Selbstmord ist keine Lösung......oder? von LadyShihoin ================================================================================ Kapitel 70: Die Erkenntnis -------------------------- „Hast du jetzt komplett den Verstand verloren?“, brüllte Grell und hämmerte – zur Untätigkeit verdammt – gegen die Wand aus Luft. Verflucht nochmal, dachte Carina überhaupt noch nach, bevor sie etwas tat? Dem Bestatter neben ihm erging es ähnlich. Am liebsten hätte er jetzt irgendwas oder irgendwen auseinandergenommen. Wenn Carina aus dieser Situation lebend rauskam, dann würde er persönlich dafür sorgen, dass sie solch dumme und vor allen Dingen hirnrissige Aktionen niemals wieder machte. Seine langen Fingernägel kratzten über die Barriere, versuchten irgendwo ein Schlupfloch zu finden. Doch es handelte sich überall um eine glatte, unsichtbare und unnachgiebige Fläche. Verdammt, das dürfte doch wohl nicht wahr sein… Er sah erst wieder von seinem Tun auf, als Carinas Entführer das Wort ergriff. Er streckte die Hand aus, die Handinnenfläche zeigte nach oben. „Gib mir deine Cinematic Records zurück“, verlangte er und unglaublicher Zorn spiegelte sich auf seinem Gesicht wieder. Cedric runzelte die Stirn. Nach seinem jetzigen Kenntnisstand war es unmöglich die Aufzeichnungen eines Shinigami von dessen Körper zu trennen, geschweige denn diese anzusehen. Hatte dieser Mann aus der Zukunft etwa einen Weg gefunden? Hatte es etwas damit zu tun, was er gerade eben gesagt hatte? Dass er Carinas Geist gebrochen hatte? Zumindest würde so der Tod der kleinen Schwarzhaarigen einen gewissen Sinn ergeben. Carina zeigte sich von der Wut ihres Gegenübers unbeeindruckt, obwohl ihr in Wirklichkeit das Herz heftig gegen die Brust schlug. „Wer sagt denn, dass ich sie noch habe? Vielleicht habe ich sie in dem Moment vernichtet, als ich sie in die Finger bekommen habe“, antwortete sie ruhig. „Und somit den einzigen Weg vernichtet, um zu erfahren wie du in diese Zeit gekommen bist? Ich glaube nicht. Dafür hast du selbst ein zu großes Interesse daran“, erwiderte der Todesgott selbstsicher. Langsam setzte sich bei Cedric ein Denkprozess in Gang. Dieser Crow hatte Carina also entführt, um an ihren Cinematic Record zu kommen und durch diesen zu erfahren, wie sie in die Vergangenheit gereist war. Er selbst kam ebenfalls aus der Zukunft, wusste den Weg aber anscheinend ebenso wenig wie Carina selbst. Wollte… wollte er etwa einen Weg zurück finden? „Er will wieder in seine eigene Zeit zurück“, murmelte Grell in dieser Sekunde leise, als auch er zu diesem Ergebnis kam. Cedric warf ihm einen kurzen, aber dafür überraschten Blick zu. Scheinbar war der Rothaarige gar nicht so dumm, wie er immer gedacht hatte. „Du hast Recht“, gab die 19-Jährige nun zu. „Ich habe meinen Record nicht vernichtet.“ Kaum wahrnehmbar blitzte Erleichterung in seinen Augen auf. Sie grinste. „Ich werde dir aber keineswegs verraten, wo er sich befindet.“ Seine Gesichtszüge glichen nun mehr einer Fratze, so sehr verzogen sie sich vor Wut. „Verdammte Scheiße, muss sie ihn jetzt auch noch provozieren?“, stöhnte Grell und drückte sich an der unsichtbaren Mauer beinahe die Nase platt. „Das konnte sie schon immer gut“, murmelte der Bestatter. Seine phosphoreszierenden Augen waren starr auf die Mutter seines Kindes gerichtet. „Grell“, meinte er plötzlich und Angesprochener schaute ihn erstaunt an. Das war das erste Mal gewesen, dass ihn der Silberhaarige bei seinem Namen genannt hatte. „Kann sie es schaffen? Könnte sie ihm gewachsen sein?“ Seine Stimme war leise, kontrolliert. Doch Grell hörte die Anspannung hinter den Worten. Er wusste, die Nerven des ehemaligen Seelensammlers waren bis zum Zerreißen gespannt. „Ich weiß nicht“, antwortete er ehrlich und besah sich den Mann, der für all das hier verantwortlich war, genauer. „Ich kann die Stärke von Crow nicht genau einschätzen, ich habe ihn nie kämpfen sehen. Aber… eines weiß ich mit Sicherheit. Carina ist stark.“ Seine gelbgrünen Augen funkelten vor Stolz kurz auf. „Sie hat sich in den letzten Jahren in einer unglaublichen Geschwindigkeit weiterentwickelt. Und sie gibt niemals auf, bevor sie nicht alles versucht hat, um ihren Gegner zu schlagen.“ Der Mentor schaute seinen Schützling aufmerksam an. „Sie wird es schaffen. Sie muss einfach!