Liebe macht blind von peri (Die & Kaoru) ================================================================================ Kapitel 12: Hirngespinste. -------------------------- Meine Augen brauchen ein paar Sekunden, um sich an das schummrige Licht zu gewöhnen, als ich in das halbdunkle Zimmer trete. Anders als in meinem Hotelzimmer hängen vor Kaorus Fenstern schwere dunkle Vorhänge, die in der grellen Vormittagssonne gerade so viel Licht hindurchlassen, dass man sich frei im Raum bewegen kann, ohne mangels Sicht überall gegenzudonnern. Ich kann erkennen, dass er bereits das meiste in seiner Reisetasche verstaut hat. Auf dem zerwühlten Bett liegen seine schwarze Lederjacke, sein Portemonnaie, ein Zippo-Feuerzeug und eine zerknautsche Packung Mild Seven Light Zigaretten. Beinahe andächtig legt er das Handy, welches er immer noch in der Hand hält, neben die restlichen Sachen. Ich fröstele ein wenig. In diesem Zimmer ist es deutlich kühler als erwartet, obwohl von draußen eine lauwarme Brise hereinweht. Die Luft ist, bis auf den jüngsten Zigarettenrauch, klar und frisch, so als wäre das Fenster bereits seit Stunden geöffnet. Kaorus Haare sind gewaschen, sein Bart ist in Form rasiert, dem Bademantel zufolge war er duschen. Ob mir mein Gehirn bloß perfide Streiche spielt, vermag ich nicht mehr zu sagen, aber ich könnte schwören, dass ich unter dem Gemisch aus süßlichem und scharfen Parfüm, das trotz allem noch wabernd in der Luft schwebt, auch den schwachen Geruch von Schweiß und Sex riechen kann. Brechreiz auslösendes Kopfkino schießt mir erneut wie eine Brandkugel durch den Schädel. Allein wenn ich das Bett betrachte, kann ich vor meinem inneren Auge im Zeitraffer die geisterhaften Schemen darauf entdecken, wie sie die Kissen zerwühlen, in einander versunken sind, ihre schweißnassen Körper sich in Ektase einander entgegenwinden. Ich lasse die Tür hinter mir ins Schloss fallen. Noch immer ist Kaoru dem Bett und dem Fenster zugewandt. Von der Türschwelle aus starre ich geradewegs auf seinen Rücken. Als er sich zu mir umdreht, fällt mein Blick unwillkürlich auf seinen blanken Oberkörper, der unter dem Bademantel hervorlugt. In diesem Zwielicht erscheint der violette Fleck auf seiner cremigen Haut noch viel dunkler als zuvor. Eine beinahe hypnotisierende Wirkung geht von ihm aus. Wie ein schwarzes Loch, das mich in seinen Bann zieht. In seinen todbringenden Strudel. Wenn ich ihn noch weiter betrachte, zerreißt es mich. Meine Augen wandern hoch zu Kaorus Gesicht und ich bemerke, dass auch er mich stumm angesehen hat. Einen Moment stehen wir beide nur da. Umwoben in einem klebrigen Netz aus Stille und Befangenheit. Ich fühle mich wie ein Insekt - gelähmt, die Innereien vergiftet, wehrlos. Gefangen in seinem Spinnennetz. In quälender Einsamkeit darauf wartend, flehend, von ihm verzehrt zu werden. Könnte ich nur die Zeit zurückdrehen. Könnte ich nur wieder mit ihm im Fahrstuhl eingeschlossen sein. Den magischen Augenblick, den wir teilten, wiederholen. Aber nichts hier dran ist magisch. Nur unangenehm und befremdlich. Ich glaube, das weiß er auch. Sein Mund ist leicht geöffnet. Ich spüre, dass er mir etwas sagen will, doch die Worte finden keinen Weg hinaus. Auch ich will etwas sagen, nur weiß ich nicht was, und vor allem nicht wie. Will nur meine Hand nach ihm ausstrecken, ihn zu mir ziehen und seinen Körper an mich pressen. Mein Gesicht in seiner Schulterbeuge vergraben. Ihn nicht mehr loslassen, bis sich die Realität draußen vor der Tür in eine weitentfernte Erinnerung verwandelt. Aber die Realität ist, dass ich hier in diesem heteroverseuchten Liebesnest stehen muss, mit dem Typen, der mir vor wenigen Stunden erst neue Hoffnungen gemacht hat, nur, um sie jetzt eine nach der anderen wie einen Luftballon zerplatzen zu lassen. Und überhaupt! Welcher Arsch führt seinen bis über beide Ohren in ihn verschossenen Freund auch noch an den Ort des Verbrechens?! Man könnte die Anspannung zwischen uns beiden mit einem Messer schneiden. Wie zwei abgehalfterte Cowboys, die sich zum High Noon in der Mitte der Stadt zum Schusswechsel verabredet haben, stehen wir einander gegenüber. Wer wird zuerst seinen Revolver ziehen? Wer wird wen erschießen? Kaorus Gesicht ist von Schatten verhangen. Gegen das helle Sonnenlicht blinzelnd kann ich den Ausdruck darauf kaum erkennen. Wie viel Zeit ist bereits verstrichen? Es kommt mir vor, als wären Äonen an uns vorbeigezogen, als er endlich etwas sagt. "Die, hör zu..." Seine Stimme ist kehlig, dunkel und warm wie eine Tasse heiße Schokolade. "Es tut mir leid, dass ich dich gestern einfach so sitzengelassen habe." "Ja, Kaoru, mir tut es auch leid. Aber machen wir uns nichts vor." Höre ich mich wie aus einem anderen Hotelzimmer heraus sprechen. Als stünde ich nebenan statt direkt vor ihm, das Ohr an die Wand gedrückt, mich selbst belauschend. Als wären es nicht meine Lippen, die diese Worte formen. "Stell dir nur mal vor, du wärst heute Morgen tatsächlich mit brummenden Schädel neben mir aufgewacht. Ich kann nicht gerade von mir behaupten, dass ich nach einer durchgezechten Nacht noch einen Schönheitswettbewerb gewinnen würde. Nicht, dass du mir vor lauter Schreck noch aus dem Bett gepurzelt wärst und dir am Nachtschrank die Rübe eingeschlagen hättest." So wie das mir vorhin fast passiert wäre... "Und dann wäre wahrscheinlich alles voller Blut gewesen und du weißt, wie zimperlich ich bei Blut bin." "Ähm, Die..." "Dann hätte