Selbstmord ist keine Lösung......oder? von LadyShihoin ================================================================================ Kapitel 50: Das Geheimnis, das keins war ---------------------------------------- Ihre Atemzüge hallten hektisch und abgehackt durch den Raum. Immer noch schaute sie den rothaarigen Schnitter besorgt und verängstigt an, dieser starrte zurück. Die Verwirrung aufgrund ihrer Frage stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Schließlich öffnete er nach einer gefühlten Ewigkeit den Mund und läutete damit den Anfang vom Ende ein. „Natürlich können wir.“ Er sagte es mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass es Carina den Boden unter den Füßen wegzog. „…Was?“, hauchte sie gerade noch, ehe sie rückwärts gegen Grells Kleiderschrank taumelte und langsam daran zu Boden rutschte. „Um Himmels Willen, Carina“, der Rothaarige kniete sich sogleich vor sie. „Was, verdammt noch mal, ist nur mit dir los? Erst die ganzen Verletzungen, über die du nicht sprechen willst, dann dein Arbeitswahn, dicht gefolgt von deiner fehlenden Bereitschaft mir die Wahrheit zu sagen und jetzt DAS. Rede endlich mit mir.“ Carina verstand ihn und sie wollte ihm antworten, wirklich! Doch seine Worte ließen sie immer noch panisch nach Luft schnappen. In Grells starrer Miene erschien Besorgnis. „Soll ich einen Arzt holen?“ Carinas Reaktion erfolgte unmittelbar. „Keinen Arzt“, erwiderte sie scharf. Das hätte ihr gerade noch gefehlt. Sie schloss die Augen und holte mehrere Male tief Luft. „Was…was soll das heißen? Natürlich können wir Kinder bekommen?“ Sie konnte ganz genau sehen, wie sich seine Augenbrauen langsam zusammenzogen. „Es überrascht mich ehrlich gesagt, dass du es nicht weißt. Es ist kein Geheimnis, dass wir dazu in der Lage sind, Carina.“ Er legte nachdenklich eine Hand ans Kinn. „Na ja, möglicherweise hast du es nicht mitbekommen, weil du Seelensammlerin geworden bist. In der Regel werden die Frauen alle in ihrem jeweiligen Kurs informiert. Vielleicht hat man dich einfach nur vergessen, immerhin bist du die Erste, die-“ „Vergessen? VERGESSEN?“ Ihre Stimme wurde einige Töne höher, dabei war es ihr vollkommen egal wie hysterisch sie nun klang. „Wie kann man denn so eine wichtige Information einfach vergessen? Und überhaupt, was soll der Mist eigentlich? Ich dachte die ganze Zeit, dass das ein Ding der Unmöglichkeit ist. Wir sind Shinigami. Todesgötter. Wir nehmen das Leben, wir geben es nicht! Das macht doch überhaupt keinen Sinn.“ Ihr Mentor verschränkte die Arme. „Wir waren einmal Menschen, Carina. Im Gegensatz zu den Dämonen ist unser Körper nach wie vor menschlich. Nur unsere Seele wurde modifiziert. Was glaubst du denn, warum wir immer noch essen und trinken müssen? Oder warum wir Schlaf brauchen?“ Es klang logisch, doch alles in Carina sträubte sich dagegen es einfach so hinzunehmen. „Und warum habe ich dann noch nie Kinder hier gesehen? Du kannst mir ja wohl nicht erzählen, dass in den letzten Jahren oder Jahrzehnten keine Kinder geboren wurden und sei es auch nur aus Versehen.“ Grell schwieg und mit einem Mal wurde der 18-Jährigen richtig flau im Magen. „Grell“, begann sie langsam und wurde, wenn möglich, noch bleicher. Grauenvolle Szenarien spielten sich plötzlich in ihrem Kopf ab. „Was passiert mit diesen Kindern?“ Er seufzte. „Eigentlich wird dieses Thema hier ziemlich totgeschwiegen, aber wenn du mir versprichst, dass du mir anschließend endlich erklärst, warum du das alles wissen willst, dann erzähle ich es dir.