“ Cedric konnte dem Reaper ansehen, dass dieser sein bedingungsloses Vertrauen in die 19-Jährige setzte. Es beruhigte ihn ein wenig, dass Carina jemanden hatte, auf den sie sich so verlassen konnte. Wenn er selbst doch nur die gleiche Zuversicht an den Tag hätte legen können. Dieser Shinigami schien mit allen Wassern gewaschen zu sein. Wer wusste denn schon, wozu er fähig war? Und wie weit er für das Erreichen seiner Ziele gehen würde? Die kleine Schwarzhaarige hatte bereits sterben müssen. Sicherlich hatte er keine Hemmungen Carina die gleiche Ehre zu erweisen. Bei dem bloßen Gedanken zog erneut ein unangenehmer Stich durch seine Brust, eine Mischung aus Sorge und Angst. Er hasste diese Hilfslosigkeit. Er wollte nicht einfach nur tatenlos daneben stehen und zusehen! Carinas Puls beschleunigte sich, als ihr Gegner mit einer schnellen und kontrollierten Bewegung seine Death Scythe zog. Das Rapier war ihr bereits bestens bekannt, die silberne Klinge neigte sich keine Sekunde später in ihre Richtung. Jetzt war es endlich soweit. Endlich war der Moment da, endlich konnte sie ihn büßen lassen für all das, was er ihr angetan hatte. Was er Alice angetan hatte! Die beiden Todesgötter stießen sich zeitgleich vom Boden ab und nur wenige Sekunden später prallten ihre Klingen mit voller Wucht gegeneinander. Carina bemerkte zu ihrer großen Erleichterung, dass sie nicht ihre komplette Kraft aufwenden musste, um dem Druck seiner Waffe standhalten zu können. Möglicherweise lag dies aber auch einfach an der unglaublichen Wut, die ihrem Körper nach wie vor innewohnte und ihr die nötige Kraft gab. „Im niederträchtigen Überwältigen von hinten bist du ganz vorne mit dabei, aber in einem normalen Kampf kannst du dich nicht mal gegen ein – wie war das noch gleich? – kleines, dummes Mädchen durchsetzen? Jämmerlich.“ Ihre Provokation zeigte sofort den erwünschten Effekt. Eine Wutader zeichnete sich nun deutlich auf seiner Stirn ab und der Druck auf ihr Katana verstärkte sich zunehmend. „Na warte“, zischte er und neigte seinen Oberkörper ein winziges Stück mehr nach vorne. Genau die Bewegung, auf die Carina gewartet hatte. Sie selbst ließ mit einem Mal ihre Muskeln locker, sodass sein Rapier ihr Katana zu Boden drückte. Durch das unerwartete Nachgeben ihrerseits und das plötzliche Ungleichgewicht seines Oberkörpers stolperte der Shinigami einen einzigen Schritt nach vorne, doch das reichte Carina schon. Ihr Fuß schnellte mit gestrecktem Bein nach oben und bohrte sich unerbittlich in sein Gesicht. Sie sah den Unglauben in seinen Augen, dann riss es seinen Kopf nach hinten und ihn gleich mit. Zu Carinas größtem Bedauern jedoch schaffte es der Mistkerl auf den Beinen zu bleiben. Wie gerne hätte sie ihn am Boden kauern sehen. Allerdings war der Anblick seiner blutenden Nase auch nicht zu verachten. „Miststück“, knurrte der Lehrer verachtend und wischte sich einmal mit dem Ärmel seines schwarzen Jacketts über die Nase. „Das Miststück stopft dir gleich das Maul“, zischte sie zurück und leitete dieses Mal selbst den Angriff ein. Ihre Death Scythe schnitt durch die Luft, sauste ungebremst auf ihn herab, doch er war genauso flink wie sie. Sein Rapier prallte erneut gegen ihre Waffe und hielt sie somit im letzten Moment davon ab ihm den Schädel in zwei Teile zu spalten. Und dann begannen die beiden Todesgötter richtig zu kämpfen. Jeder von ihnen war meisterhaft im Umgang mit seiner Death Scythe, das wurde allen Anwesenden bereits nach wenigen Sekunden klar. Jeder Schlag war präzise, jedes erneutes Zusammenschlagen der beiden Waffen bis ins kleinste Detail durchdacht. Hätte Grell es nicht besser gewusst, hätte er geglaubt Crow und Carina hätten bereits öfter die Klingen miteinander gekreuzt. „Mir ist zwar damals in deinem Duell mit Knox klar geworden, dass mehr in dir steckt, als ich zu Anfang angenommen habe“, sagte er und Carina konnte gerade so einem weiteren Hieb seinerseits ausweichen, „aber das du in so kurzer Zeit noch solche Fortschritte machst, damit habe selbst ich nicht gerechnet.“ „Und das wird dir jetzt zum Verhängnis“, knurrte Carina zurück und drehte ihre Klinge leicht seitlich, um dem Druck Crows besser standhalten zu können. Ein Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus, das die 19-Jährige ihm am liebsten aus dem Gesicht geschlagen hätte. „Denkst du, ja?“ Dieses Mal kam sein Rapier waagerecht auf sie zu, wodurch Carina spielend leicht darunter wegtauchen konnte. Leider übersah sie dabei seine linke Faust, die ihr bereits eine Sekunde später einen derben Schlag gegen das Kinn versetzte. Sie unterdrückte einen Schmerzenslaut, konnte das schnelle Taumeln nach hinten allerdings nicht verhindern. Sofort fing die rechte Seite ihres Kinns an unangenehm zu pochen. Sein Grinsen wurde breiter. „Vergiss nicht, Carina, ich bin dir trotz allem ein paar Jahrhunderte voraus.