Selbstmord ist keine Lösung......oder? von LadyShihoin ================================================================================ Kapitel 65: Die Bombe platzt ---------------------------- Carina starrte den Mann vor sich entsetzt an. Und sie war sprachlos. In jeder Hinsicht sprachlos. Ihr Lehrer! Ihr Lehrer hatte sie verprügelt, sie gedemütigt und sie schlussendlich sogar entführt! Ihr monotoner, unterkühlter Lehrer, mit dem sie nie so richtig warm geworden war. Er war es die ganze Zeit über gewesen. Aber… aber warum?“ Der Todesgott trat zwei Schritte näher und stand nun ganz genau vor ihr, sodass Carina gezwungen war zu ihm aufzublicken. Sicherlich hatte er genau dies beabsichtigt, denn allein schon durch den jetzigen Größenunterschied fühlte sich die Schnitterin klein und hilflos. Was sie momentan auch war, keine Frage. Ein weiteres Mal zerrte sie an ihren Fesseln, doch diese gaben kein Stück nach. „Bemüh dich nicht“, meinte Mr. Crow und lächelte erneut. Carina wäre sein abwertender Ausdruck, den er während ihrer Ausbildung immer getragen hatte, lieber gewesen. Denn dieses Lächeln war einfach nur falsch und grausam. Die Ruhe vor dem Sturm. Bevor die Blondine jedoch irgendetwas erwidern konnte, hob der Mann Anfang 30 die Hand, holte aus und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige mitten ins Gesicht. Ihr Kopf neigte sich durch den Druck zur Seite und gleich darauf fühlte es sich so an, als hätte ihre Wange Feuer gefangen. Carina blinzelte, schien einen ganzen Moment zu brauchen, um das eben Passierte zu realisieren. Erst, als sie Blut im Mund schmeckte, traf sie die volle Erkenntnis, dass er sie gerade geschlagen hatte. Konfus drehte sie ihren Kopf wieder zu ihm zurück und bemerkte, dass sein schmales Lächeln nun eine Spur breiter geworden war. Fast so, als würde ihm das Ganze hier Spaß machen. „Das war dafür, dass du einfach so verschwunden bist. Und das schon zum zweiten Mal.“ Carinas Augen funkelten ihm zornig entgegen, doch sie wagte es nicht auch nur ein Wort zu entgegnen. „Ah, dieser Blick. Den habe ich schon einmal gesehen. Damals, als du gegen Knox gewonnen hast. An Selbstbewusstsein scheint es dir inzwischen wahrlich nicht mehr zu mangeln.“ „Was wollen Sie von mir?“, fragte die 19-Jährige kühl und war froh, dass ihre Stimme nichts über die Angst verriet, die nach wie vor in ihrem Inneren herrschte. Sie konnte es sich nicht erlauben jetzt Schwäche zu zeigen. Kurz huschte eine Regung über sein Gesicht. Überraschung? „Es wundert mich ehrlich gesagt, dass du es noch nicht weißt. Hast du denn wirklich überhaupt keine Vermutung?“ „Ich wurde noch nie verprügelt, anschließend fast umgebracht und dann auch noch entführt. Also nein, ich habe keine Ahnung“, erwiderte sie trocken, jetzt nur noch mühsam beherrscht. Hatte er sie das gerade wirklich gefragt? „Und Sie scheinen ja eher der Typ dafür zu sein, erst einmal auf einen einzuschlagen und dann Fragen zu stellen. Wobei… nicht einmal das haben Sie getan.“ „Nun“, begann er langsam und lächelte immer noch, was Carina inzwischen am allermeisten störte, „ich war mir ziemlich sicher, dass du nicht einfach so mit mir mitkommen würdest, also habe ich ein wenig nachgeholfen. Bis mir dann dieser seltsame Freund von dir einen Strich durch die Rechnung gemacht hat.