Selbstmord ist keine Lösung......oder? von LadyShihoin ================================================================================ Kapitel 60: Die zweite Geschichte --------------------------------- „Du hast das Richtige getan, Carina“, sagte Alice und legte ihrer besten Freundin eine Hand auf die Schulter. Seit ihrer Begegnung mit Claudia Phantomhive waren drei Wochen vergangen und erst jetzt hatte sich für die Schwarzhaarige wieder die Gelegenheit ergeben in die Menschenwelt zu kommen. „Ich weiß“, seufzte die Schnitterin und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. „Grell hat mir erstaunlicherweise genau das Gleiche gesagt. Und ich weiß, dass es das Richtige war, ich fühl mich nur trotzdem“, sie suchte nach dem korrekten Wort, „niedergeschlagen“, seufzte sie schließlich. Alice runzelte irritiert die Stirn. „Wieso das denn?“, fragte sie. „Du hast sie nicht gesehen, Alice. Man kann über die Phantomhives ja sagen, was man will. Aber so wirklich hässlich ist da anscheinend keiner. Und erst recht nicht Claudia Phantomhive.“ „Tze und wenn schon. Das hat ihr am Ende auch bemerkenswert wenig gebracht, oder etwa nicht?“, erwiderte die Rezeptionistin augenverdrehend. „Außerdem hätte dein Auserwählter wohl kaum mehrere Male mit dir das Bett geteilt, wenn er dich hässlich finden würde, oder?“ „Er ist nicht mein Auserwählter“, murmelte Carina peinlich berührt zurück, fühlte sich durch die Worte ihrer Freundin aber doch ein wenig bestärkt. Sie hatte in den letzten beiden Wochen wahrlich genug Zeit gehabt, um über ihr Eindringen in das Familiengrab der Phantomhives nachzudenken. Und obwohl sie wusste, dass ihre Entscheidung richtig gewesen war, dass sie – wie Alice es bereits gesagt hatte – das Richtige getan hatte, wurde die ganze Angelegenheit doch von einem recht bitteren Beigeschmack begleitet. Es machte sie selbst nervös, dass sie um den Ort der Leiche wusste. Und, dass dieser Ort nur wenige Stunden von ihrem eigenen Aufenthaltsort entfernt war. Cedric würde früher oder später wieder nach London zurückkehren. Entweder, weil er endlich einen Weg gefunden hatte seine Geliebte zurückzuholen oder, weil er nach dem Rechten schauen wollte. „Ich mache mir unnötig Sorgen“, redete Carina sich ein. Er wusste ja schließlich nicht, dass sie dort gewesen war. Generell glaubte er doch, dass sie nach ihrem Aufenthalt in Deutschland wieder zum Dispatch zurückgekehrt war. Er würde sie hier niemals finden. Dennoch, der bittere Geschmack blieb… „Sag mal, was hat Grell denn eigentlich wortwörtlich gesagt?“, wollte Alice nun wissen und versuchte, mehr oder weniger offensichtlich, vom derzeitigen Thema abzulenken. „Im ersten Moment meinte er scherzhaft, dass er an meiner Stelle seine Kettensäge rausgeholt und die Säule in zwei saubere Hälften gesägt hätte.“ Carina verdrehte die Augen, musste aber dabei grinsen. „Dann meinte er das Gleiche wie du. Dass ich richtig gehandelt habe, weil mir diese Tat keinerlei Erleichterung gebracht hätte.“ „Siehst du? Selbst er ist der Meinung und das will schon was heißen. Aus seinem Mund können ja doch ganz intelligente Sachen raus kommen.“ Carina lachte. „Ihr beiden hört auch nie auf gemein zueinander zu sein, was?“ „Wo wäre denn da der Spaß?