Broken Melody von Last_Tear (Can't you hear my voice?) ================================================================================ Kapitel 1: Torment ------------------ Weiche Schwingen umhüllen mich sanft und doch falle ich. Das Gefühl wird stärker und stärker und ich kann nichts dagegen tun - je mehr ich versuche mich zu wehren, desto schneller falle ich und ich weiß, dass der Aufprall mich töten wird. Meine Flügel sind gebrochen, es ist mir unmöglich zu fliegen oder mich zu retten, weswegen mir nur noch eins verbleibt - schreien. Im nächsten Moment sehe ich in besorgte, hellbraune Augen und erschaudere leicht, bevor mir bewusst wird, dass das Realität ist. Ich bin in Sicherheit. „Good Morning, honey.“ Ein schwaches Lächeln legt sich auf meine Lippen, bevor ich die Augen wieder schließe und mich in seinen Armen vergrabe - es war nur ein Alptraum. Der gleiche Alptraum wie immer…Mittlerweile bin ich es gewohnt. Zumindest dachte ich das…“Wie fühlst du dich?“ Stumm zucke ich mit den Schultern bevor ich seufzen muss - beschissen. Aber das kann ich ihm nicht sagen. Denn den Blick in seinen Augen wenn er weiß dass es mir schlecht geht kann ich nicht ertragen. „Ich mach uns Kaffee, ja?“ Ein sanfter Kuss auf meine Stirn folgt und erneut nicke ich - ich verstehe immer noch nicht, wie ich diesen Mann an meiner Seite verdiene. Nachdem er aufgestanden ist und das Schlafzimmer verlassen hat, wage ich es die Augen zu öffnen und ich muss lächeln - zumindest bis ich mich aufsetze und ein grauenvoller Schmerz durch meinen Rücken fährt, der mich aufkeuchen lässt. Als ob meine Flügel gebrochen wären…Mit einem traurigen Lächeln schaffe ich es aus dem Bett und strecke mich - die Schmerzen sind nur psychischer Natur, mir fehlt nichts und wenn ich meine Tabletten genommen habe, werde ich für den Rest des Tages nichts spüren. Wie immer. Während ich mich ins Bad begebe und unter die Dusche steige, schweifen meine Gedanken erneut ab - wieso bekomme ich diesen Traum nicht aus meinem Kopf? Das heiße Wasser hilft zumindest die Schmerzen etwas weg zu spülen und als ich umgezogen mit feuchten Haaren in die Küche schleiche, steht dort bereits eine große Tasse mit dampfendem Kaffee. „Danke.“, hauche ich leise, bevor ich die Arme um ihn lege und das Gesicht an seinem Rücken vergrabe. Er erstarrt für einige Sekunden, bevor er eine Hand auf meine Hand legt, unsere Finger miteinander verschränkt und sie dann anhebt um mir einen Kuss auf die weiche Haut zu drücken. „Alles für meinen Engel.“ Ich kann nur müde lächeln, während er weiter mit einer Hand unser Frühstück zubereitet - er ist perfekt. So viel mehr als ich verdiene und einer der wenigen Menschen der nach wie vor an meiner Seite ist. Wenig später sitzen wir zusammen am Tisch - oder besser, er sitzt, mit mir auf seinem Schoß und ich habe mich so eng wie möglich an seine Brust gekuschelt, während ich an meinem Kaffee nippe. Die Lust heute zur Arbeit zu gehen, hält sich eindeutig in Grenzen, vor allem da ich weiß, dass er frei hat. Aber vielleicht habe ich ja Glück…“Kannst du mich zur Arbeit fahren?“ Er lacht, während er mir einen Löffel Reis vor die Nase hält, welchen ich widerwillig schlucke. Igitt, Essen. „Wenn du versprichst, dass du eine ganze Schüssel Reis mit Gemüse und etwas Fisch isst, dann ja.“ Ich verdrehe die Augen, bevor ich nicke und die leere Kaffeetasse auf den Tisch stelle. „Elender Erpresser.“ Erneut muss er lachen und ich verdrehe die Augen - natürlich hat er keine Wahl, immerhin wurde mir das auch vom Therapeuten nahe gelegt. Regelmäßig essen, gesund essen. Dass es nicht wieder zu einem Zusammenbruch kommen kann. Während ich zu essen beginne, muss ich seufzen, vielleicht wäre es doch schlau, heute zuhause zu bleiben? Ein Tag im Bett klingt gerade so wahnsinnig verlockend, aber noch bevor ich nach fragen kann, ob er mir sehr böse wäre, wenn ich meine Meinung ändern würde, ist die Schüssel bereits leer und ich nehme mir grummelnd noch zwei Stücke Fisch - wenigstens schenkt er mir Kaffee nach. Nach der zweiten Tasse Kaffee schlucke ich meine Tabletten mit einem Glas Wasser hinunter und verziehe leicht das Gesicht - ich hasse Medikamente, nach wie vor. Das wird sich wohl auch nicht ändern. Er jedoch lächelt und drückt mir einen Kuss auf die Stirn und ich weiß genau dass ich wahnsinniges Glück habe, dass er bei mir ist. Ohne ihn würde mein Leben wohl anders aussehen. Vermutlich hinter Gittern auf einer geschlossenen Station im Krankenhaus. Während er mich zur Arbeit fährt, sehe ich nur aus dem Fenster - es ist beruhigend zu wissen, dass er zuhause sein wird, wenn ich zurück komme, dass ich nicht wieder eine leere Wohnung betrete, in der nichts auf mich wartet. Genau das war es, was mich so aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, laut dem Therapeuten - das Fehlen einer Konstante. Einem Punkt, an dem ich mich festhalten konnte…“Bist du dir sicher, dass es dir gut geht?“ Kurz zögere ich bei der Frage, aber schlussendlich nicke ich nur, schenke ihm ein schwaches Lächeln und drücke ihm einen Kuss auf die Wange. Als er das Auto zum Stehen bringt, sehe ich mich kurz um, dann ihn wieder an und schließe die Augen. „Danke, Yuuji.“ Dieses Mal küsse ich ihn richtig und er zieht mich für einen Moment eng an sich, bis wir uns aus Luftmangel heraus lösen müssen. „Soll ich dich noch mit hoch bringen?“ Lachend schüttelte ich nur den Kopf, während ich ihm sanft über die Wange streiche und ihm noch einen Kuss auf die Lippen drücke. „Dass Aria-san noch mal versuchen kann, mir meinen heißen Boyfriend auszuspannen? Niemals…“ Damit habe ich das Auto verlassen, schenke ihm noch ein sanftes Lächeln und mit einem „Bis später.“ betrete ich tief durchatmend das Gebäude. Sobald ich das Büro im zweiten Stock erreicht habe, würde ich jedoch am Liebsten umkehren und schreiend davon rennen - alle Augen sind auf mich gerichtet und ich muss die Luft anhalten um nicht zu schreien. Wenigstens wenden die Meisten sich wieder ihrer Arbeit zu, nur meine Chefin schenkt mir ein spöttisches Lächeln, wofür ich ihr zu gerne eine reingehauen hätte. „Schön zu sehen, dass du entschieden hast, dich von deinem Lover zu trennen.“ Ich verdrehe die Augen, bevor ich mit den Schultern zucke - ich brauche diesen Job, also versuche ich alles hinunter zu schlucken was ich ihr sonst an den Kopf geworfen hätte. „Wir werden heute mit einem wichtigen Kunden zu Mittag essen, ich hoffe du bist stabil genug dafür, ansonsten kannst du dich von deinem Job verabschieden.“ Erneut muss ich schlucken, bevor ich nicke und dann langsam zu meinem Platz gehe - als ich mich auf den Stuhl vor meinem Computer fallen lasse, würde ich mich am Liebsten übergeben und ich suche in meiner Tasche nach meinem Glücksbringer um ihn vorsichtig zu drücken. Alles wird gut, ich werde den Tag überstehen, ich bin nicht allein. Seufzend mache ich mich schließlich an die Arbeit - E-mails beantworten kann ich sogar im Halbschlaf. Einige wichtige Telefonate später, ist es bereits Mittag und ich verschwinde auf die Toilette um meine Frisur zu richten und mich zu schminken. Sicher ist sicher - ich kenne meine Chefin schließlich und auch wenn ich sie wohl nie zufrieden stellen werde, weiß ich doch, dass es wichtig ist, dass ich es zumindest schaffe die Firma gut zu vertreten. Hübsch auszusehen, obwohl ich mir nicht viel aus Make-up mache. Und alle Unterlagen dabei zu haben, die wichtig sind. Vorsorglich habe ich sogar meine Schuhe getauscht bevor ich mit meiner Chefin das Gebäude verlasse - ich hasse Schuhe mit Absatz, außer es handelt sich um Plateauschuhe, aber diese passen nicht zu meinem Arbeitsoutfit, weswegen ich Pumps unter meinem Schreibtisch aufbewahre für Geschäftsessen. Ich darf immerhin weder mich, noch meine Chefin blamieren. Und nachdem sie klar gemacht hat, dass an diesem Mittagessen mein kompletter Job hängt…Mir wird schwindlig, je länger ich darüber nachdenke und die drückende Stille auf dem Weg zum Restaurant macht es nicht besser, dass ich kaum dass wir angekommen sind erstmal nach Luft schnappe wie ein Fisch auf dem Trockenen. Keine Panikattacke…Nicht jetzt. Das wäre wirklich der unpassendste Zeitpunkt überhaupt. „Reißen Sie sich zusammen, Sawamura-San. Mit ihrem Lover trauen Sie sich ja auch in die Öffentlichkeit!“ Meine Chefin schürzt die Lippen, während sie mich rügt - ob ihr bewusst ist, dass sie es dadurch nicht besser macht sondern vielmehr noch schlimmer? Aber sie hatte ja schon immer Spaß auf mir herum zu hacken. Vielleicht weil ich die jüngste Sekretärin bin, die sie je hatte - aber auch die beste Angestellte…Ich weiß es nicht. Glücklicherweise schaffe ich es nach knapp fünf Minuten meine Atmung wieder zu regulieren auch wenn ich mich wahnsinnig schwach auf den Beinen fühle und als wir das Restaurant betreten, bin ich einfach nur noch froh, dass wir früh genug da sind und verschwinde unter den skeptischen Blicken meiner Chefin auf die Toilette, während sie am Tisch die Unterlagen noch mal durchsieht. Nach einem Telefonat mit Kamijo, welcher es schließlich geschafft hat, mich endgültig zu beruhigen, kehre ich an den Tisch zurück, mit einem erzwungenen Lächeln. Es ist nur noch dieses Essen, dann bin ich frei. Unsere Geschäftspartner erscheinen keine fünf Minuten später - und ich muss mich zwingen überhaupt den Mut aufzubringen etwas zu essen zu bestellen. Meine Chefin beobachtet mich amüsiert und ich würde ihr zu gerne den Hals umdrehen - es würde mich nicht mal wundern, wenn sie das Restaurant vorgeschlagen hätte nur um mich leiden zu sehen. Wenigstens lenkt mich das Gespräch über den Auftrag ab, ich erzähle unseren Partnern alle Details und welche Vorteile sich für sie ergeben würden und versuche nicht daran zu denken, was mich noch erwartet, aber irgendwann wird unser Essen serviert - und so gerne ich auch aufgesprungen und gegangen wäre, muss ich es ertragen und warten, da der Vertrag erst nach dem Essen unterzeichnet werden wird. Und wer weiß, wie lange das dauern könnte. Je länger wir jedoch sitzen, essen und Smalltalk halten, desto anstrengender wird es für mich, mich auf den Auftrag zu konzentrieren. Meine Gedanken beginnen sich zu drehen und abzudriften, wieso ich immer noch in diesem Job gefangen bin, wieso meine Chefin mich so behandelt, wieso ich mich so behandeln lasse und mir keine andere Arbeit suche. Wieso ich es nicht mal schaffe, ehrlich zu mir selbst zu sein oder dem Mann der mich liebt… Mir dreht sich der Magen um und nur schwach höre ich einen unserer Geschäftspartner fragen, ob es mir gut geht, woraufhin ich nur nicken kann, während ich längst das Blut in meinen Ohren rauschen hören kann. „Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht, Sawamura-San?“ Ich nicke erneut, während ich mich zu einem Lächeln zwinge und nach meinem Getränke greife. Danach scheint alles an mir vorbei zu rauschen wie im Nebel und bevor ich wirklich weiß, was los ist, stehe ich vor dem Restaurant, meine Chefin funkelt mich wütend an und ich schreie ihr ein „Ich kündige!“ Ins Gesicht, bevor ich mich umdrehe und in Kamijos Arme flüchte, welcher gerade aus dem Auto gestiegen ist um mir die Tür aufzuhalten. Ich kann einfach nicht mehr und während er mich eng an sich drückt, beginnen die ersten Tränen zu fließen, woraufhin meine Chefin nur noch ein kühles „Das ist jetzt wirklich kein großer Verlust.“ Erwidert, bevor sie in die Limo steigt, welche sie zurück in die Firma bringen wird. Ihre Worte beginnen sich in meine Gedanken zu brennen und wiederholen sich, bis Kamijo mir die Ohren zuhält und mich küsst und zitternd klammere ich mich an ihn im Versuch nicht zusammen zu brechen. Es ist einfach alles zu viel. Vielleicht hätte ich den Traum als Zeichen sehen und darauf eingehen sollen, mich krank melden für heute, aber jetzt ist es zu spät - ich kann die Zeit nicht zurück drehen. Nur mich in den Armen des Mannes vergraben, der mich festhält, als wäre ich das Wichtigste in seinem Leben. Irgendwann bin ich ruhig genug, dass wir nach hause fahren können, auch wenn ich ins Leere starre die Fahrt über und eher aus dem Auto stolpere, aber bevor ich auf den Boden sinken kann, finde ich mich in Kamijos Armen wieder, welcher mich stumm nach oben trägt und ich vergrabe das Gesicht an seiner Brust, während ich leise aufschluchzen muss. „Es tut mir leid.“ Es ist meine Schuld, dass so viel Chaos entstanden ist und ich kann immer noch nicht ganz verstehen, wieso ich meinen Beruf gekündigt habe, aber irgendetwas tief in mir sagt mir dass es besser so ist und ich wage nicht das in Frage zu stellen. Es wird seinen Grund haben, auch wenn ich mich nicht erinnern kann. Eigentlich warte ich gerade auch nur darauf, dass er mir sagt wie dumm ich bin, dass ich meine Chefin anrufen und mich entschuldigen, um meine Stelle kämpfen soll, aber nichts davon passiert, stattdessen streicht er mir nur sanft über den Kopf und setzt sich mit mir aufs Sofa, nachdem er unsere Schuhe ausgezogen hat und ich vergrabe mich nur noch mehr in seinen Armen, während er mir eine Decke um die Schultern legt und mir einen Kuss auf die Stirn gibt. „Es gibt keinen Grund dich zu entschuldigen, Liebling. Es ist doch alles gut…“ Für einige Sekunden starre ich ihn nur ungläubig an, bevor ich lachen muss - was jedoch schnell in einem Kuss erstickt wird und je verlangender dieser wird, desto mehr verfliegt das Gefühl, mich über den Boden zu rollen und dabei hysterisch zu lachen. Zum Glück. Widerstandslos lasse ich mich Stück für Stück zurück drängen, bis ich komplett auf dem Sofa liege und die Finger richtig in seinen Haaren vergraben kann. Vielleicht ist das nicht die beste Methode um eine Panikattacke zu verhindern, aber definitiv eine die mir besser gefällt als mit Tabletten ruhig gestellt zu werden. Erst als wir uns aus Luftmangel heraus wieder voneinander lösen, ziehe ich einen Schmollmund - atmen wird doch eindeutig überbewertet. „Gemein.“ Hauche ich nur sanft gegen seine Lippen, was Kamijo leise lachen lässt. „Willst du wirklich den Rest des Tages auf dem Sofa verbringen?“ Manchmal ist der Mann zu blond als dass gut für ihn wäre und ich muss seufzen, bevor ich ihn wieder eng an mich ziehe um ihm in den Hals beißen zu können. „Ja…Ich hab nichts Besseres vor.“ Damit habe ich erneut zugebissen und lausche zufrieden seinem Stöhnen - außerdem ist unser letzter Sex sowieso schon ein paar Wochen her, also was will er sich denn überhaupt beschweren? Nur weil ich emotional und psychisch gesehen nicht stabil bin, heißt das nicht, dass ich nicht weiß was ich will und während ich ihn erneut verlangend küsse, vergrabe ich meine Fingernägel in seinen Schultern - sollte er immer noch der Meinung sein dass es besser wäre, aufzuhören, wird er mit einem zerkratzten Rücken leben müssen. Kapitel 2: Fall --------------- Fünf Jahre Zuvor Summend streiche ich mir eine blaue Haarsträhne aus der Stirn, bevor ich zu unserer Bassistin sehe - zur Feier des Tages hat sie ihre Haare komplett weiß gebleicht und mit einer gefühlten Tonne Haarspray zu Spikes gedreht, dass ich mir sicher bin, sie würde diese gut als Mordwaffe einsetzen können. Wenn sie denn wollen würde. Und das wird wohl von der Stimmung des Publikums abhängen…Ich muss grinsen, während ich mir eine Zigarette anzünde und den Rauch in den Nachthimmel blase - es ist frisch draußen, aber noch nicht kalt und hier ist es wenigstens ruhiger als in dem Club in dem wir in knapp zehn Minuten auftreten werden. „Hey, Lilith.“ Fragend sehe ich zu unserem Drummer, bevor ich ihm wortlos eine Zigarette und mein Feuerzeug überreiche und er grinst mich nur unschuldig an, während er sich seine Beute anzündet und ich muss seufzen. „Wann lernst du endlich dass du nicht ständig hübsche Mädchen anschnorren kannst?“ Er jedoch lacht nur und zuckt mit den Schultern, während er sich an die Backsteinmauer neben mir lehnt und mit den Augenbrauen wippt. „Aber es funktioniert doch.“ „Wenn das deine Auffassung von hübsch ist, müssen wir uns echt unterhalten…“ Damit hat unsere Bassistin ihre Aufmerksamkeit ihrem Freund gewidmet und ich muss lachen, während ich mir eine der blauen Locken um den Finger wickle und zwischen den Beiden hin und her sehe. „Aw, kein Grund zu streiten ihr seid immer noch das niedlichste Paar das ich kenne.“ Was sogar stimmt - obwohl die Beiden sich fast schon zu häufig streiten, halten sie auch zusammen wie Pech und Schwefel - und schaffen es meist sogar, Privatleben und Bandleben voneinander zu trennen ohne Probleme. „Siehst du Baby…“ Er grinst nur wieder unschuldig, woraufhin sie ihm den Mittelfinger zeigt, allerdings nicht ohne ein grinsendes „Go to Hell.“, hinzu zu fügen, dem er sofort nach kommt - indem er sie an der Hüfte packt und an sich zieht um sie küssen zu können, während ich mich elegant aus dem Weg drehe. Vielleicht war das auch einer der Gründe für die Wahl ihres Namens in der Band - Hell. Wobei ihr Freund nicht besser ist, nur dass sein Name noch weniger kreativ war als ihrer - Purgatory. Eigentlich wollte er sich zuerst ja Michael nennen, wie der Erzengel, aber die Idee wurde ihm zum Glück ausgetrieben, denn ich glaube, dann hätte ich ihn auf der Bühne niemals ernst nehmen können. Er sieht nämlich so gar nicht aus wie ein Engel - mit seinen dunkelroten, kinnlangen Haaren und dem Sidecut - eher wie ein kleiner Junge der versucht auf Badbody zu machen. Was irgendwie ja auch stimmt, immerhin ist er erst neunzehn…So in Gedanken versunken zucke ich leicht zusammen als plötzlich unser Gitarrist neben mir steht und ich schlage ihm sanft gegen den Arm, bevor ich meine aufgerauchte Zigarette im Aschenbecher vor mir ausdrücke. „Wenn du schnorren willst, kommst du zu spät.“ Er jedoch schnaubt nur und schüttelt den Kopf, bevor er die Arme vor der Brust verschränkt. „Wollte nur wissen, was euch so lang aufhält.“ Ich muss lachen und zupfe neckisch an seinen langen, schwarzen Haaren, bevor ich die Arme um ihn lege und zu ihm aufsehen muss. „Ach das Übliche…“ Er hebt eine Augenbraue, während wir uns für einige Sekunden einfach nur anstarren - mit den schwarz umrandeten Augen und den geschlitzten, roten Kontaktlinsen wirkt er fast gefährlich und ich muss schlucken - für gewöhnlich kommen wir uns nicht so nahe, obwohl uns jeder aufzieht, dass wir das perfekte Paar wären. „Jo, Luzifer, irgendwann solltet ihr euch auch mal richtig küssen, weißt du?“ Schnaubend wende ich den Blick ab - ja, Hell hat den Moment perfekt zerstört und ich verschwinde wortlos zurück in die Halle um noch einen großen Schluck zu trinken, während unser Gitarrist mir nachsieht und leise fluchend die Augen verdreht. „Dass du nicht ein Mal deine große Klappe halten kannst!“ Hell zuckt nur unbeeindruckt mit den Schultern bevor sie mir in die Halle folgt und die Jungs allein zurück lässt. Keine fünf Minuten später ist das alles vergessen als wir die Bühne betreten und ich mir grinsend das Mikrofon schnappe, die Reaktionen des Publikums tief in mich aufnehmend. Das wird unsere Nacht auch wenn wir kaum genug Geld damit verdienen um die Studiomiete bezahlen zu können, wir machen das aus Spaß. Und um die Leute zu schockieren. „I Hope you are ready for End of Existenz - Welcome to the Afterlife.“ Ich lächle sanft, während ich diese Worte fast ins Mikrofon hauche - niemand würde auf die Idee kommen, dass ich in der Lage bin, männlichen Death Metal Sängern Konkurrenz zu machen. Niemand - bis auf meine Band - und im nächsten Moment habe ich die Aufmerksamkeit aller männlichen Zuschauer sicher - ich habe lange geübt um so gut zu sein und einen ordentlichen Deathgrowl hinzubekommen. Und das zahlt sich jetzt aus. Das Ende unseres Auftritts kommt viel zu schnell - ich bin immer noch berauscht davon, wie viel Jubel wir wirklich bekommen haben dieses Mal - es war um einiges mehr als sonst und ja, vielleicht hat Hell auch Recht - dass wir uns einfach nicht mehr ermutigen lassen sollen, selbst wenn niemand für unseren Auftritt kommt. Immerhin schaffen wir es auch so, Köpfe zu verdrehen und Aufmerksamkeit zu bekommen und lachend lehne ich mich mehr an Luzifer, bevor wir mit Bier anstoßen - wir haben uns an einen kleinen Tisch in der Ecke zurück gezogen um zu feiern. Auch wenn die Luft im Club stickig ist und man kaum ein Wort verstehen kann - es ist egal, wir sind glücklich und das kann uns keiner nehmen. Auch wenn wir die Instrumente zurück ins Studio bringen müssen - das hat alles Zeit bis morgen. Heute kann uns nichts mehr passieren oder irgendwer uns etwas anhaben. Das Bier fließt in Strömen, wir lachen über eigentlich alles und irgendwann kommt es wie es kommen muss und ich versinke mit Luzifer in einem heißen Zungenkuss. Weder er noch ich sind zu dem Zeitpunkt auch nur irgendwie in der Lage zu verstehen, was wir hier tun und dass wir die Band gefährden könnten und Hell sowie Purgatory sind keine große Hilfe weil sie uns eher noch anfeuern. Den Rest des Abends oder besser der Nacht verbringen wir damit hemmungslos zu knutschen und als ich am nächsten Tag die Augen wieder aufschlage, liegen wir nackt zusammen im Bett und ich möchte meinen Kopf gegen die Wand schlagen. Vielleicht würden die Schmerzen dann auch aufhören? Ich kann mich an nichts mehr erinnern, aber dass wir beide nackt sind und mir der ganze Körper weh tut, reicht mir als Beweis dass da mehr war, als es sollte. Irgendwie schaffe ich es sogar ins Bad, wo ich mich fast sofort herzhaft übergeben muss. Was habe ich nur getan? Ich hatte mir immer geschworen, Bandleben und Privatleben zu trennen, mich nicht in den Strudel hinein ziehen zu lassen und das zu vermischen und jetzt weiß ich nicht mal wie es weiter gehen soll. Vermutlich bleibt mir sowieso keine andere Wahl als zu warten - und dann das Beste aus der Situation zu machen. Wenn ich mich nur erinnern könnte, wie wir nach hause gekommen sind… Eine Schmerztablette und gefühlt drei Liter Wasser später fühle ich mich zumindest in der Lage, die Kaffeemaschine an zu machen und duschen zu gehen - wo mich der nächste Schock erwartet. Mein Körper ist über und über mit Knutschflecken bedeckt - kein Wunder, dass mir alles weh tut. Nur zu gerne würde ich jetzt im Erdboden versinken - das darf einfach alles nicht wahr sein! Nachdem ich meine und seine Klamotten vom Boden gesammelt und in die Waschmaschine geworfen habe, vergrabe ich mich in einem meiner oversized Bandhoodies und mache es mir mit meiner großen Kaffeetasse auf dem Balkon bequem, wo ich zuerst seufzend in meine Tasse puste und dann leise fluchend gegen das Geländer schlage. Ich weiß doch nicht mal, wie ich mich ihm gegenüber jetzt verhalten soll - ich weiß, dass ich ihn nicht liebe. Aber ob es ihm genug ist zu hören dass ich mich habe mit reißen lassen? Was wenn er die Band auseinander reißt, nur wegen Sex? Einem dummen One-Night-Stand? Ein leises Schluchzen verlässt meine Lippen und bevor ich mich versehe, weine ich in meinen Kaffee und es gibt nichts, dass ich dagegen tun kann. Ich liebe meine Band - es war immer mein Traum, Musik zu machen und ich singe seit ich ein kleines Mädchen bin, aber bisher hatte mir nie jemand eine Chance gegeben. Immer wieder wurde mir gesagt, dass es Schwachsinn ist, dass Sängerinnen es nicht weit bringen in der Musikbranche, dass ich aufgeben soll. Und dass Death Metal keine Musikrichtung für ein Mädchen ist, dass ich mir eine nette Gruppe suchen sollen um Popmusik zu machen - und mir dann einen netten Mann zu suchen, der sich um mich kümmert für den Rest meines Lebens, den ich glücklich mache, indem ich die perfekte Hausfrau bin und Kinder auf die Welt bringe…Ein Schrei verlässt meine Lippen - ich weiß dass ich meine Nachbarn verstöre, aber ich kann nicht anders, weil es sich anfühlt als würde ich sonst ersticken. Eine Hand auf meiner Schulter lässt mich nur leicht zusammen zucken aber ich weine bereits zu sehr um mich noch darum zu kümmern ob jemand meine Tür eingetreten hat oder nicht. Als ich meinen Namen höre, schüttele ich nur den Kopf und muss im nächsten Moment meine Kaffeetasse los lassen, welche mir mit sanfter Gewalt abgenommen und auf den kleinen Tisch neben mir gestellt wird, bevor ich an jemanden gezogen werde und schluchzend das Gesicht an der Brust meines Gitarristen vergrabe. Es dauert Minuten bis ich wieder so weit ruhig bin, dass ich ihm nach drinnen und in die Küche folgen kann, wo ich mich gerade noch so davon abhalte, erneut auf etwas ein zu schlagen. „Hey, Lil…“ Müde schüttle ich den Kopf, bevor ich ihn einfach nur stumm ansehe - er sieht aus wie ich mich fühle. Komplett beschissen und übermüdet, aber weniger zerbissen. Und ich habe den Bonus dass ich zumindest Schmerzmittel geschluckt habe. „Ich bin nicht in Stimmung, Akira.“ „Ich weiß.“ Dabei klingt er so traurig, dass es mir das Herz zerreißt - verdammt, ich hatte Recht. Die nächsten Minuten stehen wir uns einfach nur schweigend gegenüber, bis ich ihm zumindest Klamotten von mir leihe, dass er nicht nur in Shorts herum stehen muss, bis die Waschmaschine fertig ist und danach beschließen wir einstimmig, zu Starbucks zu gehen und uns dort Kaffee zu holen. Er zahlt und wir reden, während ich bereits Hells Stimme im Kopf habe, die mir einzureden versucht, dass ich ihm eine Chance geben sollte. Dass es gar nicht so schlimm werden wird, mit zwei Paaren in der Band. Dass das Leben immerhin weiter geht und dass ich mir Stress um nichts mache, wie immer eigentlich. Im Endeffekt hat er mir Zeit eingeräumt in der ich versuchen soll mir klar zu werden was ich will, bevor wir uns in irgendetwas verrennen und zu müde um zu protestieren, kann ich nur zustimmen. Wir verbringen den restlichen Tag noch miteinander, bis er Abends in seinen frisch gewaschenen Klamotten geht - als wir uns verabschieden, sieht er aus wie ein kleiner Junge, dessen Welpe überfahren wurde und trotzdem schaffe ich es, standhaft zu bleiben und nicht nach zu geben, immerhin wären das keine echten Gefühle gewesen, sondern nur Mitleid. Und er verdient doch etwas mehr als das. „Lass dir von Ayumi bitte nichts einreden, was du nicht willst, ja?