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Selbstmord ist keine Lösung......oder?

von

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Das Ende einer Suche...

Lediglich ihren guten Reflexen verdankte Carina es, dass sie in diesem Moment nicht von einem Rapier aufgespießt wurde. Grell hatte sie in den letzten 3 Jahren ständig unangekündigt angegriffen und irgendwann hatte sie gelernt seinen plötzlichen Attacken auszuweichen. So auch jetzt. Ihr Körper bewegte sich ganz von allein, bevor ihr Kopf überhaupt das ganze Manöver registriert hatte. Mit einem schnellen, seitlichen Salto schaffte sie es neben der Kommode mit dem Spiegel zu landen und somit dem Angriff gänzlich zu entgehen. Dabei entging ihr keinesfalls, wie schnell ihr Gegner sich bewegt hatte.
 

„Verdammt, was soll das?“, rief sie laut und spannte ihren Körper in Erwartung eines neuen Angriffes an. „Was wollen Sie von mir? Geben Sie sich zu erkennen, Shinigami.“ Doch angesprochener Todesgott dachte gar nicht daran, ihren Worten Folge zu leisten. Er streckte seinen Arm aus, sodass die Spitze seiner Klinge genau auf sie zeigte. Carinas Augen weiteten sich, Schrecken und Terror standen ihr regelrecht ins Gesicht geschrieben. Das war eine Death Scythe, die er da auf sie richtete. Wollte er sie etwa umbringen? Ein eiskaltes Gefühl sickerte in ihren Magen hinab und schien sich dort wie ein großer, schwerer Stein festzusetzen. Und sie hatte nicht einmal eine Waffe, um sich verteidigen zu können. Verdammt, dieser Tag war dabei auf dem Treppchen der schlimmsten Tage ihres Lebens zu landen.
 

Fahrig tastete sie hinter sich und fühlte gleich darauf das harte Holz der Kommode unter ihren Fingern, dicht gefolgt von etwas Kühlem. Schnell wurde der Schnitterin klar, dass es sich dabei um eine kleine Nagelschere handelte. Nicht sehr groß, dafür aber äußerst spitz. Ihre Pupillen verließen die Gestalt vor sich keine Sekunde lang und als diese sich wieder in Bewegung setzte, nun noch schneller als zuvor, da reagierte sie. Ihre Finger schlossen sich um das kalte Metall der Schere, was an und für sich schon ein Akt der Verzweiflung war. Doch ihre Reflexe ließen Carina auch dieses Mal nicht im Stich. Ihre blonden Haare bauschten sich auf, als sie unter seinem Hieb wegtauchte und dem Todesgott im nächsten Augenblick die Schere bis zum Anschlag in der rechten Schulter versenkte. Ihrem Angreifer entfuhr unter der Kapuze ein Zischen, doch der Stoff ließ es seltsam verzerrt klingen. Die 18-Jährige rannte los in Richtung Tür. Wenn sie nur einen wenig Platz zwischen sich und die Person bringen konnte, dann- Ein erschrockener Aufschrei entfuhr ihrer Kehle, als sie so hart am Arm gepackt wurde, dass ihr beinahe das Schultergelenk ausgekugelt wurde. Ihr ganzer Körper wurde zurückgeworfen und dann konnte sie nur noch spüren, wie er sie mit dem Rücken voran gegen die Kommode und somit direkt in den Spiegel warf.
 

