lag eine Zärtlichkeit in ihnen, die Carina gleichzeitig erfreute und bedrückte. Erfreute, weil ihm Lily tatsächlich wichtig zu sein schien, und bedrückte, weil sich ihr schlechtes Gewissen wieder einmal zu Wort meldete. Sie hätte ihm von Anfang an die Wahrheit sagen sollen.
 

„Tja, ihr Süßen“, begann Grell auf einmal und schaute auf seine Armbanduhr. „Meine Schicht fängt gleich an, ich muss los. Seid nett zueinander, ja? Ich komme dann morgen Vormittag wieder vorbei.“ Er drückte Carina kurz an sich, gab ihr ein kleines Küsschen auf die rechte Wange und tänzelte dann fröhlich die Treppe hinunter. Die Blondine konnte sich ziemlich genau vorstellen, warum der Rothaarige auf einmal so gut gelaunt war. „Was denkt er sich denn? Dass wir übereinander herfallen, sobald die Tür hinter ihm zugefallen ist?“
 

„Ich packe dann mal meine Sachen aus“, sagte sie und verließ das Zimmer, bevor der Totengräber die Gelegenheit zum Antworten hatte. Gott, ihr Magen fühlte sich an, als würde er Trampolin springen. Jetzt konnte sie anscheinend nicht mal mehr mit ihm alleine in einem Raum sein, ohne dass es sie nervös machte. Dabei hatte sich dies im Weston College doch so gut eingependelt. Jetzt fühlte sie sich eher wieder wie auf der Campania. Verunsichert und vollkommen überfordert in seiner Nähe. Wenn sie Grells Worten Glauben schenkte, dann mussten sie sich nur wieder aneinander gewöhnen. „Sein Wort in Gottes Ohr“, dachte sie und begann ihre Kleidung in den Schrank einzuräumen. „Trotzdem, wenn er versucht mir Befehle zu erteilen oder über mich zu bestimmen, dann kann er sich auf etwas gefasst machen.“
 

Die Schnitterin ließ sich mit dem Einräumen ihrer Sachen Zeit, dennoch dauerte es gerade einmal eine gute Stunde bis sie damit fertig war und etwas ratlos in der Mitte ihres Zimmers stand. „Tja und was jetzt?“ Cedric wollte sie gerade nicht wirklich über den Weg laufen, aber Lily würde sicherlich bald wach werden und Hunger haben. Und mit dieser Vermutung lag sie goldrichtig, denn als sie an die Wiege ihrer Tochter herantrat, hatte diese bereits die Augen aufgeschlagen und schaute neugierig nach oben. Sanft strich sie ihr kurz über die Wange, ehe sie den Finger weiter an ihre Lippen führte. Sofort fing das kleine Mädchen an zu saugen, was Carina lächeln ließ. Mittlerweile hatte sie wirklich eine innere Uhr für ihre Tochter entwickelt.
 

Das Stillen klappte schnell und reibungslos, wobei die 19-Jährige dann doch die Tür abschloss, um nicht gestört zu werden. Eigentlich sollte es ihr nicht peinlich sein – Cedric hatte sie immerhin schon nackt gesehen, ihre Brüste also sowieso – aber momentan war die Situation zwischen ihnen ohnehin schon schwierig, da mussten nicht auch noch solche Sachen dazwischenkommen.
 

15 Minuten später legte sie das nun wieder schlafende Baby zurück in die Wiege und ging ins Badezimmer, um endlich noch einmal ein ausgiebiges Bad zu nehmen. Die Tür schloss sie hinter sich ab. Ihr hellblaues Kleid fiel gleich darauf zu Boden, dicht gefolgt von ihrer Strumpfhose und der Unterwäsche. Vollkommen nackt stand sie nun vor dem großen Spiegel über dem Waschbecken und betrachtete sich kurz darin. Nichts deutete mehr auf die Folter hin, die sie vor ein paar Tagen hatte ertragen müssen. Nichts bis auf… Sie atmete einmal tief ein und drehte sich dann um, wandte den Kopf jedoch über ihre rechte Schulter, um weiterhin ihr Spiegelbild ansehen zu können. Die Narbe begann auf ihrem linken Schulterblatt, knapp unter dem Knochen, und zog sich in einer diagonalen Linie über ihr Kreuz, ehe sie auf der rechten Seite endete, wenige Millimeter über dem Steißbein. Carina konnte nicht anders, sie musste schlucken. Hatte sie damals wirklich gedacht, dass die Narbe auf ihrer Brust groß war? „Tja, scheinbar gibt es immer eine Steigerung“, murmelte sie und ließ ihren Blick mehrere Male über ihren Rücken wandern.
 