“, zwinkerte Alice und streckte sich einmal ausgiebig auf der Couch. Carina schaute währenddessen aus dem Fenster. Sie hatten jetzt Ende September und bereits seit einer Woche regnete es fast ununterbrochen. Das miese Wetter, der ständige Nebel und der Regen machten die Blondine fast ein wenig depressiv. Wie gerne hätte sie einfach nur mal einen kleinen Spaziergang draußen unternommen oder sich ein wenig unten an den See gesetzt, um die Landschaft und Ruhe zu genießen. Nein, stattdessen hockte sie hier drinnen wie auf heißen Kohlen und versuchte sich anderweitig die Zeit zu vertreiben. Nicht einmal die Wäsche konnte sie draußen aufhängen. Noch dazu kam ihre körperliche Verfassung. Ihr Bauch war mittlerweile so dick, dass er gelegentlich wirklich im Weg war und Carina unfreiwillig immer mal wieder irgendwo aneckte. Einfach aus dem Grund, dass sie das ganze Ausmaß der Wölbung nicht mehr überblicken konnte. Vor allem in der Nacht war das ein großes Hindernis. Der Harndrang war ein wenig schlimmer geworden, aber das konnte die Schnitterin irgendwie noch ertragen. Was hier hingegen richtig auf die Nerven ging war die Tatsache, dass sie ewig brauchte, um eine entspannte Position zum Schlafen zu finden. Auf dem Rücken konnte sie nicht lange liegen, weil ihr eben dieser wehtat. Auf dem Bauch konnte sie – logischerweise – überhaupt nicht mehr schlafen. Blieb also nur die seitliche Lage, in der die werdende Mutter allerdings auch alle paar Minuten ihre Position änderte. Beine ausgestreckt oder gewinkelt, ein Bein ausgestreckt und das andere gewinkelt, vielleicht doch die andere Seite… „Was bin ich froh, wenn das Kind da ist“, dachte sie, aber das brachte sie unweigerlich zum nächsten Punkt auf ihrer Liste der Dinge, die ihr durch den Kopf gingen. Je näher der Geburtstermin rückte, umso nervöser wurde Carina. Eigentlich hatte sie sich immer gedacht, dass wenn sie mal ein Kind bekommen sollte, dieses natürlich auch in einem Krankenhaus geboren werden würde. Diesen Zahn hatten Alice und Grell ihr jedoch relativ schnell gezogen. „Mal ganz abgesehen davon, dass die Ärzte misstrauisch werden würden, wenn deine möglichen Wunden so ungewöhnlich schnell abheilen“, hatte Grell gesagt und dabei einen belehrenden Gesichtsausdruck aufgesetzt. „Du weißt doch genau, dass Shinigami ständig Einsätze im Krankenhaus haben. Jetzt stell dir doch nur einmal vor, dass dich dort zufällig jemand sieht, während du dein Kind zur Welt bringst. Dann ist der Dispatch schneller im Kreissaal, als du überhaupt pressen kannst.“ Natürlich stimmte es, was er sagte. Und Carina sah das auch ein. Sie war zu weit gekommen, um jetzt aufzufliegen. Dennoch, ihr machte diese ganze Vorstellung einfach Angst. Die Schmerzen, die Ungewissheit, ob es ihrem Baby auch während der Geburt gut ging… Verflucht, in der Neuzeit war das einfach alles viel sicherer und besser geregelt! „Du denkst wieder über die Geburt nach, oder?“, fragte Alice in diesem Moment und Carina konnte einfach nicht anders, als sie verwundert anzustarren. „Was denn, bist du jetzt unter die Gedankenleser gegangen?“, scherzte sie, woraufhin die Schwarzhaarige spielerisch zwinkerte. „Nein, aber du bekommst immer so eine steile Falte auf der Stirn, wenn du dich um etwas sorgst. Und da du momentan außer der Geburt keine größeren Sorgen haben musst, habe ich einfach mal ins Blaue geraten.“ Carina seufzte ein weiteres Mal. „Nun“, begann sie langsam und kratzte sich kurz am Kopf. „Du liegst richtig.“ Ein zittriger Atemzug verließ ihre Lippen. Als sie ihre nächsten Worte sprach, sah sie ihre beste Freundin nicht an. „Was, wenn ich alleine bin, wenn die Wehen einsetzen?“ „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dich in den letzten Wochen noch alleine lassen würde?