“ „Und scheinbar hat die Zeit dich nicht schlauer werden lassen“, gab Angesprochene in einem höhnischen Ton von sich. Seine Mundwinkel verzogen sich in einer fließenden Bewegung nach unten. „Wie bitte?“ Scheinbar mochte er es nicht sonderlich, wenn man seine Intelligenz in Frage stellte. „Na ja“, begann sie und gab sich besondere Mühe, um ihren Tonfall so herablassend wie möglich klingen zu lassen. „Es wäre ein Leichtes für dich gewesen in deine Zeit zurückzukehren. Du hättest einfach nur abwarten und dich mit deinem Schicksal abfinden müssen, dann hättest du es vielleicht zurückgeschafft.“ Sie packte den Griff ihres Katanas fester. „Aber du hast dich mit den Falschen angelegt. Jetzt wirst du es niemals zurück in die Zukunft schaffen. Das werde ich verhindern, du abartiger Mistkerl.“ „Ach ja?“, zischte er zornig und holte zum verbalen Gegenschlag aus. „So, wie du es verhindert hast, dass ich dein kleine Freundin von ihrem Kopf befreit habe?“ Carinas ganzer Körper verkrampfte sich, als ihr die Bilder automatisch wieder in den Kopf schossen. Sie wurde bleich. Grell holte hinter der Barriere japsend Luft und selbst dem Bestatter schienen einen Moment lang die Worte zu fehlen. Der Todesgott hatte die kleine Schwarzhaarige geköpft? „Alice ist tot.“ „Bist… bist du dir auch ganz sicher?“ „Ich war dabei.“ „Oh Gott, nein“, murmelte Grell schwach und schloss entsetzt die Augen. Sie hatte mitangesehen wie… Cedric konnte nicht anders. Unwillkürlich begann er sich das Szenario vorzustellen. Crow musste es mit seiner Death Scythe getan haben, denn das war der einzige Weg als Shinigami einen anderen Shinigami zu töten. Er stellte sich vor seinem geistigen Auge vor, wie das Rapier in den dünnen Hals der 20-Jährigen eingedrungen war, Sehnen und Muskeln durchtrennt und das Fleisch geteilt hatte. Wie die Haut eingerissen war und in einem Schwall das ganze Blut freigab, das sich bis dato im Körper befunden hatte. Und natürlich, wie die Death Scythe schließlich auf der anderen Seite des Halses wieder austrat und ihren Kopf endgültig abtrennte. Wenn man einigen Theorien Glauben schenken sollte, bekam das Opfer die Enthauptung noch mit und sogar das Gehirn lebte noch etwa 13 Sekunden weiter. Etwas, was Cedric an sich zwar recht interessant fand, aber das war nicht der Punkt. „Ich war dabei.“ Er ballte seine Hände zu Fäusten. Carina hatte all das mitangesehen und wahrscheinlich kamen seine Vorstellungen nicht einmal nahe an die Wirklichkeit heran. Dieser Mistkerl hatte ganz genau gewusst, was er ihr damit antat, denn genau deswegen hatte er es ja erst getan. Wenn Carina ihn nicht umbrachte, dann würde er es tun! Crow hatte mit seinen Worten jedenfalls genau das erreicht, was er erreichen wollte. Carina bebte vor Zorn. Er lächelte heimtückisch. Mental war sie ohnehin schon angegriffen und durch seine vorherige Folter würde ihr Körper diesen Kampf sicherlich nicht allzu lange mitmachen, egal wie gut sie auch sein mochte. Außerdem würde diese ungeheure Wut auf ihn die Schnitterin unvorsichtig werden lassen. Und so kam es auch. Ihr nächster Angriff war rasend schnell, aber lange nicht so präzise, wie die vorangegangenen. Die 19-Jährige riss die Augen auf, als ihr Gegner einen beinahe lässigen Schritt zur Seite machte und seine Klinge im nächsten Moment über die Haut ihres linken Oberarmes fuhr. Sofort machte sich ein altbekannter, brennender Schmerz an besagter Stelle bemerkbar, was Carina nur noch wütender machte. Verflucht, sie hatte nicht aufgepasst. Mit einem geübten Rückwärtssalto brachte sie wieder ein wenig Abstand zwischen sich und ihren ehemaligen Lehrer, doch dieser hechtete unmittelbar hinter ihr her, gab ihr keine Zeit sich von der Schnittwunde zu erholen. Erneut tauchte sie unter seiner Waffe hinweg, nahm aus den Augenwinkeln das Blut wahr, das über ihren Arm lief. „Wo ist deine Deckung?“, echote es über ihr und entsetzt bemerkte sie, dass ihr Peiniger sein rechtes Knie auf sie herabsausen ließ – doch zu spät! Alle Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst, als das Gelenk sie hart in den Magen traf. Ein ersticktes Keuchen drang über ihre Lippen und hätte sie noch etwas im Magen gehabt, hätte sie sich sicherlich jetzt noch ein weiteres Mal übergeben. Die Wucht der Attacke schleuderte sie nach hinten und reflexartig versuchte die Blondine sich mit ihren Armen selbst am Boden abzufangen, schürfte sich dabei jedoch lediglich beide Handflächen auf. Es brannte wie Feuer, doch Carina war immer noch damit beschäftigt Luft zu holen. Sie hustete, wobei sowohl Blut als auch Speichel auf den verdreckten Boden flogen. Cedrics Hände verkrampften sich an der Wand aus Luft. Nein, nein, nein. Genau das war es gewesen, wovor er sich