ich aufgewühlt wie ein verschrecktes Huhn in meinem gebrochenen Englisch den Krankenwagen gerufen und versucht notdürftig deinen nackten Astralkörper unter einer Decke zu verbergen--" "Die..." "--damit dir niemand was wegguckt, natürlich, nicht, weil irgendetwas an dir versteckenswert wäre, und wäre wahrscheinlich noch vor Eintreffen der Sanitäter ohnmächtig geworden und neben dir zusammengebrochen oder so, während--" "Die!!" Auf Kaorus eindringlichen Zwischenruf hin versiegt schlagartig der sprudelnde Bach aus unsinnigen Worten aus meinem Mund und auch mein wildes Gestikulieren findet ein abruptes Ende. Verschämt über mein eigenes Gefasel fühle ich, wie mir die Röte in die Wangen schießt. Vor lauter Unbeholfenheit hab ich einfach drauflosgeplappert, nur, um unter allen Umständen zu vermeiden, dass ich mir etwaige Erklärungen, die nun unausweichlichen folgen werden, anhören muss. Die Zähne in meiner Unterlippe vergraben, die rechte Hand leicht zitternd neben meinem Hosenbein zu einer Faust geballt, versuche ich den Blickkontakt zwischen uns aufrecht zu erhalten, aber ich kann nicht verhindern, dass meine Pupillen immer wieder aufs Neue flüchtig zu seinen Lippen huschen, von ihnen angezogen werden so wie die Fliege vom süßen Nektar angezogen wird. Ob er es bemerkt? Schließlich ist er es, der den Blick abwendet. An seiner Nasenwurzel scheinen sich in diesem Moment seine Augenbrauen zu umarmen. Sichtbare Verunsicherung schwingt in seinem langen Seufzer mit, und auch ein gewisser Schwermut, den ich mir nicht recht zu erklären vermag. Eine tätowierte Hand verschwindet unter seinem noch leicht vor Feuchtigkeit glänzenden Haar, verwuschelt es in seinem Nacken. Ohne mich anzusehen, flüstert er beinahe: "Ich wollte dich bloß wissen lassen, dass--" Doch bevor ich erfahre, was er mich wissen lassen wollte, unterbricht ihn der plärrende Klingelton seines vermaledeiten Handys - so wie gestern Nacht. Als hätte man die Glocke es Kirchturms direkt neben uns geläutet, zucken wir beide gleichzeitig zusammen. Zwar dreht sich Kaoru sofort in Richtung des auf dem Bett liegenden buntblinkenden Störenfrieds, macht aber trotzdem keinerlei Anstalten sich vom Fleck zu bewegen. Stattdessen kann ich mit zunehmender Verwirrung, warum er nicht direkt darauf zustürmt und das Gespräch annimmt, mitansehen wie er sich wieder zu mir dreht. Diesmal sieht er mir in die Augen. "Ich wollte dich bloß wissen lassen, dass ich es nicht--" "A U T S C H!!!" Für eine Sekunde wird mir weiß vor Augen. Ein greller Schmerz durchzuckt meinen Rücken wie ein Blitz, der in einen Hochspannungsmasten einschlägt. Sowie die eiserne Türklinke mir erbarmungslos ins Skelett geschmettert wird, stolpere ich einen Schritt nach vorne. Beinahe hätte mein Gesicht noch Bekanntschaft mit dem schäbigen Hotelfußboden gemacht, hätte Kaoru nicht mit den Reflexen einer Katze reagiert und meinen Sturz mit dem Greifen nach meinen Schultern abgefedert. "Hey, Kaoru!! Herr Masuda steht hier draußen! Versucht dich auf dem Handy zu erreichen, aber ich hab ihm gesagt, er kann ruhig reingehen, weil du ja eh nichts zu verbergen hast." Ich reiße den Kopf herum. Toshiyas Visage, die sich in diesem Moment durch die halbgeöffnete Tür zu uns ins Zimmer hineinschiebt, blickt mir verdattert entgegen. "...was'n mit dir los?", fragt der allen Ernstes, als er mich gekrümmt und auf wackligen Beinen vor sich sieht, glotzt mich dabei so dämlich an, dass ich ihm am liebsten sofort die Gurgel umdrehen möchte. "Oh, ich weiß nicht! Fühlte sich fast so an, als hätte gerade jemand versucht mir mein verdammtes Rückgrat zu brechen!", zische ich ungehalten, während ich vergeblich versuche den scharf pulsierenden Schmerz an meiner Wirbelsäule wegzureiben. "Rückgrat?" Nur zu gerne würde ich dem Rowdy noch einen bitterbösen Kommentar hinterschleudern, aber Herr Masudas gedämpftes Räuspern, welches aus dem Flur heraus zu uns hinein dringt, hält mich gerade noch mal davon ab. "Entschuldigen Sie bitte, wenn ich unpassend erscheine. Ich erhielt heute Morgen eine Nachricht, dass wir bereits um 10:30 Uhr abreisen?" "Sie haben was...?" Kaorus Hände lassen meine Schultern wieder los. Missmutig stapfe ich einen Schritt zur Seite und lasse Herrn Masuda ins Zimmer treten. "Ja... nun", setzt er an, wobei sich seine Augen sichtlich verwirrt über die Düsternis in diesem Raum leicht verengen. "Es ist bald 11 Uhr und bis auf Herrn Shinya ist noch niemand von der Band unten in der Lobby oder zum Frühstück aufgetaucht, da dachte ich, ich sollte lieber einmal nach dem Rechten sehen, falls jemand verschlafen hat." "Hier hat leider niemand verschlafen", brummel ich. "Wie bitte?" Noch bevor ich etwas darauf erwidern kann - um Kaoru nicht noch mehr Unannehmlichkeiten zu bereiten und klarzustellen, dass meine aus dem Zusammenhang gerissene Aussage und der skurrile Anblick, den er und ich hier momentan wohl erregen müssen, nicht das ist, wonach es aussieht - obwohl ich mir nicht mal selber sicher bin, wonach es eigentlich aussieht - grätscht mir Kaoru bereits dazwischen. "Wenn Sie diese Nachricht ebenfalls erhalten haben, heißt das, Sie haben sie nicht geschrieben?" Herrn Masudas Augenbrauen heben sich. "Ich? Meine letzte Hoffnung war, das sie vielleicht doch von Ihnen stammen würde." "Also, solange ich nicht heute Nacht schlafgewandelt bin und von einem fremden Handy aus eine Rund-SMS an alle verschickt habe, nein." Kaorus Lachen klingt unbeholfen und auch