Selbstmord ist keine Lösung......oder? von LadyShihoin ================================================================================ Kapitel 64: Vater ----------------- Grell starrte den silberhaarigen Todesgott nach wie vor entsetzt an. Sie sollten sich mal unterhalten? „Worüber?“, schoss es ihm durch den Kopf, während er vorsichtshalber und rein instinktiv seine Hand über die Stelle legte, wo seine Death Scythe lag. Bereit jederzeit gezogen zu werden. Der Undertaker, dem diese Bewegung natürlich nicht entging, hob abwehrend die Hände. „Das wird nicht nötig sein“, meinte er ruhig, das Grinsen auf seinen Lippen verrutschte nicht eine Sekunde lang. „Jedenfalls nicht, wenn du mir meine Fragen beantwortest.“ Grell spürte deutlich, wie sich eine pochende Ader auf seiner Stirn bildete. „Ach?“, blaffte er. Der Typ hatte vielleicht Nerven. „Und was für Fragen sollen das bitteschön sein?“ Die Augen des Shinigami blitzten. „Die Wichtigste zuerst. Wo ist Carina?“ Na, das war ja jetzt ganz toll. Grell musste sich schwer zusammenreißen, um nicht ein derbes „Ach du Scheiße“ auszustoßen. So etwas gehörte sich immerhin nicht für eine Lady wie ihn. „Bleib ruhig“, sprach er sich selbst in Gedanken Mut zu. „Was soll die dämliche Frage? Sie ist da, wo sie hingehört. Im Dispatch. Weit weg von einem Verräter wie dir. Und das du nach allem, was du ihr angetan hast, überhaupt noch nach ihr fragst, ist wirklich das Allerletzte.“ Sein letzter Satz war nicht einmal gelogen, wofür er sich mental selbst auf die Schulter klopfte. Eine silberne Augenbraue des Bestatters wanderte in die Höhe. „Lass mich meinen Satz korrigieren“, meinte er und dem Rothaarigen lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als er den dunklen Unterton des Mannes hörte. „Waffen werden nicht nötig sein, wenn du mir meine Fragen wahrheitsgemäß beantwortest.“ Grell zuckte zusammen. Nein, das war unmöglich. Wie zum Teufel noch mal hatte der Totengräber herausgefunden, dass sich Carina nicht mehr im Dispatch aufhielt? „Zufällig“, begann sein Gegenüber, als hätte er genau gewusst, was Grell gerade dachte, „habe ich gehört, dass Carina zurzeit vermisst wird. Und da dachte ich mir: Wenn einer weiß, wo sie sich aufhält, dann wird das ja wohl ihr treuer Freund und Mentor sein, hab ich Recht? Ersparen wir uns also lästige Lügereien und kommen gleich zum Punkt. Wo ist sie?“ „So viel zu ruhig bleiben. Was mach ich denn jetzt?“, dachte Grell panisch und verfluchte sich tausendfach dafür, dass er nach London gegangen war. Natürlich, er konnte gegen den Vater seines Patenkindes kämpfen und würde dabei sicherlich keine allzu schlechte Figur machen. Aber erstens wusste er nicht, ob er diesen Kampf überhaupt gewinnen konnte, zweitens würden sie damit möglicherweise nur weitere Shinigami auf den Plan rufen und drittens hatte Grell für so etwas nun wirklich gerade gar keine Zeit. Er musste Carina finden! Eine Idee ploppte in seinem Kopf auf. Eine Idee, bei der er sich auf die Unterlippe beißen musste, weil sie ihn in eine deutliche Zwangslage brachte. Einerseits hatte die ganze Sache eine Menge Vorteile. Andererseits aber einen entscheidenden Nachteil. Carina würde ihn dafür umbringen! „Ich höre, Rotschopf“, kam es von Cedric, dem langsam die Geduld ausging. Es juckte ihn bereits in den Fingern seine Sense zu zücken und Grell zu zeigen, wer hier das Sagen hatte. Ein unglaublich lautes Seufzen entkam den Lippen des Reapers. Er richtete seine Augen gen Himmel, als würde er jemanden stumm um Vergebung bitten. Dann sah er wieder in die gelbgrünen Augen seines Gegenübers und Cedric war beinahe verwundert über den ernsten Gesichtsausdruck, der sich auf den sonst so lockeren Zügen abzeichnete. „Bis heute Morgen wusste ich noch, wo sich Carina aufhielt. Nämlich in meinem Elternhaus in Yorkshire. Jetzt ist sie seit etwa 3-4 Stunden verschwunden und ich habe die unangenehme Befürchtung, dass dieser Shinigami dahintersteckt, der sie schon einmal überfallen hat.