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Actio est reactio

von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Für Schwarzfeder, because of reasons :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Eigentlich sollte die Rum-Sache ein Kapitel werden. Dann ist es explodiert und jetzt werden es zwei Kapitel. Ich hoffe, ihr könnt mir verzeihen :'D Aber hey, mehr Rum! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ein paar Anmerkungen:

- Wir sind wieder bei Taminos PoV :)
- Wer Spotify hat, kann dem Link im Kapitel zu einer Playlist folgen!
- Nan nga def? = Wie geht es dir? (Wolof)
- Taminos Geburtstag ist der 15.06. (in einem imaginären Jahr, da dieses Jahr der 15.06. auf einem Donnerstag lag ;)) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Inhaltliche Warnungen für dieses Kapitel (leichte Spoiler):




Depressionen und ungesundes Essverhalten Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hey ihr Lieben! Entschuldigt bitte die ewiglange Wartezeit! Ich hatte viel um die Ohren und jetzt die zweite Grippe innerhalb weniger Wochen D: Ich hoffe, dass es jetzt wieder regelmäßiger voran gehen kann, ich hab die beiden Schnuppis vermisst! Viel Spaß beim Lesen :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr alle!
Es hat dreihundert Jahre gedauert, aber jetzt ist es fertig. Aus gesundheitlichen Gründen war ich eine recht lange Weile nicht sehr aktiv und jetzt steht meine Abschlussprüfung an. Ich kann also nicht garantieren, dass es allzu zackig weiter geht. Aber ich hab meine beiden Hasen nicht vergessen und möchte sie auf jeden Fall ihren Weg zu Ende gehen lassen. An dieser Stelle auch schon mal Entschuldigung dafür, dass ich nicht auf jeden Kommentar antworte. Ich bedanke mich einfach schon mal im Voraus für jegliches Feedback :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Wenn man dann nach 200 Jahren mal im Fluss ist, soll man sich ja nicht bremen. Also hier gleich noch ein frisches Kapitel ;) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Inhaltswarnung für angedeutetes homophobes Verhalten und ein (in der Vergangenheit liegendes) erzwungenes Outing, sowie Erwähnungen und Anbahnung von Panikattacken. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Da die mündliche Prüfung durch ist, hab ich wieder mehr Zeit zum Schreiben, yay! :D Diesmal war die Pause nicht ganz so lang. Ich hoffe, ihr habt nichts gegen ausgesprochen pathetisches Drama, denn das ist genau das, was hier vonstatten geht. Aber meine geschundene Seele brauchte eine dicke Portion davon, also muss ich euch damit jetzt auch quälen :'D Viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Kleine Inhaltswarnung: Wir befinden uns in diesem Kapitel in einem Kopf, der unter Depressionen leidet und ein sehrsehr negatives Selbstbild hat! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Song für dieses Kapitel: Bird Set Free by Sia :)

Have some Fluff! <3 Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Bevor ich morgen an meinem Geburtstag in meine praktische Prüfung gehe, hab ich mich noch ein wenig sinnvoll betätigt, damit ihr nach dem letzten Cliffhanger nicht allzu lange warten müsst :D Drückt mir morgen früh ab 8:40 Uhr die Daumen, falls ihr da schon wach seid. Viel Spaß beim Lesen! :) Komplett anzeigen

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Die Kunst des Neinsagens

Dinge, die generell und unter allen Umständen schlichtweg beschissen sind:
 

1. Wenn der eigene Vater sich so dermaßen einen Dreck um das Wohlergehen seines Sohnes kümmert, dass er kurz vorm Abi beschließt, einen neuen Job anzunehmen und seinen Sohn mit in einer fremde Stadt zu schleifen – weg von seinem Freundeskreis und einer gewohnten Umgebung, in der man effektiv fürs Abi pauken kann.
 

2. Wenn die neue Schule, auf die man kommt, scheiße ist und man einfach keinen Anschluss findet weil man

a) super schüchtern ist

b) eine Angststörung hat

c) das ist, was Leute allgemeinhin als ‚Nerd‘ und als ‚Streber‘ bezeichnen
 

3. Wenn die Schule, auf die man geht, einen riesigen Hype um die Schul-Fußballmannschaft macht und der Kapitän dieser besagten Mannschaft zwar gut Fußball spielt, aber ansonsten scheinbar die Lerndisziplin eines kalten Herings hat und deswegen droht, nicht zum Abi zugelassen zu werden.

a) Und wenn wegen dieser Umstände Lehrer und die Eltern des Typen beschließen, dass der Junge dringend Nachhilfe braucht, weil er sonst eventuell seine Möglichkeit auf ein Sportstipendium verliert.

b) Und wenn eines Tages das Telefon klingelt und dein egoistischer Vater dir den Hörer in die Hand drückt, obwohl er weiß, dass sein Sohn eine Angststörung hat.
 

»Hallo?«, sage ich und hoffe, dass meine Stimme nicht allzu sehr zittert. Meine Hände jedenfalls sind sehr schwitzig und ich habe einen unangenehmen Kloß im Hals. Toll. So kriege ich meine Hausaufgaben bestimmt noch fertig. Hinterher brauche ich vermutlich erstmal ein dreistündiges Nickerchen, um mich zu beruhigen. Wieso ist mein Vater ein ignoranter Dreckskerl?
 

»Tamino Wilke?«, ertönt eine Frauenstimme am anderen Ende. Ich räuspere mich.
 

»Ja?«
 

»Hallo! Mein Name ist Kerstin Timmermann, ich bin die Mutter von Julius.«
 

Es dauert peinlich lange, bis ich in meinem Oberstübchen nach dem Namen Julius Timmermann gegraben habe, bis mir klar wird, dass es die Mutter von besagtem Fußballkapitän ist. Der mit der Disziplin eines kalten Herings. Ich räuspere mich, um den Kloß im Hals loszuwerden und scheitere kläglich.
 

»Was kann ich für Sie tun?«, frage ich unsicher und stehe von meinem Bett auf. Rastlos tigere ich durchs Zimmer und zupfe mit meiner freien Hand an meiner Unterlippe herum. Meine schwarzen Locken hängen mir ins Gesicht und ich versuche sie aus dem Weg zu pusten. Natürlich klappt es wie immer nicht.
 

»Wahrscheinlich hast du schon davon gehört, aber Julius hat im Moment ziemliche Probleme in der Schule…«
 

Ich verkneife mir ein Schnauben. Das ‚wahrscheinlich‘ am Anfang des Satzes impliziert, dass ich natürlich weiß, was mit Julius los ist, weil er ja so berühmt an unserer Schule ist. Haha.
 

»Ähm…«, sage ich geistreich. Ich weiß nicht, was ich sonst dazu sagen soll. Sie klingt ja eigentlich ganz nett, aber ehrlich gesagt auch so, als würde sie ihrem Sohn regelmäßig metaphorisch den Hintern pudern und ihn für einen missverstandenen armen Tropf halten, obwohl er wahrscheinlich einfach entweder nur faul ist, oder schlichtweg nicht besonders schlau. Kerstin Timmermann scheint sich einzugestehen, dass ich vielleicht keine Ahnung davon habe, was ihr Sohn so in der Schule treibt.
 

Tatsächlich haben wir so gut wie alle Kurse miteinander, aber ich achte nie allzu sehr auf ihn. Da er mich auch schon oft genug als Loser oder Streber bezeichnet hat, lege ich keinen großen Wert auf seine Gesellschaft.
 

»Es ist so, dass er wahrscheinlich nicht zum Abi zugelassen wird, wenn seine Leistungen sich nicht in den nächsten zwei Monaten verbessern und er hat eine Aussicht auf ein Sportstipendium, weißt du?«
 

Nein, weiß ich nicht.
 

»Ich verstehe nicht so richtig, was das mit mir zu tun hat«, gebe ich zu und schiebe mir die Locken aus der Stirn. Kerstin Timmermann seufzt theatralisch. Ich frage mich, ob sie genauso blonde Haare hat, wie ihr Sohn. Der trägt seine Haare übrigens im Pferdeschwanz. Er ist das komplette Gegenteil von mir. Meine Haut ist braun, seine blass. Ich hab schwarze Locken von meiner senegalesischen Oma geerbt, er hat glattes, blondes Haar. Meine Augen sind dunkelbraun, seine hellgrün. Ich hab eine Brille und er nicht.
 

»Es wäre wirklich umwerfend, wenn du ihm Nachhilfe geben könntest, Tamino. Frau Lüske spricht in höchsten Tönen von dir und sie ist Julius‘ Tutorin, musst du wissen. Es war ihre Idee, dass du Julius bei den nächsten Klausurvorbereitungen helfen könntest. Wir würden dich dafür natürlich auch bezahlen.«
 

Den letzten Satz fügt sie rasch hinzu, als würde das die Aussicht auf Nachhilfe für ihren Sohn attraktiver machen. Was nicht der Fall ist. Abgesehen davon, dass mein Vater ein Arschloch ist, pumpt er mich mit jeder Menge Taschengeld voll. Vielleicht, weil er weiß, dass er ziemlich versagt hat und das Gefühl hat, er müsse es irgendwie gut machen.
 

»Ähm…«, sage ich erneut und mein Gehirn ist definitiv eingefroren. Was soll ich dazu sagen? Ich will Julius ganz sicher keine Nachhilfe geben, aber ich bin auch meistens zu panisch, um ‚Nein‘ zu Leuten zu sagen.
 

»Fünfzehn Euro die Stunde scheint angemessen, nicht? Ich bin sicher, dass es auch für dich eine gute Prüfungsvorbereitung wäre! Julius hat mir gesagt, dass ihr dieselben Kurse habt.«
 

Wahrscheinlich hat sie Recht. Warum genau Julius überhaupt den sprachlichen Zweig gewählt hat, ist mir schleierhaft, da er keinen besonderen Spaß oder ein Talent für Englisch oder Deutsch zu haben scheint. Und auch in Geschichte und Französisch macht er keine besonders tolle Figur.
 

»Das mag sein, aber…«
 

»Ich wäre dir wirklich sehr dankbar. Frau Lüske sagte, dass du in all deinen Kursen glatt auf eins stehst.«
 

»Das ist richtig…«
 

»Es gibt keinen besseren Kandidaten. Frau Lüske hat betont, wie sinnvoll es wäre, einen Nachhilfelehrer für alle Fächer zu haben, statt für jedes Fach einen neuen zu suchen.«
 

Ich verfluche Frau Lüske. Eigentlich mag ich sie sehr gerne und sie ist eine wahnsinnig kompetente Lehrerin, aber wie sie auf den Gedanken kommt, dass ich gerne Julius‘ Abi retten würde, ist mir absolut schleierhaft. Sie hat schon mehrfach mitbekommen, dass Julius über meine mündliche Beteiligung oder meine guten Noten die Augen verdreht. Wahrscheinlich würde er mir nicht mal zuhören wollen, wenn ich ihm irgendwas erkläre.
 

»Ich glaube nicht, dass… also… Julius mag mich nicht besonders«, erkläre ich peinlich berührt und würde am liebsten im Boden versinken. Wahrscheinlich sagt sie mir gleich, dass ich mir das alles nur einbilde und dass ihr Sohn keiner Fliege was zuleide tun könnte.
 

»Nun, er wird sich zusammenreißen müssen«, sagte Frau Timmermann mit eiserner Stimme und ich bin so perplex, dass ich nicht so recht weiß, was ich sagen soll.
 

»Wenn es dir recht ist, kannst du am Samstag zu uns kommen. Es steht ja bald eine Geschichtsklausur an, wenn ich richtig informiert bin. Ich bin dir wirklich sehr dankbar, Tamino.«
 

Ich versuche mir kurz vorzustellen, wie mein Vater sich tatsächlich so für meinen Werdegang interessiert, dass er bei einem Mitschüler anruft und um Nachhilfe bittet. Seufzend massiere ich meine linke Schläfe. Ich möchte gerade einen letzten schwachen Versuch unternehmen, Frau Timmermann abzusagen, da hat sie schon beschlossen, dass ich praktisch zugesagt habe.
 

»Komm einfach, wann es dir am besten passt. Wir sind ab drei Uhr zu erreichen. Bis Samstag!«
 

Und dann legt sie einfach auf, als wüsste sie ganz genau, dass ich vorgehabt habe, ihr zu widersprechen. Ich starre den Hörer an und komme mir vor wie in einem schlechten Film. Eigentlich würde ich mich gleich hinlegen und schlafen, aber ich will auch unbedingt das Telefon loswerden, also trage ich es in den Flur und lege es auf die Station. Feindselig betrachte ich es. Ich weiß genau, wieso ich Telefone hasse.
 

*
 

Ich habe herzlich wenig Lust, am nächsten Tag zur Schule zu gehen. Denn dann muss ich Julius sehen und er weiß sicher, was seine Mutter verbrochen hat. Ich frage mich unweigerlich, wie sehr er versucht hat, sie davon abzuhalten. Wahrscheinlich hat er ungefähr zehn Stunden getobt und gebockt. Das hätte ich vielleicht auch machen sollen. Mein Vater hat nicht mal gefragt, wer da eigentlich am Telefon war. Wenn man mit einer Bezugsperson in eine fremde Stadt zieht, zu der man eigentlich keinen Bezug hat, dann ist Einsamkeit ziemlich unausweichlich.
 

Das Schulgebäude sieht groß und imposant aus, als ich am Donnerstag davor stehe. Im Gegensatz zu meiner alten Schule ist es ein riesiger Betonklotz, dessen Fenster einen andauernd dazu einladen, sich hinauszuwerfen, damit man dem Gestank nach Linoleumfußboden und Stress endlich entkommen kann. Ich bin heute Morgen mit dem üblichen Gefühl unterschwelliger Panik aufgestanden, das sich extrem verschlimmert hat, seit mein Vater mich aus meiner Stadt und von meinen Freunden weggeschleift und in diesem Misthaufen wieder abgeladen hat.
 

»Heghlu’meH QaQ jajvam«, denke ich, während ich die Tür aufmache. Ich könnte Julius einfach die ganze Zeit auf Klingonisch beleidigen, wenn er mir blöd kommt. Aber damit würde ich wohl mein Nerd-Image zementieren. Dann wiederum kann es ja eigentlich kaum noch schlimmer kommen.
 

Mit jeder Treppenstufe werden meine Hände schwitziger und mein Herzschlag schneller. Acht Stunden heute. Sechs davon mit Julius, wenn ich mich recht erinnere. Immerhin in Musik bleibe ich von ihm verschont, da er entweder Kunst oder Darstellendes Spiel gewählt hat. Hoffentlich muss ich ihm dafür nicht auch noch Nachhilfe geben. Mir reicht es immer schon, wenn ich ihm dabei zuhören muss, wie er die französische Sprache abschlachtet, sobald Herr Rosenheim ihn dran nimmt. Bei anderen stört es mich nicht, wenn sie schlecht Französisch reden, aber weil Julius sich für so einen tollen Hecht hält, stört mich an ihm einfach alles.
 

Sobald ich den Klassenraum betrete, in dem wir Deutsch haben, sehe ich ihn von einer Traube umringt am Fenster sitzen und lachen. Sein Lachen erstirbt sofort, als er mich eintreten sieht, aber da ich immer kurz vor knapp in der Schule erscheine, hat er keine Gelegenheit, mich anzusprechen, da in diesem Moment Frau Lüske erscheint. Sie ist eine dicke Frau in den Fünfzigern, trägt ihr graues Haar in einem Pagenschnitt und auf ihrer schmalen Nase sitzt eine knallrot umrahmte Brille.
 

»Guten Morgen«, dröhnt sie und ihre Augen finden meine sofort. Sie nickt mir mit einem augenscheinlich stolzen Blick zu und ich seufze. Frau Lüske ist die einzige Lehrerin in diesem Betonklotz, für die es sich lohnt, morgens aufzustehen. Aber ich kann ihr nicht so recht verzeihen, dass sie mir Julius an die Backe getackert hat.
 

»Guten Morgen«, kommt es mehr oder minder einstimmig zurück. Frau Lüske knallt ihre Ledertasche aufs Pult, gräbt darin herum und packt dann mehrere Unterlagen, Mappen und ein sehr zerlesenes Exemplar von Thomas Manns Felix Krull heraus – die Klassenlektüre, die wir momentan behandeln.
 

Normalerweise bin ich mündlich immer an vorderster Front, aber heute stelle ich mein Kinn einfach in meiner Hand ab und starre missmutig vor mich hin, während ich nichtssagende Schnörkel auf meinen Block male. Frau Lüske schaut mehrmals auffordernd zu mir herüber, aber ich habe keine Lust, meinen Arm zu heben. Julius beteiligt sich auch nicht. Ich meine, das tut er ohnehin nie wirklich, aber heute fällt es mir einfach besonders auf, weil er mir besonders auffällt. Grimmig denke ich daran, dass Felix Krull in all seinem Narzissmus eigentlich ganz gut zu Julius passt.
 

»Julius, Tamino. Ich würde Sie gerne noch sprechen, bevor Sie in die Pause gehen«, sagt Frau Lüske nach der Doppelstunde Deutsch, in der ich mich nicht einmal gemeldet, dafür aber ein ganzes Blatt voller Kringel gemalt habe. Mein Herz springt mir sofort in die Kehle und fängt an zu hämmern. Mein Gehirn schreit »Ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht« gegen meine Schädelinnenseite, aber das hält meine Füße letztendlich nicht davon ab, sich mechanisch Richtung Pult zu bewegen.
 

Julius sieht mich kurz an und starrt dann auf Frau Lüskes Pult. Oh ja, es wird ganz toll.
 

»Deine Mutter hat mich gestern Abend noch angerufen, Julius, und mir gesagt, dass Tamino sich bereit erklärt hat, dir Nachhilfe zu geben.«
 

Ich gebe ein trockenes Hüsteln von mir, das mir einen fragenden Blick von Frau Lüske und einen leicht säuerlichen von Julius einbringt.
 

»Sie wollen Ihr Abitur doch schaffen, Julius«, sagt Frau Lüske und es ist eigentlich nicht als Frage formuliert, aber Julius nickt ein wenig mechanisch. Seine blonden Haaren sind heute in einem unordentlichen Knuddel hinten auf seinem Hinterkopf befestigt. Er sieht aus wie ein Surfer an der Küste Australiens. Ich verkneife mir ein Augenverdrehen.
 

»Dann würde ich vorschlagen, dass Sie Ihr Bestes geben und sich an Tamino halten. Sie wissen, dass wir in drei Wochen den nächsten Aufsatz schreiben. Wenn Sie wieder nur vier Punkte schreiben, kann ich Sie beim besten Willen nicht mit fünf Punkten im Zeugnis benoten. Und wie ich höre, sieht es bei den Kollegen Rosenheim, Krüger und Frank auch nicht viel besser aus.«
 

Ich könnte schwören, dass Julius gerade mit jedem ihrer Worte um gute zwei Zentimeter geschrumpft ist. Fast tut er mir ein bisschen leid. Ich würde ungern vor jemand anderem mein Versagen aufgelistet bekommen, auch wenn ich natürlich sowie wissen muss, wo es eigentlich hapert. Ich wische mir meine feuchten Handinnenflächen so unauffällig wie möglich an meiner Jeans ab und wünsche mir, irgendwo anders zu sein.
 

»Wenn Sie Hilfe für einen Lehrplan brauchen, Tamino, dann wenden Sie sich gerne an mich«, sagt Frau Lüske gönnerhaft in meine Richtung, während sie ihre Unterlagen und ihre Ausgabe von Felix Krull in ihre Tasche stopft.
 

»Ok«, sage ich und meine Stimme klingt winzig klein. So klein, wie ich mich fühle. Ich kann unmöglich alleine zu Julius nach Hause gehen. Das ist fast so schlimm, wie zum Arzt zu gehen. Ich stecke meine Hände in die Hosentasche und wünsche mir plötzlich, viel kleiner zu sein, damit ich weniger Platz wegnehme. Frau Lüske nickt uns beiden noch einmal zu, dann rauscht sie aus dem Klassenzimmer und lässt uns zurück.
 

Julius räuspert sich.
 

»Du hättest meiner Mutter nein sagen sollen«, sagt er anschuldigend. Ich starre auf meine Schuhe.
 

»Ich hab‘s versucht. Sie war sehr… nachdrücklich«, antworte ich so leise, dass ich mir am liebsten die Zunge abbeißen würde. Ich hasse es, dass ich solche Angst davor habe, Leuten klar und deutlich nein zu sagen. Es ist keine besonders gute Eigenschaft, es immer allen recht machen zu wollen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich in einem Bus sitze und selber gar nicht der Fahrer bin, sondern weiter hinten hocke und meiner Angststörung am Steuer Richtungen zurufe, die sie einfach eiskalt ignoriert.
 

Julius stöhnt angestrengt und fährt sich übers Gesicht.
 

»Weißt du überhaupt, wo ich wohne?«, will er wissen.
 

»Nee«, gebe ich zurück. Er schnaubt. Dann sagt er mir seine Adresse, schwingt sich seinen Rucksack mit Schwung über die Schulter und stapft an mir vorbei aus dem Klassenzimmer.

to boldly go

Dinge, an die man sich auch nach mehreren Jahren mit einer Angststörung nicht gewöhnen kann:
 

1. Dieses Alarmglockengefühl im Kopf, sobald man aufwacht.

a) aus mehr oder weniger gutem Grund

b) einfach so
 

Mit genau diesem Gefühl wache ich am Samstagmorgen auf. Es passiert recht häufig, meistens allerdings ohne Grund. Heute jedoch weiß ich zwei Sekunden nach Öffnen meiner Augen, woher die Alarmglocken kommen. Ich habe miserabel geschlafen und mir die ganze Nacht lang Gedanken darüber gemacht, was ich am Samstagnachmittag tun soll.
 

1. Ich könnte einfach nicht hingehen. Ausgeschlossen, weil Frau Timmermann und Frau Lüske mir dann auf den Pelz rücken und ich damit nicht umgehen kann.

2. Ich könnte so tun, als wäre ich krank und das Unheil nach hinten verschieben. Dafür müsste ich allerdings bei den Timmermanns anrufen. Ausgeschlossen.

3. Ich gehe dahin und ziehe es durch. Und wenn Julius dann in der nächsten Deutschklausur vier Punkte schreibt, dann wird er nicht zum Abi zugelassen und ich bin ihn zumindest los. Zumindest teilweise ausgeschlossen, weil ich es nicht ertragen könnte, mich mit Frau Lüske und Frau Timmermann auseinander zu setzen, wenn Julius nicht zum Abi zugelassen wird.

4. Ich gehe hin und ziehe es durch und zwinge Julius dazu, bessere Noten zu schreiben.
 

Ich glaube nicht wirklich, dass Möglichkeit vier so einfach durchzuführen ist, aber es ist leider die einzige Variante, die übrig bleibt. Alles andere kann ich auf keinen Fall bewältigen, also muss ich das kleinste Übel wählen. Und dieses kleinste Übel verursacht laut dröhnende Alarmglocken in meinem Kopf. Es ist ein bisschen so, als würde andauernd jemand Horrorfilmmusik im Hintergrund abspielen, selbst wenn man nur Zähneputzen geht oder ein Toast mit Marmelade isst.
 

Gegen ein Uhr ist mir so schlecht, dass ich es nicht mal schaffe, irgendwas zum Mittag zu essen. Also beschäftige ich mich damit, meine Schulsachen in meinen Rucksack zu stopfen, die ich für die Nachhilfe brauche. Ich packe auch eine Thermoskanne mit Pfefferminztee ein, weil ich dann nicht fragen muss, ob ich irgendwas trinken kann. In den Spiegel schaue ich lieber nicht, weil ich mir dann auch noch Gedanken über meine riesigen Augenringe machen müsste und trotte einfach um halb drei los, ohne meinem Vater Bescheid zu sagen, wohin ich gehe. Es interessiert ihn ja auch ohnehin nicht.
 

Um mich zu beruhigen spiele ich auf dem Weg zu der Adresse, die Julius mir genannt hat, Pokemon Go. Ich brüte immerhin zwei Eier aus und fange zwei Evolis, was mir einen neuen Pokedex-Eintrag beschert, da ich mir jetzt ein Nachtara weiterentwickeln kann. Allerdings beruhigen meine vibrierenden Nerven sich nur ein winziges bisschen und als ich vor dem Wohnblock stehe, in dem Julius wohnt, sind meine Hände schon wieder wahnsinnig schwitzig und mein Herz macht einem Mäuseherz Konkurrenz. Timmermann steht auf einem der Klingelschilder die mir sagen, dass die Wohnung sich um zweiten Stock befindet und ich habe kaum Augen für das ziemlich hässliche Zitronengelb des Gebäudes, bevor ich einen zittrigen Finger dazu zwinge, auf die Klingel zu drücken. Die einzige, winzige Erleichterung ist, dass es keine Freisprechanlage gibt. Wenn ich jetzt auch noch einer Freisprechanlage hätte antworte müssen, wäre ich entweder weggerannt oder ohnmächtig geworden.
 

Der Türöffner summt und ich trete in ein langweilig grau gefliestes Treppenhaus mit drei Wohnungsparteien in jedem Stockwerk. Es kommt mir vor, als wären meine Beine aus Beton, als ich die Treppe in den zweiten Stock hinauf steige. So lange hab ich noch nie gebraucht, um bis in einen zweiten Stock zu gelangen.
 

Die linke der drei Türen ist geöffnet und eine Frau mittleren Alters mit blonden, hochgesteckten Haaren und einer grellroten Bluse steht dort und sieht mir lächelnd entgegen. Meine Gedanken rasen, weil ich nicht weiß, wie ich sie begrüßen soll. Wenn ich ihr die Hand gebe, dann merkt sie, wie schwitzig meine Handinnenflächen sind. Ich schlucke und versuche ein Lächeln. Scheiße.
 

»Halle, Tamino«, sagt sie und tritt zur Seite, damit ich eintreten kann. Es ist ein recht großer Flur mit Holzfußboden und jeder Menge Schuhe in allen möglichen Größen und Farben. Ich kann nur vermuten, dass all die Sportschuhe Julius gehören. Ich kralle meine Hände einfach in die Träger meines Rucksacks und hoffe, dass ich auf diese Weise um einen Handschlag herumkomme.
 

»Wie schön, dass du da bist. Möchtest du irgendwas trinken? Julius ist gerade unter der Dusche, aber er sollte gleich fertig sein.«
 

Toll, er ist duschen. Fehlt nur noch, dass er wie der australische Surfer, der in ihm steckt, nur mit Handtuch bekleidet zurück in sein Zimmer kommt und alles volltropft wie in einem schlechten Porno.
 

Ich ziehe etwas unbeholfen die Schultern hoch und schaue mich um.
 

»Soll ich meine Schuhe einfach hierzu stellen?«, frage ich schließlich und sie nickt. Ich merke, wie sie mich mustert und es macht mich nervös. Also nehme ich meinen Rucksack ab und schlüpfe aus meinen Schuhen, stelle sie sorgfältig in eine Lücke auf einem Schuhregal und greife dann wieder nach meinen Sachen. Dann fällt mir auf, dass ich ihre Frage noch nicht beantwortet habe und fahre mir peinlich berührt durch die Haare.
 

»Wasser… vielleicht?«, sage ich.
 

Ich hasse es, wie leise meine Stimme klingt, wenn ich nervös bin. Was zu neunzig Prozent der Zeit der Fall ist.
 

»Julius‘ Zimmer ist gleich hier vorne. Setz dich doch schon mal, ich besorge dir ein Glas Wasser«, sagt Frau Timmermann und rauscht mit ihrer augenkrebserregenden Bluse in Richtung Küche davon. Ich komme mir komisch vor, in Julius‘ Zimmer zu kommen, wenn er da nicht drin ist. Dann wiederum wäre es auch nicht besser, wenn er da wäre, also öffne ich die Tür und trete ein. Es ist genauso wie ich es mir vorgestellt habe.
 

Das Zimmer ist recht groß und es ist voll mit Fußballpostern und jeder Menge Trophäen in Form von Pokalen, Medaillen und Urkunden. Wow. Das Bett ist ungemacht und auf dem Schreibtisch stapeln sich jede Menge Sportzeitschriften. Kein Platz, um dort zu arbeiten. Es gibt einen niedrigen Tisch vor einem schwarzen Sessel, auf dem ein paar Schulsachen liegen. Julius hat keine Gardinen, nur etwa zehn Bücher und dafür ein recht großes Regal mit DVDs darin. Ich werfe einen kurzen Blick darauf. Dann setze ich mich in den schwarzen Sessel, nehme meinen Rucksack auf den Schoß und starre die Trophäen an, während ich darauf warte, dass Julius aus der Dusche oder seine Mutter aus der Küche zurückkommt.
 

Julius‘ Mutter kommt mit einem blauen Glas voller Sprudelwasser zurück, stellt es vor mir auf dem Tisch ab und schenkt mir ein Lächeln, bevor sie wieder geht. Vielleicht hat sie gemerkt, wie unwohl ich mich fühle. Vielleicht hat sie auch einfach was Besseres zu tun, als sich mit mir zu unterhalten.
 

Ich kaue nervös an meinen Fingernägeln herum und nehme zwischendurch einen großen Schluck Wasser. Julius duscht ganz schön lange. Als die Tür aufgeht, wappne ich mich für den Surferauftritt, aber stattdessen lugt ein fremder, blonder Haarschopf durch die Tür und beginnt den Satz »Juls, kann ich mir deine– Oh. Du bist nicht Juls.«.
 

Ich stelle hastig den Rucksack beiseite und schmeiße dabei um ein Haar das Glas vom Tisch. Wow, Tamino. Einfach toll. Unweigerlich habe ich das Bedürfnis, mich aus dem Fenster zu stürzen.
 

»Nein. Ich bin Tamino«, sage ich heiser.
 

Sie muss Julius‘ Schwester sein. Die beiden sehen quasi gleich aus, mit Ausnahme der Frisur und der Menge an Sommersprossen. Sie hat das ganze Gesicht voll damit und ihre Haare sind sogar noch kürzer als meine. Aber sie hat dieselben grünen Augen, dasselbe schiefe Grinsen und sie ist sogar genauso groß wie Julius. Also sprich: gute zehn Zentimeter kleiner als ich.
 

»Oooh«, sagt sie langgezogen. »Der Nachhilfelehrer!«
 

Ich nicke peinlich berührt. Sie grinst breit und holt gerade Luft, um etwas zu sagen, als ihr Blick auf mein Shirt fällt, auf dem »Vulcan Science Academy« steht. Ihre Augen werden rund wie Untertassen.
 

»Oh mein Gott. Was für ein gutes Shirt!«
 

Ich bin kurz davor eine Panikattacke zu kriegen, weil plötzlich ein fremder Mensch mit mir über mein Shirt reden will, aber dann wiederum rede ich lieber über Star Trek, als mit Julius über Felix Krull, also räuspere ich mich und schaffe so etwas wie ein halbes Lächeln.
 

»Danke.«
 

Meine Stimme ist schon wieder so leise. Ugh.
 

»Bester Captain?«, fragt sie. Ich fühle mich wie in einem Quiz.
 

»Unentschieden zwischen Sisko und Janeway«, sage ich. Sie nickt zufrieden.
 

»Damit kann ich leben. Kirk und Spock?«
 

»Quasi verheiratet.«
 

»Reboots?«
 

»Nur, um Zoe Saldana und John Cho anzuschauen.«
 

Sie seufzt zufrieden, als hätte sie gerade in einen besonders perfekten Cookie gebissen. Dann scheint etwas ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, denn sie dreht sich um.
 

»Du hast mir nicht gesagt, dass dein neuer Nachhilfelehrer Star Trek Fan ist«, sagt sie anschuldigend nach hinten gewandt. Mein Herz fängt sofort wieder an zu hämmern. Julius‘ Haare sind noch nass und er hat sie in einem unordentlichen Knödel zusammen gebunden. Gott sei Dank ist er angezogen. Jetzt sieht er etwas verwirrt aus, bis er mich entdeckt und dann mit den Schultern zuckt.
 

»Ich wusste nicht, dass er Star Trek Fan ist«, meint er und schiebt sich an seiner Schwester vorbei ins Zimmer. Ich nehme noch einen großen Schluck Wasser.
 

»Vielleicht kannst du meinen Bruder bekehren. Er findet, dass man nicht gleichzeitig Star Wars und Star Trek mögen kann«, sagt Julius‘ Schwester. Ich weiß ihren Namen überhaupt nicht.
 

»Ich mag beides«, sage ich unsicher. Julius verdreht die Augen. Seine Schwester sieht sehr zufrieden aus.
 

»Lieblingscharakter?«
 

»Finn.«
 

»Gekauft! Viel Spaß euch beiden!«
 

Mit diesen Worten verschwindet sie und ich wünschte, ich könnte stattdessen ihr Nachhilfe geben. Julius sieht mich mit einem merkwürdigen Blick an.
 

»Ich weiß gar nicht, was schlimmer ist. Pauken oder zu Star Trek bekehrt werden«, meint er dann und wirft sich auf sein ungemachtes Bett. Ich starre ihn recht ausdruckslos an und frage mich, ob er wirklich glaubt, dass mir das hier mehr Spaß macht als ihm.
 

»Ich hab nicht vor, dich zu bekehren«, murmele ich und greife dann nach meinem Rucksack, um meinen Kram auszupacken. Julius beobachtet mich kurz dabei, dann steht er wieder auf und räumt mit einem großen Wisch alle Sachen vom Tisch, ehe er sich auf dem Fußboden niederlässt und das Kinn in die Hände stützt.
 

»Womit fangen wir an?«, will er wissen.
 

»Deutsch. Die Klausur ist als nächstes dran.«
 

Er seufzt theatralisch.
 

»Das Buch ist so langweilig«, klagt er.
 

»Hast du es durchgelesen?«, erkundige ich mich misstrauisch. Ich könnte schwören, dass er ein bisschen schuldbewusst dreinblickt. Ich stöhne und fahre mir mit der Hand durchs Haar.
 

»Wie soll ich dir Nachhilfe geben, wenn du nicht mal das blöde Buch gelesen hast?«
 

Julius hebt abwehrend die Hände.
 

»Alter, ich hatte darauf genauso wenig Bock wie du und meine Mutter hat mich praktisch überfallen. Wie hätte ich das Scheißteil bis heute lesen sollen? Ich hab noch ein Leben außerhalb der Schule, man«, erklärt er bockig und verschränkt die Arme vor der Brust. Ich massiere mir die Schläfen.
 

»Dann fangen wir eben mit was anderem an und du liest das Buch dieses Wochenende.«
 

Er starrt mich an.
 

»So schnell kann kein Mensch lesen.«
 

Ich hebe eine Augenbraue.
 

»Schön, ja, du kannst vielleicht so schnell lesen! Ich aber nicht!«
 

»Willst du dein Abi bestehen, oder nicht? Dann lern eben schneller zu lesen«, sage ich ungehalten und stopfe das Buch wieder in meinen Rucksack. Julius schweigt und ich sehe aus dem Augenwinkel, dass er auf seiner Unterlippe herum kaut.
 

»In welchem Fach hast du sonst noch Probleme?«, frage ich also.
 

»In allen? Es läuft nicht besonders gut…«
 

»In welchem Fach läuft es am wenigsten?«
 

»Vielleicht Französisch?«
 

Ich meine… ja. Julius ist miserabel in Französisch. Dann wiederum hab ich keine Ahnung, wie ich ihn innerhalb von zwei Monaten auf ein passables Level bringen soll. Und das in mehreren Fächern. Ich will schließlich auch noch irgendwann Freizeit haben.
 

»Mon dieu…«, murmele ich. Er grummelt leise.
 

»Woher kannst du überhaupt so gut Französisch?«, will er wissen und klingt wie ein kleines, trotziges Kind. Seine Arme sind immer noch verschränkt.
 

»Ma grand-mère vient du Sénégal. Elle parle le français couramment«, gebe ich zurück. Julius starrt mich an. Seine Augen sind wirklich sehr grün. Ich lege den Kopf schief und versuche zurückzuschauen. Augenkontakt ist normalerweise ziemlich schwierig für mich, aber ich zwinge mich dazu, nicht wegzuschauen. Schließlich bricht er als erstes den Kontakt und grummelt erneut.
 

»Also... deine Oma kommt... woher ?«
 

»Quoi?«
 

»Oh mein Gott. Nein. Auf keinen Fall!«
 

»Je suis désolé, je ne comprends pas l’allemand.«
 

»Ich spreche auf keinen Fall Französisch mit dir! Ich bin total schlecht! Weißt du, wie peinlich das ist?«
 

Ich seufze.
 

»Schön. Meine Oma ist Senegalesin und ich bin zweisprachig aufgewachsen.«
 

Er sieht fast ein bisschen erleichtert aus, dass ich aufgehört habe, Französisch zu sprechen.
 

»Vielleicht können wir einfach die Französischhausaufgaben zusammen machen«, sagt er und zieht die Schultern hoch.
 

»Von mir aus. Ich hab mein Buch aber nicht dabei. Wir brauchen deins.«
 

Er steht auf und fängt an in einem Stapel auf seinem Schreibtisch zu kramen.
 

»Wie heißt deine Schwester?«, will ich wissen. Er wirft mir einen amüsierten Blick über die Schulter zu.
 

»Sie ist vergeben«, meint er. Ich verdrehe die Augen.
 

»Das hab ich nicht gefragt!«
 

Ich steh ohnehin nicht auf Frauen. Aber das muss er ja nicht wissen.
 

»Marina«, gibt er zurück und zieht sein Französischbuch von ganz unten im Stapel hervor. Wenn es da immer liegt, ist es kein Wunder, dass er so schlecht in Französisch ist. Dann schlurft er zurück zu seinem Platz, lässt sich auf den Boden plumpsen und schiebt das Buch zu mir rüber. Ich sehe ihn fragend an.
 

»Ich weiß nicht, was wir aufhaben«, sagt er. Wenn ich kein Brillenträger wäre, würde ich mir jetzt die Hand auf die Augen legen.
 

»Ok, so geht das nicht«, sage ich.
 

»Was?«
 

»Das! Alles! Wie soll ich jemandem Nachhilfe geben, der überhaupt keinen Bock hat, was zu lernen?«
 

»Alter, ich hab mir das mit der Nachhilfe nicht ausgedacht!«
 

»Dann vergiss dein Abi halt«, sage ich bissig und zurre schlechtgelaunt meinen Rucksack zu. Julius scheint hin und hergerissen zwischen den Polen »Unlust« und »Ich muss mein Abi packen«. Ich habe keine Zeit, um mir Gedanken darüber zu machen, welcher Pol gewinnt. Was für eine Zeitverschwendung.
 

»Warte«, meint er verbissen, als ich aufstehe, um zu gehen. Ich sehe ihn fragend an.
 

»Sorry«, nuschelt er. Er hat schon wieder die Schultern hochgezogen und ich wüsste wirklich gerne, was in seinem Kopf vor sich geht. Wie genau will er sein Abi retten, wenn er nicht nur keinen Bock zum Lernen hat, sondern auch konsequent keine Hausaufgaben erledigt und sich mündlich nur insofern beteiligt, als dass er dumme Kommentare in den Unterricht quatscht, nach denen keiner gefragt hat.
 

»Also, was soll ich machen?«, fragt er. Der entnervte Teil meines Gehirns will einfach nur sagen »Dich nicht so anstellen« und dann das Zimmer verlassen. Ein anderer Teil meines Gehirns zwingt mich dazu, das nicht zu sagen. Wahrscheinlich ist es die 80%-Hälfte mit der Angststörung, die Leuten nur schwer die Meinung sagen kann.
 