Von der Beschaffenheit ähnelte die Wunde Cedrics Narbe im Gesicht. Carina konnte sich daher denken, dass er sie wohl genäht haben musste. „Es hätte mich schlimmer treffen können. Die Narbe ist halbwegs glatt und durchgehend, sie wird also keine körperlichen Beschwerden verursachen. Ich hätte auch genauso gut tot sein können.“ Alice’ Antlitz blitzte kurz vor ihrem inneren Auge auf. Mit einem tiefen Seufzer wandte sie ihr Gesicht vom Spiegel ab und ließ sie sich in das dampfende Wasser sinken, um anschließend betrübt gegen die Decke zu starren. Man sagte immer, dass Narben eine Geschichte erzählten und mittlerweile war Carina klar geworden, dass das stimmte. Die Narbe auf ihrer Brust würde sie immer an ihren Selbstmord erinnern und die Narbe auf ihrem Rücken an Crow und Alice’ Tod. Ihr Leben lang würden diese beiden Wunden sie daran erinnern, was für Fehler sie begangen hatte. Dass sie versagt hatte.
 

Die Schnitterin blieb in der Wanne sitzen bis das Wasser kalt war und begann dann erst langsam sich die Haare zu waschen, dicht gefolgt von ihrem Körper. Bis sie schließlich aus der Badewanne herausgestiegen war, sich abgetrocknet und wieder angezogen hatte, waren es bereits 15 Uhr. Viel zu früh, um schon ins Bett zu gehen. Dabei fühlte sich die 19-Jährige hundemüde. Scheinbar schien ihr Körper die Strapazen der letzten Wochen doch noch nicht ganz verarbeitet zu haben. „Ich sollte etwas essen“, ging es ihr durch den Kopf, während sie die Badezimmertür lautlos hinter sich schloss. Auf leisen Sohlen schlich sie die Treppe hinunter und ging in die Küche, wo ihr sogleich etwas auffiel.
 

„Na toll. In dieser Hinsicht hat er sich zumindest kein Stück verändert“, dachte sie und betrachtete die gähnende Leere im Kühlschrank, der ihrer Meinung nach überhaupt nicht aussah, wie ein richtiger Kühlschrank. Wieder einmal ließ auch hier das 19. Jahrhundert grüßen. Ein wenig genervt schloss sie die Augen und kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in den Nasenrücken, während ihre feinen Sinne auf die Energiesignatur des Bestatters reagierten, als dieser sich näherte. Keine zwei Sekunden später stand er im Türrahmen, woraufhin die Blondine die Augen öffnete und ihn ansah. Kurz machte sich eine unangenehme Stille im Raum breit, ehe der Todesgott seine rechte Hand hob und ihr eine ziemlich bekannte Urne entgegenhielt. „Kekse?“, fragte er lediglich, was Carinas Mundwinkel tatsächlich kurz zum Zucken brachte. „Danke“, sagte sie und nahm sich einen. „Du weißt aber schon, dass das keine dauerhafte Lösung ist, oder?“ „Wieso nicht?“, fragte er und genehmigte sich selbst einen von den Knochenkeksen. „Im Gegensatz zu damals bist du jetzt auch ein Shinigami. Du brauchst keine vitaminreiche Nahrung mehr zu dir zu nehmen.“ „Das mag grundsätzlich stimmen, aber solange ich Lily stille sollte ich auf meine Ernährung achten.“ Mal ganz abgesehen davon, dass ihr die Kekse irgendwann zum Halse raushängen würden.
 

Der Silberhaarige wirkte ehrlich verblüfft. „Darüber habe ich überhaupt nicht nachgedacht“, gestand er und ließ seinen Blick zu ihren Brüsten wandern, was Carina mit einer hochgezogenen Augenbraue quittierte. Er grinste unschuldig. „Na ja, mir ist schon aufgefallen, dass sie größer geworden sind, aber-“ „Sprich nicht weiter“, warnte sie ihn trocken und verfluchte gleichzeitig ihre Wangen, in denen nun das Blut pulsierte. Was sollte dieses kindische Verhalten seinerseits denn jetzt bitteschön bedeuten?
 