“ Grell brauchte gar nicht näher auf den Shinigami einzugehen. Er konnte in den Augen des Bestatters ganz deutlich sehen, dass er ganz genau wusste, wen er meinte. Ein eiskaltes Gefühl sickerte durch den Körper des Silberhaarigen, während sich sein Herz verkrampfte. Er hatte noch sehr gut vor Augen wie Carina ausgesehen hatte, nachdem der fremde Shinigami mit ihr fertig gewesen war. Er konnte sich immer noch daran erinnern, wie er sie am Hals gepackt und gewürgt hatte. Und er konnte sich immer noch daran erinnern, wie sich die Blutergüsse flächendeckend über ihren Oberkörper gezogen hatten. Und dieser Todesgott sollte Carina nun in seine Finger bekommen haben? Ein Gefühl, das er lange nicht mehr verspürt hatte, kroch seine Kehle hinauf und er erkannte es auf Anhieb. Angst. Allerdings blieb dieses Gefühl nicht lange allein. Unmittelbar darauf folgte die Wut. Wut auf diesen Mistkerl, der die 19-Jährige anscheinend entführt hatte, wenn man den Worten des rothaarigen Seelensammlers trauen konnte. Allerdings sah er in dessen Gesicht keine Anzeichen einer Lüge. Nur Resignation und Besorgnis. „Carina würde niemals einfach so verschwinden, ohne ein Wort zu sagen. Irgendetwas muss also passiert sein“, murmelte Grell leise und rieb sich den rechten Arm, als wäre ihm die ganze Situation mehr als nur unangenehm. Die Wut nahm zu. Wenn der Typ sie verletzt hatte, dann würde er ihn mit seinen bloßen Händen in Stücke reißen! „Schön und gut“, sagte er mit mühsam kontrollierter Stimme. „Carina werden wir schon irgendwie finden, da werde ich mich persönlich drum kümmern. Was mich aber viel mehr interessiert – und so kämen wir zu meiner zweiten Frage – ist, warum sie überhaupt in deinem Elternhaus gewohnt hat. Warum hat sie den Dispatch verlassen?“ Grell wurde blass und rieb sich nun noch fester über den Arm. Er sah aus, als wäre er liebend gern überall, nur nicht hier. „Weil…“, begann er, brach aber sogleich wieder ab. Er zögerte. „Verdammt noch mal, reiß dich zusammen“, zischte er sich selbst in Gedanken zu. „Mir bleibt keine Wahl und wenn er mir dadurch hilft Carina zu finden… Außerdem kann er ruhig mal merken, was er für einen riesen Bockmist gebaut hat.“ „Weil“, sagte er ein zweites Mal und suchte den Blick des Totengräbers, „weil sie schwanger war. Von dir.“ Stille. Es brauchte anscheinend einige Sekunden, bis die Nachricht das Gehirn des Undertakers erreicht hatte. Als es endlich soweit war, blinzelte er einmal. Dann ein zweites Mal. Seine Miene wechselte von Verständnislosigkeit zu reichlich verdutzt, bis hin zur völligen Ungläubigkeit. Das wäre alles recht komisch gewesen, befand Grell, wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre. Dann – als der Schnitter schon nicht mehr damit gerechnet hatte – kam eine Reaktion. Jedoch nicht die, die Grell erwartet hatte. Er lachte. Grell blinzelte. Der silberhaarige Vollidiot wagte es doch tatsächlich zu lachen. Und nicht eine 08/15 Lache, nein. Er lachte aus vollem Halse, schien sich überhaupt nicht mehr beruhigen zu können. Er krümmte sich sogar leicht vorne über. Der Rothaarige, der bisher ja für seine Verhältnisse noch relativ ruhig geblieben war, spürte Zorn in sich hochkochen. „Was gibt es denn da zu lachen?“, keifte er und war kurz davor auf den Silberhaarigen loszugehen und ihm eine reinzuhauen. Der Mistkerl hatte seiner kleinen Schwester das Herz gebrochen, das allein war eigentlich schon Grund genug. Aber das er sich nun auch noch über diese ernstzunehmende Situation amüsierte, ging wirklich einen Schritt zu weit. Mittlerweile war das Lachen auf ein leises Kichern abgeklungen. „Hey, ich rede mit dir“, schrie Grell und sorgte damit dafür, dass der Bestatter ihn wieder ansah. Sein Gesichtsausdruck wirkte zwar amüsiert, seine Augen blieben aber weiterhin seltsam kalt. „Ahehehe. Guter Witz“, meinte er und eine von Grells Augenbrauen wanderte langsam in die Höhe. „Wie bitte?“, fragte er und bekam auch sogleich die Antwort, die er insgeheim befürchtet hatte. „Seit wann bitte können Shinigami Kinder bekommen?“ Der Rotschopf musste auf den Kopf gefallen sein, dachte Cedric, wenn er ihm so einen Mist erzählte und anscheinend auch noch glaubte, dass er darauf hereinfallen würde. Doch mit der folgenden Reaktion des Reapers hatte der Undertaker nun wirklich nicht gerechnet. „Schon immer, du Vollidiot“, fauchte er. „Mal ehrlich, du und Carina habt euch auch echt gesucht und gefunden. In der Hinsicht wart ihr wirklich beide gleich dämlich.