“ Ich nicke nur stumm, während ich gegen den Kloß in meinem Hals ankämpfe - wenn er nur wüsste, dass sie längst in meinem Kopf ist! „Und von Kai auch nicht…“ Damit hat er mich kurz umarmt und ich nicke erneut, während ich die Umarmung schwach erwidere und zulasse, dass er mir noch einen Kuss auf die Lippen drückt. Wenn er nur wüsste, dass meine Gedanken sich längst im Kreis drehen, ich es nicht stoppen kann und die Tatsache dass ich die Nacht allein verbringen werde es nur noch schlimmer machen wird, aber ich schaffe es nicht etwas zu sagen, ihn anzuflehen, zu bleiben, weil ich ihm keine falschen Hoffnungen machen will und kaum dass die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss fällt, sinke ich auf die Knie und fange erneut an zu weinen. Wieso muss es so weh tun? Und wieso habe ich das Gefühl, dass ich alles zu verlieren beginne und alles unter meinen Fingern zerbricht wie Glas? Als wäre mein ganzes Leben bisher nichts weiter gewesen als nur eine Ansammlung von Schneekugeln, die jetzt zerfallen und nicht mehr zusammen zu setzen sind. Wie soll das nur weiterhin funktionieren können? Irgendwann hab ich mich ausgeweint und stehe schwankend auf - ich werde nicht hier bleiben, es fühlt sich jetzt schon an, als ob die Wände näher und näher kommen und mich erdrücken. Umgezogen und geschminkt fühle ich mich schon viel besser - vor allem weil ich mich so im Spiegel nicht mehr erkenne. Und wenn ich nicht ich bin, dann muss ich keine Verantwortung dafür übernehmen was passiert. Auch wenn die zerrissene Jeans eine scheiß Idee war wie ich merke als ich auf die Straße trete und unter einem kühlen Windhauch erschaudere - wozu gibt es denn Alkohol? Der wird schon dafür sorgen, dass mir warm wird. Zwar streife ich mehr oder weniger unentschlossen durch die Stadt, allerdings bleibe ich an einer kleinen Untergrundkneipe hängen - ich kann mich nicht erinnern, schon mal hier gewesen zu sein - was perfekt ist, denn so ist die Chance sehr gering, dass ich jemanden treffen könnte den ich kenne und während ich mich schließlich auf einen Stuhl an der Bar nieder lasse, muss ich grinsen. Es ist das Unvernünftigste was ich tun könnte - vor meinen Problemen davon rennen - aber es funktioniert. Zwei Drinks später bemerke ich sogar die Musik im Hintergrund - sie kommt mir bekannt vor, aber ich komme nicht auf den Sänger, weswegen ich schließlich nur seufzend meine Zigaretten aus der Tasche ziehe und das Päckchen vor mir auf dem Tresen hin und her schiebe, unentschlossen. Ich sollte eigentlich überhaupt nicht rauchen, meine Stimme klingt schon kaputt genug, aber mir ist so nach einer Zigarette. Trotzdem, es war heute schon anstrengend genug zu reden…Leicht runzle ich die Stirn, bevor ich die Packung etwas zu energisch anstupse und sie damit direkt gegen das Glas meines Nebenmannes schiebe, woraufhin wir wohl beide etwas erschrocken schauen, bevor ich lachen muss. Ups. „Tut mir leid…“ Verlegen ziehe ich die Schachtel zu mir zurück, er hingegen schenkt mir nur ein Grinsen, während er leicht mit den Augenbrauen wippt. „Versteh schon, es ist schwer aufzuhören, was?“ Ich nicke nur und würde am Liebsten im Erdboden versinken - na ja so kann man wohl auch neue Bekanntschaften schließen. „Was hältst du davon wenn ich dir einen Drink ausgebe und wir es uns etwas bequemer machen?“ Kurz überlege ich, bevor ich mit den Schultern zucke - ich habe sowieso nichts zu verlieren. Geschweige denn, dass ich die Nacht irgendetwas vor hatte und in Gesellschaft zu trinken ist doch um einiges besser als das allein zu tun. Und vielleicht verschwinden dann endlich die Gedanken in meinem Kopf, die mir einreden wollen, dass die Band zum Scheitern verurteilt ist. Mit unseren Getränken machen wir es uns an einem kleinen Tisch in der Ecke bequem und ich nippe langsam an meinem Tequila Sunrise, bevor ich mich wieder auf mein Gegenüber konzentriere. „Wie kommt es dass so eine hübsche Frau allein versucht sich zu betrinken?“ Ich muss grinsen bei seinen Worten - mit den langen, roten Haaren könnte man ihn selbst gut für eine Frau halten, wenn ihm nicht die weiblichen Rundungen fehlen würden und ich zucke nur mit den Schultern, bevor ich den Kopf leicht schief lege. „Wer sagt, dass ich allein bin?“ Er zögert kurz, lässt den Blick schweifen - viel zu offensichtlich - und konzentriert sich dann wieder auf mich, während ich schon längst kichern muss - egal wer er ist, er scheint eine passende Gesellschaft zu sein für den Abend. „Deine Augen. Sie wirken so traurig und einsam.“ Lachend nehme ich noch einen Schluck von meinem Cocktail, tätschele ihm den Arm. „Gewonnen.“ Womit ich nicht gerechnet habe ist dass er meine Hand von seinem Arm nimmt um mir einen Handkuss zu geben, woraufhin ich nur fragend beide Augenbrauen hebe. „Auf einen schönen Abend, Mylady. Nenn mich Machi.“ Kapitel 3: Hover ---------------- Je länger ich mit Machi rede, desto besser gefällt er mir. Vor allem als er erzählt, dass er selbst Drummer in einer Band ist - auch wenn es eine ganz andere Musikrichtung ist. Irgendwann im Morgengrauen verlassen wir zusammen die Bar nachdem wir stundenlang geredet und getrunken haben. Der Weg zu seiner Wohnung ist nicht lang und irgendwie erscheint es mir auch vollkommen logisch mit ihm zu gehen - zuhause bei mir würde ich es nicht aushalten. Auf den Gedanken, dass er mir irgendetwas antun könnte, komme ich gar nicht - was zum Glück allerdings auch nicht der Fall ist. Eher im Gegenteil noch, als er mich auffängt, nachdem ich beim Schuhe ausziehen fast umgefallen wäre. Trotz meiner Proteste trägt er mich zu seinem Sofa und für einen kurzen Moment sehen wir uns einfach nur tief in die Augen, bevor er mich absetzt, sich abwendet und in die Küche verschwindet um uns eine große Flasche Wasser zu holen. Ich blinzle irritiert, bevor ich lachen muss und als er sich neben mich setzt, lege ich den Kopf auf seine Schulter und gähne leise auf. „Du hast mir so viel von deiner Band erzählt…Du musst doch Musik von euch haben oder nicht?“ Er grinst nur, bevor er mir die Flasche in die Hand drückt und ich murre leise als er aufsteht um die Musikanlage anzuschalten, welche mir bisher völlig entgangen ist, obwohl sie direkt gegenüber dem Sofa steht - aber vermutlich bin ich zu müde um meine Umgebung noch groß wahr zu nehmen. „Dafür musst du mir was von euch zeigen.“ Ich zucke nur mit den Schultern, bevor ich nicke und gleich noch mal aufgähne - allerdings bin ich hellwach in dem Moment in dem er auf Play drückt. Auch wenn das nicht die Musik ist, die ich sonst so höre - die Stimme des Sängers zieht mich in seinen Bann und ich vergesse total, dass ich auf das Schlagzeug achten wollte. Als das Lied endet, reißt mich Machi zurück in die Realität in dem er wirklich auf Stopp drückt und ich starre ihn einfach nur mit großen Augen an, während er lachen muss. „Ich hab das Gefühl, dass ich den Moment genießen sollte in dem ich dich sprachlos gemacht habe.“ Statt zu antworten, zeige ich ihm meinen Mittelfinger was ihn nur noch mehr lachen lässt und während er so nett ist und noch mal auf Play drückt, nehme ich einen großen Schluck Wasser. Im Endeffekt hat er mir die ganze CD vorgespielt und ich bin immer noch fasziniert von seinem Sänger - vielleicht weil es so ein großer Unterschied ist zu dem was ich singe…“Wenn du was von uns hören willst, musst du auf ein Live kommen.“, stellte ich schließlich grinsend fest, befinde mich im nächsten Moment allerdings schon mit dem Rücken auf dem Sofa und muss lachen als er sich über mich beugt. „Vielleicht bringe ich dich auch einfach jetzt zum singen.“ Damit hat er mich geküsst und ich muss innerlich grinsen - das ist die beste Umschreibung für Sex die ich heute gehört habe. Eine Woche vergeht in der wir uns regelmäßig sehen, ohne jedoch zu benennen, was zwischen uns läuft und ich weiß dass ich Luzifer damit verletze, aber ich schaffe es einfach nicht mich der Verantwortung zu stellen - weswegen die Bandproben wohl für ihn und mich eine doppelte Qual sind. Dabei wäre es so einfach, Nein zu sagen. Ihm die Wahrheit zu sagen, dass die Band an erster Stelle steht und Beziehungen mit anderen Musikern sicherer sind. Doch das bringe ich in seiner Gegenwart einfach nicht über die Lippen. Zwar versucht Hell mich darauf anzusprechen, aber auch ihr weiche ich so lange aus, bis sie die Geduld verliert. Zwei weitere Wochen später habe ich immer noch keine Lösung gefunden wie ich mit der Situation innerhalb der Band umgehen soll - aber ich habe Hoffnung dass es sich einfach so klären wird, je länger ich es ignoriere. Dass das Problem dadurch noch schlimmer werden könnte, verdränge ich gekonnt und lade Machi zu unserem nächsten Live ein - er verspricht sogar seinen Sänger mit zu bringen, woraufhin ich nur die Augen verdrehen kann. Mittlerweile hat er mir Bilder gezeigt und ich bin mir nicht sicher ob ich einen Mann kennen lernen will der zum einen singt wie ein Engel und zum anderen auch noch längere Haare hat als ich. Und dann auch noch blonde Locken…Das kann doch gar nicht gut gehen! Allerdings wäre es sicherlich auch interessant, seine Reaktion auf eins unserer Konzerte live mit zu bekommen, weswegen ich schlussendlich doch beginne mich auf den Abend zu freuen. Was ich nicht bedenke ist, wie das alles auf meine Band wirken muss und als ich ihnen davon erzähle, sind sie aufgebrachter als ich erwartet habe. „Aber sonst gehts dir gut?“ Ich zucke nur mit den Schultern, während ich mit dem Lockenstab eine neue Haarsträhne eindrehe und seufzen muss. „Darf ich jetzt nicht mal mehr Freunde zu nem Live einladen?“ Hell funkelt mich nur düster an, während sie wirkt als ob sie überlegt mich mit der Bürste zu schlagen, was ich nur zu gerne gesehen hätte. Immerhin ist sie doch einen ganzen Kopf kleiner als ich…“Darum gehts nicht verdammt, aber wieso lädst du deinen Freund ein, wenn du das mit Luzifer nicht mal geklärt bekommst?“ Fast lasse ich den heißen Lockenstab fallen bei ihren Worten, bevor ich mich ungläubig zu ihr umdrehe - nach wie vor unsicher ob ich überhaupt richtig gehört habe. „Wir sind nicht zusammen! Und selbst wenn wäre es doch völlig egal…Verfluchte Scheiße wieso glaubst du eigentlich dass das mit zwei Paaren in der Band funktioniert?! Ich liebe weder Akira noch Machi - ich versuche das hier ernst zu nehmen und mich auf meine Karriere zu konzentrieren und wenn du mich nicht unterstützen kannst oder willst, steht es dir frei zu gehen!“ Für einen Moment starren wir uns einfach nur an, bevor ich den Lockenstab zur Seite lege und mit einem heiseren Aufschluchzen den Raum verlasse. Wieso muss das auch so wahnsinnig weh tun und wieso muss ich so ein Idiot sein? Während ich mir mit zitternden Fingern eine Zigarette auf der Dachterrasse anzünde, verfluche ich mich nur erneut - natürlich weiß ich, dass Hell Recht hat. Und dass es absolut nicht nett von mir ist, unseren Gitarristen so zappeln zu lassen, vor allem nicht, nachdem er mir auch noch die Wahl gegeben hat. Vermutlich bin ich wirklich so schrecklich und ein grauenvoller Mensch, genau wie mein Vater immer sagte. Unfähig, Liebe zu empfinden, aber jeden Tropfen Liebe von Anderen aufsaugend um mich für meine erbärmlichen Existenz zu rechtfertigen…Ich muss erneut aufschluchzen, während mir heiße Tränen über die Wangen laufen, vielleicht sollte ich doch darüber nachdenken es einfach alles zu beenden. Aber wie auf Kommando höre ich die Stimme meines besten Freundes in meinem Kopf und sinke zitternd auf die Knie. Ich habe jetzt schon so lange durch gehalten. So viel ertragen ohne aufzugeben, wieso sollte ich mich dann von so einer Kleinigkeit fertig machen lassen? „Es tut mir so leid.“ Auch wenn ich weiß, dass mich niemand hören wird, weil ich allein hier oben bin, fühlt es sich besser an diese Worte auch wirklich auszusprechen. Damals konnte ich es nicht und war zu spät - jetzt habe ich zumindest die Chance es wieder gut zu machen. Als ich schließlich in den Raum zurück kehre in dem wir uns fertig machen, wartet Luzifer bereits auf mich und ich schließe ihn nur stumm in die Arme um ihn eng an mich zu drücken. „Es gibt einfach kein Happy End für Lilith und Luzifer…“ Während ich ihn noch enger an mich drücke, versuche ich nicht schon wieder in Tränen auszubrechen, was sich als Ding der Unmöglichkeit erweist. Wieso tut es so weh etwas auszusprechen von dem man von Anfang an wusste, dass es zum Scheitern verurteilt ist? „Das Problem an Luzifer und Lilith ist, dass sie in der Hölle leben, wo es keine Liebe gibt, nur Lust.“ Bei seinen Worten muss ich aufschluchzen und schnappe nach Luft - es fühlt sich an als würde er mir eine Klinge ins Herz rammen, dabei entspricht es nur der Wahrheit. „Ich werde dich immer lieben, Lilith. Aber ich will deinem Glück nicht im Weg stehen.“ Damit hat er mich auf die Stirn geküsst und muss mich festhalten, weil ich so sehr anfange zu zittern, dass meine Beine nachgeben und mich nicht mehr tragen wollen. Habe ich jemals so heftig geweint? Ich erinnere mich nicht mehr, aber er lässt mich nicht los, sondern beginnt mir beruhigend übers Haar zu streicheln, während er eine leise Melodie summt und irgendwann habe ich mich an seiner Brust ausgeweint und sehe nur müde zu ihm auf. „Wie kannst du mich in deiner Nähe ertragen, Akira?“ Er zuckt nur mit den Schultern, bevor er lacht und mir sanft über die Wange streichelt. „Liebe geht seltsame Wege. Außerdem wäre ich ein schrecklicher Freund wenn ich dich dumme Entscheidungen treffen lasse und dann nicht da wäre um dich aufzufangen.“ Als es an der Tür klopft, sehen wir beide auf und als Hell uns fragend ansieht, winke ich nur müde ab. Danach machen wir uns in Ruhe fertig, ich entschuldige mich bei ihr und als wir auf die Bühne gehen, fühle ich mich zumindest ein kleines bisschen besser. Zumindest bis mein Blick auf Machi fällt und ich wieder an das denken muss, was mir Hell an den Kopf geworfen hat. Dabei sind wir doch kein Paar, oder? So in Gedanken versunken verpasse ich meinen Einsatz, woraufhin Luzifer die Chance nutzt um ein beeindruckendes Solo hin zu legen, bis ich es schaffe, einen Punkt zu finden an dem ich ansetzen kann. Innerlich muss ich meinem Gitarristen danken - er hat Recht, er ist wirklich ein guter Freund. Sonst hätte er mir wohl nicht den Arsch gerettet. Ich bedanke mich bei ihm, indem ich einen Arm um seine Schultern lege und ihm das Mikrofon vor halte. Ein Kuss auf seine Wange folgt, bevor ich zu Hell wandere und Rücken an Rücken mit ihr weiter singe, Purgatory darf ebenfalls in mein Mikrofon grölen, bevor wir in synchrones Headbangen verfallen. Nach dem wir die Bühne verlassen haben, bin ich so müde, dass ich für einen Moment überlege, einfach alles zu ignorieren und nach hause zu gehen, aber so weit kommt es gar nicht, weil Machi mich Backstage erwartet und lachend in die Arme schließt. „Wow. Hätte nicht gedacht dass ein so hübsches Mädchen so böse Worte kennt…“ Jetzt muss ich ebenfalls lachen und ohne nachzudenken drücke ich ihm einen Kuss auf die Lippen, bevor ich mich zu seinem Ohr beuge. „Oh, ich kenne noch einige mehr, aber dafür müssten wir unter uns sein…“ Als er mir in den Hintern kneift, muss ich kichern und ich bedeute ihm, kurz zu warten, während ich mich mit der Band zurück ziehe, dass wir uns zumindest etwas frisch machen können. Mit einem leisen Laut lasse ich mich neben Machi auf die Bank fallen, während ich seiner Begleitung zu nicke und versuche ihn nicht zu auffällig zu mustern. Das ist also sein geheimnisvoller Sänger mit der engelsgleichen Stimme…“Hi, ich bin Kamijo, aber du darfst mich Schoki nennen.“, zwinkert dieser mir zu und ich hebe beide Augenbrauen - also das habe ich nicht erwartet. „So süß wirkst du auf mich gar nicht.“ Er zuckt nicht mal, während der Rest meiner Band skeptisch zwischen uns hin und her sieht - offenbar haben sie Angst, dass das noch hässlich werden wird, wenngleich ich gar nicht verstehen kann, wieso. Immerhin habe ich noch keinen Alkohol getrunken…“Vielleicht änderst du deine Meinung ja, wenn du an mir lutscht?“ Kurz lege ich den Kopf schief, bevor ich einen großen Schluck von Machi’s Bier nehme - also wenn da jemand nicht von sich überzeugt ist. „Tut mir leid, ich bevorzuge es, meine Schokolade zu kauen und nicht zu lutschen.“ Damit habe ich dem Sänger die Zunge heraus gestreckt und Machi legt lachend einen Arm um mich, während ich sein Bier trinke - vielleicht sollte ich doch weniger rauchen, meine Kehle schmerzt grauenvoll. „Such dir ne eigene Freundin, Kamijo.“ Dieser schmollt, deutlich unbegeistert, bevor er ein leises „Hab ich.“, erwidert. Ich muss nur noch mehr grinsen, während ich mich zu ihm beuge, dass ich ihm tief in die Augen sehen kann. „Deine Hand zählt dabei nicht.“ Trotz allen Anfangsschwierigkeiten verstehe ich mich gut mit Kamijo und lasse Machi irgendwann sogar das Bier selbst trinken, dass er ständig bestellt - davor habe ich ihm locker vier Gläser leer getrunken und fühle mich langsam doch leicht beschwipst. Aber wenigstens hat mein Hals aufgehört zu schmerzen und gähnend lasse ich den Kopf auf Machi’s Schulter fallen - Hell und Purgatory haben sich bereits verabschiedet, vermutlich um die Nacht anderweitig zu nutzen und eigentlich sollte die ganze Situation sich seltsam anfühlen - Luzifer habe ich vorhin das Herz gebrochen, mit Machi habe ich heute bereits des Öfteren geknutscht und Kamijo…Hat irgendetwas an sich, dass mich neugierig macht - von seiner Stimme abgesehen welche mich magisch anzieht - aber dank dem Alkohol denke ich mir nicht viel dabei. Für einen Moment schweifen meine Gedanken ab und ich muss kichern - selbst für einen Porno wäre der Plot doch sicherlich zu schwach, oder? „Sagt mal, wann habt ihr eigentlich euer nächstes Konzert?“ Fragend sehe ich zwischen Machi und Kamijo hin und her, wobei der Sänger nur eine Augenbraue hebt. „Du würdest vorbei kommen wollen?“ Unbeeindruckt zucke ich nur mit den Schultern, bevor ich mich leicht strecke und schließlich eine blaue Haarsträhne hinters Ohr stecke. „Klar. Spricht was dagegen? Du hast mich doch auch auf der Bühne gesehen.“ Jetzt grinst er - und mein Herz macht einen Hüpfer. Was war dass denn? „Ich schreie unser Publikum für gewöhnlich nicht an, aber ok. Machi kann dich dann ja mitnehmen.“ Schmunzelnd strecke ihm die Zunge heraus und kann gar nicht anders als zu lachen - na das wird dann sicherlich ein mehr als interessanter Abend werden. „Idiot.“ Er grinst daraufhin nur noch breiter und erneut spüre ich mein Herz einen Hüpfer machen - versuche das allerdings zu ignorieren und nehme noch einen großen Schluck von meinem Bier. Das hat sicherlich nichts zu bedeuten - immerhin, er ist doch gar nicht mein Typ. Und die langen, blonden Locken sind viel zu irritierend…Nein, da gibt es nichts weiter darüber nachzudenken, ich bin sicherlich einfach nur sehr verwirrt oder zu betrunken oder zu müde. „Dürfen wir dann mit kommen oder verschrecken wir dann die Fans?“ Luzifer grinst unschuldig und ich muss lachen, nun, wir würden sicherlich hübsch aus der Masse heraus stechen. Vor allem komplett aufgestylt - mit schwarzem Make-up…Machi zuckt mit den Schultern und Kamijo legt den Kopf fragend schief, bevor er ebenfalls mit den Schultern zuckt. „Ihr könnt ruhig mit kommen. Dann können wir euch den Rest der Band vorstellen und vielleicht öfters zusammen trinken gehen.“ „Klingt super.“ Mehr Alkohol ist eine der besten Ideen die ich heute gehört habe und selbst wenn ich mich in die Bewusstlosigkeit trinken sollte - dann muss ich wenigstens nicht mehr darüber nachdenken, wie sehr ich mich darauf freue, Kamijo live singen zu hören. Auf der Bühne. Immerhin ist es immer so eine Sache ob man jemanden auf CD hört oder nicht…Kurz beiße ich mir auf die Lippen, bevor ich aufgestanden und an die Bar verschwunden bin - ich brauche eindeutig etwas stärkeres als Bier. Weit komme ich jedoch nicht, als sich ein Arm um meine Hüfte legt und als ich aufsehe, grinst mich Machi an und raunt mir ein „Wir sollten gehen.“ Ins Ohr. Einen kurzen Moment bin ich sprachlos, bevor ich mit den Schultern zucke - eigentlich wäre mir wirklich noch nach mehr Alkohol aber eventuell hat Machi Recht und es wäre nicht gut, wenn ich noch mehr trinke, zumindest fühle ich mich jetzt schon etwas beschwipst - wieso merkt man so etwas nicht wenn man ruhig sitzt? „Ok…Lässt du Kamijo wirklich auf der Rechnung sitzen?“ Er lacht nur und ich lasse mich schließlich aus der Bar führen - erst draußen wird mir bewusst, dass ich mich nicht von Luzifer verabschiedet habe aber da schlägt mir die kalte, frische Luft auch schon hart ins Gesicht und ich stolpere fluchend nur noch mehr gegen Machi. Während wir zu seiner Wohnung laufen, verfluche ich meine Schuhe - auch wenn es keine Stöckelschuhe sind, betrunken auf Plateauschuhen zu laufen ist auch eine Kunst für sich…Trotz Machi als Stütze. Als wir endlich bei ihm angekommen sind, will ich einfach nur noch schlafen und gebe dementsprechend ein unbegeistertes Murren von mir, als Machi mir in den Hintern kneift. „Hey, Princess…“ Zumindest sind die Schuhe leichter auszuziehen, als gedacht und ich habe sie gerade quer durch den Flur gekickt, als Machi mich erneut an sich zieht um mich verlangend zu küssen und ich schlinge mit einem überraschten Laut die Arme um ihn, bevor er mich hoch hebt und ich die Beine um seine Hüfte lege, um besseren Halt zu haben. „Nur um sicher zu gehen…Wollen wir das offiziell machen?“ Ich lege den Kopf leicht schief, während ich beginne Kreise auf seinen Schultern zu malen und mich nur noch enger an ihn heran drücke. „Lass mich nachdenken…Hast du Angst, dass Kamijo mich dir weg schnappen könnte?“ Ich muss lachen und der ernste Ausdruck in seinen Augen entgeht mir völlig, allerdings nicht, dass er sich in meinem Hals verbeißt, wodurch mein Lachen in einem dunklen Stöhnen endet. Als er sich von mir löst, pocht mein Hals und ich muss den Kopf schütteln - Männer. Immer so besitzergreifend. „Ja…Lass uns das offiziell machen. Auf eurem Konzert.“ Damit habe ich ihn geküsst, bevor er protestieren kann und er trägt mich schließlich auch ins Schlafzimmer wo er sich mit mir aufs Bett fallen lässt - eins nach dem Anderen. Und auch wenn ich genau weiß, dass es nicht das ist, was Luzifer verdient, muss ich mich ablenken - nicht nur von ihm, sondern auch von Kamijo. Denn irgendetwas an diesem Mann ist eindeutig nicht gut für mich…Ich weiß nur noch nicht was. Aber das wird so schwer ja hoffentlich nicht heraus zu finden sein. Kapitel 4: Shards ----------------- Gegenwart Als ich die Augen wieder öffne, liege ich immer noch auf dem Sofa, aber allein. Kamijo hat mich gut zugedeckt und als ich die Ohren spitze, höre ich Geräusche aus der Küche und muss lächeln. Auch wenn ich keinen großen Hunger verspüre, allein zu wissen, dass Kamijo da ist und nicht einfach verschwunden ist, reicht aus, dass ich mich auf die Seite drehe und beginne noch etwas zu dösen. Zumindest bis er das Radio anschaltet und das erste was ich zu hören bekomme, mein alter Bandname ist. „Leider ist dass das letzte Album von „End of Existenz“ ... Sängerin Lilith kam durch einen tragischen Unfall auf ihrer „To Live is To Die“ Tour ums Leben. Weitere Aufnahmen existieren nicht und niemand weiß, was aus den restlichen Bandmitglieder wurde…“ Langsam setze ich mich auf und erschaudere leicht, auch wenn es nur Bruchstücke sind, Fetzen die zu mir durch dringen, reicht es doch, dass eine eiskalte Hand nach mir greift und droht mir die Luft abzuschnüren. Es scheint Jahrhunderte her zu sein, dabei sind es nur Jahre. Zwei Jahre…Ein ganzes Leben. „Misery - Smile On Me!“, wird das letzte Lied angekündigt, welches ich je geschrieben habe, dann bricht alles ab und ich muss schlucken, während das Blut in meinen Ohren zu rauschen beginnt. Mir wird schlecht und ich schlage mir die Hände vor den Mund um mich nicht an Ort und Stelle zu übergeben. In einem Punkt hatten sie Recht, ich bin damals gestorben. Und auch wieder nicht - zumindest war ich klinisch tot für einige Momente. Lange genug um es als Entschuldigung zu nutzen um von der Bildfläche zu verschwinden - das erste und einzige Mal dass ich das Geld meiner Familie genutzt hatte. Um das Krankenhaus zu bestechen, die Presse und die Polizei. Sängerin Lilith ist bei einem Verkehrsunfall gestorben. Ich hingegen…Erschaudernd schlinge ich die Arme um mich und werde im nächsten Moment in eine sanfte Umarmung gezogen, während Kamijo beruhigend auf mich einzureden versucht - aber es ist zu spät, denn ich kämpfe längst gegen die Erinnerungen, welche mich jedoch unbarmherzig einholen und mit sich ziehen und urplötzlich bin ich nicht mehr auf dem weichen Sofa, oder in Kamijos Armen, sondern zurück auf der Straße, hinterm Steuer unseres Tourvans. Der Regen schlägt gegen die Scheibe als wolle er sie zerstören und ich drehe zum wiederholten Mal am Radio um einen Sender zu finden, den ich ertragen kann. Wir sind alle müde, aber sollten in ungefähr einer Stunde in Nagoya ankommen, wo wir uns ausruhen können. Ich muss gähnen, während ich versuche etwas auf der Fahrbahn vor mir zu erkennen - Hell und Purgatory schlafen längst Arm in Arm auf dem Rücksitz, nur Luzifer leistet mir tapfer Gesellschaft auf dem Beifahrersitz und schafft es schließlich einen Radiosender zu finden, bei dem ich nicht das Bedürfnis bekomme, schreiend davon zu rennen. „Vielleicht solltest du auf dem nächsten Rastplatz raus fahren, bevor wir echt noch weg schwimmen…“ Ich schenke ihm kurz ein Grinsen, muss dann allerdings seufzen - so blöd ist der Vorschlag nicht. Eigentlich. „Da gibts nur ein Problem, wenn wir heute nicht mehr im Hotel auftauchen, stornieren die uns die Zimmer und du weißt, dass wir so schnell nichts anderes finden werden.