“ Carina wandte ihr wieder den Blick zu, ihre Augenbrauen zogen sich verwirrt zusammen. „Alice, wie willst du das machen? Urlaub beantragen? Das geht ja wohl schlecht.“ „Nein, das wahrlich nicht. Aber es gibt einen anderen Weg.“ Sie lehnte sich in der Couch zurück. „Hast du schon einmal mitbekommen, wie ein Shinigami einen Nervenzusammenbruch hatte?“ Die Schnitterin zuckte mit den Schultern. „Ein oder zwei Mal. Wieso?“ „Das ist nichts Unübliches in unserer Gesellschaft. Auch, wenn die Meisten ihre Vergangenheit irgendwann hinter sich lassen können, holt es doch immer wieder welche ein. Für die Oberen ist es besonders wichtig, dass in ihren Reihen Ordnung herrscht und dass jeder Todesgott so funktioniert, wie er nun einmal funktionieren soll. Daher wurde schon vor Jahrhunderten das Gesetz erlassen, dass jeder Todesgott, dessen Sinne einmal „aussetzen“, einen ganzen Monat Zeit bekommt. Zeit bekommt, um sich wieder auf das Wesentliche zu besinnen.“ Carina schnaubte. „Ja, das klingt ganz nach den Oberen.“ Missbilligung lag in ihrer Stimme und machte deutlich, was sie von ihren ehemaligen Vorgesetzten hielt. „Und in diesem Monat können die Shinigami dann wirklich machen, was sie wollen?“ „Nun, sie dürfen natürlich nicht gegen das Regelwerk verstoßen, soviel ist klar. Aber ja, ansonsten können sie machen, tun und lassen wie es ihnen beliebt.“ Sie verzog den Mund. „Na ja, leider verbringt der größte Teil dieser Dummköpfe diese freie Zeit damit, sich in ihren Zimmern einzuschließen und sich in die Stille zu flüchten in der Hoffnung, dass es ihnen nach einem Monat wieder gut genug geht, um vielleicht erneut 100 Jahre lang zu dienen. Nur, um dann das ganze Spielchen von vorne zu beginnen. Es ist ein verdammter Teufelskreis.“ „Das ist wohl wahr“, murmelte Carina und beäugte die Rezeptionistin. „Kann ich also davon ausgehen, dass du dein schauspielerisches Talent in mehreren Wochen unter Beweis stellen wirst?“ Alice grinste. „Ja, das kannst du. Und von da an werde ich Tag und Nacht auf dich aufpassen.“ Unendliche Erleichterung breitete sich in der jungen Frau aus. „Gut“, atmete sie auf, gleichzeitig brannte ihr jedoch noch eine Frage auf der Zunge. Doch sie zögerte. „Alice“, begann sie vorsichtig, „ich möchte dir nicht zu nahe treten, das möchte ich wirklich nicht! Aber…“, sie zögerte erneut und sah ihre Freundin entschuldigend an. Das hier war eigentlich ein Verstoß gegen die Regel, die sie sich selbst auferlegt hatte. Nie wieder nach der Vergangenheit eines Shinigami fragen. „Aber“, setzte sie noch einmal an, „hast du Erfahrungen mit Geburten?“ Alice wirkte nicht so, als würde sie die Frage großartig verärgern. Oder gar überraschen. Sie stieß die Luft in ihren Lungen langsam aus. „Ich habe mich schon gefragt, wann du mir endlich diese Frage stellen würdest.“ „Es tut mir leid, ich-“ „Entschuldige dich nicht. Es ist in Ordnung, es geht hier immerhin um dein Kind.“ Sie lächelte. „Ja, ich kenne mich mit Geburten aus. Sowohl als Zuschauer, als auch persönlich.“ Carinas Hals wurde trocken. Sie hatte so etwas in der Art zwar bereits vermutet, aber die Bestätigung zu bekommen war dann doch etwas anderes. „Du…du hattest ein Kind?“, flüsterte sie. „Ja, das hatte ich.“ Alice’ Augen nahmen einen trüben Ausdruck an, ein schweres Lächeln lag ihr auf den Lippen. „Ein Junge. Jamie.“ Carina traute sich kaum etwas zu sagen. Doch das musste sie auch nicht. Scheinbar war ihrer Freundin daran gelegen ihr die ganze Vergangenheit ihrerseits offen zu legen. „Du musst wissen, ich hatte drei ältere Schwestern und alle von ihnen haben mehr als drei Kinder geboren. Ich war bei jeder Geburt dabei und bin mittlerweile mit fast allen möglichen Komplikationen betraut. Und du bist eine Shinigami, du kannst nicht sterben.