“ Cedric blinzelte, dann wurde seine Miene kühl. „Vorsicht, Rotkäppchen“, warnte er ihn, sein Geduldsfaden spannte sich bereits merklich. Doch das schien dem Schnitter vollkommen egal zu sein. „Ich hab lange genug den Mund gehalten. Es wird Zeit, dass du endlich Verantwortung für deine Taten übernimmst und dass Carina endlich den Mund aufmacht. So kann es doch nicht ewig weitergehen. Also, noch einmal zum Mitschreiben: Shinigami können Kinder bekommen, das war schon immer so! Und du solltest das eigentlich ziemlich genau wissen oder was war da mit Vincent Phantomhive?“ Der Undertaker erstarrte. „Woher weißt du davon?“, hauchte er. Kein Wesen, außer Claudia und ihm, hatte je davon gewusst. Nicht einmal Vincent selbst. „Carina hat dein Gespräch mit diesem deutschen Aristokraten belauscht, aber das weißt du bereits. Jedenfalls kam sie dann auf den Gedanken, dass es zwischen dir und Claudia Phantomhive mehr Verbindungen gegeben hat, als nur eure heimliche Beziehung. Also hat sie mich gebeten ihr den Stammbaum der Familie Phantomhive zu besorgen und dort war dein Name nun wirklich nicht zu übersehen.“ Der Silberhaarige konnte es kaum glauben, aber zum ersten Mal seit einer sehr, sehr langen Zeit fühlte er sich wirklich komplett überrumpelt. Carina hatte es also gewusst. Während des kompletten Gespräches, das sie in diesem kleinen Café geführt hatten, hatte sie die ganze Wahrheit gewusst. Und sie nicht mit einem Wort erwähnt. Aber gerade beschäftigte ihn eine andere Frage wesentlich dringender. „Das kann man nicht vergleichen. Claudia war ein Mensch, Carina ist ein Shinigami. Ich habe noch nie von einer weiblichen Shinigami gehört, die schwanger geworden ist.“ „Lass mich raten“, warf Grell spöttisch dazwischen und fühlte sich dem Silberhaarigen zum ersten Mal in jeglicher Hinsicht überlegen. „In deiner Zeit beim Dispatch warst du einer von diesen eigenbrötlerischen Typen, die sich nie um andere geschert haben, sondern immer nur brav ihre Aufträge erledigt haben, um sich ja nicht mit zwischenmenschlicher Kommunikation beschäftigen zu müssen.“ Cedric blinzelte erneut. Damit hatte der Rothaarige, ohne es zu wissen, den Nagel auf den Kopf getroffen. Und zwar ziemlich gut. Na und? Dann hatte er sich halt nie für die anderen Shinigami interessiert. Dann hatte er halt lieber seine Liste abgearbeitet und hatte sich anschließend in seine Wohnung zurückgezogen. War das etwa ein Verbrechen? „Und wenn?“, forderte er den anderen Todesgott auf weiterzusprechen. „Dann wundert es mich nicht, dass du um das offene Geheimnis der Shinigami Kinder nicht weißt. Wie ich schon zu Carina sagte: Dieses Thema wird so gut es geht totgeschwiegen. Die Oberen sehen es überhaupt nicht gerne, wenn sich so etwas herumspricht. Und das wird zu deiner Zeit nicht anders gewesen sein. Und falls du dich jetzt fragst, was mit den Kindern gemacht wird, die unter den Shinigami entstehen: Sie werden in die Menschenwelt gebracht. Da können sie dann in aller Ruhe aufwachsen, altern und irgendwann auch sterben. Das sollte dir ja bei deinem Sohn ebenfalls aufgefallen sein.“ Das stimmte allerdings. Vincent war ein ganz normaler Mensch gewesen. Nur mit dem winzigen Unterschied, dass sich seine Aura immer ein wenig von denen der anderen Menschen unterschieden hatte. Das hatte ihm ja erst klar gemacht, dass der zukünftige Earl sein Sohn war und nicht der von Claudias Ehemann. Mal ganz abgesehen davon, dass er seine menschlichen Augen geerbt hatte und schon als kleiner Junge dazu in der Lage gewesen war ihn auch in seiner unsichtbaren Form zu sehen. Aber… Aber wenn Carinas Mentor tatsächlich die Wahrheit sagte, wenn es tatsächlich möglich war, dass auch weibliche Shinigami fruchtbar waren und Kinder empfangen konnten, dann… Sein Herz sprang einmal auf und ab, um anschließend heftig und mit doppelter Geschwindigkeit gegen seinen Brustkorb weiter zu schlagen. Er fühlte sich plötzlich nicht mehr so richtig mit seinem eigenen Körper verbunden. Das hier konnte doch gerade nicht wirklich passieren! Carina konnte doch nicht wirklich… Grell konnte sehen, wie das letzte bisschen Farbe aus dem ohnehin schon recht blassen Gesicht wich. Aber sein Mitleid hielt sich in Grenzen. „Ach, merkst du vielleicht gerade, dass das hier kein Witz ist? Wird auch langsam mal Zeit, du Schwachmat.“ Der Bestatter konnte ihm nicht antworten. Er war viel zu entsetzt über die Erkenntnis, die ihn gerade traf. Und zwar mit Anlauf und einem heftigen Tritt ins Gesicht. Jedenfalls fühlte es sich so an. Eine Erinnerung schob sich vor sein geistiges Auge. „Warum hast du eigentlich die ganze Zeit deinen Mantel an?