irgendwie nervös. "Oh?" "Das ist nämlich nicht Kaorus Nummer. Auch wenn's seine Art zu schreiben ist", fügt Toshiya, der mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen lässig im Türrahmen lehnt, hinzu. Herrn Masudas Augenbrauen heben sich noch ein Stückchen höher. "Soso." "Wer ist denn außer Ihnen noch unten?" Hinter Toshiyas hochgewachsener Gestalt kommt Kyo zum Vorschein. "Alle." "Alle?!", entfährt es uns fast im Chor. "Natürlich war unser Fahrer auch verwirrt, weil er diese Mitteilung ebenfalls erhalten hat und davon ausgegangen war, dass es eine kurzfristige Planänderung gab. Ehrlich gesagt sind alle, die zum Frühstück aufgetaucht sind, äußerst verwirrt. Wir haben darauf gewartet, dass Sie auch irgendwann eintrudeln würden und sich das ganze dann vielleicht auch schnell für Sie klären würde, aber..." Herr Masuda blickt in unsere Runde. Wie als wäre das sein Stichwort räuspert sich Kaoru laut und deutlich. "Ich glaube, wir alle hatten gestern eine sehr lange Nacht, deswegen..." "Ich blick da nicht mehr durch." Toshiya stößt sich vom Türrahmen ab und zieht eine Hand aus der Jeans, um mit ihr zu gestikulieren. "Wer hat denn jetzt diese Nachrichten verschickt?! Wollt uns da bloß jemand verkohlen, oder was?" "Sieht wohl so aus...", murre ich zwischen meinen Zähnen hindurch. Noch immer kann ich die Türklinke in meinem Rücken spüren. Das und die Tatsache, dass ich anscheinend völlig umsonst so früh aus dem Bett gekrabbelt bin und mir diese abstoßende, gefühlsduselig Show zwischen zwei sich wieder vertragenen Turteltauben angucken musste, trägt nicht gerade dazu bei, dass sich meine Stimmung besonders aufhellt. "Ich hätte da so eine Vermutung..." Mein Blick schweift in den Flur. Immer noch halb hinter Toshiya versteckt, murmelt Kyo gedankenversunken vor sich hin, die Oberlippe auf der rechten Seite leicht hochzogen. Jedoch scheint niemand außer mir seine Bemerkung so richtig wahrgenommen zu haben. Jedenfalls bleibt jegliche Reaktion darauf aus. Mir allerdings gibt sie zu denken. Wer würde sich so einen üblen Streich mit uns erlauben? Wer kommt so einfach an all unsere Telefonnummern? Nicht nur von unserem Staff, sondern von der gesamten Band. Kann man das Adressbuch eines Handys hacken? Und wozu? Würden Fans so weit gehen? Aber woher sollten diese wissen, wie Kaoru seine Nachrichten schreibt? "Zur Sicherheit sollten wir aber trotzdem noch mal alle unsere Nummern mit der des Absenders vergleichen", höre ich Kaoru neben mir sachlich und trocken wie eh und je sprechen. Ich spüre seinen Blick auf mir und als ich mich zu ihm wende, schauen wir uns für eine Sekunde direkt in die Augen. Richtig. Da war doch etwas. Er wollte mir etwas Wichtiges sagen, aber ich habe ihn unterbrochen. Er hat erneut versucht mir etwas Wichtiges zu sagen, aber die anderen haben ihn unterbrochen. Und nun ist der Moment vorbei. Verpufft, zerplatzt, liegt als armseliges Konfetti der verpassten Gelegenheiten um uns herum verstreut. "Auf alle Fälle wollte ich Sie nun darüber informieren, dass sich an unserem Zeitplan nichts geändert hat und wir nach wie vor erst nach dem Mittagessen aufbrechen werden. Desweiteren würde ich Sie im Namen des Managers darum bitten, das Frühstück in Zukunft nicht allzu oft ausfallen zu lassen, damit Sie alle bei Kräften bleiben." "Aber natürlich doch", antwortet Kaoru, während wir anderen nur nicken. Herr Masuda nickt ebenfalls kaum merklich und schickt sich an zu gehen. "Also dann. Wir treffen uns nachher zum Mittagessen im Hotelrestaurant." "Klingt super", erwidert Kaoru in einem Tonfall, der in meinen Ohren alles andere als super klingt. Mehr so, als wolle er ihn abwimmeln. Wahrscheinlich hat Herr Masuda das auch verstanden. Ohne ein weiteres Wort verlässt er das Zimmer, wird von Toshiya, der noch in der Tür stand, vorbeigelassen und verschwindet schließlich ganz aus meinem Blickfeld. Zeitgleich ertönt das scharfe ka-chakk-Geräusch eines herausgezogenen Rollkoffergriffs. Auch Kyo scheint die Biege machen zu wollen. "Wenn sich die Sache damit vorerst gegessen hat... Entschuldigt mich bitte. Ich hau mich wieder aufs Ohr." "Aber verpenn das Mittagessen nicht wieder!", kräht Kaoru ihm hinterher. "Nochmal halten wir nicht kurz vor der Halle noch beim McDonald's." Kyo macht eine abwinkende Handbewegung. "Jaja..." "Jaja heißt leckt mich am Arsch", grinst Toshiya mich frech von der Seite an, als hätte er gerade einem Orang-Utan die Relativitätstheorie erklärt. "Ist es zu offensichtlich, wenn ich jetzt einfach weggehe?" "Wenn es euch nichts ausmacht, könnt ihr jetzt gerne beide gehen. Ich würde mich jetzt nämlich gerne umziehen." Den Rücken bereits zu uns gekehrt, klaubt Kaoru sein zuvor ordentlich herausgelegtes Outfit des Tages - bestehend aus einer schwarzen Stoffjeans, einem Band-T-Shirt und einem dunklen Paar Socken - vom Sessel. "Wird auch langsam Zeit. Haste mal auf die Uhr geguckt?" Das Metall von Toshiyas Zahnspange blitzt heller als das Funkeln in Kaorus Augen, die sich uns soeben wieder zugewandt haben. Auffordernd stieren sie uns an. "Okay, okay... Wir gehen ja schon", seufzend schnappe ich mir Toshiyas Ärmel und bugsiere ihn durch die Tür. "Komm, ganz offensichtlich sind wir in Kaorus Liebeshöhle nicht länger erwünscht..." "Die..." In Kaorus Stimme schwingt beinahe etwas Beschwörendes mit, und obwohl ich bereits selbst kurz vor der Türschwelle stehe, halte ich inne und drehe mich zu ihm um, erblicke ihn weniger als eine Armlänge