“ „Es ist nicht mich, um die ich mich sorge“, sagte die Schwangere. „Ich weiß. Aber jedes der Kinder meiner Schwestern hat überlebt. Und das war wirklich ein Glücksfall für mich, weißt du. Mein Vater war der Chef einer der führenden Londoner Banken. Er gehörte zwar nicht zum Hochadel, hatte aber einen einflussreichen Familiennamen und brauchte daher natürlich Erben, um seine Familie weiterzuführen. Leider“, seufzte sie und musste kurz grinsen, „leider war er nur mit vier Töchtern gesegnet, aber mit keinem Sohn, der seinen Familiennamen weiterführen konnte. Aber im Gegenzug zu anderen Männern fand er sich damit ab.“ Eine einzelne, silbrig glänzende Träne rollte über ihre rechte Wange. „Er hat uns alle vier so sehr geliebt“, wisperte sie und Carina legte ihrer Freundin sanft eine Hand auf den Handrücken. „Ich hatte mehr Glück als die meisten Mädchen in meinem Alter. Dadurch, dass meine drei älteren Schwestern alle einflussreiche oder adelige Männer heirateten, war es mir erlaubt den Mann zu heiraten, den ich liebte. Wer kann das in der heutigen Zeit schon von sich behaupten?“ Carina lächelte. „Wer war er?“, fragte sie leise. „Sein Name war John Gray. Wir lernten uns zufällig kennen, als ich meinen Vater in der Bank besuchte, um ihm ein Lunchpaket meiner Mutter vorbeizubringen. Er hatte dort gerade erst als Auszubildender angefangen, aber er war bereits so vielversprechend. Mein Vater sprach oft von ihm zu Hause, lobte ihn in den höchsten Tönen. So oft, dass ich schon fast ein wenig eifersüchtig auf diesen ominösen Fremden wurde. Aber als ich ihn dann das erste Mal zu Gesicht bekam…“ Sie errötete schwach und lachte. „Er war der bestaussehendste Mann, den ich je getroffen habe. Mit seinen schwarzen Locken, seinen grünen Augen und diesen kleinen Grübchen. Ich war auf der Stelle in ihn verliebt und er wohl auch in mich, wie er mir nach unserer Hochzeit berichtete. Ich war so glücklich, dass ich ihn heiraten dürfte. Obwohl er weder einen nennenswerten Titel hatte, noch eine wohlhabende Familie dürfte ich ihn heiraten. Da war ich gerade 15 Jahre alt geworden.“ Carina zuckte kurz zusammen, besann sich jedoch dann eines Besseren. Hier in dieser Zeit war es vollkommen normal in diesem Alter bereits verheiratet zu werden. Dennoch, die Vorstellung war ihr einfach fremd. Mit 15 war man in ihren Augen doch immerhin selbst noch ein Kind… „Und weißt du, was John auf der Hochzeit dann noch erklärt hat? Er würde seinen Namen ablegen und den meinen annehmen, damit der Name meines Vaters fortbestehen würde. Als mein Vater das hörte, brach er in Tränen aus. Was mir verdeutlichte, dass er sehr wohl darunter gelitten haben musste keinen Sohn gezeugt zu haben. Ab diesem Zeitpunkt war alles, wirklich alles so perfekt.“ „Aber nicht für immer, oder?“, fragte Carina, denn so musste es einfach sein. Alice hatte sich schließlich nicht das Leben genommen, weil alles so perfekt gewesen war. „Nein, nicht für immer.“ Die Schwarzhaarige schwieg, ihr Gesicht war merklich blass geworden. „Hat er dich geschlagen?“, murmelte die Schnitterin, doch ihr Gegenüber schüttelte den Kopf. „Nein, hat er nicht. Mein Selbstmord hatte rein gar nichts mit meiner Familie zu tun. Nur mit einer Verkettung unglücklicher Umstände und mit dem Verlust der Menschen, die ich liebte.