“ Erleichterung flutete Carinas Gedanken. Er wusste nichts von ihrer Beziehung zu Cedric. Das hieß, dass er auch nicht von Lily wissen konnte. Gott sei Dank… „Ich weiß nicht, warum du den Dispatch verraten und dich abgesetzt hast, und es ist mir auch egal. Dennoch, es war gar nicht so einfach dich wiederzufinden. Ich hatte mir zwar deine Energiesignatur eingeprägt, aber solche Spuren zurückzuverfolgen ist ein Vorgang, den kaum ein Shinigami beherrscht. Und selbst, wenn man wie ich dazu in der Lage ist, dann benötigt es Zeit und Mühe. Zeit, die ich mir hätte sparen können, wenn du einfach im Dispatch geblieben wärst. Und glaube mir: Zeit ist etwas, was ich mir wirklich nicht mehr nehmen will.“ „Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Was wollen Sie von mir?“ Carina zuckte zusammen, als er sich näher zu ihr herunterbeugte, sodass sie ihm genau in die phosphoreszierenden Augen schauen konnte. Sein Atem, der stark nach Minze roch, schlug ihr entgegen. „Dummes Mädchen“, flüsterte er und beobachtete ganz genau ihre Reaktion auf die nachfolgenden Worte. „Hast du wirklich geglaubt, du wärst die Einzige, die jemals eine Zeitreise vollzogen hat?“ Carinas ganzer Körper gefror zu Eis. Meinte er etwa… War er etwa auch… Nein, das konnte nicht wahr sein. Sie schluckte, befeuchtete sich somit die trockene Kehle und versuchte mit aller Macht ihre Fassung zu bewahren. „Zeitreise? Ich hab keine Ahnung, wovon Sie sprechen.“ Die zweite Ohrfeige schmerzte weitaus mehr als die erste, kam aber genauso unerwartet. Carina keuchte gegen ihren Willen auf und konnte sich bereits vorstellen, wie sich ihr Wange zuerst nur röten würde, um anschließend blau anzulaufen. Dieses Mal brauchte sie ihren Kopf nicht zurückzudrehen, denn ihr ehemaliger Lehrer packte sie unsanft am Kinn und zwang ihr Gesicht wieder in seine Richtung. Seine Miene hatte sich merklich verfinstert. „Ich mag es überhaupt nicht, wenn man mich anlügt. Vor allem in Angelegenheiten, die nun wirklich mehr als offensichtlich sind. Glaub mir, du tätest in Zukunft besser daran mir die Wahrheit zu sagen.“ Die Schnitterin zuckte zusammen, als er ihr über die bereits geschwollene Wange strich. „Ich möchte deinem hübschen Gesicht nur ungern weiteren Schaden zufügen.“ Brennend heiße Wut kochte in Carina hoch und sie musste sich schwer zusammenreißen, um dem Schwarzhaarigen nicht mitten ins Gesicht zu spucken. Denn eins stand fest, dann würde mehr folgen, als nur eine weitere Ohrfeige. „Wie?“, brachte sie hervor und ließ alle Vorsicht fahren. „Wie haben Sie es herausgefunden?“ Er ließ ihr Kinn los und begann nun langsam ihre Liege zu umkreisen. „Nun, zu sagen es wäre einfach gewesen, wäre eine glatte Lüge. Der erste Verdacht kam mir auf, als du in meiner Klasse aufgetaucht bist. Vom ersten Blick an habe ich gesehen, dass du irgendetwas an dir hattest, was dich von anderen Mädchen unterschied. Niemals zuvor hatte auch nur eine Frau einen Gedanken daran verschwendet ein Seelensammler zu werden. Und du hattest noch dazu diesen entschlossenen Blick und dieses große Mundwerk. Ich gebe zu, du hast dir viel Mühe gegeben deine Sprache dieser Zeit anzupassen, aber ab und zu gab es dann doch ein paar Situationen, die mich stutzig machten.