“ „Mir ist kalt.“ „Du warst schon immer eine schlechte Lügnerin, Carina.“ Anschließend hatte er festgestellt, dass sie den Mantel wohl trug, um schnellstmöglich verschwinden zu können, falls weitere Shinigami auftauchen sollten. Und sie hatte ihm nicht widersprochen. Jetzt wurde ihm klar, dass sie den Mantel nur getragen hatte, um ihren Bauch zu verdecken, der zu diesem Zeitpunkt sicherlich schon etwas von der Schwangerschaft verraten hätte. Sie hatte ihm eiskalt ins Gesicht gelogen! Die Wut und Enttäuschung, die er darüber empfand, wurden allerdings weiterhin von seinem Entsetzen vollkommen überschattet. „Schwanger. Sie war schwanger. Mit meinem Kind, sie war…“ Urplötzlich schoss sein Kopf wieder zu Grell herum, der überrascht zurückzuckte. „War?“, keuchte er und seine Stimme klang so rau, dass er sich räuspern musste. Grell hob eine Augenbraue und signalisierte seinem Gegenüber, dass er schon in ganzen Sätzen mit ihm sprechen musste. „Du sagtest… sie war schwanger.“ „Ja“, nickte Grell und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie hat eure Tochter vor genau einer Woche zur Welt gebracht.“ Eure Tochter! Der Undertaker merkte, wie ihm schwindelig wurde. Er… er hatte eine Tochter? Neben dem Entsetzen trat aus heiterem Himmel noch ein anderes Gefühl auf den Plan. Zuneigung. Eine pure Welle der Zuneigung schwappte durch ihn hindurch. Wenngleich es ihn auch schmerzhaft an Vincent erinnerte, konnte er einfach nicht anders, als… ja, als auf seltsame Art und Weise so etwas wie ein aufgeregtes Flattern in seiner Magengrube zu spüren. „Verstehst du jetzt, warum Carina den Dispatch verlassen musste? Ab dem Zeitpunkt, wo sie von ihrer Schwangerschaft wusste, hat sie den Gedanken, dass man ihr das Kind wegnimmt, nicht ertragen. Obwohl du ihr so wehgetan hast, hat sie nicht eine Sekunde lang darüber nachgedacht euer Baby nicht zu bekommen. Weil sie dich liebt! Egal, welchen Mist du gebaut hast oder noch bauen wirst; egal, wie sehr sie darunter gelitten hat, dass du immer noch versuchst diese Claudia Phantomhive wiederzubeleben.“ Grell holte tief Luft. „Ich war dabei. Ich habe gesehen, wie es ihr das Herz zerrissen hat. Aber trotzdem hat sie nicht einen Augenblick lang an ihrer Entscheidung gezweifelt. Sie liebt die Kleine. Abgöttisch. Und nicht nur, weil es ihr Kind ist. Sondern auch, weil es deines ist. Und du… Tze, du hast sie überhaupt nicht verdient“, beendete er schnaubend seine Rede. „Nein“, murmelte Cedric. „Nein, habe ich nicht.“ Wenn er sich nach ihrem Liebesgeständnis wie der letzte Trottel gefühlt hatte, dann war das nichts im Vergleich dazu, wie er sich jetzt fühlte. Dabei hatte er keine Ahnung, was er nun alles fühlte. Eigentlich… eigentlich wusste er überhaupt nichts mehr. Grells Blick wurde ein wenig weicher, als er den silberhaarigen Todesgott da so verloren auf dem Dach stehen sah. Natürlich, er war ein absoluter Vollidiot und hatte Carina furchtbar verletzt. Aber der Rothaarige konnte auch verstehen, dass die derzeitige Situation für den Todesgott alles andere als leicht sein musste. Und vor allem die neuen Erkenntnisse. „So. Noch irgendwelche Fragen? Falls nicht, dann würde ich jetzt gerne nach Yorkshire zurückgehen, um mir zu überlegen wie ich Carina wiederfinde.“ Er trat zwei Schritte vor und streckte seine Hand aus, sodass der Bestatter sie hätte ergreifen können. Cedric hob eine Augenbraue. Hatte er etwas verpasst? So voll, wie sein Kopf momentan war, würde es ihn zumindest nicht wundern… „Was ist jetzt? Kommst du mit oder nicht?“, knurrte Grell. Immerhin hatte dieser Deserteur zu Anfang doch noch gesagt, dass er Carina finden würde. Hatte er es sich inzwischen etwa anders überlegt? „Eins sag ich dir gleich. Wenn du mir jetzt nicht hilfst Carina zu suchen, dann bist du bei mir für immer unten durch, kapiert? Ist mir scheißegal, ob Carina dich liebt oder dass du der Vater meines Patenkindes bist. Ich kann es überhaupt nicht ausstehen, wenn ein Mann die Frau im Stich lässt, die er liebt. Und ja“, sagte er die letzten beiden Worte lauter, da sich die Augen des Undertakers entgeistert geweitet hatten. „ich bin mir ziemlich sicher, dass du sie liebst. Auch, wenn du Dummkopf das anscheinend selbst noch nicht begriffen hast.