„Hehe~“, kicherte der Bestatter und amüsierte sich königlich über Carinas offensichtliche Verlegenheit. Allerdings war ihm gleichzeitig auch bewusst, dass er mit seinem momentanen Auftreten nur seine eigene Unsicherheit überspielte. Wie sollte er es ihr nur sagen? Wann war der richtige Zeitpunkt? Gab es überhaupt einen richtigen Zeitpunkt?
 

„Ich gehe jetzt einkaufen, die Geschäfte haben ja Gott sei Dank noch offen“, unterbrach die Blondine seinen Gedankenfluss und ging im nächsten Moment bereits an ihm vorbei, um ihren Mantel zu holen. Fast schon ein wenig panisch drehte er sich zu ihr herum. „Und Lily?“, fragte er, woraufhin Carina ihn wieder ansah. „Du bist doch hier“, sagte sie und schlüpfte seelenruhig in die Ärmel ihres schwarzen Mantels. „Du wolltest dich um sie kümmern, hast du gestern noch selbst gesagt.“ „Ja schon“, begann er und lachte einmal hilflos auf, „aber was ist, wenn sie wach wird und weint?“ „Herrgott“, murmelte die junge Frau. „Du bist über 800 Jahre alt und hast keine Ahnung, wie man mit einem Baby umgeht?“ Er schüttelte stumm den Kopf und irgendwie fand Carina das auf seltsame Art und Weise niedlich.
 

„Wichtigster Punkt: Keine Panik bekommen, wenn sie weint. Babys weinen nun einmal, das ist ganz normal“, begann die 19-Jährige sanft und knöpfte sich währenddessen den Mantel zu. „Es hat immer einen Grund, wenn Lily weint. Entweder ist sie hungrig oder müde oder ihre Windel muss gewechselt werden. Manchmal reicht es auch schon aus, wenn man sie nur auf den Arm nimmt und ein wenig mit ihr spricht. Was von den genannten Sachen zutrifft, wirst du mit der Zeit schon selbst herausfinden, keine Sorge.“ Sie öffnete die Ladentür und hielt noch einmal kurz inne. „Hunger dürfte sie übrigens erst wieder in etwa einer Stunde haben, bis dahin werde ich längst zurück sein.“ Er nickte einmal kurz und die Schnitterin konnte es nicht verhindern, sie grinste ihn süffisant an. „Tja Cedric, dann stell mal deine Vaterqualitäten unter Beweis. Sonst weißt du ja schließlich auch immer alles besser.“ Der letzte Satz klang in Carinas eigenen Ohren schon fast ein wenig zu spöttisch, aber seinen entgeisterten Gesichtsausdruck zu sehen, kurz bevor sie aus der Tür ging, machte es das allemal wert.
 

Es gab Zeiten, in denen er das Selbstbewusstsein von Carina liebte und dann gab es Zeiten, wo ihm genau dieses ganz und gar nicht passte, stellte Cedric stumm für sich selbst fest. Sie war gerade einmal 10 Minuten weg und trotzdem war sein ganzer Körper in Alarmbereitschaft, horchte nur auf das kleinste Geräusch seiner Tochter, die oben in ihrem Zimmer schlief. Er konnte es immer noch nicht so richtig fassen. Carina hatte ihn mit dem Kind allein gelassen. Ihn. Mit einem Kind. War sie denn vollkommen verrückt geworden? Er hatte doch nicht die geringste Ahnung von Babys!
 

„Und was sollte überhaupt dieser letzte Satz bedeuten? Sonst weißt du ja schließlich auch immer alles besser?“ Spielte sie damit vielleicht darauf an, dass er eine Entscheidung für sie getroffen hatte? Nun gut, man brauchte Carina nicht sonderlich gut zu kennen, um zu wissen, dass ihr das ganz und gar nicht gefallen hatte. Sie war mit dem Verständnis aufgewachsen, dass Frauen und Männer gleichberechtigt waren und war natürlich auch dementsprechend erzogen worden. Noch dazu kamen ihr Temperament und dieser unaufhörliche Dickkopf, den Cedric gleichermaßen liebte und verfluchte. „Wenn ich mich mit ihr über bestimmte Dinge streiten muss, um sie zu beschützen, dann soll es mir recht sein“, dachte er bei sich und trug gedankenverloren die Termine für seine nächsten Beerdigungen ein.
 