“ Carina presste die Lippen zusammen. „Das wird ja wohl nicht alles gewesen sein.“ „Nein, das war es tatsächlich nicht. Anhand dieser Auffälligkeiten hätte ich niemals etwas unternommen. Aber alle Zeitreisenden haben etwas gemeinsam. Sie stehen nicht auf der Liste.“ Der junge Frau stockte der Atem. Ja, sie erinnerte sich daran. Grell hatte so etwas erwähnt, als sie ihm und Alice die Wahrheit über ihre Herkunft gebeichtet hatte. „Das erklärt jetzt wenigstens, warum du damals nicht auf der Liste der Neuzugänge gestanden hast.“ „Es war nicht schwer mir die Liste mit den Neuzugängen aus der Registratur zu besorgen und siehe da: Dein Name stand nicht drauf.“ Er schlenderte dicht an ihrem Rücken vorbei, was ihr automatisch eine Gänsehaut im Nacken bescherte. „Aber selbst das war noch kein endgültiger Beweis. Es kam schon einige Male vor, dass der Verwaltung ein Fehler unterlaufen ist und die entsprechende Seele nicht auf der Liste stand. Also musste ich mich rückversichern. Wenn dein Name auch in den Geburtsbüchern nicht auftauchen würde, dann hätte ich den endgültigen Beweis. Also hab ich mithilfe deines Namens und deines ungefähren Alters die Bücher mitsamt den dazugehörigen Sterbedaten überprüft.“ Carina starrte ihn an, erneut vollkommen sprachlos. Er hatte all diese Bücher nach ihr durchsucht? Kein Wunder, dass er erst vor wenigen Monaten angefangen hatte nach ihr zu suchen, diese Arbeit musste Jahre gedauert haben. „Aber wozu dieser ganze Aufwand? Warum wollten Sie unbedingt sicher gehen, dass ich aus einer anderen Zeit komme? Und was meinten Sie eben damit, dass ich nicht die Einzige bin, die schon einmal eine Zeitreise gemacht hat?“ „Ich stelle hier die Fragen“, gab er von sich und stand nun wieder genau vor ihr. „Aber um deine Neugierde zu befriedigen: Ich habe ebenfalls eine Zeitreise hinter mir.“ Die Augen der Schnitterin weiteten sich. Damit hätte sie niemals im Leben gerechnet. Wenn sie mit ihrem Verhalten scheinbar ab und zu aus dem Raster gefallen war, dann hatte Mr. Crow das seine perfektioniert. Nicht eine Sekunde hatte sie daran gezweifelt, dass es sich bei ihm um einen ganz normalen Shinigami handelte. Nun, scheinbar hatte sie sich geirrt. „Und? Aus welchem Jahr hat es dich hierhin verschlagen? Und sei lieber gleich ehrlich. Ich merke es ziemlich schnell, wenn mich jemand anlügt, dafür habe ich einen sechsten Sinn.“ Die 19-Jährige seufzte schwer. Mal ganz abgesehen davon, dass Cedric ihr damals genau die gleiche Frage gestellt hatte… Was würde ihr lügen an diesem Punkt überhaupt noch bringen? „2015“, antwortete sie niedergeschlagen und sah stumm dabei zu, wie sich die Mundwinkel ihres Gegenübers leicht hoben. „Soso“, murmelte er, zog einen Notizblock hervor und notierte sich die Daten. „Von 2015 in das Jahr 1886. 129 Jahre. Tze, damit liegst du gerade mal im Mittelfeld.“ Carina verstand mittlerweile überhaupt nichts mehr. „Was soll das jetzt bitteschön heißen?“ Der Schwarzhaarige schnalzte mit der Zunge. „Ich habe schon viele Zeitreisende getroffen und hierhergebracht.