»Hausaufgaben aufschreiben und erledigen. Mündliche Beteiligung. Du hättest deine miserablen schriftlichen Noten alle retten können, wenn du im Unterricht mitgemacht hättest. Frag Herrn Frank, ob du ein Referat halten kannst. Er ist froh, wenn er sich für 40 Minuten nicht um irgendwas bemühen muss. Frag Herrn Rosenheim, ob du ihm deine Hausaufgaben zur Korrektur abgeben kannst. Frau Krüger bietet regelmäßig an, Mappen für Extrapunkte einzusammeln. Es ist echt keine hohe Kunst.«
 

Julius sieht mich an, als hätte ich vollständig den Verstand verloren. Ich meine, ich tue all diese Dinge nicht. Aber ich brauche das auch alles nicht. Ich bin mündlich und schriftlich gleichermaßen gut, deswegen brauche ich keine Extrapunkte sammeln. Aber wenn man wirklich Schwierigkeiten hat, gibt es genug Möglichkeiten sich zumindest mit einiger Anstrengung auf eine Drei zu katapultieren. Man muss es natürlich wollen.
 

Julius verschränkt die Arme auf dem Tisch und lässt seinen Kopf darauf fallen. Ich beobachte ihn, wie er eine gute Minute so liegen bleibt, ehe er den Kopf wieder hebt und sich dann ein recht knittrig aussehendes Blatt Papier heranzieht.
 

»Noch mal langsam von vorne«, sagt er resigniert. Ich verenge meine Augen zu Schlitzen und denke für einen Moment, dass er mich veralbern will. Aber er fängt tatsächlich an die Worte »Hausaufgaben notieren« aufzuschreiben. Also zähle ich alles noch mal von vorne auf. Und dann noch ein paar mehr generelle Sachen, die man eigentlich wissen sollte. Stör nicht den Unterricht. Lies so oft wie möglich Hausaufgaben vor, damit das Lehrpersonal sieht, dass du sie gemacht hast. Wenn dir selber kein guter Beitrag einfällt, wiederhole noch mal etwas, was andere vor dir gesagt haben in anderen Worten.
 

»Jeden Tag mindestens eine halbe Stunde Französischvokabeln lernen«, sage ich. Julius gibt ein Geräusch von sich wie ein verletztes Nashorn.
 

»Jeden Tag?«
 

Ich hoffe, dass mein Blick so stählern ist, wie ich es beabsichtige. Es klopft an der Tür.
 

»Ja«, sagt Julius. Er klingt wie das Leiden Christi. Seine Mutter kommt mit einem Teller voller Kekse ins Zimmer und lächelt mich strahlend an. Ich versuche zurückzulächeln. Als sie bei dem niedrigen Tisch ankommt, wirft sie einen Blick auf Julius‘ Notizen.
 

»Ich kann es nicht glauben, dass du dir extra notieren musst, deine Hausaufgaben zu erledigen«, sagt sie schnippisch. Julius wird eindeutig rot. Ich versuche so interessiert wie möglich meine Fingernägel zu begutachten.
 

»Nimm dir einen Keks, Tamino«, sagt sie zu mir, stellt den Teller ab, wirft ihrem Sohn einen strengen Blick zu und verlässt das Zimmer. Ich nehme mir einen Keks.
 

»Wenn wir die Französischhausaufgaben jetzt zusammen machen, kannst du sie gleich morgen vortragen«, erkläre ich. Julius seufzt und greift nach dem Französischbuch.
 

»Page 147, exercice 5«, sage ich. Ich sehe, wie es in seinem Kopf rattert, während er versucht die Zahl in seinem Kopf zu übersetzen.
 

Wir haben einen sehr langen und steinigen Weg vor uns.

Können und Nichtkönnen

Dinge, an die ich mich sehr wahrscheinlich nicht gewöhnen kann:
 

1. Julius‘ Hand in der Luft, während wir Unterricht haben.
 

2. Gespräche zwischen Julius und verschiedenen Lehrern nach dem Unterricht.
 

3. Julius, der in der Schule mit mir redet. Normalerweise hat er niemals mit mir geredet, außer mal darüber zu schnauben, wenn ich der einzige war, der irgendeine Aufgabe gelöst hatte oder wenn ich mich als einziger gemeldet habe.
 

Jetzt plötzlich kommt es vor, dass Lehrer und Lehrerinnen uns zusammen nach vorne ans Pult rufen, nachdem die Stunde vorbei ist. Ich frage mich, inwiefern Julius‘ Freunde darüber informiert sind, wieso plötzlich alle Lehrer mit Julius reden wollen und wieso ich auch immer mit dabei bin. Julius scheint mir der Typ zu sein, der so uncoole Dinge wie Nachhilfe vor seinen Kumpels verheimlicht und so tut, als würde er mich nicht kennen.
 

Ich meine, er kennt mich ja auch nicht wirklich.
 

Aber bislang habe ich mich noch nicht getraut, ihn danach zu fragen. Deswegen rede ich für gewöhnlich auch nicht mit ihm, wenn wir uns in der Schule sehen. Ich hab mich nach einigen Monaten an dieser elenden Schule schon daran gewöhnt, einfach immer alleine in der Gegend rumzustehen und meine Pausenbrote zu essen. Schule war nie deprimierender als hier. Wenn ich zu sehr daran denke, dass ich an meiner alten Schule mit meinem Freundeskreis im Wintergarten oder in der Cafeteria der Schule sitzen würde, dann geht es mir manchmal so schlecht, dass ich am liebsten nach Hause gehen würde.
 

Deswegen versuche, nicht zu sehr daran zu denken.
 

Ich sitze meistens vorm Klassenzimmer, wo sich sonst ohnehin niemand aufhält. Dann muss ich keine schwitzigen Hände und Herzrasen wegen irgendeines komischen Schweigens kriegen, falls irgendein Klassenkamerad sich zu mir gesellt. Ich habe ohnehin meistens Stöpsel in den Ohren und höre Musik. Wenn man alleine ist, dann gibt es in Schulpausen nicht allzu viel zu tun außer lesen, Musik hören und essen. Manchmal alles gleichzeitig, wie heute.
 

In meinen Ohren dröhnt Stromae, in der einen Hand habe ich den neusten Teil von Ben Aaronovitchs »Rivers of London«-Reihe und in der anderen ein Brot mit Käse und Gurke. Gerade, als ich an einer besonders spannenden Stelle angekommen bin, tippt es auf meiner Schulter und ich fahre heftig zusammen, lasse beinahe mein Brot fallen und verliere prompt die Seite, auf der ich gerade noch gelesen habe.
 

Hastig ziehe ich mir die Stöpsel aus den Ohren und drehe mit hämmerndem Herzen den Kopf. Zwei sehr grüne Augen blicken mir entgegen. Julius hat die Augenbrauen gehoben und die Hände abwehrend gehoben. Vermutlich hat er nicht damit gerechnet, dass ich mich so erschrecke.
 

»Dude, keine Panik«, sagt er und ich verenge die Augen zu Schlitzen. Hat er mich gerade tatsächlich und wahrhaftig Dude genannt?
 

Stille.
 

»Was hörst du da?«, will er dann wissen. Ich blinzele.
 

»Hä?«, gebe ich geistreich zurück. Er verdreht die Augen und zeigt mit einer übertriebenen Geste auf meinen MP3-Player, der in meinem Schoß halb vergraben unter dem Buch liegt.
 

»Stromae«, sage ich dann und räuspere mich. Er zuckt mit den Schultern.
 

»Alors on danse?«
 

»Was?«
 

»Das ist ein Lied. Von Stromae. Das eigentlich jeder kennt… hier«, sage ich, halte ihm einen Stöpsel hin und suche auf dem MP3-Player nach dem entsprechenden Lied. Es ist definitiv nicht eins meiner Lieblingslieder, aber eigentlich kennt es jeder, der ansonsten noch nie von Stromae gehört hat. Julius schiebt sich den Stöpsel ins Ohr und ich sehe, wie er das Lied sofort erkennt.
 

»Ah, achso«, meint er. Ich erwarte, dass er den Stöpsel rausnimmt und mir sagt, dass meine Musik scheiße ist. Aber er macht keine Anstalten. Steht einfach da mit meinem Stöpsel im Ohr, den Händen in den Hosentaschen und starrt an mir vorbei aus dem Fenster.
 

Ich bin nicht sicher, was ich tun soll.
 

»Ähm… möchtest du…«, fange ich an, aber ich spreche schon wieder viel zu leise und beende die Frage nicht. Am liebsten würde ich meinen Kopf gegen die Backsteinmauer hinter mir hauen. Wow, Tamino. Niemand würde denken, dass du es überhaupt jemals in deinem Leben geschafft hast, Freunde zu finden. Ehrlich gesagt erinnere ich mich kaum noch daran, wie ich meinen Freundeskreis überhaupt gefunden habe. Habe ich damals auch schon so leise gesprochen?
 

»Welches ist dein Lieblingslied?«, will Julius wissen. Da ich sitze und er steht, darf in diesem Moment ausnahmsweise mal zu mir runter schauen. Normalerweise sehe ich immer zu ihm herab. Ich glaube, ich schaue ihn an wie ein Karpfen. Er schnaubt amüsiert und schaut dann wieder aus dem Fenster. Hab ich das gerade richtig gehört? Vielleicht hab ich ihn falsch verstanden, weil ich immer noch einen Stöpsel im Ohr habe und Stromae laut »Alors on danse« hinein singt?
 

Probehalber suche ich in meinem MP3-Player nach »Papaoutai«, was ich momentan rauf und runter höre. Dann schaue ich wieder hoch in Julius‘ Gesicht.
 

»Das ist ja auch auf Französisch«, sagt er nach einer Weile. Diesmal muss ich schnauben.
 

»Ja. Alle seine Lieder sind auf Französisch«, erkläre ich.
 

»Worum geht’s in dem Lied?«, will er wissen.
 

»Darum, dass Väter scheiße sind.«
 

Julius blinzelt.
 

»Oh. Ok«, sagt er. »Hört sich mehr nach Partymusik an.«
 

»Ja, schon. Aber eigentlich sind all seine Texte ziemlich tiefgründig.«
 

Julius gibt mir meinen Stöpsel zurück und zeigt dann auf das Buch.
 

»Und was liest du?«, will er wissen. Als nächstes fragt er noch, was auf meinem Brot ist. Ich beiße ab und drücke ihm das Buch in die Hand. Es ist die englische Ausgabe und ich kann beinahe sehen, wie Julius sich zusammenreißen muss, um darüber nicht auch noch einen Kommentar zu machen. Ja, hallo. Ich bin Tamino und lese Bücher auf Deutsch, Englisch und manchmal Französisch und ich höre komische, französische Musik und in diesem Augenblick vermisse ich meine Freunde so dermaßen doll, dass ich am liebsten anfangen würde zu heulen.
 

Toll.
 

Julius begutachtet das Buch von vorne, liest den Klappentext, schlägt es auf und ich muss mich zusammenreißen, um ihn nicht darüber zu informieren, dass das Buch keine Bilder hat. Dann schaut er mich an.
 

»Gibt’s auch irgendwas, was du nicht kannst?«, fragt er. Ich zucke mit den Schultern.
 

»Mit den Ohren wackeln. Auto fahren. Backen. Mit der Zunge an meine Nasenspitze kommen?«
 

Julius lacht tatsächlich. Dann sieht er kurz so aus, als würde er darüber nachdenken, seine Zunge rauszustrecken, um zu sehen, ob er das kann.
 

»Ich kann mit den Ohren wackeln. Und Auto fahren«, informiert er mich. Ich gebe ihm zwei hochgestreckte Daumen. Er grinst sehr breit und ich sehe, dass er ausgesprochen spitze Eckzähne hat. Ich muss kurz daran denken, wie begeistert vielen Mädchen wären, wenn ein Typ wie Julius sich als Vampir entpuppen würde.
 

Ich frage mich, ob ich meinen MP3-Player ausmachen und in den Rucksack stecken soll. Wenn hier jemand steht, der sich mit mir unterhält, ist es wahrscheinlich unhöflich, wenn ich weiter Musik höre. Ich beiße unschlüssig von meinem Brot ab und frage mich, wieso ich so miserabel mit sozialen Situationen bin.
 

»Hast du zufällig nach der Schule Zeit für Bio-Hausaufgaben?«, fragt er dann und ich seufze innerlich. Das hätte ich mir auch gleich denken können. Dass er nur hergekommen ist, um danach zu fragen. Der Rest war dann wohl eine Einleitung, um mich ein wenig weichzuklopfen.
 

»Ich hab in der neunten und zehnten Latein«, erkläre ich also und schiebe das Buch in meinen Rucksack.
 

»Oh. Das ist ja kacke«, meint er. Ich zucke mit den Schultern.
 

»Geht so. Ich mag Latein.«
 

Julius verdreht die Augen und ich schrumpfe ein bisschen in mir zusammen.
 

»Sprichst du irgendwie… zwanzig Sprachen oder so?«, fragt er. Ich wundere mich, dass er immer noch hier ist, obwohl ich gesagt habe, dass ich keine Zeit habe. Ich hebe die Hand, um zu zählen.
 

»Vier einhalb. Und Latein. Aber das spricht man ja nicht wirklich«, gebe ich zurück und verfluche mich im selben Augenblick, weil ich Klingonisch einfach so mitgezählt habe und er vielleicht gleich fragt, welche Sprachen ich spreche. Ich merke, wie ich rot anlaufe.
 

»Deutsch, Englisch, Französisch…«, zählt er auf und sieht mich fragend an.
 

»Ähm… Ich… äh… ich verstehe Wolof. Kann es aber nicht selber sprechen. Deswegen nur einhalb.«
 

»Was ist das für ne Sprache?«
 

»Kommt aus dem Senegal«, erkläre ich.
 

»Ah. Da wo deine Oma herkommt.« Er zögert kurz und ich sehe, wie er noch mal nachzählt. »Und was ist die vierte?«
 

Ich schließe kurz die Augen und verschlinge meine Hände ineinander. Herzlichen Glückwunsch, Tamino, du hast es wieder geschafft dir mit deinen seltsamen Interessen selbst ins Knie zu schießen. Ich räuspere mich.
 

»Ähm... ich – also…«
 

Julius sieht immer noch abwartend aus. Oh man. Es ist nicht zu fassen, dass ich einfach drauf los rede, ohne vorher nachzudenken. Wieso bin ich so wie ich bin?
 

»IchkannKlingonischsprechenaberdaszähltwahrscheinlichnichtwirklich«, puste ich in einem Affentempo heraus und möchte eigentlich gerne sterben. Ich mache mich total zum Horst. Es ist kein Wunder, dass ich an dieser Gott verdammten Schule keine Freunde gefunden habe, wenn ich es nicht mal schaffe, normal über meine Interessen zu reden, oder wie ein Bekloppter vor mich hinzublubbern. Oh Gott.
 

»Was für’n Ding?«, fragt Julius.
 

»Kl–Klingonisch. Aus Star Trek.«
 

Es wäre durchaus berechtigt meine Stimme in diesem Moment als ein leises, mäuseartiges Piepsen zu beschreiben. Julius starrt mich an, als wäre ich völlig wahnsinnig geworden.
 

»Du sprichst ne Sprache, die es nicht wirklich gibt?«, sagt er langsam. Ich ziehe die Schultern so hoch, wie ich kann. Mein Käsebrot werde ich definitiv nicht mehr aufessen. Mir ist nämlich ziemlich schlecht.
 

»Total abgefahren«, murmelt er. »Sag mal was auf Klin…dingens!«
 

»Klingonisch«, verbessere ich automatisch.
 

»Klingonisch. Wie auch immer. Ich hab keine Ahnung wie Klingonisch sich anhört«, sagt Julius und er sieht tatsächlich gespannt aus. Aber ich hab schreckliches Lampenfieber und schüttele hastig den Kopf. Wahrscheinlich sind meine Augen riesig und ich sehe aus wie ein Kaninchen, das gerade eine Schlange vor seinem Bau entdeckt hat.
 

Julius hebt abwehrend die Hände und sieht aus, als wäre er ziemlich erstaunt über meine Reaktion.
 

»Ok, ok! Kein Druck.«
 

Kann der Boden jetzt bitte unter mir aufgehen und mich schlucken? Es wäre genau der richtige Zeitpunkt. Jetzt. Sofort.
 

Es herrscht ganze zehn Sekunden schreckliches Schweigen und ich wünsche mir sehnlichst, dass es zur nächstes Stunde läutet.
 

»Hättest du theoretisch nach Latein Zeit? Für Bio?«, sagt Julius dann. Ich muss mich sehr darauf konzentrieren ruhig zu atmen und brauche einen Moment, um die Frage zu verarbeiten.
 

»Ähm… ja? Ich denke schon?«
 

Weil ich keine Freunde habe und sowieso nichts anderes mache, außer Hausaufgaben und lesen. Oder zum 700. Mal meine Lieblingsfolgen von Star Trek angucken.
 

»Cool. Ich versteh diese Sache mit homogen und ana… was auch immer überhaupt nicht.«
 

»Homolog und analog«, verbessere ich automatisch. Ich bin Hermine Granger, falls das noch niemandem aufgefallen sein sollte. Julius wedelt mit der Hand.
 

»Ja, die Sache. Check ich nicht. Ich warte dann nachher vorne beim Vertretungsplan«, meint er und dann klingelt es endlich und er schiebt sich seine Tasche auf der Schulter nach oben und wendet sich von mir ab. Ich hab keine Ahnung, ob das unter eine normale Nachhilfestunde fällt, oder ob wir gerade noch eine zusätzliche Hausaufgabenhilfe gegründet haben. Ich schaue mein Käsebrot an und lege es zurück in die Brotdose, bevor ich Julius ins Klassenzimmer folge, in dem er nun schon wieder umringt von seinen Kumpels und ein paar Mädchen sitzt, während ich meinen Platz in der hintersten Reihe einnehme und meine Deutschsachen auspacke. Ich glaube, Julius hat Felix Krull immer noch nicht fertig gelesen und in anderthalb Wochen schreiben wir die nächste Klausur. Wenn er die verhaut, dann ist diese ganze Nachhilfesache ja vielleicht ohnehin vorbei.
 

Frau Lüske kommt herein und ich verdränge jegliche Gedanken an Julius und Klingonisch und meine mangelnden Sozialkompetenzen. Vorerst.

Schlaflos

Dinge, denen ich definitiv nie zugestimmt habe:
 

1) Meine komplette Freizeit zu opfern, um Julius Timmermanns Abitur zu retten.
 

2) Meine Zeit darauf zu verschwenden, jemanden zu unterrichten, der offensichtlich überhaupt keinen Bock hat, irgendwas zu lernen.
 

3) Julius zu erklären, was Klingonen sind, statt mit ihm Biohausaufgaben zu machen.
 

Ich glaube, er hat mein sozial ausgehungertes Herz erspürt und drillt mich jetzt mit Fragen über meine Interessen, damit er sich nicht mit Homologie und Analogie in der Evolution auseinandersetzen muss. Das ist zumindest meine These. Er scheint immer noch nicht darüber hinweg gekommen zu sein, dass ich eine fiktive Sprache spreche und er hat noch zweimal gefragt, ob ich was auf Klingonisch sagen kann.
 

Aber ich hab beide Male solches Lampenfieber bekommen, dass mein Gesicht wahrscheinlich grün geworden ist und er gesagt hat, es sei ok. Letztendlich hab ich einfach auf meinem Handy Youtube durchsucht und ein klingonisches Kampflied rausgesucht, das er sich dann anhören kann.
 

Wir sitzen vor der Schule im Schneidersitz auf einer Tischtennisplatte und haben unsere Schulsachen zwischen uns ausgebreitet. Jetzt halte ich mein Handy zwischen uns, mache den Ton an und lasse Julius eine Szene aus Deep Space Nine anhören, während ich mit meiner freien Hand im Biobuch nach der entsprechenden Seite suche.
 

»Was singen die da?«
 

»Tod und Ehre«, entgegne ich murmelnd und lege einen Finger ins Buch. Dann nehme ich mein Handy zurück, schalte den Ton wieder ab und stecke es zurück in meine Hosentasche.
 

»Tod und Ehre?«, wiederholt Julius.
 

»Ja. Klingonen halt. Ich glaube, sie singen kaum über was anderes.«
 

Julius sieht aus, als wäre er sich nicht sicher, was er von Klingonen halten sollte, aber er äußert sich nicht weiter und friemelt mit einer Hand an seinem Haarknoten herum, der sich über den Schultag hinweg ziemlich gelöst hat, sodass ihm nun mehrere Strähnen seines blonden Haars ins Gesicht hängen.
 

»Wie weit bist du mit Felix Krull?«, will ich wissen und überfliege die Übungsaufgaben am Ende des Kapitels.
 

»Ähm… so… halb?«
 

Ich hebe den Kopf und starre ihn an.
 

»Die Klausur ist in anderthalb Wochen«, sage ich. Julius‘ Haare lösen sich in diesem Moment nach all dem Gefriemel endgültig aus dem Knoten und fallen ihm prompt ins Gesicht, als würde er sich auf diese Art vor mir verstecken wollen.
 

»Es ist so viel auf einmal«, nuschelt er und ich starre ihn durch einen Vorhang blonder Haare an. Meine dunklen Locken wachsen eher in die Höhe, wenn ich sie länger nicht schneiden lasse. Julius‘ Haare sind ganz glatt und er streicht sie sich aus dem Gesicht, um erneut einen Knoten daraus zu machen. Ich frage mich dunkel, ob seine Haare so weich sind, wie sie aussehen.
 

Und zugegebenermaßen verstehe ich, was er meint. Natürlich ist er irgendwie selber schuld, dass er es so weit hat kommen lassen, aber ich bin der Erste, der es nachvollziehen kann, wenn man zu viele Dinge tun muss, die sich vor einem auftürmen und sich in ein unüberwindbares Hindernis verwandeln. Ich kaue auf meiner Unterlippe herum und merke gar nicht, dass ich Julius hochkonzentriert anstarre, bis er irgendwann vollkommen überraschenderweise rot wird und den Blick abwendet.
 

»Was für ein Lerntyp bist du?«, frage ich.
 

»Hm?«
 

»Du weißt schon… Lernst du besser, wenn du Sachen hörst, oder liest, oder… wenn du irgendwas selber machen kannst oder so?«
 

Julius scheint darüber nachzudenken und ich habe Gelegenheit, seine roten Wangen zu bewundern. Mein Finger steckt zwischen den Seiten des Biobuchs und ich frage mich, ob wir noch dazu kommen, diese Aufgaben zusammen zu lösen, wenn Julius weiter so lange über meine Frage nachdenkt. Anscheinend hat er sich früher nie Gedanken darüber gemacht.
 

»Ich glaube… hören? Wenn ich Sachen höre, merk ich sie mir besser?«, meint er dann.
 

»Hm«, murmele ich nachdenklich und schiebe ihm dann das geöffnete Biobuch entgegen.
 

»Was heißt ‚hm‘?«, will Julius wissen und sieht beinahe ein bisschen misstrauisch aus. Dann senkt er seinen Blick auf das Buch und ich formuliere gleichzeitig einen Plan in meinem Kopf und fange an, Julius den Unterschied zwischen Homologie und Analogie zu erklären. Er macht kritzelige Notizen mit einem Bleistift auf einem sehr knittrig aussehenden Block und ich frage mich, ob er diese Notizen später noch wieder findet, denn der ganze Block ist vollgestopft mit Unterlagen aus verschiedenen Fächern.
 

»Hausaufgabe heute: halbe Stunde Französisch Vokabeln und all deine Schulsachen abheften«, sage ich und deute auf den unglaublich dicken Block. Wie soll man so unorganisiert irgendwas auf die Reihe kriegen? Julius sieht mich an, als würde er sich gern hinten über von der Tischtennisplatte fallen lassen.
 

»Ich muss nachher noch zum Training«, murrt er ungehalten.
 

»Tja«, sage ich erbarmungslos und tippe mit dem Finger auf Aufgabe drei im Buch.
 

»Kannst du die Frage mit dem beantworten, was ich dir grad erklärt hab?«
 

Mit einiger Hilfestellung und jeder Menge wilden Gesten schafft Julius es, Aufgabe drei zu lösen. Als er fertig ist, zwinge ich ihn dazu, alles halbwegs sauber aufzuschreiben und später mit in seine Biomappe zu heften. Es ist, als würde man einen Erstklässler betreuen, der zum ersten Mal von Konzepten wie Ordnung in Schulmappen hört.
 

Ich frage mich gerade, ob ich nachher noch eine spontane Skype-Session mit meinen Leuten zustande kriege, als Julius anfängt seine Sachen einzupacken. Richtig. Es ging ja nur um Biohausaufgaben. Ich komme mir dämlich vor, weil ich das vergessen habe und weil Julius privat weniger affig ist, als wenn er mit einem Rudel seiner komischen Kumpanen zusammenhängt. Ich hab es immer noch nicht über mich gebracht ihn zu fragen, ob er denen von unseren Nachhilfe-Sitzungen erzählt hat.
 

»Na dann, viel Spaß beim Training«, murmele ich und packe hastig meine Sachen ein. Ich spüre, wie Julius mich beobachtet.
 

»Kann ich deine Nummer haben?«, will er dann wissen. Ich blinzele.
 

»Was? Nein!«
 

»Boah, unhöflich! Wieso nicht? Es ist praktischer, um diese ganzen blöden Hausaufgabentreffen abzusprechen!«
 

Das ist richtig. Aber ich will ihm definitiv nicht meine Nummer geben. Er sieht so empört aus, dass ich beinahe lachen muss. Wahrscheinlich hat noch nie jemand abgelehnt, ihm die Handynummer zu geben. Allerdings muss ich auch bedenken, dass seine Mutter womöglich noch häufiger bei uns zu Hause auf Festnetz anruft, wenn ich Julius meine Handynummer nicht gebe, und das möchte ich noch weniger.
 

»Na schön«, grummele ich peinlich berührt und warte darauf, dass er sein Handy hervorkramt.
 

Als er mich fragend ansieht, fange ich an ihm meine Nummer zu diktieren. Er ruft prompt bei mir an und ich kriege automatisch schwitzige Hände, als mein Handy in der Hosentasche vibriert. Ist mittlerweile vermutlich eine natürliche Reaktion, selbst wenn ich weiß, dass ich gar nicht drangehen muss.
 

Ich speichere missmutig Julius‘ Nummer unter »Blondie McSurferboy« ab. Er grinst mich übertrieben breit ab und hält mir einen ausgestreckten Daumen entgegen. Wow. Ich glaube, ich muss zu Hause erst mal die Vorhänge zuziehen.
 

»Ich schick dir auch ein Bild von meinen sortierten Schulunterlagen«, sagt er und zwinkert mir zu. Ich verenge die Augen zu Schlitzen.
 

»Wow. Ich kann es kaum erwarten«, sage ich ohne jegliche Begeisterung und er schnaubt, streckt mir die Zunge raus und hebt dann die Hand zum Gruß, bevor er sich umdreht und Richtung Parkplatz davon geht. Richtig. Er fährt ja mit dem Auto.
 

Nach ungefähr zehn Metern hält er inne, dreht um und kommt zu mir zurück.
 

»Ok, das war unhöflich, soll ich dich vielleicht zu Hause absetzen?«, fragt er und hat den Anstand, sich verlegen am Hinterkopf zu kratzen.
 

»Oh. Ähm… nein danke? Ich gehe lieber zu Fuß«, murmele ich mit gesenktem Kopf. Wahrscheinlich fährt Julius wie eine besengte Sau und ich will ungern auf so engem Raum mit ihm eingesperrt sein. Er zuckt mit den Schultern, dreht sich erneut um und geht denselben Weg zurück, den er gerade gekommen ist.
 

Als ich abends mit meinem Laptop im Bett sitze und zum Trost dafür, dass mein Internet gestorben ist und ich deswegen nicht mit meinen Freunden skypen kann eine Folge Deep Space Nine schaue, vibriert mein Handy leise auf der Bettdecke neben mir. Ich werfe einen Blick darauf und sehe "1 Nachricht von Blondie McSurferboy" auf meinem Display.
 

Na toll.
 

Ich denke kurz darüber nach, ob ich Lust dazu habe, jetzt ein neues Treffen für eine Nachhilfestunde zu planen, auf die ich herzlich wenig Lust habe, aber die Nachricht wird auch nicht einfach weggehen, nur weil ich sie ignoriere. Also öffne ich sie.
 

Es ist ein Foto. Ein Foto, auf dem mehrere bunte, gefüllte Mappen und ein sehr ausgedünnter und zerknitterter College-Block zu sehen sind. Darunter finde ich ein hochgestreckten Daumen-Emoji. Ich denke darüber nach, ob ich antworten soll, aber ehrlich gesagt sollte man Selbstverständlichkeiten auch nicht allzu sehr loben, also schließe ich WhatsApp und schiebe das Handy unter die Bettdecke, um mich wieder meiner Folge zu widmen.
 

Meine Gedanken schweifen zu meiner Idee ab, die ich heute auf der Tischtennisplatte hatte. Soll ich, soll ich nicht…? Ich schenke der Folge auf meinem Laptop noch zwei Minuten Aufmerksamkeit, dann krame ich nach Block und Stift und fange an, mir Notizen zu machen. Es fühlt sich jetzt schon so an, als würde es eine dieser Nächte werden, wo ich ohnehin nicht schlafen kann, also kann ich auch produktiv sein und versuchen, Julius‘ Abi zu retten.
 

Die Folge läuft nebenher und ich schreibe zwei Seiten voll, ehe ich schließlich nach meinem Handy greife und noch zwei Nachrichten von Julius finde.
 

»Französisch ist der Feind!!!!«
 

»WARTE MAL, SCHREIBEN WIR MORGEN DEN FRANZÖSISCH VOKABELTEST?????«
 

Ich verdrehe die Augen.
 

»Ich hab dir doch gesagt, dass du alles aufschreiben sollst.«
 

»Manchmal vergesse ich in das Heft reinzugucken D:«
 

»Wow«
 

Ich überfliege meine Notizen noch einmal und fange dann an eine Sprachnachricht aufzunehmen. Julius hat anscheinend gesehen, dass ich vorhabe, ihm eine zu schicken, denn er fängt prompt wieder an zu tippen.
 

»OMG schickst du mir jetzt strenge Sprachnachrichten???«
 

»Sprich bloß nicht auf Französisch mit mir!«
 

»Dude, was nimmst du da so lange auf????«
 

Ich lasse mich nicht von seiner Welle an Nachrichten beeindrucken, sondern rede einfach weiter. Julius hat gesagt, dass er besser lernt, wenn er Leuten zuhören kann. Also schicke ich ihm hintereinander vier zehnminütige Sprachnachrichten. Sprachnachrichten sind viel besser als Telefonieren. Man hat auch seine Ruhe beim Sprechen, weil einem keiner antworten kann.
 

Julius‘ Sprachnachrichten beinhalten sehr viele Emojis, wohingegen ich so gut wie nie welche verwende. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass es bereits nach Mitternacht ist, als ich mit den Sprachnachrichten fertig bin und da Julius seit meiner ersten Sprachnachricht nicht mehr geantwortet hat, gehe ich davon aus, dass er eingeschlafen ist.
 

Als ich fertig bin, fange ich mit der nächsten Folge an.
 

*
 

Mein Wecker klingelt wie immer um halb sieben, aber ich habe nicht geschlafen und schalte ihn aus, noch bevor er überhaupt losgehen kann. Wie erwartet sehe ich ziemlich beschissen aus, aber was soll‘s. Es ist Mittwoch, das heißt, ich habe nur sechs Stunden und kann danach nach Hause gehen und vielleicht nachmittags ein wenig schlafen. Ich singe leise das klingonische Lied vor mich hin, das ich Julius am Vortag gezeigt habe und stopfe meine Schulsachen in den Rucksack. Französisch, Bio und Mathe. In Französisch schreiben wir den Vokabeltest und in Bio werde ich ein halbes Auge darauf haben, dass Julius seine Hausaufgaben vorliest, aber abgesehen davon kann ich mein Gehirn heute auch abschalten.
 

Als ich die Unterhaltung öffne, die ich gestern mit Julius per WhatsApp hatte, sehe ich, dass er zumindest zwei der Sprachnachrichten schon angehört hat. Bislang kam allerdings keine Reaktion. Automatisch geht in meinem Kopf das Alarmglockengeräusch los, das ich nur allzu gut kenne. Aber das ist normal, wenn ich nicht geschlafen habe. Ich bin beinahe schon resigniert angesichts des Stresses, der sich in mir aufbaut.
 

Mit der üblichen lauten Musik mache ich mich auf den Weg zur Schule und bin froh, dass wir den Test bereits in der ersten Stunde schreiben. Julis sieht sehr ausgeschlafen aber leicht gestresst aus, was wohl an dem Vokabeltest liegen mag. Herr Rosenheim beginnt die Stunde mit einem empörten Monolog auf Französisch darüber, dass er heute Morgen in der Bahn einen Jugendlichen getroffen hat, der sich dort übergeben hatte und einfach vor seiner Kotze sitzen geblieben ist. Ich glaube nicht, dass die meisten verstehen, was er eigentlich sagt. Julius definitiv nicht.
 

Wie so oft spricht Herr Rosenheim mich an und wir wechseln ein paar Worte auf Französisch. Ich glaube, er ist froh, wenn er sich mal ein wenig unterhalten kann. Ich rede auch gerne auf Französisch, komme aber selten dazu. Ich merke, wie mindestens die Hälfte der Klasse die Augen verdreht und schrumpfe müde und mit donnernden Alarmglocken im Kopf auf meinem Stuhl zusammen.
 

Gott sei Dank teilt Herr Rosenheim als nächstes den Vokabeltest aus und es herrscht Stille in der Klasse. Ich bin nach zehn Minuten fertig und beobachte Julius, der aussieht, als würde er sich gerade mehrere schwere Knoten im Gehirn zuziehen. Aber er setzt in größeren Abständen immer wieder seinen Stift aufs Papier und schreibt etwas. Vielleicht hat eine Woche jeden Abend eine halbe Stunde Vokabeln lernen ja schon etwas gebracht. Sofern er es richtig gemacht hat.
 

Ich lege den Kopf auf den Tisch und spüre einige empörte Blicke auf mir, weil ich schon fertig bin. Mein Körper ist so müde, aber in meinem Kopf bimmelt es und ich habe dieses nachdrückliche Lampenfiebergefühl, was mir sagt, dass ich nie im Leben einschlafen könnte, selbst wenn ich Zeit und Ruhe dafür hätte.
 

Ein Hoch auf meine Angststörung!
 

In Bio darf ich Zeuge davon werden, wie Julius seine Hausaufgaben vorliest und dafür ein begeistertes Strahlen von Frau Krüger bekommt, die großer Fan von unserer Schulmannschaft ist und sehr um Julius‘ Abi bangt. Ich bin nicht sicher, wann das nächste Spiel stattfindet, aber ich halte mich schon seit einiger Zeit aus Schulsport heraus. Wahrscheinlich wird Julius wieder der strahlende Star sein.
 

Ich lege den Kopf auf den Tisch und frage mich, ob meine Augenringe so schlimm aussehen, wie sie sich anfühlen. Vielleicht funktioniert heute Abend mein Internet und ich kann mich zum Skypen verabreden.
 

Als eine Hand meine Schulter berührt fahre ich so hastig hoch, dass mein Kopf gegen ein sehr spitzes Kinn haut. Dem lauten Fluch nach zu urteilen, habe ich Julius gerade einen Kinnhaken mit meinem Kopf verpasst. Scheiße.
 

»Au, fuck«, murmele ich und reibe mir den Kopf.
 

»Alter Schwede, hast du nen Dickkopf«, sagte Julius und seinem neusten Lispeln nach zu schließen, hat er sich wohl bei meinem ungewollten Angriff auf die Zunge gebissen. Mein gerade noch entspannter Körper springt vom Ruhemodus in Panikzustand.
 

»Fuck, fuck, fuck, tut mir leid!«
 

Zu allem Überfluss blutet Julius‘ Lippe. Ich krame mit zittrigen Händen und nebligem Gehirn nach einem Taschentuch. Julius wischt sich mit dem Handrücken über den Mund und verschmiert das Blut quer über seine Wange.
 

»Kein Ding«, lispelt er und schaut seinen Handrücken an. »Oh.«
 

»Taschentuch«, sage ich matt und halte es ihm hin. Er klemmt es sich zwischen die Lippen und reibt an seinem Handrücken herum.
 

»Du siehst total k.o. aus«, erklärt Julius mir nuschelnd um das Taschentuch herum. Ich ziehe die Schultern hoch.
 

»Hab nicht geschlafen.«
 

»Was? Gar nicht?«
 

Ich schüttele den Kopf.
 

»Brutal.«
 

»Ich… äh… hab deine Sprachnachrichten gekriegt«, sagt Julius und kratzt sich mit der freien, sauberen Hand am Hinterkopf.
 

»Hab ich gesehen.«
 

»Voll… nett?«, sagt er und klingt, als wäre er sich nicht sicher, ob nett das richtige Wort ist. »Und hilfreich! Ich hab schon zwei davon gehört und weiß jetzt mehr über das beknackte Buch als nach nem halben Jahr Deutsch!«
 

Der Paniknebel in meinem Kopf beruhigt sich ein bisschen und ich kann nicht umhin verlegen zu lächeln. Ich weiß allerdings nicht, was ich sagen soll und starre stattdessen peinlich berührt auf Julius‘ Lippe. Sie blutet schon nicht mehr ganz so doll und Julius zieht sich das blutige Taschentuch aus dem Mund.
 

»Und ich glaube, der Vokabeltest hätte schlimmer sein können.«
 

Ich zeige ihm einen schwachen Daumen nach oben. Er grinst. Seine Zähne sind ein bisschen blutig und es sieht etwas gruselig aus. Ich räuspere mich.
 

»Ich glaube, vielleicht solltest du… mal zur Toilette gehen«, erkläre ich und gestikuliere in Richtung meines eigenen Mundes. Er nickt und schiebt sich die Tasche über die Schulter. Ich fasse es nicht, dass ich Bio verschlafen und Julius einen Kinnhaken verpasst habe. Ich folge ihm langsam aus dem Klassenzimmer. Julius dreht sich bei der Tür um.
 

»Oh, hey, kommst du Samstag eigentlich zum Spiel?«, will er wissen.
 

Ich blinzele und schüttele automatisch den Kopf. Es geht natürlich um Fußball. Julius zuckt mit den Schultern und grinst schief.
 

»Dachte ich mir schon. Sport ist ja nicht so dein Ding. Naja. Ich geh mich mal wieder herrichten!«
 

Mit diesen Worten verschwindet er in Richtung Klo.
 

Sport ist ja nicht so dein Ding, hat er gesagt. Ich seufze und verlasse das Klassenzimmer.
 

Wenn du wüsstest, denke ich mir im Stillen.

Weniger schlimm als gedacht

Dinge, mit denen ich nicht gerechnet habe, als ich mich auf diese blöde Nachhilfe-Sache eingelassen habe:
 

1. Dass Julius Anwesenheit etwas weniger scheußlich ist, als ich ursprünglich dachte.
 

2. Dass ich innerhalb von einer Woche Sprachnachrichten von insgesamt dreieinhalb Stunden aufnehme, um Julius Felix Krull zu erklären und ihm wichtige Passagen aus dem Buch vorzulesen, weil mir klar geworden ist, dass er das Buch nie rechtzeitig fertig lesen wird.
 

3. Dass ich mich so gut mit Marina verstehe, dass sie nach meinem dritten Aufenthalt in ihrer Wohnung ihre Handynummer gibt und mir sagt, dass ich ihr unbedingt Fotos von meiner Comic- und DVD-Sammlung schicken soll.
 