von mir entfernt. Vom Flur her fällt ein gelblicher Lichtstrahl von den Deckenleuchten über meine Schulter, erhellt wie ein Scheinwerfer Kaorus halbentblößten Oberkörper. Das violette Liebesmal erglimmt darauf wie der Mond am Nachthimmel. Erneut öffnet sich sein Mund, um Worte zu formen, doch diesmal komme ich ihm zuvor. Ich strecke den Arm nach ihm aus, tippe mit der Kuppe meines Zeigefingers auf den blauen Fleck. Sofort folgt sein Blick meinem Finger. Ich kann praktisch dabei zusehen, wie sich seine Pupillen weiten. Behutsam, aber unmissverständlich, drücke ich ihn von mir weg - "Lass gut sein." - und lasse ihn allein im Dunklen stehen. ~*~*~ Hinter mir fällt die Tür ins Schloss. So wie vorhin. Nur, dass ich mich jetzt auf der anderen Seite befinde. Toshiya wartet bereits auf mich. "Sag mal, was habt ihr da drin eigentlich vorgehabt?" "Häh?" "Im Dunkeln und so." "Was meinst du denn?" Grummelig setze ich mich in Bewegung. Ich will einfach nur noch weg von hier. "Sag du's mir. Kaoru hat dich doch noch nie mit auf sein Hotelzimmer gelassen." "Das ist glatt gelogen." "Gut, aber das letzte Mal war bestimmt noch im alten Jahrtausend." Ich biege in den staubigen Seitengang, in den ich unlängst verschleppt wurde und von wo aus dieses ganze Debakel seinen Lauf genommen hat. "Worauf willst du hinaus?" "Hast du seine Freundin gesehen?" "Nein, Toshiya. Ich bin gerade eben erst in dieser Existenzebene ge-spawned. Die Person direkt neben dir im Flur vorhin war nur ein Hologramm von mir", sage ich monoton, während ich meinen Koffer ergreife. "Nein, Alter, hast du dir seine Freundin mal angesehen!" "Zwangsläufig." "Die ist echt hübsch." "Hm." "Nichts gegen dich, aber..." "Hmm." "Wollte dir Kaoru sagen, dass du dich endgültig von ihm fernhalten sollst, damit ihn das Mädel nicht doch sitzenlässt und sich lieber aus'm Staub macht, weil sie glaubt, er wäre vom anderen Ufer?" "Was?!" Beinahe hätte ich meinen Koffer auf meinen Fuß fallen lassen. Voller Entsetzen starre ich Toshiya an. "Du weißt schon..." Schwungvoll schultert er sein Reisegepäck. "Er hat dir in letzter Zeit schon ziemlich offensichtlich deine Grenzen aufgezeigt. Find ich ja manchmal ganz amüsant dabei zuzusehen, aber manches ging echt schon unter die Gürtellinie." Wem sagt der das. Ich musste diese verbalen Ergüsse schließlich aus nächster Nähe miterleben. "Vor allem jetzt auf dieser Tour. Ich glaub, das ist echt alles nur wegen seiner neuen Freundin. Kann ich auch verstehen, dass er da kein Risiko eingehen will. Vor allem, wenn die ihm nun auch noch nachreist. Nachher kriegt sie noch irgendwas in den falschen Hals. Manche Frauen können da echt gruselig sein. Mit der Eifersucht und so." Ich schnaufe. "Keine Ahnung, Mann. Ich weiß nicht, was er mir sagen wollte, weil mir irgendsoein geistigumnachteter Depp vorher 'ne Tür ins Kreuz donnern musste." Als ich an die Szene zurückdenke, fällt mir wieder ein, dass Kaoru kurz zuvor noch sein bimmelndes Handy ignoriert hat. In dem Moment war ich ihm wichtiger. Oder rede ich mir das ein? War das, was er mir unbedingt sagen wollte, wichtiger? Aber jetzt hat er es sich anders überlegt? Er hätte es mir doch immer noch sagen können? Aaah! Diese Flut an Fragen zieht mich nur noch tiefer in den Strudel der Ungewissheit. Und dann kommt auch noch dieses Möchtegern-Schweinchen-Schlau um die Ecke und setzt mir irgendeinen neuen beknackten Floh ins Ohr, wo ich doch ohnehin anfällig bin für so eine Scheiße und... ich dreh bald echt noch am Rad. Ist es zu früh für ein Bier? Ich brauch jetzt ganz dringend ein Bier. Äußere Wunden behandelt man mit Alkohol, also sollten sich innere doch wohl auch mit Alkohol behandeln lassen können... Ich will mich viel lieber in den Fluten des Ethanols ertränken, als noch eine weitere Sekunde mit diesen sich ständig im Kreis drehenden Fragen überschüttet zu werden. Längst bin ich zurück im Hauptflur, wie ferngesteuert haben meine Füße mich hier hingetragen. Die Keycard zu meinem eigenen Hotelzimmer in der Hand entriegele ich die Tür. Während ich meinen Koffer ins Zimmer wuchte, höre ich neben mir das leise Klimpern von Toshiyas Hosenkette und kurz darauf seine Stimme. "Sorry wegen deinem Rücken übrigens." Mit einem genervten Seufzen drehe ich mich zu ihm um. "Ich leih dir meine Turnschuhe nicht..." Toshiyas Gesicht verzieht sich, als hätte ich ihm gerade eine Zitronenscheibe in den Mund gestopft. "Ach, Mist..." ~*~*~ Nachdem ich Toshiya irgendwie im Flur abschütteln konnte und die unendlichen Treppenstufen nach unten geeiert bin - in diesen verfluchten Aufzug kriegen mich keine 20 tollwütigen Fangirlies mehr rein! - halte ich im Erdgeschoss angekommen kurz inne. Aus der Puste und mit halbem Drehwurm im Kopf. Die blonde Dame am Empfang lächelt freundlich zu mir herüber, aber bestimmt fragt sie sich, warum ich aussehe, als hätte ich gerade ein Gespenst gesehen. Jedenfalls kann man von ihrem professionellen, maskenhaften Gesicht nicht ablesen, was sie wohl im Moment von diesem japanischen Schönling in zerrissenen Jeans denken mag. Immerhin ist das hier ein Businesshotel. Eins von der teureren Sorte. Das einzig teure an mir sind meine zwei Kilo Chrome Hearts Behang. Bevor ich es bemerke, hat sich die Dame wieder dezent zurückhaltend den Unterlagen auf ihrem Tisch gewidmet und ich bin mir immer noch unschlüssig, was ich eigentlich will. Raus aus diesem Haus, soviel ist mir klar. Ich lasse meine Füße entscheiden, wohin sie mich