“ Carina wurde übel. Sie wollte gar nicht wissen, was mit ihren Vorgängern geschehen war. „Aber die Meisten haben nur eine Reise von 50-150 Jahren gemacht, nicht mehr. Wie gesagt, mit 129 Jahren liegst du im Durchschnitt. Ich hingegen“, er atmete einmal tief ein, als würde ihn der Zorn über diese Ungerechtigkeit immer noch an den Rande einer Explosion befördern, „ich hingegen komme aus dem Jahr 2089.“ Die junge Frau schnappte nach Luft. Er kam aus einer Zeit, die 74 Jahre nach ihrer eigenen folgte? Erneut packte er ihr Kinn und drückte so fest zu, dass ihr der Kiefer schmerzte. „Und weißt du, in welches Jahr ich geschickt wurde, Carina?“ Angesprochene gab keinen Ton von sich und den Kopf schütteln konnte sie schließlich nicht. In seiner Wut wirkte der Mann vor ihr unberechenbar. „In das entzückende Jahr 1584. 505 Jahre! Ein halbes Jahrtausend in der Zeit zurückversetzt. Jemand wie du kann sich überhaupt keine Vorstellungen davon machen, wie das für mich war.“ Sie schluckte. Nein, das konnte sie tatsächlich nicht. „Nun, da du ebenfalls im 21. Jahrhundert gelebt hast, kannst du vielleicht etwas besser nachvollziehen, welch große Schritte die Menschheit in der Zukunft noch machen wird. Und glaube mir, vom Jahre 2015 bis 2089 werden noch sehr viele, sehr nützliche Erfindungen kreiert. Erfindungen, die die ganze Welt verändert haben. Sie verbessert haben.“ Er atmete schwer. „Ich hatte ein gutes Leben, ein praktisches Leben! Ich liebte die Technik meines Zeitalters, habe damit sogar mein Geld verdient. Alles, was für mich zählte, war der Fortschritt. Und von einem auf den anderen Augenblick wurde mir all das genommen. Weißt du eigentlich, was es im Jahre 1584 gibt? Nichts! Absolut gar nichts! Ich bin fast wahnsinnig geworden vor Angst. Mir war nichts geblieben. Ich lebte auf der Straße, denn Geld hatte ich schließlich keines mehr. Jedenfalls nichts, was man in dieser Zeit hätte verwenden können. Und geholfen hat mir auch niemand. Die Menschen waren schon immer selbstsüchtig, aber in dieser Zeit hatte diese Eigenschaft wirklich ihren Höhepunkt erreicht. Jeder war sich selbst der Nächste.“ Carina wurde ein wenig blasser um die Nase. Ja, auch das konnte sie sich ziemlich gut vorstellen. Wenn der Undertaker sie damals nicht aufgenommen hätte… Wer wusste schon, wie es mit ihr geendet hätte? „Wahrscheinlich hätten diese Mistkerle mich gleich in der ersten Nacht aufgespürt, vergewaltigt und anschließend umgebracht“, schoss es ihr durch den Kopf. Ja, sie selbst hatte wirklich Glück gehabt. Umso naher ging es ihr, dass vielen dieses Glück nicht vergönnt gewesen war. „Ich schätze mal, dass ich dir die Gründe, warum ich mich schlussendlich umgebracht habe, nicht erläutern muss.“ Er sah die unausgesprochene Frage in ihren Gedanken. Sofort war dieses bösartige Grinsen wieder da. „Ich habe mich von einer ziemlich hohen Klippe gestürzt. Wusstest du eigentlich, dass sich Wasser ab einer bestimmten Höhe und Geschwindigkeit wie Beton anfühlt, wenn man aufprallt?“ Er nahm eine ihrer blonden Spitzen zwischen Daumen und Zeigefinger, was sofort dafür sorgte, dass sie sich versteifte. Er sollte ihr nicht so nahe kommen, verdammt noch mal! „Und du, Carina? Was ist dein kleines, schmutziges Geheimnis?