Doch dann kam natürlich 5 Minuten später genau das, wovon der Bestatter gehofft hatte, dass es nicht passieren würde. Ein Klagelaut wehte die Treppe zu ihm hinunter und sofort erstarrte der Todesgott zur Salzsäule. Er schluckte einmal, straffte sich dann aber innerlich. Er hatte in seinem langen Leben bereits gegen Todesgötter, Dämonen und sogar den ein oder anderen Engel gekämpft. Da würde er ja wohl auch mit einem Kind fertig werden, noch dazu mit seinem eigenen!
 

1 Minute später beugte er sich bereits über die Wiege und schaute sich seine Tochter an, die vom Weinen bereits ganz rote Wangen bekommen hatte. „Hey“, meinte er leise und musste sich einmal kurz räuspern, weil seine Stimme so rau klang. Das Mädchen zeigte sich von der zurückhaltenden Art ihres Vaters unbeeindruckt und beantwortete sein einzelnes Wort mit einem erneuten Schrei. Unwillkürlich musste er grinsen. „Zweifelsohne das Organ deiner Mama“, gluckste er belustigt. „Erzähl ihr aber bloß nicht, dass ich das gesagt habe, sonst bekomme ich bestimmt noch mehr Stress mit ihr.“ Lily wurde auf den Klang seiner Stimme hin ein wenig leiser, strampelte aber immer noch unruhig mit ihren Beinchen in der Luft herum.
 

„Hmm, Hunger solltest du noch keinen haben und an der Windel scheint es auch nicht zu liegen“, überlegte er laut und dankte innerlich seiner guten Nase. „Ist dir vielleicht langweilig?“, fragte er, obwohl ihm natürlich bewusst war, dass er keine Antwort erhalten würde. Also nahm er all seinen Mut zusammen und griff einfach beherzt in die Wiege hinein, um das Baby im nächsten Augenblick auf seinen Arm zu nehmen. Er tat es genauso, wie die schwarzhaarige Rezeptionistin es ihm gezeigt hatte und kaum lag das kleine Wesen richtig in seiner Armbeuge, verstummten die missbilligenden Laute. Von sich selbst begeistert schaute der Shinigami hinab in die kugelrunden, blauen Augen seiner Tochter, die ihn nun interessiert anblickten. „Na du?“, flüsterte er sanft und stupste dem Baby mit seinem Zeigefinger einmal gegen die Nase. Lilys Reaktion bestand darin mit ihrer Hand orientierungslos nach der seinen zu greifen und als er ihr seinen filigranen Zeigefinger hinhielt, umschlossen ihre kleinen Fingerchen ihn ohne zu zögern. Uneingeschränkte, bedingungslose Liebe keimte in ihm auf, gegen die er sich nicht zur Wehr setzen konnte, geschweige denn wollte. Das kleine Mädchen hatte ihn ganz und gar in ihren Bann gezogen.
 

Als Carina 25 Minuten später wieder durch die Tür des Bestattungsinstitutes trat, traf sie fast der Schlag. Cedric saß an seinem Empfangstresen und schrieb mit einer Hand etwas in seine Unterlagen, während er mit der anderen Hand Lily hielt, die seelenruhig zu ihm hochschaute und ihre Finger in seinen schwarzen Mantel krallte. Beinahe wäre der jungen Mutter der Korb aus den Händen gefallen. Der Anblick löste etwas in ihr aus, ließ ihr Herz automatisch höher schlagen. Wäre sie Grell, hätte sie jetzt vermutlich quietschend ein lautes „Oh, wie süß“ von sich gegeben. Was durchaus zutreffend war, aber da sie nun einmal war wie sie war, konnte sie einfach nur sprachlos in der Tür stehen bleiben und sich das ihr gebotene Bild so gut es ging einprägen.
 

„Da bist du ja wieder“, sagte Cedric auf einmal und riss Carina somit aus ihrer Starre. „Äh, ja“, stotterte sie, ganz kurz überfordert mit der Situation. „War… ähm, war alles gut?“, fragte sie gleich darauf, schloss die Tür hinter sich und trat an den Tresen heran. Lily drehte das Köpfchen leicht in ihre Richtung, als sie die Stimme ihrer Mutter hörte, blieb aber nach wie vor vollkommen ruhig. „Bestens“, grinste der Bestatter und schaute erneut in sein Geschäftsbuch. „Schön“, entgegnete Carina, weil sie absolut keine Ahnung hatte, was sie ansonsten sagen sollte. Versucht gleichgültig ging sie in die Küche und begann die Lebensmittel in die verschiedenen Schränke einzuräumen. Doch währenddessen musste sie die ganze Zeit daran denken, dass sie jetzt zu dritt wie eine Familie zusammenlebten und dennoch keine waren. Und es tat ihr weh. „Dummkopf“, schimpfte die junge Frau sich gedanklich selbst. „Du hast doch gewusst, dass nicht mehr daraus werden wird und trotzdem nimmt es dich so mit. Lernst du denn nie dazu?“
 