Glas splitterte, das Möbelstück fiel krachend zu Boden und dieses Mal schrie Carina vor Schmerz. Sie ging neben den Überresten der Kommode in die Knie und versuchte keuchend Luft zu holen. Sie konnte die kleinen Scherbensplitter fühlen, die sich teilweise in ihren Rücken gebohrt hatten und sich bei der kleinsten Bewegung tiefer ins Fleisch schoben. Lediglich das Adrenalin in ihren Adern verhinderte, dass der Schmerz sie vollkommen überwältigte. Mit zittrigen Beinen richtete sie sich schwankend auf. Die Scherben hatten Teile ihrer Strumpfhose zerrissen und Blut sickerte aus mehreren tiefen Schnitten. „W-was wollen Sie?“ fragte sie ein weiteres Mal, ihre Stimme zitterte genauso sehr wie ihr ganzer Körper. Doch erneut erhielt sie keine Antwort. „Ich verstehe das nicht. Will mich dieser Shinigami einfach nur umbringen? Es muss doch einen Grund geben. Einen verdammten Grund, warum er mich angreift.“ Ihr Gegner betrachtete sie weiterhin stumm, ließ ihr alle Zeit komplett aufzustehen. Eine Erkenntnis keimte in ihr auf. „Er spielt nur mit mir.“ Wenn er sie hätte umbringen wollen, hätte er das schon längst tun können. Stattdessen wartete er jedes Mal ab. Wie eine Katze, die zuerst etwas mit ihrer Beute spielen wollte, bevor sie ihr das Licht ausknipste.
 

Der nächste Schlag kam genauso unerwartet wir der Erste, aber dieses Mal fand er sein Ziel. Die Faust des Unbekannten traf sie hart in die Rippen, knapp über der Niere. Carina hatte das Gefühl, dass ihr kurz schwarz vor Augen wurde, dennoch schaffte sie es dieses Mal auf den Beinen zu bleiben. Noch während sie rückwärts taumelte, fing die Schnitterin sich mit den Händen am Türrahmen ab und trat blind nach oben. Ihr Fuß traf den Shinigami in die Brust und ließ auch ihn zurückweichen. Die Blondine keuchte, presste sich ihre linke Hand auf ihre getroffene Seite. Sie pochte schmerzhaft und selbst das Luftholen fiel ihr nun unangenehm schwer.
 

Plötzliche Panik stieg in ihr auf, die Carina nicht kannte. Diese Panik…diese Angst, die sie jetzt verspürte, war viel schlimmer, als jede vorherige. In der Nacht ihres Todes war es anders gewesen. Die Männer waren nicht mehr dazu gekommen ihr wehzutun, dafür hatte sie selbst gesorgt. Und bei ihrem Selbstmord hatte sie nicht wirklich lange Schmerzen gehabt. Dann waren da noch die Prügeleien mir ihren Klassenkameraden, aber da war sie nie wirklich in Lebensgefahr gewesen. Von diesen Kämpfen hatte sie nur Blutergüsse, Prellungen und Schrammen davongetragen. Bisher war sie nie wirklich ernsthaft verletzt worden. Sie hatte nie wirklich ernsthafte körperliche Schmerzen gehabt. Niemals.
 

Bis jetzt.
 

„Und er hat eine Death Scythe. E-er kann mich töten.“ Und die 18-Jährige hatte keinen Zweifel, dass er das durchaus auch tun würde. Die plötzliche Todesangst zuckte wie ein Blitz durch ihren ganzen Körper. Und als ihre Beine sich wie von selbst bewegten und sie aus dem Schlafzimmer trugen, hatte sie ein sehr lebhaftes Déjà-vu von der Nacht, in der sie ebenfalls vor ihren Angreifern geflohen war. Und sie fühlte sich mindestens genauso erbärmlich.
 