Dieses dritte Treffen findet einen Tag vor unserer Deutschklausur am Montag statt. Julius hat mir gerade erzählt, dass sich die Fußballmannschaft im Wettkampf der Schulen auf den ersten Platz des Bundeslandes zubewegt.
 

Es fühlt sich ein bisschen wie aus einem früheren Leben an, dass ich mal eine große Begeisterung für Fußball hatte. Julius weiß davon natürlich nichts, weil ich diese Begeisterung aufgegeben habe, bevor ich mit meinem Vater in dieses blöde Drecksloch gezogen bin. Ich frage mich, was er dazu sagen würde, wenn er wüsste, dass ich selber gespielt habe.
 

Wahrscheinlich wäre er vor allem empört darüber, dass ich noch eine Sache mehr kann, von der er nichts wusste.
 

»Boah, Mari, ich schreibe morgen Deutsch, kannst du nicht mit irgendwem anders über Kirks und Spocks Ehe reden?«, mault Julius, weil Marina seit einer halben Stunde bei ihm im Zimmer hockt und uns von der Nachhilfe ablenkt, weil sie mit mir über Star Trek sprechen möchte. Zugegeben, das macht mir sehr viel mehr Freude, als mit Julius über homoerotische Untertöne und deren Zusammenhang mit Thomas Manns eigener Biographie in Felix Krull zu sprechen, aber wahrscheinlich hat er ausnahmsweise einmal Recht.
 

»Na schön«, sagt Marina und erhebt sich von Julius‘ Bett. »Schreib mir, ok?«
 

Ich nicke ergeben und ziemlich rot im Gesicht. Julius mustert mich mit zusammengezogenen Augenbrauen. Mein Magen zieht sich automatisch zusammen.
 

»Erinnerst du dich noch, wie ich gesagt hab, dass sie vergeben ist?«, sagt er.
 

Ich verenge die Augen zu Schlitzen.
 

»Weißt du, Jungs und Mädchen können miteinander reden, ohne dass sie gleich irgendwas voneinander wollen«, grummele ich und verschränke die Arme vor der Brust. Wenn ich nicht so ein Schisser wäre, würde ich einfach sagen:
 

»Ich bin schwul, du Trottel.«
 

Aber mit Fußballern und Outings habe ich keine guten Erfahren gemacht und ich habe keine Lust, mein letztes Schuljahr ohne Freunde und mit einem wütenden Mob in meiner näheren Umgebung zu verbringen.
 

Julius hebt die Hände abwehrend und zieht dann wieder seine Ausgabe von Felix Krull zu sich heran.
 

»Ich wollte es nur gesagt haben«, murmelt er.
 

Wir verbringen ganze drei Stunden damit, noch mal alles über Felix Krull durchzugehen, was wir in den letzten Monaten gemacht haben. Ich wünschte, Julius würde mich nicht so konzentriert anschauen, während ich rede. Ich werde schnell nervös, wenn Leute mich so lange ansehen. Wenn er merkt, wie unangenehm mir das ist und wie ich die ganze Zeit an meinen Fingern herumpule, bis mein Mittelfinger anfängt zu bluten, dann lässt er es sich jedenfalls nicht anmerken.
 

Ich schiebe mir den Finger zwischen die Lippen, um das Blut abzulecken und seufze. Blöde, blöde Angewohnheit.
 

Julius beobachtet mich immer noch.
 

»Was?«, frage ich misstrauisch.
 

»Nichts«, sagt er.
 

Ich glaube ihm kein Wort.
 

Es ist sechs Uhr abends und ich hab letzte Nacht schon wieder kaum geschlafen. Ich glaube, meine Augen sind tatsächlich ein wenig blutunterlaufen und ich gähne hinter vorgehaltener Hand. Es wird Zeit, dass Sommerferien sind und ich mich aus diesem Loch aufmachen und meine Freunde besuchen kann. Für sechs glorreiche Wochen werde ich weder diese elende Schule noch meinen Vater sehen und es wird wunderbar sein.
 

Mir zieht sich jetzt schon alles zusammen, wenn ich daran denke, dass ich dann nach sechs Wochen wieder zurück muss. Noch ein Jahr nach den Sommerferien, denke ich mir und reibe mir die Augen. Noch ein Jahr, dann kann ich wieder zurückgehen.
 

»Hast du wieder nicht geschlafen?«, will Julius wissen. Ich blinzele ihn einen Moment lang desorientiert an. Dann zucke ich mit den Schultern.
 

»Ist nichts Besonderes. Ich schlafe selten gut«, gebe ich zurück und gähne gleich noch mal. Julius scheint das sehr verwunderlich zu finden, denn er schaut mich an, als hätte ich ihm gerade gesagt, dass ich eine seltene Krankheit habe.
 

»Wie kriegst du es dann trotzdem gebacken, so gute Noten zu haben?«, will er wissen.
 

Ich ziehe die Schultern hoch.
 

Es ist so eine Sache. Ja, ich bin fleißig, aber ich weiß auch, dass es mich generell weniger Anstrengung kostet, neue Dinge zu lernen. Selbst wenn ich nicht so fleißig wäre, würde ich sehr wahrscheinlich immer noch einen Durchschnitt haben, der dem von Julius weit voraus ist.
 

»Ist ja nicht so, als hätte ich ein ablenkendes Sozialleben, das mich vom Schreibtisch weglockt«, murmele ich leise und stopfe meine malträtierte Hand in die Hosentasche, damit ich nicht noch einen zweiten Finger blutig kaue.
 

»Aber du warst doch schon so gut, bevor du hierhergekommen bist, oder?«
 

Ich sehe ihn nicht an, als ich nicke.
 

»Wahrscheinlich bist du einfach super schlau«, stöhnt Julius, als wäre meine Intelligenz eine persönliche Bürde für ihn. Wenn ich nicht so schlau wäre, dann hätte er jedenfalls keinen Universal-Nachhilfelehrer, also sollte er sich besser nicht darüber beklagen. Aber er klagt auch nicht, sondern schaut mich einfach weiterhin gespannt an.
 

Ich wünschte, er würde das lassen.
 

Um mich von seinen Blicken abzulenken, gehe ich im Kopf noch mal durch, was wir heute alles wiederholt haben und ob ich irgendwas vergessen habe. Wir schreiben die Klausur morgen und es ist die erste Feuerprobe für meine Nachhilfe. Soweit ich weiß, muss Julius sieben Punkte schreiben, um seine Deutschnote in Sicherheit zu bringen.
 

Ich fange an, meine Sachen einzupacken, weil ich die Stille nicht mehr ertragen kann und eigentlich gerne nach Hause und in mein Bett möchte.
 

»Wir bestellen heute Pizza zum Abendbrot, du kannst mitessen, wenn du willst«, sagt Julius völlig aus dem Blauen heraus und ich blinzele verwirrt. Er hat den Kopf schief gelegt und ich frage mich, wieso er mich immer anschaut, als würde er gerade ein Kreuzworträtsel lösen.
 

»Oh… ähm… danke, aber… ich hab keinen Hunger«, sage ich matt. Das ist gelogen. Und ich liebe Pizza. Aber ich kann auf keinen Fall mit Julius und seiner Familie an einem Tisch sitzen und Pizza essen, egal wie nett Marina ist. Sofort stellt sich die übliche Nervosität ein und ich schlucke. Julius guckt, als wüsste er, dass ich eigentlich doch Hunger habe.
 

Aber Gott sei Dank sagt er nichts und steht auf, als ich mich mit meinem Rucksack erhebe und jetzt beide Hände in die Hosentaschen schiebe, weil ich nicht weiß, was ich sonst damit machen soll.
 

»Meine Mutter hat das Geld wieder im Umschlag auf die Schuhkommode gelegt«, sagt Julius schließlich und ich nicke kurz.
 

»Bis morgen«, sage ich und lasse ihn in seinem Zimmer zurück, nehme den Umschlag und stecke ihn in meinen Rucksack, während ich in meine Schuhe schlüpfe. Als ich die Wohnungstür hinter mir zuziehe, bin ich erleichtert und sehr müde.
 

Die Ferien können gar nicht schnell genug kommen.
 

*
 

Eine der letzten Amtshandlungen meiner Hausärztin, bevor mein Vater mich wie ein Gepäckstück eingesammelt und mit hierher geschleppt hat, war eine dauerhafte Befreiung vom Sportunterricht.
 

Es hat nichts damit zu tun, dass ich körperlich keinen Sport machen kann, sondern mit meiner Angststörung, die nach den unerfreulichen Ereignissen in meiner alten Mannschaft um das gefühlt Dreifache angewachsen ist. Deswegen bleibt mir am Montag die siebte und die achte Stunde erspart. Ein kleiner Teil von mir denkt allerdings immer noch, dass ich ja vielleicht irgendwann mal wieder Sport machen möchte und dass es dann sehr traurig wäre, wenn ich meine komplette Kondition an den Nagel gehängt habe.
 

Deswegen gehe ich mehrmals die Woche joggen. Mit Musik im Ohr ist es tatsächlich ganz entspannend, auch wenn ich es nicht mag, wie Leute einen anschauen, wenn man an ihnen vorbeirennt. Meistens gehe ich deswegen im Park laufen und am liebsten, wenn es schon dunkel ist, auch wenn das heute nicht möglich ist, da ich später noch andere Dinge vorhabe.
 

Ich hab Julius nicht gefragt, wie seine Deutschklausur gelaufen ist, weil er in den Pausen wieder von einer Traube Kumpanen umgeben war. Zu viele Menschen auf einem Haufen. Er hat auf jeden Fall eifrig vor sich hin geschrieben, was ja kein allzu schlechtes Zeichen ist. Wegen meines anhaltenden Schlafproblems hatte ich tatsächlich einige Schwierigkeiten mich zu konzentrieren, aber ich glaube, es ist nichtsdestotrotz gut gelaufen.
 

Am Freitag schreiben wir Bio und in der kommenden Woche Französisch. Ich habe das Gefühl, dass Julius vor Französisch am meisten Bammel hat – was ich gut verstehen kann. In einer Sprache innerhalb von weniger Wochen besser zu werden, wenn einem wichtige Grundlagen fehlen, ist wirklich schwer. Vor allem, da er noch jede Menge andere Dinge zu tun hat. Ich habe seine tägliche Vokabeldosis auf eine Stunde erhöht.
 

Ich glaube, er hasst mich ziemlich dafür.
 

Als ich von meinem Jogging-Ausflug zurück komme, bin ich klitschnass, weil es angefangen hat zu regnen. Die heiße Dusche wärmt mich etwas auf und ich verziehe mich danach mit einer Tiefkühllasagne in mein Zimmer. Ich weiß nicht, was mein Vater so treibt, aber er scheint nicht zu Hause zu sein. Umso besser für mich, dann hab ich meine uneingeschränkte Ruhe.
 

Als ich Skype starte, macht mein Herz einen zufriedenen Hüpfer, weil Noah, Anni und Lotta alle bereits online sind. Es dauert keine drei Sekunden, da werde ich prompt angerufen. Das sind die einzigen Anrufe, die mich nicht stören. Ich nehme den Anruf entgegen und es dauert ein bisschen, bis die Webcam sich das Bild geladen hat, aber da sitzen sie. Meine besten Freunde, allesamt auf einem Haufen in Noahs Zimmer, das ich an den vollgepflasterten Wänden erkenne.
 

Noah grinst mir breit entgegen. Er ist auch schwarz, aber viel dunkler als ich und im Gegensatz zu mir ist er auch kein Streichholz, sondern sehr stämmig und sogar noch ein bisschen größer als ich. Wenn man ihn anschaut, denkt man vermutlich, dass er Rugby spielt, aber in Wahrheit spielt er eigentlich nur Gitarre und zeichnet Herr der Ringe Fanart.
 

Anni lümmelt halb auf Noahs Schoß, damit sie noch mit ins Bild passt und Lotta hat sich irgendwie mit ins Bild gequetscht, auch wenn ich nicht sehen, worauf sie sitzt – sie sitzt jedenfalls nicht auf Noah.
 

Lotta ist weiß, pummelig und hat feuerrotes Haar und riesige Bambiaugen. Sie winkt mit einer ihrer winzigen Hände enthusiastisch in die Kamera und ich sehe durch das leicht verpixelte Bild, dass sie Kaugummi kaut – alles ist wie immer.
 

Anni ist so klein, dass sie ohne Probleme auf Noahs rechtem Oberschenkel sitzen kann. Wahrscheinlich spürt er sie überhaupt nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir doppelt so groß sind wie sie. Abgesehen davon, dass sie so klein ist, hat sie allerdings eine ziemlich große Klappe. Ihre Mütter sind beide Kinder von chinesischen Migranten und sie stammt aus der ersten Ehe ihrer Ma. Es sieht recht gemütlich aus, wie sie da auf Noahs Bein hockt.
 

»Oh mein Gott, deine Augenringe hängen dir ja bis zu den Knien!«, sagt sie entsetzt und beugt sich nach vorne. Jetzt ist ihr Gesicht so nah an der Kamera, dass ich die anderen beiden nicht mehr sehen kann. Ich muss lachen.
 

»Es war schon mal schlimmer«, versichere ich ihr und sie setzt sich wieder hin wie vorher.
 

»Ich hab mit meinen Müttern gesprochen«, erklärt Anni. »Sie sind bereit, dich zu adoptieren, damit du wieder hierher zurück kommen kannst.«
 

»Ohne Scheiß, mein Vater würde dich hier auch so wohnen lassen, ohne Adoption, Alter«, sagt Noah. Ich möchte eigentlich gerne ein bisschen weinen, will aber die Zeit, die ich habe, nicht damit vergeuden. Ich hätte absolut nichts dagegen, mich von Annis Müttern adoptieren zu lassen oder bei Noah und seinem Vater zu wohnen.
 

»Meine Eltern möchte ich dir gerne ersparen«, meint Lotta. Ich verziehe das Gesicht und sie lacht.
 

»Besser ist das«, gebe ich zurück.
 

Lottas Eltern sind wahnsinnig streng, spießig und anstrengend und ich glaube, sie fiebert jetzt schon dem Moment entgegen, an dem sie endlich ausziehen kann. Ihr Bruder hat letztes Jahr die Beine in die Hand genommen und ist bis nach Stuttgart geflohen, damit sie nicht auf die Idee kommen, allzu oft vorbeizuschauen.
 

»Wie läuft die Nachhilfe mit Mr. Stipendium?«, will Anni wissen und ich seufze.
 

»Weiß ich ehrlich gesagt nicht so genau«, gebe ich zurück und fange an zu erzählen, wie die letzten Nachhilfestunden mit Julius gelaufen sind, dass wir heute Deutsch geschrieben haben und dass er sich jetzt schon halb in die Hose macht, weil er vor der Französischklausur Schiss hat.
 

»Ich hätte auch Schiss vor jeder Französischklausur, wenn du mir nicht seit der Achten Nachhilfe gegeben hättest«, erklärt Noah schmunzelnd. Ich fühle mich warm und zufrieden. Noch besser wäre es natürlich, wenn die Drei direkt hier wären und wir einfach zu viert auf meinem Bett liegen und einen undefinierbaren Kuschelhaufen bilden und über die neusten Neuigkeiten bezüglich der kommenden Star Trek Serie Discovery reden könnten.
 

Mein Handy vibriert und ich werfe einen Blick darauf.
 

Eine neue Nachricht von Julius. Ich öffne sie.
 

»Ich glaube, Deutsch war ok!!!! Hoffe, du kannst heute schlafen«
 

Ich blinzele, dann halte ich die Nachricht ganz nah an meine Webcam, damit die Drei sie lesen können.
 

»Das ist nett«, sagt Lotta und klingt erstaunt.
 

»Awwww«, meint Anni.
 

Noah gluckst.
 

»Ja, ich gebe zu, dass er weniger schrecklich ist, als ich dachte«, sage ich, lege das Handy beiseite und rutsche mit meinem Stuhl näher an den Schreibtisch. Ich hab noch keine Hausaufgaben gemacht, aber ehrlich gesagt kann ich mir das wohl mal erlauben. Meine Freunde gehen vor.
 

»Hast du ein Foto? Erzähl noch ein bisschen mehr über ihn!«, sagt Anni und zappelt auf Noahs Schoß herum. Ich sehe, dass er einen Arm um ihre Hüfte schlingt, damit sie nicht herunterfällt.
 

Eigentlich würde ich ja lieber über schönere Dinge reden, aber dafür haben wir ja später noch Zeit.
 

Wir telefonieren fünfeinhalb Stunden und als ich das Licht ausmache und ins Bett krieche, fühle ich mich so zufrieden, wie schon lange nicht mehr. Ich greife nach meinem Handy und werfe einen Blick auf die Uhr. Kurz nach Mitternacht. Aber ich habe morgen erst zur dritten Stunde.
 

Ich öffne meine WhatsApp-Unterhaltung mit Julius.
 

»Freut mich, dass es ok war. Ich versuch‘s jetzt mal mit dem Schlafen«
 

Ich starre die Nachricht an. Dann lösche ich sie wieder und tippe sie noch mal von vorne. Will er das überhaupt wissen? Ich seufze und drücke mein Gesicht ins Kissen, dann tippe ich auf das Senden-Symbol und schicke die Nachricht ab. Es vibriert beinahe sofort, noch bevor ich es für die Nacht auf lautlos stellen kann.
 

»Gute Nacht!!!!«

Geheim

Ich wache mitten in der Nacht auf, weil ich total verschwitzt bin und mein Hals wehtut wie Sau. Mein Kreislauf mault empört, als ich mich aus meinem Bettzeug schäle und aufstehen will. Ich muss mich direkt wieder hinsetzen, weil alles um mich herum sich dreht.
 

Toll.
 

Joggen im strömenden Regen scheint keine gute Idee gewesen zu sein. Ich warte ein paar Minuten, bevor ich noch mal versuche aufzustehen. Immerhin komme ich diesmal bis zum Bad, muss mich dort allerdings sofort wieder auf den Klodeckel setzen, weil jede Menge Lichtpunkte vor meinen Augen tanzen und es sich anfühlt, als würde jemand das Badezimmer hin und her schütteln.
 

Ich trinke zwei Zahnputzbecher Wasser und überlege, ob ich mich einfach in die Dusche setzen soll, weil mir so entsetzlich warm ist, aber wahrscheinlich ist das nicht die vernünftige, erwachsene Lösung. Ich fülle den Zahnputzbecher noch mal mit Wasser, stehe vom Klodeckel auf und versuche die Lichtpunkte vor meinen Augen webzublinzeln, während ich auf dem Weg in mein Zimmer bin.
 

Es fühlt sich an, als hätte ich Fieber. Großartig.
 

Wenn es mir morgens immer noch so geht, dann kann ich weder zur Schule noch zur Apotheke gehen. Meinen Vater interessiert es vermutlich einen Scheißdreck, wenn ich eine dicke Erkältung habe. Er geht morgens ohnehin vor mir aus der Tür und ich glaube, ich könnte schwänzen, wie ich lustig bin, weil er ohnehin nicht merkt, wann ich in der Schule bin und wann nicht.
 

Ich wünschte, Noah, Lotta und Anni wären in meiner Nähe. Dann könnte ich ihnen Bescheid sagen und sie würden für mich morgen zur Apotheke gehen. Und mit Gesellschaft leisten. Anni würde wahrscheinlich Muffins backen und mich zwingen, heiße Zitrone zu trinken. Während ich zurück in mein Bett krieche, versuche ich mich daran zu erinnern, wann ich das letzte Mal umarmt worden bin.
 

Ich glaube, es ist jetzt schon ein paar Monate her.
 

Wow.
 

Ich habe mal gelesen, dass ein Mangel an Berührung von Haut auf Haut zu gesundheitlichen Probleme führen kann und dass kleine Kinder sogar sterben können, wenn sie nicht genug Körperkontakt haben. So in etwa fühle ich mich gerade.
 

Ich schalte meinen Wecker aus, ziehe mir die Decke wie ein vernünftiger Erwachsener bis zum Kinn und mache die Augen zu.
 

Als ich am nächsten Tag gegen elf Uhr aufwache, fühle ich mich wahnsinnig gerädert, habe eine verstopfte Nase und fühle mich, als würde ich in einem buchstäblichen Wasserbett liegen. Ekelhaft.
 

Ein Blick auf mein Handy verrät mir die Uhrzeit und zeigt an, dass ich drei neue Nachrichten von Julius habe. Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen und trinke zunächst einmal meinen bereitgestellten Zahnputzbecher mit Wasser, bevor ich die Nachrichten öffne.
 

»Hast du etwa verschlafen? :‘D«
 

»Alles ok???«
 

»Bist du krank??«
 

Wahrscheinlich sieht Julius schon seine Bionote aus dem Fenster fliegen, wenn ich zu lange krank bin.
 

»Bin dick erkältet«, schreibe ich zurück und frage mich, ob ich es bis zur Küche schaffe, um wenigstens eine Banane zu essen. Die Antwort kommt fünfzehn Sekunden später in einem eleganten Ohnmachtsanfall mitten im Flur, wo ich anschließend einfach auf dem kühlen Fußboden liegen bleibe und ausgiebig Zeit damit verbringe, mich selbst zu bemitleiden. So schlimm erkältet war ich seit Jahren nicht und es ist genau der falsche Zeitpunkt fürs Kranksein.
 

Ich muss mit Julius Bio und Französisch lernen und habe kein Schwein in der Nähe, das irgendwas für mich machen kann. Eigentlich würde ich gerne ein bisschen weinen.
 

Nach einer dreiviertel Stunde auf dem Flurboden tut mir nicht nur der Hals und der Kopf weh, sondern auch noch mein Rücken. Ich gebe meinen Versuch, zur Küche zu kommen, auf. Stattdessen schlurfe ich zurück ins Bett und beschließe, dass schlafen vielleicht die beste Idee ist. Mein Körper ist ganz meiner Meinung und als ich das nächste Mal aufwache, ist es nachmittags und jemand klopft an meine Zimmertür.
 

Ich bin ziemlich desorientiert und versuche mir den Schlaf aus den Augen zu reiben.
 

»Ja?«
 

Wow, meine Stimme klingt beschissen. Die Tür öffnet sich und ein gewisser blonder Haarschopf erscheint, gefolgt von Julius‘ Rest. Ich frage mich, ob ich dank meines Fiebers jetzt schon halluziniere, aber Julius öffnet die Tür ein Stück weiter, tritt umsichtig ein und sieht sich interessiert in meinem Zimmer um. In seiner Hand hat er eine Plastiktüte und als seine Augen die Hälfte meines Kopfes entdecken, die unter der Bettdecke hervorschaut, sieht er tatsächlich ein wenig verlegen aus.
 

»Dein Vater hat mich reingelassen«, erklärt er und stellt seine Plastiktüte auf meinen Schreibtischstuhl. Dann macht er eins meiner beiden Fenster weit auf und kickt seine Schuhe neben mein Bett.
 

»Ich bringe Hausaufgaben, Kekse von meiner Schwester und Aspirin«, erklärt er und schaut zu mir herunter.
 

Ich bin einfach nur verwirrt.
 

»Dein Vater wirkte ein bisschen verwirrt darüber, dass du krank bist. Oder dass jemand zu Besuch kommt. Jedenfalls sah er verwirrt aus«, erklärt Julius und wirft mir die Packung Kekse aufs Bett, gefolgt von der Packung Aspirin. Dann knüllt er die kleine Plastiktüte, stopfte sie in seine Schultasche und fangt an, darin herumzuwühlen.
 

»Ja, er gewinnt keinen Preis für den fürsorglichen Vater des Jahres«, murmele ich und setze mich im Bett auf. Wahrscheinlich sehe ich richtig beschissen aus, denn Julius mustert mich tatsächlich ein wenig besorgt. Ich betrachte die in einen Frischhaltebeutel gefüllten Kekse und das Aspirin und bin schon wieder kurz davor, mit dem Heulen anzufangen.
 

»Hast du Wasser irgendwo?«, fragt Julius. Ich schüttele den Kopf.
 

Er schnappt sich wortlos den Becher von meinem Nachtschrank und verschwindet. Ich höre, wie er einfach zwei Türen öffnet, um herauszufinden, was dahinter liegt und frage mich, wie es sein muss, ohne Angststörung durchs Leben zu gehen und einfach irgendwelche fremden Türen zu öffnen.
 

Schließlich kommt er mit dem gefüllten Becher wieder zurück und macht meine Zimmertür wieder hinter sich zu. Ich friemele mit fahrigen Fingern eine Aspirin aus der Packung. Eigentlich muss ich mal aufs Klo, aber wenn mein Kreiskauf immer noch so im Keller ist wie vorhin, brauche ich das wahrscheinlich gar nicht versuchen. Ich spüle die Tablette hinunter und verziehe das Gesicht, weil sie eklig schmeckt und mein Hals beim Schlucken wehtut.
 

Dann betrachte ich die Kekse.
 

»Amerikanische Cookies. Quasi noch warm«, sagt Julius und lässt sich auf meinem Schreibtischstuhl nieder, während er mich beobachtet.
 

»Backt sie oft einfach so wunderschöne Cookies?«, sage ich und meine Stimme klingt wahnsinnig heiser. Wenn sie gleich den Geist aufgibt, würde ich mich nicht wundern. Julius grinst.
 

»Tatsächlich, ja. Ich meine, sie wusste nicht, dass du krank bist, aber als ich nach Hause kam und ihr das erzählt hab, hat sie ein paar von den Keksen abgefüllt. Und meine Mutter hat mir das Aspirin aufs Auge gedrückt.«
 

Ich beiße in einen der Kekse. Er ist tatsächlich noch lauwarm und die Schokolade ist noch weich und meine Augenwinkel brennen sehr verräterisch. Wow, Tamino. Zu Tränen gerührt durch Kekse und Aspirin, weil du ein vereinsamter, erbärmlicher Trottel bist. Ich lege den angeknabberten Keks zurück in die Tüte, ziehe meine Knie an und vergrabe mein Gesicht darauf, damit Julius es nicht sehen kann.
 

Er schweigt. Wahrscheinlich betreten. Allerdings höre ich, wie er aufsteht und ich halte es für sicher, einen Blick aus meinem Versteck heraus zu riskieren. Julius steht mit dem Rücken zu mir vor meinem DVD-Regal und mustert es interessiert. Mein ganzes Zimmer ist voller Regale, eines davon ausschließlich voll mit DVDs, der Rest voller Bücher und Comics und dem ein oder anderen Merchandise-Artikel.
 

Ich bin sogar zu krank dazu, um mir Gedanken darüber zu machen, dass Julius in meinem Zimmer steht, und mein riesiges Star Trek Poster sehen kann und all die Fotos von mir und meinen Freunden, meiner Mutter und meiner Oma. Fast drängt sich die Vermutung auf, dass er mir Gelegenheit dazu geben will, meine Tränen zu verstecken, aber ich weiß nicht, ob Julius der Typ für subtile Dinge ist.
 

Ich beiße erneut in meinen Keks und ignoriere die Krümel, die ich dabei auf meinem Bett hinterlasse. Es sind wirklich ganz hervorragende Cookies.
 

»Alter, das müssen um die fünfhundert DVDs sein«, sagt Julius beeindruckt, dann schweift sein Blick zu meinen Bücherregalen. Ich habe sehr wahrscheinlich noch mehr Bücher als DVDs. Er dreht sich zu mir um.
 

»Hast du die alle gelesen?«, will er wissen.
 

»Alle bis auf die vierzehn Stück in dem Fach da oben. Das ist mein Regal für ungelesene Bücher«, krächze ich und nehme einen zweiten Keks. Ich bin immer noch sehr in der Stimmung zu weinen, aber ich schlucke mehrmals hintereinander und frage mich, ob ich es nach zwei Keksen und einem Becher Wasser riskieren kann, aufs Klo zu gehen.
 

Die Luft von draußen ist angenehm kühl auf meiner Haut und ich schiebe die Bettdecke von mir. Julius starrt mich an, als hätte ich sieben Köpfe.
 

»Wie kannst du in deinem kurzen Leben so viel gelesen haben?«, fragt er vollkommen verdattert. Ich versuche zu schnauben, schaffe aber nur ein recht klägliches Husten. Als ich aufstehe, wird mir sofort wieder schwarz vor Augen.
 

Ich merke nicht, wie ich in die Knie gehe.
 

Erst, als die kurze Ohnmacht wieder vorbei ist, finde ich mich halb auf dem Boden und halb in Julius‘ Schoß wieder. Eine Tatsache, die mich automatisch in Panik verfallen lässt und ich mache einen kläglichen Versuch, von ihm wegzurücken. Das dumpfe Pochen in meinem Kopf lenkt mich von seinem resignierten Gesichtsausdruck ab.
 

»Sorry«, nuschele ich. »Ich bin… sehr verschwitzt.«
 

Julius schnaubt.
 

»Ich bin Fußballer«, sagt er ungerührt. Ich versuche nicht allzu sehr daran zurück zu denken, wie man sich früher auf dem Spielfeld umarmt hat, wenn jemand ein Tor geschossen hat. Kein guter Ort für meine Gedanken. Ich rappele mich auf und wanke.
 

»Dude, setz dich hin«, mahnt er.
 

»Ich muss mal«, gebe ich zurück, achte nicht weiter auf ihn und taumele mehr als dass ich gehe Richtung Toilette. Und wenn ich schon nicht duschen kann, dann sollte ich wenigstens dringend einen Waschlappen in meine Dienste nehmen. Ugh. Ich fühle mich so eklig wie schon lange nicht mehr und Julius ist wirklich sehr weit unten auf der Liste der Leute, die mich so sehen dürfen.
 

Aber er hat mir Aspirin gebracht. Und Kekse. Und Hausaufgaben.
 

Ehrlich gesagt halte ich das für absolut übertriebene Nettigkeit angesichts der Tatsache, dass ich ihm bezahlte Nachhilfe gebe. Eine kleine Stimme in meinem Kopf schlägt mir vor, dass er ja vielleicht einfach so nett ist. Nicht nur, weil ich ihm sein Abi retten soll. Aber das halte ich eher für unwahrscheinlich. Er gibt sich sonst schließlich auch nicht zum Spaß mit irgendwelchen Losern ab.
 

Ich habe kein Zeitgefühl, aber als ich zurück in mein Zimmer gehe, sieht Julius aus, als wäre ich drei Jahre weggewesen.
 

»Ich dachte, du wärst wieder abgeklappt«, sagt er grummelnd.
 

»Tut mir Leid. Ich musste mich noch n bisschen frisch machen…«
 

Er sitzt wieder auf meinem Stuhl und kramt jetzt in seinem Rucksack herum. Ich lasse mich aufs Bett fallen und sehe zu, wie Julius sein Hausaufgabenheft hervorkramt und darin herumblättert.
 

»Ich hab keine Ahnung, ob du irgendwas in Latein aufhast«, sagt er und kritzelt die Hausaufgaben auf eine Extraseite, die er dann aus dem Heft reißt und mir auf den Schreibtisch legt.
 

»Wir haben keine Deutschhausaufgaben«, sagt er zufrieden und greift sich einen Keks aus meiner Tüte.
 

»Ok.«
 

Ich weiß nicht so richtig, was ich sagen soll. Und ich fühle mich immer noch schrecklich kläglich, weil ich hier wie das letzte Elend herumliege und Julius mich in so einem Zustand sieht. Ich greife nach meinem Handy und schicke Marina eine Nachricht, in der ich mich für ihre leckeren Kekse bedanke – und ihr sage, dass ich abgesehen davon heute noch nichts gegessen habe.
 

Ungefähr zwei Sekunden später vibriert Julius‘ Handy. Er kramt es hervor und schaut darauf. Dann sieht er mich an.
 

»Du hast heute nur zwei Kekse gegessen?«
 

Ich fahre mir mit der Hand übers Gesicht und verkrieche mich wieder unter meine Bettdecke.
 

»Ich war nicht wirklich in der Lage mir irgendwas zu machen. Ich hab eigentlich nur geschlafen«, gebe ich zurück. »Und ich hab auch nicht wirklich Hunger.«
 

Julius murmelt etwas, das ich nicht verstehe. Ich bin so müde, dass ich kurz die Augen zumachen muss.
 

»Sag mal«, nuschele ich leise und ziehe mir die Decke bis zum Kinn, »bin ich eigentlich geheim?«
 

»Hä? Geheim?«, gibt Julius zurück und ich höre die Verwirrung in seiner Stimmung.
 

»Die Nachhilfe. Ist das geheim?«
 

Eine kurze Weile Schweigen.
 

»Hmpf. Naja, muss ja nicht jeder wissen, dass ich ein unterbelichteter Armleuchter bin.«
 

Erneutes Schweigen.
 

»Aber du bist nicht geheim. Also… naja… wie auch immer.«
 

Ich würde gerne noch etwas antworten, aber ich schlafe einfach wieder ein.

Der Fanclub

GoldenQuartet

Für Gruppeninfo hier tippen
 

Tamino

was genau soll ich davon halten, wenn julius mir aspirin und kekse und hausaufgaben bringt, weil ich nicht in der schule war, ich dann einschlafe und beim aufwachen zwei flaschen wasser und drei käsebrote auf meinem nachtschrank finde
 

Lotta

???????????????
 

Anni

!!!!!!!!!!!
 

Noah

that’s kinda gay
 

Anni

omg omg omg das ist super lieb?
 

Anni

Er war in eurer küche während du gepennt hast???
 

Tamino

anscheinend wtf
 

Tamino

mein vater war auch zu hause???
 

Noah

wow er hat sich freiwillig mit deinem alten mann abgegeben, das muss man ihm hoch anrechnen
 

Lotta

jep das is def beeindruckend O.O ich meine… wie verwirrt war der sack wohl, dass jemand sich die mühe macht n käsebrot für seinen sohn zu schmieren während DER SOHN KRANK IM BETT LIEGT UND NICH AUFSTEHEN KANN. A+++++ PARENTING -.-‘‘‘‘‘
 

Anni hat die Gruppe in JuliusFanclub umbenannt
 

Tamino

anni no
 

Anni

ANNI YES
 

Tamino

………… what is my life
 

Ich bin empört darüber, dass die Gruppe, die ich mit meinen drei besten Freunden habe, jetzt »JuliusFanclub« heißt. Aber ehrlich gesagt fühlt es sich im Angesicht dieser Käsebrote sehr angemessen an. Mein Vater wäre nie auf die Idee gekommen, mir ein Käsebrot zu machen. Ich mag Käsebrot nicht mal besonders, aber ich muss etwas essen, also esse ich anderthalb Brote und noch einen Keks, trinke fast eine ganze Flasche Wasser und schlucke noch eine Aspirin, bevor ich mich wieder im Bett einrolle. Wenn es mir weiter so geht, werde ich einfach die ganze Woche zu Hause bleiben.
 

Mein Vater kriegt es gebacken, seinen Arzt anzurufen und einen Hausbesuch zu organisieren, da ich offensichtlich nicht in der Lage bin, das Haus zu verlassen und mir irgendwelche Atteste oder Medikamente verschreiben zu lassen. Wow. Der Arzt schreibt mich für die ganze Woche krank und verschreibt mir drei verschiedene Medikamente. Leider ist mein Kopf zu drösig, um zuzuhören.
 

Dumpf denke ich daran, dass wir am Freitag Bio schreiben und ich glaube nicht, dass ich mich besonders gut konzentrieren kann, aber ich nehme am Mittwoch mein Handy in die Hand und versuche meine Gedanken so gut wie möglich zu sammeln. Die Rezepte, die mein Arzt mir verschrieben hat, liegen nutzlos auf dem Schreibtisch, weil ich das Haus nicht verlassen kann und mein Vater natürlich nicht auf die Idee gekommen ist, für mich zur Apotheke zu gehen.
 

Ich verbringe anderthalb Stunden damit, den Biostoff für Julius so übersichtlich wie möglich zusammen zu fassen. Es ist, als würde ich ihm eine Vorlesung an der Uni halten. Wahrscheinlich ist er schon total genervt von meinen elendig langen Sprachnachrichten – vor allem von diesen, weil meine Stimme immer noch total heiser und kratzig klingt. Aber die Klausur ist am Freitag und ich will lieber gar nicht über Französisch nachdenken.
 

Nachdem die Nachrichten fertig sind, schlafe ich direkt wieder ein, weil ich total kaputt bin. Ich wache erst wieder auf, als ich die Türklingel höre. Ich möchte eigentlich gerne den Kopf unter mein Kissen stecken und einfach weiterschlafen, aber es klopft an meine Tür und ich falle fast aus dem Bett, weil ich mich so erschrecke.
 

»Ja?«, krächze ich.
 

Die Tür geht auf und… da steht Julius. Schon wieder.
 

»Jo! Hausaufgabenexpress!«, sagt er grinsend und kommt in mein Zimmer.
 

»Du könntest mir die Hausaufgaben auch per WhatsApp schicken«, nuschele ich und schließe die Augen. Ich hab vergessen, dass die anderthalb Käsebrote von gestern immer noch auf meinem Nachtschrank stehen, aber immerhin habe ich beide Wasserflaschen ausgetrunken. Ich höre, wie Julius sich im Zimmer umher bewegt, das Fenster öffnet, die Flaschen und den Teller einsammelt und aus meinem Zimmer verschwindet.
 

Als er zurück kommt, höre ich, wie er Flaschen auf meinen Nachtschrank stellt und dann innehält. Papierrascheln.
 

»Ok, ich hab in einer halben Stunde Training, aber ich kann hinterher noch mal vorbei kommen und dir die Medikamente bringen«, sagt Julius. Ich hebe meinen Kopf und starre ihn an.
 

»Was?«
 

Er wedelt mit den Rezepten in der Luft herum und sieht mich an, als wäre ich doch nicht so schlau, wie er ursprünglich gedacht hatte.
 

»Aber… warum?«, krächze ich verwirrt. Julius verdreht die Augen und antwortet nicht, steckt die Rezepte gefaltet in seine Hosentasche und deutet auf den Nachtschrank. Diesmal habe ich Bananen bekommen. Ich greife nach einer davon und setze mich resigniert auf, um sie zu essen. Ich habe weiterhin keinen Hunger, aber ich sollte definitiv was essen, wenn ich später noch ins Bad will ohne abzuklappen.
 

Julius schiebt sich seine Tasche auf der Schulter nach oben und beobachtet kurz, wie ich meine Banane schäle.
 

»Ich bring die Medikamente nachher vorbei. Danke übrigens für die Sprachnachrichten«, sagt er. Ich mustere ihn. Er sieht ein wenig verlegen aus, auch wenn ich nicht so richtig weiß wieso.
 

»Kein Ding. Kannst mir Fragen per WhatsApp schicken, wenn du beim Lernen nicht weiter kommst.«
 

»Ok.«
 

Er zögert kurz, als würde er noch etwas anderes sagen wollen, besinnt sich dann aber anders und hebt die Hand zum Abschied.
 

»Dann bis später!«
 

Ich beiße in meine Banane und hebe ebenfalls die Hand. Julius verlässt mein Zimmer und einen Augenblick später höre ich die Wohnungstür zufallen. Es ist so merkwürdig, wie viel Julius plötzlich von meinem Privatleben mitbekommen hat. Er weiß jetzt, was für eine beschissene Beziehung ich zu meinem Vater habe, hat mich zusammenklappen sehen und mich in meinem Bett gefunden, er war in meinem Zimmer. Er hat wahllos Türen in der Wohnung geöffnet, in der ich lebe und er hat in meiner Küche Brote für mich geschmiert.
 