tragen, und setze mich in Gang. Wie ich an der Rezeption und einer üppig wachsenden Zimmerpalme vorbeischreite, frage ich mich schon, wie die Preisklasse dieses Hotels zwar im oberen Bereich liegen kann, aber der Schuppen doch längst eine Generalüberholung vertragen könnte. Vielleicht ist das im Westen ja gar nicht so unüblich. Ein Schwall stickige flimmernde Luft begrüßt mich, schließt mich in die Arme, als sich die automatischen Türen unter leisem Zischen öffnen und ich nach draußen trete. Seit ich heute Morgen am Fenster stand und vor mich hinsinnierte, ist bereits einige Zeit verstrichen. Inzwischen ist es heiß geworden. Die Sonne nähert sich ihrem Zenit, entsendet erbarmungslos ihre sengenden Strahlen gen Erde, direkt in mein Gesicht. Beinahe habe ich vergessen, wie sich das anfühlt. Wärme. Ohne übermäßig theatralisch klingen zu wollen, empfinde ich nun doch in mir eine eisige Schwere. Ich wünschte, Eifersucht würde wieder in meinen Gedärmen brodeln wie glühendes Magma. Stattdessen macht sich in mir ein Gefühl der Resignation breit. Langsam, wie Staubkörner in der Luft, rieselt sie herab, rieselt auf mein Gemüt. Ich will mich einfach bis zum Mittagessen irgendwo in der umliegenden Umgebung ablenken. Von mir aus auch planlos durch die Gegend laufen. Nur will ich nicht mehr daran denken müssen, was ich gesehen habe - und viel schlimmer noch: das, was ich nicht gesehen habe. Doch die Gedanken verfolgen mich wie eh und je, stellen mir nach wie ein Jäger Pirsch auf ein weidwundes Tier macht. In jedem Schatten, in jedem Dunkeln lauern sie mir auf, bereit mir in einer unachtsamen Sekunde den Gnadenstoß zu verpassen. Was ist, wenn Toshiya recht hat? Wenn Kaoru wirklich ein und für alle Mal für klare Verhältnisse sorgen will. Wenn er es ernst mit ihr meint, den nächsten Schritt mit ihr gehen will und es sich nicht mehr leisten kann, wenn ein anderer das harmonische Gleichgewicht zwischen ihnen stört. Wenn der magische Moment, den wir gestern Nacht teilten nur der Hitze des Augenblicks geschuldet war. Was dann? Ich bin nicht mal imstande dazu mir dieses Szenario auszumalen, selbst wenn es wohl unweigerlich auf mich zurast wie der Shinkansen auf seinen Zielbahnhof. Es ist nicht so, als wäre ich noch nie in dieser Lage gewesen. Schließlich hat Kaoru über die Jahre hinweg einige Beziehungen mit Frauen gehabt, die ihm viel bedeuteten. Zwar waren eine gute Handvoll davon nur von kurzlebiger Dauer und andere endeten unter bizarren Umständen, aber damals war das anders. Wir waren anders. Ich war anders. Meine Schwärmereien waren anfangs unschuldiger Natur. Kumpelhaft. Mehr Rumalbern als verbindlich. Mir hat es genügt auf freundschaftliche Weise Spaß mit ihm zu haben, sowie ich auch mit den anderen meine Scherze getrieben habe. Wir alle haben uns schon in den Armen gelegen, dicht an dicht gegeneinandergedrückt im Bus gesessen oder auf der Bühne unsere Show abgezogen. Manche mehr, manche weniger. Aber über unverbindliches Verknalltsein ging es für mich nie hinaus. Ich hätte auch nie gedacht, dass es irgendwann einmal soweit kommen würde. Aber mit der Zeit wurde aus der winzigen Knospe der Bewunderung erst ein stattliches Pflänzchen, dann ein alles überragendes Gewächs und mittlerweile schlagen die Wurzel dieses knorrigen uralten Baumes tief in mein Herz hinein, haben es eingeschnürt, überwuchert, sind eins geworden mit meinen Blutbahnen. Wie soll ich ihn nur je wieder aus mir herausschneiden? Die Liebe, die ich für Kaoru empfinde, ist untrennbar mit mir verbunden. Das ist nicht über Nacht geschehen, aber je älter wir wurden, umso klarer wurde es mir: Ich kann nicht ohne ihn. Und mit dieser Erkenntnis kam die Eifersucht. Zu Beginn war es leichter seine Freundinnen und weiblichen Bekanntschaften auszublenden, mir auszureden, dass er auf lange Frist mit ihnen glücklich werden wird. Jede gescheiterte Beziehung bestätigte mich in diesem Aberglauben. Das hält eh nicht lange. Sie passt sowieso nicht zu ihm. Ja, ihr habt grad Spaß zusammen, aber pass auf, wenn ihr erst zusammenzieht... Aber Kaoru ist auch älter geworden. Und mit dem Alter kommt der Wunsch nach Sicherheit, nach Beständigkeit, nach dem Ende der Suche. Bevor wir unsere lange Übersee-Tournee in diesem Jahr angetreten sind, hatten wir im Winter viel Zeit gemeinsam im Studio verbracht. Es waren anstrengende Monate gewesen, die an unser aller Nerven gezerrt und uns unserer ganzen Kraft beraubt hatten. Gegen Ende wurden die Aufenthalte in verqualmten Aufnahmeräumen länger und länger, die wenigen Stunden, die wir uns im vertrauten Heim befanden nur noch mit von Erschöpfung geschwängertem Schlaf gefüllt, bis wir schließlich gar nicht mehr nach Hause fuhren und uns das Studio voll und ganz, mit Haut und Haaren, verschluckt hatte. Es war zu dieser Zeit, als Kaorus letzte Beziehung in die Brüche ging. Distanz und Stress hatten die Flamme der Liebe erstickt. Sie war nicht mit einem gleißenden Flackern oder unter Funkensprühen erloschen, sie war jämmerlich mehr und mehr geschrumpft und eines Tages klammheimlich, unbemerkt einfach ausgegangen. Danach vergingen ein paar Wochen, bis wir unsere erste Heimat-Tournee bestritten. Zwar wusste ich bereits während der Proben dafür, dass sie getrennt waren, doch war ich mir nicht sicher, welche Spuren diese Trennung bei Kaoru selbst hinterlassen hatte. Wer ihn kennt, der weiß genau, dass Kaoru einem eine halbe Enzyklopädie an die Backe labern kann - und wird! - und