Natürlich kam die Seelensammlerin mit ihren Verletzungen nicht besonders weit. Auf der Hälfte des Weges durch den Flur umfasste eine Hand die Rückseite ihres Kleides. Carina drehte sich halb um, wusste nicht einmal genau was sie tun wollte. Ihn schlagen? Ihn treten? Irgendwas sagen oder schreien? Doch sie kam nicht dazu sich für eine der Kategorien in ihren Gedanken zu entscheiden. Als hätte es nicht schon gereicht, dass der Undertaker sie heute ins Gesicht geschlagen hatte, traf sie jetzt die Faust ihres Gegenübers auf die andere, unverletzte Wange. Die Schwerkraft verlor in diesem Moment jegliche Bedeutung, jedenfalls für ihren Körper. Sie flog gegen die Tür des Arbeitszimmers, aber das Holz war ihrem Schwung nicht gewachsen und gab hinter ihrem Rücken nach. Während sich das Glas noch tiefer in die Haut ihres Rückgrats bohrte, zerbrach die Tür hinter ihr und sorgte somit dafür, dass ihr Körper erst stoppte, als sie Wand des Arbeitszimmers erreicht hatte. Geklapper ertönte, als einige Sotoba und auch Bücher zu Boden fielen. Carina blieb wimmend gegen die Wand gelehnt liegen und war sich nun einer weiteren Sache sicher: Wenn seine Death Scythe sie nicht umbrachte, dann würden es diese gottverdammten Schmerzen tun.
 

Röchelnd hustete sie und schmeckte sogleich den metallenen Geschmack von Blut auf ihrer Zunge. Sicherlich hatte sie sich bei diesem Flug einige Knochen gebrochen. „Vielleicht sollte ich einfach liegen bleiben“, schoss es ihr durch den Kopf, doch das konnte sie nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren. Sie wollte nicht sterben. Und vor allem wollte sie nicht kampflos sterben. „Soll noch einmal einer sagen, dass wir Shinigami den Menschen nicht ähnlich sind. Wir haben genauso einen Überlebensinstinkt wie sie einen haben.“ Ächzend und mit größter Anstrengung lehnte die Blondine sich nach vorne, sodass sie nun einen Fuß auf dem Boden absetzte und mit dem anderen Bein kniete. Obwohl sie ihre Brille trug, sah sie seltsam verschwommen. Das Blut lief ihr nun aus den Mundwinkeln und tropfte in einem stetigen Rhythmus auf die Dielen. Die junge Frau fasste sich mit der linken Hand an die Stirn, die heftig pochte. Ihre Finger wurden warm und glitschig, gleich darauf spürte sie, wie ihr nun auch Blut seitlich über das Gesicht lief. Die Platzwunde an ihrer Stirn musste riesig sein. In den Schmerz und die Angst mischte sich Wut. „Du…du verdammtes Arschloch“, zischte sie und richtete ihre Augen auf den Eingang zum Arbeitszimmer. Die Überreste der Tür hingen lose in den Angeln und direkt davor stand der Mistkerl, der ihr das angetan hatte. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, aber irgendwie konnte sie sich beinahe bildlich vorstellen, wie er unter seiner Kapuze aufgrund ihrer Hilflosigkeit lächelte. Sie verlagerte ihr Gewicht auf ihren aufgestellten Fuß, schwankte allerdings wieder gefährlich. „Jetzt schaffe ich es nicht mal mehr aus eigener Kraft aufzustehen“, dachte Carina ärgerlich. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass neben ihr an der Wand noch zwei Sotoba hingen. Gedanklich legte sie sich einen Plan zurecht. Wenn sie sich an einer Sotoba hochziehen konnte, dann konnte sie sich möglicherweise mit ihr verteidigen. Zwar würde ihr das auf lange Sicht nichts nützen, da sie gegen den Rapier ihres Gegners keine Chance hatte, aber eine andere Idee hatte sie nicht.
 

Doch wie es nun einmal so oft im Leben war, kam alles ganz anders als geplant.
 

Sobald ihre Fingerspitzen das glatte, kühle Holz der Sotoba berührten, durchfuhr sie etwas Ähnliches wie ein elektrischer Schock. Ihr Atem stockte, die ganze Außenwelt spielte für einen Moment keine Rolle mehr. Vollkommen aus der Fassung gebracht drehte Carina ihren Kopf und starrte die hölzerne Latte ungläubig an. Dieses Gefühl…Diese plötzliche Machtveränderung in ihrem Blut… Wärme knisterte unter ihren Fingern und ganz plötzlich fühlte sie sich wieder vollkommen. Ihre Augen lagen im Schatten, als sie den Kopf wieder nach vorne richtete. „Dieser miese, kleine Drecksack“, flüsterte sie.
 