“ Sie seufzte erneut und fuhr dann fort. „Etwa ein Jahr, nachdem wir geheiratet hatten, wurde ich schwanger. Etwas, das ich schon so lange wollte. Etwas, um das ich meine Schwestern immer beneidet hatte.“ Sie schaute ihre Freundin aufmunternd an. „Die Geburt war hart, ja, aber es lohnt sich. Und glaub mir, du hast schon Schlimmeres durchgemacht als das.“ Carina erwiderte ihren Blick. „Wie war er?“, fragte sie sanft und stellte gleichzeitig fest, dass sie sich Alice sehr gut als Mutter vorstellen konnte. Viel besser, als sich selbst. „Jamie? Er war vom ersten Tag an so ein liebes Baby. Er hat kaum geschrien und war auch sonst relativ pflegeleicht. Etwas, um das mich dann andererseits mal meine Schwestern beneideten.“ Sie lachte. „Er hatte die schwarzen Locken seines Vaters und meine braunen Augen. Nun ja, als sie noch braun waren jedenfalls“, sagte sie und deutete auf die nun gelbgrünen Seelenspiegel hinter ihren Brillengläsern. „Ich hatte also alles, was ich immer wollte. Einen Mann, ein Kind, ein gutes Leben…Aber es hielt nicht lange. Nur 3 Jahre.“ Sie knetete unruhig ihre Hände. „Wir hatten gerade erst Jamies dritten Geburtstag gefeiert. Ungefähr eine Woche später passierte es dann. Ich hatte bereits das Abendessen gemacht, Jamie lag schon in seinem Bettchen und ich wartete darauf, dass John von der Arbeit nach Hause kam. Ein klein wenig verwundert war ich schon, normalerweise kam er immer pünktlich zum Essen. Doch nicht an diesem Tag. Ich wartete und wartete und als ich dann nach 2 Stunden schon kurz davor war zur Bank zu gehen und selbst nach ihm zu schauen, da läutete es an der Haustür. Ich…i-ich machte sie auf und davor standen z-zwei Polizisten.“ Ihre Stimme geriet leicht ins Stocken, ihre Augen wurden glasig. Der Blondine sackte das Herz mehrere Zentimeter nach unten, als sie ihre Freundin so sah. Sie konnte sich bereits ziemlich genau vorstellen, was passiert sein musste. „Sie haben mir gesagt, dass es einen Überfall auf die Bank meines Vaters gegeben hätte. Einer der beiden Straftäter hat wohl währenddessen die Nerven verloren und angefangen wie wild mit seiner Pistole in der Filiale rumzuschießen. Mein Vater wurde in die Stirn getroffen, er war sofort tot. John hingegen hat versucht die aufkommende Panik zu unterbinden, er wollte mit den Verbrechern verhandeln. Aber als diese das ganze Geld in ihre Taschen gesteckt hatten, wollten sie auf Nummer Sicher gehen, dass auch wirklich keiner der Besucher sie erkannt hatte. Also haben sie alle in der Bank erschossen.“ Sie schluckte trocken, während Carina nach Luft schnappte. „Die Polizisten sprachen mir ihr Beileid aus, aber davon habe ich kaum noch etwas mitbekommen. Da war eine Stille und Leere um mich herum, ein Gefühl der Eiseskälte direkt in meiner Kehle. Ich habe kaum gemerkt, dass die beiden Männer gegangen sind. Habe nur entfernt Jamie in seinem Zimmer wimmern hören. Alles, was ich vor mir sah, war Johns Gesicht und der Gedanke, dass er unmöglich tot sein konnte. Wir hatten doch morgens noch miteinander geredet, uns voneinander verabschiedet, als er zur Arbeit ging. Wie konnte er da jetzt einfach tot sein? Einfach…nicht mehr da sein?“ Nun war Carina diejenige, deren Augen glasig wurden. Sie konnte sich zwar vorstellen wie es war den wichtigsten Mensch im Leben zu verlieren, aber nicht, dass der wichtigste Mensch im Leben tot war. „Jamie war das Einzige, was mich aufrecht hielt. Ohne ihn wäre ich wahnsinnig geworden. Für ihn habe ich durchgehalten, habe mich zusammengerissen. Das Leben musste irgendwie weitergehen. Und das ging es auch, jedenfalls für ein paar Monate. Bevor mich das Schicksal dann erneut einholte.