Sich zusammennehmend krempelte sie die Ärmel ihres Kleides hoch und begann vorsichtig die Kartoffeln zu schälen. 30 Minuten später betrat der Undertaker die Küche, immer noch Lily auf dem Arm, die jetzt allerdings die Augen zugemacht hatte und schlief. „Brauchst du Hilfe?“, fragte er höflich nach und Carina warf ihm einen ungläubigen Blick zu, gepaart mit einer erhobenen Augenbraue. „Du kannst kochen?“ „Nein, nicht wirklich“, gab er grinsend zu, was die Blondine die Augen verdrehen ließ. „Dann bleib bloß wo du bist. Nachher verwechselst du noch Salz mit Zucker und das wäre bei einem Linseneintopf jetzt eher suboptimal.“ „Bei mir hat es leider nur für’s Kekse backen gereicht. Aber wenn du kochen kannst, müsste das ja auch ausreichen. Bleibst du bei der deutschen Küche?“ „Mal so, mal so. Ich kann beides relativ gut, aber manchmal muss es einfach etwas Deftiges sein. Das erinnert mich an zu Hause.“ Sein Blick wurde kurz ernster. „Vermisst du es?“ „Mein Zuhause?“, fragte sie und er nickte. Carina seufzte und begann den Eintopf zu würzen. „Nicht mehr so sehr wie noch vor 3 Jahren, aber ja. Ab und zu denke ich schon noch daran. Vor allem an meine Eltern.“ Ein bitterer Stich zog sich sichtbar durch ihre Augen. „Ich werde das Gefühl einfach nicht los sie zurückgelassen zu haben.“
 

„Du könntest sie wiedersehen, weißt du?“, gab er zu bedenken und Carina schnaubte. „Theoretisch. Nur mal angenommen, dass dieser Samael uns nicht alle umbringt. Dann dauert es trotzdem noch ganze 125 Jahre. Das ist eine lange Zeit. Wer weiß schon, was bis dahin noch alles in meinem Leben passieren wird.“ „Und trotzdem hast du dich dafür entschieden nicht in die Zukunft zurückzukehren“, murmelte der Bestatter. „Ja und das war die richtige Entscheidung. Wie bereits gesagt, ich habe mich verändert und ich mag mich, wie ich jetzt bin. Außerdem braucht Lily mich mehr, als mich meine Eltern brauchen.“
 

„Ich brauche dich auch“, dachte Cedric und wollte sich am liebsten dafür schlagen, dass er es nicht über die Lippen brachte. Er beobachtete, wie Carina die letzten Zutaten in den Eintopf warf und sich anschließend wieder zu ihm herumdrehte. Ein schiefes Lächeln lag auf ihren Lippen, das ihn sofort magisch anzog. Er hatte damals auf der Campania nicht ohne Grund gesagt, dass es traurig sein würde, wenn es kein Gelächter mehr gäbe. Für ihn gehörte Lachen und Lächeln einfach zum Leben dazu und Carina tat es nach wie vor viel zu selten. „Du machst das gut“, sagte sie, immer noch mit diesem zurückhaltenden Lächeln, und deutete auf das Baby in seinen Armen. „Ja?“, fragte er atemlos und freute sich, als sie nickte. „Ein Baby steht dir. Vor allem, da Lily genauso aussieht wie du.“ Ein sanfter Unterton schwang in ihren Worten mit. „Schon, aber die Augen hat sie von dir“, antwortete der Bestatter und kreuzte seinen Blick mit ihrem. „Glücklicherweise.“
 

Carina spürte, wie sie leicht errötete. „Flirtet er mit mir?“ Nein, das konnte nicht sein. Er war nun einmal immer schon so direkt in seinen Aussagen gewesen und selten hatte mehr dahinter gesteckt. Sie machte sich einfach zu viele Gedanken. Abrupt versuchte die Schnitterin daher das Thema zu wechseln. „Wie auch immer. Möchtest du gleich etwas essen? Ich bin fast fertig, du könntest Lily vorher noch ins Bett bringen und-“ „Gerne“, unterbrach er sie und zeigte ihr seine blendend weißen Zähne, als er grinste. Carina nickte überrumpelt und schaute dem Silberhaarigen beim Verlassen der Küche hinterher, kurz darauf knarzte es wieder auf der Treppe. „Wir haben tatsächlich ein halbwegs normales Gespräch miteinander geführt. Ich kann’s kaum fassen“, ging es ihr durch den Kopf. Das dürfte sie Grell unter gar keinen Umständen auf die Nase binden. Der Rothaarige würde sich nur wieder ins Fäustchen lachen und behaupten, dass er die ganze Zeit Recht gehabt hatte.
 