“ Carina nickte und der Rothaarige begann mit seinen Ausführungen. „Also, zuerst einmal solltest du wissen, dass wir hier grundsätzlich nur von den Kindern der weiblichen Shinigami sprechen. Die Interaktion mit Menschen ist uns immerhin verboten, daher werden auch grundsätzlich nur die Frauen darüber aufgeklärt. Ziemlich dämlich wenn du mich fragst, aber der Grund dafür ist, dass die Oberen diese kleine Tatsache gerne für sich behalten würden. Abgesehen davon, dass es schon einige männliche Shinigami gab, die gegen diese Regel verstoßen haben.“ Carina wurde nervös. „Was wird denn mit diesen Kindern gemacht? Werden sie ihren menschlichen Müttern weggenommen?“ Grell wirkte ein wenig empört. „Für was hältst du uns, Barbaren? Natürlich nicht. Wir machen gar nichts mit diesen Kindern.“ Die Blondine blinzelte verwirrt, sodass der Schnitter direkt fortfuhr. „Du musst wissen, diese Kinder sind ganz normale Menschen. Es fällt den Menschen nicht auf, dass ein Elternteil übernatürlich ist. Daher wird in solchen Fällen lediglich der betroffene Shinigami bestraft. Und das nicht gerade sanft, so viel steht fest.“ „Diese Kinder haben keine Shinigami-Merkmale?“, fragte Carina ungläubig und Grell schüttelte den Kopf. „Wie bereits gesagt, wir sind körperlich gesehen immer noch Menschen. Unsere Seelen veränderten sich, weil wir Selbstmord begangen haben. Das wirkt sich nicht auf unsere Kinder aus. Allerdings gibt es schon einige Besonderheiten, die unseren Wissenschaftlern in dem Zusammenhang aufgefallen sind.“ „Die da wären?“ „Nun, zum einen können diese Kinder Shinigami sehen. Zum anderen spürt man es in ihrer Aura. Sie strahlen eine minimal andere Energie ab als die Menschen. Uns fällt es in der Regel auf, wenn wir darauf achten. Dämonen können es zwar auch fühlen, wissen aber nicht woher es kommt. Es ist daher schon öfters vorgekommen, dass sie sich für die Seele eines dieser Kinder interessiert haben. Meistens endet es in einem ziemlichen Chaos. Wir hatten mal einen Fall, in dem der Shinigami davon Wind bekam, dass seine Tochter dabei war sich auf einen Dämon einzulassen und das Ganze endete in einem ziemlichen Blutbad.“ Er streckte angewidert die Zunge heraus. „Menschen spüren hingegen keinen Unterschied, daher ist es auch vollkommen ungefährlich sie einfach bei ihnen zu lassen. Sie wachsen ganz normal auf und sterben auch irgendwann. Also kein Grund für uns tätig zu werden. Wir sorgen lediglich dafür, dass der Shinigami keinen Kontakt aufnimmt.“ Carinas Gedanken verselbstständigten sich. Natürlich hatten die weiblichen Shinigami dieses Problem mit den Menschen nicht. Außer ihr war niemand jemals im Außendienst tätig gewesen, wie hätten sie da auf Menschen treffen sollen? „Und…und was passiert, wenn zwei Shinigami ein Kind…“ Ihre Stimme versagte und Grells Miene verfinsterte sich ein Stück weit. „Eigentlich nehmen die Frauen hier - wenn sie einen Partner haben - Tabletten, die Schwangerschaften verhindern. Falls es jedoch trotzdem passiert…Nun ja, in diesem Fall werden die Kinder in die Menschenwelt gebracht. Meistens in Waisen- oder Krankenhäuser.“ Ihr Herz begann sich schmerzhaft zusammenzuziehen. Ein Kältegefühl, wie sie es noch nie erlebt hatte, überfiel das pochende Organ und ihren Magen gleich mit. „Und das ist nicht barbarisch?“, flüsterte sie und erntete ein Seufzen. „Glaubst du denn, ich finde das gut? Natürlich nicht. Aber so lauten nun einmal die Regeln. Wir sind Shinigami, um unsere Schuld abzutragen. Um Sühne für unseren Selbstmord zu leisten. Wir haben keinen Anspruch darauf eine Familie zu haben.“ „Oder glücklich zu sein“, dachte Carina und ballte ihre Hände zu Fäusten. Es stimmte also doch. Sebastian hatte nicht gelogen. Sie…Sie war also wirklich… „Aber…aber es gab doch überhaupt keine Anzeichen“, stammelte sie, Tränen bildeten sich langsam in ihren Augen. Grells Wut kehrte sogleich zurück. „So und jetzt sagst du mir endlich, wieso du das alles wissen wolltest“, keifte er und verschränkte ungeduldig die Arme. „Was ist los mit dir?