“ Sie schloss die Augen. „Es fing alles mit einem harmlosen Husten und etwas Fieber an. Es war Winter, also eigentlich gar keine so ungewöhnliche Jahreszeit für eine Erkältung. Ich hab ihn dick eingepackt und in der Apotheke Medikamente geholt. Allerdings merkte ich schnell, dass die üblichen Dinge bei Jamie nicht anschlugen. Ganz im Gegenteil, der Husten wurde immer schlimmer und er konnte sich nicht mal mehr zum Spielen aufraffen. Als dann auch noch Erbrechen dazu kam, habe ich direkt unseren Hausarzt rufen lassen.“ Tränen kullerten ihr nun ganz offen über die Wangen. „Ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmen konnte, weißt du? Der Arzt hat ihn ganz stillschweigend untersucht, er hat kein einziges Wort währenddessen gesagt und das war an und für sich schon recht ungewöhnlich. Als er dann schließlich fertig war, bat er mich in das Wohnzimmer und wir haben uns zusammen an den Esstisch gesetzt. Und dann… dann hat er mir gesagt, dass mein Sohn Diphtherie hat.“ Carina versteifte sich unwillkürlich. Diese Krankheit war ihr natürlich ein Begriff. In ihrer Zeit gab es dagegen längst eine Impfung. Aber sie hatte Geschichten gehört. Wie viele Kinder diese Krankheit dahin gerafft hatte. Und in ihren Zeiten als Seelensammlerin hatte sie es selbst erlebt. „Er meinte die Krankheit wäre schon sehr weit fortgeschritten und hätte bereits sein kleines Herz befallen. Und es ginge schon nicht mehr darum sein Leben zu retten. Sondern nur noch darum, ihm seine Schmerzen zu nehmen und ihm den Tod zu erleichtern.“ „Oh Alice“, wisperte Carina mit gebrochener Stimme und konnte die Tränen nun auch nicht mehr zurückhalten. Angesprochene wischte sich langsam die Wangen trocken und schniefte kurz in ein Taschentuch. Dann lächelte sie freudlos. „Das einzige Positive, was ich sagen kann, ist, dass er nicht sehr lange leiden musste. Nach nur wenigen Tagen ist er ganz einfach eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Ich saß bei ihm und hab die ganze Zeit seine Hand gehalten. Er sah so friedlich aus…“ „Du musst nicht weitersprechen“, meinte die Blondine bekümmert, den Rest konnte sie sich auch so vorstellen. „Nein, ich möchte es dir sagen“, entgegnete Alice ernst. „Du hast mir auch deine ganze Vergangenheit erzählt. Es ist nur fair, wenn ich dasselbe tue. Aber der Rest ist relativ schnell erzählt.“ Sie rieb sich die Hände, als wäre ihr kalt. „Du kannst dir vorstellen, dass meine Mutter und meine Schwestern alles versucht haben, um mich irgendwie aufzumuntern. Natürlich hat nichts davon funktioniert. Ich hatte innerhalb eines Jahres beinahe alles verloren, was mir lieb und teuer war. Ich war innerlich leer. Nachts konnte ich nicht schlafen und wenn doch, dann träumte ich davon, dass sie alle noch da wären. Mein Vater, John und Jamie. Manchmal wachte ich schweißgebadet auf und bildete mir ein Jamie in seinem Zimmer weinen zu hören. Doch jedes Mal fand ich nur ein leeres Bettchen vor, das mich daran erinnerte, dass er für immer fort war. Immer wieder sah ich seinen kleinen Sarg vor mir und wie er langsam in diesem Grab verschwand. Es war einfach nur noch unerträglich.“ Die Schwarzhaarige wickelte sich eine ihrer langen Strähnen um den Finger. „Ich wollte bei ihm sein. Das war mein einziger Gedanke, von früh morgens bis spät abends. Also…“, sie holte tief Luft. „Also habe ich mir einen Strick genommen und mich in seinem Zimmer am Deckenbalken erhängt.