gefürchtet hatte. Und er konnte gar nichts tun, um ihr zu helfen. Konnte nur abwarten und zusehen, was sich vor seinen Augen abspielte. Die Hilflosigkeit machte ihn wahnsinnig. Nicht schon wieder, er dürfte nicht schon wieder einen Menschen verlieren, den er… Carina atmete gegen den Schmerz an, während sie sich wieder hoch auf die Beine kämpfte und seinen erneuten Hieben auswich. Durch seine bisherige körperliche Unversehrtheit war er ihr gegenüber deutlich im Vorteil, das wusste die Schnitterin. Also musste sie schnellstmöglich dafür sorgen, dass sich diese Tatsache änderte. Aber das Problem daran war, dass er genauso schnell war wie sie und Carina hatte nicht mehr die Kraft dazu diese Auseinandersetzung in die Länge zu ziehen. Nein, sie musste mit Tricks arbeiten, musste ihn irgendwie dazu bringen seine eigene Deckung aufzugeben. Eine gewagte Strategie begann sich langsam in ihrem Kopf zu formen. Allerdings…wenn ihr Plan schief gehen würde, wenn sie scheiterte, dann würde sie das ihren Kopf kosten. Und im Zusammenhang mit Crow meinte sie dies wortwörtlich. „Nein, das hebe ich mir am besten für später auf.“ Der Todesgott lachte schallend auf, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte. „Ich kann förmlich sehen, wie es in deinem Gehirn arbeitet, Carina. Na, fehlt dir etwa die rettende Idee?“ „Zumindest habe ich ein arbeitendes Gehirn. Das scheint bei Ihnen ja wohl eher Mangelware zu sein“, entgegnete sie spöttisch und hob das Kinn ein wenig höher, um sich ihre aufkommende Nervosität nicht anmerken zu lassen. Die eine Sekunde, in der sich seine Miene erneut verfinsterte, nutzte sie, um – ähnlich wie sie es damals bei Cedric getan hatte – über ihn hinwegzuspringen. Ihr Fuß traf seinen Hals, instinktiv begann der Shinigami zu würgen. Ihr Katana bohrte sich gleich darauf in seine Schulter und der blütenweiße Stoff verfärbte sich innerhalb von einem Augenblick blutrot. Ein Schrei entfloh seinem Mund, der Carina ein Grinsen auf das Gesicht trieb. „Na, wie fühlt sich das an? Tut weh, nicht?“, zischte sie und riss ihre Death Scythe ruckartig aus der Wunde zurück, wodurch sich diese nur noch vergrößerte. Mr. Crow taumelte zurück, machte aber nicht den Fehler an die Verletzung zu greifen und somit keine Hand mehr frei zu haben. „Miststück“, keuchte er, nun ein wenig außer Atem. Scheinbar war er derartige Schmerzen wirklich nicht gewohnt. „Das hatten wir heute doch schon einmal“, erwiderte Carina verächtlich und festigte den Griff um ihre eigene Death Scythe. Eine bessere Wunde hätte sie ihm nicht beibringen können. Jetzt konnte einer seiner Arme zumindest nicht mehr mit voller Kraft das Rapier halten. Wenn sie es jetzt noch irgendwie fertig brachte ihn am anderen Arm zu verletzen, dann sahen ihre Chancen mit einem Mal schon wieder ganz anders aus. Sie verlor keine Zeit und stürzte sich erneut auf ihn, der Klingentanz ging auf der Stelle weiter. Während Grell vor Erleichterung am liebsten geweint hätte, starrte Cedric wie gebannt zu den kämpfenden Todesgöttern. Er hatte zwar vermutet, dass Carina sich nach dem missglückten ersten Kampf gegen den damals noch unbekannten Feind weiterentwickelt hatte, aber mit solch einer Verbesserung hatte er nicht gerechnet. Sie war schneller als damals auf der Campania und konnte die Reaktionen ihres Gegners viel besser einschätzen. Vermutlich würde sie sogar noch um einiges besser sein, wenn sie im Besitz ihrer vollen körperlichen Kraft wäre. Es beeindruckte ihn doch immer wieder aufs Neue, wie sehr sie sich in den letzten Jahren verändert hatte. Dennoch, dieser Mr. Crow hatte ebenfalls eine ganze Menge auf dem Kerbholz. Und er hatte Carina eine ganz entscheidende Sache voraus. Erfahrung. „Verdammt, ich schaffe es einfach nicht seine Deckung zu überwinden“, ging es der Schnitterin verzweifelt durch den Kopf, während ihr Katana zum wiederholten Mal gegen sein Rapier schlug. Egal, wie abwechslungsreich sie ihre Bewegungen und Angriffe auch gestaltete, er war immer sofort zur Stelle und wehrte sie ab. Und langsam aber sicher spürte sie, wie ihre Arme müder von dem Gewicht ihrer eigenen Waffe wurden. Wie ihr ganzer Körper nichts anderes wollte als Ruhe und Schlaf. Erneut dachte sie an die Strategie, die sie sich vorhin zurechtgelegt hatte. „Wenn das schief geht, bin ich tot“, dachte sie, aber es nützte alles nichts. Crow war stärker als sie. Aber das bedeutete nichts. Sie musste nicht stärker sein als er, um ihn zu töten. Sie musste einfach den besseren Plan haben. Also setzte sie ihr schrecklich leichtsinniges Vorhaben in die Tat um. Bei seinem nächsten Schwerthieb duckte sie sich, allerdings eine