“ Ihre Kehle wurde trocken. „Ich…ich habe bei meiner Schicht Sebastian getroffen.“ Jetzt wirkte der Rotschopf noch beleidigter. „Argh, warum passiert sowas mir nicht? Ich möchte Sebas-chan auch wiedersehen“, quengelte er. Dass er kein Taschentuch auspackte und mit seinen Zähnen daran herumzog, kam einem Wunder gleich. Doch Carina achtete ausnahmsweise einmal nicht auf ihn, denn sie hatte gerade wahrlich ihre eigenen Probleme. Die Tränen kamen ins Rollen und tropften zu Boden, während sie endlich irgendwo in ihrem Inneren den Mut dazu fand die Worte auszusprechen. „Er…er sagte ich sei schwanger.“ Grells Weinerlichkeitsanfall verstummte auf der Stelle. Generell stellte sein Körper anscheinend jegliche Bewegungsfähigkeit ein. Er sah mit einem Mal so aus, wie Carina sich fühlte. Und seltsamerweise machte sie das nun noch panischer. „Aber es gab keinerlei Anzeichen“, heulte sie und begann sogleich die ganzen Dinge aufzuzählen, an der man eine mögliche Schwangerschaft erkennen konnte. Jedenfalls die, von denen sie wusste. „Mir war nicht schlecht, ich habe mich nicht einmal übergeben, hatte keine seltsamen Essensgelüste oder Stimmungsschwankungen-“ „Deine Periode?“, warf Grell seltsam trocken dazwischen. „Meine“, begann sie und stockte dann urplötzlich. Sie starrte an die gegenüberliegende Wand, während sich der eiskalte Klumpen in ihrem Magen verhärtete. Jetzt, wo sie darüber nachdachte…sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal ihre Periode gehabt hatte. Aber auf jeden Fall nicht mehr, seitdem sie wieder hier war. „Wie konnte ich das nur nicht merken?“, dachte sie verzweifelt und gab sich gleich darauf selbst die Antwort. Sie hatte die letzten Wochen nur damit verbracht sich in Selbstmitleid zu suhlen und an Cedric zu denken. Doch die Welt hatte sich vor ihren Augen weitergedreht und sie hatte es einfach nicht gemerkt. „Scheiße“, entfuhr es ihr entkräftet. Ihr Kopf sank herab und die Schnitterin vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. „Also hast du doch gelogen“, begann Grell kritisch, gleichzeitig jedoch auch mit ruhiger Stimme. „Er hat dich doch vergewaltigt.“ Carina atmete tief ein und wieder aus, bevor sie schließlich wieder aufsah. „Nein, das hat er nicht“, antwortete sie, was Grell jetzt wieder vollkommen aus dem Konzept brachte. Sie schluckte. „Ich habe freiwillig mit ihm geschlafen.“ Zum zweiten Mal in dieser Nacht verschlug es dem Rothaarigen schlichtweg die Sprache. Doch er fand sie relativ schnell wieder. „Du hast bitte WAS getan???“ Und dann erzählte sie ihm alles. Angefangen von ihrem Erwachen am Weston College, über ihren Deal und die damit verbundene Suche nach ihrer Death Scythe, bis hin zu ihrer Beziehung zu dem Bestatter und dem unschöneren Ende. Sie berichtete über den Kampf gegen den unbekannten Shinigami, die Wahrheit über die Bizarre Dolls und die wahren Absichten des Undertakers. Grell schwieg währenddessen und ließ sie ausreden, schnappte nur einmal kurz nach Luft als sie ihm erzählte, dass es nicht bei einem One-Night-Stand zwischen Cedric und ihr geblieben war. Als sie schließlich am Ende angekommen war und verstummte, stand Grell auf. Nervös schaute sie zu ihm hoch. Vermutlich war das das Ende ihrer Freundschaft. Wie bereits gesagt, sie konnte es ihm nicht einmal übel nehmen. Sie hatte sich wirklich alles andere als vorbildlich verhalten. In einer fließenden Bewegung stemmte der Schnitter seine Hände in die Hüften und dann schrie er sie an. „Und warum hast du mir das alles nicht sofort erzählt? Ich hätte dir doch beistehen können!