Eine Viertelstunde später saßen die beiden Todesgötter am Esstisch und schwiegen sich stur während dem Essen an. Carina war die ganze Situation immer noch unangenehm. Sie hatte einfach weiterhin keine richtige Ahnung, wie sie mit Cedric umgehen sollte. Dem Totengräber schien es leichter zu fallen, denn wenige Minuten später brach er plötzlich die Stille. „Ich hab dich noch gar nicht gefragt, wie das eigentlich so war. Die Schwangerschaft, meine ich.“ „Na ja“, begann sie langsam, aber dennoch ehrlich erfreut über sein Interesse. „Schön, aber auch verdammt anstrengend, zumindest das letzte Drittel. Körperlich ist da halt nicht mehr so viel drin, mal ganz abgesehen von den unglaublichen Rückenschmerzen und der ständig drückenden Blase. Es war am Ende einfach nur noch furchtbar langweilig.“ „Klingt einleuchtend“, erwiderte er und steckte sich einen weiteren Löffel Eintopf in den Mund. „Hat sie… hat sie dich oft getreten?“ Carina nickte und konnte nicht anders, als vergnügt auszusehen. „Ja, ständig. Sie hat mich ganz schön auf Trab gehalten, die kleine Maus. Ich war wirklich froh, als sie dann endlich auf der Welt war.“ „Ich habe das Bild gesehen. Du sahst ziemlich fertig aus nach der Geburt.“ Sie zuckte kurz mit den Schultern. „Ich denke, das ist normal, auch für eine Shinigami. Aber ich will es nicht abstreiten, es war hart. Um ehrlich zu sein: Es war die absolute Hölle. Sicher, gedanklich bereitet man sich darauf vor, aber das nützt einem gar nichts mehr, wenn man dann plötzlich 20 Stunden in den Wehen liegt. Definitiv die längsten 20 Stunden meines Lebens.“
 

Der Bestatter verschluckte sich bei ihren Worten beinahe. 20 Stunden? Sie hatte 20 Stunden in den Wehen gelegen? Jetzt war er auf einmal fast schon froh, dass er nicht dabei gewesen war. Wenn er sich vorstellte, dass er die gesamte Zeit nur hilflos hätte daneben stehen und zusehen können, dann wurde ihm ganz anders. Nein, im Nichtstun war der Shinigami noch nie gut gewesen. „Jetzt schau nicht so. Ich bereue keine Sekunde davon. Und ich hab’s überlebt.“ „Stimmt“, murmelte er leise und sah der Mutter seines Kindes dabei zu, wie sie ihren Teller auf die Anrichte stellte und begann ihn abzuspülen. „Außerdem… war Alice bei mir“, flüsterte sie plötzlich und starrte stur auf die gegenüberliegende Wand, sodass er ihr Gesicht nicht sehen konnte.
 

„Carina“, begann er vorsichtig, „wenn du darüber sprechen möchtest-“ „Mir geht’s gut“, unterbrach sie ihn schnell und setzte ein dermaßen falsches Lächeln auf, dass es ihm die Sprache verschlug. Aber nur kurzzeitig. „Nein, es geht dir nicht gut“, antwortete er ruhig und sachlich, eine bloße Feststellung. „Und das ist in Ordnung. Sie ist gestorben und du hast ein Recht darauf zu trauern. Ich weiß, dass du das momentan noch nicht kannst, aber irgendwann musst du aufhören all den Schmerz in dich hineinzufressen. Das wird auf Dauer nämlich nicht funktionieren.“ Die Miene der 19-Jährigen verkrampfte sich, ebenso wie ihr ganzer Körper. „Das sagt ja genau der Richtige“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Wer hat denn jahrzehntelang versucht seine Geliebte von den Toten zurückzuholen?“ Es war ein Seitenhieb und ein gemeiner noch dazu, aber das war Carina in jenem Augenblick egal. In dieser Hinsicht würde sie sich nicht von ihm belehren lassen. „Deswegen sage ich es dir ja. Weil ich es inzwischen besser weiß“, meinte er, seine Stimme nun ein wenig kühler als zuvor. Die junge Frau hatte schon immer die Fähigkeit besessen sich verbal zur Wehr zu setzen, das hatte er schon damals bemerkt, als sie noch ein Mensch war. Noch so eine Sache, die er an Carina sowohl schätzte, als auch verfluchte.
 