Die ganze Zeit…die ganze Zeit war es hier gewesen. Wie hatte sie nur so blind sein können? Die Shinigami richtete ihren Blick nach vorne, als sie schnelle Schritte hörte. Anscheinend hatte ihr Gegenüber keine Lust mehr auf sie zu warten. Er rannte auf sie zu, schwang im Laufschritt seine Death Scythe und zielte auf ihren Körper. Erneut packte sie die Wut. „Dieses Mal nicht“, schrie sie, packte die getarnte Sotoba so fest sie konnte und schwang sie mit aller Kraft nach vorne. Noch in der Bewegung wallte rotes Licht um die Waffe auf. Lautes Klirren ertönte, als der Rapier auf eine andere Klinge traf und der Shinigami staunte nicht schlecht, als er auf einmal ein Katana vor sich hatte.
 

Der wellenartige Schliff der Klinge brach das Licht der untergehenden Sonne, das in das Arbeitszimmer fiel. Carina packte den dunkelroten Griff nun mit beiden Händen und drückte ihre Death Scythe mit aller Anstrengung fest nach oben. Ihr Feind wich nach hinten zurück, als sein Degen dem Druck ihrer Klinge unterlag. „Jetzt oder nie“, dachte die Schnitterin und stieß sich vom Boden ab, um auf ihn zuzustürmen. Sie musste seine Überraschung ausnutzen, denn körperlich war sie ihm momentan weit unterlagen, allein schon durch ihre Verletzungen. Funken stoben auf, als ihre Schneide erneut auf seine traf und Carina sich nun endlich in einem gewissen Maße wehren konnte. Sie setzte ihre Attacken präzise, stieß genau zum richtigen Zeitpunkt zu und hoffte auf einen Fehler seinerseits. Triumph wallte in ihr auf, als sie es tatsächlich schaffte ihm eine blutende Wunde am linken Oberarm beizubringen. Die rote Flüssigkeit spritzte durch den Raum und enthüllte einen kleinen Blick auf seinen eher blassen Hauttyp. Aber diese Tatsache allein brachte ihr nichts. Sie musste versuchen ihn zu enttarnen. „Wenn ich es nur irgendwie schaffen könnte, ihm die Kapuze herunterzureißen…“
 

Aber wem machte sie hier eigentlich was vor? Sie pfiff aus dem letzten Loch, brauchte all ihre Kraftreserven schon auf, um überhaupt auf den Beinen bleiben zu können. Wie sollte sie es da schaffen, ihm so nahe zu kommen? Je länger das Gefecht dauerte, desto schwerer wurden ihr Katana, ihre Arme, ihr ganzer Körper. Ganz abgesehen davon, dass die Angriffe ihres Gegenübers seit seiner Verletzung wesentlich aggressiver geworden waren. Während ihre Death Scythe‘s zum wiederholten Male aufeinander trafen, übersah Carina seine rechte Faust, die sie erbarmungslos gegen die Nase traf. Kleine Sternchen tanzten vor ihren Augen, als sie dieses Mal in eines der Bücherregale geschmettert wurde und erneut zu Boden sank. Bücher lösten sich durch die Wucht von ihrem angestammten Platz und prasselten auf sie hinab.
 

„Das wars“, ging es ihr durch den Kopf, als sie feststellte, dass ihr Körper sich nicht mehr von der Stelle bewegen konnte. Sie hatte ihr Limit bereits lange überschritten und jetzt schrie jeder Knochen, jeder Muskel, jede Sehne laut „Stopp“. „Wenigstens…wenigstens habe ich es versucht“, dachte sie, überrascht darüber wie gleichgültig sich ihre eigenen Gedanken anhörten. Etwas Positives hatte es ja, wenn sie jetzt starb. Dieser Schmerz in ihrem Herzen bezüglich ihrer unerwiderten Zuneigung würde endlich aufhören.
 