“ Carina blinzelte. Das war wahrlich nicht die Antwort, die sie erwartet hatte. „I-ich hab mich geschämt“, stammelte sie und schaute nun wieder zu Boden. „Weswegen denn genau? Etwa, weil du deine Unschuld noch vor der Ehe achtlos weggeworfen hast? Weil du mit dem wahrscheinlich meist gesuchten Deserteur in unserer Geschichte geschlafen hast? Oder weil du mich wochenlang belogen hast?“ Seine Stimme war hart und unnachgiebig. Das hier war kein Streit, sondern eine Standpauke vom allerfeinsten. Carina errötete. „Alles davon“, flüsterte sie kleinlaut und spürte, wie ihre Augen erneut zu brennen anfingen. „Das solltest du auch. Ich war krank vor Sorge um dich, konnte nachts nicht richtig schlafen, weil ich nicht wusste ob du nun tot bist oder nicht. Und was hast du stattdessen getan? Dich schön mit diesem attraktiven Silberhaarigen vergnügt.“ Carina wurde unter seinem Blick immer kleiner, traute sich nicht mal ein Wort zu sagen. Der Gedanke, dass Grell wahrscheinlich genau dasselbe getan hätte, wenn es hier um Sebastian oder William gegangen wäre, blieb unausgesprochen. „Es tut mir leid“, flüsterte sie und meinte es auch so. Gleichzeitig jedoch fühlte sie sich irgendwie erleichtert, dass es jetzt endlich raus war und sie sich vor Grell nicht mehr verstellen musste. Dennoch, die Scham und Schuldgefühle blieben. „Ich wollte es dir die ganze Zeit sagen, aber ich…ich hatte zu viel Angst. Ich dachte du würdest dann nichts mehr mit mir zu tun haben wollen.“ Seine gelbgrünen Augen wurden eine Spur sanfter und jetzt hockte er sich vor sie, um mit ihr auf einer Augenhöhe zu sein. Einen Moment lang schien er über etwas nachzudenken, dann fragte er: „Liebst du ihn?“ Carina biss sich auf die Unterlippe. „Ja“, wisperte sie, ihre Augen schwammen zum wiederholten Male in Tränen. Ein schweres Seufzen entfuhr ihm. „Ich hatte es befürchtet“, gab er zurück und ließ sich nun neben ihr nieder, ebenfalls an den Kleiderschrank gelehnt. Stille senkte sich über sie herab, während beide Todesgötter ihren eigenen Gedanken nachhingen. „Weißt du, was das Blöde ist?“, sagte Grell schließlich, woraufhin seine selbsternannte Schwester ihm ihr Gesicht zuwandte. „Was?“, fragte sie erschöpft. Ihr Kopf war so voll, er fühlte sich an wie kurz vor einer Explosion. Der Rothaarige seufzte erneut. „Ich kann dir nicht mal richtig böse sein.“ Carinas Augen weiteten sich ungläubig. Sie starrte ihren besten Freund an, als hätte sie ihn noch nie zuvor gesehen. Dieser grinste schief. „Ich bin wohl der Allerletzte, der jemandem die Liebe nicht gönnen würde.“ Gleich darauf blinzelte er verwirrt. „Warum heulst du denn jetzt schon wieder?“ „Weil ich dich nicht verdient habe“, meinte sie hicksend und wischte sich über die rotgeränderten Augen. Der Schnitter konnte nicht anders, er musste einfach lachen. „Da hast du wohl Recht“, antwortete er und zog ihren Kopf an seine Brust heran. Auch wenn Grell oft alles andere als einfühlsam war, er konnte seine Schülerin verstehen. Jeder machte einmal Fehler und außerdem war sie noch so jung, was er aufgrund ihrer erwachsenen Ausstrahlung manchmal einfach vergaß. Carina hatte bereits genug Probleme, da würde er jetzt sicherlich nicht noch nachtreten. „Was willst du jetzt machen?