Den restlichen Abend schwiegen sie, wechselten kein Wort mehr miteinander. Carina verschwand relativ zügig in ihrem Zimmer und konnte von dort aus hören, wie einer der unten stehenden Särge geöffnet wurde. Vermutlich machte Cedric es sich dort für die Nacht bequem, was sie allerdings nicht sonderlich überraschte. Das Bett schien er in seinem Laden sehr selten zu nutzen, wenn überhaupt. Doch das interessierte Carina momentan nicht sonderlich.
 

„Was fällt ihm überhaupt ein?“, dachte sie zornig und riss die Bettdecke mit einem Ruck nach hinten, um sich anschließend darunter sinken zu lassen. „Ich trauere nicht? Was weiß er denn schon?“ Er hatte doch keine Ahnung. Keine Ahnung von dem Schmerz, der in ihrer Brust tobte, keine Ahnung von dem drückenden Gefühl auf ihrer Lunge, keine Ahnung von den Tränen, die in ihrer Kehle feststeckten und einfach nicht kommen wollten. Unabsichtlich hatte sie eine Mauer in ihrem Inneren errichtet, die sie in dem Bunker davor hatte schützen sollen vollkommen durchzudrehen. Und jetzt bekam sie sie selbst nicht mehr eingerissen, wollte es insgeheim auch gar nicht. Sie hatte Angst vor den Folgen, Angst davor sich dem wahren Schmerz erst noch stellen zu müssen.
 

„Er kann sich seine weisen Ratschläge sonst wohin stecken. Er selbst hat Claudias Tod doch auch erst jetzt wirklich akzeptiert. Und wie lange hat das gedauert? 24 Jahre! Wenigstens habe ich mir nicht in den Kopf gesetzt Alice irgendwie zurückholen zu wollen.“ Dennoch… jetzt, wo sie so darüber nachdachte, konnte sie Cedric wohl wahrlich zum ersten Mal richtig verstehen. Einen geliebten Menschen zu verlieren war mit Abstand das Schlimmste, was einem im Leben passieren konnte. Erst recht auf diese Art und Weise. Der Gedanke noch einmal mit Alice sprechen zu können, sie bei sich zu haben und mit ihr lachen zu können… Natürlich wünschte sie sich das! Wer tat so etwas nicht, wenn er jemanden verloren hatte? „Aber es geht nicht“, dachte sie und schluckte schwer. „Alice ist tot und der Tod ist eine Einbahnstraße. Finde dich damit ab.“ Alles, was sie jetzt noch tun konnte, war darauf zu vertrauen, dass Uriel die Wahrheit gesprochen hatte. Dass Alice nun wirklich wieder mit ihrer Familie vereint war…
 

Carina war sich bis zu dem Zeitpunkt nie wirklich bewusst gewesen, wie lang eine Nacht wirklich war, wenn man nicht schlief. Zu viele Gedanken kreisten in ihrem Kopf umher und jedes Mal, wenn sie dann doch kurz davor gewesen war endlich einzuschlafen, meldete sich Lily zu Wort und bedürfte ihrer Aufmerksamkeit. Die 19-Jährige störte sich normalerweise nicht sonderlich daran, ihre Tochter war nämlich glücklicherweise kein Schreihals und weinte wirklich nur, wenn sie etwas wollte. Daher waren die meisten Nächte bisher relativ ruhig geblieben und Carina hatte nur ein oder zwei Mal aufstehen müssen. Jetzt jedoch zerrte es ein wenig an ihren Nerven, da sie die Müdigkeit in ihren Knochen spüren konnte. „Was soll’s. Ich kann doch eh nicht schlafen“, dachte sie und als plötzlich die ersten Sonnenstrahlen des Tages durch das Fenster drangen, versuchte sie es auch gar nicht mehr.
 

Als sie sich wenige Minuten später an den Küchentisch neben Cedric setzte, ein leises „Guten Morgen“ brummte und von ihm lediglich die gleichen Worte vernahm, war sie froh, dass er sie nicht auf ihre Augenringe ansprach. Bestimmt dachte er sich seinen Teil, bestätigte ihr Anblick doch nur das, was er ihr gestern Abend gesagt hatte.
 