Ihr Widersacher stand über ihr und strecke den Arm nach ihr aus, was sie wieder zum Zittern brachte. Carina schloss ihre Augen und rief sich das Bild des Bestatters ins Gedächtnis. Das Bild vom heutigen Morgen, als er ganz friedlich neben ihr geschlafen hatte. Wenn sie jetzt starb, dann sollte er das Letzte sein, an das sie dachte und das sie vor Augen hatte. Ein gequältes Stöhnen entfuhr ihr, als der Todesgott sie am Hals packte und in die Luft riss. Ihre Arme und Beine baumelten schlaff nach unten, sie konnte ihren eigenen Puls gegen den rauen Handschuh ihres Gegners hämmern hören. Dennoch schlug sie nicht die Augen auf. Nicht einmal dann, als zwei harte Schläge sie direkt in den Magen trafen. Ihr fehlte die Kraft zum Schreien, lediglich ein Wimmern verließ noch ihre Lippen. Sie presste ihre Augenlider fester zusammen, als sie spürte wie sich heiße Tränen darunter sammelten. Nein, sie würde ihm nicht die Genugtuung geben vor ihm zu weinen. So viel Stolz war ihr noch geblieben.
 

Der Griff um ihren Hals wurde fester, doch gerade als Carina die restliche Luft in ihren Lungen auszugehen drohte, wurde sie auf einmal aus heiterem Himmel losgelassen. Ihr Körper fiel nach unten und rein aus Reflex landete sie auf ihren Knien. Helle Punkte hüpften vor ihren Augen auf und ab, als sie sie nun doch öffnete und gleich darauf vor Schreck und Ungläubigkeit vollkommen erstarrte. Der verhüllte Shinigami war zurückgewichen und hielt sich eine tiefe Fleischwunde am Unterarm. Sein Blick galt nicht mehr ihr, sondern dem Mann, der vor ihr stand und eine riesige Sense auf ihn gerichtet hielt. Carina hätte nun beinahe doch angefangen zu weinen, so erleichtert war sie ihn zu sehen. Doch dieses Bedürfnis vergaß sie sofort, als sie seinen Gesichtsausdruck sah, der sich in der Klinge seiner Sense spiegelte. Blanke Wut zierte seine Züge. Seltsamerweise sah diese Wut allerdings ganz anders aus als jene, die er ihr gegenüber gezeigt hatte. Hätte er sie vorhin so angestarrt, dann wäre sie vermutlich heulend davongelaufen. Der Zorn verzerrte sein Gesicht ein wenig, die phosphoreszierenden Augen waren gefährlich dunkel. Und er war ruhig. Zu ruhig. Carinas Härchen stellten sich ganz automatisch zu einer Gänsehaut auf. Obwohl nach wie vor nichts von dem unbekannten Shinigami zu sehen war, konnte sie seine plötzliche Unsicherheit wahrnehmen. Ein tiefes Kichern entfuhr dem Silberhaarigen.
 

„Hehe~… Na, was ist? Möchtest du dein Glück nicht auch bei mir versuchen, Ritter der Sense?“ Jedes einzelne Wort strotzte nur so vor unterdrückter Wut. Die klare Herausforderung schien den Fremden nur noch mehr zu verunsichern. Der Totengräber jedoch gab ihm keine Gelegenheit dazu, sich die ganze Sache durch den Kopf gehen zu lassen. Er holte mit seiner Death Scythe aus, das riesige Schneideblatt zielte genau auf das Gesicht unter der Kapuze. Carina zuckte zusammen, als die Sense niederfuhr. Doch anscheinend hatte ihr Gegenspieler sich zum Rückzug entschlossen, denn bereits im nächsten Moment dematerialisierte sich sein Körper und alles, was die scharfe Klinge des Undertakers traf, war Leere.
 