“ Immerhin ist auch eine von den großen Bands in der Stadt - eine deren Namen ich vergessen habe, aber für die Fans von ganz Japan zusammen kommen um ihren Idolen zu folgen - Hotelzimmer sind also eher rar. Und ich bin es leid, im Tourvan zu schlafen, klar wissen wir so dass unsere Ausrüstung sicher ist, aber nichts schlägt einen wunderbaren Futon - oder ein Bett. „Das wird schon. Ich fahr doch eh schon nicht mehr als sechzig und bisher…“ Weiter komme ich gar nicht, weil plötzlich alles ganz schnell geht. Ich sehe noch die hellen Lichter auf mich zukommen und versuche auszuweichen - was jedoch nicht so funktioniert wie gedacht. Das entgegenkommende Auto schleudert mit genug Wucht gegen den Van, dass dieser komplett wegrutscht und sich überschlägt - ich kann nur noch schreien, während mir Glas und der Airbag entgegen kommen, danach wird alles schwarz. Als ich wieder zu mir komme, leuchtet mir ein Sanitäter in die Augen und fragt nach meinem Namen, welchen ich ihm mehr aus Reflex heraus nenne, bevor ich versuche eine Hand zu heben und merke dass ich festgeschnallt bin. Mein Kopf tut schrecklich weh, eine klebrige Flüssigkeit läuft mir übers Gesicht und ich hab grauenvolle Bauchschmerzen - stark genug dass ich aufschreien muss, als die Trage bewegt und in den Krankenwagen geschoben wird. Auf der Fahrt versuche ich die vielen Fragen zu beantworten die mir gestellt werden, was schwer ist, weil meine Gedanken nur noch um eines kreisen. Meine Band. Was ist mit meinen Freunden passiert? Wo sind sie? Die Sanitäter weichen mir aus und auch im Krankenhaus sind die Ärzte mehr um mein Wohlergehen besorgt und darum, die Herkunft meiner Schmerzen zu lokalisieren und erst nach und nach schaffe ich es wieder mich auf die Fragen zu konzentrieren die mir gestellt werden, eine absurder als die andere. Als ob ich mir Drogen würde leisten können… „Vermutlich wurde die Frage ihnen schon mehrfach gestellt, aber wir müssen sicher gehen - besteht die Möglichkeit, dass sie schwanger sind?“ Fassungslos starre ich mein Gegenüber an - bevor ich in Tränen ausbreche. „Ja…“ Das war noch einer der Gründe wieso ich nicht mehr im Tourvan schlafen wollte. Herausgefunden hatte ich es erst am Tag vorher, als ich mir endlich einen Schwangerschaftstest gekauft hatte um der ständigen Übelkeit auf den Grund zu gehen. Ich hatte es als Geheimnis bewahren und Machi nach Ende der Tour damit überraschen wollen…Eine erneute Welle des Schmerzes lässt mich zusammen zucken und schluchzend versuche ich den Blick zu heben - aber alles was ich sehen kann ist weiß - und das besorgte Gesicht eines Arztes über mir, bevor ich das Bewusstsein verliere. Endlose Schwärze scheint mich festhalten zu wollen und doch schaffe ich es irgendwann die Augen wieder zu öffnen - ich bin allein. In einem Krankenhauszimmer, einem weißen Bett in einem weißen Raum und mir wird schlecht. Ich weiß, dass ich nicht hier sein sollte, dass ich woanders gebraucht werde, aber in meinem Kopf verschwimmt alles, Worte und Bilder reihen sich an einander, welche keinen Sinn ergeben, Gesichter blitzen vor mir auf und verschwinden wieder in der Dunkelheit. Irgendwer ruft meinen Namen, panisch und dann wieder Stille, was ist nur passiert? Und wieso kann ich mich nicht erinnern? Die Instrumente an welche ich angeschlossen bin haben ihre rege Freude denn sie beginnen lauter und schneller zu piepsen, während ich nur immer panischer werde. Das Gefühl dass ich nicht hier sein sollte wird so stark, dass ich fast versucht bin, mir den Tropf aus dem Arm zu reißen und zu rennen, aber mein ganzer Körper fühlt sich so schwach an. So leicht, als wäre es gar nicht mein Körper und als hätte ich ihn nur geliehen…Als ich mühsam den Kopf drehe um nicht mehr die weiße Wand ansehen zu müssen, zucke ich zusammen als im Fenster eine Gestalt neben meinem Bett sichtbar wird - allerdings ist sie nach wenigen Sekunden verschwunden und ich blinzle verzweifelt, im Versuch herauszufinden ob das alles nur ein grauenvoller Traum ist. Aber die Regentropfen welche gegen das Fenster schlagen sind so laut, dass ich fast sofort weiß, dass ich wach bin, ohne es erklären zu können. Aber irgendetwas ist in diesem Regen passiert. Nur kann ich es nicht greifen, noch mich daran erinnern, es erscheint wichtig aber gleichzeitig auch so schrecklich dass es meinen Puls nur noch mehr in die Höhe treibt - als die Tür sich öffnet, zucke ich heftig zusammen und starre die Krankenschwester einfach nur mit großen Augen an - sie schaut mich vermutlich ebenso irritiert an. Aber noch bevor sie etwas sagen kann wird das Piepsen der Geräte noch lauter und hektischer und kurz darauf wird erneut alles schwarz um mich herum. Ich habe so viel verloren an diesem Tag. Meine Band, mein Baby und meinen Freund…Meine ganze Karriere lag in Scherben wegen einem Autofahrer der sich überschätzt hatte. Und meiner Sturheit nicht auf einem Rastplatz im Auto zu übernachten. Kamijos Stimme lässt mich heftig zusammen zucken und ich sehe ihn für einen Moment an als wäre er ein Alien, bevor die Tränen kommen und ich schluchzend das Gesicht an seiner Brust vergrabe. Obwohl so viel Zeit vergangen ist, tut es nach wie vor unglaublich weh. Nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus konnte ich es nicht über mich bringen, auch nur irgendwen zu sehen den ich kannte, weswegen ich mich zuhause eingeschlossen hatte. Ich hatte alle von mir gestoßen, besonders Machi. Ich hatte den Gedanken nicht ertragen, ihm gegenüber zu stehen, mit ihm zu reden, geschweige denn ihm zu erzählen, was passiert war. Mein Handy hatte den Unfall zwar überlebt, aber lag ausgeschaltet die ganze Zeit neben mir auf dem Boden - ich konnte nichts essen, nicht schlafen, ertrug weder Stille noch Geräusche. Aber getrunken hatte ich. Wasser. Bier. Whiskey. In unterschiedlichen Reihenfolgen, teils so viel, dass ich einfach ohnmächtig wurde. Wie ich diese Zeit überlebt habe, weiß ich bis heute nicht. Lilith war gestorben und genau so fühlte ich mich auch. Tot. Als ich all die Papiere im Krankenhaus unterzeichnet hatte, war ich nicht ich selbst, aber rückblickend war es das Beste, was ich hatte machen können. Meinen Tod vortäuschen und von der Bildfläche verschwinden…“Honey…Es ist alles gut. Du bist nicht allein, ja?“ Ich kann nur stumm nicken, während Kamijo mir einen Kuss auf die Stirn drückt. Alles erscheint urplötzlich so sinnlos. Dass er hier bei mir ist, dass ich mich auf ihn eingelassen habe, dass ich es nicht mal geschafft habe, wirklich zu sterben. Es ist einfach zu viel. Ein stechender Schmerz der durch meinen Rücken fährt lässt mich aufschreien und ich vergrabe die Fingernägel in seinen Schultern. Wenn es nur etwas geben könnte, dass helfen würde. Etwas, dass dafür sorgt, dass ich zu diesem grauenvollen Tag zurück gehen und ihn ändern kann…Es ist nicht so, dass ich Machi gegen Kamijo tauschen wollen würde. Kamijo ist ebenso der perfekte Freund - vielleicht sogar noch mehr als Machi, ist es doch seine Stimme welche mich von Anfang an fasziniert und in seinen Bann gezogen gehabt hat, aber ich könnte sie einfach nie direkt vergleichen. Es ist nur so, dass ich Machi nie wieder unter die Augen treten kann. Ich habe unser Kind getötet. Wie könnte ich erwarten, dass er mir verzeiht, wenn ich mir doch nicht mal selbst verzeihen kann. Und nachdem er die Band mittlerweile verlassen hat…Vermutlich würde er es sowieso nicht verstehen können, wie ich ihn so lange ignorieren und dann mit Kamijo zusammen kommen konnte. Es wäre zu viel zu erklären. Viel zu viel. Und ich weiß einfach, dass ich es nicht ertragen würde ihn zu sehen oder seine Stimme zu hören. Genau wie ich es nicht ertragen würde, mich mit der Band zu befassen oder auch nur länger an sie zu denken. An das, was mal war und nie wieder werden wird. So viele Nächte voller Gelächter und guter Laune - ausgelöscht. Durch einen Fehler. Eine Sekunde Unachtsamkeit. End of Existenz hatte vielleicht den schlimmsten Abgang, den eine Band je haben kann - kein Wunder dass immer noch darüber spekuliert wird und jede Gelegenheit genutzt um uns wieder ins Rampenlicht zu zerren. Oder besser das was von uns noch übrig ist - Staub und Erinnerungen. Ich erschaudere, während Kamijo mich sanft hin und her zu wiegen beginnt - hätte ich Flügel würde ich immer noch so sehr leiden? Vermutlich ist es, wie Luzifer damals gesagt hat - wir durchleben die Hölle, weil wir sie uns ausgesucht haben. Auch wenn es mir fast grotesk erscheint, dass es mir unmöglich sein soll aus meiner persönlichen Hölle zu fliehen - aber wohin sollte ich schon gehen? Auf mich gestellt bin ich verloren, nicht lebensfähig. Zu selbstzerstörerisch, zu verletzt. „Was hältst du von einer Massage, mhm?“ Ich zucke nur mit den Schultern und verziehe im nächsten Moment das Gesicht - das war eine schlechte Idee. Kamijo jedoch seufzt nur und zieht mich sanft auf die Beine und während ich ihm murrend ins Schlafzimmer nachstolpere muss ich mir über die Augen wischen um ein paar Tränen zu verstecken. Selbst nachdem ich mir Shorts und eine Jogginghose übergezogen habe, fühle ich mich immer noch grauenvoll - als würden gebrochene Schwingen an meinem Rücken entlang nach unten hängen und nutzlos auf dem Boden schweifen…Allein dieses Bild treibt mir wieder Tränen in die Augen und ich schluchze so laut auf, dass Kamijo sich erschrocken zu mir umdreht und mich eng in seine Arme zieht. „Ich liebe dich. Wir schaffen das, hörst du? Ich werde dich nicht allein lassen und ich werde auch nicht zulassen, dass du dich selbst zerstörst. Du trägst keine Schuld an diesem Unfall.“ So gut es auch tut seine Worte zu hören so wirken sie doch fast wie purer Hohn auf mich - wie kann er so etwas nur ernst meinen? Wie? Er war nicht dabei, er hat nur die Scherben zusammen gesetzt. Wie bei einem Puzzle, nur dass einige Teile von mir für immer verschwunden sind und auch für immer verschwunden bleiben werden. Ich werde nie wieder so sein wie früher, nie wieder das gleiche fühlen können. Und ich werde nie wieder singen. Kamijo ist mein Licht in der Dunkelheit, seine Stimme ist es die mich leitet, aber ich werde ihm nie antworten können. Während ich in seinen Armen liege, beginnen meine Gedanken erneut zu wandern, selbst als er mir ein Shirt übergezogen und sich mit mir unter unsere Decke gekuschelt hat. „Bitte verlass mich niemals.“ Und nicht mal ich bin mir sicher ob ich wirklich meinen Freund angesprochen habe oder Luzifer. Auch wenn ich Machi hatte, zwischen Luzifer und mir war immer ein Funke, ein gewisses Etwas und er war im Endeffekt einer meiner besten Freunde, einer der Menschen, die mich am Besten kannte. Und jetzt? Werde ich ihn nie wieder sehen können. Je länger wir liegen, desto mehr gerät die Sache mit meiner alten Band in den Hintergrund und ich wäre fast eingeschlafen, hätte Kamijo nicht begonnen meinen Rücken zu streicheln. "Ich werde dich niemals verlassen, versprochen." Es ist nur noch ein Wispern und bringt mich doch zum Lächeln - ich verstehe einfach nicht wie er bleiben kann. Gut, ich hab von Anfang an nicht verstanden, wie er sich überhaupt dazu entscheiden konnte zu bleiben, immerhin war er es, der mich damals gefunden hat. In diesem verwahrlosten Zustand, in dem Alkohol mein einziger Freund war. Kamijo hat mich zurück auf die Beine und zurück ins Leben gebracht..."Nur vielleicht werde ich demnächst auf Tour gehen..." Ach ja. Seine neue Band...Lareine sind Geschichte mittlerweile, auseinander gebrochen über Streitigkeiten von denen Kamijo mir nichts erzählen wollte. Vielleicht konnte Machi es auch einfach nicht ertragen mit dem Wissen zu leben, dass wir nie zusammen alt oder Kinder haben werden. "Ich weiß, dass es grausam wäre dich zu bitten mit zu kommen. Aber ich will dich auch nicht allein hier lassen." Ich zucke nur schwach mit den Schultern - es ist mir egal. Zumindest sollte es mir egal sein - aber ich hab wahnsinnig große Angst vor allem. Davor, allein zu sein - ohne Job hätte ich keine Ablenkung außer den Besuchen bei meinem Therapeuthen. Aber wenn ich mit auf Tour komme, muss ich mich der Vergangenheit stellen, mich mit Musik umgeben...Und Kamijo singen hören. Nicht dass ich das nicht möchte - aber das letzte Mal als ich ihn singen gehört habe auf einer Bühne... Ich muss schlucken, allerdings lenkt der folgende Kuss mich so sehr ab, dass ich nur noch murren kann. Wie gemein ist das denn? "Vielleicht kann ich dich mit Freunden von mir bekannt machen, mhm?" Jetzt muss ich wirklich schmunzeln - das klingt so als ob er einen Hundesitter oder einen Babysitter suchen würde..."Du hast doch nur Angst, dass ich die Zeit mit Eis auf deinem Sofa verbringe..." Er lacht leise und ich küsse ihn erneut - ich will nicht, dass er geht. Aber ihn zurück zu halten wäre auch grausam...Als wir den Kuss schließlich lösen, seufzte ich leise auf und rolle mich dann auf den Bauch, während er mich abwartend ansieht. "Ok. Stell mir deine Freunde vor, aber vorher massierst du mir den Rücken." Er lacht erneut und haucht mir einen Kuss in den Nacken, bevor er mich wieder von meinem Oberteil befreit. "Ich liebe dich, Prinzessin." Dieses Mal bin ich mir sicher, als ich ein leises "Ich liebe dich auch." von mir gebe und mich auf die Schmerzen einzustellen versuche, die unweigerlich folgen werden durch die Massage. Kapitel 5: Recommencement ------------------------- Vermutlich hätte ich nie zustimmen sollen - während wir in dem kleinen Café sitzen in dem ich das erste Date mit Kamijo hatte, drehen sich meine Gedanken in unschönen Kreisen. Was ist, wenn seine Freunde mich nicht mögen werden? Was wenn sie mich erkennen? Wir waren zwar nie eine große Nummer in der Bandgeschichte, aber unser tragisches Ende ging durch die ganzen Medien. Jeder Fernseh- und Radiosender hatte sich damals auf die Geschichte gestürzt…Auch wenn sich mein Aussehen ziemlich verändert hat mittlerweile…Die blauen Locken sind verschwunden, ich habe mir die rückenlangen Haaren auf Schulterlänge gekürzt und meine Naturhaarfarbe wieder angenommen. Schwarz ist absolut nicht auffällig. Zum Glück hatte ich nie Piercings oder Tattoos…Meine frisch manikürten Fingernägel tippen nervös auf dem polierten Holztisch herum, ich habe mich nicht mal getraut einen Schluck von meinem Kaffee zu nehmen, welchen Kamijo für uns bestellt hatte. Ich bin einfach nur wahnsinnig nervös und mein Magen scheint Achterbahn zu fahren. Gerade als ich überlege, ob ich mich kurz entschuldigen soll um mir ein paar Zigaretten aus dem Konbini gegenüber zu besorgen, steht Kamijo auf und ich zucke heftig zusammen - so sehr, dass es ein Wunder ist, dass ich den Tisch nicht umgetreten habe. „Kaya, Juka! Schön euch zu sehen.“ Nervös stehe ich schließlich auf, um mich vor beiden verbeugen zu können - bevor ich mich wieder setze und tief durch atme. Zumindest Kaya scheint nett zu sein - Juka mustert mich so skeptisch, als ob er wissen würde, wer ich bin. Aber er schweigt. Kamijo scheint nichts davon zu bemerken während er mich vorstellt und uns Kuchen bestellt und ich starre einfach nur auf die Tischplatte vor mir - wenn je ein guter Zeitpunkt gewesen wäre um im Boden zu versinken dann wäre es sicherlich jetzt. Leider scheint mein Wunsch sich nicht zu erfüllen. Dafür reißt mich Kayas Stimme aus den Gedanken und ich zucke erneut zusammen, während ich ihn mit großen Augen ansehe. „Deine Fingernägel sind wunderschön, dear. Hast du das selbst gemacht?“ Zögernd schüttele ich den Kopf - bevor ich Kaya ein schüchternes Lächeln schenke und wenig später sind wir in ein Gespräch über Schönheitspflege versunken, bei dem ich ganz vergessen kann, dass wir uns eigentlich gar nicht kennen. Und trotzdem ist es irgendwie befreiend mit jemandem zu reden, den ich nicht kenne und der weder Kamijo noch mein Therapeut ist. Ich habe es vermisst mit jemandem so frei reden zu können…Vor allem Kaya klingt so begeistert und je länger wir reden, desto schmerzlicher wird mir bewusst, dass ich Ayumi wirklich vermisse. Trotz allen Streitigkeiten war sie doch eine sehr gute Freundin…Aber ich werde nie wieder Kontakt mit ihr aufnehmen können. Dass ich weine merke ich erst, als mir jemand sanft über die Wange streicht und ich starre Kaya einfach mit großen Augen an, welcher mich besorgt mustert. „Alles ok?“ Statt zu nicken wie sonst auch immer, ertappe ich mich dabei wie ich den Kopf schüttle und schließlich fast schon hilflos mit den Schultern zucke. Was soll ich darauf nur antworten? Wir kennen uns doch gar nicht, aber irgendwie bringe ich es auch nicht über mich, ihn anzulügen obwohl ich es wohl besser sollte. Aber kein Wort kommt über meine Lippen und ich starre einfach nur in meinen kalten Kaffee - wenn Kamijo sie nur als „Babysitter“ für mich eingeplant hat, kann ich ihnen unmöglich die Wahrheit sagen. Kaya jedoch steht auf, zieht mich sanft auf die Beine und bedeutet dann Kamijo mitzukommen, während er das Café verlässt. Mein Freund zögert kurz und tauscht Blicke mit Juka, bevor er uns folgt - nur um direkt vor der Tür einen kleinen Klaps auf den Hinterkopf zu bekommen von Kaya, welcher mich in Kamijos Arme schiebt, woraufhin ich das Gesicht an seiner Brust vergrabe und mich zwinge, tief durchzuatmen. Wie soll ich die Tour ohne ihn überstehen wenn mich schon so kleine Dinge aus dem Gleichgewicht und zum Weinen bringen? Der nächste Termin mit dem Therapeuten ist doch noch so lange hin…“Willst du nach hause?“ Ich kann nur nicken, während ich die Augen zusammen kneife - vielleicht schaffe ich es ja so, aufzuhören zu weinen? Allerdings fällt mir noch etwas ein und ich zwinge mich tief durchzuatmen. Vielleicht sollte ich das nicht tun. Nicht wenn ich sowieso schon angeschlagen genug bin…“Können wir Blumen kaufen gehen?“ Kamijo schaut kurz überrascht, bevor er nickt und wenig später haben wir uns von Kaya und Juka verabschiedet, wobei dieser meinem Freund noch eine kleine Schachtel überreicht - der Kuchen, den ich nicht angerührt, geschweige denn richtig angesehen habe…Allein bei dem Gedanken daran wird mir schlecht und ich schüttle den Kopf, während ich die Schachtel Juka wieder in die Hand drücke. „Bitte…“ Ich weiß, dass ich diesen Kuchen nicht essen werde und auch wenn Kamijo enttäuscht wirkt, drängt er mich nicht. Und das ist ungemein beruhigend. Juka runzelt zwar kurz die Stirn, bevor er dann aber die Schultern zuckt und zum ersten Mal lächelt seit ich ihn getroffen habe. „Mehr Kuchen für mich.“ Nachdem wir uns verabschiedet haben, ist der Weg zum nächsten Blumenladen nicht weit - allerdings sinkt Kamijos Laune schlagartig als ihm bewusst wird, wieso wir hier sind und er versucht halbherzig mich davon abzubringen, aber ich ignoriere ihn, während ich meine ausgewählten Blumen zur Kasse trage. Auch wenn er weiß, dass sie nicht dafür da sind um mich aufzumuntern oder glücklich zu machen. Weiße Chrysanthemen stehen nicht für schöne Dinge - sie sind Boten der Wahrheit und der Trauer. Und sie sind nicht für mich. Kamijo hält sich im Hintergrund, während ich bezahle, aber ich spüre deutlich seine Blicke in meinem Rücken brennen. Vielleicht ist heute doch kein guter Tag… Als er mit dem Auto statt den Weg nach hause, den Weg zum Friedhof einschlägt, bleibe ich stumm, starre nur auf den kunstvollen Strauß auf meinem Schoß und spüre die Tränen in meinen Augen brennen. Schweigen umhüllt uns, während wir uns dem Grab nähern und Kamijo hält auch hier gebührenvollen Abstand, während ich die Blumen ablege und die Augen für ein Gebet schließe. Mir wird wahnsinnig kalt, je länger ich stehe und bete und ich weiß, dass es noch nicht vorbei ist. Mir wurde nicht vergeben, mir kann nicht vergeben werden. Es ist meine Schuld. Als ich die Augen nach einer gefühlten Ewigkeit öffne, zittere ich am ganzen Körper - es fühlt sich an, als würde ich zu Eis erstarren, von innen heraus. Ich spüre meine Finger nicht mehr und meine Beine geben nach, kaum dass ich versuche einen Schritt zu laufen. Kamijo schafft es gerade so mich aufzufangen und seine Berührungen lassen mich nur erneut erschaudern. Er wirkt so warm…so real. So anders als ich…Mir beginnen die Augen zuzufallen, während er meinen Namen ruft und das Letzte, was ich direkt mitbekomme, ist dass er mit jemandem zu telefonieren scheint, danach nichts mehr. Nur noch Dunkelheit. Die Augen wieder aufschlagend finde ich mich in einem komplett weißen Raum wieder - und fast sofort überkommt mich Übelkeit. Dass ich mich nicht übergebe, ist ein Wunder und noch während ich versuche mich zu erinnern, wieso ich hier bin, geht die Tür auf - und für einige Sekunden habe ich die Befürchtung, dass es Machi ist. Dass er mich gefunden hat nach all den Jahren und jetzt Antworten verlangt. Zu meiner grenzenlosen Erleichterung ist es jedoch nur Kamijo - mit einem Arzt im Schlepptau und ich verziehe leicht das Gesicht. Ausgerechnet. Aber wohl besser als Machi - alles wäre besser als Machi wieder zu sehen. Denn dann würde ich ihm erklären müssen, wieso ich meinen Tod vorgetäuscht habe…Wieso ich ihm nicht die Wahrheit gesagt habe. Und was mit dem Rest der Band passiert ist. „Wie fühlen Sie sich?“ Ich sehe den Arzt seufzend an, zucke mit den Schultern und drücke Kamijos Hand als dieser sich neben mir aufs Bett sinken lässt. Dass er hier ist, hält meine Ängste doch etwas zurück und ich schenke ihm ein müdes Lächeln. Es tut gut dass er hier ist, dass er nicht die Gelegenheit genutzt hat um zu gehen. „Wissen Sie noch was passiert ist?“ Kurz sehe ich zu Kamijo, bevor ich nicke - ich will nichts dazu sagen. Aber vermutlich wird sich der Arzt nicht damit zufrieden geben und so abwartend wie dieser mich ansieht murre ich nur leise bevor ich antworte. „Wir waren auf dem Friedhof und ich bin zusammen gebrochen. Aber ich weiß nicht wieso.“ Kamijo schenkt mir einen besorgten Blick und drückt meine Hand sanft, während wir uns beide auf den Arzt konzentrieren. „Sicher sind wir uns auch nicht, was die Ohnmacht ausgelöst hat, wir warten noch auf einige Testergebnisse, aber so ein Schwächeanfall ist nicht ungewöhnlich in den Frühstadien einer Schwangerschaft. Waren Sie viel Stress ausgesetzt in letzter Zeit?“ Das Blut beginnt in meinen Ohren zu rauschen als ich begreife, was mir gerade mitgeteilt wurde und ich beginne am ganzen Körper zu zittern - schwanger? Von Kamijo? Das kann eigentlich unmöglich der Fall sein. Nicht nach dem Unfall…Nicht nachdem mir gesagt wurde, dass ich nie wieder Kinder haben kann, weil zu viel zerstört wurde. Die Übelkeit überkommt mich überdeutlich und ich schaffe es gerade noch so weit mich vorzubeugen, dass ich mich auf den hässlichen Krankenhausboden übergeben kann und nicht auf Kamijo. Dieser beginnt mir den Rücken zu streicheln, während der Arzt unbeeindruckt eine Augenbraue hebt. „Eigentlich sollte die Übelkeit besser werden. Wir geben ihnen schließlich Medikamente dagegen.“ Ich zucke mit den Schultern und überlege ihm zu sagen dass er kaum etwas gegen meine kaputte Psyche tun kann, entscheide mich dann aber dafür zu schweigen - es ist mehr als offensichtlich, dass er mich nicht mag und keine Ahnung hat, wer ich bin, oder was alles in meiner medizinischen Akte steht - und wenn ich ehrlich bin, will ich auch nicht dass er es heraus findet. Die nächsten Minuten vergehen damit, dass er mich mit noch mehr Fragen löchert, die ich alle deutlich unbegeistert beantworte und dann werden wir allein gelassen. Vermutlich dass er sich die Testresultate ansehen kann. Mir ist es egal. Hauptsache Kamijo ist da. Dieser schenkt mir ein schwaches Lächeln, bevor er mir einen Kuss auf die Schläfe gibt und die Augen schließt. „Es wird alles gut…“ Ich schüttle nur den Kopf - wie kann er immer noch so optimistisch sein? Er weiß doch von allem. Ich habe ihm alles erzählt…“Selbst wenn du schwanger bist…Wir finden einen Weg, ok?“ Langsam drehe ich den Kopf, dass ich an die weiße Wand starren kann und seufze tief auf. Nach wie vor bin ich überzeugt, dass es meine Schuldgefühle sind, welche mich eingeholt haben, nichts ernstes, aber als der Arzt das Zimmer wieder betritt, bin ich mir nicht sicher. Er scheint verwirrt zu sein, runzelt sogar die Stirn, während er die Unterlagen auf dem Klemmbrett wieder und wieder durchgeht und dann zu mir sieht. „Sawamura-San.“ Ich nicke, woraufhin er nur noch irritierter wirkt. Oh - richtig. „In dieser Akte steht, dass Sie vor zwei Jahren gestorben sind.“ Kamijo seufzt tief auf - und bevor ich noch etwas dazu sagen kann, beginnt er zu erklären. Der Arzt hört ihm zu, aber den Blicken nach zu urteilen die er mir schenkt, scheint er ihm absolut nicht zu glauben. Nur wie soll ich ihm das Gegenteil beweisen können? „Rufen Sie ihren Vorgesetzten an. Oder die Polizei…Irgendwer wird die Geschichte schon bestätigen.“ Seufzend zucke ich mit den Schultern, während der Arzt mich nur sehr skeptisch mustert. Was soll ich auch sonst tun? Singen? Es braucht eine Stunde und ein Gespräch mit der zuständigen Polizeistation, bis er überzeugt ist - und mir endlich eine Diagnose überbringt. Keine Schwangerschaft. Nur ein gewöhnlicher Schwächeanfall - ausgelöst durch eine Mangelernährung. Kamijo kann ihn zum Glück überzeugen, dass ich in keine Klinik gehöre und längst in Therapie bin - sonst hätte er mich wohl nie gehen lassen. Auf dem Heimweg herrscht eisernes Schweigen zwischen uns - ich hatte längst Fortschritte gemacht gehabt, vor allem was meine Essstörung angeht, aber jetzt sieht es nur noch nach einem riesigen Rückschritt aus. Kaum dass Kamijo das Auto in die Garage gefahren hat, will ich aussteigen, er jedoch stellt den Motor ab und aktiviert die Zentralverriegelung - was mich zum schlucken bringt. „Ich weiß was ich gesagt habe, aber unter diesen Umständen werde ich kein Risiko eingehen. Du wirst mit auf Tour kommen, also pack deine Sachen. Wen willst du dabei haben, Kaya oder Juka?