Die beiden Todesgötter aßen schweigend, die Stille nur ab und zu unterbrochen durch ein unterdrücktes Gähnen der Schnitterin. Nach dem Frühstück gingen sie wieder unterschiedliche Wege. Cedric verschwand im Keller, um einen seiner “Gäste“ wieder schön zu machen, und Carina ging nach oben, um Lily für den Tag fertig zu machen. Während sie ihr die Windel wechselte und anschließend einen neuen Strampler anzog, läutete unten die Türklingel und kurz darauf hörte sie den Bestatter auf der Treppe. Stimmen erklangen gleich darauf, was Carina interessiert den Kopf drehen ließ. „Grell kann es nicht sein, dafür ist es noch zu früh. Vielleicht Kundschaft?“ Neugierig schlich sie sich die Treppe hinunter, ihre Tochter auf dem Arm, die friedlich an ihrem Daumen lutschte. Die Stimmen wurden jetzt deutlicher. „Vielen Dank, dass sie sich so gut um meinen Mann gekümmert haben. Ich bin sicher… die Beerdigung hätte ihm gefallen.“ Die eindeutig weibliche Stimme schwankte kurz gefährlich, fasste sich dann aber wieder. „Hehe~ Sie müssen mir nicht danken, Miss. Das ist mein Beruf.“ „Dennoch… nicht alle Bestatter geben sich solche Mühe mit ihren Beerdigungen. Ich bin froh, dass sie von ihrer Auslandsreise zurückgekehrt sind und viele Menschen werden mir da zustimmen.“
 

Carina betrat beinahe lautlos den Raum und entdeckte Cedric hinter seinem Empfangstresen, dicht vor ihm stand eine Frau mit zusammengebundenen, bereits ergrauten Haaren. Rein intuitiv schätzte die junge Mutter sie auf Mitte 50. „Guten Tag“, begrüßte sie die Kundin höflich und neigte leicht den Kopf. Die Frau, die scheinbar vor kurzem ihren Mann verloren hatte, schaute sie zuerst reichlich irritiert an, bevor sich ein strahlendes Lächeln auf ihren Lippen ausbreitete, was dann wiederum Carina irritierte. Was war denn jetzt los?
 

„Jetzt verstehe ich“, rief sie aus und klatschte freudig in die Hände. „Das ist also der Grund, warum Sie solange weg waren, nicht wahr? Sie haben geheiratet! Oh, wie wunderbar! Meine herzlichen Glückwünsche, Mr. Undertaker.“ Carina verschluckte sich beinahe an ihrer eigenen Spucke, als sie die Worte der älteren Frau hörte. Wie bitte?!
 

Sie hatte bereits halb den Mund geöffnet – zweifelsohne, um der Frau mitzuteilen, dass sie und Cedric keineswegs verheiratet waren – als der Bestatter ihr zuvorkam. Allerdings mit einer komplett anderen Antwort, als sie im Sinn gehabt hatte und die sie noch im gleichen Augenblick erstarren ließ.
 

„Ja“, sagte er, ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen.
 

„Das ist meine Frau.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Luzie_
2018-11-04T11:35:19+00:00 04.11.2018 12:35
Super Kapitel bin auf ihre Reaktion gespannt und würde mich freuen, wenn du ganz schnell weiter schreibst. LG Luzie_
Von:  VioletKaginuki
2018-10-25T15:59:15+00:00 25.10.2018 17:59
Super geschrieben, kanns kaum erwarten wie und wann es weiter geht!
Von:  lula-chan
2018-10-24T14:51:01+00:00 24.10.2018 16:51
Tolles Kapitel. Gut geschrieben. Hat mir gefallen.
Die beiden kommen echt gut miteinander aus, auch wenn da immer noch etwas zwischen den beiden ist.
Da wird Undertaker was zu hören bekommen. Carina findet das sicher ganz und gar nicht lustig. Sie sollte sich allerdings auch im klaren sein, dass diese Antwort, die einzige sinnvolle ist, immerhin hatte Carina ihre Tochter im Arm und Kinder außerhalb der Ehe zu bekommen, ist in dieser Zeit nunmal nicht gern gesehen.
Ich bin schon gespannt, wie es weitergeht, und freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Von:  SakuraHatake90
2018-10-22T22:44:13+00:00 23.10.2018 00:44
Schönes Kapitel freue mich auf mehr


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