“, fragte er 5 Minuten später, als die Gemüter wieder abgekühlt waren. Er saß jetzt auf seinem Bett, Carina an dem kleinen Esszimmertisch. „Wenn ich das nur wüsste“, seufzte die 18-Jährige und nippte an dem Glas Wasser, das vor ihr stand. Es war seltsam. Obwohl sie nun wusste, dass sie – Gott stehe ihr bei – schwanger war, konnte sie es immer noch nicht richtig erfassen, nicht begreifen. Carina konnte es sich einfach absolut nicht vorstellen, dass in ihrem Bauch eine zweite Seele, ein neues Leben heranwuchs. Wie zur Hölle sollte sie damit nur umgehen? „Du kannst ja nicht sehr weit sein“, begann der Schnitter vorsichtig. „In der 8. Woche“, antwortete sie ohne darüber nachzudenken. Seit 5 Wochen ging sie wieder zur Arbeit, vorher hatte sie etwas länger als 2 Wochen Trübsal geblasen und davor hatte sie 2 Tage auf der Krankenstation verbracht. Und über den Zeugungszeitpunkt musste sie auch nicht lange nachdenken. „Es muss der Sex vor meinem Weggang gewesen sein. Andernfalls hätte ich das Kind sicherlich bei dem Kampf gegen diesen Shinigami verloren.“ Sie schloss genervt die Augen. Der Sex, den sie persönlich herbeigeführt hatte. Konnte es eine größere Ironie geben? Grell zögerte einen kurzen Moment, dann sagte er langsam: „Du könntest es immer noch entfernen lassen. Wir könnten in der Menschenwelt in ein Krankenhaus gehen und niemand hier müsste je davon erfahren.“ Diese Antwort traf Carina wie ein Schlag ins Gesicht. Darüber hatte sie bisher nicht eine Sekunde lang nachgedacht. Aber als sie es tat, spürte sie unmittelbar einen schmerzhaften Stich in ihrer Brust. „Das kann ich nicht“, sagte sie ohne wirklich darüber nachzudenken. „Dieses Kind ist das Einzige, was mir noch von ihm geblieben ist. Ich kann es doch nicht auch noch verlieren. Ich will dieses Kind austragen und…und großziehen“, meinte sie ehrlich, wenn auch weiterhin zaghaft und gleichzeitig keimte eine Erkenntnis in ihr auf. Sie würde niemals zulassen, dass die Shinigami ihr ihr Kind wegnahmen und in die Menschenwelt brachten. Aber dann hatte sie nur eine Möglichkeit… „Du wirst gehen müssen“, las Grell ihre Gedanken und raufte sich die Haare. Das war so ziemlich das Letzte, was er eigentlich wollte. Aber wenn seine Schülerin das Kind bekommen wollte, dann würde er sie darin unterstützen. Dennoch, er musste ihr auch die Konsequenzen klar machen. Angst schnitt in ihre Eingeweide wie ein Messer. Sie müsste die Shinigami verlassen. Ein Leben auf der Flucht führen. Ständig in der Angst leben, dass sie entdeckt werden könnte. Ein Leben, wie Cedric es bereits lange Zeit führte. „Bist du dir da wirklich sicher, Carina? Selbst, wenn du es schaffen solltest unentdeckt zu bleiben und dieses Kind großzuziehen…Irgendwann ist es erwachsen, führt sein eigenes Leben und stirbt. Und was machst du dann? Du kannst nie wieder hierher zurück.“ Carina nickte. „Ja, ich weiß. Aber das ist immer noch besser, als mich mein ganzes Leben lang zu fragen, was hätte sein können. Was passiert wäre, wenn ich das Kind bekommen hätte. Oder?“ „Wie auch immer du dich entscheidest, ich werde dir helfen. Versprochen.“ „Wie?“, flüsterte sie und wirkte auf einmal entmutigt. „Ich werde gehen müssen. Vielleicht werde ich dich nie wiedersehen. Oder Alice? Oh Gott, sie wird mich umbringen, wenn sie die Wahrheit erfährt. Und ja Grell, ich werde ihr die Wahrheit erzählen. Noch einmal lasse ich sie nicht total unwissend hier“, sagte sie, denn Grells Gesichtsausdruck hatte Bände gesprochen, was er von dieser Idee hielt. Nämlich gar nichts. Carinas Hände verkrampften sich und als sie aufblickte, rollte eine einzelne Träne über ihre linke Wange. „Ihr seid meine besten Freunde, nein, meine Familie. Ich…ich will euch nicht verlieren. Ich will nicht allein sein. Ich brauche doch jemanden, mit dem ich über meine Sorgen und Ängste sprechen kann. Jemanden, mit dem ich lachen und scherzen kann. Das alles alleine durchzustehen…dafür bin ich nicht stark genug.