“ Stumm starre ich nach vorne, aufs Armaturenbrett - ich weiß dass er sich nur um mich sorgt, aber die Stimme in meinem Kopf versucht mir etwas anderes einzureden, dass ich mir die Fingernägel ins Handgelenk zu krallen beginne um den Bezug zur Realität nicht komplett zu verlieren. „Kaya.“ Ich traue mich nicht mehr als zu flüstern, während er befriedigt nickt um sein Handy aus der Tasche zu ziehen und zu telefonieren. Danach führt er mich ins Haus und ich will mich gerade auf den Weg ins Schlafzimmer machen, als er mich fest hält - und zurück in seine Arme zieht um mich zu umarmen. Stumm erwidere ich diese Umarmung, während ich mich eng an ihn heran presse. „Ich liebe dich. Meine Gefühle für dich werden sich auch niemals ändern. Aber nach der Tour werden wir eine dauerhafte Lösung finden müssen.“ Ich nicke nur stumm bevor ich nach einem sanften Kuss auch ins Schlafzimmer verschwinde um wahllos Klamotten aus dem Schrank zu ziehen. Ich will nicht. Alles in mir sträubt sich - aber ich kämpfe dagegen an, immerhin werde ich nicht allein sein und mit Glück muss ich Kamijo nicht mal auf der Bühne ertragen. Je nachdem ob ich es schaffe, Kaya zu überzeugen, die Zeit mit mir anderweitig zu verbringen. Aber mit ihm konnte ich wenigstens reden - er hat es geschafft, einen Draht zu mir zu finden den ich nur mit wenigen Menschen habe - also schlucke ich alle negativen Gedanken herunter und konzentriere mich aufs packen. Zwar habe ich absolut keine Ahnung wie Kamijo das ihrem Manager erklären will, aber irgendwie wird er es wohl schaffen und wenn er mich als Übersetzerin angibt. Immerhin, Fremdsprachen liegen mir…Auch wenn ich sie bisher nur genutzt habe um Songtexte zu schreiben. Die nächsten Tage vergehen wie im Flug - für mich bestehen sie aus einem Nebel voller Ereignisse an die ich mich kaum erinnere. Wir treffen uns mit Kaya zum Mittagessen, Kamijo macht einen Notfalltermin bei meinem Therapeuten aus, ich bekomme neue Tabletten, lasse mir die Haare schneiden. Wir treffen uns mit Kamijos Band, damit sie wissen, wer ich bin. Und dann stehen wir vor dem Bus der uns quer durch Japan bringen soll, Kamijo drückt sanft meine Hand, während ich am überlegen bin, einfach wegzulaufen. Aber das tue ich ja schon mein ganzes Leben lang - weg laufen. Vor allem. Also ist es vielleicht Zeit sich endlich mal etwas zu stellen? Immerhin bin ich nicht allein, Kamijo ist bei mir. Ich habe mich mit seinen Bandkollegen sogar unterhalten können und vielleicht wird die Tour gar nicht so schlimm. Wo ist nur die Frau welche es nicht interessiert, was die Menschen von ihr denken? Die sich um nichts kümmert und ihren eigenen Weg geht ohne sich abhalten zu lassen? Ich schaffe es die ganze Zeit zu grübeln, bis wir im Bus sitzen und als Kaya sich neben mich setzt, starre ich ihn für einige Sekunden völlig irritiert an, bevor ich mich auch schon in seinen Armen wieder finde und die Umarmung zögerlich erwidere. „Keine Angst, Darling. Egal was passiert, ich bin auf alles vorbereitet.“ Das bringt mich dann doch zum lachen und kurz drücke ich ihn an mich, bevor wir uns voneinander lösen und ich mir eine Haarsträhne hinters Ohr streiche. Diese Angewohnheit werde ich wohl nie los. „Und wann auch immer du dich über Kamijo ausjammern willst - ich bin ganz Ohr. Von mir aus können wir auch sofort anfangen!“ Er blinzelt unschuldig und ich muss erneut lachen - irgendwie bin ich mir sehr sicher, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe und wir uns auch auf lange Sicht gut verstehen werden. Allerdings komme ich gar nicht dazu, etwas zu sagen, weil sich jemand auf den Sitz vor uns fallen lässt und uns beide breit angrinst. „Was hör ich da? Wir lästern über Kamijo obwohl wir gerade erst los gefahren sind? Find ich gut. Wer fängt an?“ „Du bist schrecklich, Jasmine.“ Dieser streckt Kaya die Zunge raus, bevor er mit den Schultern zuckt. „Schuldig im Sinne der Anklage - aber Hizaki ist doppelt so schlimm. Also ~ irgendetwas über dass ihr besonders gerne reden wollt?“ Ich zucke mit den Schultern, während ich mich im Sitz zurück lehne und leise gähne. „Ihr dürft gerne anfangen, immerhin wird er euch anders behandeln als mich…“ Beide sehen mich kurz an, bevor Kaya gedankenverloren nickt und beginnt in seiner Tasche zu wühlen. „Aber nicht ohne Tee!“ Damit zieht er drei Dosen mit Grünem Tee hervor und ich kann nur sprachlos den Kopf schütteln - das wird definitiv eine der interessantesten Busfahrten meines Lebens. Und hoffentlich endet diese Tour nicht in einem kompletten Desaster so wie meine Tour damals… Kapitel 6: Frail ---------------- Ich habe vergessen wie gut es sich anfühlt mit jemandem zu reden, der nicht Kamijo ist. Ich habe auch vergessen wie gut es tut, über Kamijo zu reden und mehr über ihn zu erfahren. Auch wenn ein kleiner Teil von mir wahnsinnig verletzt ist, dass er Kaya schon seit Jahren kennt, mir aber nie vorgestellt hat. Andererseits war ich bisher nie in der Verfassung um andere Menschen kennen zu lernen. Und es ist so einfach mit Kaya zu reden, dass ich nicht mal böse sein kann. Jasmine ist schwieriger, aber wir verstehen uns, irgendwie. Der ganze Weg zur Halle erscheint mir unwirklich - es ist lange her, dass ich so viel geredet habe. Vor allem am Stück. Für gewöhnlich bin ich zurück haltender, ruhiger, mein früheres Ich war anders, aber das ist lange her. Vielleicht zu lange? Dass der Bus vor der Halle hält, bekomme ich erst mit, als Kaya aufsieht und einen Blick mit Kamijo tauscht, was unser Gespräch unterbricht und mich schlucken lässt. Ich hatte gehofft, dass wir zuerst ins Hotel fahren um die Sachen abzustellen, einzuchecken, Zimmerschlüssel zu holen. Aber offenbar hab ich mich getäuscht und auf wackligen Beinen folge ich der Band aus dem Bus, atme tief durch. Kamijo schenkt mir einen besorgten Blick und zieht mich in seine Arme, wo ich das Gesicht an seiner Schulter vergrabe. „Die Roadies bringen unsere Sachen ins Hotel. Du kannst dir mit Kaya einen schönen Tag machen, aber…“ Ich weiß, was er sagen will, ohne dass er es aussprechen muss und schüttele schnell den Kopf. Er will mich hier haben, bei sich. Aber ich ertrage den Gedanken nicht, mich erneut Musik aussetzen zu müssen - seiner Musik. Sie erinnert mich zu sehr an das, was ich verloren habe. „Miyu…“ Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr fühlt es sich an, als würde ich ersticken, weswegen ich mich schließlich von ihm los reiße und drei Schritte zurück gehe. Ich muss hier weg und zwar schnell. Denn ansonsten werde ich nicht dafür garantieren können, was ich tue. Und als er mich so besorgt mustert, fühle ich mich so weit von ihm entfernt wie noch nie in meinem Leben und es macht mir Angst. Große Angst. Schlussendlich drehe ich mich um und gehe in die entgegengesetzte Richtung und sei es nur um den Ausdruck in Kamijos Augen nicht mehr sehen zu müssen. Weit komme ich nicht, als mich jemand sanft an der Schulter berührt und es kostet mich jegliche Willenskraft die ich aufbringen kann, um nicht zu schreien. Es ist Kaya, welcher mich entschuldigend anlächelt - vielleicht sollte ich ihm auch noch sagen, dass ich es hasse, berührt zu werden. Aber irgendwie bringe ich es nicht übers Herz wie er so vor mir steht. „Du hast deine Handtasche vergessen…Und ich kenne mich hier aus. Also wenn du magst zeig ich dir meine Lieblingsläden?“ Kurz überlege ich ob es effektiv wäre, einfach davon zu rennen, dann nicke ich. Ich würde alles tun um nicht mehr an Kamijos traurige Augen denken zu müssen. Die nächsten Stunden verbringe ich damit, mich von Kaya durch die Stadt schleppen zu lassen und mir Klamotten anzusehen, die ich mir nicht leisten kann. Gut, können vermutlich schon. Aber ich würde mich unwohl fühlen, so viel Geld für Klamotten auszugeben, die ich dann vermutlich sowieso nie tragen würde. Ich kenne mich. Woran ich jedoch nicht vorbei gehen kann, sind die Klamotten meiner Lieblingsmarke. Wer hätte gedacht, dass diese hier auch verkauft werden? Wie hypnotisiert bleibt mein Blick an einem schwarzen Shirt mit Rosen hängen - mein altes Ich hätte es ohne zu zögern gekauft. Auch wenn das rot der Blumen sich mit meinen blauen Haaren gebissen hätte. Zögerlich lasse ich die Finger über den Stoff gleiten. Es schreit so sehr nach meinem alten Ich, dass ich Gänsehaut bekomme und nach Luft schnappen muss. Die Rosen auf dem Shirt verteilen sich um ein Kreuz und als ich näher hinsehe, erkenne ich Blutspritzer. Jedoch muss ich schmunzeln als ich den Spruch sehe welcher unter dem Markennamen aufgedruckt ist: „and the scent of roses; smell of blood.“ Es gefällt mir. Aber ich kann es unmöglich mit nehmen. Mein neues Ich trägt keine Klamotten mehr von Sexpot Revenge. Nie wieder. Als Kaya zu mir kommt, habe ich das Shirt jedoch immer noch in der Hand - je länger ich es betrachtete, desto mehr Details fallen mir auf. Die Sternchen, der angedeutete Glitzer, der gar nicht glitzert. Es schreit gerade zu danach, dass ich es mitnehme. „Oh? Hast du doch noch etwas gefunden, was deinem Geschmack entspricht?“ Kaya grinst mich an, während ich den Kopf schüttele und schlucken muss. Wenn er nur wüsste, wie Recht er hat. „Mhm? Aber Darling, ich bin mir sicher, dass es dir ausgezeichnet stehen würde. Und es wäre eine schöne Überraschung für Kamijo.“ Wie gerne ich ihm sein Lächeln aus dem Gesicht schlagen würde. Er hat keine Ahnung, was er mit seinen Worten anrichtet und ich hab keine Kraft, es ihm zu erklären. Es ist einfach so wahnsinnig schwer gegen mich selbst zu kämpfen, vor einem Ich davon zu laufen, mit dem ich glücklich war. Nicht, dass ich mit Kamijo nicht auch glücklich bin, aber das ist ein anderes Ich, ein Teil der sich eigentlich nur versteckt. Früher war ich unabhängig und selbstständig…Heute? Nur noch ein Schatten meiner Selbst. Allerdings fallen mir keine Argumente ein, je länger ich hier stehe - nichts spricht dagegen, es zu kaufen. Es ist nur ein Shirt, das mir gefällt. Es ist nicht giftig. Es wird mir nichts tun. Die Stimmen in meinem Kopf hingegen sind sich uneins und beginnen zu streiten - perfektes Timing. Hatte ich mich davor noch nicht irre gefühlt, so tue ich es jetzt. Hin und her gerissen, niemand der mich versteht und Kamijo ganz weit weg. Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich noch keine Panikattacke erlebt habe, oder ist das auch schon eine? Wenn ja, dann ist sie vollkommen anders, als die, die ich kenne. Als ich Dinge wieder bewusst wahrnehme, stehen wir an der Kasse und offenbar hat das Schicksal seinen gehässigen Tag heute, denn sonst würde ich mich kaum Kai gegenüber finden. Er trägt jetzt eine Augenklappe und hat braune Haare, kurz geschnitten, mehr kann ich nicht erkennen, weil ich es nicht schaffe, aufzusehen. Meine Stimme zittert als er mich fragt, ob das alles ist und ob ich eine Tüte brauche. Ich verneine, weil Nein sagen so viel einfacher ist, als Ja sagen, stopfe das von ihm liebevoll gefaltete Shirt einfach in meine Handtasche. Aus den Augen, aus dem Sinn. Ich würde zu gerne danach fragen, was mit seinem Auge passiert ist. Wie es Ayumi geht, ob sie immer noch zusammen sind. Und was mich am Meisten aufwühlt - ob Akira noch lebt. Aber ich sage nichts, überreiche ihm das Geld und flüchte danach aus dem Laden. An der nächsten Straßenecke sinke ich zusammen und kralle mir die Fingernägel hart in den Arm. Es tut weh, aber nicht lange. Dass Kaya mich eingeholt hat, merke ich erst, als er mich in die Arme zieht und ich schluchze trocken auf. Das ist nicht gut - das ist alles andere als gut. „Miyu-chan…Was ist denn passiert?“ Ich kann es ihm nicht erklären, auch wenn die Stimmen in meinem Kopf mich anschreien es doch zu tun. Alles zu sagen. Ihm zu erklären, wieso ich bin, wie ich bin und wieso ich so reagiere. Aber mein Mund schweigt, die Stimmen werden lauter und ich sinke mehr und mehr zusammen, bis ich mir wünsche, ich könnte mich in eine Kugel verwandeln, oder im Erdboden versinken. Alles erscheint so sinnlos, dass ich mich nicht mal reflexartig an Kaya festhalte, als dieser versucht mich hochzuheben, wodurch ich nur wieder zu Boden falle. Aber das ist in Ordnung. Während Kaya einen erschrockenen Laut von sich gibt, sich entschuldigt und mich erneut hochhebt, starre ich wortlos ins Leere und versuche nicht zu schreien. Nicht hier, nicht unter so vielen Menschen. Ich will Kaya nicht enttäuschen, nachdem er sich doch so viel Mühe mit mir gibt. Aber meine Gedanken kreisen um die Vergangenheit, während die Stimmen in meinem Kopf leiser werden und zu verschwinden beginnen. Noch etwas, das nicht gut ist, denn ich weiß nicht, wie weit sich meine Panik steigern kann, zu was ich fähig bin. Erinnerungsfetzen schießen mir durch den Kopf von damals, Kai und Ayumi, welche sich lachend ein Eis teilen, während ich mit Akira daneben sitze und die Augen verdrehe. Kaya hat es mittlerweile geschafft, uns ein Taxi anzuhalten und ich höre nur, wie er dem Fahrer eine Adresse nennt, aber ich achte gar nicht darauf, wohin wir fahren. Es ist auch egal, solange er mich nicht zum Soundcheck bringt. Hatte er deswegen eigentlich schon nachgefragt? Ich erinnere mich gar nicht wenn ich ehrlich bin und schlussendlich fallen mir die Augen zu - egal wohin wir fahren, er wird mich hoffentlich wecken wenn wir angekommen sind. Leise vor mich hin summend starre ich auf das Blatt, welches mir vor liegt - es ist so viel schwerer Lieder zu schreiben als man denken mag. Vor allem wenn einem zuerst nur der Text einfällt und keine passende Melodie, immerhin muss sich doch später alles gut zusammen fügen. Im Moment jedoch erscheint das ein Ding der Unmöglichkeit und seufzend fahre ich mir durch die Haare - wie ich es doch hasse. Ich will meine Texte nicht verändern, aber ich will sie auch auf der Bühne singen können. Vielleicht einer der Gründe, wieso ich zwei große Ordner angelegt habe - einen mit Texten in ihrer Rohfassung, einen für die geänderten Texte inklusive Melodie. „Ein weiser Mann hat mal gesagt - ohne Bier kann man nicht denken!“ Damit wird mir ohne weiter Vorwarnung eine kalte Bierdose in den Nacken gedrückt, was mich vor Schreck kreischen lässt und als ich mich umgedreht habe, grinst mich Luzifer unschuldig an und nippt an seinem eigenen Bier. „Du bist kein weiser Mann, Akira.“ Ich verdrehe die Augen, während ich nach der zweiten Bierdose greife um sie zu öffnen und er lässt sich neben mich fallen, versucht einen Blick auf die Lyrics zu erhaschen. „Aber ich könnte einer sein wenn ich wollte…“ Daraufhin zeige ich ihm nur noch meinen Mittelfinger und er lacht. „Deswegen mag ich dich - du unterstützt meine Träume, Lil.“ Schnaubend nehme ich einen Schluck von meinem Bier und versuche mich davon abzuhalten, ihm eine reinzuhauen. Wenn er wüsste! Aber vielleicht ist diese kleine Unterbrechung auch gar nicht so schlecht? „Schau dir das lieber an und sag mir wie ihr das spielen könnt, statt in Tagträume zu driften.“ Luzifer gibt einen amüsierten Laut von sich, nimmt aber den Zettel an sich und ich lehne mich zurück und trinke das Bier fast komplett aus. „Hast du Nachschub mitgebracht?“ Er nickt, deutet mit dem Daumen in Richtung Tür und ich stehe grinsend auf, strecke mich ordentlich und schnappe mir dann das Sixpack um das nächste Bier zu öffnen. „Lass dir Zeit. Ich lauf dir nicht weg.“ Er schenkt mir einen skeptisch-amüsierten Blick, dann steht er auf um seine Gitarre zu schnappen und ich öffne mir das dritte Bier. Es ist schön hier so mit ihm zu sitzen und während er beginnt zu spielen, schließe ich die Augen und lasse mich auf den Rücken fallen - der Holzboden ist angenehm kühl unter mir. So wie es sein sollte. „Muss ich jetzt eigentlich Angst haben, dass du in meinem Keller einziehst?“ Ich schüttele nur stumm den Kopf, setze mich dann doch langsam auf, dass ich ihn unschuldig angrinsen kann. „Nur solang meine Klimaanlage kaputt ist, keine Sorge. Du willst mich doch nicht im Hochsommer auf die Straße setzen, oder?“ Als Antwort zeigt er mir dieses Mal den Mittelfinger und lachend lasse ich mich wieder zurück fallen und strecke mich komplett aus. Hach. Leider ist die Klimaanlage in meiner Wohnung kaputt gegangen - ausgerechnet im Sommer. Schlechtes Timing. Und ich habe noch zwei Wochen vor mir, bevor das repariert werden kann…Also bin ich geflüchtet. Ein wahnsinnig großer Vorteil, das Akira über den Sommer aufs Haus seiner Eltern aufpasst. So können die ihren Urlaub genießen und ich meinen kühlen Rückzugsort. Einige Minuten vergehen, in denen wir schweigen. Akira spielt immer wieder Akkorde an, aber bricht dann ab und ich merke, wie ich schläfrig werde. „Vielleicht passt der Text nicht zu uns?“ Langsam öffne ich ein Auge, während ich eine Schnute ziehe - ich mag eigentlich, was ich geschrieben habe. Aber wenn es wirklich nicht spielbar ist…Akira wirft mir einen Blick zu, bevor er den Kopf schüttelt und langsam aufsteht. „Vielleicht sollten wir das aber anders anfangen, ich glaub mit Gitarre oder Bass am Anfang klappt das nicht.“ Jetzt runzle ich die Stirn, wie meint er das denn bitte? „Na komm, ich zeig dir meine Idee.“ Ich folge ihm nach oben ins Wohnzimmer und hebe beide Augenbrauen als er sich ans Klavier seiner Eltern setzt. „Dein Ernst? Wir können uns kein Klavier leisten für die Bühne…Du weißt noch in was für Clubs wir spielen, ja?“ Akira grinst, zuckt mit den Schultern und massiert sich die Schläfen. „Gib mir doch überhaupt erstmal ne Chance, Lil. Es ist ja nicht mal gesagt, dass wir es aufnehmen.“ Ach ja. Richtig. Unsere neue CD - noch ein Grund, wieso es mich zur Verzweiflung treibt, einen Text zu haben, aber keine Melodie. Ich gebe ein unbegeistertes Brummen von mir, während er die Finger über die Tasten gleiten lässt und nach einem kurzen Zwischenspiel haben wir die passende Tonhöhe für meine Stimme gefunden und können anfangen. Es klingt seltsam, von einem Klavier begleitet zu werden. Es bringt mich deutlich aus dem Konzept und meine Stimme ist nicht so gefestigt wie sonst, ich spüre deutlich, wie sehr sie zittert und ich über einige der Worte stolpere, etwas womit ich sonst ziemlich selten zu kämpfen habe. Als das Lied vorbei ist, tausche ich skeptische Blicke mit Akira, setze mich schließlich neben ihn und lasse den Kopf auf seine Schulter sinken. „Das war definitiv nicht, was ich sonst singe.“, stelle ich seufzend fest - es klang grauenvoll. Gruselig. Fast wie…“Wir könnten eine Ballade draus machen.“, unterbricht Akira mich in meinen Gedanken und ich starre ihn an, als wären ihm drei Köpfe gewachsen. „Du weißt noch, dass wir eine Metalband sind, ja?“ Er zuckt mit den Schultern. In mir wächst das Bedürfnis ihn gegen die Wand zu klatschen, vielleicht hat die Hitze es auch geschafft endgültig sein Gehirn weich zu kochen? Außerdem, Balladen sind nicht meins. Da hätte ich wirklich Popsängerin werden können. Bei dem Gedanken läuft es mir eiskalt über den Rücken und ich verziehe das Gesicht. Nur nicht daran denken, dann würde ich in quietschbunten Kostümen…Ugh. „Lass uns Ayumi und Kai fragen, was sie davon halten, ok? Wenn sie es gut finden, nehmen wir auf.“ Kurz will ich protestieren, dann aber beiße ich mir auf die Zunge und nicke - er hat ja Recht. Wir sind eine Band, eine Gemeinschaft. Wir müssen so etwas zusammen entscheiden und nur weil ich eine Abneigung gegen gewisse Dinge hege, kann ich dem Rest nicht meine Meinung aufzwingen. Er grinst mich an, steht auf und ich lasse den Kopf auf die Klaviertasten sinken, während ich mich frage ob ich verrückt geworden bin. Drei Tage später sind wir im Studio - es hat einiges an Überzeugungsarbeit gebraucht, bis ich zugestimmt hatte. Aber ein Trost ist, dass wir entschieden haben, das Lied nicht auf unsere Single zu packen. Es wird viel mehr eine CD für Sammler - die ersten hundert Fans, die eine von unseren regulären CDs kaufen, bekommen die Ballade geschenkt. Als Beweis, dass wir auch in eine andere Richtung gehen können. Und weil das Studio schon gemietet war, uns immer noch ein zweites Lied für die richtige Single fehlt und das einfach alles wahnsinnig ins Geld geht. Selbst wenn wir es durch vier teilen. Seufzend sehe ich noch mal zum Rest meiner Band, aber alle drei grinsen mich an - keine Chance das abzubrechen. Akira hat den Klavierpart heute morgen bereits aufgenommen, jetzt ist es Mittag. Ich hab Angst daran zu denken wie lange das jetzt dauern könnte. Man kann kein perfektes Lied mit einer einzigen Aufnahme hin bekommen. Es gibt immer etwas was einen stört…Langsam schließe ich die Augen, setze mir die Kopfhörer auf und nehme noch einen tiefen Atemzug. Als das Zeichen kommt, bin ich bereit mein Herzblut in dieses Lied zu stecken. Es ist eine Herausforderung und ich werde den Teufel tun und davor weg rennen. Es scheint eine gefühlte Ewigkeit zu dauern, bis wir alle mit einer Version zufrieden sind. Allerdings ist das nichts, was mein Grinsen irgendwie beeinträchtigen kann - es war anstrengend zu singen, ja, aber zu wissen, dass die Fans keine Ahnung haben, was sie erwartet ist ein großartiges Gefühl. Wir müssen nur schauen dass die Single sich verkauft um alle Kosten wieder reinzubekommen, aber das wird schon. Den restlichen Abend verbringen wir mit billigem Bier und Burgern vom nahe gelegenen Fast Food Restaurant im Park bis wir uns im Morgengrauen voneinander trennen. Ayumi will noch ein paar Stunden schlafen vor ihrer Arbeit im Café und Kai wird sich wohl eine Ausrede für seine Eltern einfallen lassen dürfen. Was aber auch nicht das erste Mal wäre, weswegen wir uns keine Sorgen machen. Erst als ich bei Akira im Keller aufs Sofa falle, wird mir jedoch bewusst, dass wir den wichtigsten Teil irgendwie ausgelassen haben. Während wir im Studio waren, haben wir das Lied immer nur „die Ballade“ oder „Liliths Grauen“ genannt, aber jetzt, wo es wirklich geschnitten und auf eine CD gepresst wird, braucht es doch einen vernünftigen Namen. Immerhin, vielleicht können wir es ja doch irgendwann auf einer Bühne spielen? Live? Ob wir es je in die Budokan schaffen? Der Tokyo Dome wäre natürlich super, aber ist wahnsinnig unrealistisch. Je länger ich nach oben starre, auf das kleine Kellerfenster in der Mauer durch das ein wenig Licht herein dringt, desto klarer springt der Name mich an, bis ich schließlich grinsend nach einem Blatt Papier und einem Stift angle um ihn aufzuschreiben auch wenn das im fahlen Licht des neuen Tages doch etwas schwieriger ist. Die Sonne hat noch nicht genug Kraft um alles zu erleuchten wie sie es in ein paar Stunden tun wird. Danach lasse ich mich wieder zurück sinken, während ich nicht anders kann, als den Anfang zu summen und schließlich doch leise vor mich hin zu singen. I regret nothing your mouth says with a smile while your eyes are screaming I regret everything Kapitel 7: Our Scars Part 1 --------------------------- Langsam strecke ich eine Hand in den Himmel, betrachte die Sonne - sie erscheint so weit weg. Und doch ist es hier so hell…“Hey, Masa? Ich finds doof, dass wir nich fliegen können.“, stelle ich seufzend fest, bevor ich mich auf den Bauch drehe um meinen besten Freund anzusehen, welcher nur genervt die Augen verdreht. „Und ich finds doof, dass du nicht die Klappe halten kannst.“ Er sieht nicht mal auf, sondern konzentriert sich weiter auf das Bild vor ihm. Den Farben nach zu urteilen, soll es wohl ein Charakter aus Dragonball darstellen, vermutlich Son Goku. „Du bist gemein.“ Schmollend strecke ich ihm die Zunge raus und stehe auf um mich zu strecken, während er nur die Augen verdreht. „Kannst du nicht wen anders nerven?“ Jetzt hebe ich langsam eine Augenbraue, lasse den Blick schweifen - klar, der Park ist nicht leer, wir haben nur das Glück dass wir uns eine relativ ruhige Stelle gesucht haben. Na ja, so ruhig es eben sein kann, wenn unsere Mütter auf der nächsten Bank sitzen, sich angeregt unterhalten und ab und an ein wachsames Auge auf uns haben. „Will ich nicht!“ Damit habe ich ihm bereits das Blatt Papier geklaut und laufe lachend weg - er ist für einige Sekunden perplex, dann folgt er mir. „Miyu! Gib das sofort wieder her!“ Ich renne so lange, bis ich vor lachen nicht mehr kann und mich an einen Baum abstützen muss, wo er mich einholt. Dieses Mal ist er es der schmollt, sogar dann noch als ich ihm seine Zeichnung freiwillig wieder gegeben habe. „Du bist echt so doof…!“ Ich bin viel zu sehr außer Atem um ihm zu antworten, weswegen ich mich nur an den Baum lehne und grinse, es dauert nicht lange, bis er selbst wieder ruhiger ist und schließlich gehen wir zusammen zurück, dass er seine Stifte aufsammeln und diese mit seiner Zeichnung zu seiner Mutter bringen kann. Eigentlich ist es ein Wunder dass wir den Tag draußen verbringen können, aber heute ist schulfrei. Und weil unsere Mütter beide Hausfrauen sind, war es nicht so schwer sie zu überreden, in den Park zu gehen. Vor allem weil die Sonne scheint und wir beide versprochen haben, unsere Übungen zu machen, sobald wir zuhause sind. Ich gerate ins Grübeln, während Masas Mutter ihn für seine Zeichenkünste lobt auch wenn sie nicht damit zufrieden ist, was er gezeichnet hat. Sie hat Pläne für ihn - er könnte Architekt werden. Oder Modedesigner. Aber wehe er verdient später nicht gut. Ich muss seufzen, als mir bewusst wird, dass auch meine Eltern bereits den Rest meines Lebens geplant haben. Die Schule abschließen, mit möglichst vielen, hilfreichen Wahlfächern wie Kochen, Blumen binden und Nähen. Alles um eine perfekte Ehefrau werden zu können, die ihren Mann glücklich macht. Wie meine Mutter. Auch wenn mein Vater kaum zuhause ist, weil er sich ständig auf Geschäftsreise befindet, beklagt sie sich nie. Stattdessen kauft sie teure Kleidung aus dem Ausland und versucht mir die Vorteile daran zu erklären. Als ich in die Seite gestupst werde, zucke ich erstmal zusammen, bevor ich Masa vorwurfsvoll ansehe, der nur unschuldig grinst. „Komm schon, lass uns noch etwas schaukeln, ja?