“ Immerhin hatte er gerade eben die Reaktion des Totengräbers beobachtet, als er von der Entführung der Schnitterin erfahren hatte. Da war Angst in seinem Blick gewesen. Und die wäre sicherlich nicht dort gewesen, wenn Carina ihm egal wäre. Cedric starrte Grell ausdruckslos an. Der Todesgott war seltsam, sogar nach seinem eigenen Maßstab. Aber was hieß das schon? Sie hatten beide das gleiche Ziel. Sie wollten beide Carina zurückholen. Ohne auf die Worte des Rotschopfs einzugehen, auf die er momentan ohnehin keine Antwort parat hatte, ergriff er dessen ausgestreckten Unterarm. „Gehen wir!“ Grell grinste sein Haifischlächeln. „Deine ersten richtigen Worte, Undy.“ Der Silberhaarige hatte keine Zeit sich über den Spitznamen zu beschweren, denn bereits im nächsten Moment verschwamm die Umgebung und nahm keine fünf Sekunden später eine neue Gestalt an. Seine phosphoreszierenden Augen wanderten kurz über die Waldlichtung, um sich einen generellen Überblick zu verschaffen. Nicht, dass das Ganze hier doch ein Hinterhalt war. Das erschien ihm persönlich zumindest logischer, als das Carina wirklich…von ihm… Grell deutete mit seinem rechten Daumen über die Schulter hinweg zu einer Hütte. „Hier hat Carina die letzten Monate über gewohnt. Ach, und übrigens auch entbunden.“ „Schlaues Versteck“, dachte sich der Bestatter und ließ seinen Blick abermals schweifen. Hier schien in unmittelbarer Umgebung niemand zu wohnen und die dichten Bäume sorgten für ein geschütztes Sichtfeld. Perfekt für jemanden, der nicht gefunden werden wollte. „Soll ich dir die Stelle zeigen, wo Carina verschwunden ist?“ Der Todesgott wollte gerade nicken, da sprang die Eingangstür der Hütte so plötzlich auf, dass sein Kopf nach oben schnellte und er automatisch in Angriffspose ging. Eine schwarzhaarige Frau, schätzungsweise Anfang 20, rannte hinaus. Ihre gelbgrünen Augen verrieten sie jedoch sofort. Diese fokussierten gerade den Seelensammler und schienen ihn noch nicht wahrgenommen zu haben. „Und? Hast du sie gefunden?“ Grell schüttelte den Kopf und seufzte. „Nein, aber dafür wurde ich gefunden.“ Er nickte mit dem Kopf in seine Richtung und nun schien die Frau ihn ebenfalls zu bemerken. Ihre Augen weiteten sich hinter der Brille entsetzt. Alice brauchte nicht groß zu fragen, wer da genau vor ihr stand. Die silbernen Haare sagten ihr alles, was sie wissen musste. Mein Gott, Lily war ihrem Vater tatsächlich wie aus dem Gesicht geschnitten. Und Carina hatte definitiv nicht untertrieben, als sie von seinem attraktiven Äußeren gesprochen hatte. Aber wenn er hier war, dann… „Sag… sag mir nicht, dass du-“ „Doch“, unterbrach Grell sie und seufzte erneut, als könnte er es selbst nicht fassen. „Ich habe ihm alles gesagt.“ Alice schluckte. „Dafür wird Carina dich umbringen.“ „Das weiß ich selbst“, fauchte er genervt. „Kann sie auch gerne machen, solange wir sie lebend finden.“ Alice wurde blass. „Ja, du hast Recht. Entschuldige“, flüsterte sie und holte zittrig Luft. „Meine Nerven liegen gerade einfach blank. Keine 2 Minuten, nachdem du weg warst, ist die Kleine aufgewacht und hat angefangen zu schreien. Zwar hat sie Gott sei Dank die Säuglingsmilch getrunken, die ich ihr gegeben habe, aber das hat nur ganz kurz geholfen. Ich hab alles versucht um sie zu beruhigen, aber das hat nicht funktioniert. Sie… sie will zu Carina.“ Als wäre das ein Signal gewesen, ertönte sogleich aus der Hütte hinter ihnen ein lautes Quengeln. Während Alice und Grell nur traurig seufzten, erstarrte der Undertaker zu Stein. Er hatte zwar Grells Worte über die Wahrheit vernommen, aber bisher hatte er es nicht wirklich wahrhaben wollen. Dieses Geräusch, dieser Laut… das machte es für ihn real. Sein schwarzer Mantel bauschte sich ein wenig auf und im nächsten Moment war er bereits an Alice und Grell vorbei. Auf dem Weg zur Hütte. „Hey“, zischte Alice scharf und wandte sich um, um den fremden Mann daran zu hindern auch nur einen Schritt weiterzugehen. Doch sie kam selbst nicht weit. Eine Hand in einem schwarzen Handschuh packte ihren Unterarm und hielt sie zurück. „Was zum-“, brachte sie hervor und drehte den Kopf ungläubig wieder zu Grell zurück, der nun langsam seinen eigenen schüttelte. „Lass ihn“, meinte er ernst und sah dem Mann hinterher, der nun endgültig durch die Tür verschwand. Dem Mann, dem Carina ihr Herz zu Füßen gelegt hatte. „Es muss sein.