“ „Rede so weiter und ich heule gleich auch noch“, jammerte er und griff nach ihren Händen. „Wir werden schon einen Weg finden, versprochen. Wenn du erst in der 8. Woche bist, haben wir noch ein wenig Zeit. Ich meine mich erinnern zu können, dass Schwangerschaften erst so ab dem dritten oder vierten Monat auffallen. Also setzen wir uns in den nächsten Tagen zusammen und überlegen, wie wir die Sache angehen.“ „Und wenn man uns erwischt?“, fragte Carina verunsichert. „Ich will nicht, dass du meinetwegen in Schwierigkeiten gerätst.“ „Glaub mir, das schaffe ich auch ganz gut ohne dich“, er zwinkerte. „Ich lasse meine kleine Schwester doch nicht im Stich, soweit kommt es noch!“ Die Blondine lächelte gerührt. „Was würde ich nur ohne dich machen?“, flüsterte sie und eine Spur Erleichterung keimte in ihr auf. Grell schaute plötzlich auf die kleine Uhr, die auf seinem Nachttisch stand. „Hör mal, es ist schon spät. Geh in deine Wohnung, schlaf dich aus und denk noch mal über alles in Ruhe nach, in Ordnung? Solche Entscheidungen trifft man nicht über Nacht. Vielleicht siehst du das morgen schon alles ganz anders. Vielleicht…überlegst du es dir noch mal anders.“ Carina schluckte. Grell hatte Recht, es war eine schwierige Entscheidung. Ihr Herz wusste zwar ihren Entschluss, aber ihr Verstand wehrte sich noch mit jeder Faser gegen die Vorstellung alles hinzuwerfen, wofür sie so hart gearbeitet hatte. Wieder von vorne anzufangen. Dabei spürte sie bereits jetzt, dass sie anfing dieses kleine Lebewesen in ihrem Körper zu lieben. Wie konnte das nur so schnell gehen? „Ich habe bis 2 Uhr Schicht, aber danach können wir gerne zu der kleinen Nervensäge gehen und sie in die ganze Sache einweihen. Wenn du das dann immer noch willst.“ „Das klingt nach einem Plan“, antwortete die Schnitterin und erhob sich mit wackligen Beinen. Grell öffnete die Tür und klopfte ihr noch ein letztes Mal aufmunternd auf die Schulter. „Bis später“, sagte er. In seinen Augen konnte sie deutlich sehen, dass er mit jeder ihrer Entscheidungen einverstanden sein würde und das machte ihr wenigstens ein bisschen Zuversicht. „Danke Grell. Für alles“, flüsterte sie und lief los zu ihrer Wohnung. Sicherlich würde sie diese Nacht keinen Schlaf mehr finden. Und sie sollte Recht behalten. Obwohl das kleine Schlafzimmer komplett verdunkelt war, hatte die junge Frau keine Schwierigkeiten etwas zu sehen. Sie lag auf ihrem Bett, die Arme und Beine weit von sich gestreckt und starrte hinauf zur Decke. Lediglich kleine Lichtstrahlen, die durch die Rollladen hindurch schienen sagten ihr, dass es draußen bereits hell war. Vermutlich hätte sie bereits vor einer halben Ewigkeit aufstehen müssen. Aber um ehrlich zu sein war es ihr egal. Sie hatte gerade deutlich größere Probleme. Was sollte sie machen? Wie zur Hölle sollte sie sich bloß entscheiden? Hieß es nicht „Man hatte immer eine Wahl“? Ja… Sie hatte eine Wahl. Eine Wahl mit zwei Optionen. „Und gleichzeitig hab ich doch keine“, flüsterte sie in die Stille des Raumes hinein. Wählte sie die eine Option, dann würde sie nach den Regeln spielen. Sie würde das tun, was alle von ihr erwarteten. Aber es würde sie nicht glücklich machen. Es würde ihr vielmehr das Herz brechen. Konnte sie dieses Kind wirklich abtreiben? Es wäre die leichteste Lösung, alle ihre Probleme würden sich mit einem Schlag in Luft auflösen. Aber wie sie bereits zu Grell gesagt hatte, sie wollte dieses Kind. Mit jeder Faser ihres Körpers und ihrer Seele. Nie hatte sie etwas so sehr gewollt. Möglicherweise war dieses Kind das Einzige, was sie jemals daran erinnern würde, dass nicht alles schlecht war, wenn sie an Cedric dachte. Dass ihre gemeinsame Zeit zu etwas gut gewesen war. Dass er zumindest eine Sache erschaffen hatte, die wundervoll war. Nicht so widernatürlich wie seine Bizarre Dolls. Und wählte sie