“ Kurz sehe ich zu meiner Mutter auf, welche nickt, dann renne ich los, ohne Masa die Chance zu geben, aufzuholen. Wir haben zwar auch eine Schaukel im Garten, aber zuhause komme ich kaum dazu, diese zu nutzen. Zu viele Hausaufgaben und Hausarbeiten die mich davon abhalten. Meine Mutter ist überzeugt, dass ich es nie schaffen werde, einen Mann zu finden, wenn ich nicht kochen und backen kann. Um sicher zu gehen, dass ich mich später nicht komplett dämlich anstelle in meinen Wahlfächern, versucht sie jetzt schon, mir so viel beizubringen wie möglich. Meistens gehorche ich sogar, weil es weniger anstrengend ist, als zu versuchen mit ihr zu argumentieren. Drei Mal die Woche habe ich zusätzlich Englischunterricht bei einer netten, ausländischen Studentin. Sie heißt Mary und vermutlich hat meine Mutter sie nur eingestellt, weil sie nicht aussieht wie ein Ausländer mit den braunen Haaren und ihren dunklen Augen. Aber ich mag sie - sie bringt mir manchmal Süßigkeiten mit. Und sie schafft es jeden zum Lachen zu bringen, weil sie so eine positive Ausstrahlung hat. Das Klingeln des Weckers reißt mich aus dem Schlaf und murrend taste ich nach dem Gerät auf dem Nachttisch - ein Mal kräftig draufgehauen und schon ist Ruhe. Damit habe ich mich bereits auf die andere Seite gedreht um genüßlich weiterzuschlafen. Es ist doch viel zu früh um aufzustehen. Allerdings habe ich die Rechnung nicht mit meiner Mutter gemacht, welche keine fünf Minuten später die Tür aufreißt und mit einem lauten „Miyu!“ Ins Zimmer stürmt. Automatisch mache ich mich noch kleiner unter der Decke, was jedoch nicht hilft, da sie mir diese im nächsten Moment auch schon entrissen hat. „Steh gefälligst auf! Wenn du zu spät kommst…“ Oh oh. Wenn das so anfängt, weiß ich schon wo es endet. Mein Vater wird davon hören, mir das Taschengeld streichen und so weiter und so weiter. Seufzend verdrehe ich die Augen, während ich mich langsam aufsetze und ordentlich strecke. „Jaja. Bin schon wach.“ Sie schnaubt und ich spüre nur zu deutlich, dass das kein angenehmer Tag werden wird. Seit Beginn der Mittelschulzeit ist meine Mutter angespannter und strenger geworden und ich hasse es. Davor konnte ich noch halbwegs vernünftig mit ihr reden, jetzt dreht sich alles um meine Noten. Und die Kurse die ich nach der Schule besuche. Der einzige Lichtblick den ich habe, ist Masa. Wir gehen nach wie vor in die gleiche Klasse und er hat sich auch für den Kochkurs angemeldet, sehr zum Missfallen seiner Mutter. Aber nachdem er trotzdem noch Fußball spielt nebenbei, sagt sie nichts dagegen. Zum Glück überschneiden die zwei AGs sich nicht. Während ich ins Bad gehe um mich zu duschen und anzuziehen, ist meine Mutter bereits in die Küche verschwunden, vermutlich um mein Mittagessen noch mal hübsch zu dekorieren. Ich finde es ja nett von ihr, dass sie immer daran denkt, mir etwas zu essen mit zu geben, aber sie vergisst auch immer, dass ich vom Kochkurs Essen mitbringe. Und manchmal ist es auch frustrierend, den Unterschied zu sehen, zwischen ihrem Essen und meinem Essen - auch wenn es gleich schmeckt. Ich schaffe es nicht, ein Bento annähernd so niedlich zu gestalten wie sie es tut. Ein schnelles Frühstück später renne ich fast aus dem Haus, zum Glück wartet Masa an der Straßenecke auf mich und stellt keine Fragen. Er hätte sowieso keine Antwort bekommen. Den restlichen Weg zur Schule legen wir schweigend zurück, während sich uns noch ein paar Klassenkameraden anschließen, welche Masa schließlich in ein Gespräch verwickeln - es scheint über das nächste Spiel ihrer Mannschaft zu gehen und ich drifte in Gedanken ab. Natürlich werde ich wieder da sein, um ihn anzufeuern. Wie jedes Mal. Aber Masa hat mir die Daten immer noch mal schriftlich gegeben, dass ich sie nicht vergessen kann. Wir kommen sogar gerade noch so pünktlich und ich seufze tief auf, während ich mich auf meinen Platz fallen lasse und die Augen schließe. Wie die Zeit vergeht. Noch zwei Jahre bis zur Oberschule und langsam wird es Ernst. Meine Mutter liegt mir bereits in den Ohren, dass ich mich entscheiden soll, wohin ich gehen will, aber meine Gedanken kreisen um ein ganz anderes Thema. Dieses Schuljahr wurde eine neue AG gegründet und ich habe mich eingeschrieben, ohne darüber nachzudenken. Sollte meine Mutter davon Wind bekommen, könnte es wahnsinnig viel Ärger geben. Aber ich genieße es - nach so vielen Jahren hab ich endlich etwas gefunden, das mir wirklich Spaß macht. Singen. Etwas, dass eine zukünftige Hausfrau ganz sicher nicht brauchen wird. Nur wie kann ich es meiner Mutter begreifbar machen, dass es das ist, was mich durch die Schulzeit bringt? Meine Noten sind nicht unbedingt schlecht, aber ich langweile mich in den meisten Fächern, vor allem in Englisch. Dadurch, dass ich bereits der Klasse voraus bin, habe ich allerdings auch Verantwortung gegenüber meinen Mitschülern und muss ihnen helfen, was die Aussprache angeht. Trotzdem ist es nichts, was mich wirklich fordern würde. Also muss ich es ertragen und hoffen, dass die Zeit schneller umgeht. „Hey, Miyu-chan.“ Als ich müde von meinen Hausaufgaben aufsehe, steht Masa vor mir und ich runzle die Stirn. „Wie bist du denn hier reingekommen?“ Er lässt sich lachend auf den Boden fallen und grinst mich geheimnisvoll an, während er eine Tafel Schokolade aus der Hosentasche zieht. „Bleibt mein Geheimnis. Aber ich dachte, dir könnte eine Pause nicht schaden.“ Mit großen Augen starre ich auf die Schokolade - Masa durfte immer Schokolade essen, im Gegensatz zu mir. Meine Mutter hatte sie mir verboten mit dem Argument dass ich dadurch unreine Haut bekommen würde - für den Rest meines Lebens. Und dann würde mich nie ein Mann heiraten wollen. Selbst jetzt habe ich diesen Satz immer noch im Kopf. „Deine Mutter ist einkaufen, wenn wir schnell sind, bemerkt sie gar nichts.“ Er grinst, als hätte er im Lotto gewonnen und ich schlage mein Mathebuch zu, um aufzuspringen. „Ich hab ne bessere Idee, pack die mal wieder ein.“ Für gewöhnlich lässt meine Mutter mich nie allein zuhause, aber vielleicht dachte sie, dass Masa schon dafür sorgen wird, dass ich weiter an meinen Hausaufgaben arbeite. Sie kennt ihn nur nicht so gut ich. Fünf Minuten später habe ich mich komplett umgezogen, Taschengeld, Handy und Hausschlüssel in meine Lieblingstasche geschmissen und mit Masa das Haus verlassen. Auf dem Weg zur Bahnstation teilen wir uns die Schokolade und er fragt nicht mal, wo ich hin will. Vielleicht weiß er es ja auch bereits. Aber ich ertrage es nur eine bestimmte Zeit lang zuhause eingesperrt zu sein und auch wenn es vermutlich Hausarrest geben wird, es ist mir völlig egal. Es ist Samstagnachmittag, also nichts ungewöhnliches für uns, unterwegs zu sein. Das wärs ja noch, dass ein Polizist mich irgendwann einsammelt und nach hause bringt - ich glaube, dann würde meine Mutter einen Herzinfarkt bekommen. Während wir durch die Innenstadt von Tokyo streifen, kommen wir an einem Gitarristen vorbei und ich kann nicht anders, als stehen zu bleiben. Er scheint vielleicht zehn Jahre älter als ich zu sein, Mitte Zwanzig und grinst mich an, während er spielt. Masa bleibt ebenfalls stehen, runzelt jedoch die Stirn. Je länger wir allerdings stehen, und zuhören, desto mehr ändert sich sein Gesichtsausdruck bis er vollkommen entspannt wirkt. Nachdem das Lied endet, unterhalten wir uns etwas und mir wird nur wieder klar, wie schwer erreichbar mein Ziel eigentlich ist. Wenn ich weiterhin singen will, muss ich mich anstrengen. Der Gitarrist hatte sich uns als Yuu vorgestellt, grinst allerdings schief auf meine Nachfrage hin ob er eine Band hat. Offenbar ist das Musikbusiness viel härter als ich dachte. Vor allem sein gut gemeinter Ratschlag schneidet in mein Herz. „Entweder du bekommst einen guten Job oder du entscheidest dich für die Musik. Beides zusammen ist unmöglich zu bewältigen.“ Nachdem wir uns verabschiedet haben, weiß ich plötzlich nicht mehr, ob es so eine gute Idee ist, weiterhin zu singen. Ich habe damit zwar im Kindergartenalter angefangen, aber wenn es mich davon abhält, eine Arbeit zu finden, bei der ich gut verdienen kann? Vielleicht sollte ich die Musik einfach vergessen. Der Tag scheint nicht mehr so freundlich zu sein und auch, dass Masa mich auf ein Eis einlädt, hilft nicht gegen das beklemmende Gefühl in meiner Brust. Ich habe nie groß darüber nachgedacht, wie schwer es ist, eine Band zu finden oder in der Musikbranche Fuß zu fassen. Ich dachte, gut zu sein, reicht. Offenbar habe ich mich gründlich getäuscht. Lustlos stochere ich in meinem Eisbecher herum, meine Mutter hatte Recht. Ich muss mich mehr auf die anderen Fächer konzentrieren, mir eine Oberschule suchen, die mir hilft mich auf das zu konzentrieren was mich im Leben weiter bringt. Mehr nicht. Vielleicht habe ich Glück und lerne so dann wirklich einen netten Mann kennen, den ich heiraten kann. „Miyu? Ich denke du solltest dich davon nicht runter ziehen lassen. Du hast eine wunderschöne Stimme.“ Masa lächelt mich aufmunternd an, aber ich verziehe das Gesicht. Dämlicher, bester Freund. Klar, dass er das sagen muss. Wie als hätte er meine Gedanken gelesen, schüttelt er jedoch den Kopf. „Ich meins ernst. Sing weiter, Miyu. Wenigstens einer von uns soll das tun können, was ihm Spaß macht.“ Jetzt hebe ich doch beide Augenbrauen. Wie ist das denn gemeint? „Huh?“ Masa zuckt seufzend mit den Schultern, während er die Tischplatte anstarrt und mir endlich den wahren Grund verrät, wieso er überhaupt vorbei gekommen ist. Nämlich nicht um mich vom Lernen abzuhalten. Sondern weil er Unterstützung braucht. „Ich bin aus dem Team geflogen…Kein Fußball mehr für mich.“ Jetzt verstehe ich wirklich nichts mehr - er war doch immer gut. Einer der besten Stürmer der Schule… Allerdings bricht alles aus um ihm heraus, bevor ich weiter nachfragen kann und ich höre nur stumm zu. Jetzt ist es von Vorteil, dass wir einen Tisch ziemlich weit in einer Ecke haben, hier kann uns niemand belauschen. „Ich glaub, ich bin schwul.“ Er erzählt mir von ihrem Training, dass er beim Duschen einen Ständer hatte und das ganze Team nichts mehr mit ihm zu tun haben will. Der Lehrer hat ihn rausgeschmissen, weil er es den anderen Jungs nicht zumuten kann, mit so jemandem im Team zu spielen. Je mehr ich höre, desto wütender werde ich - was soll der Scheiß denn bitte? „Deswegen bist du doch kein anderer Mensch…“ Völlig verwirrt ziehe ich ihn in meine Arme um ihn eng an mich heran zu drücken - im Moment zählt es nicht, wo wir sind. Ich will ihn einfach nur beschützen und dafür sorgen, dass diese Idioten ihm nie wieder zu nahe kommen können. Vielleicht bin ich voreingenommen weil ich ihn mein Leben lang kenne, aber er ist immer noch der gleiche Masa mit dem ich mich im Kindergarten gestritten habe. Dessen Bild ich zerrissen habe, woraufhin er mich geschubst hatte und ich mit einem blauen Fleck nach hause kam. Der Idiot, der mich ausgelacht hat, als ich das erste Mal ein rosa Kleid getragen habe, woraufhin ich ihn geschlagen hatte. Der Junge, der mich damals in den Arm genommen hat, als ich bei einer Matheprüfung gnadenlos versagt hatte. Er ist immer noch mein bester Freund, völlig egal ob er auf Männer steht oder Frauen oder beides. „Wehe du spannst mir meinen zukünftigen Ehemann aus…“ Das bringt ihn zum Lachen und irgendwie schaffen wir es, die Stimmung wieder zu kippen und unser Eis zu essen. Lange verbringen wir nicht mehr in der Stadt, immerhin müssen wir beide zum Abendessen zusammen sein. Aber als wir an einem Gachaautomaten vorbei kommen, bleibe ich noch mal stehen. Mit meinem restlichen Kleingeld schaffe ich es, uns zwei Hello Kitty Figuren zu angeln und Masa schüttelt amüsiert den Kopf, als ich ihm eine davon überreiche. „Du bist bescheuert.“ Lachend strecke ich ihm die Zunge heraus, während ich meine Figur in meine Handtasche packe. „Du erträgst mich trotzdem, also falsches Argument.“ Den Rückweg bis nach hause ziehen wir uns gegenseitig auf und ich bin mir sicher, dass ich seit Jahren nicht mehr so viel gelacht habe an einem Tag. Bevor wir uns trennen geben wir uns noch ein Versprechen - er wird mich beim singen unterstützen und ich bin dabei, sich selbst zu finden. „Wenns Ärger gibt, ruf mich an.“ Er nickt nur, umarmt mich noch mal kurz und dann verschwindet er ins Haus und ich mache mich daran, die restlichen Meter zu meinem Elternhaus ebenfalls noch zu bewältigen. Je näher ich komme, desto schwerer fällt es mir allerdings, mich zu bewegen - einfach hoffen, dass meine Mutter nichts gemerkt hat. Das dürfte sonst richtig hässlichen Streit geben. Kapitel 8: Our Scars Part 2 --------------------------- Die Aufnahmeprüfung für die Oberschule war hart, ich habe noch nie in meinem Leben so viel gelernt und mich nur von Kaffee und Wasser ernährt. Vermutlich habe ich dadurch sogar einige Kilo abgenommen. Aber das war es wert - ich wurde angenommen. Auch wenn die ersten zwei Schulwochen komplett seltsam sind. Die vielen Mädchencliquen erscheinen mir wahnsinnig suspekt. Ich habe zwar auch Freundinnen auf der Mittelschule gehabt, aber ich stand Masa immer näher. Vielleicht, weil ich mit ihm aufgewachsen bin. Etwas was die anderen Mädchen natürlich seltsam finden. Wie kann man nur mit Jungs befreundet sein? Aber hier auf der Oberschule sind die Mädchen noch viel enger zusammengeschlossen und ich habe keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll. Die ersten zwei Wochen fühlen sich an wie ein Spießrutenlauf - einfach furchtbar. Auch wenn ich mein Bestes versuche, neue Freundschaften zu schließen. Es ist schwer. Bis ich Aya kennen lerne. Gut, um genau zu sein, hatte ich sie halb umgerannt weil ich verschlafen und nicht mehr auf den Weg geachtet hatte, aber nun ja. Sie hatte ebenfalls Schwierigkeiten, Anschluss zu finden weil ihre Familie erst letztes Jahr zurück nach Japan kam und jetzt von ihr erwartet wird, dass sie die Oberschule besucht als hätte sie nie das Land verlassen. Sie ist wahnsinnig sarkastisch und direkt was ich unglaublich anziehend finde. Bald schon ist es, als ob wir uns seit Ewigkeiten kennen würden und obwohl Masa ihr gegenüber am Anfang wahnsinnig schüchtern ist, taut er schließlich nach und nach auf, bis wir es zu einem festen Ritual gemacht haben, uns jeden Samstag zum Kaffee zu treffen. Aya ist es auch, welche meiner Unsicherheit einen Strich durch die Rechnung macht, was die Musik angeht. Seufzend wickelt sich Aya eine blonde Haarsträhne um den Finger, während sie einen Schluck von ihrem Bier trinkt. „Weißt du, Miyu, du musst mehr aus dir herausgehen. Selbstsicherer werden. Du musst bereit sein, dafür einzustehen was du willst.“ Sie grinst, als hätte sie mir das Geheimnis meines Lebens verraten und ich vergrabe seufzend das Gesicht in den Händen. Es ist Samstagabend, ich bin mit ihr und Masa zum Karaoke gegangen, weil ich dachte, es würde Spaß machen. Mittlerweile bin ich mir da gar nicht mehr so sicher. Ich bin mir auch nicht sicher, wo sie den Alkohol her hat, ob sie wirklich schon volljährig ist, oder nicht. Es scheint alles einfach nur wahnsinnig kompliziert zu sein. Aber bevor ich darüber nachdenken kann, etwas zu erwidern, übergibt mir Masa grinsend das Mikrofon und ich verdrehe die Augen, während ich tief durchatme. Was bin ich froh über diese kleine Kabine. Hier haben wir zumindest unsere Ruhe. Ich versuche mich an einem Lied von Dir en Grey: „Jealous.“ Ich weiß nicht wieso, aber ich liebe diese Band. Masa ist Schuld daran, er hat sie mir gezeigt und die Stimme des Sängers zieht mich immer wieder in ihren Bann. Er hingegen steht mehr auf ihren Bassisten - Toshiya. Und ich hab ihn schon mehrmals aufgezogen, dass ich ihn zu einem Konzert schleppen werde, sobald wir volljährig sind. Denn den Ärger will ich nicht erleben, den es geben würde, sollte ich es wagen auf ein Konzert zu gehen. Aber wenn ich volljährig bin, kann mich keiner mehr von irgendetwas abhalten. Ganz sicher nicht. Als das Lied endet bin ich außer Atem und wische mir den Schweiß von der Stirn. Das war anders als sonst und während ich das Mikrofon sinken lasse, erwische ich Aya wie sie mich mit offenem Mund anstarrt und ein leises „Wow.“ murmelt. Ich habe schließlich nie behauptet, schlecht zu singen. Nur dass ich keine Zukunft für mich sehe in dem Bereich. „Miyu, du musst singen. Ich meine, später, professionell.“ Ich lache amüsiert auf, schlage mir jedoch gerade noch rechtzeitig die Hand vor den Mund. „Wenn du mir sagst, von was ich leben soll? Wir sind hier nicht in Amerika, hier verdienst du erst Geld wenn du erfolgreich bist…“ Davor ist es ein Überlebenskampf den ich mir nicht antun will. Denn dass ich das alles mit dem Geld meiner Eltern bezahlen könnte bezweifle ich stark. Meine Mutter will immerhin nach wie vor, dass ich wie sie werde - eine gute Hausfrau und Mutter. Und mein Vater? Es ist ein Wunder dass er mich noch nicht mit irgendwelchen Geschäftskollegen verkuppelt hat. Sollte ich auch nur Anzeichen zeigen, in eine andere Richtung gehen zu wollen, als die mir zugedachte, werde ich auf mich allein gestellt sein. Aya zuckt mit den Schultern, während Masa die Liste der Lieder durchscrollt und schließlich bei einem hängen bleibt. Kurz danach sehe ich mich mit X Japan und Joker konfrontiert und verdrehe leicht die Augen. Allerdings gebe ich nach und singe auch noch dieses Lied. Irgendwie läuft es dann darauf hinaus, dass hauptsächlich ich singen muss, was mich aber auch nicht stört - ich habe mich schon lange nicht mehr so gut und befreit gefühlt. Es ist, als würde mir eine schwere Last von den Schultern fallen. Endlich wieder ich selbst sein zu können ist besser als ich erwartet habe. Die ganzen letzten Jahre hatte ich mich verleugnet…Mich gezwungen, nur zu lernen. Ich sollte vielleicht öfter zum Karaoke gehen mit Masa und Aya. Immerhin wäre das eine gute Freizeitbeschäftigung. Als wir uns Stunden später auf den Heimweg machen, bin ich heiser und muss mich an Masa festhalten, weil sich mir alles dreht. Ich habe mir mit Aya ein Bier geteilt und das war eindeutig keine gute Entscheidung. Weil wir nicht wollen, dass unsere Eltern uns erwischen, haben wir uns schließlich in einem Love Hotel einquartiert - zum einen weil es auf dem Weg liegt, zum anderen, weil ich keine Ahnung habe wo wir sonst hin sollen. Als die Tür hinter uns ins Schloss fällt, bin ich so müde, dass ich im Stehen einschlafen könnte. Ich bekomme kaum mit, wie Masa mir hilft, die Schuhe auszuziehen oder als er mich sanft in Richtung Bett bugsiert, bis ich auf die Matratze falle und das Gesicht im Kissen vergrabe. Er könnte nachhause. Immerhin hat er nicht getrunken, aber er bleibt und während Aya im Bad verschwindet, setzt er sich zu mir aufs Bett und beginnt mir durch die Haare zu streicheln. „Einer muss doch auf dich aufpassen, Miyu…Außerdem kannst du mir dann an meinem Geburtstag die Haare halten.“ Ich schaffe es gerade so ein Auge zu öffnen um ihn skeptisch anzusehen, bevor ich das lieber lasse, weil mir davon noch schwindliger wird. „Igitt.“ Er lacht und ich taste nach seiner Hand, welche er sanft drückt. „Ich hab dich wahnsinnig lieb.“ Noch bevor er „Ich dich auch.“, sagen kann, bin ich eingeschlafen. Am nächsten Tag höre ich Wasserrauschen als ich aufwache und blinzle irritiert, bevor mir bewusst wird, was passiert ist und ich stöhnend wieder die Augen schließe. Ich hab wahnsinnige Kopfschmerzen. „Soll ich dir was gegen den Kater geben?“ Aya Stimme lässt mich langsam doch wieder die Augen öffnen, mit der Hoffnung dass sie Schmerztabletten dabei hat, allerdings erstarre ich komplett als sie sich stattdessen über mich beugt und mir einen Kuss auf die Lippen drückt, gefolgt von einem zweiten und dritten Kuss, bis ich beginne den Kuss etwas zu vertiefen. Wieso weiß ich selbst nicht, aber ihre Lippen sind so wahnsinnig weich und haben etwas an sich, dass ich nicht widerstehen kann. Als wir uns voneinander lösen, muss ich nach Luft schnappen und starre sie vermutlich ziemlich irritiert an - sie lacht nur und springt auf um ins Bad zu tänzeln, welches Masa gerade verlassen hat und ich schließe die Augen und ziehe eins der Kissen über meinen Kopf um meinen Herzschlag auszublenden der so laut in meinen Ohren dröhnt, dass ich Angst habe, dass das ganze Gebäude ihn hören kann. Wieso hat es sich so gut angefühlt, Aya zu küssen? Mädchen küssen doch keine Mädchen! Das ist falsch. Vermutlich sehe ich genau so verwirrt aus, wie ich mich fühle, denn Masa sieht mich fragend an, aber ich kann nur mit den Schultern zucken. Ich weiß doch auch nicht was gerade passiert ist. Als wir eine halbe Stunde später alle zusammen das Love Hotel wieder verlassen, bin ich immer noch nicht viel schlauer wie ich jetzt damit umgehen soll. Immerhin was soll das denn? Natürlich könnte ich sie darauf ansprechen, aber ich traue mich nicht. Vor allem nicht vor Masa. Also schweige ich, völlig in Gedanken versunken und als wir uns voneinander verabschieden, starre ich ihr so lange hinterher, dass mich Masa in die Seite piekst. „Alles in Ordnung? Du wirkst so verstört, Miyu-chan.“ Ich zucke nur seufzend mit den Schultern, bevor ich ihm ein gequältes Grinsen schenke. „Ach…Nur Kopfschmerzen.“ So ungern ich ihn auch belüge, ich muss es tun. Ich komme durchaus damit zurecht, dass er auf Männer steht. Aber bei mir selbst ist das etwas völlig anderes. Dazu kommt, dass ich Frauen nie attraktiv fand. Ab und an war ich neidisch auf ihre größeren Brüste, die längeren Wimpern. Aber sonst? Aya bringt mich vollkommen durcheinander. Masa schenkt mir ein mitleidiges Lächeln und bringt mich noch bis zur Tür wo er mich nochmal kurz umarmt und mir dann zu zwinkert. „Wenn du es nicht aushältst…komm rüber, ja?“ Ich kann nur schief grinsen und nicken bevor ich die Haustür aufsperre und tief durchatme. „Wird schon.“ Mehr als ein Mal umbringen kann mich meine Mutter zum Glück nicht. Es dauert ein ganzes halbes Jahr bis ich es schaffe, mich mit allem richtig auseinander zu setzen. Wer hätte gedacht, dass Gefühle so kompliziert sein können? Ich hatte mich mit Aya privat getroffen. Mehrmals. Irgendwann hatten wir uns erneut geküsst, danach wurde es irgendwann ernst. Wir hatten zwei Dates, eines in einem Vergnügungspart. Es ist neu für mich und aufregend und vollkommen irritierend. Es bringt mich durcheinander, aber sie bringt mich zum Lachen. Masa ist zuerst skeptisch, was unsere Beziehung angeht, nach und nach jedoch beginnt er Aya zu akzeptieren. Vielleicht tut er das auch nur meinetwegen, aber damit kann ich auch gut leben. Wir treffen uns wieder regelmäßig zum Karaoke und um zu lernen auch wenn es nach einem Jahr immer seltener wird. Ich versuche mich aufs Lernen zu konzentrieren und sei es nur um zu vermeiden, dass ich darüber nachdenken muss was ich danach machen möchte. An sich brauche ich mir ja keine Gedanken um einen Job zu machen, nicht wenn ich zulasse, dass meine Mutter mir einen Ehemann sucht, aber das will ich nicht. Auch wenn ich sicher bin, dass es mit Aya nicht bis zu unserem Lebensende halten wird. Ich will das, was wir im Moment haben, nicht aufgeben. Ich will meine Jugend genießen, die Zeit in der ich noch mit meinen Freunden zusammen bin. Wer weiß, wohin uns die Zukunft bringen wird. Manchmal wünsche ich mir meine Kindheit zurück, auch wenn ich damals bereits meine Mutter in meinem Nacken sitzen hatte. Es war irgendwie alles leichter. Immerhin wird jetzt von mir erwartet, dass ich mich mit meinen Klassenkameraden sozialisiere, gute Noten bekommen, die Kurse wähle, welche dafür sorgen, dass ich eine gute Hausfrau werden kann. Es ist ermüdend. Meistens falle ich abends ins Bett ohne etwas zu essen, weil es zu anstrengend ist, noch zu kochen oder überhaupt zu essen. Schlaf und Essen hole ich meist am Wochenende nach, es ist eigentlich ein Wunder, dass ich Zeit zum atmen finde. Nebenbei sehe ich mich nach einem Nebenjob um, weil ich nicht mehr von meinen Eltern abhängig sein möchte, was allerdings schwerer ist, als es klingt. Vor allem mit einer Mutter die versucht über mein Leben zu bestimmen. Meinen Vater bekomme ich noch seltener zu Gesicht als früher, aber stören tut mich das nicht, ein Elternteil weniger, das an mir herum mäkeln kann. Meine Mutter kann ich ja meistens ausblenden. Seufzend werfe ich einen Blick in den Spiegel - der müde Gesichtsausdruck wird wohl noch einige Jahre bleiben. Gähnend bürste ich mir die Haare und werfe danach einen Blick in meinen Schrank. Heute ist endlich mal wieder ein freier Tag für mich und ich habe vor, diesen zu genießen. Allein. So sehr ich Aya auch liebe, aber ich brauche eine Pause von Menschen, ich brauche Ruhe und ein Mal niemanden um mich herum der etwas von mir will. Deswegen nehme ich nur Mp3-Player, Handy, Geldbeutel und Schlüssel mit als ich das Haus verlasse und mich auf den Weg zum Bahnhof mache. Kaum am Strand angekommen, atme ich tief durch und schließe für einen Moment die Augen bevor ich näher ans Wasser trete. Hier kann ich meine Musik ausschalten und den Wellen lauschen. Einfach entspannen und an nichts denken. Nicht an die anstehenden Prüfungen, nicht an meine Klassenkameraden oder meine Lehrer. Auch nicht an meine Zukunft. Aber unwillkürlich beginnen meine Gedanken zu Masa zu driften und dass ich ihn ziemlich vernachlässigt habe in letzter Zeit. Aber er verbringt auch mehr Zeit mit seinen Freunden, irgendwer besorgt ihnen jedes Mal Alkohol…Seufzend ziehe ich mein Handy aus der Tasche, starre eine gefühlte Ewigkeit nur auf das Display, bis das Bedürfnis das kleine Gerät ins Wasser zu werfen fast schon übermächtig wird. Kopfschüttelnd tippe ich eine Nachricht an Masa, bevor ich noch ein Bild vom Wasser mache und es hinterher schicke. Er antwortet fast sofort und bringt mich zum Lachen mit seiner Reihe an traurigen Smileys. Nur um ihn zu ärgern mache ich ein Selfie von mir, näher am Wasser und schicke es ihm ebenfalls. Dieses Mal braucht seine Antwort etwas länger, besteht aber aus einem Bild von ihm auf seinem Bett, mit seinen Büchern vor sich, seinen Dir en Grey Postern im Hintergrund und einem leidenden Gesichtsausdruck. Er erinnert mich an einen traurigen Welpen und ich muss erneut lachen, bevor ich ihm schreibe dass ich ihm etwas mitbringen werde, was hoffentlich ein Lächeln auf sein Gesicht zaubert. Einige Minuten schreibe ich noch mit ihm, während ich am Wasser entlang laufe, bis er sich entschuldigt dass er weiter lernen muss und ich das Handy wieder in meine Hosentasche schiebe. Ob Aya sehr sauer sein wird, dass ich sie heute links liegen lasse? Ich weiß es nicht, aber wir können das sicherlich noch besprechen. Den restlichen Tag verbringe ich am Strand, ich genieße die frische Luft, den Wind, die Wellen an meinen nackten Füßen auch wenn das Wasser kalt ist. Es ist eine wunderbare Auszeit von der Realität. Auf dem Rückweg gehe ich noch zu einem Tempel um zu beten und einen Glücksbringer für Masa zu kaufen. Immerhin, er fehlt mir. Vielleicht ist es besser, dass wir uns auseinander leben - er mehr mit Jungs macht in seinem Alter und Anschluss findet. Wir waren immerhin von Anfang an ein seltsames Gespann. Allerdings wird er immer mein bester Freund bleiben und statt nach hause zu fahren, entscheide ich mich spontan dazu, zu ihm zu gehen. Dieses Mal bin ich es, die unvermittelt in seinem Zimmer steht und ihm eine Tafel Schokolade vor hält, welche wir lachend im Garten essen. Ich wünsche mir in diesem Moment nur dass es ewig so bleiben kann und die nächsten zwei Jahre uns nicht noch weiter voneinander fort treiben. Kapitel 9: Our Scars Part 3 --------------------------- Mein Handy reißt mich aus dem Schlaf und während ich gähnend nach dem mobilen Gerät greife, frage ich mich wer mich um die Uhrzeit anruft. Allerdings fällt mir der Name ins Auge, bevor ich die Uhrzeit erkennen kann und eine eiskalte Hand greift nach meinem Herzen und umschließt es, während ich den Anruf annehme. „Masa!