von allem und jedem und dem sein Onkel faselt, aber seine innersten Gefühle und Gedanken, nein, nein, die hält er fest unter Verschluss, die versteckt er unter einem eisernen Schleier des Stillschweigens. Und so war ich der Überzeugung, er wäre nach dem Aus seiner letzten Beziehung alleine geblieben. Als die Daten der Tour, auf der wir uns momentan befinden, näher rückten, nahm auch allmählich mein Entschluss, es noch einmal ernsthaft bei ihm zu versuchen, Form an. Hätte ich vorher gewusst, dass er seine Fühler schon längst nach einer neuen süßen Frucht ausgestreckt hat, hätte ich mich vielleicht nie so sehr in all das hineingesteigert. Wer weiß. Vielleicht musste es auch von Anfang an so kommen. Ein unvermeidbares Ereignis auf das ich zwangsläufig zugesteuert bin. Sowie der Shinkansen der Unabwendbarkeit auch jetzt ungebremst auf mich zusteuert. Letztlich bin ich es vielleicht selbst, der mich am Glücklichsein hindert. Ein Saboteur in den eigenen Zellreihen... Ich krame die zerknitterte Zigarettenschachtel aus meiner Hosentasche hervor, klemme mir einen Glimmstängel zwischen die Lippen und taste auf der Suche nach meinem Feuerzeug die übrigen Taschen an meinem Körper ab. Ohne Erfolg. Verdammt, ich muss es vorhin in meinem Hotelzimmer liegengelassen haben. Gerade als ich vor mich hinknurrend die Zigarette zurück in die Schachtel befördern will, höre ich neben mir ein ka-cha und sehe aus dem Augenwinkel heraus eine Flamme vor meinem Gesicht auftauchen. Ich folge der breiten Hand, die sie entzündet hat, den Arm hinauf, bis zu der mir nur allzu bekannten Miene meines Mannes für besondere Gelegenheiten, meines persönlichen Gitarrensitters, meines Roadies, Kuroo. "Hey. Sind Sie alleine hier?" Ich hebe eine Augenbraue. Die Zigarette zwischen meinen Lippen begradigend, beuge ich mich nach vorne, lasse das Feuer das Papier ergreifen und ziehe an ihr. "Ja..." "Verheiratet?" Beinahe verschlucke ich mich am ersten Qualm. Unter raspelndem Husten erwidere ich so trocken, wie es mir in diesem Zustand möglich ist: "Nein, ich bin Rockstar." Für eine Sekunde glotzen wir uns beide nur grenzdebil in die Augen. Dann wird die Stille von unserem Lachen durchbrochen. "Oh Mann, der war ja richtig schlecht... Zum Glück biste kein Stand-up-Comedian geworden." "Mit dem Gesicht? Ich bitte dich." Kuroo zieht die Nase hoch und sieht mit unfixiertem Blick die Straße rauf. "Dachte mir schon, dass ich dich hier finden würde." "Du kennst mich eben zu gut." "Willst dir die Beine vertreten vor der Busfahrt?" "Genau." Ich will nicht zugeben, dass ich eigentlich aus dem Hotel geflohen bin, um meinen Kopf wieder freizukriegen, dem wildumherbrausenden Bilderkarussell in meinem Hirn zu entkommen und um mich nicht noch vor dem Mittagessen in der Kloschüssel zu ersaufen. Aber das kann ich Kuroo schlecht sagen. "Schon 'ne komische Sache das mit der SMS heute Morgen, hm?" Rauch verlässt meine Lippen, als ich nicke. "Naja. Wollen wir 'n paar Runden um den Block dreh'n? Noch hält man es draußen aus, ohne 'nen Hitzschlag davon zu tragen. Glaub, die Fahrt wird nachher lang." "Ich dachte schon, du fragst nie." ~*~*~ Stellt sich heraus, dass Sightseeing mit Kuroo an meiner Seite genau die Ablenkung war, die ich brauchte. Historische Gebäude und lokale Sehenswürdigkeiten zu begutachten, örtliche Läden unsicher zu machen, in Modegeschäften nach überteuerten Klamotten zu stöbern und eine neue, noch dunklere, noch wuchtigere Sonnenbrille zu kaufen. Kurz überlege ich, ob ich Toshiya ein Paar schicke Ersatzschuhe besorgen soll, als ich ein Schuhgeschäft auf der anderen Straßenseite erspähe, aber nachdem er mich, meine Nerven und meinen armen krummen Rücken heute Vormittag so malträtiert hat, überlege ich es mir über den blauen Fleck an meiner Wirbelsäule reibend und leise vor mich hin brummelnd dann doch anders. Soll der doch selbst gehen! Schließlich hat er sich das selbst zuzuschreiben. Unsere Nora muss schon genug aushalten in diesem überwiegend männlichen Haufen, dessen Testosteron des Öfteren überschäumt, und dann drückt er ihr noch mehr Arbeit auf's Auge. Stattdessen kaufe ich in einem winzigen, bis zum Überquellen vollgestopften und gut besuchten Süßigkeitenladen an einer Ecke eine Schachtel Pralinen für sie. Hab gehört, die Schokolade von hier soll weltberühmt sein. Durch die mannigfaltigen Gerüche, die aus all den Restaurants und Cafés strömen, angestachelt, meldet sich nun auch allmählich mein Magen, den ich seit heute Morgen nur mit Zigaretten abgespeist habe, zu peinlich lautem gurgelndem Wort. Zum Glück befinden wir uns bereits auf dem Rückweg zum Hotel, auch, wenn wir etwas spät dran sind. Hauptsache ich kriege nicht wieder den Deppenplatz zugewiesen. Vor Kopf sitzen, ist mal so überhaupt nicht meins. Und nach Möglichkeit will ich so weit weg von Kaoru sitzen, wie es nur eben geht. Oh Mann... Gestern noch hätte ich mir eigenhändig und freudestrahlend eine Rippe aus dem Fleisch geschnitten, nur um ihm näher sein zu dürfen, und heute... Okay, vielleicht ist das etwas übertrieben, aber dennoch. Geistesabwesend betrachte ich die Pralinen, die unter einer Klarsichtfolie in einem blassrosafarbenen Schächtelchen wie ausgestellte Juwelen still da liegen. Ich stehe an einer Ampel in der sengenden Mittagssonne. Schweiß steht mir auf der Stirn und eine Haarsträhne meint sich an mein Gesicht kleben zu müssen. Neben mir pafft Kuroo lässig eine Zigarette, während er auf seinem Handy der