“ „Das geht Sie gar nichts an“, zischte Carina und wunderte sich gleich darauf, dass sein Grinsen nicht um einen Millimeter verrutschte. Er zuckte lediglich mit den Schultern. „Ich werde es sowieso bald erfahren“, meinte er. Die 19-Jährige war mittlerweile so verwirrt, dass sie nicht mehr wusste, welche Frage sie denn nun zuerst stellen sollte. „Ich verstehe immer noch nicht, was Sie jetzt von mir wollen. Gut, wir kommen beide aus einem anderen Jahrhundert. Na und?“ „Na und?“ Schlagartig schien seine Laune wieder am Tiefpunkt angelangt zu sein. „Du dummes Mädchen, genau darum geht es doch! Glaubst du vielleicht ich habe Lust noch weitere 200 Jahre zu warten, bis ich endlich wieder in meiner Zeit angekommen bin? Ganz bestimmt nicht! Was denkst du denn, was ich die letzten 300 Jahre gemacht habe? Nur den Lehrer gespielt? Oh nein!“ Er lachte dunkel und erneut erzitterte ein Teil von Carina, ganz tief in ihr drin. Auch Cedric hatte bereits so gelacht und auch bei ihm hatte es ihr nicht gefallen. Aber niemals hatte sie bei ihm dieses Unbehagen gespürt. Nie war ihr jemand so wahnsinnig vorgekommen wie Mr. Crow! Verrückt ja, aber nicht wahnsinnig. „Zuerst habe ich meine Ausbildung als Seelensammler abgeschlossen, genauso wie du. Ein paar Jahrzehnte habe ich so verbracht, habe mich langsam hochgearbeitet und wurde sogar schließlich gefragt, ob ich nicht die neuen Kurse unterrichten wollen würde. Es war die perfekte Tarnung. Als Seelensammler im aktiven Dienst steht man ständig unter Beobachtung. Als Lehrer konnte ich mir hingegen alle Zeit der Welt nehmen, um meinen eigenen Plänen nachzugehen. Und so“, sagte er und ließ endlich ihre Haarsträhne los, „hab ich meine eigene kleine Abteilung gegründet. Die Ordnungsabteilung.“ Jetzt wurden Carinas Augen wirklich groß wie Untertassen. Die Ordnungsabteilung? Sie konnte sich noch ganz genau daran erinnern, wie sie damals in der theoretischen Prüfung gesessen hatte und die Frage nach den einzelnen Arbeitsgebieten gekommen war. Wie sie auf die Ordnungsabteilung nur ganz kurz eingegangen war, da über diesen Sektor so gut wie gar nichts bekannt war. „Es war so leicht. Die Oberen und die zwei Dutzend Mitarbeiter, die ich unter mir habe, denken bis heute, dass diese Abteilung die Hauptaufgabe hat jegliche Unklarheiten zu beseitigen, die im Zusammenhang mit Selbstmorden auftreten. Eine ehrenvolle Tätigkeit, wie wahr. Dabei wissen sie allerdings nicht, dass der eigentliche Zweck ein ganz anderer ist, nämlich mir dabei zu helfen weitere Zeitreisende unter den Shinigami ausfindig zu machen. Du hast ja keine Ahnung, wie viele sich kurz danach umgebracht haben, nachdem sie in der Vergangenheit gelandet sind.“ „Aber wozu das alles? Wie wollen Sie mithilfe der anderen Zeitreisenden wieder in die Zukunft zurückkommen? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.“ Er stieß einen Ton der Missbilligung hervor. „Ich hatte dich für schlauer als die Anderen gehalten, Carina. Aber du stellst genau die gleichen, dämlichen Fragen. Denk doch mal scharf nach.“ „Oh, Entschuldigung, dass mir das im Angesicht meiner derzeitigen Lage ein wenig schwer fällt“, antwortete sie sarkastisch und machte sich gedanklich bereits auf die nächste Ohrfeige gefasst. Diese blieb allerdings aus. „Wie schön, dass sich mal jemand traut mir Widerworte zu geben. Eine willkommene Abwechslung zu deinen Vorgängern. Sie haben sich zwar auch gewehrt, aber das war nicht halb so amüsant.