“ Für einen kurzen Moment herrscht Stille am anderen Ende der Leitung, dann höre ich ein Knistern, gefolgt von einem Schniefen und einem leisen „Miyu.“ Mittlerweile habe ich mich aufgesetzt, streiche mir die wirren Haare aus dem Gesicht und versuche an etwas zu denken, dass mich von der wachsenden Panik in meinem Inneren ablenkt. „Was ist passiert? Wo bist du?“ Meine Gedanken rasen, überschlagen sich nahezu, während ich mich an mein Handy festklammere und versuche ruhig zu atmen. Woher kommt nur dieses grauenvolle Gefühl in meinem Inneren? „Ich hab dich wahnsinnig lieb, Miyu.“ Masas Stimme ist immer noch leise, aber ich kann auch keine typischen Hintergrundgeräusche ausmachen wie Autos oder Werbedurchsagen, was mich irritiert. Wenn er mich um so eine Uhrzeit anruft, dann meist nur weil er betrunken ist, aber er klingt völlig nüchtern. Keine Kumpels, die im Hintergrund grölen oder ihm feixend miese Sprüche zuwerfen. Aber da ist so ein seltsames Pfeifen. „Masa lass das. Du machst mir Angst.“ Ich runzle die Stirn, während ich vom Bett rutsche, um mir Klamotten aus dem Schrank zu ziehen. Nur in Shorts und einem Top sollte ich wohl nicht vor die Tür. Vor allem nicht mitten in der Nacht, immerhin ist es dunkel draußen. „Es tut mir leid. Du weißt, dass du immer meine beste Freundin sein wirst, ja?“ Ich verdrehe die Augen, mittlerweile bin ich mir nicht sicher ob er nicht doch betrunken ist - oder schlimmer - auf irgendwelchen Drogen. „Masa…Natürlich. Und du wirst auch immer mein bester Freund sein. Und deswegen komm ich dich jetzt abholen, sag mir einfach, wo du bist, ja? Ich nahm ein Taxi und bring dich nachhause.“ Er lacht trocken, was mich erschaudern lässt - was ist an dieser Aussage denn so amüsant? „Oh Miyu…“ Für einen Moment herrscht Schweigen zwischen uns, welches ich nutze um den Lautsprecher anzumachen und das Handy kurz abzulegen, dass ich mich umziehen kann. Als ich das Telefon wieder in die Hand nehme, höre ich ihn schluchzen und erstarre. Ich habe Masa nicht mehr weinen sehen oder hören, seit wir Kinder waren. Seit damals, als er mir gestanden hat, dass er vermutlich schwul ist. Jetzt wo ich so darüber nachdenke, kommt es mir seltsam vor. Aber zu sagen, dass wir uns die letzten Jahre nicht voneinander entfernt haben wäre auch eine Lüge gewesen. Und zwischen dem Schulstress, meiner Beziehung mit Aya und dem Druck, mir vor meinen Eltern nichts anmerken zu lassen, dass ich nicht mehr das Mädchen bin, welches sie so gerne haben wollten, ist der Kontakt zu Masa etwas eingerostet. Wenn man eben von den Anrufen absieht, wenn er betrunken war. „Bitte rede mit mir, Masa.“ Meine Stimme zittert, sie ist eigentlich nur noch ein Flüstern, während die eisige Hand mein Herz komplett umschließt und zuzudrücken beginnt. Ich muss schlucken, als keine Antwort kommt und wiederhole deswegen seinen Namen etwas lauter. „Masa, bitte.“ Allerdings reagiert er immer noch nicht und langsam beginnt sich der Raum um mich zu drehen, während ich innerlich bete dass das hier nur ein Alptraum ist. „MASA!“ Das Schluchzen setzt wieder ein, jedoch lauter als davor, als würde er sich das Handy wieder ans Ohr pressen und ich bin kurz davor selbst zu weinen. Was ist denn nur mit ihm los? „Ich hab dir eine Email geschickt…Lies sie bitte, ja?“ Ich runzle die Stirn, bevor ich das Handy vom Ohr nehmen will, jedoch zusammen zucke als er ein hektisches „Nicht jetzt!“ An seinen Satz hängt. Ich muss seufzen. Was auch immer es ist, es muss ihm ja wahnsinnig viel bedeuten. „Ok. Ich les sie später.“ Das scheint ihn zu beruhigen, denn das schluchzen stoppt. „Ich würde dich so wahnsinnig gerne nochmal sehen, weißt du.“ Ein neues Hintergrundgeräusch lenkt mich etwas von seinen Worten ab und ich verlasse mein Zimmer um mit wackligen Beinen nach unten zu gehen und meine Schuhe anziehen zu können. Waren das seine Schritte auf Kies? „Was redest du denn da? Wir treffen uns doch morgen.“ Kopfschüttelnd schlüpfe ich in meine Stiefel, lege das Handy zur Seite um mir einen Hoodie überziehen zu können. „Ich kann nicht mehr.“ Dieses Mal ist es, als würde er mir diese Worte nur noch zuflüstern und ich erstarre mitten in der Bewegung, das Handy ans Ohr gepresst, während mir abwechselnd heiß und kalt wird. „Mach keinen Scheiß.“, fauche ich ihn im nächsten Moment an, mein Herz rast so schnell, dass ich mein Blut in den Ohren rauschen höre, während ich meinen Schlüssel nehme und das Haus verlasse, mich panisch umsehend. Ich denke nicht mehr daran, dass ich Geld brauche um ein Taxi anzuhalten. Dass in der Nachbarschaft keine Taxen fahren um diese Uhrzeit. Oder dass die letzte Bahn vermutlich schon längst weg ist. Alles an dass ich denken kann in diesem Moment ist, dass ich mittlerweile weiß woher ich dieses Geräusch von Schuhen auf Kies kenne. „Masa…“ Ich renne die Straße entlang, in Richtung seines Zuhauses, aber ich weiß, er wird nicht dort sein. „Ich liebe dich, Miyu. Du bist das Beste was ich je hatte im Leben.“ Jetzt bin ich es, die schluchzen muss und automatisch renne ich schneller auch wenn ich immer noch keine Ahnung habe, wohin. Ich weiß doch nicht mal, wo Masa ist, er kann sich überall aufhalten. Überall wo sich ein Hochhaus befindet. „Ich komm dich abholen, Masa, bitte, warte auf mich, ja?“ Er lacht, leise, traurig, gefolgt von einem herzzerreißenden Schluchzen dass mir ins Herz schneidet und mir die Tränen in die Augen treibt. Ein eisiger Wind erhebt sich plötzlich und lässt mich erschaudern als mir bewusst wird, dass ich ihn auch durchs Telefon pfeifen hören kann. „Masa?“ Fast zaghaft sage ich seinen Namen, traue mich kaum, ihn überhaupt auszusprechen, während ich an der Kreuzung angekommen bin, welche wir früher immer überquert haben um zu unserer Schule zu gelangen. Hektisch lasse ich den Blick schweifen, das Schulgebäude ist nicht hoch genug. Natürlich nicht. Verfluchte Scheiße. „Masa, ich liebe dich. Bitte…bitte warte auf mich!“ Langsam kommt die Bahnstation in Sicht und ich muss mir über die Augen wischen. Meine Lungen und meine Beine protestieren, aber irgendwo hier sollte ich doch ein Taxi finden können. Hoffentlich. „Masa…“ Dieses Mal ist es nicht mehr als ein Aufschluchzen, während ich einen Blick auf die große Uhr vor mir werfen kann. Drei Uhr morgens. Die nächste Bahn fährt erst um sechs Uhr. „Goodbye, Beautiful.“ Ich erstarre, als ich seine Stimme wieder höre. Dieses Mal ist sie ruhig, bar jeglicher Emotionen. Als hätte er mit allem abgeschlossen und ich weiß, dass ich zu spät bin. „Masa…“ Mehr bringe ich nicht über die Lippen, bevor die Verbindung plötzlich unterbrochen wird und für einige Sekunden starren ich auf mein Handy - es liegt nicht am Akku. Also hat er wirklich aufgelegt. Meine Beine geben nach, während ich mit zitternden Fingern seine Nummer wähle. Es klingelt. Ein Mal. Zwei Mal. Drei Mal. Mittlerweile erkenne ich meine Umgebung gar nicht mehr, weil ich so heftig weinen muss. Nach dem zehnten Klingeln lege ich schließlich auf und rufe die Polizei. Es fällt mir schwer, mich überhaupt zu konzentrieren und die Beamten müssen unzählige Male nachfragen bis sie überhaupt eine vernünftige Information aus mir heraus bekommen, versprechen aber, meinem Verdacht nachzugehen. Danach lasse ich das Handy sinken und starre einfach nur vor mich hin ins Leere, während ich bete, dass nichts passiert ist. Dass Masa einfach nur betrunken und traurig war. Von mir aus auch vollgepumpt mit Drogen. Aber am Leben. Wie lange ich auf dem Boden sitze und nichts tue, weiß ich gar nicht, irgendwann werde ich angesprochen. Zuerst von einem Passanten, dann von einem Polizisten. Weil ich kaum reagiere, ruft der Polizist einen Notarzt, welcher schließlich aus mir heraus bekommt, was passiert ist. Ich bekomme ein Beruhigungsmittel gespritzt und der Polizist bringt mich nachhause. Dort angekommen verabschiedet er sich und ich gehe langsam ins Wohnzimmer wo ich mich aufs Sofa fallen lasse und an die Wand starre. Ich fühle mich immer noch wie betäubt. Vermutlich vergehen Stunden, die ich so sitze und darauf warte, dass etwas passiert. Als mein Handy klingelt, lasse ich es fallen und es dauert, bis ich es schaffe, es aufzuheben und den Anruf anzunehmen - es ist Masa. Oder zumindest dachte ich es, bis die Stimme am anderen Ende der Leitung erklingt. Es ist nicht Masa, sondern ein Polizist der Masas Handy auf dem Dach eines Hochhauses gefunden hat. Ein Hochhaus dass schon vielen Menschen den Weg in ein besseres Leben gezeigt hat. Kein einziges Mal fällt das Wort Selbstmord während dem Telefonat, aber ich weiß dass es zu spät ist. Masa ist gesprungen und ich konnte ihn nicht aufhalten. Der Polizist stellt mir Fragen die ich kaum beantworten kann, irgendwann meint er, er wird eine Streife vorbei schicken, weil sie klären wollen ob Masa nicht doch vom Dach gestoßen wurde. So tröstlich der Gedanke für einen Moment auch ist, weiß ich genau, dass es Schwachsinn ist zu hoffen. Ich habe ihn gehört, mit ihm geredet. Wer verabschiedet sich denn, bevor er ermordet wird? Das ist vielleicht in Filmen so, aber nicht in der Realität. Nachdem auch dieses Telefonat beendet ist, beginnt alles vor meinen Augen zu verschwimmen, aber ich schaffe es, aufzustehen und mich nach draußen zu setzen, auf die Treppe vor dem Haus. Ich will nicht, dass meine Eltern irgendetwas davon mitbekommen. Vor allem will ich nicht, dass sie denken, ich hätte irgendetwas verbrochen, weil die Polizei bei uns klingelt. Der Rest der Nacht verschwimmt zu einem Strudel aus bunten Farben und Formen, während ich der Polizei erkläre, wieso ich der Hauptkontakt in Masas Handy bin und was er mir gesagt hat, bevor er gesprungen ist. Ich lasse sie sogar die Email lesen, welche Masa mir geschickt hat. Es ist ein Abschiedsbrief, ausführlicher als das was er mir gesagt hat. Mit Erklärungen, die deutlich beweisen, dass er seinen Selbstmord seit langer Zeit geplant hat. Ich frage mich, wieso er mir nie etwas davon erzählt hat, während ich auf den braunen Schreibtisch vor mir starre. Aus seiner Email geht hervor, dass er von seinen Klassenkameraden massiv gemobbt und regelmäßig geschlagen wurde. Sogar von Vergewaltigung ist die Rede. Mir wird schlecht, je länger ich die Augen über die Zeilen gleiten lasse, die Masa geschrieben hat. Wie können Menschen nur so grausam sein? Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit wieder zurück zuhause bin, kann ich immer noch nicht glauben, dass das alles passiert sein soll. Kopfschüttelnd lasse ich mich aufs Bett sinken und es dauert nicht lange, bis ich eingeschlafen bin. Als ich wieder aufwache ist es Nachmittag und ich sehe mich verwirrt in meinem Zimmer um, bevor ich kopfschüttelnd nach dem Handy greife um Masa zu schreiben. >Ich hatte einen echt bescheuerten Traum. Erzähl ich dir beim Kaffee, ist zu viel zum Tippen, bis gleich< Die Nachricht ist schneller abgeschickt, als ich nachdenken kann. Und erst als ich aus der Dusche komme, fällt mir auf, wie merkwürdig es ist, dass er die Nachricht nicht gelesen hat. Die Woche vor der Beerdigung verbringe ich damit, meine Sachen zu packen und mir ein Flugticket zu kaufen. Ich halte es in diesem Land keine Sekunde länger als nötig aus und ich werde die Schule nicht beenden. Meine Eltern wissen noch nichts davon, aber um sicherzugehen, habe ich mir so viel Geld wie möglich bereits auf ein zweites Konto überweisen lassen, welches meine Eltern damals ebenfalls vor mich angelegt hatten. Es ist eigentlich nur dafür da, dass ich in Notfällen abgesichert bin, falls mein Ehemann sich in einer finanziellen Krise befinden sollte, aber im Moment ist es das Geld, welches mein Überleben sichern wird. Seit dem Tag, an dem Masa gesprungen ist, habe ich mit meinen Eltern kein Wort mehr gesprochen und auch die Beerdigung über, vermeide ich es, ihnen zu nahe zu kommen. Masas Mutter schaffe ich es ebenfalls auszuweichen, auch wenn ich weiß, dass es nicht fair ist. Aber es gibt nichts, was ich tun kann um ihr den Schmerz zu nehmen. Und ich will mit ihr nicht über das reden, was passiert ist. Ich will mit niemandem reden. Die Beerdigung über starre ich auf einen unbestimmten Punkt vor mir, blende einfach alles um mich herum aus. Irgendwann jedoch ist es vorbei und ich kann nicht anders, als erleichtert aufzuatmen. Ich kann hier nichts mehr für Masa tun. Und wenn ich will, dass er stolz auf mich ist, muss ich neu anfangen. Der Weg zum Flughafen erscheint mir unwirklich, alles fühlt sich seltsam an, als wäre es in Watte gepackt. Als ich das Gate schließlich erreiche, wartet Aya bereits auf mich, welche mich wortlos in die Arme zieht. Ich bin ihr nichtmal böse, dass sie nicht auf der Beerdigung war. Hätte ich eine Wahl gehabt, wäre ich auch nicht da gewesen. Aber ich musste. „Bereit, Sayuri?“ Sie streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ich nicke stumm. Das wird mein neuer Name sein. Sayuri Cooper. Sobald wir in Amerika angekommen sind, werde ich mir einen neuen Ausweis besorgen. Denn meinen alten Namen kann ich nicht mehr ertragen. Ich habe immer noch Masas Stimme im Ohr, die meinen Namen sagt und es schnürt mir jedes Mal die Kehle zusammen. „Keine Sorge, ich werde dich zur besten Sängerin machen die es gibt. Das verspreche ich dir!“ Sie grinst und ich nicke erneut, immerhin ist das genau der Plan. Zu singen. Ich will lernen, meine Stimme zu nutzen. Masa stolz zu machen. Und vor allem will ich das tun, was mir Spaß macht im Leben und damit mein Geld verdienen. In Japan werde ich das alles nie erreichen können. Egal wie lange es dauert, ich werde erst zurück kommen, wenn ich sicher bin, dass meine Stimme gehört werden wird. Es wird vermutlich schwer werden, immerhin kenne ich nicht viele Mädchen die davon träumen, Rocksängerin zu werden, aber ich habe Aya die mir den Rücken stärkt. Und die Erinnerung an Masa welche ich auf ewig in meinem Herzen bewahren werde. Kapitel 10: Vision ------------------ Als Kaya mich vorsichtig weckt, sehe ich ihn erstmal völlig irritiert an, bevor ich mich gähnend strecke und mir von ihm aus dem Taxi helfen lasse. Ich habe keine Ahnung, wo wir sind, aber zumindest scheinen wir nicht zurück an der Halle zu sein. Nachdem Kaya den Fahrer bezahlt hat, schenkt er mir ein strahlendes Lächeln, was mich die Stirn runzeln lässt, aber ich folge ihm, bis wir vor einem Café stehen bleiben. „Bist du allergisch gegen Katzen?“ Ich starre Kaya einfach nur irritiert an, bevor ich den Kopf schüttle und mich keine zwei Minuten später mit flauschigen Samtpfoten konfrontiert sehe, welche mir schnurrend um die Beine streichen, während Kaya uns einen Platz sucht. Ein Kätzchen scheint einen besonderen Narren an mir gefressen zu haben, denn es folgt uns quer durchs Café und kaum dass ich mich setze, springt es schnurrend auf meinen Schoß um sich dort einzurollen. Es ist niedlich. Und unbewusst muss ich schmunzeln, beginne langsam das Tierchen zu kraulen, welches daraufhin nur noch lauter schnurrt. „War ne gute Entscheidung, nicht?“ Kaya grinst mich über die Karte hinweg an und ich nicke langsam, immer noch damit beschäftigt das Kätzchen auf meinem Schoß zu kraulen. Ihr Fell ist so weich. Und sie fühlt sich so warm an, vielleicht sollte ich doch mal über Haustiere nachdenken? Bevor wir jedoch bestellen können, reißt mich eine Stimme wieder aus meinen Gedanken und ich sehe die Frau fragend an, welche vor unserem Tisch steht und Kaya gespielt böse anfunkelt. „Dass du dich hier auch noch mal blicken lässt!“ Er hingegen lacht, steht auf um sie zu umarmen und bückt sich danach um eine der Katzen vom Boden aufzuheben, welche neugierig an seinem Stuhl geschnuppert hat. „Aber Sakura. Irgendwann wäre ich sicherlich wieder vorbei gekommen.“ Sie mustert mich skeptisch, sieht dann wieder zu Kaya und ich würde mich am Liebsten verstecken. „Also bist du nur hier um mir deine Freundin vorzustellen? Was ist mit Juka? Ich bin enttäuscht, ich dachte, ihr würdet heiraten!“ Kaya verdreht die Augen und ich konzentriere mich darauf die Katze zu flauschen welche mittlerweile eingeschlafen zu sein scheint. Glückliches Tier. „Schwesterherz, Juka geht es hervorragend. Du solltest aufhören, gleich vom Schlimmsten auszugehen, wenn du mich mit einem hübschen Mädchen siehst…Das ist Miyu, sie ist Kamijos Freundin.“ Jetzt hebe ich doch eine Augenbraue, während ich zwischen den beiden hin und her sehe. Das soll Kayas Schwester sein? Aber gut, er hatte erwähnt, dass er zwei Schwestern hat und ein bisschen ähnlich sehen sie sich ja sogar…“Kamijo hat wirklich eine Freundin gefunden? Ich dachte…“ Sie unterbricht sich mit einem Blick zu mir, lächelt und nimmt dann stumm unsere Bestellungen auf, wenngleich ich schwören könnte, dass sie noch etwas zu diesem Thema zu sagen hätte. Nur was? Und will ich es wirklich wissen? Als unser Kaffee kommt wird das Kätzchen auf meinem Schoß wieder munter und ich muss es davon abhalten, die Pfoten in die Tasse zu tauchen, woraufhin ich einen bösen Blick bekomme und lachen muss. Vielleicht hätte ich früher schon diese Option wahr nehmen sollen? Nach einigen weiteren Streicheleinheiten verschwindet das Kätzchen allerdings, vermutlich weil es Futter gibt und ich wende meine Aufmerksamkeit wieder Kaya zu, welcher mich unschuldig angrinst. „Du und Juka wollt heiraten?“ Er verschluckt sich an seinem Kaffee, woraufhin auch die Katze flüchtet welche noch auf seinem Schoß lag und ich muss erneut lachen. Damit hat er definitiv nicht gerechnet. Es dauert, bis er sich erholt hat und mir antworten kann. „Kein Wort zu Kamijo!“ Das bringt mich nur noch mehr zum Lachen und ich grinse ihn schließlich nur unschuldig an, drehe eine Haarsträhne um meinen Zeigefinger. „Nur wenn du mir Details verrätst.“ Er verzieht das Gesicht, aber ich weiß jetzt schon, dass ich gewonnen habe. So etwas für sich zu behalten muss schwer sein. Vor allem wenn man niemanden hat, mit dem man darüber reden kann, außer der Person die man heiraten will. „Also?“ Ich sehe ihn lächelnd an und er verdreht stumm die Augen. „Du bist echt schrecklich, Miyu.“ Ich zucke mit den Schultern und er beginnt zu erzählen. Es ist alles viel weniger romantisch als man vermuten könnte, aber das ist vollkommen in Ordnung. Hauptsächlich geht es um den Papierkram - und eine kleine, private Feier. Die allerdings wird der schwierige Part. Kaya will unbedingt traditionelle Kimonos, während Juka am Liebsten nicht mal einen Anzug tragen würde und ich muss grinsen. Männer. Wobei Kamijo erstaunlich gut in Anzügen aussieht. Oder in Uniformen. „Könnt ihr nicht theoretisch auch auf dem Meer heiraten?“ Langsam lege ich den Kopf schief, während ich versuche mich an den Unterricht zu erinnern. Es gibt so viel dass ich mir nicht mehr ins Gedächtnis rufen kann. Aber solche Sachen drängen sich immer wieder ungefragt an die Oberfläche. Kaya hingegen zuckt nur mit den Schultern und dreht seine Tasse in den Händen. „Wenn das so weitergeht, holen wir uns einfach nur irgendwo die benötigten Papiere und das wars. Ich liebe ihn, aber irgendwann lernt man nachzugeben.“ Für einen Moment starre ich ihn nur an, schüttle stumm den Kopf und greife nach seiner Hand. „Man heiratet nur ein Mal im Leben, Kaya. Das muss perfekt sein.“ Er schenkt mir ein trauriges Lächeln aber bevor er protestieren kann, drücke ich seine Hand sanft und halte den linken Zeigefinger gegen meine Lippen. „Vertrau mir mal. Außerdem…So haben wir was zu tun, während der Tour, nicht?“ Und ich entkomme zumindest dem Wahnsinn des Klamottenkaufs. Das hat auch was für sich.Vor allem kann ich so sicher sein, dass ich nie wieder in Kai rennen werde, was wahnsinnig beruhigend ist. Denn so gerne ich ihn auch wieder gesehen hätte, wie sollte ich mich denn erklären? Für ihn bin ich tot. Er hat ein neues Leben. Und vielleicht traue ich mich nicht, die Schatten der Vergangenheit zu beleuchten aus Angst, was ich noch finden mag. Kaya seufzt leise, bevor er zögerlich meine Hand drückt, kurz den Blick schweifen lässt und schließlich nickt. „Ok. Was sagen wir Kamijo?“ Das ist allerdings eine wirklich gute Frage. Ich beiße mir auf die Unterlippe, während meine Gedanken sich im Kreis zu drehen beginnen. „Du zeigst mir die Gegend.“ Mich trifft ein skeptischer Blick, aber ich zucke nur mit den Schultern. „Bin nie wirklich viel rumgekommen, das ist schon glaubhaft.“ Auch wenn es eigentlich nicht stimmt, aber dass muss Kaya ja nicht wissen. Stunden später machen wir uns auf den Rückweg zum Hotel und ich bin restlos erledigt. Hochzeitsplanung mit Kaya ist anstrengender als gedacht, vor allem weil Bilder von Masa immer wieder vor meinem inneren Auge auftauchen. Vielleicht ist er auch der Hauptgrund, dass ich Kaya und Juka unbedingt helfen will. Weil ich nie dazu kommen werde die Traumhochzeit meines besten Freundes zu planen. Nur ob es helfen wird steht in den Sternen. So in Gedanken versunken laufe ich fast an Kamijo vorbei, welcher auf uns wartet und erschrecke mich richtig, als er meinen Namen ruft. „Du solltest sie nicht komplett fertig machen, Kaya.“ Er lacht und ich kann die Energie fast spüren die von ihm ausgeht. Adrenalin und Euphorie, diese bittersüße Mischung welche einen automatisch nach einem Live überfällt und welche ich nicht bedacht habe. Meine Kehle schnürt sich zusammen, als Kamijo mich in seine Arme zieht aber ich erwidere den Kuss stumm den er mir auf die Lippen drückt, versuche zu verdrängen wie sehr mir dieses Gefühl fehlt. Kaya verabschiedet sich nach einer kleinen Entschuldigung und Kamijo nutzt diese Gelegenheit um mich auf seine Arme zu heben und auf unser Zimmer zu tragen. Zum Glück kann ich so das Gesicht an seiner Halsbeuge vergraben, dass ich ihm nicht in die Augen sehen muss. Denn dann wüsste er, was in mir vorgeht und dass es mich quält, ihn jetzt ertragen zu müssen. Allerdings muss ich mir darüber keine Gedanken mehr machen, kaum dass wir auf unserem Zimmer sind, denn Kamijo nutzt das um mich verlangend zu küssen und ich vergrabe die Finger in seinen Haaren, während er mich aufs Bett drückt. Nach dem Sex dauert es nicht lange, bis er eingeschlafen ist und ich starrte so lange in die Dunkelheit bis meine Augen brennen und die Erschöpfung die Oberhand gewinnt. Diese Nacht träume ich das erste Mal seit Jahren wieder von Masa. Als ich aufwache, habe ich immer noch seine Stimme im Ohr und Tränen auf den Wangen. Es war so real, dass ich sofort zum Handy greife um Masa zu schreiben dass ich ihn wahnsinnige vermisse und es kaum erwarten kann, ihn wiederzusehen. Erst als ich die Mail abgeschickt habe, wird mir bewusst, dass er sie nie lesen wird und ich starre minutenlang auf mein Handy. Bis Kamijo mit nichts als einem Handtuch um die Hüften aus dem Bad kommt und sich neben mich aufs Bett setzt um mich in die Arme zu nehmen. Ich lehne den Kopf an seine Schulter und er nimmt mir das Telefon aus der Hand, legt es auf den Nachttisch während ich das Gesicht drehe und mich enger an ihn heran presse. Er sagt nichts, hält mich einfach nur fest und erneut bin ich dankbar dafür, ihn in meinem Leben zu haben. Allerdings hallen Masas Worte immer noch in mir nach und ich weiß einfach nicht, was ich davon halten soll. Es klingt so leicht, sich allem zu stellen, aufzuhören wegzulaufen. Aber meine Vergangenheit ist nicht einfach so wieder aufzurollen wie ein Knäul Garn. Nach dem Frühstück fühle ich mich immer noch nicht wirklich besser, aber ich bekomme keine Gelegenheit mehr, über die Fehler meiner Vergangenheit zu grübeln als ich mich mit der Band konfrontiert sehe, welche die zwei Stunden bevor sie zum Soundcheck müssen, noch nutzen wollen um mehr über mich zu erfahren. Natürlich ist das ein perfektes Timing aber ich kann schlecht zurück auf unser Zimmer gehen und mich im Bett verstecken. Vor allem nachdem Kamijo meinte, dass wir heute Abend nach dem Konzert direkt weiterfahren. Eventuell war es ja doch ein Fehler mitzugehen. Andererseits wäre ich zuhause wohl komplett verrückt geworden. So zwinge ich mich zu einem Lächeln und sehe Hizaki fragend an. „Entschuldige…Was hattest du gesagt? Ich war gerade gedanklich woanders.