Spur zu langsam. Die dünne Klinge glitt knapp über ihre linke Schulter hinweg und Carina versuchte sich zu wappnen, doch nichts hätte sie auf den brennenden Schmerz vorbereiten können, als die geschärfte Stichwaffe über die Haut ihres Rückens fuhr. Der Stoff des Kleides riss auf, Blut spritzte sogleich aus der Schnittwunde und Carina war froh, dass sie diese nicht sehen konnte. Ein unterdrückter Schmerzensschrei entfuhr ihren Lippen. „Carina“, konnte sie Grell im Hintergrund schreien hören, doch es klang dumpf in ihren Ohren. Vielmehr nahm sie ihren rasenden Puls wahr, der gegen die Innenseiten ihres Schädels hämmerte. „Reiß dich zusammen“, schleuderte sie sich gedanklich entgegen und richtete ihren Blick auf das zufrieden grinsende Gesicht ihres Gegners. „Ja genau. Denk ruhig, dass du bereits gewonnen hast“, dachte sie und eine Sekunde später entdeckte sie endlich die Lücke in seiner Verteidigung, die sie schon die ganze Zeit gesucht hatte. Sie schlug zu; schneller, als irgendjemand im Raum realisieren konnte. Im ersten Moment befand sich die Klinge ihres Katana nahe seines Oberarmes, im nächsten durchschlug sie sein Fleisch. Schnitt glatt und ohne Probleme durch den Knochen, knapp über dem Ellbogen und trennte die Extremität vom restlichen Körper ab. „Eine Death Scythe durchschneidet alles.“ Noch nie war sie froher um diesen Slogan gewesen als jetzt. Carina verfolgte jede Regung auf seinem Gesicht. Sein ungläubiger Blick, während er noch zu realisieren versuchte, was gerade passiert war. Das langsame Blinzeln, als die Tatsache langsam in seinen Kopf eindrang, dass sie ihm gerade beinahe den kompletten rechten Arm abgeschlagen hatte. Und als es endlich soweit war, explodierte Schmerz auf seinem Gesicht. Der gellende Schrei, der nun seiner Kehle entfuhr, war Musik in Carinas Ohren und sie hasste sich dafür. Wann war sie zu jemandem geworden, der sich an dem Leid anderer ergötzte? Crow taumelte rückwärts von ihr weg, bleich wie ein Bettlaken. Ob dies vom Schock herrührte oder von der gewaltigen Menge Blut, die nun zu Boden spritzte, konnte die Schnitterin nicht genau sagen. Aber in diesem Augenblick ereilte auch Carina der Schmerz an ihrem Rücken und er war so überwältigend, dass sie gezwungen war auf die Knie zu gehen und sich nach vorne zu krümmen. Cedric hatte sich in der Sekunde gegen die Barriere geworfen, als das Rapier Carinas Rücken aufgerissen hatte. In der einen Sekunde, in der sein Herz vor Schmerz laut aufgeschrien hatte. Mit jeder Faser seines Körpers wehrte er sich gegen die Wand aus Luft, brauchte jegliche Selbstbeherrschung allein dafür auf nicht vor Verzweiflung und Wut zu brüllen. Es besänftigte ihn nicht einmal, dass die 19-Jährige zum Gegenschlag ansetzte und ihrem Gegner den Arm abschlug. Seine Fingernägel kratzten über das feste Hindernis, suchten nach wie vor nach einem Schlupfloch, das nicht da war. Verdammt, aber es musste eines geben, es musste einfach. Diese Wunde… diese riesige Schnittwunde… Blut breitete sich strahlenförmig über ihr Kreuz aus, durchtränkte den blauen Stoff des Kleides. Selbst von hier aus konnte der Bestatter sehen, dass der Schnitt tief saß und genäht werden musste. Carina musste unglaubliche Schmerzen haben. „Undertaker, hör auf damit. Das bringt doch nichts“, hörte er Grell neben sich rufen, doch er ignorierte den Rotschopf. Er musste irgendwie zu Carina durchkommen und dann würde er diesen Bastard in Stücke reißen. Dafür, dass er der seinen wehgetan hatte. Und in diesem Moment traf ihn die Erkenntnis. In diesem Moment der Sorge und der Angst sie zu verlieren, da wusste er es. Er liebte Carina. Hatte es tief in seinem Unterbewusstsein schon lange gewusst, hatte immer wieder gegen diese Gefühle angekämpft, versucht den gleichen Fehler nicht noch einmal zu machen. Aber es hatte nichts gebracht, verdammt… er liebte Carina! Und der Gedanke, dass er es womöglich zu spät erkannt hatte, dass sie gleich vielleicht vor seinen Augen sterben würde, brachte ihn fast um. „Himmel Herrgott“, knurrte er und hämmerte erneut gegen die Wand. Hätte Carina diesen dämlichen Schalter doch nur nicht vernichtet… Auch Grell verlor neben ihm nun die Nerven, bekam gar nicht richtig mit, was dem Silberhaarigen gerade klar geworden war. „Carina“, schrie er zum wiederholten Male, doch die Blondine schien ihn nicht zu hören. Zu sehr war sie damit beschäftigt die gewaltigen Schmerzen in den Griff zu bekommen, um endlich weiterkämpfen zu können. Es war ein großes Glück, dass es ihrem Gegenüber genau so ging. Der Reaper zog seine Death Scythe und stieß sein rotierendes Sägeblatt mit aller Macht gegen die