“ Der Bestatter betrat die Hütte und sah sich sogleich das geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer an. Er konnte sich ziemlich gut vorstellen, wie Carina hier gelebt hatte. Wie sie auf der Couch gesessen hatte, mit einem Buch in der Hand und einer Decke über den Beinen. Oder wie sie an dem Esstisch gefrühstückt und draußen Spaziergänge unternommen hatte. Ja, das hier passte zu ihr. Ein erneutes Wimmern drang an seine Ohren und automatisch richtete sich sein Blick in Richtung eines Zimmers auf der rechten Seite. Das Herz wummerte ihm ganz komisch in der Brust, während sein Hals zum wiederholten Male am heutigen Tage ganz trocken wurde. Jeder seiner Schritte war lautlos, als er sich dem Kinderzimmer – so vermutete er zumindest – näherte und leise die Tür öffnete. Als erstes sprangen ihm die grünen Wände ins Auge, dicht gefolgt allerdings von einer Wiege, die mittig im Zimmer stand. Noch nie in seinem ganzen Leben – und er lebte immerhin schon ziemlich lange – hatte es ihn solch eine Überwindung gekostet einen Raum gänzlich zu betreten. Dieses Zögern kannte er von sich selbst eigentlich nicht. Er nahm einen weiteren tiefen Atemzug und dann machte er die letzten zwei Schritte in das Zimmer hinein, um schließlich genau vor der Wiege stehen zu bleiben, aus der die quengelnden Laute hervordrangen. Gleich darauf war ihm, als würde die Welt einfach stehen bleiben. Als hätte irgendeine höhere Macht beschlossen die Zeit anzuhalten. Es gab nur noch ihn. Ihn und das Baby. Das Neugeborene hatte die Hände zu Fäustchen geballt, die Wangen waren vom Schreien schwach gerötet, die Augen zugekniffen. Die Füßchen, die in etwas steckten was irgendwie ein Kleidungsstück allein zu schein schien, strampelten leicht hin und her. Silberne Haare kräuselten sich auf dem kleinen Köpfchen, die Wimpern waren schneeweiß. Es gab überhaupt keinen Zweifel. Das hier war sein Kind. Er bemerkte die Tränen erst, als sie ihm bereits vom Kinn hinab auf das weiche Polster der Wiege tropften. Verwundert fuhr er sich an die Wange. Tatsächlich, er weinte. Der Todesgott konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann er zuletzt aus einem anderen Grund als Vincent oder Claudia geweint hatte. Das musste Jahrzehnte, wenn nicht sogar schon ein ganzes Jahrhundert her sein. Doch es machte ihm nicht einmal etwas aus, denn dieses Mal waren es keine Tränen der Trauer. Seine Tochter – Heilige Maria Mutter Gottes – schien mittlerweile bemerkt zu haben, dass sich da jemand halb über sie gebeugt hatte. Das Weinen wurde leiser und jetzt öffneten sich auch endlich ihre Augen. Cedric schnappte nach Luft. Das Mädchen mochte vielleicht die Haare und auch ihre Gesichtszüge von ihm geerbt haben, aber die Augen waren definitiv die ihrer Mutter. Dieses strahlende Dunkelblau würde er überall wiedererkennen. „Schon seltsam. Bei Vincent war es genau andersherum.“ „Was ist? Willst du sie nicht auf den Arm nehmen?“ Alice stand mit verschränkten Armen im Türrahmen, einen forschenden Ausdruck im Gesicht. Sie konnte die Tränenspuren auf seinen Wangen sehen, was sie zugegebenermaßen ein wenig besänftigte. Der Silberhaarige sah sie mit einem Blick an, den sie nicht so recht deuten konnte. „Wir wurden uns, glaube ich, noch nicht vorgestellt. Ich bin Alice, Carinas beste Freundin. Und wenn du ihr nochmal wehtun solltest, dann bekommen wir beide eine Menge Ärger miteinander, klar?“ Ein wenig irritiert nickte der Totengräber. Das war Carinas beste Freundin? Gut, vom Charakter her konnte er sich das durchaus vorstellen. Die beiden Frauen hatten anscheinend dasselbe große Mundwerk und definitiv das gleiche Selbstbewusstsein. „Schön“, antwortete Alice zufrieden und ging auf die Wiege zu, um ihr Patenkind anschließend geübt hochzunehmen. „Ich nehme mal an, dass du weißt, wie man ein Baby hält?