Stille trat ein, lediglich unterbrochen von Carinas rasselnden Atemgeräuschen. Die Anspannung, die nun von ihr abfiel, hinterließ gleichzeitig einen Schock. Wenn Cedric nicht gekommen wäre…
 

Sie bekam kaum mit, wie er seine Sense wieder verschwinden ließ und sich zu ihr umdrehte. Seine Augen huschten über ihre sichtbaren Verletzungen und brennend heißer Zorn stieg erneut in seiner Kehle hoch. Wäre sie ein Mensch, wäre sie vermutlich längst tot. Entweder durch den hohen Blutverlust oder durch eventuelle innere Organschädigungen. Langsam ging er in die Knie und steckte seine langgliedrigen Finger nach der jungen Frau aus, doch Carina zuckte daraufhin so stark zusammen, dass er in seiner Bewegung sofort inne hielt. „Lass mich“, wisperte sie, während ihre geweiteten Augen zu Boden starrten. Ihre Nägel krallten sich in den zerrissenen Saum ihres Kleides. Mit aller Kraft versuchte sie das Zittern ihrer Gliedmaßen zu unterdrücken, doch das Beben ihres Körpers war deutlich sichtbar. Er mochte sie gerettet haben, aber sie wollte nicht, dass er sie anfasste. Nicht nach dem, was heute alles zwischen ihnen geschehen war. „Diese Wunden müssen versorgt werden“, meinte er ruhig. Sie konnte zwar nicht sterben, aber je länger ihre Selbstheilungskräfte daran gehindert wurden zu wirken, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass Narben bleiben würden.
 

„Das kann ich selbst, dafür brauche ich deine Hilfe nicht“, murmelte Carina und stemmte die Hände gegen die Wand, um aufzustehen. Was – natürlich und verständlicherweise – nicht funktionierte. Ein genervtes Schnauben entfuhr den Lippen des Bestatters. „Du kannst noch nicht einmal alleine aufstehen, geschweige denn gehen, du dummes Ding. Also hör auf das beleidigte Kind zu spielen und lass mich dir helfen.“ Carina verschlug es für einen Moment die Sprache und diese Sekunden nutzte der Undertaker, um seine linke Hand unter ihre Kniekehlen und seine rechte auf ihren Rücken zu schieben. Er hob sie sachte hoch, spürte sogleich Blut an den Fingern, die auf ihrem Kreuz lagen.
 

Die 18-Jährige stöhnte vor Schmerz und krallte ihre Finger unbeabsichtigt in seine Anzugsärmel. Jetzt, wo das ganze Adrenalin nach und nach abgebaut wurde, verstärkten sich die Schmerzen von Sekunde zu Sekunde. Mit zügigen Schritten ging er ins Badezimmer und setzte die Schnitterin auf dem Badewannenrand ab. Gleich darauf begann er verschiedene Schubladen zu durchwühlen und Sachen daraus hervorzuziehen. Verbände, Salben, eine Pinzette, eine kleine Schere, sowie Nadel und Faden. Carinas Kehle wurde trocken, als sie die letzten beiden Gegenstände eingehend musterte. „Jetzt nicht bewegen“, sagte der Undertaker, setzte sich hinter sie und begann mit der Schere das komplette Kleid von hinten aufzutrennen. Die Shinigami war eine Sekunde lang froh, dass er sie bereits nackt gesehen hatte, denn sonst wäre sie jetzt vermutlich vor Scham gestorben. „Ist es schlimm?“, flüsterte sie, denn gedanklich malte sie sich bereits Horrorszenarien aus. Seine Augen zuckten kurz von ihren Wunden nach oben zu ihrem Hinterkopf, was sie natürlich nicht sehen konnte. „Es sieht nicht schön aus, aber das bekomme ich wieder hin“, stellte er neutral fest und griff nun nach der Pinzette. „Ich muss die Glasscherben herausziehen“, klärte er sie auf und ehe Carina auch nur Protest äußern konnte, hatte er bereits den ersten Splitter aus ihrem Fleisch entfernt. Sie keuchte gepeinigt auf, Tränen traten ihr automatisch in die Augen. „Verdammt“, stieß sie hervor und krümmte sich ein wenig vorne über.
 