Barriere, doch diese hielt stand. „Das darf doch wohl nicht wahr sein“, fluchte er lautstark. Dieser Mistkerl hatte es also sogar geschafft etwas zu erfinden, was den Todessensen der Shinigami widerstehen konnte? „Scheiße“, wisperte er und konnte den Anblick seiner engsten Vertrauten kaum ertragen. Der Stoff an ihrem Rücken war mittlerweile komplett von ihrem Blut durchnässt. Die Wunde würde sie als Shinigami nicht umbringen, aber der Blutverlust konnte zumindest dazu führen, dass sie das Bewusstsein verlor. Und wenn das passierte, dann konnte Crow mit ihr machen, was er wollte. Er wollte sich gar nicht vorstellen, was– Überrascht fuhren beide Todesgötter herum, als hinter ihnen im Gang Schritte ertönten. Beide konnten sich allerdings denken, um wen es sich dabei handeln musste und bereits wenige Sekunden später bestätigte sich dieser Verdacht auch. „Sebas-chan“, bemerkte Grell, hätte er doch trotz allem nicht gedacht, dass der Butler so schnell zurückkehren würde. „Was machst du hier?“ „Haben Sie vorhin etwa nicht zugehört, Grell Sutcliff? Mein junger Herr möchte, dass ich denjenigen bestrafe, der Lady Elizabeth entführt hat.“ Er blickte zu dem einarmigen Mann, der keuchend am anderen Ende des Raumes stand. „Ich nehme an, das ist besagter Übeltäter?“ Er machte einen recht großen Schritt nach vorne, stoppte allerdings kurz vor der undurchlässigen Mauer. „Was zum-“, murmelte er und tastete die unsichtbare Wand ebenso ab, wie es der Totengräber zuvor getan hatte. Seine Augen glühten einmal rot auf, als er sich erneut daran versuchte weiter vorzurücken, aber genauso wie die Shinigami war für ihn hier Endstation. „Scheint so, als ob auch dämonische Kräfte hier nicht wirken“, seufzte Grell, verstummte dann aber abrupt, als seine Aufmerksamkeit auf Carina zurückgelenkt wurde, die jetzt ihren linken Fuß wieder auf dem Boden abgestellt hatte. Ein angestrengtes Keuchen verließ ihre Lippen. Carina konnte die kalten Schweißperlen auf ihrer Stirn fühlen und ebenso, wie sie mit jeder weiteren Minute immer blasser wurde. Sie dachte an ihren Selbstmord zurück. Damals hatte es sich ähnlich angefühlt. Mit jedem Blutstropfen, der ihren Körper verließ, verschwamm ihre Sicht mehr. „Verflucht“, zischte die junge Frau leise und richtete sich noch ein wenig weiter auf. Sofort ergriff sie ein heftiger Schwindelanfall, trieb ihr noch mehr die Farbe aus dem Gesicht. Keuchend verblieb sie daher am Boden und sah zu Crow herüber, der sich inzwischen ein Stück seines Hemdes abgerissen und als Druckverband um den Stumpf seines ehemaligen Armes gebunden hatte. Die Fassungslosigkeit in seinem Gesicht wurde nach und nach durch Wut ersetzt. „Du dämliche Hure“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Zuerst Miststück und jetzt Hure? Fällt Ihnen nichts Besseres ein?“, fragte sie atemlos und versuchte zum zweiten Mal sich aufzurichten. Doch ihr Körper hatte genug, sie hatte ihre Grenzen deutlich überschritten. Zuerst die Entführung, dann die Folter, der Schock durch Alice‘ Tod, die ganze Rennerei durch diese unterirdischen Tunnel und jetzt auch noch dieser Kampf gegen ihren ehemaligen Lehrer. Gepaart mit der blutenden Wunde hatte es ihrem Körper den Rest gegeben. „Scheiße“, dachte sie und zu ihrem größten Missfallen spürte sie Angst ihre Kehle hinaufkriechen. Wenn sie sich nicht schleunigst etwas einfallen ließ, dann würde er sie umbringen. Und dieses Mal würde es keine Rückkehr von den Toten mehr geben. Auch, wenn Carina es nicht gerne zugab: Sie wollte noch nicht sterben! „Carina“, hörte sie Grell jetzt hinter sich rufen. Sie wandte halb ihren Kopf und sah ihn an. „Steh auf“, befahl er ihr im gleichen strengen Tonfall, den er bereits zu Zeiten ihrer Ausbildung immer angeschlagen hatte. Doch sie konnte das Zittern in seiner Stimme hören. „Steh auf“, sagte er noch einmal, während seine Augen auf etwas hinter ihr fielen und nun groß wurden wie Untertassen. Carina sah zu ihrem persönlichen Erzfeind zurück. Dieser hatte es in der Zwischenzeit geschafft sich zu bücken und seine Death Scythe vom Boden aufzuheben. Carina zwang ihren Körper in die Höhe, schaffte aber nur einen einzigen Schritt nach hinten, ehe ihr Zustand sie wieder zurück auf die Knie fallen ließ. „Ich bin so ein Idiot“, dachte sie. „Wäre ich nur nicht so dumm gewesen und hätte den Schalter zerstört, dann gäbe es vielleicht jetzt noch einen Ausweg.