“ „Sadist. Der Typ ist ein eiskalter Sadist“, dachte Carina und erschauderte unwillkürlich bei dem Wort Vorgänger. Je mehr er redete, desto weniger wollte sie wissen, was er mit ihr vorhatte. Natürlich konnte sie nachvollziehen, dass er in seine ursprüngliche Zeit zurückwollte. Das hatte sie ganz am Anfang ja auch gewollt! Aber doch nicht um jeden Preis, nicht mit diesen Methoden. Carina wusste gar nicht mehr genau wann, aber irgendwann hatte sie sich einfach damit abgefunden nicht mehr zurückzukehren. Mr. Crow scheinbar bis heute nicht. Dabei waren seit seiner Zeitreise doch schon 300 Jahre ins Land gezogen. „Stell dir doch einfach mal vor, du gehst in ein Labyrinth, um dort irgendetwas zu suchen und willst anschließend wieder zurückfinden“, sagte er plötzlich und riss sie somit aus ihren Gedanken. „Wie stellst du das am besten an?“ „Spiel mit. Spiel sein krankes Spiel einfach mit, das verschafft dir Zeit.“ Zeit, in der Grell sie suchen konnte. Sie zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Mir den Weg merken, den ich gekommen bin?“ „Ganz genau“, flüsterte er und lächelte. „Und das hier ist das gleiche Prinzip.“ Carina hob eine Augenbraue. „Bitte?“ „Wenn ich herausfinde, wer dafür verantwortlich ist, dass ich in die Vergangenheit geschickt wurde, dann kann derjenige mich auch wieder zurückschicken.“ „Schön und gut“, merkte sie an und musste sich selbst eingestehen, dass dieser Plan gar nicht mal so schlecht zu sein schien, „aber was hat das mit mir zu tun? Ich habe bis heute keine Ahnung, wer mich hierhin geschickt hat und vor allem warum.“ „Ja, das haben wir alle gemeinsam“, entgegnete er. „Das ist das große Problem an der Sache. Aber nur, weil wir selbst es nicht wissen, heißt das ja nicht, dass unser Unterbewusstsein es nicht weiß.“ Und endlich, endlich machte es bei Carina Klick. „Mein Cinematic Record“, murmelte sie und hätte sich am liebsten die Hand gegen die Stirn geschlagen, wenn sie es denn gekonnt hätte. Natürlich, warum war sie da nicht von selbst drauf gekommen? Jetzt war sie schon seit 3 Jahren ein Shinigami und dieser Gedanke war ihr nicht einmal in den Sinn gekommen. In den Cinematic Records der Menschen sah man so oft Dinge, die den Betreffenden selbst gar nicht bewusst gewesen waren. Wenn sie zum Beispiel von hinten ermordet worden waren, kannten sie den Täter nicht, aber dieser war in den Aufzeichnungen trotzdem klar und deutlich zu sehen. „Aber wozu dann dieser ganze Aufwand? Sie wollen doch nur meinen Cinematic Record sehen, oder etwa nicht?“ Er hätte sie doch einfach nur fragen müssen. Wenn er ihr seine Situation und seinen Wunsch zurückzukehren erklärt hätte, dann hätte sie ganz sicherlich zugestimmt ihm ihren Cinematic Record zu zeigen. Es musste irgendeinen Haken an der Sache geben… „Die Records eines Menschen zu lesen ist einfach. Mit denen eines Shinigami sieht es schon ganz anders aus. Hast du deinen Mentor denn nie gefragt, was mit dem Cinematic Record passiert, nachdem man sich umgebracht hat?“ „Nein, habe ich nicht“, sagte sie und es hatte sie ehrlich gesagt auch noch nie interessiert. „Die Aufzeichnungen wandeln sich. Sie werden so schnell, dass selbst ein geübter Seelensammler sie nicht mehr lesen kann. Und sie bekommen eine andere Farbe.