Er muss schon sehr Angst haben, dass ich seine Nachhilfe schmeiße, wenn er so viele Sachen für mich macht. Immerhin bezahlt seine Mutter mich ja, aber anscheinend hat er mitbekommen, dass mir das Geld nicht sonderlich wichtig ist. Alles, was ich bislang von Frau Timmermann bekommen habe, hab ich in ein großes Sparschwein gestopft und da liegt es jetzt unangetastet, weil ich es eigentlich nicht brauche und genauso gut sparen kann.
 

Ich habe die Stimmen meiner Freunde im Ohr, die mich darüber informieren, dass Julius das vielleicht nicht alles einfach nur macht, weil er mich bei der Stange halten will, aber meine Angststörung hat schon vor Jahren mein Selbstwertgefühl so in Grund und Boden getreten, dass ich diesen Einwand nicht wirklich ernst nehmen kann.
 

Es gibt genug Nächte, in denen ich denke, dass sogar meine engsten Freunde mich abscheulich finden, da ist der Sprung zu Julius‘ Abneigung mir gegenüber nicht sehr weit. Ich seufze, verspeise die Banane und trinke eine halbe Flasche Wasser. Dann schlage ich die Bettdecke zurück und krieche aus dem Bett. Ich will dringend duschen und mein Bett neu beziehen.
 

Ich frage mich, was mein Vater davon hält, dass jetzt schon zwei Tage in Folge derselbe fremde Kerl in unserer Wohnung aufgetaucht ist, Türen öffnet und in der Küche herum sucht, bis er irgendetwas Essbares gefunden hat. Die Abwesenheit von Scham in Julius ist fast schon beeindruckend. Wenn er krank wird, hat er ja aber Gott sei Dank eine Kekse backende Schwester und eine Aspirin austeilende Mutter, die ihn nicht einfach liegen lassen und sich einen Scheiß darum kehren, dass es ihrem Familienmitglied beschissen geht.
 

Ich dusche im Sitzen, um kein Risiko einzugehen und mir am Ende noch den Kopf an den Fliesen aufzuschlagen. Es tut gut unter dem heißen Wasser zu hocken und eine Weile lang an nichts zu denken, bis meine Finger irgendwann schrumpelig werden. Nach dem Duschen brauche ich einige Momente auf der Badematte, weil das heiße Wasser meinem Kreislauf nicht besonders zuträglich war, aber nach zehn Minuten schaffe ich es aufzustehen, mein Bett neu zu beziehen und anschließend hineinzufallen, als hätte ich einen Marathon hinter mir.
 

Wahrscheinlich könnte ich direkt wieder einschlafen, aber ich habe keine Lust, also krame ich meinen Rucksack und meinen Laptop hervor, schnappe mir die gesammelten Hausaufgaben von gestern und heute und schmeiße eine Folge Deep Space Nine an. Ich erledige Französisch und Englisch relativ schnell, bevor ich mich Politik und Bio zuwende und die nächste Folge anmache.
 

Als es klingelt, nehme ich es nur am Rande wahr und zucke zusammen, als es an der Tür klopft.
 

»Ja?«
 

Und da ist er wieder. Julius‘ Haare sind nass, also hat er wahrscheinlich direkt nach dem Training geduscht. Er wirft seine Sporttasche neben der Tür auf den Boden und schließt sie hinter sich, dann kramt er im Seitenfach seiner Tasche herum und kramt verschiedene Medikamentenpackungen und eine Dose Hustenbonbons hervor.
 

»Wie war das Training?«, frage ich heiser. Julius schaut auf und sieht kurz verwundert aus, – wahrscheinlich, weil ich sonst auch keinerlei Interesse an seinem Privatleben zeige – dann grinst er.
 

»Gut. Ich denke mal, das nächste Spiel kann kommen«, gibt er zurück und trägt die Medikamente zu meinem Bett herüber. Als er sieht, dass ich die zweite Banane noch nicht gegessen habe, schaut er mich streng an. Ich muss ein bisschen lächeln, greife nach der Banane und ziehe schuldbewusst die Schultern hoch.
 

»Danke für die Medikamente«, nuschele ich peinlich berührt. Es ist mir unangenehm, dass Julius all diese Dinge für mich tut. Wir sind nicht mal befreundet. Alles, was ich bin, ist sein nerviger Nachhilfelehrer, den er sowieso nicht haben wollte und jetzt plötzlich rennt er für mich zur Apotheke und schmiert mir Käsebrote.
 

»Kein Ding.«
 

Er sieht einen Augenblick unentschlossen aus, dann sieht er meine Hausaufgaben auf dem Bett liegen.
 

»Was machst du grade?«, will er wissen. Ich halte die Politikarbeitsblätter hoch, die er mir mitgebracht hat.
 

»Politik. Und nebenbei schau ich… Star Trek.«
 

Die letzten beiden Worte sind sehr kleinlaut, weil ich weiß, dass Julius Star Trek blöd findet und ich habe ganz vergessen, die Folge zu pausieren. Julius wirft einen Blick auf meinen Monitor, dann passiert etwas sehr verwirrendes, denn er setzt sich neben mich aufs Bett, kickt seine Schuhe von den Füßen und schiebt meine Hausaufgaben zur Seite.
 

»Wer ist der Typ mit dem komischen Gesicht?«
 

»Welcher?«
 

»Der, der aussieht, als hätte er eine Gummimaske auf.«
 

»Odo.«
 

»Und, was macht der so?«, will Julius wissen. Ich beiße etwas misstrauisch in meine Banane und mustere Julius. Es ist komisch, dass er neben mir auf dem Bett sitzt.
 

»Du magst kein Star Trek«, informiere ich ihn, statt auf seine Frage zu antworten. Er zuckt mit den Schultern.
 

»Ich hab noch nie eine Folge geguckt«, meint er dann und sieht mich an, als wäre es total normal, dass wir hier zusammen hocken und er indirektes Interesse an einer Folge Star Trek bekundet hat. Ich beiße noch mal von meiner Banane ab und starre ihn verwirrt an. Er schaut kurz zurück, dann verdreht er die Augen und beugt sich vor, um den Playknopf zu drücken.
 

»Oh! Der Typ ist ein Klingone!«, sagt Julius und zeigt auf den Laptop, als Worf ins Bild kommt. Ich muss lachen. Julius blinzelt und ich würde mich gerne hinter meiner Banane verstecken, aber aus naheliegenden Gründen ist das unmöglich.
 

»Das ist Worf«, erkläre ich, bevor ich den Rest meiner Banane verspeise. Julius kann unmöglich verstehen, worum es geht, da er den Anfang der Folge verpasst hat und auch sonst kein bisschen über Star Trek weiß, aber er fragt einfach alle drei Sekunden neue Sachen.
 

»Warum gibt es Baseball im Weltraum?«
 

»Wieso hat der Typ so riesige Ohren?«
 

»Wer ist das da?«
 

»Warte mal, ist das Alexander Siddig?!«
 

Ich beobachte ihn von der Seite und als Julius mich dabei ertappt, werden seine Wangen und Ohren rot.
 

»Was guckst du so?«, will er wissen.
 

»Ich wundere mich nur. Dass du… eh… noch nicht gegangen bist?«
 

»Soll ich gehen?«
 

Ich blinzele ihn an.
 

»Von mir aus können wir mit der ersten Folge anfangen«, sage ich, bevor ich meine Zunge in Zaum halten kann und Julius‘ Augen weiten sich ein wenig. Seine Haare sind mittlerweile fast trocken und sie hängen ihm ziemlich wüst ins Gesicht, weswegen Julius sie sich alle zwei Sekunden aus der Stirn streicht.
 

»Ok«, sagt er schließlich und mein Herz stolpert heftig, weil mir plötzlich klar wird, dass das hier irgendwie ein privates Treffen ist. Es hat nichts mit Nachhilfe zu tun, niemand wird für irgendwas bezahlt und Julius hat sich einfach zu mir gesetzt, obwohl er Star Trek scheiße findet. Und jetzt hat er zugestimmt, eine Doppelfolge mit mir anzugucken. Einfach so. Wie… Freunde.
 

Fuck.
 

Also grabbele ich auf meinem Nachtschrank rum, was peinlich ist, weil Julius da sitzt und ich über ihn drüber greifen muss und bei dieser Gelegenheit auch direkt feststellen darf, dass er gut riecht. Toll. Das ist eine Information, ohne die ich ganz hervorragend hätte weiterleben können. Meine letzte… Begeisterung auf diesem Gebiet hat sich als größter Desaster in meinem Leben entpuppt und ich sollte einfach aufhören zu atmen. Ja. Das ist die beste Idee.
 

Ich lege die erste CD der ersten Staffel ein und ignoriere mein hämmerndes Herz. Bedenke, Tamino, es ist total egal, ob Julius die Folge super dämlich findet – es geht nur darum, dass du es gut findest. Das Urteil anderer Leute kann dir Wurst sein. Ich wünschte, diese rationalen Gedankengänge würden dabei helfen, es für meinen Körper zur Wirklichkeit werden zu lassen. Dummerweise habe ich schon sehr früh feststellen dürfen, dass rationale Gedanken mein Gehirn und mein Herz nicht davon abhalten, vollkommen durchzudrehen. Vielleicht sollte ich es einfach komplett aufgeben.
 

Wir kommen nicht sehr weit, bevor ich Julius erklären muss, was Borg sind, aber danach geht es eine ganze Weile weiter, bevor er als nächstes wissen will, wo der Klingone aus der Baseballfolge ist. Ich erkläre ihm, dass Worf erst in der vierten Staffel dazu kommt und er nickt. Nach der Hälfte der Folge fällt mir ein, dass Julius ja vielleicht irgendwas trinken will.
 

»Möchtest du was trinken?«, frage ich.
 

»Du solltest im Bett bleiben«, erwidert er. »Nicht, dass du wieder einen Schneewittchenabgang machst.«
 

Ich schnaube und buffe ihn mit der Schulter gegen den Arm. Julius pausiert die Folge.
 

»Ich weiß ja wo die Küche ist«, meint er und bevor ich ihn aufhalten kann, ist er in der Küche verschwunden. Ich fasse es nicht, dass er das einfach so machen kann. Ich würde nie bei ihm in die Küche gehen und einfach irgendwas zu trinken suchen. Er kommt mit einer Flasche Apfelsaft zurück.
 

»Gibt’s Chips in dieser Wohnung?«
 

Ich zucke mit den Schultern.
 

»Eher nicht. Mein Vater kauft meistens nur Scheiß ein«, erkläre ich und Julius seufzt theatralisch, ehe er die Tür hinter sich schließt und zurück zum Bett kommt. Mit Schwung lässt er sich neben mich plumpsen und schraubt die Flasche auf.
 

»Bist du die ganze Woche krankgeschrieben?«, fragt Julius, bevor er sich vorbeugt und die Folge wieder startet. Ich nicke. Wenn diese Information irgendwie von Bedeutung für ihn ist, teilt er es mir nicht mit.
 

»Ist es normal, dass man diesen ganzen technischen Kram nicht peilt? Oder bin ich zu dämlich?«
 

»Ist normal. Ich hab auch keine Ahnung, wovon die reden«, gebe ich freimütig zu. Julius gluckst.
 

»Wow. Das kommt wahrscheinlich selten vor.«
 

»Häufiger, als du denkst.«
 

»Ich könnte dir eine Glocke geben und immer, wenn du was nicht checkst, bimmelst du.«
 

»Wieso sollte ich das machen?«
 

»Damit ich mich besser fühle.«
 

»Du meinst, damit ich dein Ego streichele.«
 

»Jap. Ganz genau!«
 

Er grinst mir sehr breit entgegen. Ich schnaube und buffe ihn direkt noch mal.
 

»Ich glaube nicht, dass da noch viel gestreichelt werden muss, Mr. Fußball-Kapitän.«
 

Er streckt mir die Zunge raus. Der Rest der Folge vergeht größtenteils in Schweigen. Ich schreibe eine kurze Nachricht an Marina, dass ihr Bruder gerade tatsächlich seine ersten anderthalb Folgen Star Trek geschaut hat und noch nicht implodiert ist. Als die Folge endet, streckt Julius sich und stellt die Flasche Apfelsaft auf meinem Nachtschrank ab.
 

»Ich hab keinen Bock morgen zur Schule zu gehen. Willst du mich nicht einfach anstecken?«
 

Ich schaue ihn streng an.
 

»Damit du noch mehr hinterher hinkst und ich meine Freizeit nur noch mit Sprachnachrichten verbringen kann?«
 

Julius hebt abwehrend die Hände, als würde er kapitulieren. Dann erhebt er sich.
 

»Dann mach ich mich mal auf die Socken. Ich hör auf dem Rückweg noch ein paar Biosprachnachrichten.«
 

Er grinst und ich hebe die Hand zum Abschied.
 

»Danke noch mal für… naja.«
 

»Kein Ding. Bis morgen!«
 

Und bevor ich noch groß darüber nachdenken kann, was genau dieses »bis morgen« bedeutet, ist Julius auch schon aus meinem Zimmer verschwunden und ich bleibe mit einem Haufen Verwirrung und Medikamenten zurück.

Für Lotta

Dank der Medikamente geht es mir am Donnerstag schon etwas besser und mein Kreislauf erholt sich einigermaßen. Ich schaffe eine halbe Tiefkühlpizza und einen Apfel und gehe noch mal duschen, bevor ich gegen Mittag den Rest Hausaufgaben erledige, den Julius mir in den letzten beiden Tagen vorbei gebracht hat. Gestern Abend hat er »bis morgen« gesagt. Das heißt wohl, dass er heute auch wieder vorbei kommt. Und vielleicht auch morgen? Immerhin bin ich bis morgen krankgeschrieben.
 

Natürlich könnte er mir die Hausaufgaben vom Freitag auch einfach am Montag geben. Wahrscheinlich macht er das. Ich informiere meinen neuen Julius Fanclub darüber, dass Julius gestern Medikamente für mich besorgt und eine Folge Star Trek Deep Space Nine mit mir geschaut hat, was Noah, Anni und Lotta nur in ihrer Begeisterung bestärkt.
 

Lotta

Er will definitiv mit dir befreundet sein
 

Anni

jup
 

Anni

würdest du sowas für wen machen, den du kacke findest???
 

Tamino

vielleicht macht er es nur, weil er auf meine nachhilfe angewiesen ist
 

Noah

thats your anxiety talking
 

Lotta

definitiv! ich bin sicher, dass er dich gut leiden kann
 

Tamino

aber ich versteh nicht wieso
 

Noah

weil du cool bist, alter
 

Tamino

nicht nach seiner definition o__o
 

Anni

dann ist seine defition scheiße und sollte sowieso mal überarbeitet werden
 

Anni

*definition
 

Ich lege mein Handy beiseite und versuche das hämmernde Klopfen in meinem Brustkorb zu ignorieren. Diese ganze Sache mit Julius ist vollkommen aus dem Ruder gelaufen – ich hatte überhaupt keinen Bock auf diese ganze Nachhilfesache und jetzt plötzlich erklären meine Freunde mir, dass Julius mich wahrscheinlich gut leiden kann und mit mir befreundet sein möchte?
 

Will ich denn überhaupt mit Julius befreundet sein?
 

Mein Gehirn verknotet sich beinahe bei dem Gedanken daran, dass jemand, der eine derartig große Sozialkompetenz hat wie Julius, mit jemandem befreundet sein will, der kaum ein »Hallo« herausbringt, ohne zu stottern, vor plötzlichen Bewegungen und lauten Geräuschen erschrickt und seine Freizeit damit verbringt, fiktive Sprachen zu lernen. Aber die Wahrheit ist, dass Julius viel… netter? Cooler? Anständiger? Ist, als ich gedacht habe. Er macht nette Dinge für mich und hat Star Trek mit mir angeschaut, obwohl er es nicht leiden kann. Er mag Star Wars und spielt wirklich ziemlich gut Fußball und auch, wenn ich das gerne verdrängen würde, mag ich Fußball immer noch sehr gerne.
 

Muss ich Julius das irgendwie kundtun?
 

»Du bist nicht so ein Arschloch, wie ich ursprünglich gedacht habe und ich wäre gerne mit dir befreundet.«
 

Sowas kann man niemandem sagen, wenn man nicht will, dass derjenige einen hinterher nicht total bescheuert findet. Ich habe aus unerfindlichen Gründen vergessen, wie ich es jemals geschafft habe, mich überhaupt mit irgendjemandem anzufreunden und die Tatsache, dass ich wahnsinnig einsam bin und meine anderen Freunde vermisse, führt vielleicht auch dazu, dass mein Urteilsvermögen total verbogen ist.
 

Ich treibe es mit dem nervösen Herumtigern in der Wohnung etwas zu weit und kriege am Ende doch wieder Kreislauf, sodass ich mich wieder ins Bett verziehe. Dann schreibe ich meinem Vater eine SMS, dass er nach der Arbeit vom Einkaufen Chips mitbringen soll. Man kann sich nicht sicher sein, ob das funktioniert, aber ich kann in meinem momentanen Zustand nicht das Haus verlassen.
 

Ich bin den ganzen Tag über so aufgeregt darüber, dass Julius nachher wahrscheinlich wieder hierher kommt, dass ich für den Rest Politikhausaufgaben fast eine Stunde brauche – eine Zeitspanne, die ich selten für irgendwelche Hausaufgaben benötige. Ich bin sogar zu aufgewühlt, um eine Folge von irgendwas zu gucken, weil mein Gehirn sich die ganze Zeit darüber im Kreis dreht, dass Julius ja womöglich wieder eine Folge Star Trek mit mir anschauen möchte.
 

Vielleicht fand er es aber auch total bekloppt.
 

Vielleicht kommt er auch gar nicht.
 

Ich verfluche meine Freunde, weil sie mir diesen Floh von Julius und dem Freundesein ins Ohr gesetzt haben und ich jetzt an nichts anderes mehr denken kann. Ich mache mich garantiert zum Deppen und habe alles falsch verstanden.
 

Gegen halb zwei schreibt Lotta mir auf Skype und fragt, ob ich kurz Zeit zum Telefonieren habe. Also rufe ich sie an.
 

»Alles ok?«, frage ich.
 

Lotta seufzt und schüttelt den Kopf.
 

»Ich habe Hausarrest. Ich mache nächstes Jahr mein Abi und habe Hausarrest.«
 

»Was? Wieso?«
 

Lotta ist ungeschminkt und hat ihre roten Locken in einen unordentlichen Knuddel gebunden. Ihr Zimmer sieht wie immer chaotisch aus und sie hat hinter sich alle fünf Lichterketten, die sie besitzt, eingeschaltet – immer ein Zeichen für emotionalen Aufruhr.
 

»Onkel Richard feiert nächste Woche seinen fünfzigsten Geburtstag und ich hab gesagt, dass ich nicht mit hingehe. Dann haben wir darüber gestritten und ich hab gesagt, dass er ein rassistischer und homophober Saftsack ist und ich seinen Geburtstag nicht feiern will. Und dann meinte Papa, dass ich dann ja auch sonst nirgendwo hingehen muss, wenn ich es nicht für nötig halte, zur Feier meines Onkels zu gehen.«
 

Ich rutsche auf meinem Stuhl herum und schüttele den Kopf. Lottas Verwandtschaft ist wirklich nicht das, was man als herzlich und liebevoll bezeichnen kann, aber ihr Onkel setzt dem ganzen definitiv die Krone auf. Er ist nicht nur überzeugtes Mitglied bei der AfD, sondern hat auf dem letzten Kaffeekränzchen auch erklärt, dass Trump politisch richtige Ansätze hätte und Deutschland sich daran bezüglich der Flüchtlingspolitik ein Beispiel nehmen solle.
 

Ich verstehe jedenfalls vollkommen, wieso Lotta mit ihm nichts zu tun haben möchte – ich bin vermutlich alles, was Richard abscheulich findet. Schwarz und schwul. Oha. Fehlte nur noch, dass ich zum Islam konvertiere und verkünde, dass ich gegen Atomkraft bin.
 

»Das ist ja total scheiße. Wie lange?«, will ich wissen.
 

»Zwei Wochen. Wenigstens haben sie mir den Computer nicht rausgetragen. Obwohl mich das auch nicht gewundert hätte.«
 

»Sobald wir Abi haben, packen wir unsere Sachen und ziehen aus«, sage ich. Sie nickt mit grimmigem Gesichtsausdruck und ich würde sie sehr gerne umarmen.
 

»Ich bin ziemlich stolz auf dich. Dass du das über ihn gesagt hast… du weißt schon. Obwohl du wusstest, dass sowas dabei rumkommen könnte…«
 

Sie lächelt schief.
 

»Was für eine Freundin wäre ich, wenn ich meinem rassistischen Onkel in den Arsch krieche, während er am liebsten meine besten Freunde abschieben würde? Nein danke.«
 

»Ich meine ja nur. Danke. Du bist super«, sage ich. Ihr nächstes Lächeln ist wärmer als das letzte.
 

»Wenn er wüsste, dass Anni zwei Mütter hat, würde er wahrscheinlich einen Knoten im Gehirn kriegen«, grummelt sie ungehalten und kramt auf ihrem Schreibtisch nach irgendetwas herum. Ich sehe, wie sie eine Packung Toffifee hochhält und sich eines davon in den Mund schiebt.
 

»Kannst du mir einen Gefallen tun?«, fragt sie kauend.
 

»Sicher.«
 

»Singst du was für mich?«
 

Ich muss lächeln.
 

»Klar. Tu so, als wäre ich deine Jukebox. Irgendwelche Liedwünsche?«
 

Es gibt genau vier Menschen auf dieser Welt, vor denen ich freiwillig singe. Meine drei besten Freunde und meine Oma. Als meine Mutter noch gelebt hat, waren es fünf. Lotta überlegt kurz.
 

»Oh! OH! Kannst du nochmal das Lied aus Tanz der Vampire für mich umdichten?«
 

Ich gluckse leise und rufe Google auf. Ich kann den Text nicht hundertprozentig auswendig.
 

»Mit Karaokemusik im Hintergrund?«
 

»Ist mir egal.«
 

Das Schöne an meinen besten Freunden ist, dass sie nicht bei jeder meiner Fähigkeiten laut anfangen zu rufen, was ich damit alles machen könnte. Davon hab ich in meinem Leben schon genug gehört.
 

»Tamino, du solltest professionell Fußball spielen! Du könntest Dolmetscher werden mit deinem Talent für Sprachen! Oh, Tamino, du kannst singen? Deine Stimme ist toll, du solltest Musicals machen oder Gesangslehrer werden!«
 

Ich schiebe die Gedanken beiseite und überfliege kurz den Text. Das Fenster mit Lottas Gesicht schaut mit erwartungsvoll entgegen. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass mein Vater noch nicht zu Hause ist. Vor dem singe ich auch nicht, auch wenn er natürlich weiß, dass ich es kann. Ich glaube, er war nie besonders beeindruckt davon.
 

»Nimm dir noch ein Toffifee«, sage ich grinsend und rufe Lottas Skypefenster wieder auf, sodass ich sie in groß neben dem Text sehen kann. Und dann singe ich eine dramatische Musical-Liebesschnulze für Lotta und es macht mich sehr zufrieden, Lottas Gesichtsausdruck dabei zu sehen. Sie lächelt bei jedem Mal, wenn ich Sarah durch Lotta ersetze. Pff. Wieso sollte ich irgendwas anderes mit meinen verschwendeten Talenten machen, als meine Freunde zum Lächeln zu bringen?
 

Lotta seufzt zufrieden.
 

»Wenn du in den Sommerferien herkommst, musst du jeden Tag mindestens fünf Lieder für uns singen«, sagt sie und sieht schon viel besser gelaunt aus als vorher. Ich öffne den Mund, um ihr zu sagen, dass sie dann schon mal Listen erstellen soll, welche Lieder sie gerne hören möchte – da klopft es an meine Zimmertür. Ich friere auf meinem Stuhl ein.
 

»Hat’s grad geklopft bei dir?«, fragt Lotta und reckt den Hals. Ich nicke.
 

»Oha. Dein Vater?«
 

Ich schaue auf die Uhr. Eigentlich ist es zu früh. Aber…
 

Es klopft noch mal.
 

»Ja?«, sage ich krächzend.
 

Und natürlich passiert das Blödeste, was hätte passieren können. Lotta macht eine Art quietschendes Geräusch, das ich geflissentlich ignoriere.
 

Julius hat Augen rund wie Teller, während er in meinem Türrahmen steht und mich anstarrt, als wären mir vier weitere Arme gewachsen.
 

»Hey Julius!«, ruft Lotta über Skype und ich muss nicht mal hinsehen, um zu wissen, dass sie ihm gerade zuwinkt.
 

»Hey«, sagt er und lehnt sich leicht zur Seite, um an mir vorbei auf meinen Monitor zu schauen.
 

»Ähm… dein Vater hat mich rein gelassen, wir haben uns unten auf der Straße getroffen«, sagt er. Er ist definitiv rot im Gesicht. Man sieht kaum noch die Sommersprossen auf seinen Wangen. Wie lange stand er denn da schon vor meiner Zimmertür? Er hat es auf jeden Fall gehört. Fuck.
 

»Ähm…«
 

»Tamino hat für mich gesungen, um mich aufzumuntern«, erklärt Lotta. Ich weiß, dass sie weiß, dass ich mich gerade mehr als ein kleines bisschen unwohl fühle.
 

»Das ist nett von ihm«, murmelt Julius so leise, dass Lotta ihn wahrscheinlich nicht verstehen konnte. »Ich wusste nicht, dass er singen kann.«
 

Ein Moment Schweigen.
 

»Ich setze es auf die Liste der hundert geheimen Talente des Tamino Wilke.«
 

Lotta kichert.
 

»Na, dann lass ich euch beide mal in Ruhe. Mir geht’s schon besser. Hast du morgen noch mal Zeit?«
 

»Klar. Bin immer noch krankgeschrieben«, krächze ich. Die Leichtigkeit in meinem Innern, die ich immer verspüre, wenn ich mit meinen Freunden Zeit verbringe, ist verflogen. Stattdessen blinkt in meinem Kopf jetzt ein Mantra von »ER HAT ES GEHÖRT ER HAT ES GEHÖRT« und ich fühle mich, als würde mir mein Herz gleich gegen den Kehlkopf springen.
 

»Ich sag Bescheid, wenn ich aus der Schule wieder da bin. Tschüss Julius!«
 

Lotta winkt noch mal und dann beendet sie den Videoanruf.
 

Julius steht unschlüssig in der Mitte meines Zimmers.
 

»Deine Freundin?«, fragt er dann. Ich nicke.
 

Mein Handy vibriert und ich schaue darauf – Lotta hat eine neue Nachricht in unseren Gruppenchat gepostet:
 

Lotta:

»OMGOMG JULIUS SIEHT TOTAL GUT AUS!!!!!«
 

Anni:

????
 

Anni:

wann hast du ihn gesehen? ERZÄHL UNS ALLES!
 

Ich lege mein Handy beiseite, als ich sehe, wie Noah anfängt eine Antwort zu tippen und schaue mit hämmerndem Herzen hinüber zu Julius, der mittlerweile ein bisschen weniger rot ist, aber immer noch verloren in meinem Zimmer rumsteht, als wüsste er nicht so recht, was er mit sich anfangen soll.
 

Insgeheim hoffe ich, dass Julius einfach so tut, als wäre nichts gewesen, aber das wäre wohl zu viel verlangt, denn im nächsten Moment macht er ein paar Schritte zu meinem Bett hinüber, lässt sich darauf plumpsen, fängt an in seinem Rucksack zu kramen und sagt:
 

»Singen also auch noch, huh?«
 

Ich beiße mir auf die Unterlippe und atme ein paar Mal tief ein und aus, um nichts Blödes zu sagen. Als ich nicht sofort antworte, schaut Julius von seinem Gekrame auf und es wundert mich nicht, aber man sieht mir meinen inneren Gemütszustand anscheinend sehr an, denn seine Augen werden schon wieder rund wie Teller und er hebt automatisch abwehrend die Hände, woraufhin sein Rucksack mit einem dumpfen Schlag zu Boden geht.
 

»Ok, ok, ich werds nicht mehr erwähnen!«
 

Ich verstecke mein Gesicht in den Händen und stütze meine Ellbogen auf den Oberschenkeln ab. Ugh. Warum muss mir sowas passieren. Nachdem ich in den letzten Tagen mehrfach darüber nachgedacht habe, ob Julius und ich irgendwie sowas wie Freunde sein könnten, wird mir jetzt klar, dass das einfach unrealistisch ist, wenn ich mich so fühle wie ich mich gerade fühle, weil er mich singen gehört hat.
 

Die rationale Stimme in meinem Kopf sagt, dass es etwas viel verlangt ist, dasselbe Level an Vertrauen zu Julius zu empfinden, wie zu meinen anderen Freunden, die ich schon seit der fünften Klasse kenne.
 

»Ich wäre nicht reingekommen, wenn ich gewusst hätte, dass… naja. Du weißt schon..«, nuschelt Julius. Ich halte kurz die Luft an. Stell dich nicht so an, Tamino, das ist doch einfach nur noch peinlich.
 

»Ok, wenn dir das so peinlich ist, könnte ich einfach… wie… argh. Ich kann nicht schwimmen.«
 

Ich blinzele in meinen Handinnenflächen und hebe den Kopf.
 

Julius ist jetzt wieder knallrot im Gesicht und sieht aus, als würde er gerne zurücknehmen, was ich gerade gesagt hat.
 

»Was?«, frage ich dümmlich und hätte mir gerne mit der Handfläche gegen die Stirn geschlagen. Toll, Tamino. Wirklich großartig. Ich lasse die Worte einen Moment lang auf mich wirken, während Julius seinen Rucksack aufhebt und nun mehrere Zettel und sein Hausaufgabenheft hervorkramt. Die Tatsache, dass jemand kurz vor der dreizehnten Klasse noch ein Hausaufgabenheft führen muss, löst in mir den absurden Drang zu lachen aus, aber ich beiße mir erneut auf die Unterlippe und schlucke schwer, bevor ich es noch mal mit dem Sprechen versuche.
 

»Warum erzählst du mir das?«, frage ich. Meine Stimme klingt heiser und es hat diesmal nichts mit meiner Erkältung zu tun. Julius hebt die Schultern und sieht aus, als wäre er sehr gerne anderswo. Ein Gefühl, dass ich hervorragend nachvollziehen kann und die Tatsache, dass er sich selbst in ein derartiges Unwohlsein gestürzt hat, beruhigt meinen eigenen inneren Tumult.
 

»Dir war das Singen peinlich und ich dachte… mir ist das mit dem Schwimmen peinlich.«
 

Wir starren uns an.
 

Ich kann das alles nicht so richtig fassen. Vor ein paar Wochen dachte ich noch, Julius wäre der größte Hornochse unter der Sonne und jetzt plötzlich erzählt er mir ein Geheimnis über sich selbst, damit ich mich weniger schlecht über mein eigenes, herausgekommenes Geheimnis fühle.
 

Meine Zunge fängt an, Worte zu formen, bevor ich sie stoppen kann.
 

»Tut mir Leid, dass ich dachte, dass du ein arroganter Trottel bist!«
 

Julius blinzelt. Dann schnaubt er und lacht leise, stellt seinen Rucksack auf den Boden und steht auf, um mir die Zettel entgegen zu strecken. Ich nehme sie mit leicht zittrigen Fingern.
 

»Danke«, murmele ich kleinlaut.
 

»Ich dachte, du wärst ein Streber und ein Nerd«, sagt er. Jetzt ist es an mir zu schnauben.
 

»Da hattest du ja auch Recht«, gebe ich zurück. Er grinst sehr breit zu mir herunter und kratzt sich am Hinterkopf.
 

»Ja, schon. Aber es ist viel weniger schlimm, als ich dachte.«
 

Ich kriege ein halbes Lächeln zustande und blättere kurz durch die Unterlagen, die er für mich gesammelt hat.
 

»Morgen schreiben wir Französisch«, murmelt Julius dann.
 

»Sollen wir noch mal den Stoff durchgehen?«, frage ich. Julius nickt und sieht wahnsinnig erleichtert aus. Ich suche meine Französisch-Sachen zusammen und werfe mich aufs Bett. Julius folgt mir und dann sitzen wir uns im Schneidersitz gegenüber lernen Französisch. Bei all den Vokabeln und inhaltlichen Fragen von Julius vergesse ich relativ schnell, dass Julius mich beim Singen erwischt hat und als ich das nächste Mal auf die Uhr schaue sind drei Stunden vergangen.
 

»Wenn ich dir Arbeit morgen verkacke, bin ich geliefert«, stöhnt Julius. Er sieht wirklich gestresst aus. Es muss schrecklich sein, wenn alles von einer Note abhängt und dann auch noch in einem Fach, das man nicht einfach so durch auswendig lernen bezwingen kann.
 

»Je crois en toi«, sage ich leise. Julius legt den Kopf schief und ich sehe, dass es kurz in seinem Gehirn rattert, dann lächelt er ein wenig.
 

»Merci«, nuschelt er.
 

»Benutz einfach ordentlich viele Konnektoren und bring so viele Vokabeln ein, wie möglich. Und lies am Ende noch mal alles durch und mach dir vorher eine kleine Liste, auf was für Grammatikfehler du besonders achten willst. Verbendungen, Artikel, Zeitfehler…«
 

Julius nickt und friemelt am Umschlag meines Französischbuchs herum.
 

»Ich hab meinem Vater gesagt er soll Chips kaufen«, sage ich leise. Julius‘ Kopf ruckt nach oben.
 

»Ist das eine Einladung, noch eine Folge Star Trek mit dir zu gucken?«, will er wissen.
 

Ich ziehe die Schultern hoch und spüre, wie mein Gesicht heiß wird.
 

»Nur wenn du willst.«
 

»Ok. Pack diese Scheußlichkeiten weg, ich will nichts Französisches mehr sehen!«
 

»Wir können die Folge auch auf Französisch schauen«, sage ich scheinheilig. Julius wirft mit einem Kissen nach mir und ich denke, dass es schlimmere Leute gibt, die mich beim Singen hätten hören können.

red alert

Nachdem Julius gestern Abend nach zwei Folgen Deep Space Nine nach Hause gegangen ist, habe ich eine Nachricht von Lotta bekommen, dass ihre Eltern ihr nun doch den Laptop weggenommen haben. Ihr Handy hat sie scheinbar versteckt und sich geweigert, es rauszurücken, woraufhin sie gleich noch eine Woche länger Hausarrest bekommen hat. Das heißt, dass wir am Freitag doch nicht noch mal skypen können. Ich versuche, sie ein wenig per WhatsApp aufzuheitern und auch Anni und Noah geben sich besonders viel Mühe, aber ich verstehe natürlich total, warum Lotta niedergeschlagen ist.
 

Mein Vater interessiert sich nicht genug für mich, um überhaupt Hausarrest zu erteilen, aber ich bin definitiv froh, dass ich nicht in Lottas Schuhen stecke. Ich freue mich jetzt schon darauf, wenn sie nach der Schule endlich dort ausziehen kann. Wahrscheinlich sind Lottas Eltern welche von der Sorte, die sich darüber wundern, warum ihre Tochter hunderte von Kilometern wegziehen und nicht mehr mit ihnen reden will, weil sie denken, dass ihre Erziehungsmethoden fehlerfrei sind.
 

Ich werde früh genug wach, um Julius eine »viel Erfolg bei Französisch«-Nachricht zu schicken und bekomme einen grünen Smily zurück, der so aussieht, als würde er sich gleich übergeben. Ich bin mittlerweile fit genug, um in Ruhe duschen zu gehen und mir anständiges Frühstück zu machen. Da mein Vater bei der Arbeit ist, kann ich nebenbei eine weitere Folge Star Trek laufen lassen, während ich in der Küche stehe, Eier brate und Brot toaste und ein paar Tomaten schnippele.
 

In Gedanken plane ich gerade, wie ich mir den Rest der Schulsachen heute einteile, damit ich ganz gemächlich alles fertig bekomme und dann am Wochenende meine Ruhe habe, da fängt mein Handy auf dem Küchentisch wild an zu vibrieren. Mein erster Gedanke ist, dass Lotta mich anruft, weil es irgendeinen Notfall gibt. Dann setzt sofort das panische Glockenläuten in meinem Kopf ein und ich bekomme schwitzige Hände.
 

Mit Fingern voller Tomatensaft gehe ich hinüber zum Tisch und werfe einen Blick aufs Display, als würde ich mich einer Giftspinne nähern müssen, aber es ist nicht Lottas Name, der da auf dem Display auftaucht, sondern der von Julius.
 

Ein hastiger Blick auf die Uhr verrät mir, dass es mitten in der Französisch-Klausur sein muss. Ich schlucke. Soll ich rangehen, oder davon ausgehen, dass Julius mich ausversehen anruft, weil er mit seinem Hintern versehentlich den Anruf gestartet hat? Mein Herz hämmert. Ich schlucke noch zweimal und greife dann in einer Kurzschlussreaktion nach meinem Handy, wische den angezeigten Hörer nach rechts und halte es mir ans Ohr.
 

Es riecht nach frischen Tomaten und Angst. Tolle Mischung.
 

»Ja?«, krächze ich und meine gebrochene Stimme hängt diesmal nicht mit meiner Heiserkeit und dem Husten zusammen, sondern mit der überwältigenden Nervosität.
 

»Ich bin geliefert«, höre ich Julius‘ Stimme in einem ziemlich panisch klingenden Flüstern vom anderen Ende kommen. Ich blinzele.
 

»Was ist passiert? Hast du schon abgegeben?«, frage ich. Julius‘ Panik macht mich ruhiger. Das war schon immer so. Ich habe keine Ahnung, wie dieser Trick funktioniert, aber wenn andere Leute Angst haben, wird meine eigene Angst meistens kleiner. Eine seltsame Reaktion.
 

»Nein. Ich kann nichts mehr, ich hab alles vergessen. Ich hab… ich hab einen totalen Blackout«, wispert Julius und das Hallen im Hintergrund lässt mich vermuten, dass er wahrscheinlich auf dem Klo ist. Julius‘ Atmung geht viel zu schnell und ich höre ihn auf und ab gehen. Es klingt so, als stünde er kurz vor einer Panikattacke. Ich eile hinüber zum Herd, umschließe das Handy nun entschlossener und hole einmal tief Luft. Während ich mein Ei umrühre, damit es nicht anbrennt, versuche ich Julius zu beruhigen.
 

»Ok, erstmal musst du wieder normal atmen. Julius? Bist du noch dran?«
 

»Hmhm…«
 

»Einatmen! Ausatmen. Einatmen, ausatmen. Ok«
 

Seine Atmung beruhigt sich allmählich und ich weiß, dass wir nicht lange Zeit haben, weil Herr Rosenheim dann misstrauisch wird, wo Julius sich so lang herum treibt. Ich denke darüber nach, dass Julius es sonst immer nicht mag, wenn ich Französisch mit ihm rede, aber er muss sein Gehirn irgendwie auf Französisch umschalten, wenn er die Klausur schaffen und zum Abi zugelassen werden will.
 

»Je sais que c’est difficile«, sage ich leise. Julius ist ganz still am anderen Ende. Ich hoffe, er atmet anständig weiter. Ich klemme mir das Handy zwischen Ohr und Schulter und befördere das Ei auf den Teller, stelle den Herd aus und rede leise weiter auf Französisch mit Julius. Die Panikglocken in meinem Kopf haben sich beruhigt und es gibt nur noch das leise Geräusch von Julius‘ Atmen am anderen Ende. Jetzt, wo die Pfanne vom Herd ist, höre ich ihn auch wieder. Puh.
 