“ Es wäre ihre eigene, dämliche Schuld, wenn sie hier draufgehen würde. Ihr verdammter Stolz würde ihr schlussendlich also doch noch das Genick brechen. „Denk nach. Denk nach“, ermahnte sie sich und sah langsam auf, ließ den Blick hektisch hin und her schweifen. Erst jetzt bemerkte die 19-Jährige, dass Sebastian zurückgekehrt war. Er stand schweigend neben Cedric und schien gerade den Versuch aufzugeben einen Weg durch die Barriere zu finden. Die dämonischen Augen legten sich kurz darauf auf sie, flackerten in der Dunkelheit des Raumes gefährlich auf. Und in diesem Augenblick, als sie den Butler und den Silberhaarigen so zusammen sah, schob sich ein Bild vor ihr inneres Auge. Eine ganz bestimmte Szene, die sich damals auf der Campania abgespielt hatte. Die scheinbar rettende Idee sprang Carina förmlich entgegen, gleichzeitig fragte sie sich, warum sie nicht schon früher auf diesen Einfall gekommen war. Wenn sie Crow richtig einschätzte, wenn er auch nur ein wenig so wie der Teufel war, dann… dann konnte dieser Plan funktionieren! Unwillkürlich beschleunigte sich ihre Atmung. Das Adrenalin schärfte erneut ihre Sinne und als sie ihren Kopf zum wiederholten Male hob und ihren Feind ansah, wirkte ihr Gesicht beinahe vollkommen ausdruckslos. „Du willst meine Cinematic Records?“, fragte sie ohne jegliches Gefühl in der Stimme, erwartete aber gar keine Antwort seinerseits. Quälend langsam – sich aber gleichzeitig jeder Bewegung bewusst – hob sie die Hand und ließ sie in ihren Ausschnitt gleiten, bis ihre Finger den kleinen festen Gegenstand ertasteten. Völlig ruhig zog sie die Filmdose hervor und hielt sie so, dass alle Anwesenden sie mit Leichtigkeit sehen konnten. „Dann hol sie dir!“ Eine deutliche Herausforderung lag in diesen Worten und als sie die Gier, diese unglaubliche Gier, in seinen Augen sah, da wusste sie, dass sie ihn richtig eingeschätzt hatte. „Oh Götter“, murmelte Grell, auch er hatte den Gesichtsausdruck des Lehrers gesehen. Eine Gänsehaut breitete sich auf seinen Armen aus. Dieser Typ war in seinem Fanatismus doch kein richtiger Mensch mehr! Neben ihm blieb der Undertaker hingegen verhältnismäßig ruhig. Er hatte das Blitzen in Carinas Augen gesehen, kurz bevor sie sich umgedreht hatte. „Sie hat einen Plan.“ Die Schnitterin sah dabei zu, wie Mr. Crow sich mehr und mehr aufrichtete. Vergessen schienen der abgetrennte Arm und die Schmerzen. Alles, was der Dunkelhaarige noch sehen konnte, war das kleine Filmdöschen in ihrer linken Hand. Auf diesen Moment hatte er so lange gewartet! Ein irres Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus. Er stürmte los, seine Death Scythe fest mit seiner verbleibenden Hand umklammernd. Nur noch wenige Meter… Und Carina sah ihm entgegen, unternahm nichts, rührte nicht einen Muskel. Nein, stattdessen dachte sie daran, wie er sie im Weston College in den Spiegel geworfen hatte. Wie er ihr anschließend die Tracht Prügel ihres Lebens verpasst hatte. Wie er sie nach ihrer Rückkehr zum Dispatch durch den Park verfolgt hatte. Wie er ihr das Genick gebrochen hatte. Sie anschließend gefoltert und gedemütigt hatte. Wie er… Alice getötet hatte. Das alles würde jetzt ein Ende haben! Crow streckte bereits seine Hand aus, gleich würde sein gewünschtes Zielobjekt in Reichweite sein. Gleich, endlich… Carina wartete bis zum allerletzten Augenblick. Und dann, mit einem leichten Beugen ihres Handgelenks, ließ sie die Dose los, schleuderte sie direkt an ihm vorbei. Grell, Sebastian und Cedric rissen synchron die Augen weiter auf. Alle drei wussten, was Carina nun vorhatte. Wie in Zeitlupe sah der Todesgott die Cinematic Records an sich vorbeigleiten. Mitten in seiner nach vorne stürzenden Bewegung drehte er sich um, den Blick fest auf das Objekt seiner Begierde gerichtet. Er ließ seine Waffe fallen und streckte die Hand erneut aus, die Finger weit gespreizt. Jetzt konnte ihn keiner mehr aufhalten. Er würde endlich nach so langer Zeit einen Weg finden zurückzukehren. Zurück ins 21. Jahrhundert. Die harte Arbeit der vergangenen Jahrhunderte würde sich auszahlen. Die ganzen Zeitreisenden, die er abgeschlachtet hatte, hatten sich schlussendlich doch noch gelohnt. Ein strahlendes Lächeln zierte seinen Mund und schließlich berührten seine Fingerspitzen – endlich, endlich – das glatte Material der Filmdose. Doch zeitgleich ging aus heiterem Himmel ein harter Ruck durch seinen Körper. Verwundert schaute der Todesgott an sich herunter und konnte nicht so recht begreifen, was er da sah. Ein feingeschliffenes Schwert hatte seinen Brustkorb durchstoßen, genau an der Stelle, wo sein Herz saß. Blut tropfte ihm plötzlich aus beiden Mundwinkeln, seine Finger ließen sich mit einem Mal nicht mehr krümmen. Die Dose entglitt ihm, fiel lautlos zu Boden. Immer noch keinen Schmerz spürend, drehte er sich um und sah seiner Angreiferin, die sich unmittelbar hinter ihm