“ Aus seinem überforderten Gesichtsausdruck schloss sie, dass er es anscheinend doch nicht so richtig wusste. Natürlich, er hatte Vincent ein- oder zweimal gehalten, kurz nach seiner Geburt, aber das war immerhin schon lange her und damals hatte er das Baby Claudia auch sofort wieder zurückgegeben. Er war einfach nicht der Typ für den Umgang mit Babys. Doch Alice‘ Blick sagte ihm, dass sie das nicht auf sich sitzen lassen würde. „Hinsetzen“, befahl sie und Grell, der gerade ebenfalls im Türrahmen erschien, beobachtete mit amüsierter Miene, wie der Bestatter den Worten der Schwarzhaarigen tatsächlich sang- und klanglos Folge leistete. Er war sich ziemlich sicher, dass der Todesgott immer noch heillos überfordert war mit den ganzen Informationen des heutigen Tages. Heute Morgen hatte er noch nicht einmal gewusst, dass er überhaupt Vater war und nun wurde er bereits mit Techniken wie er sein Kind halten sollte konfrontiert. Da konnte man schon mal neben sich stehen. Ansonsten, und da war Grell sich ziemlich sicher, würde er ganz bestimmt nicht so mit sich reden lassen. „Nimm sie erstmal mit einem Arm unter dem Nacken und mit dem anderen Arm am Po nach oben. Dann die Finger so weit wie möglich spreizen, damit gibst du ihr die meiste Unterstützung. Ja, genau so. Und jetzt mit der Hand, die den Nacken stützt am Rücken nach unten gleiten, sodass nun dein Unterarm den Kopf stützt. Die andere Hand einfach am Po belassen und die Kleine möglichst nah an deinem Körper halten.“ Als sich Alice sicher war, dass er den Säugling richtig hielt, trat sie einen Schritt zurück und beschaute sich lächelnd das Bild. Wäre Carina doch jetzt nur hier, um das sehen zu können… Cedric fühlte sich alles andere als wohl mit diesem kleinen, zerbrechlichen Geschöpf auf dem Arm. Er war ein Wesen, das den Tod brachte. Er sollte eine so unschuldige Seele nicht berühren. Aber egal wie sehr er es auch versuchte, er konnte die Augen einfach nicht von dem Baby abwenden. Von seiner Tochter. Diese schaute ihn mit ihren blauen Augen neugierig an. Gut, schauen war vielleicht zu viel gesagt, aber sie schien auf jeden Fall zu bemerken, dass da jemand Neues war, der sie bisher noch nicht gehalten hatte. „Aww, ist das nicht einfach herzergreifend?“, seufzte Grell leise, als er sah, wie der Blick des Bestatters vollkommen fasziniert an dem Mädchen klebte. Alice musste ihm ausnahmsweise einmal zustimmen. Der Silberhaarige sah tatsächlich so aus, als hätte sich seine ganze Welt mit einem Mal völlig auf den Kopf gestellt. Cedric hatte Grell nicht zugehört und es interessierte ihn auch nicht, was er zu sagen hatte. Das Baby gähnte gerade, während die blauen Augen anfingen langsam zuzugehen. Anscheinend forderten die ganze Aufregung und das Schreien doch ihren Tribut. „… Wie ist ihr Name?“, fragte er mit einer Stimme, die er von sich selbst überhaupt nicht kannte. Er war so von den Neuigkeiten eingenommen gewesen, dass er bis jetzt vollkommen vergessen hatte danach zu fragen. „Lily“, antwortete Alice sanft und hatte nun für sich selbst beschlossen den Silberhaarigen zu mögen. Jemand, der seine Tochter mit solch einer Hingabe ansah, konnte im Grunde kein schlechter Mensch sein. „Lily“, flüsterte er. Wie die Lilien, die Carina vor nun beinahe 4 Jahren immer auf die Gräber gelegt hatte. Er mochte den Klang des Namens und als Bestatter kannte er natürlich die Bedeutung der Blume. Ja, das passte. Warum? Warum zum Teufel hatte sie es ihm damals in Baden-Baden nicht einfach die Wahrheit gesagt? „Das werde ich wohl erst herausfinden, wenn ich sie gefunden habe“, dachte er und erhob sich vorsichtig vom Stuhl, um seine Tochter wieder zurück in die Wiege zu legen. Für einen Moment fühlten sich seine Arme furchtbar leer an. Seufzend strich er sich eine seiner langen Haarsträhnen aus der Stirn. „Gut“, begann er und schaute die beiden Paten seiner Tochter durchdringend an. „Wie gehen wir vor?“ Das Erste, was Carina spürte als sie langsam wieder zu sich kam, war die beißende Kälte. Ihr Körper musste ihr schon länger ausgesetzt gewesen sein, denn sie war in jeden einzelnen Knochen eingedrungen. Alles tat ihr weh. Die 19-Jährige hob langsam den Kopf an und ließ ihn sogleich stöhnend zurücksinken. Erinnerungen stürmten beinahe sofort auf sie ein. Stimmte ja, der Mistkerl hatte ihr das Genick gebrochen. Die Wirbel hatten sich zwar wieder eingerenkt und das umliegende Gewebe war wieder abgeheilt, aber dennoch schmerzte ihr ganzer Nacken und Hals. Kein Wunder, wenn sie ein Mensch gewesen wäre, dann wäre sie sofort und unwiderruflich tot gewesen. Wahrscheinlich hätte sie es in ihren letzten Sekunden nicht einmal richtig realisieren können. Nach ihren Rückenschmerzen zu urteilen, lag sie auf einem harten Untergrund. Carina horchte mehrere