»Ok«, sagt Julius und ich höre ein eindeutiges Zittern in seiner Stimme. Es ist komisch, Julius so zu erleben. Es ist fast so, als wäre er in diesem Moment ich. Kein Wunder, dass er unter dem ganzen Druck einen Blackout bekommen hat.
 

»Du kannst das«, sage ich. »Ich drück dir die Daumen.«
 

»Danke«, murmelt Julius und ich höre ihn ein letztes Mal tief ein- und ausatmen, dann ist die Verbindung weg und ich lege das Handy auf die Küchenarbeitsfläche. Es ist definitiv voller Tomate. Ich hoffe, dass mein Ei noch nicht ganz kalt geworden ist, fische das Brot aus dem Toaster und wasche meine Hände.
 

Wer hätte gedacht, dass ich Julius‘ Stimme mal so hören würde? Mein Eindruck von ihm war immer, dass er ein unbeschwerter Scherzkeks und Sportfanatiker ist, der nichts ernst nimmt außer vielleicht Fußball. Und jetzt ruft er mich panisch von einer Schultoilette an, weil er Angst hat, seine Französisch-Klausur zu verhauen und sich damit das Abi zu verbauen. Mir hat sich mittlerweile schon ein paar Mal die Frage gestellt, warum Julius so dringend zum Abi zugelassen werden will, statt einfach das Jahr in Ruhe zu wiederholen und nächstes Jahr sein Abitur zu machen.
 

Ich weiß nicht, ob es dafür überhaupt irgendwelche Gründe gibt, oder ob er einfach so das Gefühl hat, dass es jetzt sofort sein muss. Was ich irgendwie auch verstehen könnte. Es ist ja nicht so, als wäre es besonders angesehen in unserer Gesellschaft sich Zeit mit Bildung und Job zu lassen und einfach mal alles ruhig anzugehen. Ich starre kurz auf meinen Teller und seufze, dann schnappe ich mir mein Frühstück und meinen Laptop und verziehe mich wieder auf mein Zimmer. Ein neues nervöses Vibrieren macht sich in mir breit, weil ich jetzt daran denken muss, dass Julius hoffentlich seine Französisch-Klausur besteht und seinen Blackout in den Griff bekommt.
 

Bei all meiner Angst und Panik, die mich im alltäglichen Leben begleitet, hatte ich noch nie einen Blackout. Wissensabfragen beruhigen mich. Wenn mein Gehirn schon nicht dazu in der Lage ist, mich normal leben zu lassen, dann kann es mir wenigstens dabei behilflich sein, akademischen Erfolg zu erlangen, mit dem ich später nichts anfangen kann. Ein trauriger Deal, aber besser als nichts.
 

Ich lade das Ei und die Tomaten auf die getoasteten Brote und fange an zu essen, während die Folge Star Trek weiterläuft – aber in Wirklichkeit bekomme ich nichts mit außer einem Hintergrundsurren, weil mein Gehirn jetzt damit besessen ist, ob Julius seine blöde Klausur besteht. Es kann mir doch eigentlich auch egal sein. Im Zweifelsfall muss er halt das Jahr noch mal wiederholen und das war auch nicht meine Schuld, weil er einfach viel zu spät damit angefangen hat, sich anzustrengen. Seine Mutter hätte ihm schon vorher einen Nachhilfelehrer besorgen sollen. Diese ganze Lernerei auf den letzten Drücker ist doch bescheuert.
 

Ich habe das bekloppte Bedürfnis, ihm eine WhatsApp-Nachricht zu schicken, ob alles ok ist und er seinen Blackout in den Griff bekommen hat. Wenn ich darüber nachdenke, dass meine Freunde gesagt haben, dass Julius mit mir befreundet sein möchte, ist es vielleicht kein Wunder, dass ich so viel Anteil an seinem schulischen Erfolg nehme. Er könnte ein Freund sein. Ein Fast-Freund. Man interessiert sich für das Wohlergehen von Freunden. Ugh.
 

Ich glaube, irgendwo auf der Strecke von der fünften Klasse bis heute habe ich vergessen, wie Freundschaften knüpfen funktioniert, weil ich seit der fünften Klasse immer dieselben Freunde hatte und keine neuen dazu gekommen sind. Ab wann war ich mit Noah, Anni und Lotta offiziell befreundet? Ok, Noah ist am einfachsten. Diese Jungs, die es auf mich abgesehen hatten und immer Taschengeld und mein Essen einsacken wollten, hatte keine Chance gegen Noah, der zwar lieb und friedfertig wie ein Teddybär ist, allerdings auch schon immer sehr groß und breit war.
 

Nachdem er mir dreimal den Hals gerettet hat, waren wir ziemlich sicher offiziell befreundet. Ich hab für ihn Mathehausfgaben gemacht, er hat die Schläger für mich vertrieben. Mit Annie habe ich ein Referat über Wale gehalten und dabei haben mich ihre Mütter adoptiert. Und Lotta wurde früher schon immer gehänselt, weil sie dick war und irgendwann habe ich einem von den Jungs mein Leberwurstbrot an den Kopf geworfen, der über sie gelacht hat und dann haben Noah und Anni dafür gesorgt, dass wir dafür keine Probleme kriegen. So ungefähr ist es gelaufen.
 

Bin ich mit Julius befreundet, wenn ich heute vielleicht – und hoffentlich – gemeinsam mit ihm sein Abi gerettet habe? Noah, Anni, Lotta und ich hatten schon immer gemeinsam, dass wir auf die eine oder andere Art anders und Außenseiter waren. Julius ist kein Außenseiter und deswegen habe ich solche Schwierigkeiten damit mir vorzustellen, dass so jemand mit mir befreundet sein möchte.
 

Aber die letzten Wochen waren… nett. Am Anfang war es schrecklich, aber jetzt…? Die Wahrheit ist, dass ich gerne noch mehr Star Trek mit Julius schauen und seine Fragen dazu beantworten würde. Sogar die Nachhilfe ist nicht so schlimm, wie ich ursprünglich gedacht hatte. Julius hat mich singen gehört und mir im Gegenzug dazu ein Geheimnis verraten. Geheimnisse sind nicht für irgendwelche Leute, die man beknackt findet.
 

Mein Gehirn wird sich bald verknoten, wenn das so weiter geht.
 

Als mein Handy vibriert, zucke ich heftig zusammen und greife hastig danach.
 

»Haben heute keine Hausaufgaben auf. Kann ich trotzdem vorbeikommen?«
 

Ich schaue auf die Uhr. Der Schultag ist eindeutig noch nicht vorbei.
 

»Wie war die Klausur?«, schreibe ich und lösche die Worte dann sofort wieder. Wenn Julius über die Klausur reden will, dann wird er selber davon anfangen. Obwohl das Schweigen diesbezüglich kein gutes Zeichen ist, wie ich finde.
 

»Klar.«
 

Ich überlege.
 

»Es sind immer noch Chips übrig«, füge ich hinzu.
 

Ich beobachte mein Handy, ob Julius antwortet, aber nach einer Minute hat er noch keine Anstalten gemacht zu schreiben und ich lege gerade das Handy beiseite, als es an der Tür klingelt. Ich blinzele. Dann schaue ich noch mal auf mein Handy. Wahrscheinlich ist es die Post. Oder irgendein Nachbar. Ich kaue nervös auf meiner Unterlippe herum. Ans Handy gehen und die Tür öffnen, wenn man nicht weiß, wer es ist, sind zwei Dinge, die ich normalerweise nicht tue. Aber da ich das eine heute schon gemacht habe, könnte ich mich ja vielleicht auch dazu durchringen…
 

Ich fluche leise und stehe auf, gehe zur Tür und atme ein paar Mal tief durch, dann betätige ich den Türöffner und warte. Es dauert nicht lange, bis ein mir bekannter blonder Haarschopf auftaucht. Julius sieht aus, als hätte er eine ganze Woche nicht geschlafen. Seine Augenringe sind so dunkel, dass ich kurz die Luft anhalte und mich frage, ob er vielleicht letzte Nacht tatsächlich keinen Schlaf bekommen hat.
 

»Ist Politik ausgefallen?«, frage ich ohne Begrüßung, weil mir nichts Besseres einfällt. Ich trete zur Seite, um Julius einzulassen.
 

»Nee. Ich schwänze«, sagt er unumwunden.
 

Fun fact: ich habe noch nie in meinem Leben Schule geschwänzt, weil ich zu viel Angst davor habe, dass es rauskommt. Wen wundert das, wo ich sowieso vor allem Angst habe. Hmpf.
 

»Ok«, sage ich und schließe die Tür hinter Julius. Er steht ein wenig unschlüssig im Flur herum und ich muss unweigerlich daran denken, dass ich Lotta, Noah oder Anni jetzt definitiv umarmen würde. Es geht Julius wahrscheinlich nicht besonders gut. Dann wiederum weiß ich auch, dass andere Freundeskreise nicht regelmäßig Kuschelhaufen auf großen Betten bilden und von dort einfach zwei Stunden nicht aufstehen und sich währenddessen über Gott und die Welt unterhalten.
 

Die Vorstellung davon, mit Julius kuschelnd auf einem Bett zu liegen, treibt mir einfach nur die Hitze ins Gesicht und ich wünsche mir, dass meine Haut ein noch dunkleres Braun wäre, dann würde Julius mir nicht ansehen, dass ich peinlich berührt bin.
 

»Ich hab ausgerechnet, dass ich mindestens sieben Punkte haben muss, damit ich fünf Punkte auf dem Zeugnis schaffe«, murmelt Julius, während er wie ein verlorener Welpe in meinem Flur steht. Ich atme einmal tief durch und gehe zu ihm herüber und nehme ihm kurzerhand den Rucksack von der rechter Schulter, über der er locker hängt. Julius mustert mich erstaunt und ich stelle den Rucksack neben meine Zimmertür.
 

»Jetzt kannst du erst mal nichts mehr dran ändern«, murmele ich. Ich hab gut reden. Ich bin der König des obsessiven Nachdenkens, wenn ich an Dingen eh nichts mehr ändern kann. Aber gut, das heißt ja nicht, dass ich nicht im rationalen Teil meines Gehirns weiß, dass es eigentlich schwachsinnig ist.
 

»Ich hab die ganze Nacht Vokabeln und Verben gelernt«, sagt Julius und seine Stimme klingt so klein, dass der Impuls ihn zu umarmen schwer zu unterdrücken ist. Dazu kommt wahrscheinlich auch mein eigenes Verlangen nach einer Umarmung. Oder auch zehn. Um ehrlich zu sein, würde ich wahrscheinlich in Tränen ausbrechen, wenn jemand mich jetzt umarmt, weil es schon so lange her ist und das wäre in dieser Situation garantiert kontraproduktiv.
 

»Hast du gar nicht geschlafen?«, frage ich. Er schüttelt den Kopf. Kein Wunder, dass er eine halbe Panikattacke gekriegt hat. Übermüdeter Blackout und so großer Druck würden wahrscheinlich jeden in die Knie zwingen.
 

»Möchtest du jetzt schlafen?«, frage ich. Er blinzelt und schaut mich an. Ich zupfe an seinem Jackenärmel und er öffnet den Reisverschluss von seiner Jacke und drückt sie mir zögerlich in die Hand. Dann kickt er seine Schuhe von den Füßen und sie landen neben seinem Rucksack, als wäre er schon tausendmal hier gewesen und würde sich wie zu Hause fühlen. Mein Brustkorb zieht sich schmerzlich dabei zusammen.
 

Ich schubse meine Zimmertür auf und er schlurft wie ein Zombie hinein.
 

»Wenn Herr Rosenheim dir keine sieben Punkte gibt, kann ich ihn immer noch mit dem Wissen erpressen, dass er Erotikliteratur auf Französisch liest, wenn alle mit Stillarbeit beschäftigt sind und er vergisst, dass ich besseres Französisch spreche als er«, erkläre ich beiläufig und Julius‘ Kopf dreht sich zu mir, seine Augen geweitet und sein Mund leicht geöffnet. Ich grinse.
 

»Das ist ja ekelhaft«, flüstert er und sieht aus, als müsste er sich bei dem Gedanken an seinen Französischlehrer mit schmutziger Literatur in der Hand gleich übergeben. Ich nicke.
 

»Ich meine, nichts gegen schmutzige Literatur, aber in der Schule muss es ja nun wirklich nicht sein«, gebe ich gelassen zurück. Julius wird rot wie die Tomaten, die ich heute Morgen geschnippelt habe und vielleicht war das zu viel für sein übermüdetes Gehirn, denn er lässt sich auf mein Bett fallen und starrt mit großen Augen an die Decke.
 

»Leg dich längs hin. Oder weißt du etwa nicht, wie man ein Bett anständig benutzt?«
 

Julius schnaubt, widerspricht aber erstaunlicherweise nicht und legt sich längs in mein Bett. Ich könnte schwören, dass er seinen Kopf dreht und an meinem Kopfkissen riecht, aber wahrscheinlich bilde ich mir das ein. Ich greife nach meiner Bettdecke, schmeiße sie über ihn – inklusive seines Kopfes – und er taucht glucksend darunter auf und sein Gesicht sieht nicht mehr ganz so eingefallen aus wie vorher.
 

Ich setze mich an den Schreibtisch und tue so, als würde ich ihn gar nicht beachten.
 

»Sicher, dass das ok ist?«, murmelt er. Er klingt jetzt schon, als wäre er halb eingeschlafen. Ich drehe den Kopf und sehe ihn an. Es gucken nur seine Nase, Augen und der blonde Haarschopf unter meiner Decke hervor.
 

»Wer so hart gearbeitet hat, darf ein Nickerchen machen«, sage ich und kann mir das beinahe liebevolle Lächeln nicht verkneifen, das meine Mundwinkel nach oben biegt. Julius schaut mich aus halb geschlossenen Augen an.
 

»Ok. Danke.«
 

Es dauert keine Minute, dann ist Julius‘ Atem gleichmäßig geworden und ich betrachte ihn eine Weile lang, ehe ich über mich selbst den Kopf schüttele, mir Kopfhörer aufsetze und mich meinem Laptop zuwende.

Anständige Freunde

Als ich aufwache, ist mir wahnsinnig heiß und es riecht gut. Mein Gehirn braucht einen Moment, um aufzuwachen und als ich die Augen aufmache und leicht den Kopf drehe, wird mir klar, wo ich eigentlich bin.
 

Ich bin in Taminos Bett eingeschlafen.
 

Tamino sitzt immer noch am Schreibtisch, genau dort, wo er vorhin schon gesessen hat, als ich eingeschlafen bin. Er fummelt an seiner Unterlippe herum und scheint irgendwas zu lesen und dabei hat er auf seinem Stuhl eine sehr merkwürdige Sitzhaltung eingenommen, die ich für absolut ungemütlich halte. Seine ewig langen Beine sind irgendwie in eine Art verkrumpelten Schneidersitz verknotet und ich hab keine Ahnung, wie er sich überhaupt so biegen kann.
 

Während ich ihn mustere und meine Gehirnzellen nacheinander aufwachen, wird mir klar, dass der Geruch, den ich als so angenehm empfinde, Tamino sein muss. Weil ich in seinem Bett liege und das Kissen nach ihm riecht. Nach Shampoo und… Tamino. Was auch immer das für ein Geruch ist. Ich presse die Lippen aufeinander, schließe die Augen wieder und rutsche etwas tiefer unter die Decke, damit Tamino nicht sehen kann, dass meine Wangen aussehen wie eine Ampel.
 

Ich hab doch nicht mehr alle Tassen im Schrank.
 

Und er auch nicht, wenn er mich in sein Bett verfrachtet und mich zudeckt und mir sagt, dass ich schlafen soll und so tut, als wäre das total normal, dass man einfach bei irgendwem im Bett einpennt, weil man sich miserabel fühlt.
 

Dann wiederum ist Taminos normal einfach so weit von meinem entfernt, dass es genauso gut sein könnte, dass er das normal findet. Mein Herz macht einen peinlichen und mir absolut unverständlichen Salto.
 

Ich hätte vorhin schwören können, dass er mich umarmen wollte. Aber er hat nur an meinem Jackenärmel gezupft und mir den Rucksack abgenommen. Trotzdem ist mir heiß geworden. Ich hab keine Ahnung, was eigentlich los ist, ich weiß nur, dass Tamino sich mir gegenüber anders verhält, als andere Leute das tun und das verwirrt mich.
 

Und er lächelt so selten. Wahrscheinlich kriege ich deswegen jedes Mal einen Herzklabaster, wenn er mich angrinst, weil es so ungewohnt auf seinem Gesicht aussieht. Das muss es sein. Als ich ihn das erste Mal hab lachen hören, dachte ich, ich muss mich verhört haben. Sein Lachen passt irgendwie zu ihm. Es ist leise und recht unauffällig aber ziemlich… angenehm? Es war vor ein paar Tagen, als wir die erste Folge Star Trek geschaut haben und ich etwas aufgeregt geworden bin, weil ich einen Klingonen erkannt habe.
 

Ich glaube, ich hab etwas durchblicken lassen, dass ich leicht vor den Kopf gestoßen war, als er gelacht hat. Da sah Tamino direkt wieder aus, als würde er sich gerne irgendwo vergraben. Ups. Ich sollte dran arbeiten meine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bekommen, damit er mich nicht dauernd anguckt wie ein verschrecktes Kaninchen.
 

Generell schaut er sehr oft wie ein verschrecktes Kaninchen.
 

Er ist ein seltsamer Kauz.
 

Ich öffne die Augen erneut und beobachte ihn weiter. Er hat aufgehört an seiner Unterlippe herumzufriemeln und jetzt schmunzelt er. Es war eine blöde Idee wieder hinzuschauen. Ugh. Wenn er das öfter machen würde, dann müsste ich mich nicht unter einer Bettdecke verstecken, weil mein Gesicht mittlerweile die Temperatur von einer Herdplatte angenommen hat, auf der man Nudeln zu kochen gedenkt.
 

Angriff ist in diesem Fall sicher die beste Verteidigung. Ich setze mich auf und reibe mir die Augen. Keine Ahnung, wie lange ich geschlafen habe, aber es geht mir definitiv besser als vorhin, als ich in Taminos Flur stand und mir sicher war, dass ich jeden Moment einfach aus den Latschen kippen könnte. Ich frage mich immer noch, wie er das macht, wenn er selten gut schläft und manchmal sogar mehrere Nächte hintereinander wach ist.
 

Ich frage mich erstaunlich viele Dinge über Tamino, dafür, dass ich vor ein paar Wochen kaum jemals auf ihn geachtet habe, wenn Lehrer sich nicht gerade vor Begeisterung über ihn fast in die Hose gemacht haben. Er würde das wahrscheinlich leugnen, aber es passiert dauernd.
 

»Das ist wirklich beeindruckend, Tamino.«
 

»Sie haben einfach ein tolles Gespür für Sprachen, Tamino.«
 

»Ich habe selten so einen durchdachten Aufsatz gelesen, Tamino.«
 

Bald passiert es wahrscheinlich, dass irgendwer von den Lehrern »Ich muss sie heiraten, und wenn es das letzte ist, was ich tue, Herr Wilke« zu ihm sagt. Wundern würde es mich nicht. Dann wiederum habe ich in den letzten Wochen festgestellt, dass er tatsächlich genauso beeindruckend ist, wie die Lehrer immer sagen. Das war zuerst wahnsinnig ärgerlich, dann war es total entmutigend und jetzt… jetzt ist es nur noch ein bisschen entmutigend und vor allem… naja. Eben beeindruckend.
 

»Geht’s dir besser?«, fragt Tamino, nachdem er gesehen hat, dass ich im Bett sitze. Ich nicke und fahre mir durch die Haare. Mein Zopfgummi hat sich gelöst und ich taste blindlings im Bett herum, bis ich es gefunden habe und meine Locken wieder in einen Zopf verbannen kann.
 

»Wie spät ist es?«, will ich wissen.
 

»Kurz nach vier«, sagt Tamino nach einem kurzen Blick auf seinen Bildschirm. Ich starre ihn an.
 

»Ich hab fast fünf Stunden gepennt?«, sage ich entgeistert. Tamino zieht ein wenig die Schultern hoch und lächelt unsicher.
 

»Du sahst echt groggy aus, ich wollte dich nicht wecken«, murmelt er.
 

Ich gebe ein undefinierbares Geräusch von mir und schiebe die Bettdecke von mir. Ich muss dringend aufs Klo und mein Magen knurrt so laut, dass Tamino es definitiv hört. Toll. Schnelles Aufstehen, nachdem ich seit gestern Abend nichts mehr gegessen habe, war keine gute Idee und ich habe nicht nur einen kleinen Blackout – ist ja nicht das erste Mal heute – sondern auch ein Dejà-vu, als zwei Arme mich davor bewahren, einen Abgang zu machen.
 

»Ich besorg dir eben was zu trinken«, murmelt Tamino viel zu dicht bei meinem Ohr und ich finde mich wieder auf der Bettkante wieder. Wo Tamino mich hingesetzt hat. Wieso hat er so viel Kraft in den Oberarmen, wenn er verdammt noch mal keinen Sport macht? Und wieso kann es mit ihm nicht so sein, wie mit anderen normalen Kerlen, die einen einfach abschmieren lassen, wenn einem schwarz vor Augen wird, und die dann lachen, weil man sich gemault hat?
 

Ugh.
 

Tamino kommt mit einer Flasche Fanta zurück und hält sie mir hin. Ich starre die Flasche an, dann Tamino.
 

»Ähm…«, sagt er und sieht sofort wieder nervös aus. »Du trinkst in der Schule immer Fanta? Ich hab auch Wasser. Oder Saft? Wir haben Apfelsaft und…«
 

Ich drehe die Flasche auf und blinzele ihn an. Am Rand meines Sichtfeldes ist es noch ein bisschen wie Ameisenlaufen im Fernsehen, aber es geht wieder etwas besser und ich setze die Flasche an und trinke mehrere große Schlucke hintereinander. Er weiß, was ich gerne trinke.
 

»Danke«, sage ich und schaffe ein schiefes Grinsen. Er lächelt unsicher zurück und fährt sich durch sein kurzes schwarzes Haar. Er steht gleichzeitig mit mir auf, als würde er erwarten, dass ich direkt wieder zusammen klappe, aber diesmal geht alles gut und ich werde einmal mehr daran erinnert, dass Tamino beknackte zehn Zentimeter größer ist als ich. Er ist insgesamt schmaler als ich und mit seinen Fanshirts und der Brille sieht er wirklich wahnsinnig nerdig aus.
 

Ich schaffe es ohne Zwischenfälle aufs Klo und habe Cems Stimme in meinem Kopf, der mich amüsiert schmunzelnd ansieht.
 

»Du hörst diese Sprachnachrichten zum Einschlafen und auf dem Weg zur Schule und zum Training. Dude… das ist super gay. Und seit wann guckst du überhaupt Star Trek? Ich dachte, du findest Star Trek lahmarschig?«
 

Cem ist sowas wie mein bester Kumpel. Er macht den Kapitän im Team, wenn ich nicht da bin und wir spielen jetzt schon seit vielen Jahren zusammen Fußball. Ich hab ihm nicht wirklich von Tamino erzählt, aber wenn ich es getan hätte, würde er genau sowas sagen. Ich starre in den Spiegel überm Waschbecken.
 

Was kann ich dafür, wenn Tamino eine total angenehme Stimme hat, die einen so richtig in den Schlaf lullen kann? Vor allem, wenn sie von eher langweiligen Dingen wie Felix Krull erzählt – wobei ich zugeben muss, dass selbst Felix spannend werden kann, wenn Tamino davon redet. Dafür, dass er so schweigsam ist, hat er das mit dem Reden echt drauf.
 

Das mit dem Singen war zwar eine Überraschung, aber dann wiederum hätte ich überraschter sein können. Er singt echt gut.
 

Und ich sollte definitiv aufhören, über ihn nachzudenken und dabei in den Spiegel zu starren. Generell sollte ich einfach viel weniger über ihn nachdenken. Kein Problem.
 

Ich wasche mir die Hände und das Gesicht und gehe zurück in Taminos Zimmer. Er ist nicht mehr da und ich höre es in der Küche klappern. Ich folge den Geräuschen und finde Tamino dort im Kühlschrank herumkramend.
 

»Ich geh heute Abend noch auf eine Party«, sage ich, lehne mich gegen den Türrahmen und mustere ihn. Er zuckt beim Klang meiner Stimme zusammen, als hätte ich ihn angeschrien und ich mache mir eine mentale Notiz, mich nicht an ihn heranzuschleichen. Er ist generell super schreckhaft. Der Vergleich mit dem Kaninchen bleibt haften.
 

»Willst du mitkommen?«
 

Tamino dreht sich um und blinzelt verwirrt. Ich erinnere mich daran, wie er mich gefragt hat, ob er geheim ist. Tatsächlich hab ich keinem Schwein außer Marina erzählt, dass ich Nachhilfe kriege – und sie hätte es ohnehin Spitz bekommen, vor allem, da sie und Tamino nach ungefähr drei Sekunden best buddies geworden sind. Aber es nicht so, dass er mir irgendwie peinlich wäre. Mir ist nur einfach mein eigenes Versagen peinlich.
 

Ich hab nicht so den Bock mich von Leuten darüber aufziehen zu lassen, dass ich zu dämlich bin, um zum Abi zugelassen zu werden.
 

Nein danke.
 

»Ähm…«, sagt Tamino und friemelt an seinen Fingern herum. Obwohl er so groß ist, sieht er irgendwie klein aus. Vor allem, wenn er so nervös ist. »Nee danke. Ich… ich steh nicht so auf Partys.«
 

Wer hätte das gedacht?
 

»Ok. Kein Ding. Vielleicht nächstes Mal.«
 

Ich glaube nicht, dass er seine Meinung irgendwann ändern wird. Wenn er sich schon mit gegenüber so verhält, wie er es meistens tut, ist er vermutlich nicht so wild drauf, mit nem Haufen fremder Leute auf irgendeiner Party rumzuhängen. Wahrscheinlich trinkt er auch keinen Alkohol. Würde mich zumindest nicht wundern.
 

Ha, ich werd mich heute Abend sowas von abschießen. Diese beknackte Französischklausur hat mir echt den Rest gegeben. Ich fiebere schon dermaßen den Sommerferien entgegen und ich werde mindestens drei Wochen lang keine einzige Vokabel ansehen.
 

»Danke, dass du mich eingeladen hast«, sagt Tamino sehr sehr leise und ich verpasse die Worte beinahe, weil er sich auch wieder zum Kühlschrank umgedreht hat. Der Typ macht mich fertig. Lass dir nichts anmerken, Juls.
 

»Kein Ding«, sage ich noch mal. Wow, Juls. Ich bin sicher, Tamino ist total beeindruckt von deiner Eloquenz.
 

»Möchtest du… Pfannkuchen? Oder… äh…«
 

»Alter, du musst nichts für mich kochen«, platzt es aus mir heraus und jap, da ist es wieder. Hitze im Gesicht. Wahrscheinlich bin ich verfrüht in die Wechseljahre gekommen. Fuck my life.
 

»Ich hab auch noch nichts gegessen seit dem Frühstück. Pfannkuchen?«
 

»Ok.«
 

Ich hab keine Ahnung, wie man Pfannkuchen macht, aber Tamino sieht aus, als hätte er es schon fünfhundert Mal getan. Ich lehne mich gegen die Küchentheke und beobachte, wie er Eier, Milch und Mehl in einen Becher füllt und anfängt, darin herumzurühren.
 

»Wir haben Nutella, Marmelade, Zimt und Zucker… oder wenn du lieber… also, wir haben auch Tomaten und Käse und sowas?«
 

Er starrt sehr konzentriert auf den Teig, als wäre das Quirlen eine Aufgabe, die seine ganze Konzentration in Anspruch nimmt. Ich beobachte seine Unterarme. Habe ich schon mal irgendwann irgendjemandes Unterarme beobachtet? Wahrscheinlich nicht. Aber Tamino hat die Ärmel hochgekrempelt und… ich hätte definitiv nichts dagegen diese Unterarme anzufassen.
 

»Nutella«, sage ich mit einem Grinsen und Tamino schaut auf und sieht mich an. Dann schiebt er seine Brille ein Stück nach oben und lächelt ein wenig.
 

»Ich auch.«
 

Um mich abzulenken, fange ich wahllos an in den Küchenschränken herumzuwühlen, um zwei Teller und Besteck zu besorgen, während Tamino sorgfältig Teig in die erhitzte Pfanne gießt, um nacheinander mehrere sehr perfekt aussehende Pfannkuchen zu braten. Natürlich. Tamino würde niemals einen verkorksten Pfannkuchen braten.
 

Ob er schon mal irgendwann in seinem Leben irgendwas so richtig verschissen hat? Eine Sechs in Physik oder ein ertappter Diebstahl oder so viel Alkohol, dass er irgendwem auf die Schuhe gekotzt hat? Wahrscheinlich nicht.
 

Wir essen jeder drei Pfannkuchen mit jeder Menge Nutella und da ich jetzt geschlafen und gegessen hab und die Französischklausur in halbwegs weiter Ferne liegt, geht es mir ungefähr hundert Mal besser als heute Morgen. Mein Handy klingelt in meiner Hosentasche und ich sehe Marinas Namen auf dem Display, nachdem ich es hervorgekramt habe.
 

»Jo«, melde ich mich.
 

»Lebst du noch?«
 

»Jap. Hab Politik geschwänzt und bin bei Tamino eingepennt. Wir haben grad Pfannkuchen gegessen.«
 

Eine kurzes Schweigen antwortet mir.
 

»Wow.«
 

Ich bin nicht ganz sicher, wie ich das deuten soll. Also ignoriere ich es einfach.
 

»Ich geh nachher noch zu Lennard, willst du mitkommen?«
 

»Bin mit Linda verabredet.«
 

»Kannst sie ja mitbringen.«
 

»Klar, damit deine Fußballkollegen sich kollektiv einen auf uns runterholen. Ich bin doch nicht bekloppt«, entgegnet Marina mit einem Schnauben und ich hüstele leise.
 

»Wenn es dich beruhigt, ich würde deine und Lindas Ehre verteidigen«, versichere ich ihr.
 

»Danke, Bruderherz. Aber nein danke. Ich sag Mama, dass du nicht irgendwo besoffen im Graben liegst. Zumindest noch nicht. Grüß Tamino und Cem von mir. Die einzig netten Freunde, die du hast.«
 

»Hey!«
 

Marina lacht gehässig und legt auf. Ich grummele leise und stecke das Handy zurück in die Hosentasche. Dann sehe ich zu Tamino auf, der sehr diskret dabei ist, mich nicht zu beobachten.
 

»Grüße von Marina«, richte ich auf. Bei diesen Worten lächelt er tatsächlich und ich bin kurz neidisch, dass Marina es innerhalb von drei Sekunden geschafft hat, ein normales Gespräch mit Tamino zu führen. Vielleicht sollte ich noch mehr Star Trek schauen, dann kann ich auch mitreden, ob Spock und Kirk quasi verheiratet sind.
 

»Danke.«
 

»Sie sagt außerdem, dass du und Cem die einzigen anständigen Freunde seid, die ich habe«, informiere ich ihn. Taminos Gesicht verwandelt sich in Zeitlupe von Verwirrung zu Panik hin zu abgrundtiefer Verlegenheit.
 

»Oh. Ähm… ich–«, stammelt er und ich beobachte, wie seine braune Haut einen ziemlich dunklen Rotton annimmt. Warum hab ich das auch laut gesagt? Ich Besen.
 

Ich stelle unsere Teller zusammen und räume sie fraglos in die Spülmaschine.
 

»Hast du noch Zeit für eine Folge Star Trek, bevor ich mich besaufen gehe?«, erkundige ich mich und versuche, meine Verlegenheit herunterzuschlucken.
 

»Findest du es nicht blöd?«, fragt Tamino sehr leise und er sieht immer noch wahnsinnig nervös aus.
 

»Bislang nicht«, gebe ich zurück und grinse ihn an, um zu verschleiern, dass ich gerade vor Verlegenheit sterbe, weil ich meine Klappe nicht halten kann. Herzlichen Glückwunsch, Juls.
 

Immerhin schaffe ich es durch eine weitere Folge Star Trek – mit Chips, die Tamino noch übrig hat – ohne mich total zum Deppen zu machen und als ich mich von Tamino verabschiede, sieht er an der Tür so aus, als würde er irgendwas sagen wollen, aber letztendlich beißt er sich nur auf die Unterlippe und hebt die Hand zum Abschied.
 

»Viel Spaß auf der Party«, sagt er und lächelt ein kleines bisschen. Ich grinse zurück und zeige mit beiden Daumen auf mich selbst.
 

»Ich werd mir ordentlich einen hinter die Rübe kippen. Bis ich alle Französisch-Vokabeln vergessen hab.«
 

Er schüttelt amüsiert den Kopf.
 

»Dann musst du sie über die Ferien alle neu lernen«, warnt er. Ich schnaube.
 

»Manchmal muss man dumme Sachen machen«, erkläre ich.
 

»Ich werde versuchen, diese Weisheit zu beherzigen«, gibt er zurück. Ich frage mich, was Tamino unter dumme Sachen verbuchen würde. Dann hebe ich ebenfalls die Hand zum Abschied und mache mich den Weg die Treppe hinunter.

Bierbekenntnisse

Ich bin sowas von dicht.
 

Lennards Zimmer hat sich zwischendurch schon etwas um sich selbst gedreht, deswegen bin ich nach mehreren Spielen Bierpong erst mal auf Wasser umgestiegen. Jetzt dreht es sich zwar nicht mehr, aber ich hab diese Zeitlupensicht, bei der das Gehirn immer ein wenig länger braucht als normal, um den Augen zu folgen, nachdem man den Kopf gedreht hat.
 

»Ich glaub ich muss atmen gehen«, erkläre ich Cem, der neben mir hockt und zufrieden an einer Zigarette zieht.
 

»Du atmest schon, Alter«, informiert er mich. Er ist definitiv auch dicht.
 

»Ich meine draußen, du Vollhorst.«
 

»Dude, sei nett zu mir!«
 

»Pff, sei kein Weichei. Na los, dann gehen wir atmen!«
 

Cem ist kleiner als ich, aber dafür breiter gebaut. Im Gegensatz zu mir geht er ins Fitnessstudio und er hievt mich trotz seines Pegels ziemlich mühelos auf die Beine, legt meinen Arm um seine eigenen Schultern und manövriert uns beide durch das Zimmer Richtung Balkon.
 

»Verpiss dich, Markus«, sagt er, als wir dort ankommen. Ich glaube, Markus hat gerade über die Balkonbrüstung gekotzt. Ich grinse. Markus versucht Cem einen Mittelfinger zu zeigen, aber er erwischt seinen Ringfinger, was mich sehr zum Lachen bringt. Was für ein Spaten. Aber er verzieht sich nach drinnen, woraufhin Cem die Balkontür hinter uns zu macht und mich auf einen der Liegestühle schubst. Ich lande unelegant darin und schnaufe.
 

»Alter, willst du, dass ich dich vollkotze?«
 

»Wie an Silvester?«
 

»Boah ey!«
 

Ich bin empört, dass Cem mir das immer noch vorhält. Es ist mindestens zwanzig Jahre her. Naja. Vielleicht zwei. Und es waren auch nur seine Schuhe, es hätte schlimmer sein können. Es waren nicht mal schöne Schuhe.
 

Ich strecke die Beine aus und schließe die Augen.
 

»Wie war die Klausur heute?«
 

»Dude, ich versuche hier zu feiern!«
 

»Sorry. Hab versucht sensibel zu sein.«
 

»Hat nicht geklappt, Wichser.«
 

Cem lacht bestens gelaunt, fragt aber nicht weiter nach. Wir hängen eine Weile lang schweigend auf den Liegestühlen, dann mache ich die Augen wieder auf.
 

»Ich hab Nachhilfe«, erkläre ich. Sprechen ist schon ziemlich schwierig geworden, aber ich hätte nichts gegen noch ein Bier.
 

»Worin?«
 

»In allem.«
 

»Wow, Dude. Das ist ja scheiße. Hast du wenigstens ‘ne heiße Nachhilfelehrerin?«
 

Meine Gedanken schweifen zu Tamino und ich verschlucke mich an meiner eigenen Spucke. Cem lacht ziemlich dumm und hört sich dabei so besoffen an, dass ich direkt mit lachen muss. Was für ein Pfosten.
 

»Tamino gibt mir Nachhilfe«, erkläre ich, bevor ich mich noch in unlauteren Gedanken verirre.
 

»Tamino?«
 

»Der Typ, mit dem der Rosenheim immer auf Französisch quatscht.«
 

»Naja, keine heiße Schnitte, aber heiß genug, denk ich.«
 

Ich setze mich langsam auf, beuge mich vor und starre Cem an. Er zieht schon wieder – oder immer noch? – an einer Kippe und sieht mich mit hochgezogenen Brauen an.
 

»Was?«, frage ich stumpf. Cem zuckt mit den Schultern und bietet mir die Zigarette an. Ich bin voll genug, um sie zu nehmen, auch wenn ich sonst eigentlich nicht rauche. Dafür, dass Cem Sportler ist, hält ihn das von nichts ab, was seiner Gesundheit abträglich ist.
 

»Na du weißt schon. Er sieht auch ziemlich scharf aus. Oder reden wir nicht von dem schwarzen Spargeltarzan mit Brille?«
 

»Doch. Der«, sage ich und starre Cem weiter an. Dann ziehe ich an seiner Zigarette und reiche sie ihm zurück. »Den findest du heiß?«
 

Cem schnaubt und nimmt die Kippe zurück. Ich brauche wirklich dringend noch ein Bier.
 

»Hab ich Augen, oder was?«
 

»Aber…«
 

»Aber? Alter, ich glaub du bist noch nicht voll genug für dieses Gespräch. Chill mal. Ich hol uns noch ‘n Bier.«
 

Und dann ist er weg und ich kann mir Gedanken darüber machen, ob Tamino heiß ist, oder nicht. Ich meine… Ich hab heute sehr intensiv seine Unterarme angestarrt. Und er riecht gut. Aber ich glaube nicht, dass ich vorher schon mal einen Typen heiß gefunden habe. Oder?
 

Ugh.
 

»Hier, ich hab ein Sixpack gefunden«, erklärt Cem und öffnet eine der Pullen mit den Zähnen. Wie immer, wenn er das macht, wenn ich gleichzeitig beeindruckt und verstört. Ich nehme die Flasche und leere sie bis zur Hälfte in wenigen Schlucken.
 

Cem nimmt sich auch noch eins, öffnet auch dieses mit den Zähnen und haut seine Flasche gegen meine.
 

»Also… du findest Kerle heiß«, sage ich langsam. Cem verdreht die Augen.
 

»Alter, es gibt super viele heiße Leute auf der Welt. Ich kann mich jedenfalls nicht festlegen.«
 

»Warum weiß ich das nicht?«, will ich wissen. Ich sehe wahrscheinlich ziemlich empört aus, denn Cem lacht mich ungefähr fünf Minuten lang aus, bevor er noch mehr Bier trinkt, seine Beine übereinander und schaut hoch in den Himmel.
 

»Hast bislang nicht gefragt. Ist ja eigentlich auch ‘n bisschen egal.«
 

»Aber… Dude! Alle wissen, dass du Carina und Merle und Elli scharf findest! Und keine Sau weiß, dass du Tamino scharf findest!«
 

Cem zuckt noch mal mit den Schultern.
 