“ Er deutete auf seine Augen. „Diese Farbe hier.“ „Und?“, fragte Carina, gegen ihren Willen nun doch interessiert. „Vergleiche es mit einer Art Schutzschicht. Die Cinematic Records von Menschen lassen sich leicht lesen, weil die Seele ungeschützt ist. Die Seele eines Shinigami hingegen ist wesentlich robuster und hat einen instinktiven Abwehrmechanismus. Es ist schon schwierig die Aufzeichnungen überhaupt aus dem Körper hervorzurufen, geschweige denn sie zu lesen.“ „Stimmt“, dachte Carina, als ihr auffiel, dass damals – als der Undertaker Grell und Ronald mit seiner Death Scythe getroffen hatte – keine Records zu sehen gewesen waren. „Herrje“, begann sie und versuchte dabei betont lässig zu klingen, obwohl ihr innerlich das Wasser bereits bis zum Hals stand „muss ich etwa noch mal sterben, damit Sie meine Records sehen können?“ „Nein“, schüttelte der Todesgott den Kopf. „Ganz so dramatisch ist es nicht. Aber…“, fuhr er fort und lächelte nun wieder, vorfreudig auf das, was kommen würde, „um diesen Abwehrmechanismus außer Kraft zu setzen, muss man den Geist desjenigen brechen, dessen Erinnerungen man haben will.“ Carina erstarrte. Den Geist brechen? Das nannte er nicht so dramatisch? Sie war schon immer der Meinung gewesen, dass es schlimmere Dinge als den Tod gab und in ihren Augen fiel „den Geist brechen“ definitiv mit in diese Kategorie. Ihr Lehrer verfolgte interessiert ihre Mimik. Eigentlich ließ sich die junge Frau kaum etwas anmerken, aber wenn man genauer hinsah konnte man sehen, dass sich ihr Kiefer durch das Zusammenbeißen der Zähne verhärtet hatte. „Weißt du, ich hatte schon viele hier sitzen und bei allen kam ich irgendwann ans Ziel. Bei dem einen früher, bei dem anderen später. Aber schlussendlich haben sie alle irgendwann aufgegeben. Leider“, er seufzte ein weiteres Mal, „waren bisher keine Bilder dabei, die ich wirklich verwenden konnte. In 80 % der Fälle werden die Aufzeichnungen nämlich komplett unscharf, wenn der Geist zu sehr gebrochen wurde. Na ja und die restlichen 20 % sind versehentlich gestorben, weil ich irgendwann einfach die Beherrschung verloren habe. Zu dumm.“ „Sie sind doch krank“, erwiderte Carina angewidert und rüttelte noch einmal an ihren Fesseln, die aber weiterhin standhaft blieben. „Das liegt wohl ganz im Auge des Betrachters. Aber mach dir keine Sorgen. Ich hatte viel Zeit, um meine Technik zu perfektionieren. Dieses Mal wird nichts schief gehen. Und wer weiß. Wenn du mir gute Bilder lieferst, dann lasse ich dich schlussendlich vielleicht am Leben.“ Das konnte er seiner Großmutter erzählen, dachte Carina. Für wie blöd hielt er sie eigentlich? Wenn er von ihr bekommen hatte, was er wollte, würde er sie ohne zu Zögern umbringen, so viel stand fest. Die Gefahr, dass sie irgendjemanden von seinen Plänen erzählen würde, war viel zu groß. „Ich bin ja sehr neugierig, wie lange du durchhältst. Es ist doch jedes Mal aufs Neue eine Herausforderung“, murmelte er und grinste. „Aber vorher doch noch eine Frage, die mich schon die ganze Zeit brennend interessiert. Welche Verbindung hast du zur Familie Phantomhive?