„Entschuldige“, ertönte es leise hinter ihr, obwohl der Silberhaarige ja eigentlich nichts dafür konnte. Carina biss sich auf die Lippe und zuckte jedes Mal aufs Neue zusammen, wenn die Pinzette zum Einsatz kam. Um sich wenigstens ein bisschen abzulenken, richtete sie ihren Blick nach vorne und schaute in den Badezimmerspiegel. Ihr eigener Anblick erschreckte sie. Hätte sie nicht gewusst, dass es sich hier definitiv um ihr Gesicht handelte, dann hätte sie sich vermutlich nicht wiedererkannt. Auf der linken Seite ihrer Stirn befand sich – wie die Blondine bereits vermutet hatte – eine große Platzwunde, aus der immer noch Blut austrat. Ihre Unterlippe war aufgerissen, doch der Riss war im Gegensatz zur Platzwunde bereits mit getrocknetem Blut überzogen. Kratzer befanden sich im ganzen Gesicht, doch ihr Blick blieb lange an dem gut sichtbaren Bluterguss hängen, der auf ihrer rechten Wange erblüht war. Die eine Verletzung an ihrem Körper, die nicht durch den unbekannten Shinigami verursacht worden war.
 

„Wenigstens fällt dieser blaue Fleck jetzt nicht mehr so auf“, dachte Carina bitter und mit einer gewissen Ironie. Sie hob den Kopf ein wenig und entdeckte weitere blaue Flecke an ihrem Hals. Würgemale. Erneut schloss die 18-Jährige die Augen. Sie fühlte sich so erniedrigt…
 

Mittlerweile hatte der Undertaker die Pinzette weggelegt und betupfte die Wunden, um sie zu säubern. Anschließend griff er nach Nadel und Faden und begann die schlimmsten Wunden zu nähen. Carina biss die Zähne jedes Mal zusammen, wenn die Spitze ihre Haut durchdrang. Kalter Schweiß stand ihr mittlerweile auf der Stirn und brannte in ihrer Wunde. Und sie war so unglaublich erschöpft, dass ihre Augenlider bereits immer schwerer wurden. Als er endlich mit dem Nähen fertig war, verteilte er vorsichtig die Salbe auf ihrem Rücken und verband abschließend das ganze Trauerspiel. Die selbe Prozedur führte er an ihren Armen und Beinen durch, wo sich zwar keine Splitter befanden, aber doch recht tiefe Schnittwunden. Als er sich schlussendlich ihrem Gesicht zuwandte, konnte Carina nicht anders. Sie starrte ihn an, während sich seine Augen auf ihre Platzwunde konzentrierten. Immer noch war sie der festen Überzeugung, dass es kein schöneres Wesen als ihn gab. Seine gelbgrünen Augen, die schneeweißen Wimpern, die kleinen Grübchen in seinen Wangen, wenn er grinste…
 

Ein plötzlicher Schmerz ließ sie erneut zusammenzucken. Seine langen, schwarzen Fingernägel hatten vorsichtig ihren Wangenknochen berührt und über die leuchtend blaue Verfärbung gestrichen. Sie sah für einen kurzen Moment etwas in seinen Augen aufblitzen, konnte aber nicht genau sagen, was es war.
 

„Danke“, murmelte die Schnitterin aus einer plötzlichen Eingebung heraus. „Danke, dass du mir geholfen hast.“ Ein schwaches Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Hehe…Dachtest du, ich würde zulassen, dass dich dieser Shinigami einfach so umbringt?“ Carina schwieg. Heute Morgen hätte ihre Antwort ganz klar „Natürlich nicht“ gelautet, doch jetzt war sie sich da nicht mehr so sicher. Dem Undertaker blieb ihre fehlende Reaktion nicht verborgen. Kurz zuckten seine Mundwinkel nach unten, ganz so als ob er Schwierigkeiten hatte sein Lächeln aufrecht zu erhalten. Wortlos betastete er ihre Nase, doch diese schien trotz des abbekommenen Schlages nicht gebrochen zu sein. Weiterhin schweigend beugte er sich zurück und begann die benutzten Utensilien wieder in die richtigen Schubladen einzusortieren. Anscheinend schien er mit seiner Behandlung fertig zu sein.
 