»Fußball ist halt ‘n schlechter Ort, um darüber rumzublöken, dass Tamino scharf ist«, erklärt er erstaunlich nüchtern, dafür, dass er immer noch ziemlich doll lallt. Wahrscheinlich hat er recht. Eigentlich bekloppt, wenn man darüber nachdenkt, dass beim Fußball jede Menge schwitzige Kerle auf dem Rasen rumlaufen, sich dauernd begrabbeln und sich nach einem erfolgreichen Torschuss gegenseitig in die Arme fallen, als hätten sie sich gerade das Ja-Wort gegeben.
 

Ich denke daran, wie Marina gesagt hat, dass Cem und Tamino die coolsten Freunde sind, die ich habe. Ob sie das über Cem gewusst hat? Vielleicht erkennt sie sowas in anderen Leuten? Ist das ein dummer Gedanke? Ich könnte schwören, dass ich mal das Wort Gaydar gehört hab. Aber vielleicht hab ich mir das auch gerade ausgedacht?
 

Wahrscheinlich. Weil ich super hacke bin.
 

»Ok«, sage ich langsam und trinke den Rest meiner Bierflasche aus. Cem reicht mir seine Kippe, greift nach einem neuen Bier und öffnet es für mich.
 

»Dude, hast du vor deswegen jetzt komisch zu werden?«, fragt Cem misstrauisch und tauscht seine Kippe gegen mein neues Bier.
 

»Was? Nein, Alter! Ist mir doch scheißegal, wen du geil findest!«
 

Er grinst zufrieden mit der Zigarette zwischen den Lippen. Ich nehme an, Cem sieht eigentlich auch nicht allzu schlecht aus. Er trägt meistens ein Cap – und zwar meistens falschrum – sieht eigentlich bei allem lässig aus, was er tut, hat jede Menge Muskeln und ziemlich beeindruckende Wangenknochen.
 

Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich über die Wangenknochen von irgendwem nachdenke. Die Mischung aus Nikotin und Alkohol scheint meinem Hirn nicht zu bekommen. Ich nehme trotzdem noch einen Schluck Bier und angele nach der Zigarette in Cems Mund.
 

»Was für Kerle findest du noch gut?«, will ich wissen. Cem hat seine Zigarette aufgegeben. Er zündet sich schlichtweg eine neue an und steht auf. Einen Moment lang denke ich, dass er keinen Bock mehr auf das Gespräch hat, aber dann sehe ich, dass er nur die Balkontür zuhalten will und Markus auslacht, der mehrmals versucht sie zu öffnen und es nicht gebacken kriegt.
 

Ich hoffe, er kotzt jetzt nicht mitten in Lennards Zimmer. Ich denke darüber nach, einen Blick über die Balkonbrüstung zu werfen, aber bei meinem Pegel fall ich dann wahrscheinlich aus dem zweiten Stock in den Garten.
 

Nope.
 

»Daniel. Levi. Adnan. Micha.«
 

Cem hält weiterhin die Tür zu, während er aufzählt.
 

»Micha?«, frage ich entgeistert und ein Bild von einem Bulldoggengesicht mit Stoppelhaar schiebt sich vor mein inneres Auge. »Was zur Hölle?«
 

»Nicht der Micha! Der aus meinem Physikkurs! Boah, Alter!«
 

»Ich glaub den kenn ich nicht…«
 

»Bestimmt. Er ist der Typ, der aussieht wie’n Feuermelder. Ist auch in meinem Mathe-LK.«
 

Ich verenge die Augen zu Schlitzen.
 

»Ok, stehst du auf Nerds?«
 

»Hey! Daniel ist kein Nerd!«
 

Daniel ist in der Tat kein Nerd. Er ist unser Torwart und ich bin mir ziemlich sicher, dass er Nerds für eine Amphibienart hält, wenn man ihn danach fragt. Ich denke an Daniels breites Grinsen, seine Grübchen und sein beeindruckend breites Kreuz. Hm.
 

Nee.
 

»Warum genau führen wir diese Unterhaltung noch mal?«, fragt Cem und lässt endlich die Tür los, woraufhin Markus wegen seiner Öffnungsversuche nach hinten stolpert und sich prompt aufs Maul legt. Cem und ich lachen die nächsten fünf Minuten darüber, wie Markus im Schildkrötenstil auf dem Rücken paddelt, um wieder auf die Beine zu kommen. Vielleicht ist er sogar noch dichter als ich.
 

Dumpf kommt mir der Gedanke, dass Tamino auf dieser Art von Feier wahrscheinlich keinen Spaß gehabt hätte. Ich könnte schwören, dass ich prompt ein bisschen nüchterner werde. Ich krame nach meinem Handy.
 

»Weil du Tamino scharf findest«, informiere ich ihn.
 

»Pscht!«, zischelt Cem ungehalten und schnipst vor lauter Empörung seinen Zigarettenstummel nach mir.
 

»Sorry!«
 

Ich werfe einen Blick auf mein Handy. Ein paar neue Nachrichten, aber keine davon kommt von Tamino. Das erste Mal, dass er mir von sich aus geschrieben hat, war heute Morgen vor der elenden Französisch-Klausur.
 

Oh Gott, ich bin in seinem Bett eingepennt.
 

Er hat mich verdammt noch mal zugedeckt!
 

Wenn Cem das wüsste…
 

»Alter, drehst du da gerade am Rad, weil ich bi bin?«, erkundigt sich Cem misstrauisch, nachdem er sich wieder auf seinen Liegestuhl gesetzt hat. Ich blinzele und schüttele den Kopf. Nope. Ich drehe nur innerlich ein wenig ab, weil ich vielleicht schon irgendwie ein kliztekleines bisschen verstehen kann, wieso er Tamino…
 

»Nimm noch ein Bier«, sagt Cem und unterbricht dankenswerterweise meinen Gedankengang. Ich nehme noch eins. Sprechen wird zunehmend schwieriger. Wer weiß, vielleicht kotze ich Markus gleich noch hinterher, direkt über die Brüstung. Die Nachbarn freuen sich morgen bestimmt. Ich grinse bei dem Gedanken daran.
 

Ich habe noch ungefähr dreihundert Fragen. Seit wann weiß Cem das schon? Wie hat er das gemerkt? Glaubt er, dass unsere Mannschaft ihn komisch angucken würde?
 

»Du siehst auch nicht allzu übel aus«, sagt Cem grinsend zu mir und ich blinzele, dann lache ich.
 

»Arschloch«, gebe ich zurück. Cem gluckst.
 

»Ich fasse es nicht, dass ich nach Micki auf der Liste stehe!«
 

»Micha! Alter! Wie hacke bist du?«
 

»Ziemlich hacke«, informiere ich ihn.
 

Cem schweigt eine Weile und wir lauschen den Geräuschen von drinnen. Ich glaube, Lennard und Kai versuchen gerade irgendein Gedicht aus Grundschulzeiten aufzusagen und bei jedem Fehler einen Shot zu trinken. Vielleicht sollte ich bald nach Hause gehen, bevor das hier in irgendwas Ekliges ausartet.
 

Cem mustert mich eine Weile lang und ich frage mich gerade, ob er darüber nachdenkt, mich vielleicht doch über Micha auf der Liste zu platzieren. Aber anscheinend gehen seine Gedanken in eine andere Richtung.
 

»Findest du ihn auch scharf?«
 

»Was? Micha? Nein!«
 

»Nicht Micha, du Vollpfosten! Deinen Nachhilfelehrer!«
 

»Nein!«
 

Cem zieht eine Augenbraue hoch. Wenn ich nicht so voll wäre, würde ich wahrscheinlich rot werden.
 

»Er sieht ganz ok aus«, füge ich hinzu. »Denke ich. Keine Ahnung.«
 

Cem schnaubt und verdreht die Augen, sagt aber weiter nichts dazu. Er leert sein Bier und steht dann auf, wobei er erstaunlicherweise nur leicht wobbelt und sich nicht mal an der Brüstung festhalten muss.
 

»Ich mach mich jetzt auf die Socken«, sagt er. Ich versuche, mich aus dem Liegestuhl hochzuhieven und bin dabei nicht so erfolgreich wie Cem. Zweimal falle ich wieder nach hinten, während mein bester Kumpel mich auslacht. Dann reicht er mir seine Hand und zieht mich auf die Beine.
 

»Arschloch«, sage ich ohne Biss. Er haut mir so heftig auf den Rücken, dass ich fast nach vorne über kippe. Gut, dass ich nicht mit Fahrrad gekommen sind, sondern einfach zu Fuß. Kein Problem. Laufen. Easy-peasy.
 

»Alter, kann ich dich überhaupt allein gehen lassen?«
 

Ich gebe ein undeutliches Murren von mir, dass so viel bedeuten soll wie »Red keinen Scheiß, man, ich komm schon irgendwie sechs Straßen weiter.«.
 

Wir stolpern halb, drängeln halb durch das volle Zimmer und Cem legt sich beinahe auf die Schnauze, weil er über Markus fällt, der rücklings im Flur liegt und anscheinend eingeschlafen ist. Cem verabschiedet sich mit einer halben Umarmung bei mir, dann geht er – oder vielleicht besser: torkelt er – in die entgegengesetzte Richtung, in die ich gehen muss.
 

Aber ich glaube, ich muss erst noch ein bisschen mehr atmen, bevor ich losgehen kann. Ein Blick auf mein Handy verrät mir, dass es halb drei ist und dass Tamino mir auch weiterhin nicht geschrieben hat. Was mich natürlich kein bisschen wundert oder stört.
 

Ich starre sehr konzentriert den Button an, den man drücken muss, um Sprachnachrichten aufzunehmen. Ich glaube, ich hab noch nie eine verschickt. Nicht mit Absicht, zumindest. Ich hab mich nur mal auf den Button gesetzt und dann an Marina eine Sprachnachricht mit einem Ausschnitt aus dem Politikunterricht geschickt, was welterschütternd langweilig war und auch zu einem sehr viel ungünstigeren Zeitpunkt hätte passieren können.
 

Ich grinse verschwommen bei der Erinnerung daran und drücke auf den Button, bevor ich mich in Bewegung setze. Gut, dass der Fußweg so breit ist.
 

»Heeeey, wahrscheinlich schläfst du schon. Ich geh grad nach Hause. Mehr Slalom als alles andere… heh.«
 

Mir fällt fast das Handy aus der Hand und ich schaffe es gerade noch so, es aufzufangen. Gut, dass kein Schwein in der Nähe ist.
 

»Mein bester Kumpel findet dich jedenfalls scharf. Hat er gesagt. Scharf. Waren seine Worte. Kennst du den überhaupt? Cem? Spielt Mittelfle… Mittelfeld. Mit mir zusammen. Fußball, meine ich. Ich bin ganz schön hacke. Musste die Klausur ertränken, hat ganz gut geklappt. Aber es ist komisch, dass Cem dich scharf findet. Und warum wusste ich das vorher nicht? Er findet auch Micki aus Physik scharf. Also, er findet auch Frauen gut. Merle. Kennst du Merle? Kennst du überhaupt irgendwen? Ah, sorry, das war kacke formil… formuliert. So war’s nicht gemeint. Du bist cool und so. Ja. Danke, dass ich in deinem Bett pennen durfte. Hab ich schon erzählt, dass Mari meint, du seist ein anständiger Freund? Wir sollten Freunde sein. Volles Brett. Ich guck auch noch mehr Star Trek. Vielleicht singst du ja noch mal was. Ich bin sonst nicht so richtig mit Nerds und Strebern befreundet. Ich glaub die finden mich auch dumm? Findest du mich dumm? Ich meine, im Vergleich zu dir bin ich super dumm. Ha… boah, mir ist ziemlich schlecht… ich glaub, ich setz mich noch mal kurz hin…«
 

Ich lehne mich an eine Hauswand und lasse kurz das Handy sinken, um konzentriert zu atmen und nicht auf den Gehsteig zu kotzen. Wahrscheinlich würde es mir besser gehen, wenn ich tatsächlich kotzen würde. Im besten Fall, bevor ich nach Hause komme, damit meine Mutter nichts mitkriegt.
 

Ich hebe das Handy wieder zum Mund.
 

»Was für Leute findest du scharf? Hey, wenn du Cem scharf findest, kann ich euch bekannt machen. Ach… nee… du hast ja deine… wie heißt die eigentlich? Die Schnecke von Skype? Die mit den Locken. Für die du gesungen hast. Alter, das war echt… du hast echt… ja. Du singst gut. Phew. Noch drei Straßen bis nach Hause. Was ich eigentlich meinte, was für… andere Leute findest du scharf? So… generell Rothaarige? Wie deine Freundin? Oder auch… keine Ahnung. Ich mag… keine Ahnung. Was ich eigentlich scharf finde. Huh. Ich meine, du… ah… Wie auch immer. Da hinten ist ein Mülleimer. Ich glaub, ich sollte wirklich… Ugh. Schlaf gut, Nerd.«
 

Der Mülleimer ist letztendlich doch zu weit weg und ein wahlloser Vorgarten muss herhalten. Ups. Ich wische mir mit dem Ärmel über den Mund und gucke auf mein Handy. Es dauert ganze dreißig Sekunden, bis mein Hirn verarbeitet hat, wieso nur eine Sprachnachricht im Verlauf zu sehen ist und sie nur ein paar Sekunden lang ist.
 

Ich hab den Button verfehlt.

friendship 101

Wenn man morgens aufwacht und am Abend vorher viel Alkohol getrunken hat, schmeckt es im eigenen Mund immer ein bisschen so, als wäre da über Nacht ein kleines Tier rein gekrabbelt und verreckt. Ugh. Mein erster Gang ist ins Bad und ich stoße mich ausgesprochen unelegant an der Türklinke meines Zimmers, bevor ich dort ankomme und unter die Dusche wanke.
 

Da ist definitiv noch eine Menge Restalkohol im System, auch wenn es Dank des Übergebens nicht so mies ist, wie es sein könnte. Der Digitalwecker im Bad sagt mir, dass es viertel nach elf ist. In der Küche höre ich meine Mutter klappern und leise zum Klang des Radios mitsingen. Unter dem heißen Wasser erwachen meine Lebensgeister ein wenig mehr und als ich ungefähr fünf Minuten lang meine Zähne geputzt und meinen Mund ausgespült habe, geht es mir ein bisschen besser und ich stecke meinen Kopf in die Küche. Marina sitzt am Küchentisch und knabbert an einem Stück Kohlrabi, während meine Mutter anscheinend mit der Vorbereitung zum Mittagessen beschäftigt ist.
 

»Na? Wieder unter den Lebenden?«, sagt Mari mit einem breiten Grinsen. Ich strecke ihr die Zunge raus und setze mich neben sie. Meine Mutter hält sich nicht mit solchen Floskeln auf, sie kommt sofort zur Sache:
 

»Wie war die Klausur gestern?«
 

Ich sacke sofort ein wenig in mich zusammen. Das hebt meine Stimmung für den Rest des Tages nicht unbedingt, aber ich hole tief Luft und zucke mit den Schultern.
 

»Kann ich schlecht einschätzen… hatte zuerst nen Blackout. Und dann… naja. Ich hab auf jeden Fall überall was hingeschrieben«, murmele ich. Mari sieht mich mitleidig an. Meine Mutter verengt die Augen ein bisschen.
 

»Ist doch gut, dass du aus dem Blackout rausgekommen bist«, sagt Mari und lächelt mich aufmunternd an. Ich zucke mit den Mundwinkeln, kriege allerdings kein erwiderndes Lächeln gebacken.
 

»Ja, Tamino hat… eh… geholfen«, sage ich und setze mich neben Mari, auch wenn ich eigentlich lieber in mein Zimmer flüchten würde. Dann wiederum bringe ich das Verhör durch meine Mutter lieber jetzt hinter mich, als dass sie mich später in meinem Zimmer aufsucht und ich dann ohne Maris Unterstützung mit den Fragen leben muss.
 

Ich erinnere mich an Taminos Stimme, die leise auf Französisch mit mir gesprochen hat. Natürlich hab ich nur ungefähr die Hälfte verstanden, aber es hat die Sprache etwas weniger gruselig gemacht. Aus Taminos Mund ist sie definitiv nicht gruselig. Nope.
 

Meine Mutter runzelt verwirrt die Stirn.
 

»Ich dachte, Tamino ist krank?«
 

»War er. Ich hab ihn… äh… vom Klo aus angerufen?«
 

Ich sehe Mari aus dem Augenwinkel blinzeln. Meine Mutter schnaubt empört.
 

»Wenn du erwischt worden wäre es, dann wären das bestimmt null Punkte geworden!«, klagt sie.
 

»Tamino ist ran gegangen?«, fragt Mari und klingt erstaunt. Ich sehe sie verwirrt an.
 

»Ja? Hey, so scheiße findet er mich nun auch wieder nicht!«
 

Sie verdreht die Augen.
 

»Das meine ich nicht! Ich weiß nur, dass er… naja. Er telefoniert nicht so gerne«, erklärt sie. Sehr mysteriös. Ich ignoriere den merkwürdig schleimigen Wurm in meiner Magengegend, der sich unangenehm windet, weil meine Schwester mehr über Tamino weiß, als ich, obwohl ich derjenige bin, der von ihm Nachhilfe bekommt. Ich beschließe den inneren Verräter dark Juls zu nennen und ihn später ordentlich zu verhören.
 

»Bekommst du nicht auch nächste Woche Deutsch und Bio zurück?«, will meine Mutter wissen. Natürlich war das Verhör noch nicht zu Ende. Ich unterdrücke ein Seufzen und friemele an einem Brotkrümel auf der Tischplatte herum.
 

»Jap.«
 

»Aber du hast ja gesagt, dass Deutsch ganz gut gelaufen ist, oder?«, sagt Mari und wirft unserer Mutter einen ungnädigen Blick zu, den diese geflissentlich ignoriert und sich ein Stück Kohlrabi in den Mund schiebt. Ich meine… ich hasse diese Art von Verhör, aber ich muss auch daran denken, dass Taminos Vater sich nicht mal dafür interessiert, dass sein Sohn auf dem Weg zum Klo abklappt, weil es ihm so dreckig geht.
 

»Ja, ich glaub schon. Taminos Sprachnachrichten haben geholfen«, gebe ich zurück. Mari lächelt auf eine Art und Weise, die mich irgendwie nervös macht.
 

»Was für Sprachnachrichten?«, will meine Mutter wissen. Gerade, als ich Luft holen und antworten will, erscheint Linda im Türrahmen. Sie hat ein Handtuch als Turban gewickelt auf dem Kopf und scheint direkt hinter mir ins Bad geschlichen zu sein. Linda ist eine hoffnungslose Langschläferin, selbst wenn sie relativ früh im Bett war. Sie trägt ein langes Nachthemd mit einem Wonder Woman Motiv darauf und auf ihren Socken sind Katzenpfoten.
 

»Hey Juls«, sagt sie mit einem müden Lächeln. Ich hebe die Hand zum Gruß. Linda hat ein rundes Gesicht mit riesigen, braunen Augen. Ihre Brille hat sie noch nicht aufgesetzt und ich wechsele meinen Platz am Tisch, damit Linda neben Mari sitzen kann. Sie kommt der Einladung sofort nach und die beiden drücken sich einen Kuss auf den Mund, bevor Linda sich auf dem Stuhl in einen Ball verwandelt und die Augen schließt. Meine Mutter mustert die beiden einen Augenblick lang amüsiert, dann wendet sie sich wieder mir zu.
 

»Was für Sprachnachrichten?«, fragt sie erneut. Ich bin nicht sicher, wie ich meiner Mutter erklären soll, dass Tamino mehrere Stunden seines Lebens darauf verwendet hat, Sprachnachrichten aufzunehmen, weil ich besser lerne, wenn ich den Stoff hören kann, statt ihn zu lesen.
 

»Tamino hat für Julius in Deutsch und Bio stundenlange Sprachnachrichten aufgenommen, damit Juls sich die wichtigsten Sachen vom Stoff noch mal anhören kann«, erklärt Mari gut gelaunt und legt einen Arm um Linda. Die beiden sind so zuckrig, es ist nicht zu fassen. Ich merke allerdings, wie ich bei dieser Beschreibung rot anlaufe. Meine Mutter sieht aus, als hätte sie sich vielleicht verhört.
 

»Stundenlang? So viel Arbeit hat der Junge sich gemacht?«
 

»Aww, das ist ja total süß«, nuschelt Linda. Verräterin.
 

»Hat er dir nicht auch letzte Woche vor der Klausur noch geholfen, obwohl er krank war?«, will Mari scheinheilig wissen. Meine Mutter sieht schockiert aus.
 

»Julius! Das musst du mir doch sagen! Er bekommt schließlich Geld dafür!«
 

»Ach, mach dir keinen Kopf, Mama. Er legt nicht wirklich Wert auf das Geld«, erklärt Mari mit einer wegwerfenden Handbewegung. Es hat ja nicht gereicht, dass ich über meine Klausuren verhört werde, nein. Jetzt muss ich auch noch ein schlechtes Gewissen haben, weil ich mir nicht genau notiert habe, wie viele Stunden Zeit Tamino auf mich Volldeppen verwendet hat.
 

»Und seit wann kennst du ihn eigentlich so gut?«, maule ich Mari und erkenne meinen Fehler eine Millisekunde zu spät. Meine Schwester legt den Kopf schief und mustert mich mit einem amüsierten Funkeln in den Augen.
 

»Wieso? Stört es dich?«, stichelt sie. Ich gebe ein paar undefinierbare Geräusche von mir. Linda grinst mit geschlossenen Augen und meine Mutter sieht einfach nur verwirrt aus. Sie fragt allerdings nicht weiter nach.
 

»Wie auch immer, sag Tamino, dass er dir die Stunden aufschreiben soll, die ich ihm noch nicht bezahlt habe«, meint sie und ich habe das Gefühl, dass ich das Verhör jetzt endlich überstanden habe. Es hätte schlimmer sein können. Ich hieve mich von meinem Stuhl und gehe hinüber zum Toaster, um zwei Scheiben darin zu versenken. Eigentlich würde ich direkt wieder ins Bett gehen.
 

Zwei Stunden später höre ich Linda im Flur »Tschüss, Juls!« rufen und einen Moment später geht die Wohnungstür auf und wieder zu. Es dauert keine drei Sekunden, da klopft es bei mir und nach einem missmutigen »Ja« von mir öffnet sich meine Zimmertür und Mari kommt herein. Sie hat eine kuschelige Haushose an und ein Shirt, auf dem in großen Buchstaben »He’s dead, Jim« steht.
 

Ich habe mich tatsächlich einfach wieder in mein Bett verkrochen und meinen Fernseher eingeschaltet, auch wenn ich nicht wirklich hinsehe. Mari wirft sich neben mich aufs Bett und schaltet den Fernseher aus.
 

»Wie war die Feier?«, will sie wissen. Ich gebe ein Schnaufen von mir, woraufhin sie mich in die Seite knufft und ein kurzes Gerangel zwischen uns entsteht. Mari gewinnt – zweifellos wegen des Restalkohols in meinem Blutkreislauf – und wickelt mich in einen festen Deckenburrito, woraufhin ich mich nicht mehr rühren kann und nur noch mein Kopf heraus schaut.
 

»Gut. Markus hat über den Balkon gekotzt. Ich hab zu viel Bier getrunken. Cem findet Tamino scharf«, zähle ich die wichtigsten Ereignisse des Abends auf. Mari blinzelt.
 

»Was?«
 

»Er findet Tamino scharf. Also, auch Michi und Daniel und… äh… ja. Cem ist bi. Hat er mir gesagt.«
 

»Und hat er dir gesagt, dass es kein Problem ist, dass du das irgendwem erzählst?«, will Mari wissen. Sie hat offenbar den Kern meiner Botschaft noch nicht verarbeitet, wenn sie sich damit aufhält.
 

»Nicht direkt, er meinte, dass Fußball nicht so der beste Ort ist, um–«
 

»Juls! Du kannst doch nicht einfach rumlaufen und das Leuten auf die Nase binden!«, sagt Mari empört. Ich blinzele.
 

»Hä?«
 

»Man outet andere Leute nicht, wenn sie nicht gesagt haben, dass es ohnehin kein großes Geheimnis ist oder sie vor allen anderen auch geoutet sind!«
 

Ich klappe meinen Mund zu.
 

»Oh«, sage ich kleinlaut. Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Ich meine, es ist Mari. Aber so insgesamt hat sie natürlich schon Recht. Sie schüttelt streng den Kopf und seufzt.
 

»Naja, ich bins ja nur. Aber trotzdem!«, meint sie und legt sich neben mich ins Bett. Ich rücke ein Stück, um ihr Platz zu machen. »Über mich kannst du das jedem erzählen.«
 

Ich grummele in mein Kissen. Das wusste ich schon. Es gibt wohl auch jemanden, dem ich erzählen könnte, dass meine Schwester stockenlesbisch ist, dem sie es nicht schon selbst erzählt hat. Sie ist sehr offensiv damit. Ich denke daran, wie Cem noch mal nachgefragt hat, ob ich jetzt vorhabe, deswegen komisch zu sein. Das heißt ja auch, dass er sich nicht hundertprozentig sicher war, ob ich es nicht seltsam finden würde. Und das, obwohl wir jetzt seit gut sechs Jahren beste Kumpels sind.
 

Das muss ja schrecklich sein.
 

Aber er hat es mir gesagt. Mit jeder Menge Alkohol. Es klang alles so lässig, aber vielleicht wollte er es mir ja auch schon länger sagen und hat nur keine Gelegenheit gefunden?
 

»Hast du es Tamino auch schon gesagt, wo ihr doch jetzt best buddies seid?«, murmele ich in mein Kissen. Ein längeres Schweigen antwortet mir und als ich den Kopf drehe, um zu prüfen, ob Mari eingeschlafen ist, sieht sie mich mit einem recht merkwürdigen Blick an. Ich bin nicht sicher, was dieser Gesichtsausdruck bedeuten soll.
 

»Mein WhatsApp Status ist ‚Move, I’m gay‘, Juls«, sagt sie dann mit einem sehr nüchternen Tonfall und ich merke, wie meine Wangen heiß werden. Achja.
 

»Wirst du mir jetzt sagen, warum du so maulig darüber bist, dass ich mich mit deinem Nachhilfelehrer gut verstehe? Er ist echt nett!«
 

Ich ziehe mir mein Kissen über den Kopf, damit ich mich mit der Frage nicht auseinander setzen muss. Maulig, ha. Das ist ja wohl etwas übertrieben. Mari zieht mir das Kissen weg und es entsteht ein weiteres Gerangel. Ich ziehe wieder den Kürzeren und jetzt sitzt Mari mit ihrem vollen Gewicht auf meinem Rücken und ich pfeife aus dem letzten Loch.
 

»Runter!«, röchele ich und flapse mit den Armen wie ein Fisch auf dem Trockenen.
 

»Erst, wenn du mir sagt, was das Problem ist!«, fordert sie und hobbelt ein wenig auf und ab. Ich würde sie sehr gerne treten. Außerdem weiß ich selber nicht so richtig, was eigentlich das Problem ist und wenn sie weiter so auf meiner Wirbelsäule herum wackelt, breche ich wahrscheinlich einfach in der Mitte durch. Dann muss ich immerhin die Frage nicht beantworten.
 

»Du bist eifersüchtig«, sagt Mari.
 

Ich gebe ein Geräusch von mir wie ein sterbendes Walross und Mari beschließt, dass sie mich genug gequält hat und lässt sich seitlich von meinem Rücken gleiten, ehe sie sich wieder aufs Bett legt.
 

»Red keinen Unsinn«, schnaufe ich angestrengt und drehe mich so schnell wie möglich auf den Rücken, damit sie sich nicht noch mal darauf setzen kann. Mari sieht mich mit einem breiten Grinsen an, als wüsste sie ganz genau, wie heiß mir gerade geworden ist und wie sehr ich selbst nicht wirklich gecheckt habe, was eigentlich das Problem ist, bis sie es laut ausgesprochen hat.
 

»Es ist nur… ich hab jetzt wochenlang mit ihm rumgehangen und er kriegt immer noch regelmäßig das P in die Augen, wenn ich irgendwas sage und ich weiß überhaupt nichts über ihn! Und du hast drei Sekunden mit ihm geredet und plötzlich seid ihr Busenfreunde? Ich hab nie Probleme mich mit irgendwem anzufreunden!«, sage ich empört und ignoriere, dass meine Wangen sich anfühlen, als könnte man Spiegeleier darauf braten.
 

Wann ist es schwierig geworden, Freundschaften zu schließen. Normalerweise ist das ganz einfach. Man lacht drei oder viermal zusammen über irgendeinen Lehrer, haut sich gegenseitig kumpelhaft auf den Rücken und trifft sich zum Fußballspielen oder zum Saufen. Spätestens wenn man den anderen fürs Kotzen ausgelacht hat, ist man quasi befreundet. So einfach ist das!
 

»Ok, aber hast du dabei bedacht, dass Tamino ein wahnsinnig schüchterner Nerd ist und so beliebte Sportlerkerle wie du normalerweise seine natürlichen Fressfeinde sind?«
 

Ich blinzele ein paar Mal langsam.
 

»Ähm… Fressfeinde?«
 

»Juls, ich liebe dich sehr, aber sei ehrlich: Hast du dich nicht vielleicht auch ab und an mal über ihn lustig gemacht, bevor du ihn kennen gelernt hast, weil er nur Einsen in der Schule schreibt und alle Lehrer ihn vergöttern?«
 

Mari sieht mich sehr streng an und ich schrumpfe ein wenig auf dem Bett zusammen. Ok, vielleicht hab ich ab und an mal darüber gelacht, dass Taminos Hand bei jeder Frage in die Luft schießt, egal um welches Thema es geht. Und dass Lehrer sich mit ihm unterhalten, als wäre er einer von ihnen. Und darüber, dass er bei fast jeder Klausur noch mal extra erwähnt wird, weil er die volle Punktzahl bekommen hat. Manchmal sogar mit Extrapunkten.
 

»Und außerdem«, fährt Mari unbarmherzig fort, während ich mich fühle, als wären ihre Worte eine Dampfwalze, die über mich hinweg rollt, »funktionieren deine üblichen Kumpelmethoden bei Tamino nicht. Er wird sich kaum davon beeindrucken lassen, wie viel Bier du auf ex trinken kannst und was für tolle Fallrückzieher du machst.«
 

»Hey! Ich mache wirklich großartige Fallrückzieher!«, gebe ich schwach zurück. Mari verdreht die Augen.
 

»Ich weiß. Sie sehen aus, als wärst du ein junger Gott. Aber erstens hat Tamino das noch nie gesehen und zweitens… also… es tut mir leid, aber ehrlich gesagt ist das, was ihr als ‚Männerfreundschaft‘ bezeichnet auch ein Witz und kommt der eigentlichen Definition von Freundschaft nicht sehr nahe. Über Cem können wir da ja noch mal reden, aber deine ganzen anderen Heinis sind doch gar nicht wirklich deine Freunde. Das sind irgendwelche Bekannte, mit denen du saufen gehst und Fußball spielst und wenn ihr irgendwann mal nicht mehr zusammen zur Schule geht, werdet ihr euch innerhalb von drei Wochen vergessen haben.«
 

Ich verschränke die Arme vor der Brust.
 

»Achja? Und was ist falsch an Saufen und Fußballspielen?«, brumme ich.
 

»Nichts. Aber ehrlich, angenommen du würdest morgen ins Krankenhaus eingeliefert werden und bräuchtest jemanden, der Hausaufgaben für dich mitschreibt und der dich mehrmals die Woche besuchen kommt und dir vielleicht auch neue Klamotten zum Wechseln bringt, würde dann einer deiner Kollegen auftauchen? Wenn ich morgen krepiere und es dir echt schlecht geht deswegen, mit wem von diesen Kerlen würdest du dann darüber reden? Vor wem würdest du dich so richtig ausheulen? Wem von denen erzählst du deine Geheimnisse – und tu nicht so, als hättest du keine? Mit welchem davon kannst du über Gott und die Welt reden und bei welchem bist du dir sicher, dass du mit einem amputierten Bein immer noch der King wärst, auch wenn du dann keine Fallrückzieher mehr machen kannst?«
 

Ich starre sie an.
 

»Du würdest das machen«, sage ich dann leise. Sie lächelt mich an und wuschelt mir durch meine Haare.
 

»Ja, würde ich. Und auch nicht nur, weil wir Geschwister sind – es gibt auch genug Leute, die ihre Geschwister richtig kacke finden. Aber du bist schon auch mein bester Freund.«
 

Ich habe das dringende Bedürfnis meine Schwester zu drücken und dann nicht weiter über dieses Thema nachzudenken. Immerhin kann ich sagen, dass ich nach diesen Kriterien nicht vollkommen versagt habe, wenn es um Tamino geht, schließlich hab ich ihm eine ganze Woche lang Hausaufgaben gebracht und sogar Medikamente besorgt. Dumpf frage ich mich, ob er das auch für mich machen würde. Aber es ist wahrscheinlicher, dass er davon ausgeht, dass meine anderen Freunde das für mich machen. Und ich bin nicht sicher, welcher meiner Kumpels – vielleicht mit Ausnahme von Cem – wirklich Bock hätte, das für mich zu tun.
 

Wahrscheinlich keiner.
 

»Das ist die richtige Art Freundschaft für Tamino«, endet Mari ihren Vortrag und drückt ihren Zeigefinger kurz auf meine Nase.
 

»Aber… ich hab keine Ahnung… ich kann überhaupt nichts anderes als saufen und Fußball spielen!«, sage ich empört und Mari lacht leise und schüttelt den Kopf.
 

»Es läuft doch schon recht gut. Das mit den Medikamenten war wirklich süß von dir!«
 

»Ich hab ihm auch schon ein Geheimnis erzählt«, murmele ich. Mari hebt die Augenbrauen.
 

»Ach?«
 

»Er weiß, dass ich nicht schwimmen kann.«
 

»Wow. Du möchtest wirklich, wirklich gerne mit ihm befreundet sein, was?«
 

Ich grummele und verstecke mein Gesicht wieder im Kissen. Das ist doch bekloppt. Ich hatte noch nie ein so dringendes Bedürfnis mit irgendwem befreundet zu sein, weil ich immer Freunde hatte. Wieso also will ich jetzt plötzlich, dass Tamino mir vertraut und mir von sich erzählt und wir uns nicht nur für Nachhilfe treffen und… Ugh.
 

»Das solltest du ihm sagen. Wahrscheinlich glaubt er’s nicht, weil du so ein beliebter Hecht bist und er so ein Außenseiter«, meint Mari und streckt sich. Dann steht sie aus meinem Bett auf und sieht zu mir herunter.
 

»Ich bin doch nicht mehr im Kindergarten! Man sagt nicht einfach ‚Ich will dein Freund sein‘!«
 

Mari lacht und geht zur Tür.
 

»Kannst es ja irgendwie cooler formulieren. Ich hab ihm das jedenfalls gesagt. Ich glaube, meine Worte waren in etwa… ‚Du bist echt cool, ich fänds toll, wenn wir Freunde werden könnten‘. So in die Richtung. Ich glaub an dich, Bruderherz!«
 

Und mit einem letzten amüsierten Zwinkern ist sie aus meinem Zimmer verschwunden und lässt mich mit all meiner Verlegenheit zurück.

Ein guter Tag zum Sterben

Tamino schläft wieder schlecht.
 

Als ich ihn am Montag auf dem Weg zum Klassenzimmer sehe, hat er Augenringe bis zu den Knien und seine Augen sind ziemlich rot. Außerdem zuckt er dauernd bei lauten Geräuschen zusammen und ich erinnere mich an das eine Mal in Bio, als er auf dem Tisch eingepennt ist und mir anschließend vor Schreck einen Kinnhaken verpasst hat. Oder zumindest sowas Ähnliches.
 

Anscheinend hat seine Grippe ihm alles an Schlaf abverlangt und jetzt hat er nichts mehr übrig. Nicht, dass ich ihn danach gefragt hätte, nein. Nach meiner Unterhaltung mit Mari am Samstag habe ich mich nicht noch mal getraut, Tamino zu schreiben. Vor allem, nachdem ich die Sprachnachricht entdeckt habe, die ich ihm besoffen geschickt habe, was unweigerlich zu einer schwammigen Erinnerung daran geführt hat, dass ich ihm eigentlich noch ganz andere Sprachnachrichten schicken wollte.
 

Meine Fresse.
 

Man sollte mir das Handy wegnehmen, wenn ich voll bin. Vielleicht bitte ich Cem nächstes Mal darum.
 

»Jo!«, kommt es von schräg hinten und Cem haut mir gönnerhaft auf den Rücken, ehe er sich im Klassenraum neben mich auf den Stuhl fallen lässt. »Wieder nüchtern?«
 

Ich schnaube.
 

»Arschloch«, sage ich. Er lacht zufrieden und wühlt in seinem Rucksack nach einer Flasche Eistee, die er prompt aufschraubt und ein paar große Schlucke zu sich nimmt. Ich bin sehr bemüht, nicht zu Tamino hinüber zu starren. Tamino, den Cem scharf findet.
 

Wer denkt, dass ich darüber noch nicht so wirklich hinweg gekommen bin, hat Recht.
 

Sobald der Gedanke wieder in meinem Kopf ist, fällt mir auf, dass Cem Tamino ansieht. Ich folge seinem Blick und sehe, dass Tamino mit dem Oberkörper auf der Tischplatte liegt, die Augen geschlossen und die Arme verschränkt, um seine Wange darauf abzulegen.
 

»Lass die Hose oben, Casanova«, sage ich und buffe Cem mit dem Ellbogen in die Seite. Cem lacht laut und nimmt mich in den Schwitzkasten, in dem ich immer noch feststecke, als Frau Lüske das Klassenzimmer betritt und mit dem üblichen dumpfen Klonk ihre tonnenschwere Ledertasche auf dem Lehrerpult abstellt.
 

Ich hatte total vergessen, dass wir die Deutschklausur heute zurück bekommen. Cem entlässt mich aus dem Schwitzkasten und ich muss meinen Pferdeschwanz neu binden, weil all meine Haare bei Cems Angriff daraus entwischt sind.
 

Taminos Kopf liegt immer noch auf der Tischplatte, als würde es ihn einen Scheißdreck interessieren, was Frau Lüske von ihm hält. Ich weiß, dass es nicht so ist, aber der Eindruck hinterlässt ein seltsames Kribbeln in meiner Magengegend.
 

»Guten Morgen!«, dröhnt Frau Lüske und reißt zuallererst alle Fenster weit auf. Dann schreitet sie zur Tafel und greift sich ein Stück Kreide. Zwei Sekunden später wird mir klar, dass sie gerade den Klassenspiegel anschreibt. Oh mein Gott. Was hab ich mir dabei gedacht, Deutsch als Leistungskurs zu wählen?
 

Als ich das nächste Mal zu Tamino hinüberschaue, blickt er mich direkt an. Ich blinzele ertappt und schaffe ein schiefes Grinsen. Er lächelt so matt und müde zurück, dass ich automatisch daran denke, ihm den Gefallen mit dem Zudecken zurückgeben zu wollen. Beinahe übersehe ich es, aber ich könnte schwören, dass er mir den schüchternsten nach oben gereckten Daumen zeigt, den ich je gesehen habe.
 

Ich brauche dringend einen Eimer kaltes Wasser. Mein Gehirn hat einen Hitzeschlag bekommen.
 

Meine Augen huschen zu dem Klassenspiegel und ich sehe mir einem sehr unguten Gefühl in der Bauchgegend, dass es vier Vieren und eine Fünf gibt. Frau Lüske knallt den Stapel Klausuren auf den Tisch, reibt kurz ihre Hände aneinander und fängt dann an, uns einzeln nach vorne zu rufen, um die Klausuren und unsere Zeugnisnoten mit uns zu besprechen. Mir wird schlecht.
 