Routenberechnung von Google-Maps folgt. Vielleicht hätte ich Kaoru auch etwas mitbringen sollen. Nur eine Kleinigkeit. Eine Aufmerksamkeit. Aber wie hätte er das aufgefasst? Ich weiß, was für eine Naschkatze er ist und dass er zu Schokolade niemals Nein sagen würde. Aber Pralinen von einem anderen Mann geschenkt zu bekommen? Und noch dazu von mir... So vertieft darin das Cœur à l'orange anzustarren, bemerke ich gar nicht, wie das Licht von Rot auf Grün gesprungen ist. Erst als Kuroo mich am Ärmel zupft, setze ich mich in Gang. Der Sonne entgegenblinzelnd folgen wir einer geraden Straße bis in unser Hotel, wo uns der kühle Lufthauch aus der Klimaanlage bereits erwartet. Ob uns die anderen auch bereits erwarten, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls haben es sich bereits alle auf ihren vier Buchstaben im Speisesaal bequem gemacht, als wir beiden Nachzügler den Raum betreten. Natürlich hat man nicht auf uns gewartet, wie ich mit verzogenem Mund feststelle. Es gibt Suppe als Vorspeise und jeder ist damit beschäftigt leise vor sich hinzulöffeln oder zu schlürfen. Das dumpfe klong klong erfüllt den gesamten Saal. Wir bahnen uns einen Weg zum Tisch, vorbei an anderen Gästen des Hotels. Geschäftsleute, schnöselig aussehende Familienväter mit ihren aufgetakelten Ehefrauen und bieder angezogenen Kindern, ältere Ehepaare auf Städtereise. An unserem Tisch nahe eines Panoramafensters sind noch zwei Plätze frei. Bevor ich tatsächlich dazu gezwungen werde vor Kopf zu sitze, schiebe ich mich an Kuroo, der sich noch höflich bei den anderen für unsere Verspätung entschuldigt, vorbei und schwinge meinen Hintern auf den unbesetzten Platz am Ende des Tisches neben Shinya. "Schmeckt's?", frag ich ihn frech, um mich herum auf dem Tisch wüst meine Habseligkeiten ausbreitend. Shinya antwortet mit einem knappen Nicken. "Du hast gekleckert", schimpfe ich mit übertrieben gespieltem väterlichen Ernst und deute auf einen bräunlichen Tropfen Suppe neben seiner Schale. "Ja... Tut mir leid...", nickt er wieder, dabei unbeirrt weiter löffelnd. "Warst du shoppen??" Toshiya, der mir schräg gegenüber sitzt, beugt sich quer über den Tisch zu mir, ohne darauf zu achten, dass er beinahe Kyo seinen Ellenbogen ins Gesicht gezwiebelt hätte. So rammdösig wie dieser aber über seiner Suppe hängt, zuckt er nicht mal mit der Wimper, als der Arm an ihm vorbeizischt. "Neidisch?" Ich nehme die neue Sonnenbrille von der Nase und schüttele schwach mein Haar als wäre ich in der billigen Kopie einer L'Oréal Werbung. Die Unterlippe leicht schmollend vorschiebend und vor sich hinmurmelnd, grapscht Toshiya nach einem Stück trockenem Brot. "Du hast 'nen Sonnenbrand auf der Nase." Alarmiert greife ich sofort in mein Gesicht, um etwaige Verbrennungen meiner Alabasterhaut zu ertasten. Da mir das allerdings keinerlei Aufschluss über den derzeitigen Zustand meines Zinkens gibt, schnappe ich mir kurzerhand mein Handy und begutachte mich in der Spiegel-Funktion der Kamera. Unterdessen höre ich schon das schadenfrohe, unterdrückte Lachen von der anderen Seite des Tisches. Über mein Handy hinweg funkele ich Toshiya giftig an. "Sehr witzig." "Find ich schon. Bambi...", prustet er und krümelt überall auf die weiße Tischdecke. "Rudolph." "Was...?" Ein langer Seufzer entfleucht Kyos Kehle. "Rudolph. Bambi ist das Reh mit der zerschroteten Mutter. Du meinst Rudolph mit der roten Nase." "Ich dachte du schläfst?" "Seh ich aus, als würd' ich die Suppe inhalieren?!" "Ich weiß nicht... Ja? Zutrauen würde ich es dir." Während sich Toshiya und Kyo gegenseitig anquaken, streiche ich behutsam über meine Nasenspitze. So schlimm ist es zum Glück nicht. Leicht gerötet, aber bei Weitem kein Sonnenbrand. Ich lege mein Handy beiseite und schaue mich nach dem Kellner um. Allmählich hängt mir der Magen in den Kniekehlen. Ich teile ein Stück Brot über meinem Teller und nage lustlos daran herum. "Er hätte mir ruhig sagen können, dass er Shoppen geht", nuschelt Toshiya, offensichtlich immer noch nicht mit dem Thema durch, seine Serviette an. "Uh-huh", antwortet Kyo geistesabwesend, ohne die Augen von seinem Teller zu heben. "Hätte er doch, oder?" "Ja", erwidert Shinya, durch Toshiyas eindringlichen Blick mehr dazu genötigt, höflich. Ich höre nur noch mit halbem Ohr zu. Fast am anderen Ende des Tisches, neben unserem eigenen Staff und den Übersee-Tourbegleiter, entdecke ich Kaoru vor einem leeren Suppenteller sitzen, das Kinn auf den Handballen gestützt, sein Handy in der Rechten umklammernd, der Bildschirm hell erleuchtet. Ein mildes Lächeln kräuselt sich um seine Lippen. Allein dieser Anblick stimmt mich augenblicklich wieder verdrießlich. Schreibt er etwa schon wieder mit seiner Freundin? Oh Miho! Wie schön war die gestrige Nacht. Nunmehr verzehre ich mich nach deiner sanften Berührung, nach deiner umschmeichelnden Weiblichkeit. Das klingt so behämmert, dass ich lachen will, aber eigentlich wird mir davon nur kotzelend. Endlich kommt ein Kellner herangeschwebt und serviert auch mir und Kuroo unsere Suppe. Ich tunke das Brot hinein und beobachte aus dem Augenwinkel heraus weiter Kaoru. "Hast du die geschenkt bekommen?", höre ich plötzlich Shinya neben mir krächzen, wobei sein Finger auf die Pralinenschachtel, die halb begraben unter meinen Zigaretten, dem Ersatzfeuerzeug, meiner Sonnenbrille, dem Handy und einem zusammengeknüllten Kassenbon vor mir liegt. Im ersten Moment bin ich verwirrt. Wer sollte mir die