Minuten lang auf die Geräusche um sich. Nichts außer alles erdrückender Stille. Langsam öffnete sie die Augen und ihre Vermutung bestätigte sich sogleich. Sie war allein und lag tatsächlich auf etwas, was man wohl am ehesten als eine Liege aus massivem Stahl bezeichnen konnte. Oder eine Folterbank… Ihr Blick wanderte durch den Raum, der nur von einer einzigen kleinen Glühbirne an der Decke erhellt wurde. Was wiederum nur bestätigte, dass es sich bei ihrem Entführer um einen Shinigami handeln musste, Glühbirnen waren immerhin noch gar nicht erfunden worden. Der Raum hatte etwas von einem Bunker oder noch eher von einem Gefängnis. Der Boden und die Wände strotzten vor Dreck, Staub und vor irgendwelchen Flecken, von denen Carina gar nicht wissen wollte, worum es sich handelte. Es roch nach Erde und Schimmel, was sofort einen Würgereflex in ihrer Kehle auslöste. Gott, wo zur Hölle war sie hier nur gelandet? Als nächstes bemerkte sie die schweren Ketten, die um ihre Hand- und Fußgelenke lagen und unmittelbar mit der Liege verbunden waren. Bis auf wenige Zentimeter konnte sie ihre Gliedmaßen nicht bewegen, was gegen ihren Willen Panik in ihr hervorrief. Sie zerrte stärker an ihren Armen, sodass die Fesseln unangenehm gegen ihre eiskalte Haut rieben. Nichts. Aus was auch immer für einem Material diese Ketten gemacht worden waren, sie hielten ohne Mühe den Kräften eines Shinigami stand. Verdammt, das war gar nicht gut… „So bin ich diesem Typen schutzlos ausgeliefert. Scheiße, was mach ich denn jetzt?“ Wie lange war sie schon hier? Wie viel Zeit war seit seinem Angriff auf sie vergangen? Und was, wenn er Alice und Lily etwas angetan hatte? „Dann Gnade ihm Gott…“ So gut es mit ihrem schmerzenden Nacken ging, schaute sie an sich herunter. Ihr Kleid schien unversehrt zu sein, jedoch trug sie ihre schwarzen Stiefel nicht mehr. Wie auch, die Fesseln lagen ja auch schwer um ihre Fußgelenke. Sie reckte den Kopf ein wenig weiter und konnte nun ihr Katana sehen, das genau neben einer schweren, halb verrosteten Tür lehnte. Gefühlt meilenweit aus ihrer Reichweite, was sicherlich von ihrem Entführer auch so beabsichtigt worden war. Die Panik, die bisher leise in ihrem Inneren vor sich hin gebrodelt hatte, fing nun an überzukochen. Eigentlich konnte sie nur darauf hoffen, dass der Mistkerl sie nicht umbrachte, bevor Grell einen Weg fand, um sie zu retten. Aber wie sollte er das bitteschön bewerkstelligen? Konnte er Energiesignaturen auch auf große Entfernungen aufspüren? Der Shinigami würde sie ja vermutlich nicht direkt im Nachbarort versteckt halten… Ein schrilles Quietschen ließ sie auf der Liege zusammenfahren. Ihre Pupillen richteten sich auf die Tür. Scheinbar ließ sich dieses Konstrukt von außen wie eine Luke öffnen. Unwillkürlich beschleunigte sich ihr Herzschlag. Gleich; gleich würde sie endlich wissen, wer sie damals so zugerichtet hatte, wer sie entführt hatte und was zum Teufel nochmal er von ihr wollte. Und wo sie diese Stimme schon einmal gehört hatte. Die Tür glitt mit einem lauten Knirschen zur Seite. Carina öffnete bereits den Mund, um ihrem persönlich erklärten Todfeind eine derbe Beleidigung um die Ohren zu hauen, als die Person einen Schritt in den Raum hineintrat und somit im schwachen Licht der Glühbirne stand. Jegliches Wort blieb ihr im Halse stecken. Der Shinigami trug nach wie vor den langen, schwarzen Mantel und auch die anthrazitfarbene Handschuhe. Aber der Mantel war nicht mehr geschlossen, sodass sie die darunter liegende einfache schwarze Anzugshose und das weiße Hemd samt marineblauer Krawatte sehen konnte. Doch all das war nicht wichtig. Denn nicht nur der Mantel war nun offen. Auch die Kapuze hatte der Todesgott abgelegt, sodass Carina ihm genau ins Gesicht sehen konnte. Und was sie da sah, ließ sie augenblicklich an ihrem Verstand zweifeln. Das… das konnte doch gar nicht sein. Das konnte nicht die Antwort auf die Frage sein, die sie sich bereits die ganze Zeit stellte. Sie brauchte ganze zwei Anläufe, um seinen Namen endlich auszusprechen und als sie es dann endlich schaffte, war es nur ein komplett entgeistertes Stammeln. „Mr.… Mr. Crow?“ Ihr ehemaliger Lehrer verzog die Lippen zu einem derart erbarmungslosen Lächeln, das es Carina den Atem raubte. „Hallo Carina.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)