»Alter, du siehst n bisschen grün aus«, zischelt Cem mir zu, während Anna-Lina nach vorne geht und sich zu Frau Lüske ans Pult setzt.
 

»Ich fühl mich auch n bisschen grün«, gebe ich zu. Cem bietet mir Eistee an, als würde mir das dabei helfen, keine Vier oder Fünf in Deutsch geschrieben zu haben.
 

Dummerweise steht der Name Timmermann ziemlich weit unten auf der Liste und ich mache mich geistig bereit dafür, hier vor Nervosität zu sterben, als Frau Lüske verkündet, dass sie abwechselnd von oben und unten Namen nehmen will.
 

Was bedeutet, dass Tamino direkt als nächstes dran ist, da er mit Wilke ganz unten auf der Liste steht. Das heißt, ich bin an sechster Stelle dran.
 

Fuck, fuck, fuck.
 

»Tamino, ich glaube, ich muss gar nichts mehr groß kommentieren«, höre ich Frau Lüske gedämpft zu Tamino sagen und sehe, wie sie ihm seine Klausur aushändigt.
 

»Ihre Aufsätze waren durch die Bank weg ausgezeichnet, Ihre mündliche Beteiligung trägt den Unterricht und das alles, nachdem Sie von einer anderen Schule hierhergekommen sind. Ich bin wirklich beeindruckt. Und dann stemmen Sie zusätzlich noch das Nachhilfeprojekt, das ich Ihnen aufgedrückt habe…«
 

Tamino sitzt stocksteif auf dem Stuhl vor Frau Lüskes Pult und friemelt an der unteren Papierkante seines Aufsatzes herum.
 

»Wissen Sie schon, was Sie nach dem Abitur mit einem Schnitt von 0,9 anfangen wollen?«
 

Ich hab keine Ahnung, ob es daran liegt, dass ich Tamino jetzt schon ein Weilchen beobachte, oder ob es für jeden so offensichtlich ist – Taminos Schultern versteifen sich noch mehr, wenn das überhaupt möglich ist. Er schüttelt kaum merklich den Kopf und ich sehe, wie Frau Lüskes begeisterter Gesichtsausdruck zu etwas Weicherem wird, das ich bei ihr noch nicht gesehen habe.
 

Wahrscheinlich ist sie insgeheim die Vorsitzende des Tamino-Fanclubs im Lehrerzimmer.
 

»Sie haben jedenfalls ausgezeichnete Arbeit geleistet«, sagt sie abschließend, bevor Tamino zurück zu seinem Platz geht und sich dort mit seinem Aufsatz niederlässt, um ihn in Ruhe durchzusehen. Ich frage mich, was es da durchzugehen gibt, wenn man immer 15 Punkte schreibt. Schnitt von 0,9.
 

Das ist doch nicht von dieser Welt.
 

Es geht weiter mit Lennard, dann Merle, dann Adnan und dann…
 

»Julius!«
 

Cem haut mir schon wieder auf den Rücken und ich zeige ihm meinen rechten Mittelfinger, ehe ich nach vorne schlurfe und mich auf dem Stuhl niederlasse, der vor Frau Lüskes Pult steht. Frau Lüske lächelt mich aufmunternd an und hält mir die Klausur entgegen.
 

Ich blättere mit bebenden Fingern bis zur letzten Seite und versuche dabei so gleichgültig wie möglich auszusehen, was mir vermutlich grandios misslingt. Und dann sehe ich die große, rote Zahl am Ende des Aufsatzes.
 

Es ist eine 10.
 

Ich starre die Zahl an, dann hebe ich den Blick und schaue Frau Lüske mit leicht geöffnetem Mund an.
 

»Das hievt Sie zusammen mit Ihrer mündlichen Beteiligung in den letzten Wochen und mit dem Referat nach Ostern auf insgesamt sieben Punkte. Sie und Ihr Nachhilfelehrer haben wirklich hervorragende Arbeit geleistet!«
 

Sieben Punkte auf dem Zeugnis. Ich kann es kaum fassen.
 

Ich drehe mich zu Tamino um, der den Kopf zwar wieder auf den Tisch gelegt hat, mich aber beobachtet. Ich halte beide Hände mit zehn ausgetreckten Fingern nach oben und wedele in Richtung Aufsatz und sein Gesicht hellt sich auf. Ich schmelze nur ein ganz kleines bisschen angesichts der Tatsache, dass er sich so offenkundig für mich freut.
 

Ich schnappe mir meinen Aufsatz, stehe auf und kann nicht umhin, breit zu Frau Lüske hinunter zu grinsen. Sie schmunzelt zufrieden zurück und ruft dann den nächsten Namen auf. Ich habe eigentlich das dringende Bedürfnis Cem zu Boden zu tackeln oder zumindest eine Siegerpose einzunehmen, aber sowas kann man im Unterricht schlecht bringen – am Ende kriege ich doch noch eine Note schlechter.
 

Das heißt, ich habe eine von drei Klausuren geschafft. Vor Bio muss ich nicht ganz so viel Angst haben. Es würden theoretisch sechs Punkte reichen, damit ich keinen Unterkurs kassiere und ich denke, das habe ich wohl geschafft. Und dann ist da noch Französisch. Ich habe noch nie mehr als vier Punkte in Französisch geschrieben. Das heißt, ich brauche sieben Punkte in der dritten Klausur. Und sieben Punkte in Französisch sind für mich ein Ding der Unmöglichkeit. Es war auch etwas viel von Tamino verlangt, sechs Jahre vernachlässigten Französischunterricht innerhalb von fünf Wochen aufzuholen.
 

Meine Freude angesichts der Deutschnote verfliegen beinahe sofort und ich stecke den Aufsatz in meinen Rucksack, ohne ihn noch einmal genauer anzuschauen.
 

Scheiße.
 

Die Zeit vergeht in großen Brocken. Ich kriege vom Rest der Deutschstunde kaum etwas anderes mit, als die Tatsache, dass Tamino so müde aussieht, als würde er jeden Augenblick durch seine Tischplatte schmelzen. Politik zieht komplett an mir vorbei und ich denke darüber nach, ob ich den Sportunterricht in der siebten und achten Stunde nicht vielleicht schwänzen will.
 

Mir ist schlecht, wenn ich an Französisch denke.
 

Letztendlich erwische ich Tamino nach der sechsten Stunde, als er schon auf dem Weg nach draußen ist. Er hat ja keinen Sportunterricht. Dumpf frage ich mich, wieso er vom Sportunterricht befreit ist. Vielleicht hat er ja Asthma.
 

»Gute Arbeit in Deutsch«, sagt Tamino und lächelt mich an. Er ist fast zehn Zentimeter größer als ich und manchmal vergesse ich das, weil er immer so ruhig und schüchtern ist.
 

»Danke«, sage ich. Ein kurzes Schweigen tritt ein und ich versuche nicht allzu sehr auf Taminos Augenringe und das rot unterlaufene Weiß seiner Augen zu achten. Hoffentlich legt er sich zu Hause noch mal aufs Ohr.
 

»Und… danke«, füge ich dümmlich hinzu. Tamino gluckst leise.
 

»Doppelt danke?«
 

»Naja. Danke fürs Gratulieren. Und danke für die Nachhilfe«, sage ich abwehrend und merke, wie mir heiß wird, weil ich mich zum Deppen gemacht habe.
 

»Kein Ding. Bio muss auch geklappt haben. Ich hab vorhin gehört, dass es keine Vieren und Fünfen in der Klausur gab. Also bist du da auch schon durch.«
 

»Oh. Cool. Danke«, sage ich noch mal und werde prompt rot im Gesicht. Scheiß helle Haut. Dann denke ich automatisch daran, dass Tamino trotz seiner braunen Haut auch manchmal rot wird.
 

Er lacht leise. Ich starre ihn an und könnte schwören, dass er gleich ein bisschen weniger müde aussieht. Tamino hat verflucht weiße Zähne.
 

»Ich glaube, ich schwänze Sport«, sage ich mit einem angestrengten Stöhnen und Tamino schnaubt. Dann zuckt er mit den Schultern. Zögert.
 

»Wir können ein Stück…«, beginnt er sehr leise, dann bricht er ab und sieht aus, als würde er sich am liebsten die Zunge abbeißen.
 

»Klar. Dann lass uns verschwinden, bevor Frau Heise mich im Vorbeischleichen erwischt«, gebe ich zurück und tue so, als wäre alles ganz normal. Tamino sieht sehr erleichtert darüber aus und ich hab das Gefühl, irgendwas richtig gemacht zu haben.
 

Als wir das Schulgebäude verlassen haben, atme ich auf. Am liebsten würde ich den Rest der Woche schlafen und nicht darüber nachdenken, was mit der beschissenen Französischklausur ist. Vielleicht habe ich noch die Möglichkeit, bei Herrn Rosenheim einzubrechen und Tamino ein paar Fehler korrigieren zu lassen, damit ich es auf sieben Punkte schaffe.
 

Wir gehen eine Weile schweigend nebeneinander her und ich versuche mich nicht allzu sehr in Französisch hineinzusteigern, was mir grandios misslingt. Also versuche ich es mit Reden, um mich abzulenken.
 

»Sorry für die besoffene Sprachnachricht«, blabbere ich drauf los. Tamino wirft mir einen amüsierten Blick zu.
 

»Kein Problem. Ich hatte das Gefühl, dass du vielleicht vom Knopf gerutscht bist?«
 

Ich hüstele peinlich berührt.
 

»Jap. Und ich musste zwischendurch kotzen«, gebe ich zu. Tamino schmunzelt.
 

»Dann hat es ja geklappt, die Klausur zu ertränken«, meint er. Ich nicke. Dann…
 

»Ich glaube, ich hab seit zwei Jahren nicht mehr von Alkohol gekotzt«, murmelt er. Ich blinzele.
 

»Du hast schon mal von Alkohol gekotzt?«, frage ich erstaunt. ‚Du trinkst Alkohol?‘ ist die Frage, die mir als nächstes auf der Zunge liegt, aber ich weiß nicht, ob es nicht vielleicht blöd ist, das zu fragen.
 

»Ziemlich oft«, gibt er zu und sieht verlegen aus.
 

»Oh«, sage ich und weiß nicht so richtig, wie ich diese Information in mein Tamino-Weltbild einarbeiten kann. Der Versuch scheitert.
 

»Mir war nicht klar, dass du ein Partyhengst bist«, sage ich breit grinsend und sehe gerade noch, wie er die Schultern hochzieht und die Hand zum Mund hebt. Er hat diese Angewohnheit, andauernd an seinen Fingernägeln oder der Haut drum herum zu knabbern. Ich hab jetzt schon vier Mal gesehen, wie es anfing zu bluten.
 

»Bin ich auch nicht so wirklich«, sagt er ausweichend und ich verfluche meinen blöden Kommentar und die Tatsache, dass wir an der Kreuzung angekommen sind, an der sich unsere Wege trennen. Taminos rechter Ringfinger hat angefangen zu bluten.
 

»Na dann… bis morgen«, sage ich und Tamino hebt die linke Hand zum Abschied, ehe er beide Hände in die Hosentaschen schiebt und dann rechts abbiegt. Ich sehe ihm einen Augenblick lang nach und frage mich, warum ich so mies in dieser Freundschaftsache bin, wenn ich mein Leben lang Freunde hatte.
 

Eine leise Stimme, die sehr nach Mari klingt, flüstert in meinem Hinterkopf: Weil Tamino anders ist, als deine anderen Freunde.
 

*
 

Der Dienstag vergeht in einem statischen Rauschen von Stress und Schiss davor, mein Abi nicht zu schaffen. Selbst wenn ich wie durch ein Wunder Französisch nicht unterpunkte, werde ich im nächsten Jahr mein komplettes Sozialleben auf Eis legen müssen, weil ich wie ein Bekloppter pauken muss. Und wenn meine Mutter darauf besteht, Tamino weiter für alles zu bezahlen, was er tut, dann sind wir wahrscheinlich bald pleite, weil ich für alles Hilfe brauche und nichts alleine geschissen kriege.
 

Warum bin ich damals nicht auf die Realschule gegangen?
 

Weil dein Vater ein Arschloch ist, der gesagt hat, dass du es auf dem Gymnasium eh nicht schaffen wirst, erinnert eine nüchterne Stimme in meinem Hinterkopf mich. Und weil deine Mutter ihn für dich rausgeworfen und gesagt hat, dass du das natürlich schaffst und er keine Ahnung hat, wozu ihr Sohn fähig ist.
 

Ugh.
 

Ich will zurück ins Bett.
 

Am Mittwochmorgen ist mir dermaßen schlecht, dass ich fast sicher bin, mich übergeben zu müssen. Ich habe nur drei Stunden geschlafen und frage mich zum wiederholten Male, wie Tamino durch seinen Tag kommt, wenn er selten gut und manchmal überhaupt nicht schläft. Ich frage mich, ob man das üben kann. Und dann frage ich mich, wie ich es meiner Mutter beibringen soll, wenn ich heute keine sieben Punkte zurückbekomme.
 

Ich erinnere mich an Taminos spaßhaften Vorschlag, Herrn Rosenheim mit seinen seltsamen Lesegewohnheiten zu erpressen und schaffe es mit diesem Gedanken bis zum Haupteingang. Ich bleibe wie ein Vollidiot dort stehen und starre die Türen an, als würden sie sich gleich auf mich stürzen und mich aufessen.
 

»Hey«, ertönt eine leise Stimme neben mir. Ich drehe den Kopf und sehe Tamino neben mir stehen.
 

»Hey«, krächze ich. Wir haben Französisch direkt in der ersten Stunde. Warum habe ich nicht schon vorher angefangen, mir für die Schule Mühe zu geben? Ich erinnere mich an das begeisterte Strahlen meiner Mutter, als ich ihr die zehn Punkte in Deutsch gezeigt habe. Der Drang, direkt vor der Schule auf den Rasen zu kotzen ist ziemlich überwältigend.
 

»Schlimm?«, fragt Tamino und ich erkundige mich nicht mal danach, was er meint. Ich weiß, was er meint. Und nicke.
 

»Einatmen«, meint er. Er steht direkt neben mir. Ich atme ein.
 

»Ausatmen.«
 

Ich atme aus. Einen Moment lang herrscht Stille.
 

»Heghlu’meH QaQ jajvam«, sagt er. Es klingt sehr merkwürdig und ich blinzele verwirrt.
 

»Das ist Klingonisch. ‚Heute ist ein guter Tag zum Sterben‘«, informiert Tamino mich. Ich erinnere mich daran, wie er auf keinen Fall Klingonisch vor mir sprechen wollte. Wenn ich Französisch gegen eine Klingonisch-Stunde bei Tamino eintauschen könnte, würde ich es sofort tun. Die Übersetzung entringt mir ein verzweifeltes Schnauben, das auch ein Lachen sein könnte.
 

»Ich fühle mich den Klingonen sehr verbunden«, sage ich trocken. Tamino lächelt ein kleines bisschen, dann zupft eine Hand sehr zaghaft an meinem Ärmel und mir wird klar, dass das Tamino war, als er sich langsam in Bewegung setzt. Ich folge ihm und wir schieben uns gemeinsam durch die Schülermengen hin zum Klassenzimmer.
 

Es ist mir egal, was alle anderen sagen und es ist mir auch egal, ob Herr Rosenheim das in Ordnung findet – ich setze mich auf den Platz neben Tamino und ignoriere Feli, die sonst auf diesem Platz sitzt und sich bei mir beschwert, weil ich ihren Stuhl geklaut habe. Tamino sieht erstaunt aus, sagt aber nichts und packt ruhig und bedächtig seine Sachen aus.
 

Vielleicht gibt Herr Rosenheim mir aus Mitleid sieben Punkte, wenn ich jetzt auf den Tisch kotze?
 

Als er hereinkommt und die Klausuren aus einer Mappe fischt, habe ich meine Hände in meinen Hosentaschen zu Fäusten geballt. Warum habe ich Französisch nicht abgewählt. Warum habe ich nicht Geschichte und Politik LK gewählt. Warum bin ich so dämlich?
 

Herr Rosenheim wechselt wie immer ein paar Worte mit Tamino und ich konzentriere mich auf Taminos Stimme, die es irgendwie schafft, dass Französisch nicht so schlimm klingt wie sonst. Dann fängt Herr Rosenheim an die Klausuren auszuteilen. Ich kaue so heftig auf meiner Unterlippe herum, dass es mich nicht wundern würde, wenn sie anfängt zu bluten.
 

Die große rote fünfzehn auf Taminos Klausur lässt mich schlucken. Vielleicht können wir auch einfach nicht befreundet sein, weil Tamino ein Genie ist und ich den IQ eines Regenwurms habe.
 

Meine Klausur landet vor mir auf der Tischplatte. Die Note steht oben rechts in der Ecke und ich schließe die Augen, als ich die höhnischen Rundungen der Zahl sechs entdecke.
 

Ein Punkt.
 

Es ist ein Punkt zu wenig.
 

Zwei Punkte mehr als sonst, aber immer noch zu wenig.
 

Ich muss Tamino nicht ansehen, um zu wissen, dass er die Note auf meiner Klausur gelesen hat. Ein Rascheln lässt mich die Augen öffnen und ich sehe, wie Tamino meine Klausur aufgeschlagen hat. Herr Rosenheim fängt an, irgendetwas auf Französisch zu reden, aber ich höre ihm nicht zu. Taminos Stirn ist leicht gerunzelt, mit den Fingern der linken Hand friemelt er an seiner Unterlippe herum und ich beobachte, wie seine Augen sich bewegen, während er meinen Text liest und sich wahrscheinlich darüber aufregt, wie ich seine zweite Muttersprache abgeschlachtet habe.
 

Er ignoriert Herrn Rosenheims Versuche, mit ihm zu sprechen und blättert langsam um. Ich könnte schwören, dass sich seine Augen in jedes bisschen rote Tinte brennen, als könnte er sie ein paar der Fehler ausmerzen, die ich gemacht habe. Dann hebt er den Kopf, wirft mir einen Blick zu und atmet einmal tief ein. Ich blinzele verwirrt, als ich sehe, wie Tamino die Hand in die Luft streckt. Man kann deutlich sehen, dass seine Finger zittern und ich frage mich, was um alles in der Welt er vorhat, als Herr Rosenheim ihn aufruft und Tamino meine Klausur hebt.
 

Mein Gehirn hat Französisch offenbar komplett abgeschaltet, denn ich verstehe nicht, was Tamino sagt, ehe er aufsteht und zu Herrn Rosenheim ans Pult tritt. Ich könnte schwören, dass er so schnell redet, dass selbst Herr Rosenheim Schwierigkeiten hat, ihn zu verstehen. Tamino kniet sich neben das Pult und deutete auf verschiedene Stellen in meinem gekrakelten Text.
 

Herr Rosenheim sieht aus, als wäre er gleichermaßen genervt und verlegen, während Tamino auf Französisch auf ihn einredet, als würde sein Leben davon abhängen. Oder, naja. Mein Abitur.
 

Dann zückt er einen Rotstift und fängt an, in der Klausur herum zu malen.
 

Ich halte die Luft an.
 

Tamino scheint noch nicht fertig zu sein, denn er ist immer noch am Sprechen, während Herr Rosenheim auf drei Seiten Änderungen vorgenommen hat. Ich habe meinen Französischlehrer noch nie so rot im Gesicht gesehen und ich frage mich, ob Tamino gerade seinen guten Stand bei ihm in die Tonne tritt.
 

Heilige Scheiße.
 

Als Tamino sich wieder aufrichtet, streckt er die Hand nach der Klausur aus, als wäre es kein großes Ding, dass er unseren Lehrer offensichtlich geröstet hat. Mein Magen zieht sich mit etwas zusammen, das nichts mit Übelkeit zu tun hat. Herr Rosenheim händigt Tamino die Klausur aus, dann geht er an die Tafel und fängt an, den Notenschnitt anzuschreiben.
 

Tamino kommt zurück, legt die Klausur behutsam vor mir auf den Tisch und ich schaue darauf.
 

Aus der sechs ist eine krumpelige acht geworden.

Rum zum Dank

Dinge, die kaum jemand oder vielleicht überhaupt niemand über mich weiß:
 

1. Ich kann nicht schwimmen. Als Kind wäre ich einmal fast ertrunken und danach bin ich nie wieder ins Wasser gegangen, egal wie sehr meine Mutter versucht hat, mich zu überreden. (Das wissen meine Mutter, meine Schwester und Tamino.)
 

2. Ich hatte erst einmal Sex und es hat mir nicht besonders gut gefallen. (Das weiß niemand.)
 

3. Ich habe angefangen, mich mehr über Star Trek zu informieren und mit Mari die alten Filme zu gucken. (Das weiß nur Mari.)
 

4. Ich hatte noch nie das knochentiefe Bedürfnis jemanden zu umarmen, bis zu dem Moment, als Tamino mir eine Französischklausur mit acht Punkten auf den Tisch gelegt hat. (Das weiß auch niemand.)
 

Da Tamino bisher sehr sorgfältig Abstand von mir gehalten hat und das höchste der Gefühle ein Zupfen am Ärmel darstellt, gehe ich davon aus, dass er von einer Umarmung wahrscheinlich nicht besonders begeistert wäre. Ich denke daran, wie wir uns gegenseitig aufgefangen haben, nachdem jeder vor dem anderen einmal abgeklappt ist.
 

Das zählt nicht wirklich als Umarmung.
 

»Darf ich nach Französisch nach Hause gehen, ohne, dass du mich streng und abwertend ansiehst?«, zischele ich Tamino zu, während Herr Rosenheim mit Feli darüber diskutiert, dass sie ihre mündliche Note eher bei einer guten Zwei sieht, statt wie ihr Lehrer bei einer glatten Drei.
 

Tamino dreht mir sein Gesicht zu und hebt eine geschwungene Augenbraue. Ich weiß mittlerweile genug über Star Trek, um zu wissen, dass er gerade aussieht wie ein Vulkanier.
 

»Ok, ok, Mr. Spock«, murmele ich. Tamino blinzelt. Dann breitet sich auf seinem Gesicht ein zaghaftes Lächeln aus.
 

»Herzlich Glückwunsch zur Abizulassung, Captain«, murmelt er zurück und ich bin sicher, dass ich schon wieder rot werde. Trotzdem gluckse ich zufrieden und lehne mich im Stuhl zurück. Ich bin wahnsinnig müde, aber auch total aufgeregt.
 

»Ich will genau wissen, was du ihm gesagt hast. Und dann will ich mindestens vier Kisten Bier mit dir trinken«, erkläre ich mit geschlossenen Augen. Tamino schweigt einen Moment und ich frage mich, ob ich vielleicht zu weit gegangen bin. Wahrscheinlich will er nichts trinken. Zumindest nicht mit mir.
 

»Ich trinke lieber Rum-Cola.«
 

Ich öffne die Augen und schaue ihn erneut an. Er sieht unsicher aus, als wüsste er nicht, ob ich das mit dem Bier ernst gemeint habe. Als wäre er sich nicht sicher, ob ich wirklich mit ihm darauf anstoßen möchte, dass er mein Abi gerettet hat. Ich denke an Maris Worte darüber, dass ich Taminos »natürlicher Fressfeind« bin und daran, dass ich noch vor zwei Monaten recht regelmäßig gelacht und die Augen verdreht habe, weil Tamino so ein Lehrerliebling ist.
 

»Dann kauf ich dir ne Flasche Rum«, sage ich breit grinsend und er lächelt ein wenig. Ich fasse es nicht, dass Tamino harten Alkohol trinkt. Wer weiß, was es noch alles über ihn zu wissen gibt. Tamino sieht aus, als wäre er sehr in Gedanken vertieft. Dann sehe ich, wie er sein Handy hervorkramt. Ich frage mich, wem er schreibt.
 

Nach Feli haben noch drei Leute angefangen, um ihre mündliche Note zu feilschen und ich nehme meine frisch korrigierte Klausur in die Hand, um sie durchzublättern. Ich entdecke die Stellen, an denen Herr Rosenheim nachträglich etwas geändert hat. Mehrere abgezogene Fehlerpunkte haben sich scheinbar in Luft aufgelöst, an zwei Stellen sind inhaltliche Anmerkungen energisch durchgestrichen. Aufgabe drei, für die ich vorher kaum inhaltliche Punkte bekommen habe, hat jetzt fast volle Punktzahl.
 

Ich stecke die Klausur sorgfältig in meinen Rucksack.
 

»Mein Vater ist den Rest der Woche weg«, erklärt Tamino neben mir.
 

»Boah!«, sage ich voller Neid. »Das heißt, ich kann nachher zum Saufen bei dir einfallen?«
 

Tamino hebt schon wieder seine Augenbraue. Ich muss daran denken, wie Mari findet, dass Spock und sein Captain heiraten sollten und daran, dass Tamino mich vorhin Captain genannt hat. Mein Gehirn hat definitiv einen dauerhaften Schaden erlitten, weil diese ganze Abiturgeschichte mich so sehr mitnimmt.
 

»Morgen ist Donnerstag«, informiert Tamino mich. Ich sehe ihn ungnädig an.
 

»Aber ich bin zum Abi zugelassen!«
 

»Das bist du am Freitag immer noch«, erinnert Tamino mich. Ich grummele unzufrieden.
 

»Spielverderber.«
 

Ich bereue das Wort, sobald es mir entwischt ist. Tamino schrumpft richtiggehend auf seinem Stuhl zusammen und ich beiße mir heftig auf die Unterlippe. Allerdings komme ich nicht dazu, meinen Patzer wieder gut zu machen, weil Herr Rosenheim in diesem Moment beschließt, dass er die Schnauze voll von den Verhandlungen hat und uns lieber ordentlich zusammenstauchen will.
 

Ich verfluche mich selbst dafür, dass ich nicht nur ein potentielles Saufgelagere mit Tamino verspielt habe, sondern auch noch zum Dank der Rettung meines Abiturs meinen Status als natürlichen Fressfeind verfestigt habe. Toll gemacht, Julius.
 

Eine Stimme in meinem Kopf sagt, dass Tamino ja nicht alles so ernst nehmen muss. Aber irgendetwas in mir weiß auch, dass Tamino nichts dafür kann, so auf diese Dinge zu reagieren und es mein Job ist, mich zurückzuhalten, bis irgendwann klargestellt ist, wie ich was meine.
 

Nach dem Klingeln zur Pause schenkt Tamino mir ein halbes Lächeln und ich möchte eigentlich etwas sagen, werde aber von Christoph und Basti in die Mangel genommen, wie wissen wollen, ob ich am Wochenende zu Felis Geburtstagsfeier komme. Meine Augen kleben an Taminos Rücken, als er das Klassenzimmer verlässt.
 

Er hat gerade mein Abi gerettet und jetzt wird er sich irgendwo in der Schule ein ruhiges Eckchen suchen und dort alleine sitzen, bis es zur nächsten Stunde klingelt. Ich denke darüber nach, ihn in den Pausen zu mir und meinen Leuten einzuladen, aber ich weiß, dass er das nicht wollen würde. Maris Gesicht taucht vor meinem inneren Auge auf und schüttelt den Kopf angesichts der Tatsache, dass ich so naiv bin daran zu glauben, dass die meisten meiner Jungs Tamino nicht total seltsam finden würden.
 

Wie es sich herausstellt, lädt Feli mich auf ihre Feier ein, obwohl ich ihr heute ihren Platz geklaut habe. Sie grinst mich an und zwinkert mir zu und sagt, dass sie mir vergibt. Lennard, Basti und Adnan machen zweideutige Bemerkungen darüber, dass Feli sich sicher über einen Kuss von mir zu ihrem Geburtstag freuen würde. Ich mustere sie.
 

Sie hat braune, glatte Haare fast bis zum Hintern, lange Wimpern und eine ziemlich krasse Oberweite, die bei jedem Training mindestens dreimal zur Sprache kommt. Dumpf denke ich daran, wie scheiße es sein muss, von einem Haufen schwitziger Kerle dauernd auf seine Brüste reduziert zu werden.
 

Während ich Feli beobachte und Lennards zweideutige Kommentare ignoriere, schaut Cem mich schmunzelnd von der Seite an.
 

»Was?«, sage ich und verschränke die Arme. Irgendwo schräg hinter mir macht Basti bekloppte Knutschgeräusch.
 

»Nicht so dein Typ, huh?«, will Cem wissen. Gott sei Dank hört ihn keiner. Es gibt keinen Kerl im Jahrgang, dessen Typ Feli nicht ist. Sie ist nett, witzig und sieht gut aus. Also wieso genau will ich sie nicht tatsächlich an ihrem Geburtstag knutschen?
 

»Deiner?«, will ich wissen. Cem grinst breit.
 

»Vielleicht«, sagt er und zieht an seiner Kippe.
 

Ich frage mich, warum ich nicht weiß, was eigentlich mein Typ ist. Dauernd reden immer alle darüber, wen sie heiß finden und wen sie gerne flachlegen möchten und ich denke stattdessen darüber nach, wie ich meinen blöden Spielverderber-Patzer ausmerzen kann. Die Feier ist am Samstag. Wenn ich am Freitag mit Tamino einen trinken würde, bin ich am Samstag vielleicht immer noch zu k.o. um mich direkt wieder zu besaufen.
 

Ich erzähle Cem nichts von meinen Plänen, ignoriere seine amüsierten Blicke und frage mich, was für ein Buch Tamino wohl gerade liest. Ich krame mein Handy heraus und öffne den WhatsApp-Chat mit Tamino. Die letzte Nachricht darin ist immer noch meine Sprachnachricht vom letzten Samstag.
 

»Tut mir Leid wegen eben. Ich finde nicht, dass du ein Spielverderber bist«, schreibe ich und schicke es ab. Vielleicht sitzt er wieder auf der Fensterbank im Gang, wo nicht so viel los ist und er in Ruhe seine komische französische Musik hören und sein Buch lesen kann.
 

Die Antwort kommt prompt.
 

»Schon ok«
 

Ich seufze.
 

»Darf ich Freitag mit Rum vorbeikommen?«
 

Diesmal dauert die Antwort etwas länger. Ich kaue auf meiner Unterlippe herum und werfe Cem einen strengen Blick zu, der neben mir steht und dauernd gluckst, als wäre ich besonders witzig.
 

»Ich bin übrigens zugelassen«, erkläre ich ihm.
 

»Geil!«, sagt Cem und haut mir mit solcher Wucht auf den Rücken, dass ich fast mein Handy fallen lasse. Als ich es wieder fest im Griff habe, sehe ich, dass Tamino geantwortet hat.
 

»Ok. Möchtest du Chips?«
 

»Auf jeden. Wir könnten Pizza bestellen?«
 

»Mein Vater lässt Geld für die Woche da. Wahrscheinlich können wir auch fünf Pizzen bestellen.«
 

»Eine reicht mir, danke ;-)«
 

Ich stecke mein Handy wieder weg und bin erleichtert darüber, dass ich nicht alles komplett verbockt habe. Cem wirft seine Kippe auf den Boden und tritt sie aus, dann sieht er Frau Heise über den Schulhof gehen und in unsere Richtung blicken und hebt den Zigarettenstummel hastig auf, um ihn in den dafür vorgesehenen Aschenbecher zu werfen.
 

»Alter, wir müssen uns am Samstag richtig einen hinter die Birne kippen, weil du nicht sitzen geblieben bist«, sagt Cem und verlangt mir einen Handschlag ab. Ich grinse.
 

»Du meinst, weil wir uns schon so lange keinen mehr hinter die Birne gekippt haben?«
 

Cem lacht zufrieden, rückt sein Cappi zurecht und zieht seine Hose ein Stück nach oben.
 

»Hey, es gibt Alkohol umsonst. Das muss man ausnutzen«, meint er.
 

Es klingelt zum Ende der Pause und ich mache mich auf den Weg zu Politik, während Cem Geschichte hat. Ich habe den Rest des Schultages keine Gelegenheit mehr, mit Tamino zu sprechen und ich habe das Gefühl, dass ich mich nicht ausreichend bedankt habe, aber als ich nach Hause komme und Mari und meine Mutter schon hinter der Tür lauern, weil sie wissen wollen, was mit der Klausur los ist, schiebe ich die Gedanken beiseite und halte ihnen breit grinsend die acht Punkte entgegen.
 

Mari quietscht und springt auf und ab, meine Mutter drückt uns beide mehrmals abwechselnd.
 

»Ich bin so stolz auf dich, Juls«, nuschelt sie gegen meine Wange und ich fühle mich federleicht. Ha, denke ich mir, fick dich, alter Mann.
 

»Dafür müssen wir Tamino irgendwas besorgen. Vielleicht etwas Süßes? Liest er gerne? Einen Gutschein?«
 

Meine Mutter ist vollkommen aus dem Häuschen und ich sehe, wie sie sich auf dem Weg in die Küche eine Träne aus den Augenwinkeln wischt. Mari legt mir den Arm um die Schultern.
 

»Ich freu mich total für dich«, sagt sie ehrlich und ich lächele.
 

»Es waren zuerst sechs Punkte«, erkläre ich. Meine Mutter steckt sofort den Kopf aus der Küche.
 

»Was? Und dann?«, will sie wissen.
 

»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht ganz genau, aber Tamino hat solange auf Herrn Rosenheim eingeredet, bis der mir mehr Punkte gegeben hat«, erzähle ich etwas peinlich berührt. Meine Mutter sieht aus, als würde sie sofort bei Tamino anrufen und ihm einen Adoptionsantrag stellen wollen.
 

»Was für ein toller Junge«, sagt sie und wischt sich schon wieder über die Augen.
 

»Wow«, sagt Mari. Sie sieht aus, als wüsste sie schon wieder mehr als ich und ich ringe mit dem Wurm namens dark Juls und folge meiner Mutter in die Küche.
 

»Das muss gefeiert werden! Hast du einen Wunsch? Wollen wir Essen bestellen? Brauchst du neue Sportschuhe?«
 

»Thailändisch!«, ruft Mari begeistert und rüttelt an meiner Schulter.
 

»Hey! Ich bin zum Abi zugelassen«, sage ich gespielt maulig. Mari verdreht die Augen.
 

»Aber Thailändisch!«
 

Ich schnaube, muss aber grinsen.
 

»Na schön. Thailändisch.«
 

*
 

Den Rest der Woche bin ich immer noch high angesichts der Tatsache, dass ich zum Abi zugelassen wurde, aber ich habe keine Gelegenheit, mich noch mal bei Tamino zu bedanken. Ich rede mir ein, dass das nicht so schlimm ist, weil wir uns am Freitag verabredet haben – so richtig. Ohne, dass jemand eine Grippe hat oder wir Nachhilfe machen. Dann kann ich ihm noch mal sagen, dass ich sehr dankbar für seine Hilfe bin.
 

Aber ich sehe auch, dass er weiterhin schlecht schläft. Oder vielleicht gar nicht. Am Donnerstag schläft er in Geschichte auf dem Tisch ein und allein die Tatsache, dass er Tamino Wilke ist – Lehrerliebling und Genie extraordinär – hält Herrn Frank davon ab, ihm eine Standpauke zu halten. Er stutzt, als er Tamino auf der Tischplatte liegen sieht. Ich habe den Großteil der Stunde damit verbracht, Tamino zu beobachten.
 

Er ist richtig weggenickt, den Mund leicht geöffnet und sein Atem ist sehr gleichmäßig. Mehrere Leute kichern darüber, dass er einfach so mitten im Geschichts-LK schläft, aber ich denke daran, wie er mir erzählt hat, dass er selten gut schläft.
 

Woran das wohl liegen mag?
 

Herr Frank geht zu Taminos Tisch hinüber und räuspert sich ganze drei Mal, bis Tamino aufwacht und verschlafen zu unserem Lehrer hochblinzelt.
 

»T’schuldigung«, murmelt er leise und ich sehe, dass ihm Hitze ins Gesicht steigt. Meine Fresse, wie scheiße das sein muss, wenn man so k.o. ist, dass man versehentlich im Unterricht wegknackt.
 

»Da Sie wieder bei uns sind, können Sie uns sicher sagen, welche Bedeutung Diokletian für das Römische Reich im dritten Jahrhundert hatte«, sagt Herr Frank, weil er es wohl nicht einfach so hinnehmen will, dass Tamino bei ihm im Unterricht schläft. Tamino reibt sich kurz die Augen, dann seufzt er.
 

»Diokletian hat 284 nach Christus den Thron bestiegen und unter anderem das Herrschaftsmodell der Tetrarchie eingeführt…«
 

Herr Frank starrt Tamino an, als wäre er ein Alien, während Tamino einen spontanen Kurzvortrag über die Diokletianische Ära hält, als hätte er vorher die ganze Zeit zugehört.
 

»…bis er dann im Jahr 303 eine weitere Welle der Christenverfolgung eingeleitet hat. Soll ich auch noch auf sein Vorgehen gegen den Manichäismus eingehen?«
 

Herr Frank ist einen Moment lang sprachlos, dann schüttelt er leicht den Kopf. Ich persönlich kann sagen, dass ich das Wort Manichäismus noch nie in meinem Leben gehört habe.
 

»Nein, danke. Das wird nicht nötig sein. Ich habe einen Text zu Diokletians Christenverfolgung für Sie kopiert…«
 

Ich sehe, wie Tamino sich ein Blatt vom Stapel nimmt, seine Arme auf der Tischplatte platziert und den Kopf einfach wieder darauf sinken lässt, als wäre das alles gerade überhaupt nicht passiert.
 

Ich frage mich, ob alles in Ordnung ist. Aber es sieht nicht so aus.
 

Vielleicht kann ich Freitag danach fragen, warum er so schlecht schläft. Nach ein paar Gläsern Rum-Cola ist er ja womöglich dazu bereit über sowas zu reden. Die Frage ist, bin ich überhaupt bereit über sowas zu reden? Wie Mari mir mitgeteilt hat, hab ich keine Ahnung von anständigen Freundschaften.
 

Ugh.
 

Verflucht sei Mari. Und Tamino. Dafür, dass ich mir über solche Sachen überhaupt Gedanken mache.
 

Am Freitag nach der Schule kaufe ich eine Flasche Rum und zwei Sechserträger Bier. Als Cem mir schreibt, bin ich gerade auf dem Weg nach Hause, um zu duschen und Maris Cookies einzupacken, die sie als Dankeschön für Tamino gebacken hat. Vielleicht hätte ich ihm Kekse als Dankeschön backen sollen. Leider kann ich überhaupt nicht backen.
 

Dafür hab ich ihm eine Flasche Rum gekauft. Das ist fast genauso aufmerksam.
 

»Dafür, dass dein persönliches Genie keinen Sport mitmachen darf, kann er ganz schön rennen«, schreibt Cem.
 

»Wie kommst du darauf?«, antworte ich, nachdem ich meinen Alkoholvorrat in meinem Zimmer geparkt habe und in die Küche gehe, um die Cookies einzusammeln. Mari sagt, sie liegen noch auf dem Blech. Was sie nicht gesagt hat, ist, dass sie mit Blech drei Bleche meint. Ich krame nach einer großen Tuppadose und fange an, die noch lauwarmen Kekse hineinzuschaufeln.
 

Es ist ja schon ein bisschen peinlich, dass meine Schwester Dankescookies backt, weil Tamino ihrem dummen Bruder dabei geholfen hat, zum Abi zugelassen zu werden.
 

»Hab ihn diese Woche schon dreimal im Park gesehen.«
 

Ich beschließe, dass ich mich jetzt nicht weiter damit befassen will, wieso Tamino rennen kann, aber keinen Sportunterricht machen darf. Ich stecke die Kekse in meinen Rucksack, dann schreibe ich eine Nachricht an Tamino.
 