geschenkt haben? Heute ist doch nicht Valentinstag. Dann erinnere ich mich, dass wir uns auf Tour befinden und diese Schokolade auch gut und gerne von einem Fan hätte kommen können. "Nein, die werde ich verschenken." Shinyas Augen verengen sich kaum merklich. Beinahe beschleicht mich das Gefühl, er wolle mich ermahnen. Wahrscheinlich glaubt er, ich würde diese Pralinen in aller Öffentlichkeit Kaoru überreichen und ihn somit vor versammelter Mannschaft lächerlich machen. Also füge ich hinzu: "Die sind für Nora". Gerade laut genug, damit Shinya es mitkriegt, aber Nora, die nur wenige Plätze entfernt sitzt und sich angeregt auf Englisch mit einem internationalen Tourbegleiter unterhält, nicht. Daraufhin glätten sich Shinyas Gesichtszüge wieder. Zwar dachte ich, meine gedämpfte Stimme wäre nicht weiter über den Tisch hinweg getragen worden, allerdings vergas ich, dass Toshiyas Neugier immer die größten Ohren hat. "Für Nora?", fragt er unbehelligt, aber Gott sei Dank leise, die Schachtel ins Visier nehmend. Da ich mir soeben einen Löffel Suppe in den Mund geschoben habe, nicke ich bloß. Halb grüblerisch, halb verlegen kratzt er sich an der Wange. "Vielleicht sollte ich ihr auch was schenken. Was Persönliches... Etwas, das von Herzen kommt." "Arterien." "Danke, Kyo..." "Kein Ding." Meine verstohlen Blicke hangeln sich immer wieder am Tischläufer entlang zu Kaoru. Als sein Handy endlich seinem Klammergriff entkommt und neben der Serviette rasten darf, verlässt auch sein Ellenbogen die Tischplatte. Dahinter kommt ein halbvolles Glas Bier zum Vorschein. Es ist gerade einmal Mittag und Kaoru ballert sich einen! Ich werd bekloppt. So wie das flüssige Gold plötzlich aus seinem Versteck in den Vordergrund rückt, erinnert es mich nur allzu schmerzlich an den Knutschfleck, der auch so jählings aus den Schatten hervorsprang. Wie ein Schreckgespenst. Wie lange steht es schon da? Ist es das einzige? Hat er vorher noch mehr getrunken? Ich denke an das Bier, doch eigentlich drehen sich meine Gedanken unablässig um den Fleck. Wie ein Brummkreisel. Wie ein Schreckgespenst, das auf einem Brummkreisel reitet. Wo hat sie noch überall ihre Spuren auf ihm hinterlassen? Wo hat sie ihn überall geküsst, berührt... Ihre Krallen an ihm gewetzt. Als der Hauptgang aufgetischt wird, würge ich mit einem dicken Klos im Hals den letzten Schluck herunter. Ich bestelle ebenfalls ein Bier und schere mich herzlich wenig darum, dass augenblicklich meine geschundenen Organe stumm kreischend zu protestieren beginnen. Wie unschuldig unser gestriger Kuss war. Wie dreckig mir im Vergleich die Vereinigung zweier Menschen erscheint. Heuchler, schreit mich mein Verstand unvermittelt an. Du hättest es genauso getan. Wärst du es gewesen, der sich gestern Nacht mit ihm in den Kissen gewälzt hat, hättest du ihn übersät mit bittersüßen Malen. Du hättest alles dafür getan, dass es zwischen euch schmutzig wird. Grummelig stochere ich in meinem Essen herum. Zumindest ist meine Laune nicht die einzige, die sich spontan wieder ins Angesäuerte abseilt. Kyo macht ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter und wirkt so übernächtigt, dass ich mir ernsthafte Sorgen mache, er könnte vor lauter Müdigkeit gleich vom Stuhl kippen. Ab und an kann ich beobachten, wie seine Lider kurz flattern, als koste es ihn alle Anstrengung seines Körpers wachzubleiben. Unterdessen schichtet Toshiya schmolllippig dreinblickend seit zwei Minuten immer wieder mit der Gabel den Reis seines Hühnerfrikassees von einer Seite des Tellers auf die andere. Und was in Kaorus verworrenen Gehirngängen vor sich geht, vermag wohl auch nur er alleine zu sagen. Jedenfalls haben seine Gesichtszüge jetzt, wo er schweigend seinen Hauptgang vertilgt, mehr mit einer Eisenmaske als mit einem Mann aus Fleisch und Blut gemein. Einzig und allein Shinya wirkt taufrisch. Anstatt sich des Nachts auf fremden Straßen in überfüllten stickigen Bars und Clubs bei grässlicher Bumm-Bumm-Musik die malträtierte Leber zu verätzen und danach stundenlang 15 Meter über dem Erdboden in einer eisernen Sardinenbüchse eingesperrt zu hängen; sich von seiner aus heiterem Himmel aufgetauchten sukkubusähnlichen Ex-Freundin erst die Sinne vernebeln und dann von ihr um den Schlaf bringen zu lassen; es sich übermütig mit seiner weiblichen Tourbegleitung zu verscherzen; oder erst mit seinem besten Freund und dann seiner ebenfalls aus einem Riss in der Dimension herausstolzierten Freundin herumzumachen, saß Shinya wohl den ganzen Abend gemütlich auf seinem Hotelzimmer, hat in seiner mitgebrachten Lektüre geschmökert und nach einem heißen wohltuenden Bad noch vor Mitternacht den Kopf auf seidige Kissen gebetet und ist in aller Seelenruhe in einen traumlosen Schlummer gefallen... Zumindest spinne ich mir das gerade in meinem Hirn so zusammen. Je länger ich Kaoru beim Kauen zugucke, umso mehr ist mir danach mich in meiner Eifersucht und meinem Missmut zu suhlen. Seit ich hier sitze, hat er mich keines einzigen Blickes gewürdigt! Was wollte er mir vorhin bloß sagen? Werde ich es je erfahren? Muss ich dumm sterben? Lässt er mich am langen Arm verhungern? Darf ich mir selber in meiner drömeligen Rübe zusammenreimen? Die, ich habe diese Spielchen jetzt lang genug geduldet, aber damit muss jetzt Schluss sein. Ich durchbohre ein Stück Fleisch mit der Gabel. Lächerlich. ____________ To be (or not to be) continued. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)