“ Carina schloss die Augen. Das war eine der Todesarten, die sie sich selbst in ihren kühnsten Träumen einfach nicht vorstellen konnte. Wie viel Überwindung musste es kosten diese ganze Konstruktion aufzubauen, sich dann auf einen Stuhl oder Hocker zu stellen und dann... „Und was soll ich sagen?“, unterbrach Alice ihre Gedankengänge. „Damals glaubte ich daran, dass es einen gnädigen Gott gibt, der mich nach meinem Tod wieder mit meinem Mann und meinem Sohn vereint. Wie dämlich ich doch war!“ „Du warst nicht dämlich, Alice. Du warst verzweifelt. Das sind zwei vollkommen unterschiedliche Dinge. Und ich finde es überhaupt nicht dämlich, wenn man hofft die Menschen, die man liebt, nach dem Tod wiederzusehen. Was ist daran bitteschön verwerflich?“ „Das werden wir wohl nie herausfinden, nicht wahr? Unsere Seelen werden niemals dort landen, wo ihre sind. Durch meinen Selbstmord habe ich mir für immer die Chance genommen sie wiederzusehen.“ Ihre sonst immer so starke Freundin begann zu schluchzen, woraufhin Carina sie fest in ihre Arme schloss. Na ja, so fest wie es mit dem Bauch halt ging. „Ich schätze das werden wir wohl erst herausfinden, wenn es soweit ist“, murmelte sie und streichelte Alice beruhigend über den Rücken. Nach mehreren Minuten der Stille schien die Shinigami sich wieder ein wenig zu fangen, jedenfalls hörte das Schluchzen auf und auch die Tränen versiegten langsam. Carina lächelte leicht. „Ich bin so froh, dass du da bist, Alice. Alleine würde ich das alles kaum durchstehen, geschweige denn die Geburt. Danke.“ Angesprochene lächelte nun auch wieder, obwohl ihre Augen immer noch gerötet waren. „Für dich und mein Patenkind würde ich allen tun, Carina. Wir stehen das schon durch. Gemeinsam.“ Die werdende Mutter nickte, während ihr Lächeln nun breiter wurde. „Ja. Gemeinsam.“ Seltsame Freude ergriff ihn, als sich am Horizont langsam die Umrisse der englischen Hauptstadt abzeichneten. In seinem langen Leben hatte er schon sehr viele Länder bereist und unglaublich viele Kulturen, Menschen und Dinge gesehen. Doch irgendwie zog es ihn früher oder später immer wieder nach London zurück. Diese Stadt hatte einfach etwas Faszinierendes. Der Shinigami trat näher an die Reling heran und genoss für einen Augenblick lediglich den Anblick. Im Endeffekt war er doch noch ein paar Wochen in Frankreich geblieben, um seine dortigen Forschungen abzuschließen und alles wieder so herzurichten, dass auch ja keine Spuren von seiner Anwesenheit zurückblieben. Was nicht sonderlich schwierig gewesen war, denn tatsächlich war er dieses Mal weder von seinesgleichen, noch von Ciel Phantomhive und seinem teuflischem Butler gestört worden. Und auch nicht von- „Nein“, schalt er sich innerlich. Diesem Gedankengang würde er dieses Mal nicht nachgehen. Sobald dieses Schiff im Hafen Londons anlegte, würde er zuallererst in dem Mausoleum der Familie Phantomhive nach dem Rechten sehen und sich dann überlegen, wie es weitergehen sollte. Sich einen neuen Plan zurechtlegen. Und bei diesem Vorgehen wären Gedanken an eine gewisse blonde Frau nun wirklich mehr als nur hinderlich. „Ich kann nur hoffen, dass sie zurzeit nicht im Dienst ist. Das möchte ich uns beiden nun wirklich ersparen.“ Ein Seufzen entfuhr widerwillig seinen Lippen und er strich sich seine silbernen Haare aus der Stirn, um besser in die Ferne sehen zu können, wo sich nun mittlerweile auch die schwache Form des Hafens abzeichnete. Wenn er doch zu diesem Zeitpunkt nur gewusst hätte, dass ihm bezüglich seines Besuches im Mausoleum jemand zuvor gekommen war… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)