die andere Option…nun ja…sie wäre vermutlich glücklich. Sogar verdammt glücklich. Aber gleichzeitig wäre es ein Spiel mit dem Feuer. Diese Entscheidung könnte ihr sehr schnell das Genick brechen. Und hatte sie sie erst einmal getroffen, dann würde es kein Zurück mehr geben. Es würde nie wieder die Möglichkeit geben hierhin zurückzukehren. Sie könnte alles verlieren, was ihr wichtig war. Grell, Alice, ein beständiges Leben…Aber war das wirklich das, was sie wollte? Beständigkeit? Nach wie vor konnte sie die ganze Tragweite der letzten Stunden noch nicht erfassen. Seit sie in dieser Zeit gelandet war, fuhr ihr Leben nur noch Achterbahn. Nichts blieb dauerhaft so wie es war, ständig änderten sich ihre Lebensumstände. Jetzt, wo sie gerade gedacht hatte sich wieder in ihrem Job eingefunden zu haben, passierte es schon wieder. „Aber wäre das wirklich so schlecht? Hätte ich es denn wirklich geschafft hier die nächsten Jahrzehnte und Jahrhunderte zu verbringen? Tagein und tagaus monoton meine Arbeit zu verrichten?“ Wenn Carina ganz ehrlich zu sich selbst war, dann lautete die Antwort darauf Nein. Sicherlich, einige Zeit lang hätte sie bestimmt so tun können, als ob alles in Ordnung wäre. Aber schlussendlich war es den Shinigami nun einmal nicht wirklich gestattet glücklich zu sein. Und das war doch verdammt noch mal genau das, was sie seit 3 Jahren wollte. Einfach nur glücklich sein… Verzweifelt vergrub sie das Gesicht in den Händen, ihre zerzausten blonden Haare ignorierend. Schon seit Stunden lag sie hier und überlegte hin und her. Aber egal, wie sehr sie sich auch den Kopf zerbrach, sie kam einfach zu keinem Ergebnis. Die Frage blieb. Wie zur Hölle sollte sie sich bloß entscheiden? Sollte sie dieses Kind bekommen? Oder nicht? „Wie konnte ich nur in diesen Schlamassel hineingeraten?“, murmelte sie. Automatisch kamen ihr die Erinnerungen der letzten Jahre in den Sinn. Ganz deutlich, als wäre es erst gestern passiert, sah sie es vor sich. Jedes kleine Detail, jedes gesprochene Wort und jede Begegnung. „Ach ja…genau…“ Für mehre lange Minuten ließ sie sich in den Strudel sinken, der aus ihren Erinnerungen bestand. Was sie in diesen 3 Jahren alles erlebt hatte… Alles hatte damit angefangen, dass Bianca ihr die ersten Black Butler Bände ausgeliehen hatte. Damals hatte sich alles noch um Mangas, Animes und gute Schulnoten gedreht. Es war teilweise kaum zu glauben, wie sehr sie sich seitdem verändert hatte. Wie von selbst glitt ihre rechte Hand auf ihren Unterleib; an die Stelle, an der sich ihr Kind befand. Cedrics Kind. Ihr gemeinsames Baby…Bei dem Wort „Baby“ wurde ihr plötzlich schwindelig. Ihr Herz schien aus heiterem Himmel auf die doppelte Größe anzuschwellen und irgendwelche komischen Saltos zu machen, während es trotzdem in einem schnellen Rhythmus weiter pochte. Was machte sie sich hier eigentlich vor? Warum lag sie bereits seit Stunden in ihrem Bett und ließ ihre Gedanken unablässig Kreise ziehen? Sie hatte ihre Entscheidung doch schon längst getroffen. Und in ihrem tiefsten Inneren hatte sie es auch die ganze Zeit gewusst. Egal, wie klischeehaft es sich auch anhören mochte, das hier war ein Entschluss, den man mit dem Herz traf. Nicht mit dem Verstand. Und ihr Herz schrie Ja. Carina nahm nun auch noch ihre andere Hand hinzu und ließ sie auf ihrem Unterleib ruhen. Sanft strich sie mit ihren Fingern über ihren noch flachen Bauch und obwohl sie wusste, dass es irgendwie dämlich war, beugte sie sich ein bisschen weiter hinab. Obwohl sie wusste, dass das Baby – ihr Baby – sie noch nicht hören konnte, flüsterte sie: „Ich werde dich beschützen. Komme, was da wolle!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)