“ Carina blinzelte. Wie kam er denn jetzt bitteschön darauf? Und überhaupt, woher wusste er eigentlich von der Familie Phantomhive? Hatte er vielleicht mitbekommen, dass diese in den Campania Fall verwickelte gewesen war? „Keine“, antwortete sie verwirrt und fügte, da sie keine Lust hatte schon wieder geschlagen zu werden, schnell hinzu: „Ich kenne Earl Ciel Phantomhive von der Campania, aber das ist auch schon alles.“ Das war nicht einmal groß gelogen. Sie hatte ihn nur noch zwei weitere Male in ihrem Leben getroffen und beide Male war es in Cedrics Bestattungsinstitut gewesen. Beides keine sonderlich erfreulichen Begegnungen. Fassungslos hob sie den Kopf, als Mr. Crow auf einmal begann aus voller Kehle zu lachen. Aber es war kein schönes Lachen. Es war nicht geprägt von Belustigung, sondern von purer Schadenfreude. Ein Lachen, bei dem Carina eiskalt wurde. „Ich hatte also Recht. Du weißt es tatsächlich nicht.“ Die 19-Jährige fühlte sich auf unangenehme Art und Weise an den Moment erinnert, als Sebastian ihr gesagt hatte, dass sie schwanger war. „Was weiß ich nicht?“, wisperte sie, wollte die Antwort aber eigentlich gar nicht hören. „Ziemlich zu Anfang meiner Suche nach deinen Daten in den Geburtsbüchern dachte ich mir, dass es vielleicht nützlich sein könnte eine DNA Probe von dir zu haben. Wie du sicherlich weißt, ist in den Geburtsbüchern der jeweilige DNA Schlüssel genauestens verzeichnet. Hätte ich also deinen Namen gefunden, hätte ich mithilfe der Probe hundertprozentig sicher gehen können, dass sich um dich handelt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Es war nicht weiter schwer im praktischen Unterricht an einer Haar- und Blutprobe von dir zu kommen.“ Sie knirschte mit den Zähnen. Er hatte das hier über all die Jahre vorbereitet und ihr war nicht einmal der kleinste Verdacht gekommen, nicht einmal das kleinste bisschen hatte sie mitbekommen. „Schlussendlich brauchte ich deine DNA eigentlich nicht, da sich meine Theorie bewahrheitet hat. Aber bei der ganzen Sucherei ist mir dann doch etwas Interessantes ins Auge gefallen.“ Er rückte sich die Brille auf der Nase kurz zurecht und erinnerte die Schnitterin damit automatisch an William. „Es gab da ein paar Datensätze, die deinem Schlüssel ein wenig ähnlich waren und es gab ein paar Datensätze, die dem deinen verdammt ähnlich waren, sogar nahezu identisch. Also habe ich ein wenig nachgeforscht und herausgefunden, dass es für diese Übereinstimmung nur eine Erklärung geben kann.“ „Nein“, flüsterte Carina verstört, die in Gedanken schon ganz genau wusste, worauf der Schwarzhaarige hinaus wollte. Ihr Magen drehte sich so heftig um, dass sie Angst hatte sich jeden Moment übergeben zu müssen. „Nein, nein, nein, bitte nicht…“ „Earl Ciel Phantomhive mag zwar nicht in gerader Linie mit dir verwandt sein“, führte er weiter aus und ging nun langsam zur Tür zurück, um seine Hand nach etwas auszustrecken, was anscheinend im Raum dahinter lag, „aber sie hier schon.“ Und zu Carinas größtem Entsetzen zog er eine regungslose – auf den ersten Blick aber scheinbar noch lebende – Person hinter der Tür hervor. Eine Person, die Carina nicht unbekannt war. Sein Grinsen wurde angesichts ihres erschütterten Gesichtsausdrucks nur noch breiter. „Darf ich vorstellen? Lady Elizabeth Ethel Cordelia Midford. Deine Vorfahrin.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)