Carina versuchte ihre Beine zu belasten, um aufzustehen, doch der sofort auftretende Schwindel hielt sie davon ab. Stöhnend fasste sie sich an den Kopf, was wiederum dazu führte, dass ihre Seite unangenehm pochte. „ Ist dir schwindelig? Oder fällt dir das Atmen schwer?“, fragte er und drehte sich zu ihr herum. „Beides“, antwortete sie und merkte gleichzeitig, wie sich ihre Wangen röteten. Sicherlich gab sie hier gerade die Mimose des Jahres zum Besten. „Du hast mit ziemlicher Sicherheit ein paar Rippen gebrochen. Und eine Gehirnerschütterung würde ich auch nicht ausschließen. Leider kann ich gegen gebrochene Knochen nichts unternehmen, das wird von selbst heilen müssen. Aber ich denke bei einem Shinigami müsste das spätestens in 48 Stunden verheilt sein.“ Die 18-Jährige hätte am liebsten erneut aufgestöhnt. Ganze zwei Tage? Sie musste diese Schmerzen ganze zwei Tage aushalten? „Großartig“, murmelte sie und schloss müde die Augen. Sie hatte die Schnauze wirklich gestrichen voll für heute…
 

Als sich ihr Körper aus heiterem Himmel in die Höhe bewegte, schlug sie ihre Lider wieder auf und war dieses Mal nicht davon überrascht, dass der Bestatter sie wieder auf seine Arme gehoben hatte. Mittlerweile war sie so erschöpft, dass es ihr nicht einmal mehr peinlich war. Er betrat das Schlafzimmer und betrachtete das heillose Durcheinander. Die zerstörte Kommode, die vielen Glasscherben des Spiegels, die Blutflecken auf dem Boden. „Nun, das erklärt so einiges“, meinte der Totengräber trocken und spielte damit auf ihre Verletzungen an. „Tut mir leid…für das Chaos, meine ich.“ Seine Augenbrauen hoben sich zeitgleich und er stieß zum zweiten Mal an diesem Tag ein Schnauben aus. „Entschuldige dich nicht für Dinge, für die du nichts kannst“, sagte er lediglich und klang nun wieder eine Spur freundlicher. Ein erleichtertes Seufzen fuhr Carina über die Lippen, als er sie auf dem Bett absetzte und sie sich sogleich in die weichen Laken sinken lassen konnte. Jeder Muskel in ihrem Körper wurde schwer wie Blei, die Ohnmacht war greifbar nah. „Ruh dich aus“, ertönte über ihr Cedrics Stimme. Carina wusste nicht, ob sie sich das nur einbildete, aber seine Stimme hörte sich mit einem Mal sanft an. „Ich kümmere mich um den Rest.“
 

Sie brachte ein letztes Nicken zustande, ehe ihr Kopf in das Kissen zurückfiel und sich ihre Augen endgültig schlossen. Während sich die Dunkelheit innerhalb von Sekunden um ihr Bewusstsein schloss und sie übergangslos in den Schlaf glitt, spürte die Shinigami erneut seine Hand auf ihrer Wange, die über den Bluterguss strich. Verschwommen wehte das leise gemurmelte Wort „Entschuldige“ durch ihren Geist.
 

Und erneut war Carina sich nicht sicher, ob sie sich dies nicht nur eingebildet hatte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Luzie_
2017-05-29T19:58:53+00:00 29.05.2017 21:58
Super Kapitel. Bin schon gespannt wie es weiter geht. Carina hat ganz schön einstecken müssen.


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