“ Er schaut kurz skeptisch, zuckt dann allerdings nur mit den Schultern. „Ich hatte nur gefragt wo du Kamijo kennen gelernt hast. Er hat nie viel darüber erzählt.“ Bei diesen Worten läuft es mir eiskalt über den Rücken und ich muss schlucken, weil es sich anfühlt als hätte man mir in den Magen geschlagen. Hizaki weiß nicht, was er mit dieser harmlosen Frage angestellt hat, aber mir wird schlecht als ich zurück denke. Denn das erste Treffen mit Kamijo beinhaltete auch Machi…Und wäre ich damals nicht aus dem Haus gestürmt um mich zu betrinken, hätte ich Machi auch nie kennen gelernt. Ich weiß nur nicht wen ich mehr verfluchen soll - Akira oder den Alkohol. „Miyu? Alles ok?“ Ich kann nur den Kopf schütteln während sich um mich herum alles zu drehen beginnt. Dass Kai lebt, weiß ich jetzt, aber was aus Akira wurde ist weiterhin ein Mysterium. Und Machi…“Entschuldigung.“ Im nächsten Moment bin ich auf aufgesprungen und aus der Lobby in die Damentoilette geflüchtet, wo ich mich übergeben muss. Danach fühle ich mich zumindest etwas besser auch wenn ich am Liebsten im Erdboden versinken würde. Aber ich hätte nicht lügen können. Jedoch ertrage ich es auch nicht, die Wahrheit zu sagen. Als ich endlich sicher bin, nichts mehr im Magen zu haben und mir gründlich den Mund ausgespült habe, gehe ich auf wackligen Beinen zurück, nur um wie angewurzelt stehen zu bleiben als das Wort „schwanger“ fällt. Ich bin unsicher, wer es in den Raum geworfen hat, allerdings reicht es aus, dass ich auf dem Absatz kehrte mache und das Hotel verlasse. Draußen zwinge ich mich tief durchzuatmen, wieder und wieder, bis ich doch auf die Stufen vor dem Gebäude sinke und die Knie anziehe. Selbst wenn ich Kinder haben wollen würde, mir wurde bestätigt dass es unmöglich ist. Dank dem verdammten Autounfall an dem ich auch noch selbst Schuld bin. Sicher, es war der andere Fahrer, der gerast ist und die Kontrolle verloren hat, aber hätte ich nur auf einem Rastplatz angehalten…So in Gedanken versunken höre ich die Schritte gar nicht, welche sich mir nähern. Erst als sich jemand neben mich setzt, sehe ich langsam auf und direkt in Jasmines besorgtes Gesicht. „Hier. Du siehst aus, als könntest du das brauchen.“ Damit hält er mir einen Schokoriegel hin und ich kann nicht anders als zu lächeln, bevor ich den Kopf schüttele. „Glaub mir, Schokolade hilft gegen fast alles. Teru schleppt mich eh wieder in den nächsten Konbini sobald er einen sieht…“ Erneut schüttle ich den Kopf, dieses Mal aber schon viel weniger energisch. Vielleicht hat Jasmine ja auch Recht… Schlussendlich nehme ich den Riegel dann doch an und während ich esse, erzählt mir Jasmine von seinem Leben vor der Band. Dass er sich immer noch an Zaubertricks versucht und dass Teru ihm wahnsinnig gerne dabei hilft. „Aber weißt du, was mein größter Trick von allen ist?“ Ich sehe ihn nur fragend an, bevor ich mich jedoch halb an der Schokolade verschlucke bei seiner Antwort und erstmal nach Luft schnappen muss. „Der größte Trick ist immer noch eine hübsche Frau zum lächeln zu bringen.“ Er zwinkert mir zu und klopft mir dann lachend auf den Rücken, während ich spüre wie mir die Röte in die Wangen schießt. Ich kann nicht mal sagen ob er mit mir geflirtet hat oder ob er mich einfach nur auf andere Gedanken bringen wollte. „Alles gut, Miyu-chan?“ Ich kann nur nicken, während ich mich immer noch recht atemlos fühle und mir dann von Jasmine auf die Beine helfen lasse als dieser grinsend aufsteht. „Na komm. Wenn wir eh hier draußen sind.“ Er zuckt mit den Schultern und zieht eine Schachtel Zigaretten aus der Packung. Ich hebe nur stumm eine Augenbraue, allerdings nehme ich mir ohne zu zögern einen der Glimmstängel als er mir die Packung entgegen streckt und als ich die Zigarette anzünde, weiß ich genau, dass ich es bereuen werde. Aber ist das wirklich so wichtig? Der erste Zug brennt schlimmer als ich es in Erinnerung hatte und ich muss husten, frage mich jedoch gleichzeitig ob ich verrückt geworden bin. DAS meinte Masa sicherlich nicht damit, dass ich mich meiner Vergangenheit stellen soll. Die nächsten Minuten rauchen wir stumm, bis Kaya zu uns kommt und nur die Augen verdreht. „Ihr seid schrecklich, alle Beide. Aber Kamijo hat Yuki überzeugt dass du nicht schwanger bist, also kannst du dich wieder zurück trauen.“ Damit wendet er sich stirnrunzelnd an Jasmine und verschränkt die Arme vor der Brust. „Und du! Verführst hier Mädchen zum Rauchen, du solltest dich schämen…“ Weit kommt Kaya mit seiner Schimpftirade gar nicht, bevor er in Jasmines Arme gezogen wird und einen Kuss auf die Wange bekommt. Ich muss lachen, während Kaya rot anläuft und versucht den Bassisten von sich zu schieben, erfolglos. „Ah, Kaya-chan lass uns etwas Spaß…Du bist viel zu ernst!“ Ich beobachte amüsiert wie Jasmine den Anderen in seinen Armen dreht und ihn schließlich an der Hüfte packt um einen kleinen Tanz vor dem Hotel einzulegen. Kaya schmollt, als er los gelassen wird und jagt Jasmine schließlich zurück ins Hotel, ich folge den Beiden langsam und grinse in mich hinein. Was für Chaoten. Was habe ich mir da nur angelacht? Aber gut, wenn man keinen Spaß auf Tour hat, ist es meist anstrengend für alle Beteiligten, weswegen ich mir schmunzelnd eine Haarsträhne aus der Stirn streiche und schließlich wieder neben Kamijo Platz nehme und ihm einen Kuss auf die Wange drücke. Nein, hier ist es eindeutig besser als allein zuhause. Auch wenn ich mich an so viel Trouble erst noch gewöhnen muss. Als Hizaki mich ansieht wird mir klar, dass ich ihm immer noch eine Antwort schulde und langsam lehne ich den Kopf an Kamijos Schulter, nehme seine Hand dass ich unsere Finger miteinander verschränken kann. „Ein Freund hat uns vorgestellt.“ Theoretisch ist das nicht mal gelogen und praktisch geht Hizaki der Rest nichts an, weswegen ich froh bin, als er nur nickt und es dabei belässt. Kapitel 11: Coincidence ----------------------- Nach Japan zurück zu gehen war ein Fehler. Das wird mir jeden Tag erneut bewusst. Aber ich hätte auch nicht länger in Amerika bleiben können. Die ganzen letzten Jahre waren hart, aber notwendig und ohne Aya hätte ich wohl schon im ersten Jahr alles hingeworfen. Sie war es, die mir den Rücken gestärkt hat. Ihre Liebe hat mir die Kraft gegeben, die ich gebraucht hatte um über meinen Schatten zu springen und zu singen. Sie hatte die Kontakte geknüpft, mir Gesangslehrer vorgestellt und mir geholfen, mein Englisch zu verbessern. Allerdings hatte sie sich auch dazu entschieden, in Amerika zu bleiben und ich weiß nicht ob unsere Beziehung daran zerbrochen ist oder ob es die Tatsache ist, dass meine Schuldgefühle immer noch heftig an mir nagen. Während ich den Blick über die vertrauten Gebäude schweifen lasse, kann ich nicht anders, als mich zu fragen ob es überhaupt einen Sinn hat, dass ich wieder nach Japan zurück gekehrt bin. Noch dazu, weil ich hier vollkommen auf mich allein gestellt bin nachdem ich meine Eltern damals Hals über Kopf verlassen habe. Momentan habe ich nicht mal eine Wohnung, sondern wohne immer noch in einem Hotel, dank dem Geld dass ich in Amerika verdient habe. Aber es wird nicht ewig reichen. Und ich werde nicht ewig mich vor anderen Menschen verstecken können. Trotzdem erscheint mir die Stadt mit jedem Schritt mehr und mehr fremd, bis ich stehen bleiben muss weil sich alles um mich zu drehen begonnen hat. Vielleicht sollte ich einfach wieder zurück ins Hotel gehen und mich nicht weiter drum kümmern, eine Band zu finden. Aber welchen Sinn hätte es denn wenn ich nur hier her gekommen wäre, um einen eintönigen Job anzunehmen und diesen für den Rest meines Lebens zu ertragen? Zum Glück vergeht der Schwindel nach einigen Minuten und ich kann meinen Weg fortsetzen. Es ist das erste Mal, dass ich eine der berühmten Untergrundbars betrete und ich lasse nervös den Blick schweifen, während ich die schwere Lederjacke enger um meine Schultern ziehe. Sie ist das letzte Geschenk welches ich von Aya bekommen habe und ich fühle mich sicherer wenn ich sie trage. Als wäre sie ein Schutzschild der mich von der realen Welt trennt. Auf dem Weg zur Theke folgen mir einige Blicke und mein Magen beginnt Loopings zu drehen - aber ich bin eindeutig zu weit gekommen um jetzt wieder zu verschwinden. Nachdem ich mir ein Bier bestellt habe, fühle ich mich zumindest halbwegs sicher, allerdings springe ich schon fast vom Stuhl als der Barkeeper mich anspricht. „Na, gehörst du auch zu einer von den Bands?“ Ich greife wortlos nach dem Bier um einen großen Schluck zu trinken, bevor ich den Kopf schüttle. „Hättest aber bestimmt Potential mit dem Auftreten.“ Er grinst mich an und ich hebe langsam eine Augenbraue, bevor ich dunkelrot anlaufe als mir bewusst wird, dass er auf meine blauen Haare und das dunkle Make-up anspielt. „Habt ihr Flyer von Bands die noch Mitglieder suchen?“ Er nickt und ich atme erleichtert auf. Drei Wochen später stehe ich vor einer herunter gekommenen Garage und drücke den Flyer aus der Bar an meine Brust. Zu sagen dass ich nervös bin, ist untertrieben. Von den ganzen Bands die noch Mitglieder suchten, gab es nur drei, welche eine Position als Sänger ausgeschrieben hatten. Zwei der Bands habe ich bereits kennen gelernt und sie haben sich für einen anderen Sänger entschieden, aber jetzt habe ich endlich mal ein gutes Gefühl. Es gibt nur eins, das mir wirklich Angst macht. Dass sie mich nicht akzeptieren werden, weil ich eine Frau bin. Weil ich zu sehr in die Visual Kei Richtung gehe, zu dunkles Make-up trage. Und weil die schwarze zerrissene Jeans zusammen mit einem alten Dir en Grey Shirt und der schwarzen Lederjacke vermutlich zu viel ist. Aber das sind die Klamotten, in denen ich mich sicher fühle und sein kann, wie ich bin. Trotzdem beginnt die Nervosität mich zu überwältigen und mit einem leisen Fluch ziehe ich meine Packung Zigaretten aus der Tasche und drehe mich seitlich gegen den aufkommenden Wind um sie anzuzünden. Ich bin gerade dazu gekommen, einen Zug zu nehmen, als eine dunkle Stimme mich zusammen zucken lässt. „Na, nervös?“ Vor Schreck lasse ich das Feuerzeug fallen und wir bücken uns beide danach, wobei mein Gegenüber im Endeffekt schneller ist und es mir mit einem unschuldigen Grinsen im Gesicht in die Hand drückt. „Sorry, Schönheit. Dachte nicht dass sich auch Frauen für Rock und Metal interessieren.“ Ich verziehe das Gesicht bei seinen Worten - wie kann jemand so gut aussehen und gleichzeitig so dämlich sein? Er lacht, fährt sich durch die Haare und mustert mich, während ich stumm rauche und ihn mit einem bösen Blick bedenke, bis er zu merken scheint, dass sein Kommentar unangebracht war. Zumindest hat er den Anstand, zu Boden zu sehen und ein leises „Entschuldige.“, zu murmeln. So weit, so gut. Als die Minuten jedoch vergehen und ich nur schweigend weiter vor mich hin rauche, scheint er zu merken, dass ich absolut nicht beeindruckt bin und räuspert sich etwas. Direkt danach hält er mir die Hand entgegen und sieht schuldbewusst drein. „Können wir nochmal von vorne anfangen? Ayumi sagt mir auch, dass ich immer viel zu direkt bin und mein Sinn für Humor grenzwertig ist…“ Für einen Moment starre ich auf seine Hand, bevor ich sie annehme und ihm ein knappes Lächeln schenke. „Ok. Du bekommst eine zweite Chance. Aber wehe du versaust es nochmal…“ Lachend schüttelt er den Kopf, bevor er sich selbst eine Packung Zigaretten aus der Tasche zieht und eine anzündet. „Nein, ein Mal reicht mir völlig. Du bist aber auch anders, als die, die schon hier waren. Die waren nicht so taff.“ Er lacht erneut und ich schlage ihm reflexartig gegen den Oberarm, weil er mich an Masa erinnert. Für einen kurzen Moment starren wir uns gegenseitig an, bevor er erneut lachen muss. „Du gefällst mir.“ Am Liebsten würde ich jetzt im Erdboden versinken, allerdings kommt es gar nicht so weit, weil eine junge Frau sich uns nähert, welche absolut nicht begeistert wirkt. „Du sollst deine Freundinnen nicht mit hierher bringen, Akira, wie oft noch?! Das wird nie was mit der Band wenn du zu beschäftigt bist mit Knutschen!“ Ein Glück habe ich die aufgerauchte Zigarette bereits ausgetreten, denn sonst wäre sie mir spätestens jetzt aus der Hand gefallen. Was ein Auftritt. Sie erinnert mich an Aya, aber ganz offensichtlich weiß sie genau, was sie will. Akira grinst nur amüsiert, während sie sich vor ihm aufbaut, ich jedoch suche immer noch nach den passenden Worten. Nur weil er gut aussieht, macht ihn das doch nicht sofort zu einem potentiellen Date. Davon ab beginne ich mich zu fragen, auf welchen Typ Frau er steht - und ob er wirklich so einen hohen Verschleiss hat, wie angedeutet…“Uhm…“ Ich bekomme einen Todesblick, zusammen mit einer abfälligen Handbewegung, bevor sie sich von Akira löst und mir zuwendet. „Du hast doch gehört dass du gehen darfst. Wir warten auf eine Sängerin, da können wir keine Ablenkung gebrauchen!“ Jetzt liegt es an mir zu lachen - ganz offensichtlich ist sie es gewohnt, sich durchzusetzen. Genau das, was ich brauche. „Hi, ich bin Lilith und ich bin hier um zu singen.“ Ihr fallen fast die Augen aus dem Kopf, während Akira ihr lachend auf die Schulter klopft. „Tja, Ayumi, schließ nie von dir auf Andere.“ Sie wirft ihm einen Todesblick zu, bevor sie mich ansieht und dann beginnt mich von Kopf bis Fuß zu mustern. „Ok. Du bist anders als der Rest.“ Vielleicht hätte ich beginnen sollen eine Liste zu führen, wie oft ich diesen Satz gehört habe, seit ich wieder in Japan bin. In Amerika gab es vielleicht auch blöde Blicke, aber hier ist es schlimmer. Natürlich. Weil ich mich hier deutlich von der Gesellschaft abgrenze. „Ist das ein Problem? Ich dachte es geht um meine Stimme, nicht um mein Aussehen.“ Ayumi zuckt mit den Schultern, bevor sie einen Blick mit Akira wechselt und dann nickt. „Ok. Wir lassen uns überraschen.“ Damit dreht sie sich um und verschwindet in der Garage, woraufhin ich nur eine Augenbraue hebe. Akira grinst mich an und ich folge ihm schließlich seufzend. Was für eine Chaotenbande. Das Innere der Garage jedoch ist genau so eingerichtet wie ich es mir vorgestellt habe. Ein altes, schwarzes Sofa steht an der linken Wand, davor ein Tisch mit mehreren Energydosen. An der langen Wand ist das Drumset aufgebaut und rechts stehen mehrere Verstärker. Ein Kabelsalat auf dem Boden und mehrere Dreifachsteckdosen, was mich grinsen lässt. Es ist wirklich ein übles Klischee aber entspricht eben auch genau meinen Vorstellungen. „Sorry dass Kai noch nicht da ist, aber das gibt dir ja Gelegenheit unsere Songs erstmal durchzulesen.“ Damit drückt mir Ayumi bereits einen Stapel Zettel in die Hand und ich überfliege diese mit gerunzelter Stirn. „Damit seid ihr wirklich aufgetreten?“ Sie tauscht einen Blick mit Akira, bevor sie den Kopf schüttelt und das Gesicht verzieht. „Wollten. Dann ist der Bastard plötzlich abgehauen, weil er meinte, wir würden es ja eh nicht schaffen, was zu reißen und dass ihm das zu blöd ist.“ Ayumi zuckt mit den Schultern, lässt sich aufs Sofa fallen und schnaubt leise, was mich grinsen lässt. Daher weht der Wind also. Langsam überfliege ich die Texte, bevor ich mit gehobener Augenbraue Ayumi ansehe, danach zu Akira. „Ok. Ich fix euch den Mist, ihr könnt eure Musik behalten, aber ich sing meine eigenen Texte…DAS ist Schrott.“ Damit lasse ich die Papiere auf den kleinen Tisch vor Ayumi klatschen und verziehe das Gesicht. „Nein, im Ernst. Die sind richtig schlecht, kein Wunder dass der Kerl abgehauen ist.“ „Wer ist abgehauen?“ Etwas überrascht sehe ich zu dem Jungen auf, welcher gerade die Garage betreten hat und er grinst mich unschuldig an. „Hey, ich bin Kai. Redet ihr über Riku?“ Er streckt mir die Hand entgegen und schmunzelnd drücke ich sie kurz. „Lilith.“ Ayumi rollt mit den Augen - das scheint auch eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen zu sein, bevor sie Kai am Kragen schnappt um ihn zu küssen. „Niemand redet über diesen Versager und du kommst genau rechtzeitig. Lilith wollte gerade anfangen zu singen.“ Ein amüsiertes Schnauben verlässt meine Lippen, aber dann zucke ich mit den Schultern und muss seufzen. „Klingt super. Sind eure Instrumente gestimmt?“ Ayumi nickt und wie auf ein geheimes Zeichen hin verteilen sich die drei und Akira drückt mir ein Mikrofon in die Hand. „Sing erstmal einen von unseren Texten, dann sehen wir obs überhaupt passt.“ Ich nicke stumm und atme tief durch. Jetzt geht es ums Ganze. Ich weiß, dass ich Zeit habe, eine Band zu finden, aber etwas in mir sagt mir, dass ich sie schon gefunden habe und dass ich mit diesen drei Menschen eine tolle Zukunft haben werde. „Wir fangen mit „Material Love“ an.“ Kurz durchsuche ich den Stapel Texte nach dem richtigen Lied, bevor ich eine Augenbraue hebe - oh je. Na wenn das keine Herausforderung wird. Groß nachdenken kann ich allerdings nicht mehr, weil Kai auch schon beginnt den Takt vorzugeben und auch wenn der Text mir unbekannt ist, die dazu gehörige Melodie reicht um mich mitzureißen. Es kommt mir vor wie Stunden, die wir zusammen spielen, ich singe Texte, die keinen Sinn ergeben nur um alles aus meiner Stimme heraus zu holen, bis die Musik stoppt und ich schweratmend das Mikrofon sinken lasse, mir nebenbei langsam eine Haarsträhne aus der Stirn streiche. Wow. Das war durchaus intensiv, aber ich bereue nichts. Ich habe mein Bestes gegeben. Für einige Momente herrscht Stille im Raum, dann löst sich Ayumi von ihrem Bass und lacht amüsiert auf. „Ich denke ich hab genug gehört. Kai, Aki, wir haben unsere Sängerin.“ Sie grinst mich an und ich brauche ein paar Sekunden bis mir bewusst wird, was sie gesagt hat. Danach kann ich nicht anders, als ihr lachend um den Hals zu fallen und sie eng an mich zu drücken. „Danke! Ihr werdet das nicht bereuen, echt nicht.“ Akira hebt beide Augenbrauen, während Kai einfach nur lachend den Kopf schüttelt. „Super. Dann brauchen wir ja nur noch einen vernünftigen Bandnamen.“ Ayumi zuckt mit den Schultern und ich sehe kurz in die Runde, bevor ich tief durchatmen muss. „Was haltet ihr von End of Existenz?“ Kapitel 12: Happiness --------------------- Es regnet als wir in Nagoya ankommen und ich spüre deutlich, wie meine Stimmung sinkt. Bisher hat es jedes Mal geregnet, wenn mein Leben dabei war, schlimmer zu werden. In dieser verdammten Nacht als meine Band zerbrochen ist, als ich gesagt bekam, dass ich mein Baby verloren hatte. Seitdem dachte ich immer, dass ich nichts mehr zu verlieren hätte, aber mein Herz verkrampft sich bei dem Gedanken, dass das auch das Ende der Beziehung zu Kamijo sein könnte und ich taste nach seiner Hand um sie fest zu drücken. Nein, dieses Mal nicht. Ich werde mir nicht noch einen Mann wegnehmen lasse, den ich liebe. Was auch immer das Schicksal vor hat, ich bin sicher, dass es Möglichkeiten gibt um zu verhindern, dass sich alles wiederholt. Während der Bus sich durch die Straßen bewegt, driften meine Gedanken zu Machi ab und plötzlich ist meine Selbstsicherheit verschwunden, ersetzt durch ein Gefühl, welches ich nicht benennen kann. Es ist eine Mischung aus Melancholie, Angst und Trauer und erneut wird mir bewusst, wie schwach und feige ich eigentlich bin. Ich konnte mich nicht mal dem Mann anvertrauen, mit dem ich mir ein gemeinsames Leben aufbauen wollte. Stattdessen bin ich davon gelaufen, wie bereits viel zu oft in meinem Leben. Die Flucht nach Masas Tod mag gerechtfertigt sein, immerhin habe ich es dadurch geschafft, mir einen Traum zu erfüllen, aber alles was danach kam? Der Therapeut den ich jetzt besuche, hat keine Ahnung von Masa und vielleicht bin ich einfach zu gut darin geworden, zu lügen, dass ich es nicht mehr schaffe, die Wahrheit zu sagen und mich all dem zu stellen, was ich verdränge. Meine Finger verkrampfen sich bei diesem Gedanken und Kamijo wirft mir einen erschrockenen Blick zu, den ich nicht erwidern kann. Ich muss mich endlich allem stellen…Aber wie? Selbst als wir am Hotel angekommen sind, bin ich immer noch tief in Gedanken versunken, aus denen ich erst gerissen werde, als ich aus dem Augenwinkel etwas Buntes wahrnehmen kann. Ob das ein Wink des Schicksals ist? Beinahe fassungslos starre ich dem Bus mit der riesigen Werbeanzeige hinterher, dann suche ich nach Kamijo. Allerdings nur kurz, bis mir einfällt, dass ich seine Erlaubnis nicht brauche, um auf ein Konzert zu gehen. Er wird heute sowieso beschäftigt sein. Außerdem wäre er wohl eher besorgt, wenn er wüsste, was ich vor habe…Nein, er darf davon nichts erfahren. Zum Glück kann ich Kaya abfangen, bevor er das Hotel betritt und davon überzeugen, dass wir heute Abend etwas wichtiges vor haben. Er scheint kurz verwirrt, willigt dann aber ein auch wenn er keine Ahnung hat, um was es geht. Soweit, so gut. Jetzt muss ich es nur noch schaffen, über meinen eigenen Schatten zu springen - das dürfte eines der schwersten Dinge werden, die ich seit Jahren getan habe. Vor allem erfordert es noch etwas, dass mir wahnsinnig schwer fällt - Vertrauen. In mich selbst, in Kaya und in all die Menschen um mich herum. Vertrauen, dass Kamijo verstehen wird, anstatt mich zu verurteilen, denn das könnte ich nicht ertragen. Er hat so viel schon mit erlebt und ist immer noch an meiner Seite, dass ich Angst habe, es könnte zu viel sein. Das werde ich jedoch nur erfahren, wenn ich es tue und als ich die Tür des Hotelzimmers hinter mir schließe und mich dagegen lehne, wird mir bewusst, wie weit ich überhaupt gekommen bin. Damals, als ich nichts hatte, außer meiner Stimme, hat es doch gereicht, neue Freunde zu finden und mich in einer unbekannten Welt zu behaupten. Gegen alle Widrigkeiten, gegen die Depressionen, sogar gegen meine Eltern die vermutlich auch keine Ahnung haben, dass ich noch lebe. Ich habe so viel allein geschafft, wie schwer kann es da jetzt sein, daran anzuknüpfen? Wenn man davon absieht, dass die Depressionen stärker geworden sind, ich eine ausgewachsene Sozialphobie entwickelt und unvorhersehbare Panikattacken habe. Fast hätte ich gelacht, aber ich will nicht, dass Kamijo denkt, dass ich wieder durchdrehe, also beiße ich mir hart genug auf die Unterlippe, dass ich Blut schmecken kann, dann fahre ich mir durch die Haare und gehe zu meiner Reisetasche um sie nach passenden Klamotten zu durchsuchen. Zehn Minuten später ist mir bewusst, dass ich keine Sachen für mein Vorhaben heute nacht dabei habe und lasse mich seufzend aufs Bett fallen, gerade als Kamijo aus dem Bad kommt und mich skeptisch mustert. „Alles in Ordnung?“ Ich zucke mit den Schultern und drehe mich auf die Seite, dass ich aus dem Fenster sehen kann. Es regnet immer noch. Verdammt. „Miyu…“ Er streicht mir sanft über den Rücken und ich schließe langsam die Augen, ich hasse es, dass er weiß, wie ich mich verhalte, wenn die Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten und dass er mich lesen kann wie ein offenes Buch. Gleichzeitig bin ich jedoch auch dankbar dafür, so muss ich ihm nicht immer alles erklären was bereits ein riesiger Vorteil ist. Nur jetzt ist es ziemlich unpraktisch. „Ich brauch Schokolade.“, murmle ich schließlich nur, was nicht mal gelogen ist, Kamijo hat mich schon öfters erwischt wie ich an regnerischen Tagen mit einem Becher Schokoladeneis auf dem Sofa lag. Nur im Moment habe ich Angst davor, das Hotel zu verlassen. Wer weiß, was passieren könnte. „Wir können zusammen zum Konbini gehen oder einen der Roadies schicken.“ Ich muss ungewollt lachen, bevor ich mich umdrehe, dass ich ihn küssen kann. „Ich werde niemanden bei dem Wetter vor die Tür hetzen, der nicht raus will…“ Er erwidert den Kuss, dann hebt er eine Augenbraue. „Von mir abgesehen, huh?“ Ich grinse und ziehe ihn enger an mich, um ihn erneut zu küssen. „Richtig. Aber du hast dafür auch das Privileg mich nackt zu sehen und ich denke, du wärst wahnsinnig sauer, wenn ich einem anderen Mann meine Brüste zeige.“ Das bringt ihn aus dem Konzept für einige Momente, dann lacht er. „Gutes Argument. Allerdings solltest du wirklich mitkommen, außer du willst, dass ich dir verzweifelte Bilder von der Schokoladenauswahl zeige, weil ich völlig überfordert sein werde…“ Ich verdrehe die Augen, dann setze ich mich wieder auf. „Ist ja gut.“ Er bekommt noch einen Kuss, bevor ich aufstehe um mir einen Pullover überzuziehen. Als wir das Hotel verlassen, rennen wir in Teru und Jasmine, welche bereits merklich durchnässt sind und uns breit angrinsen. „Ihr solltet aufpassen, da draußen sind Cosplayer…Wir wurden schon gefragt, ob wir auf das Versailles Konzert heute gehen.“ Teru strahlt richtig und ich muss schmunzeln. Irgendwie niedlich, wie sehr er sich dafür begeistern kann, er erinnert mich an Kai. „Keine Sorge, wir sind vorsichtig.