befand, mitten ins Gesicht. Und realisierte. Carinas Blick war eiskalt. Verschwunden waren die brennend heiße Wut und der Hass. Da war nur noch Leere. Sie sagte nichts, denn es gab nichts mehr, was sie ihm noch zu sagen hatte. Nein, er sollte sterben. Ohne die Gnade letzter schöner Worte, ohne einen Abschied. Einfach nur sterben. Und das tat er. Sein Mund öffnete sich zu einem letzten Schrei, der aber niemals seine Lippen verließ. Denn in diesem Moment schossen stechend gelbgrüne Cinematic Records aus seinem Körper, gaben ihm keine Gelegenheit mehr zu irgendeiner Reaktion. Die dünnen Streifen schlossen sich nach und nach eng um seinen ganzen Körper, bedeckten ganz zum Schluss sogar sein Gesicht. Carina zog ihr Katana schnell zurück, wich erstaunt von dem Schauspiel zurück. Was hatte das nur zu bedeuten? Was passierte da? Lange musste sie auf ihre Antwort jedenfalls nicht warten. In der Sekunde, als die Aufzeichnungen seinen kompletten Körper bedeckten, wurde das gelbgrüne Licht so grell, dass es Carina in den Augen brannte. Doch sie zwang sich sie offen zu lassen, wollte keinen Augenblick dieser Szene verpassen. Das Winden und Drehen der Cinematic Records wurde schneller. Und dann stoben sie auseinander, zerfielen nach und nach zu Asche, bis nichts mehr von ihnen übrig war. Carina wusste, dass es vorbei war. Nichts erinnerte noch an den Mann, der ihr ganzes Leben in ein einziges Chaos gestürzt hatte, der ihr ihre beste Freundin genommen hatte. Aber es stellte sich keine Erleichterung ein. Kein Glück. Kein Frieden. Sie sackte zu Boden, hatte gerade noch so die Kraft sich mit den Händen halbwegs abzufangen. Wenn sie nicht so erschöpft gewesen wäre, wenn ihr nicht alles wehtun würde, dann hätte sie am liebsten geweint. Geweint um das, was sie in diesem Bunker verloren hatte. Doch keine einzige Träne kam. Cedric stand immer noch wie erstarrt da, unfähig klar zu denken. Sie hatte diesen Mistkerl mit seinem Trick geschlagen, hatte es genau so gemacht, wie er auf der Campania. Auch Sebastian hatte sich damals ohne zu Zögern zu Ciel umgedreht und seine komplette Umgebung außer Acht gelassen. Unterschwelliger Stolz flammte in ihm auf. Carina war wirklich außergewöhnlich. „Oh Gott sei Dank“, schluchzte Grell neben ihm und war tatsächlich in Freudentränen ausgebrochen. Seiner kleinen Schwester war es wirklich gelungen, sie hatte ihre beste Freundin gerächt und den Shinigami dafür bezahlen lassen, was er getan hatte. Doch die Freude darüber verpuffte in dem Moment, als er merkte, dass die Barriere immer noch intakt war. „Scheiße“, entfuhr es ihm und rollte kurz darauf mit beiden Augen. Dieses Wort benutzte er heute viel zu häufig. „Wir müssen diese Wand irgendwie durchbrechen“, meinte der Totengräber und griff nach seiner Sense. Er wollte Carina keine Sekunde länger in ihrem eigenen Blut dort liegen lassen. Aber bevor er auch nur einmal mit seiner Death Scythe ausholen konnte, erstrahlte erneut ein helles Licht. Dieses Mal war es allerdings nicht gelbgrün, sondern blendend weiß. „Oh nein“, sagten Cedric und Sebastian unisono. Beide hatten sie dieses Licht schon mehrere Male in ihrem langen Leben gesehen und es ließ immer nur einen einzigen Schluss zu. „Das ist jetzt nicht wahr, oder?“, hauchte Grell. Er selbst hatte noch nie eine solche Begegnung gehabt, aber er kannte Unmengen an Geschichten. Sowohl Gute, als auch Schlechte. Und so beschissen, wie es in den letzten Tagen gelaufen war, konnte er Letzteres definitiv nicht ausschließen. Carina kniff die Augen zusammen. Halluzinierte sie jetzt bereits oder passierte das gerade wirklich? „Bloß nicht ins Licht hineingehen“, dachte sie flüchtig amüsiert. Anscheinend schien sie bereits den gleichen Humor wie ein gewisser Bestatter zu entwickeln. Das unangenehm starke Leuchten ließ langsam nach und als die junge Shinigami ihre Augen wieder öffnete, traute sie dem Anblick nicht, der sich ihr bot. Keine zwei Meter von ihr entfernt stand ein Mann. „Nein“, korrigierte Carina sich gedanklich. Nein, das war kein Mann. Er war um die 1,90 m groß, seine langen blonden Haare hatte er im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Augen, die mit einem undefinierbaren Ausdruck auf sie herabsahen, schimmerten in der Farbe von flüssigem Gold. Sein Gewand hingegen war weiß und ähnlich wie eine Toga geschnitten. Und er war unglaublich schön, dachte Carina. Nur ein Dummkopf hätte das bestritten. Nein, das hier vor ihr war definitiv kein Mann. Denn die langen, gefiederten Schwingen auf seinem Rücken sprachen da eine relativ deutliche Sprache. „Ein Engel?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)