“ Damit drückt mich Kamijo sanft an sich heran und ich drücke ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich hab nicht vor, ihn los zu werden.“ Grinsend zwinkere ich Jasmine zu und er sieht uns lachend nach als wir in den Regen hinaus treten. Der Weg zum Konbini ist nicht weit, aber wir sind trotzdem komplett durchnässt als wir ankommen. Kamijo grummelt etwas dass wir einen Schirm vergessen habe, ich lache, weil er so irritiert wirkt. Allein um sicher zu gehen, packe ich eine Tafel jeder Schokolade die mir ins Auge fällt, in den Korb und Kamijos Augen weiten sich bei jeder Tafel ein Stückchen mehr. Aber ich kann nichts dafür, er kennt mich und weiß, dass ich es hasse, unter Menschen zu gehen. Allein hiermit, tue ich mir sehr viel an. Sicher hätte ein Seven-Eleven mehr Auswahl, aber verdammt, wo denn bitte einen finden, ohne aktiv danach zu suchen? An der Kasse starre ich vielleicht etwas zu lange auf die Zigaretten, denn Kamijo hebt skeptisch eine Augenbraue und ich frage mich, wie ich da wieder raus komme. Wenn ich zugebe, dass ich Jasmine noch Zigaretten schulde, wird es Ärger geben. Also schweige ich, schenke ihm ein sanftes Lächeln und es scheint zu wirken. Der Kassierer beäugt die Unmengen Schokolade kurz skeptisch, dann fällt sein Blick auf mich und er scheint zu verstehen. Zumindest denkt er das wahrscheinlich, denn er schenkt Kamijo ein aufmunterndes Lächeln, als dieser zahlt und kaum, dass wir den Laden verlassen haben, nehme ich einen tiefen Atemzug und schließe die Augen. Wie gerne ich jetzt eine Zigarette zur Hand hätte. Vielleicht kann ich Kaya später überzeugen, mir eine Packung zu kaufen. Kamijo legt mir einen Arm um die Schultern und ich lehne mich an ihn, während wir unter dem Vordach stehen und warten. Worauf, weiß ich allerdings nicht. „Miyu? Ich liebe dich. Du kannst immer mit mir reden, egal um was es geht, ja?“ Ich nicke, ohne aufzusehen und als Kamijo mir sanft über die Wange streicht um mich dazu zu bringen, aufzusehen, bemerke ich Bewegung aus dem Augenwinkel und zucke heftig zusammen. Vor uns steht ein Cosplayer, der Jasmine beinahe zum verwechseln ähnlich sieht, mit einem Regenschirm über dem Kopf und ich kann gerade nur starren, bevor ich schlucken muss. Das ist nicht gut. „Geht ihr zufällig auch aufs Versailles Konzert? Tut mir leid, euch so zu überfallen, aber ich habe noch zwei Tickets übrig, weil meine Freunde leider absagen mussten.“ Für einen winzigen Moment bin ich versucht, zuzusagen, dann schüttle ich den Kopf. Es dauert noch einige Sekunden, bis mir bewusst wird, dass Kamijo nicht antworten wird - natürlich, als Sänger wäre es wohl einfacher ihn an der Stimme zu erkennen. „Tut mir leid…Wir haben unsere Tickets schon.“ Was besseres konnte mir natürlich nicht einfallen und ich könnte mich dafür schlagen, zum Glück ist Kamijos ungläubiger Blick nur von kurzer Dauer, bevor er sich wieder fängt und nickt. Der Cosplayer scheint enttäuscht, aber verständnisvoll, während er uns noch eine schöne Zeit und Spaß am Konzert wünscht. „Vielleicht sehen wir uns da wieder.“ Ich lache leise und nicke. „Wäre schön, aber wir haben Fanclubtickets.“ Allein dafür könnte ich mich noch mehr schlagen - oh oh. Bleibt zu hoffen, dass ich diesen Fan nie wieder treffe, sonst könnte es gefährlich werden. Danach beeilen wir uns, ins Hotel zurück zu kommen und auf dem Zimmer angekommen, beginne ich summend die Schokolade auf den kleinen Schreibtisch zu stapeln. Immerhin, zwei Stapel kommen zusammen. „Ich weiß nicht, ob ich dich küssen oder schlagen sollte…“ Kamijos Stimme reißt mich aus den Gedanken und ich zucke mit den Schultern. „Warum nicht beides.“ Es sollte ein Scherz sein, aber der Klaps auf den Hintern lässt mich aufkeuchen, genau wie der folgende Kuss in den Nacken. „Oh Miyu.“ Er legt die Arme um mich und ich lehne mich seufzend an seine Brust, beginne mit seinen Fingern zu spielen. „Ich liebe dich so sehr.“ Es tut gut das zu hören, dementsprechend fühle ich mich langsam wirklich schlecht für das, was ich tun will. Aber es ist Therapie…Schocktherapie. „Ich liebe dich auch.“ Für ein paar Minuten bleiben wir noch so stehen, dann löst er sich seufzend von mir. „Ok, ich fürchte ich muss mich umziehen und dann zum Soundcheck, kommst du mit unter die Dusche?“ Ich grinse und ziehe wortlos Pullover und Shirt über den Kopf. Als Kamijo eine halbe Stunde später nach unten geht, begleite ich ihn zum Bus, wünsche ihm viel Glück und küsse ihn nochmal. Dann sehe ich ihm nach und schreibe Kaya. Mit ihm mache ich mich zuerst auf den Weg zum Friseur, danach auf die Suche nach einer geeigneten Hose für das Konzert. Als auch das erledigt ist, schlagen wir den Weg zur Halle ein und je näher wir kommen, desto nervöser werde ich. War das wirklich eine gute Idee? Eine gefühlte Ewigkeit bleibe ich vor dem Ticketschalter stehen, während Kaya mir beruhigend über den Rücken streichelt. Schließlich beiße ich mir hart auf die Lippen, zwinge ein Lächeln in mein Gesicht und frage die Verkäuferin nach zwei Tickets, welche sie mir lächelnd verkauft. Kaum halte ich diese in den Händen, werden meine Beine weich und Kaya führt mich unter besorgten Blicken außer Sichtweite. Ich weiß nicht mal mehr, ob ich zu viel Geld für die Tickets hingelegt habe oder nicht. Mir ist schwindlig und mein Kopf ist wie leergefegt. Aber es ist alles, was ich will. Im Endeffekt muss Kaya uns ein Taxi rufen, welches uns zum Hotel zurück bringt, weil mein Körper sich komplett verweigert. Eventuell war diese Schocktherapie doch keine gute Idee. Kaya bringt mich aufs Zimmer, wo ich einen kompletten Nervenzusammenbruch bekomme und als ich fertig bin mit weinen, starre ich müde auf die gestapelte Schokolade und atme tief durch. „Miyu, denkst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?“ Ich zucke müde mit den Schultern, bevor ich leise lachen muss und ihn ruhig ansehe. „Nein. Das ist das schrecklichste, was ich mir seit Jahren antue, Kaya. Es tut weh, ich hab Angst und ich weiß nicht, ob ich die Nacht überstehe, aber ich muss das machen. Ich will nicht mehr das kleine, schwache Mädchen sein, das Kamijo nur eine Last ist. Ich will die Musik wieder genießen können. Und mein bester Freund ist nicht mehr hier, um mir Mut zuzusprechen, also musst du das tun.“ Kaya starrt mich an, als würde er an meinem Verstand zweifeln, dann zieht er mich eng an sich heran und ich erwidere die Umarmung stumm, vergrabe das Gesicht an seiner Schulter. „Ist ok. Ich bin bei dir, ja? Egal was passiert. Du bist nicht allein, wir schaffen das.“ Er lächelt liebevoll und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Für einen Moment muss ich wieder an Masa denken, dann nicke ich und stehe langsam auf. „Gut. Dann zieh ich mich eben um und danach musst du mir helfen, mich zu schminken.“ Er grinst schief und hebt eine Augenbraue. „Und ich dachte schon, du fragst nie, Darling.“ Als ich umgezogen wieder aus dem Bad komme, muss ich selbst erstmal tief durchatmen. Es ist so ungewohnt, wieder eine schwarze Jeans mit zerrissenen Knien zu tragen. Als Oberteil habe ich das von Sexpot Revenge gewählt, welches erstaunlich gut dazu aussieht. Kaya strahlt richtig, während er mir hilft, mich zu schminken, Fakewimpern anzukleben und den perfekten Lidstrich hinzubekommen. Nachdem er mir auch noch geholfen hat, meine Haare zu stylen, tritt er zufrieden zurück und mustert mich kurz, bevor er nickt. „Perfekt. Du siehst aus wie ein Visual Kei Sänger.“ Ich grinse schief und zwinkere ihm zu. „Dann hab ich mein Ziel erreicht.“ Kaya schüttelt nur lachend den Kopf. „Wie gemein. Wenn ich mich jetzt noch schminke, schöpft doch jeder Verdacht.“ „Zieh einfach einen Rock an, dann sag ich, du bist meine Schwester.“ Bevor wir das Hotel verlassen, mache ich noch ein paar Fotos auch wenn ich die Person darauf gar nicht mehr erkenne. Ich sehe wieder aus, wie mein altes Ich. Nun, nicht ganz. Statt komplett blauen Haaren, habe ich mich nur für blaue Extensions entschieden und meine echten Haare dafür geschnitten. Gut sieht es trotzdem aus und fühlt sich sogar noch besser an. Wie gut, dass das Konzert später anfängt, als das Konzert von Kamijo. Ich habe nur keine Ahnung wie ich das erklären soll, aber im Moment möchte ich darüber auch gar nicht nachdenken. Wir nehmen erneut ein Taxi zur Halle und es dauert etwas, bis wir unseren Platz in der Schlange gefunden haben, aber danach läuft es definitiv besser. Wir kommen ins Reden mit einigen Fans und ich vergesse meine Nervosität über all den Komplimenten, die ich bekomme. Ob sie wirklich glauben, dass wir Member einer Indiesband sind, kann ich allerdings nicht bestätigen. In der Halle klebt mein Blick sofort am Merchandisestand und Kaya beobachtet mich schmunzelnd. So viel Geld habe ich die ganzen letzten Jahre nicht ausgegeben, jetzt aber zahle ich es gern. Nachdem wir die Sachen noch in einem Schließfach verstaut haben, suchen wir unsere Plätze - theoretisch hätte ich mein Oberteil gegen ein Bandshirt tauschen können, aber ich wollte nicht. Es fühlt sich falsch an, als würde es mein Outfit zerstören. So habe ich zumindest genug zum anziehen für den Rest der Tour. Während wir warten, dass die Band auf die Bühne kommt, treffen uns immer wieder Blicke und schließlich kann ich nicht anders als zu kichern und Kaya zu umarmen. „Danke, dass du mitgekommen bist.“ Er schmunzelt und drückt mich eng an sich heran. „Jederzeit, Miyu.“ Dann lösen wir uns wieder voneinander und starren gebannt auf die Bühne, wo sich langsam der Vorhang hebt. Kunstnebel umwabert die Szenerie, Musik setzt ein und dann sehe ich mich Dir en Grey gegenüber und greife nach Kayas Hand um sie fest zu drücken. Kapitel 13: Sparks ------------------ Als das Konzert vorbei ist, bin ich mehr als sicher, dass ich nicht mehr laufen kann. Meine Beine sind so weich, dass Kaya mich aufrecht halten muss und mir ist schwindlig. Aber ich bin wahnsinnig glücklich, dass ich es geschafft habe, das Konzert durchzuhalten und Spaß zu haben. Es war wunderschön, nur leider gewinnt die Panik langsam die Überhand auch wenn ich mir eigentlich sicher war, viel zu erschöpft zu sein dafür. Zusammen mit den anderen Fans machen wir uns schließlich auf den Weg aus der Halle, ich hole meine vorherigen Einkäufe und lasse sie direkt wieder fallen weil ich am ganzen Körper zittere. Kaya hilft mir beim Aufsammeln und schenkt mir ein beruhigendes Lächeln, aber es hilft nicht. Ich spüre deutlich, wie ich die Kontrolle zu verlieren beginne. Es war das erste Konzert, dass ich nach meinem Unfall ertragen konnte und Masa ist nicht hier. Die Realität beginnt gnadenlos auf mich einzustürzen und mich zu erdrücken und ich will einfach nur noch schreien. Das hätte meine Bühne sein können. Verdammt, wir hätten sogar die Vorband für Dir en Grey sein können. Wenn Masa noch leben würde, wäre er stolz auf mich? Irgendwann stehen wir vor der Halle, aber ich kann nicht sagen, wie das passiert ist. Kaya hält mich eng an sich gedrückt, aber da ist noch eine zweite Person, welche ich jedoch nicht ausmachen kann, weil mein Sichtfeld immer wieder verschwimmt. Ich habe grauenvolle Kopfschmerzen und ein leises Wimmern entkommt mir, als Kaya versucht mich hochzuheben. Er seufzt, bleibt aber mit mir auf dem Boden sitzen, während die zweite Person etwas sagt. Das Blut rauscht zu laut in meinen Ohren, als dass ich würde ausmachen können, was es ist, aber ich kann nur das Beste hoffen. Ich hätte niemals erwartet, dass die Nebeneffekte mich zu einem Konzert zu zwingen, so heftig sein könnten. Andererseits…Wann habe ich das letzte Mal irgendwelche Tabletten genommen? Antidepressiva oder ähnliches? Ich kann mich gar nicht erinnern und bin mir gleichzeitig sicher, dass Kamijo wahnsinnig sauer auf mich wäre, wenn er es wissen würde. Oder weiß er es? In meinem Kopf dreht sich alles, ich schnappe nach Luft und dann legen sich weiche Lippen auf meine und meine Welt hört sich auf zu drehen. Ich kenne diese Person, wird mir bewusst. Ich kenne sie wahnsinnig gut. Aber erst, als wir uns voneinander lösen, wird mir bewusst woher und mit einem Schlag scheint sich meine Umgebung zu normalisieren und ich starre mit großen Augen den Mann an, von dem ich sicher war, ihn nie wieder zu sehen. Machi. Er lächelt, aber in seinem Blick liegt eine unbekannte Traurigkeit, die mir die Kehle zuschnürt und nur langsam wird mir bewusst, dass Kaya mich immer noch festhält und vermutlich wahnsinnig verwirrt sein muss. Aber ich bringe kein Wort über die Lippen, während Machi mir sanft über die Wange streichelt. „Ich wusste immer, dass du noch lebst, Miyu-chan.“ Er hat sich verändert, wird mir bewusst. Die langen, roten Haare sind Vergangenheit. Die Farbe blieb zwar, aber er trägt sie jetzt kurz, in einer typischen Männerfrisur und kein Make-up mehr. Natürlich nicht. Wozu sollte er das denn auch? Kaya räuspert sich und ich reiße mich von Machi los, dass ich fast panisch zu ihm sehen kann. „Wir sollten zurück ins Hotel, Miyu.“ Ich nicke wie betäubt und dieses Mal schaffe ich es sogar selbstständig zu stehen. „Ok.“ Kaya ruft uns ein Taxi und während wir warten, versuche ich immer noch zu verarbeiten, dass ich ausgerechnet Machi hier getroffen habe. In Nagoya. Nach einem Dir en Grey Konzert. Nicht die Art Wiedersehen, von der ich geträumt hätte. Machi beschließt uns zu begleiten und ich bin zu müde um zu protestieren. Welchen Grund sollte ich auch vorbringen? Die Wahrheit? Das kann ich nicht, so stark bin ich wirklich nicht. Erst auf der Fahrt zum Hotel wird mir bewusst, dass Kamijo sich wahnsinnig große Sorgen um mich machen muss, immerhin hat ihr Konzert doch schon vor Stunden geendet und ich bin nicht im Hotelzimmer…Aber jetzt gibt es nichts mehr, was ich dagegen tun kann. Also beschließe ich das Beste daraus zu machen und mich während der Fahrt zu entspannen. Es funktioniert so lange, bis wir am Hotel ankommen, Kaya den Fahrer bezahlt hat und wir ausgestiegen sind - dann kommt uns jemand entgegen und ich kann nur mit schreckensweiten Augen Kamijo anstarren, welcher genau so entsetzt zurück schaut. Dann fällt sein Blick auf Machi, welcher mittlerweile einen Arm um meine Schulter gelegt hat und ich weiß, dass ich diese Nacht nicht mehr zum schlafen kommen werde. Wenigstens darf ich mich auf unser Hotelzimmer zurück ziehen, um meine gekauften Sachen in meiner Tasche zu verstauen und duschen zu gehen. Danach sitze ich umgezogen und mit feuchten Haaren zwischen Kamijo und Machi, während Kaya beruhigend meine Hand drückt. Ja, er hat versprochen, bei mir zu bleiben, für den Fall, dass diese Aussprache unschön enden wird und ich die Nacht woanders schlafen möchte. Ich weiß nicht mal, was ich fühlen soll. Mein Herz rast, andererseits ist mir wahnsinnig kalt. Ich weiß nicht mal, was ich sagen möchte oder könnte um mich selbst zu erklären. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, Machi wieder zu sehen? Gleich Null. „Du bist also jetzt wirklich mit Kamijo zusammen.“, bricht Machi schließlich das Schweigen und ich nicke langsam, den Blick zu Boden gerichtet. Ich könnte es nicht ertragen, ihm in die Augen zu sehen. „Wow. War das geplant, oder nicht?“ Er lacht bitter und mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Glaubt er wirklich, dass ich ihm so etwas antun könnte? Andererseits, wenn man bedenkt, dass ich ihn im Glauben gelassen habe, im Krankenhaus gestorben zu sein…Er jedoch hatte nie nach mir gesehen, war nicht auf den Gedanken gekommen, zu meiner alten Wohnung zu fahren! Dabei war es doch so offensichtlich gewesen. Oder hatte Kamijo damals nur gehofft, Erinnerungsstücke von mir für Machi besorgen zu können? Ich weiß es nicht, sehe nur langsam zwischen Beiden hin und her. „Das war nicht geplant. Glaubst du wirklich, ich plane, meinen Tod vorzutäuschen, indem ich das Leben meiner Bandmitglieder aufs Spiel setze?!“ Meine Stimme zittert, aber ich bin auch wütend - darauf, dass er mir so etwas unterstellt und wütend auf mich selbst. Ich hätte damals nicht davon rennen dürfen, nicht ohne eine Erklärung, aber ich konnte doch gar nicht klar denken. Er versucht, etwas zu sagen, aber ich gebe ihm keine Chance dazu, die Wut scheint mich komplett zu verbrennen. „Nein, du wirst mir jetzt zuhören und zwar sehr gut. Ich habe damals durch diesen verfluchten Unfall alles verloren, Machi - alles. Meine Bandmember waren so schwer verletzt, dass mir niemand sagen wollte, wie es ihnen geht. Ich habe unser Baby verloren und werde NIE WIEDER schwanger werden können, weil zu viel zerstört wurde…WIE HÄTTE ICH IRGENDETWAS DAVON PLANEN KÖNNEN? Ich hatte dich so geliebt, verflucht, ich wollte dir nach der Tour vorschlagen, dass wir heiraten…“ Mittlerweile laufen mir die Tränen in Strömen über die Wangen und ich starre Machi düster an, welcher mich vollkommen geschockt mustert. „Ich hab unser Kind verloren, Machi…Wie hätte ich dir da ruhig in die Augen sehen können.“ Schluchzend sinke ich mehr und mehr zusammen, während Kaya mich beruhigend in seine Arme zieht und beginnt, mir über den Rücken zu streicheln. „Ich hab gesoffen wie ein Loch als ich aus dem Krankenhaus kam. Was dachtest du, hätte passieren können…Ich wollte sterben, Machi. Ohne Kamijo wäre ich nicht mehr am Leben.“ Mittlerweile habe ich mich zu einer Kugel zusammen gerollt und weine mir die Augen aus dem Kopf. Im Zimmer herrscht betroffenes Schweigen, keiner wagt etwas zu sagen. Für Machi ist das vermutlich sehr viel zu verarbeiten, genau wie für Kaya. Kamijo hingegen kennt die Geschichte und schließlich reiße ich mich von Kaya los, dass ich auf Kamijos Schoß krabbeln und das Gesicht an seiner Brust verstecken kann, während er mich eng an sich heran drückt. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, bis meine Tränen endlich versiegen, aber solange herrscht Schweigen im Zimmer. Ich hätte Machi nicht so anfahren dürfen, wird mir bewusst, als ich langsam wieder klar denken. Aber irgendwann musste sich das alles Bahn brechen. Es hat sich zu lange aufgestaut. Kamijo drückt mir einen Kuss auf die Schläfe und ich schlinge die Arme enger um ihn. Ich will mich nicht umdrehen und Machi in die Augen sehen. Aber ich weiß, irgendwann werde ich es müssen. „Es tut mir so Leid, Miyu.“ Mit allem hätte ich gerechnet, aber nicht mit einer Entschuldigung. Dann steht jemand auf und ich drehe mich doch um, gerade rechtzeitig um mich Auge in Auge mit Machi zu sehen, welcher sich vor uns gekniet hat. „Ich muss das alles verarbeiten, aber dann melde ich mich wieder, ja?“ Er küsst mich auf die Wange und ich nicke stumm - was sollte ich auch dazu sagen? Ich kann verstehen, dass er Zeit braucht um das zu verarbeiten. An der Tür jedoch dreht er sich nochmal um und ein trauriges Lächeln legt sich auf meine Lippen. „Ich hätte dich sofort geheiratet, Miyu. Egal ob wir Kinder hätten haben können oder nicht.“ Damit geht er und ich starre auf die Tür, bis meine Augen brennen. Es ist einfach zu viel. Kaya verabschiedet sich auch, nachdem er gefragt hat, ob er noch etwas tun kann und Kamijo schafft es, mich davon zu überzeugen, dass es besser wäre, uns ins Bett zu legen, wo ich mich erneut in seinen Armen vergrabe. Er küsst mich sanft und ich erwidere den Kuss schwach, bevor mein Körper endgültig nachgibt und mich in eine beruhigende Dunkelheit hüllt. Aus Ohnmacht wird Schlaf und so erschöpft wie ich bin, bleibt er traumlos und tief. Zumindest für den Moment bin ich sicher vor den Geistern der Vergangenheit. Am nächsten Morgen beim Frühstück fühle ich mich wie ausgekotzt und vermutlich sehe ich genau so aus, zumindest wenn man nach den Blicken der Band gehen kann. Hizaki ist es schließlich, der mich anspricht, als ich beinahe die Kaffeekanne umgeworfen habe und ich zucke so heftig zusammen, dass ich halb von der Bank springe, als er meinen Namen sagt. Die letzte Nacht hat mir absolut nicht gut getan. „Wie kommt es eigentlich, dass du nicht mit zu unseren Konzerten kommst? Du bist mit auf unserer Tour dabei, aber verschwindest mit Kaya regelmäßig vor unseren Auftritten. Warum?“ Für einen Moment fühlt es sich an, als würde mein Herz aussetzen, dann starre ich hilflos zu Kamijo, welcher selbst nach den passenden Worten zu suchen scheint. Hizaki schnaubt leise und ich wünsche mir Kaya und Jasmine zurück an den Tisch welche vor fünf Minuten aufgestanden sind um rauchen zu gehen. Verdammte Sucht. „Es wirkt, als hättest du Angst vor der Bühne.“ Bei diesen Worten muss ich schlucken, er hat doch Recht. Es stimmt. Ich habe Angst. Jedoch nicht nur vor der Bühne, sondern auch allem, was drumherum ist. Dem Staff, den Roadies, der Aufregung, dem Soundcheck. Alles was mir so vertraut ist. „Warum bist du hier?“ Kamijo öffnet den Mund, aber ich hebe eine Hand um ihn zum Schweigen zu bringen. Ich bin zu müde um mir eine Ausrede einfallen zu lassen und Machis Auftreten gestern hat mir endgültig gezeigt, dass ich nicht mehr davon laufen kann. Vielleicht war es alles zu viel auf ein Mal, zusammen mit dem Dir en Grey Konzert, aber es fühlt sich an, als wäre dass der Stein, der alles ins Rollen gebracht hat. Kurz zögere ich, dann muss ich lachen. Wovor könnte ich mich jetzt noch fürchten? „Ich kenne Kamijo, seit er in Lareine war. Damals habe ich selbst gesungen.“ Hizaki verschluckt sich an seinem Kaffee und ich mache unbeirrt weiter. Jetzt ist es auch schon egal. „Es gab einen schrecklichen Unfall als wir auf Tour waren, seitdem habe ich mich aus dem Musik Business zurück gezogen und nie wieder einen Fuß auf eine Bühne gesetzt. Ich bin hier, weil ich versuchen will, Kamijo trotz allem zu unterstützen, also um deine Ausgangsfrage zu beantworten - ich habe schreckliche Angst davor, mich je wieder mit Musik zu befassen, weil allein die Erinnerung an alles was damit zu tun hat, verdammt schmerzhaft ist, aber für meinen Mann versuche ich über meinen Schatten zu springen. Und jetzt entschuldige mich.“ Dass ich am ganzen Körper zittere, merke ich erst, als ich aufgestanden bin und mich zwinge den Raum zu verlassen. Ich komme nicht weit, renne Kaya und Jasmine direkt in die Arme, welche mich besorgt mustern, aber ich schüttle nur den Kopf - ich muss eine Weile allein sein mit meinen Gedanken und nach einer kurzen Umarmung von Beiden habe ich das Hotel verlassen und atme tief die kühle Luft ein. Ich könnte nicht mal selbst sagen, was über mich gekommen ist. Aber vielleicht hat es jetzt ein Ende. Ob Hizaki mich akzeptiert oder nicht, kann mir egal sein, aber ich wünsche mir, dass er es versteht. Diese Band ist Kamijo so wichtig und ich kann und will ihn nicht dazu zwingen, sich entscheiden zu müssen. Es ist bewölkt heute, aber nicht regnerisch. Eigentlich ein schönes Wetter. Kurz zögere ich, dann drehe ich um und gehe zurück auf unser Zimmer um meine Tasche zu holen. Kamijo scheint immer noch beim Frühstück zu sitzen, zumindest ist er nicht im Zimmer und hält mich auch nicht auf, als ich erneut das Hotel verlasse und für einen Moment fühle ich mich grauenvoll, einfach so zu verschwinden. Andererseits brauch ich das und während ich mich auf den Weg zur Bahnstation begebe, schreibe ich ihm, dass er sich keine Sorgen um mich machen muss. Ich weiß zwar nicht, wohin ich will, aber ich werde mich schon irgendwie zurecht finden. Die Stadt ist vielleicht groß, aber schön. Zumindest das, was ich bisher so sehen konnte, gefällt mir und kurz muss ich überlegen, ob wir hier bereits waren, stelle aber fest, dass ich mich nicht erinnern kann. Entweder habe ich es verdrängt, oder wir waren wirklich noch nie hier. Während ich so durch die Straßen laufe, wird die Stimme in mir wieder laut, welche nach Zigaretten verlangt und ich versuche sie erneut zu verdrängen. Es ist nicht gut, auch wenn ich nie wieder singen werde, Zigaretten können tödlich sein. Wobei es darauf sicherlich auch nicht mehr ankommen würde, aber ich muss kein Risiko eingehen. Es scheinen Stunden zu sein, welche ich durch die Stadt wandere, völlig allein mit mir und meinen Gedanken, was jedoch nichts Schlechtes ist - zum ersten Mal seit Jahren habe ich das Gefühl, dass ich es ertragen kann, allein zu sein. Dass es völlig in Ordnung ist, niemanden bei mir zu haben, der darauf achtet, dass ich mir nichts antue. Ich fühle mich seltsam befreit wenn ich ehrlich bin. So als hätte sich ein Knoten gelöst durch das Treffen mit Machi und die Aussprache. Kurz erschaudere ich, als ich wieder an sein ungläubiges Gesicht denken muss, dann entkommt mir ein Schluchzen und ich presse mir die Hand auf den Mund. Urplötzlich trifft mich eine Welle der Übelkeit und ich schwanke leicht - ich habe heute noch nichts gegessen wird mir klar als der Schwindel sich wieder bessert und ich zwinge mich, ruhig zu bleiben. Ich muss einfach etwas essen, dann werde ich sicherlich unbeschadet zurück ins Hotel kommen. Hoffe ich. Fünfhundert Meter weiter erspähe ich ein kleines Restaurant und zögere. Eine zweite Welle der Übelkeit jedoch überzeugt mich, dass ich nicht mehr lange durchhalte und ich gehe langsam hinein. Die Angestellten mustern mich skeptisch, aber das ist mir gleich, während ich an einem Automaten mein Essen wähle - mit einem Schlag bin ich so wahnsinnig müde. Vielleicht hätte ich zumindest Kaya mitnehmen sollen…Nachdem das Essen bestellt und bezahlt ist und mir ein Platz zugewiesen wurde, bin ich froh, sitzen zu können und vergrabe für einen Moment das Gesicht in den Händen. Eventuell sollte ich meine Tabletten nehmen, wenn ich etwas im Magen habe. Lange dauert es nicht, bis sich mir Schritte nähern und als ich aufsehe, erstarre ich, während die Kellnerin ein Tablett vor mich hin stellt und mir Guten Appetit wünscht. Als sich unsere Augen treffen, erstarrt sie jedoch ebenfalls und dieses Mal ist mein Mund schneller als mein Gehirn. „Ayumi?!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)