»Wann kann ich vorbeikommen? Ich hab Rum, Bier und Kekse und bin bereit mehr über Odo rauszufinden!«
 

Ich füge mehrere Emojis in meine Nachricht ein. Tamino schickt meistens keine.
 

»Ab vier hab ich Zeit. Komm, wann du magst!«
 

Es ist jetzt fast drei. Dann habe ich noch Zeit zu duschen und dann um vier bei Tamino auf der Matte zu stehen. Ich hab extra kaum Nudeln zum Mittag gegessen, damit genug Pizza reinpasst.
 

Aus unerfindlichen und durchweg bekloppten Gründen bin ich aufgeregt. Ist ja nicht so, als wäre das eine wichtige Klausur oder ein wichtiges Spiel. Aber was, wenn doch? Was, wenn das so eine Art Test ist und wenn ich durchfalle, hat sich das mit der Freundschaft ein für alle Mal erledigt?
 

Aber Juls, sage ich mir im Stillen, wir haben wieder bekanntes Territorium betreten. Du triffst dich zum Saufen, wie mit anderen Kumpels auch. Ihr zieht euch Pizza und Star Trek und Alkohol rein und dann gehst du irgendwann sturzbesoffen nach Hause und versuchst, keine peinlichen Sprachnachrichten zu verschicken.
 

Dann wiederum würde ich peinliche Sprachnachrichten vermutlich an Tamino schicken und da Tamino persönlich anwesend sein wird, muss ich mir darum wohl keinen Kopf machen.
 

Nachdem ich mit Duschen fertig bin und auf Anweisung meiner Mutter mein Zimmer ein wenig aufgeräumt habe, mache ich mich mit meinem Alkoholvorrat und einem Berg Keksen auf zu Tamino. Mein Handy vibriert und ich öffne eine Nachricht von Mari.
 

»Versuch Tamino nicht vollzukotzen und sag ihm, dass du sein Freund sein willst!!!«
 

Ich grummele und würdige diese Nachricht nicht mit einer Antwort. Es wird schon irgendwie gut gehen.

Fotos und Fragen

Als Tamino mir die Tür öffnet, trägt er eine graue Jogginghose und ein ärmelloses Oberteil und ich starre ganze drei Sekunden auf Taminos nackte Oberarme, ehe ich ihm einen Sechserträger Bier entgegenstrecke, der nicht mehr in meinen Rucksack gepasst hat.
 

Tamino hat Muskeln. Ich hatte diesen Verdacht ja schon vorher, aber jetzt habe ich den Beweis gesehen.
 

Wo kommen die her? Wozu hat er sie überhaupt? Und warum denke ich peinlich obsessiv über Taminos Oberarmmuskeln nach?
 

In meinem Gehirn erklingt etwas, das verdächtig nach Cems Lachen klingt.
 

Tamino nimmt den Sechserträger entgegen und tritt beiseite, damit ich hereinkommen kann. Ich kicke meine Schuhe von den Füßen, setze meinen Rucksack ab und krame die Flasche Rum hervor.
 

»Danke für mein Abi«, platzt es aus mir heraus. Tamino blinzelt.
 

Er hat immer noch den Sechserträger im Arm und stellt ihn behutsam auf den Boden. Dann nimmt er vorsichtig den Rum entgegen, als wäre es ein wahnsinnig kostbares Geschenk und ich fühle mich so dämlich, dass ich eigentlich gerne meinen Kopf gegen die Wand hauen würde.
 

»Gern geschehen«, sagt er leise und lächelt mich an. Er hat ziemlich lange Finger. Wahrscheinlich normal, wenn man so ein langer Lulatsch ist.
 

»So… rein theoretisch… darf man dich umarmen?«
 

Oh, was zum Teufel. Julius. WAS. ZUM. TEUFEL?
 

Ich beiße mir auf die Zunge und klatsche mir eine Hand aufs Gesicht. Wow. Es ist offiziell. Taminos Gegenwart verwandelt mich in einen sozial inkompetenten Vollpfosten. Taminos Augen haben sich leicht geweitet und er klammert sich jetzt an seine Rumflasche, als wäre sie ein Rettungsseil.
 

Toll.
 

Ich hab unser erstes Nicht-Nachhilfe-Treffen gleich nach wenigen Sekunden ruiniert. Ich bin so dämlich, dämlich, dämlich…
 

»Ähm… theoretisch… ja? Aber ich hatte seit… also… vielleicht nach ein paar Gläsern Rum?«, stammelt Tamino. Ich nehme die Hand vom Gesicht.
 

»Oh. Ok. Ähm… ok«, sage ich geistreich. Wir starren uns ein paar Sekunden lang an, dann greife ich meinen Rucksack und Tamino setzt sich ebenfalls in Bewegung. Wir gehen in sein Zimmer und ich packe die Kekse aus, halte sie ihm hin und hole den zweiten Sechserträger aus meinem Rucksack.
 

»Ich tu das alles eben in den Gefrierschrank. Du kannst dir schon mal eine Pizza aussuchen?«, sagt Tamino. Er sieht immer noch nervös aus gibt mir einen Flyer für einen Pizzabringdienst. Die Kekse hält er fest, als wären sie etwas sehr Kostbares. Ich glaube, es sind die gleichen Kekse, die Mari letztes Mal auch gebacken hatte. Als Tamino krank war.
 

Tamino trägt die zwei Sechserträger und den Rum in die Küche und ich betrachte den Flyer. Aus unerfindlichen Gründen wünsche ich mir einen Knopf im Ohr, durch den ich mit Mari reden kann, damit sie mir Tipps geben kann. Dann wiederum möchte ich ihr lieber niemals erzählen, wie ich Tamino total stumpf gefragt habe, ob man ihn umarmen kann.
 

Das werde ich mit ins Grab nehmen.
 

»Wir können erst ab fünf bestellen, vorher liefern die nicht«, erklärt Tamino, als er wiederkommt. Ich habe mich aufs Bett fallen lassen und studiere aufmerksam die verschiedenen Pizzaangebote.
 

»Man kann Ben&Jerry’s bestellen«, sage ich.
 

»Ja. Ich hoffe, das kommt bei dir nicht auf die Pizza?«
 

»Was? Nein! Was?«
 

Tamino gluckst leise und setzt sich neben mich aufs Bett. Es sieht ganz so aus, als hätte er mir meine dumme Frage nicht übel genommen. Unsere Oberarme berühren sich fast. Hatte ich schon erwähnt, dass seine nackt sind? Er hat recht viele Leberflecke, die man auf seiner braunen Haut nicht ganz so deutlich sieht, wie es auf meiner weißen Haut der Fall wäre. Zwei davon sitzen direkt nebeneinander in seiner Armbeuge.
 

»Hey, ich kenne jemanden, der Pfirsich auf seine Pizza legt, also…«
 

»Oh mein Gott«, sage ich entgeistert. »Das ist das ekligste, was ich je gehört habe!«
 

Tamino lacht.
 

»Das sage ich Anni auch immer. Aber sie meint, es wäre der Renner. Beim letzten Mal Raclette hat sie Hack und Banane und Cocktailsoße in ihr Pfännchen gemacht und behauptet, es wäre das Beste, was sie je gegessen hat«, erklärt Tamino.
 

»Ist Anni die, der ich bei Skype gewunken hab?«, will ich wissen.
 

»Nee. Das war Lotta. Hier…«, sagt er und kramt sein Handy hervor und wischt ein bisschen darauf herum, bis ich schließlich ein Foto unter die Nase gehalten bekomme.
 

Es ist ein Selfie, auf das kaum alle vier Menschen gepasst haben, die darauf zu sehen sind. Offenbar hat Tamino das Handy gehalten, denn von ihm ist eigentlich nur die Augen- und Stirnpartie im Vordergrund zu sehen. Das Bild sieht aus, als wäre es ihm am wichtigsten gewesen, seine Freunde zu erwischen und das ist ihm gelungen.
 

Ich erkenne das Mädchen von dem Skype-Anruf. Ihre roten Locken sind unverkennbar und sie ist die einzige weiße Person auf dem Foto. Sie hat sogar noch mehr Sommersprossen als ich und es sieht aus, als hätte sie das gemeistert, was Mari als perfekten Lidstrich bezeichnen würde. Direkt neben ihr sieht man das Gesicht eines schwarzen Jungen im Bild. Er hat viel dunklere Haut als Tamino, aber genauso weiße Zähne und sein linkes Ohr zieren mehrere Ohrringe.
 

Das asiatische Mädchen muss Anni mit den komischen Essgewohnheiten sein. Sie streckt der Kamera die Zunge heraus und sorgt dafür, dass Taminos halber Kopf Hasenohren auf dem Foto hat.
 

»Das ist Anni«, sagt Tamino und zeigt auf sie. »Lotta und Noah.«
 

»Ohhh«, sage ich, als mir ein Licht aufgeht, »das Lied, das du gesungen hast, heißt eigentlich gar nichts mit Lotta!«
 

Tamino hüstelt leise.
 

»Nee. Eigentlich heißt es ‚Für Sarah‘. Ich habs ein bisschen abgeändert«, erklärt er sichtlich peinlich berührt. Ich frage mich, ob er verlegen ist, weil er seiner Freundin Liebeslieder singt, oder weil ich das Singen überhaupt erwähnt habe.
 

Tamino greift nach der Büchse mit den Keksen, die er auf dem Nachtschrank abgestellt hat. Er hält mir die Dose hin und ich schnappe mir einen Keks. Für einen Moment essen wir schweigend Maris Wunderwerke.
 

»Ok, es ist so…«, sagt Tamino und ich setze mich ein bisschen gerader hin und drehe den Kopf so, dass ich Tamino anschauen kann. Er sieht nervös aus.
 

»Wenn ich Rum trinke, wäre es cool, wenn du… Es gibt ein paar Themen, die du vielleicht… können wir nicht über Eltern oder Fußball reden, wenn ich besoffen bin?«
 

Er sieht aus, als würde er jeden Moment in Ohnmacht fallen.
 

»Kein Ding«, sage ich lässig. Als würde ich mich kein bisschen darüber wundern. Es ist mir noch nie passiert, dass irgendwer mir gesagt hat, dass ein bestimmtes Thema Tabu ist, bevor es mit dem Saufen überhaupt losgegangen ist. Cem würde einfach »Halt’s Maul, Juls«, sagen, wenn ich mit irgendwas anfange, worüber er nicht reden will.
 

»Danke«, sagt Tamino leise und bietet mir noch einen Keks an. Ich nehme einen.
 

»Seit wann kennst du Spock?«, will er dann wissen. Ich erkenne ein Ablenkungsmanöver, wenn ich es vor mir habe.
 

»Mari hat mich gezwungen, ein paar von den alten Filmen anzugucken«, sage ich. Tamino hebt prompt eine seiner Augenbrauen.
 

»Ok, ok. Ich mach es freiwillig!«, gebe ich zu und hebe die Hände. Tamino schmunzelt.
 

»Siehste. Geht doch, Star Wars und Star Trek zu mögen«, meint er zufrieden und schiebt sich noch einen Keks in den Mund.
 

Wir verbringen die nächste halbe Stunde damit, über Kirk und Spock zu reden und noch ein paar mehr Kekse zu essen. Wenn das so weiter geht, schaffe ich meine Pizza nicht mehr. Maris Kekse sind echt lecker.
 

»Haben sie diesen ganzen Film über Khan nicht neu gemacht?«, frage ich Tamino. Tamino rümpft tatsächlich die Nase. Oh mein Gott. Er sieht aus wie ein Babytier. Scheiße, ich brauche dringend mein erstes Bier.
 

»Ja. Aber… naja. Sagen wir, ich bin nicht so der Fan von den neuen Filmen«, meint Tamino. Ich grinse breit.
 

»Ok, wie groß ist dein Bedürfnis, so richtig über die neuen Filme abzukacken? Jetzt, in diesem Moment?«, frage ich amüsiert.
 

»Hey! Ich kann mich zusammenreißen!«
 

Ich schnaube.
 

»Ich frag dich nach drei Gläsern Rum noch mal«, verspreche ich und Tamino grinst tatsächlich, als hätte er nichts dagegen, angetrunken darüber zu motzen, warum er die neuen Star Trek Filme scheiße findet. Ich frage mich, ob ich Tamino schon mal Schimpfwörter hab sagen hören, aber ich glaube nicht.
 

»Vielleicht solltest du die neuen Filme einfach selber angucken und dir selber eine Meinung bilden«, sagt Tamino und nimmt den Flyer entgegen, den ich ihm reiche. Während er sich eine Pizza aussucht, habe ich Gelegenheit mir darüber Gedanken zu machen, warum Tamino nicht über Fußball reden will. Eltern, ok. Gekauft. Sein Vater ist ein Arschloch, mein Vater ist ein Arschloch. Ist vermutlich nicht der peppigste Partytalk.
 

Aber Fußball?
 

Will er da speziell wegen mir nicht drüber reden? Findet er mein Hobby so kacke? Das macht nicht so richtig Sinn. Aber ich habe keine andere Idee und fragen kann ich auch nicht, weil Tamino extra gesagt hat, dass er nicht darüber reden will.
 

Ich denke darüber nach, ob insgeheim alle Leute so rätselhaft sind und man es bei den meisten nur nicht so sehr merkt, weil sie es besser verstecken. Dann wiederum habe ich letzte Woche Markus dabei beobachtet, wie er besoffen fünf Minuten lang eine Tür aufmachen wollte, die Cem offensichtlich von draußen zugehalten hat. Ich kann mir also nicht vorstellen, dass das Gehirn von Markus auch nur ansatzweise so komplex ist, wie das von Tamino.
 

»Ich will die mit Hollandaise-Soße und Döner«, sage ich. Tamino schnaubt und schüttelt den Kopf.
 

»Das ist nicht so weit entfernt von Pfirsich«, meint er.
 

»Pf, ich bitte dich! Döner auf Pizza ist geil. Und Hollandaise schmeckt zu allem!«
 

»Ich sollte dich Anni vorstellen. Wahrscheinlich seid ihr Seelenverwandte«, sagt Tamino und legt den Flyer.
 

»Wenn du damit fertig bist, mich für meinen exquisiten Geschmack zu dissen, kannst du mir ja sagen, was du auf deine Pizza willst«, gebe ich zurück und verschränke die Arme vor der Brust.
 

»Scharfe Salami und Pepperoni.«
 

»Hardcore.«
 

»Jap. Ich bestell auch mit extra Chili.«
 

»Was!? Hast du keine Angst um deine Zunge?«
 

»Nee. Ich ess gerne scharf.«
 

»Darf ich probieren?«
 

»Hast du keine Angst um deine Zunge?«
 

»Haha, sehr witzig!«
 

Es ist erstaunlich einfach mit Tamino zu reden, selbst wenn wir keine Nachhilfe machen. Ich habe ihm immer noch nicht gesagt, dass meine Mutter von ihm wissen will, wie viele zusätzliche Nachhilfestunden sie ihm bezahlen soll, weil er mir diese Sprachnachrichten geschickt hat. Die ich übrigens immer noch auf dem Handy habe.
 

Pünktlich um fünf bestellt Tamino unsere Pizza übers Internet.
 

»Wär’s für dich ok, die Tür aufzumachen und zu bezahlen, wenn die Pizza kommt?«, fragt er mich zögerlich.
 

Ich muss mir abgewöhnen, jeden Satz, den Tamino sagt, zu hinterfragen. Das wäre natürlich einfacher, wenn ich ihn besser kennen würde. So stehe ich einfach nur auf dem Schlauch und versuche, nicht allzu verwirrt auszusehen.
 

»Ok. Kein Problem«, sage ich deshalb. Tamino sieht sehr erleichtert aus und ich sehe, wie er beruhigt ausatmet.
 

»Cool. Danke«, murmelt er. Dann. »Bier?«
 

Ich grinse ihn sehr breit an.
 

»Unbedingt. Und die nächste Folge. Oder einen von den neuen Filmen«, gebe ich zurück.
 

Tamino schnaubt.
 

»Für die Filme brauche ich mehr Rum«, sagt Tamino entschieden und verschwindet dann in die Küche, um unseren Alkohol zu besorgen. Ich nutze die Pause, um mich noch ein wenig in Taminos Zimmer umzusehen. Die letzten Male, als ich hier war, haben wir sehr pflichtschuldig gelernt und ich hatte keine Gelegenheit, mir die hunderte von Büchern anzusehen, oder die ganzen DVDs.
 

Es gibt auch jede Menge Fotos im Zimmer verteilt – auf der Fensterbank, in den Regalen, über dem Bett, an der Tür. Die meisten der Fotos sind von den drei Freunden, die Tamino mir vorhin bereits gezeigt hat. Man sieht die Vier – oder jeweils nur drei von ihnen – in verschiedenen Altersstufen, von etwa elf an aufwärts. Noah ist sogar noch größer als Tamino und etwa doppelt so breit. Es gibt mehrere Bilder davon, wie Noah einen der Drei anderen trägt.
 

Anni sitzt mehrfach auf seinen Schultern, es gibt ein Bild, auf dem er beide Mädchen im Arm hat. Sie lachen und ihre Beine baumeln in der Luft. Und dann ist da ein Bild, auf dem Noah Tamino im Brautstil auf dem Arm hat. Beide müssen etwa fünfzehn oder sechzehn sein und beide strahlen freudig in die Kamera.
 

So hab ich Tamino definitiv noch nie strahlen sehen. Auf allen Bildern, auf denen er zu sehen ist, sieht er so glücklich aus, dass die Bilder mich geradezu anleuchten. Ich betrachte ein Foto, das auf dem Schreibtisch steht. Alle vier Freunde liegen auf zwei nebeneinander platzierten Matratzen auf dem Boden, dicht aneinander gekuschelt, und schlafen offenbar ganz friedlich. Tamino hält Annis Hand, Lottas Kopf liegt in Noahs Armbeuge – sie liegen so verknotet ineinander, dass man sie vermutlich auseinander sortieren könnte. Ich frage mich, wer das Foto gemacht hat.
 

Tamino sieht friedlich aus, sein Mund ist leicht geöffnet, Noahs Hand liegt in seinem wuscheligen Haar.
 

Vielleicht braucht er nur für Umarmungen von mir ein paar Gläser Rum.
 

Ein Bild im Bücherregal erregt meine Aufmerksamkeit. Tamino ist darauf etwa zehn Jahre alt. Er sitzt auf dem Schoß von einer sehr hübschen, schwarzen Frau, die mit ihm gemeinsam ein Buch liest, dessen Cover man auf dem Bild nicht erkennen kann. Man erkennt sofort, dass das seine Mutter sein muss, weil sie ihm ungeheuer ähnlich sieht. Auf dem Bild direkt daneben sieht man die beiden mit einer älteren, ebenfalls schwarzen Frau. Tamino ist auf dem Bild bereits größer als die beiden, aber er kann nicht älter als vierzehn sein.
 

Seine Oma und seine Mutter haben dasselbe, liebevolle Lächeln im Gesicht, Tamino grinst zufrieden in die Kamera. Ich bin gerade dabei mir Gedanken darüber zu machen, wo Taminos Mutter wohl abgeblieben ist, als Tamino zurück ins Zimmer kommt und ich hastig so tue, als würde ich mich mit seinen Büchern beschäftigen.
 

»Gibt’s ein Regal mit Lieblingsbüchern?«, frage ich, um meine Tarnung zu verfestigen. Tamino hat eine Flasche Cola unter dem Arm, den Rum in der einen und einen Sechserträger in der anderen Hand.
 

»Im linken Regal ganz oben und dann bis zum dritten Brett«, erklärt Tamino lächelnd und stellt den Alkohol auf den Nachtschrank.
 

»Drei Reihen voll? Wow«, murmele ich.
 

»Es gibt so viele gute Bücher, ich kann mich schlecht entscheiden«, erklärt Tamino und wuselt dann wieder aus dem Zimmer – vermutlich, um sich ein Glas zu besorgen.
 

»Denk an die Chips!«, rufe ich ihm hinterher und schaue mir nun tatsächlich die Bücher im linken Regal an. Einige Titel davon kenne ich. Ich hab schon mal von Douglas Adams gehört und Momo haben Mari und ich früher auch gerne gelesen. Die meisten der Bücher sind auf Englisch, einige auch auf Französisch und vor allem viele Kinderbücher sind auf Deutsch. Ich muss mich nicht groß anstrengen, um mir vorzustellen, wie viele meiner Mannschaftskameraden darauf reagieren würden, dass Tamino einige Kinderbücher im Regal stehen hat.
 

Dann wiederum fänden viele von denen es sicherlich uncool, dass er überhaupt so viele Bücher im Regal hat.
 

Ich ziehe wahllos ein Buch aus dem Regal, um den Klappentext zu lesen. Der Titel klingt sehr pompös. »Aristotle and Dante discover the secrets of the universe«. Als Tamino zurück kommt – mit Chips, einem Glas und einem Flaschenöffner – und mich mit dem Buch in der Hand sieht, bleibt er kurz stehen und stutzt. Dann wird er rot.
 

Ich schaue wieder auf den Buchrücken und frage mich, was an dem Buch ihn so verlegen macht. Es sieht ziemlich normal aus, also lese ich die Zusammenfassung.
 

»Aristotle is an angry teen with a brother in prison. Dante is a know-it-all who has an unusual way of looking at the world. When the two meet at the swimming pool, they seem to have nothing in common. But as the loners start spending time together, they discover that they share a special friendship—the kind that changes lives and lasts a lifetime. And it is through this friendship that Ari and Dante will learn the most important truths about themselves and the kind of people they want to be.«
 

Ich hebe meine Augenbrauen. Maris Stimme lacht in meinem Kopf und erklärt mir, dass es klingt, als hätte jemand ein Buch über mich und Tamino geschrieben.
 

»Ich dachte, es wäre was Philosophisches«, sage ich, während Tamino seine Bettdecke zur Seite schiebt, damit wir auf dem Bett Platz finden.
 

»Es ist nicht über Philosophie, aber es ist schon recht philosophisch«, meint Tamino. Klingt sehr mysteriös. Ich drehe es in der Hand und betrachte den roten Jeep auf dem Cover und den Sternenhimmel darüber. Ein Buch über Freundschaft, was? Huh.
 

Ich stelle es vorsichtig wieder ins Regal und nehme mir im Stillen vor, es beizeiten zu lesen. Vielleicht gibt es eine deutsche Übersetzung, damit ein Schwachkopf wie ich nicht fünf Jahre braucht, um es durchzubekommen.
 

Als es an der Tür klingelt, drückt Tamino mir einen fünfzig Euro Schein in die Hand und kramt nach seinen Deep Space Nine DVDs. Ich nehme die Pizzen von einer jungen Türkin entgegen, die mir zuzwinkert, als ich ihr zwei Euro Trinkgeld gebe. Nicht, dass das mein Geld ist, aber Tamino hat gesagt, wir hätten auch fünf Pizzen bestellen können, also gehe ich davon aus, dass das ok ist. Ich kann mir vorstellen, dass es ihm ein bisschen egal ist, was mit dem Geld seines Vaters passiert.
 

Tamino startet die nächste Folge und wir setzen uns mit unseren Pizzen aufs Bett und essen sie mit Fingern. Ich bekunde Empörung darüber, dass noch keine Klingonen vorgekommen sind und Tamino gluckst heiter.
 

»Später gibt es mehr Klingonen«, verspricht er. Wir probieren von der Pizza des jeweils anderen und während ich mir Luft zufächere und nach Bier zum nachspülen verlange, verzieht Tamino angesichts meiner großartigen Hollandaise-Soße das Gesicht. Er nimmt sich sein erstes Glas Rum Cola und ich kriege ich ein Bier und wir spülen beide den Geschmack der Pizza herunter. Meine Zunge fühlt sich an, als stünde sie in Flammen und ich hab keine Ahnung, wie Tamino das essen kann, ohne Feuer zu speien.
 

»Wenn wir jedes Mal trinken, wenn Odo und Quark streiten, sind wir innerhalb von zwei Folgen dicht«, sage ich grinsend.
 

»Und jedes Mal, wenn ein Bajoraner jemandem ans Ohr greift.«
 

»Und jedes Mal, wenn Kira super pissig ist.«
 

»Jedes Mal, wenn Dax über Spaß redet.«
 

»Eins für jedes Mal, wenn die Erwerbsregeln zitiert werden.«
 

»Wenn wir das alles durchziehen, sind wir schon nach einer Folge total hacke«, erklärt Tamino und nimmt noch einen großen Schluck aus seinem Glas. Dann greift er zu seinem letzten Stück Pizza. Mein Herz macht einen sehr merkwürdigen Salto beim Gedanken daran, wie viele Gläser Rum genug sind, um Tamino zu umarmen.
 

Ich denke an die ganzen Fotos, die ich vorhin angesehen habe und versuche nicht enttäuscht darüber zu sein, dass Tamino sonst anscheinend sehr begeistert von Umarmungen ist. Ich frage mich, ob ich selber eigentlich begeistert von Umarmungen bin. Mari und meine Mutter umarmen mich regelmäßig. Cem ist auch ein ziemlich grabbeliger Typ, der immer mal die Hand auf meine Schulter legt, mir auf den Rücken haut und mir ein High Five gibt.
 

Von all dem wahnsinnig maskulinen Rumgekuschel auf dem Fußballfeld muss ich ja gar nicht erst reden.
 

Manche der Mädchen aus dem Jahrgang umarmen mich zur Begrüßung. Ich denke, dass ich Umarmungen schon ok finde, aber ich hab definitiv noch nie vorher irgendwen angesehen und gedacht: Ja. Den Menschen will ich total dringend umarmen.
 

Zu unserer eigenen Sicherheit halten wir uns nicht an die eben erwähnten Trinkspielregeln, weil wir sonst vermutlich beide recht schnell einer Alkoholvergiftung nahe kommen würden und ich einen Vorteil habe, weil mein Getränk nicht so hochprozentig ist wie das von Tamino.
 

Er hat einen ordentlich Zug drauf und braucht nicht lange, bis er zwei Gläser ausgetrunken hat – und seine Mischung nähert sich einem 50/50 Verhältnis an, als er sein drittes Glas einschenkt. Ich frage mich, ob Tamino regelmäßig mit seinen Freunden getrunken hat, bevor er hierhergekommen ist.
 

Es muss super kacke sein, alle Leute, die man mag, zurückzulassen und dann alleine in einer neuen Stadt zu stranden. Ich hätte da überhaupt keinen Bock drauf. Und so kurz vorm Abi hätte so ein Umzug meine Chancen zur Zulassen garantiert gekillt.
 

»Weißt du noch, wie du dachtest, dass ich was von deiner Schwester will?«, fragt Tamino schmunzelnd kurz vorm Ende seines dritten Glases. Ich bin erst bei meiner zweiten Flasche Bier und beschließe, dass ich mich nicht abhängen lassen kann. Also trinke ich den Rest auf ex und greife mir die nächste Flasche.
 

»Hey! Hätte ja sein können! Sie sieht ziemlich gut aus«, sage ich grinsend.
 

»Ja, schon«, meint er und dreht den Kopf, um mich zu mustern. Mir wird warm. Muss am Bier liegen. Ich frage mich, was hinter seiner Brille vor sich geht. Vielleicht vergleicht er Mari und mich gerade und kommt zu dem Schluss, dass sie trotz der Zwillingssache die besseren Gene bekommen hat.
 

»Aber sie ist sowas von lesbisch«, sage ich grinsend Richtung Decke.
 

»Ja, hat sie erwähnt. Sie hat ein Foto von sich und Linda geschickt.«
 

»Die beiden sind eklig klebrig miteinander. Wie ein glückliches Ehepaar.«
 

»Kenn ich. Anni und Noah sind auch… klebrig eklig. Also, eigentlich finde ich es nicht eklig. Es ist ziemlich süß.«
 

Ich grinse und frage mich, ob Noah und Anni auch sagen würden, dass Lotta und Tamino klebrig zusammen sind. Ich meine, wer seiner Freundin über Skype Liebeslieder vorsingt, ist wahrscheinlich genauso zuckrig wie Mari und Linda.
 

»Wenn du mir von deinem Rum was abgibst, kann ich deinen Alkoholpegel vielleicht einholen«, sage ich dann, statt eine amüsierte Bemerkung über Tamino und Lotta zu machen. Eigentlich war es ja keins der beiden Tabuthemen, aber ich habe aus unerfindlichen Gründen nicht wirklich Lust, darüber zu reden, wie niedlich Lotta und Tamino miteinander sind.
 

»Klar. Die ganze Flasche kann ich eh nicht trinken.«
 

»Ach nein?«
 

»Nee. Bin nicht mehr im Training«, sagt Tamino und er macht schon wieder diese Sache mit der Spock-Augenbraue und das macht wiederum irgendwas mit meinen Eingeweiden. Weiß der Geier, was meine inneren Organe mit Taminos Augenbraue haben.
 

»Soso, du warst also mal so richtig im Training, ja«, sage ich. Tamino reicht mir vollkommen unfeierlich die Flasche Rum und ich nehme das als Aufforderung, aus der Pulle zu trinken, da ich kein Glas habe. Ich nehme zwei große Schlucke und verziehe das Gesicht.
 

»Boah«, sage ich und schüttele mich. Tamino grinst, setzt die Flasche an und trinkt. Er schaudert kein bisschen und streckt mir die Zunge raus.
 

»Ja, du bist ein krasser Typ«, sage ich lachend und greife wieder nach meinem Bier.
 

»Noch eine Folge, oder hattest du genug Rum für einen der Filme?«, frage ich. Tamino scheint darüber nachzudenken. Er hat den ganzen Abend noch nicht an seinen Fingern herum gekaut, was ich für ein gutes Zeichen halte. Wir sitzen mittlerweile ziemlich nah beieinander und ich frage mich, ob ihn das stört. Wenn ich noch ein kleines bisschen weiter nach rechts rutsche, berühren sich unsere Schultern. Ich hab ein kurzärmeliges Shirt an, Tamino immer noch sein ärmelloses Oberteil.
 

Ich schlucke und trinke zur Ablenkung eine weitere halbe Flasche Bier in wenigen Zügen.
 

»Vielleicht hatte ich genug Rum. Aber du wirst den Film nicht in Ruhe sehen können. Ich kommentiere alles, was mir nicht gefällt und fluche womöglich. Ununterbrochen.«
 

»Auf Klingonisch?«, frage ich grinsend.
 

Tamino lacht und hält sich hastig die Hand vor den Mund, als wäre es ihm peinlich.
 

»Wenn du möchtest«, sagt er und schaut mich an. Sein Gesichtsausdruck ist so… offen, dass ich mir einen bekloppten Moment lang wünsche, dass wir einfach jedes Mal Alkohol trinken könnten, damit er mich noch mehr so ansieht. Als wäre ich nicht sein natürlicher Fressfeind, sondern einfach nur ein anderer Typ, der Star Trek doch nicht so scheiße findet, wie ursprünglich gedacht. Vielleicht ein potentieller Freund.
 

Ich sollte wirklich Ari und Dante lesen.
 

»Ja, dringend. Hau den Film rein und fluch auf Klingonisch«, sage ich und Tamino kichert. KICHERT. Und rutscht vom Bett, um den Film aus seinem Regal zu fischen. Ich leere mein Bier und greife sofort nach dem nächsten.
 

Ein Bier noch, nehme ich mir im Stillen vor, dann frage ich nach dieser Umarmung.

low battery warning

»…und der Kuss zwischen Kirk und Uhura damals in den sechziger Jahren war ein Skandal! Wenn man bedenkt, wie progressiv Star Trek damals war, bin ich einfach wahnsinnig enttäuscht darüber, dass sie mir da so einen Actionfilm hinklatschen, der keinerlei gesellschaftskritischen Ton hat und die Minderheitenrepräsentation hätte man jawohl auch hochschrauben können! Und war es wirklich nötig, dass Uhura in dieser Szene in Unterwäsche rumspringt? Warum hat man diese bekloppten sexualisierten Uniformen nicht abgeändert? Es ist ein modernes Remake von einem alten Klassiker, wieso ist es dann so rückständig?«
 

Ich starre Tamino an.
 

»Wie kannst du nach viereinhalb Gläsern Rum solche komplexen Dinge sagen, ohne zu lallen?«, will ich wissen. Meine Stimme klingt schon ziemlich verschwommen, muss ich sagen. Ich habe Schwierigkeiten Taminos Gedankengängen zu folgen. Ich bin daran hängen geblieben, dass diese Sache mit der Unterwäsche wohl damit zusammen hängt, warum alle Kerle aus meiner Mannschaft dauernd über Felis Brüste reden, als wäre das alles an ihr. Aber so ganz hab ich den Bogen noch nicht bekommen, vor allem, weil ich mir vorher noch nie so richtig Gedanken darüber gemacht habe.
 

Tamino trinkt den Rest seines Glases aus. Seine Augen sind definitiv glasig, er redet viel mehr und gestikuliert ausschweifender. Daran kann ich erkennen, dass er durchaus angesäuselt ist. Aber meine Fresse, wie läuft sein Gehirn noch so auf Hochtouren? Meins ist wahrscheinlich im nüchternen Zustand immer noch weniger aktiv als Taminos.
 

»Ich meine ja nur… Leute waren damals geschockt, weil der Kuss zwischen Uhura und Kirk der erste zwischen einem weißen Mann und einer schwarzen Frau im Fernsehen war. Hätte ihnen keinen Zacken aus der Krone gebrochen, aus Scotty oder Bones eine Frau zu machen. Oder einen schwarzen Kirk zu casten. Wie auch immer…«
 

Tamino schenkt sich ein neues Glas ein. Ich glaube, mittlerweile ist die Cola nur noch zur Färbung drin und ich habe keine Ahnung, wie er dieses Zeug runterspült, als wäre es Wasser.
 

»Hab ich zu viel geredet?«, fragt er dann ganz plötzlich und seine Stimme klingt sehr klein, als hätte er sich daran erinnert, dass der nüchterne Tamino für gewöhnlich kaum zwei zusammenhängende Sätze spricht.
 

Ich schüttele hastig den Kopf.
 

»Nein, bitte red weiter«, sage ich und komme mir sofort wahnsinnig peinlich vor. Juls, du Pfosten! Was zum Teufel ist los mit dir?
 

Tamino blinzelt, dann breitet sich auf seinem Gesicht ein Lächeln aus, das mir die Röte ins Gesicht treibt. Ich hab mich noch nicht getraut, nach der Umarmung zu fragen, auch wenn ich schon längst über das nächste Bier hinweg bin. Der Film sollte ursprünglich etwa zwei Stunden dauern, aber durch Taminos Kommentare zwischendurch und mehrere Toilettengänge hat er sich auf etwa zweieinhalb Stunden verlängert.
 

»Es ärgert mich, wenn moderne Medien eine Quotenfrau und einen Quotenschwarzen haben und wenn man Pech hat, stirbt einer von beiden. Und wenn wir schon dabei sind, hätte ich es auch ziemlich gut gefunden, wenn sie Kirk und Spock zu einem Paar gemacht hätten.«
 

»Ich bin sicher, da würde Mari dir zustimmen«, sage ich geistreich und immer noch total abgelenkt von diesem Lächeln, das ich gerade gesehen habe. Was er wohl dabei gedacht hat?
 

Jetzt mustert er mich wieder. Er sitzt im Schneidersitz vor mir und ich umklammere mein Bier, als wäre es in der Lage, mich erfolgreich durch den Abend zu manövrieren. Wahrscheinlich ist eher das Gegenteil der Fall.
 

»Weißt du…«, sagt Tamino nachdenklich und ich glaube, mir fallen gleich die Augen raus, weil Tamino das verfickte fünfte Glas Rum Cola in einem Zug leert, es beiseite stellt und aussieht, als wäre das nötig gewesen, um zu sagen, was er sagen möchte. »Du bist…«
 

Er scheint über ein passendes Wort nachzudenken, während ich jeden Augenblick mein Bier verschütte. Oder die Flasche sprenge, weil ich sie so fest umkralle.
 

»Ziemlich großartig.«
 

Oh.
 

Erstens: Nüchtern hätte Tamino sowas nie im Leben gesagt.
 

Zweitens: Nüchtern hätte Tamino mich – selbst wenn er so etwas gesagt hätte – nicht aus großen braunen Augen hinter seiner Brille hervor angesehen, als würde er ganz genau überprüfen wollen, was nach dieser Offenbarung in meinem Gesicht abgeht.
 

Drittens: Wenn ich nüchtern wäre, wäre ich vermutlich einfach an einem Hitzeschlag gestorben.
 

Viertes: Mein Gehirn kann nicht verarbeiten, dass Tamino mich auf irgendeine Art und Weise großartig findet. Ich glaube nicht mal, dass das am Alkohol liegt – es würde mir nüchtern garantiert auch so gehen. Meine Fresse, ich brauche ein Beatmungsgerät und eine kalte Dusche.
 

In meinem schon ziemlich angetrunkenen Zustand öffne und schließe ich den Mund mehrmals hintereinander, dann passiert wieder diese Sache. Meine Zunge beschließt, dass sie meinem Gehirn voran eilen kann und ehe ich es mich versehe, habe ich mich zum gefühlt dreihundertsten Mal an einem Tag zum absoluten Deppen gemacht.
 

»Ich will mit dir befreundet sein. Wenn das für dich ok ist. So richtig. Auch wenn ich aus verlässlicher Quelle erfahren hab, dass ich nicht wirklich weiß, wie das funktioniert.«
 

Tamino blinzelt angesichts meines Ausbruchs, während ich schnell mein Bier abstelle und mich dann auf dem Bett aus lauter Scham zur Seite kippen lasse, um mein Gesicht in der Bettdecke zu vergraben. Kurz herrscht Stille, dann legen sich ganz behutsam ein paar Fingerspitzen auf meine Schulter, als hätte Tamino Angst, mich zu zerbrechen.
 

»Ich glaube, ich muss den Rest Rum austrinken, um diese Peinlichkeit zu ertränken«, murmele ich in die Bettdecke. Keine Ahnung, ob Tamino das überhaupt versteht. Die Fingerspitzen verwandeln sich in ganze Finger und dann eine Handfläche. Er kommentiert den Satz mit dem Rum nicht. Anscheinend ist er gedanklich bei meiner wahnsinnig peinlichen Freundschaftsanfrage hängen geblieben – und ich kann es ihm nicht mal verübeln.
 

»Wirklich?«, fragt er sehr leise. Ich hebe meinen Kopf und sehe wahrscheinlich aus wie ein Besen, weil meine Haare sich aus dem Zopf gelöst haben. Taminos Augen sind riesig. Er sieht aus, als könnte er es überhaupt nicht glauben.
 

Ich schlucke und nicke.
 

»Ich glaube schon, dass du weißt, wie das geht«, meint Tamino leise. Ich lache peinlich berührt und fahre mir durchs Haar.
 

»Nah. Aber ich bin ja lernfähig. Falls du es noch nicht wusstest, ich bin ein echter Deutschcrack geworden. Hab zehn Punkte in meiner Klausur geschrieben«, scherze ich. Tamino lächelt noch ein bisschen mehr.
 

»Jap. Definitiv lernfähig«, sagt er und nickt.
 

»Ich flüchte mich eben aufs Klo, um mich da n bisschen weiter zu schämen«, sage ich und verlasse das Bett. Tamino gluckst leise und ich merke, dass er mir nachschaut. Was dazu führt, dass ich prompt mit der Schulter gegen den Türrahmen laufe.
 

Fuck my life.
 

Ich muss tatsächlich dringend aufs Klo, aber ich bleibe etwas länger im Bad, binde meine Haare wieder zusammen und wasche mir das Gesicht mit kaltem Wasser. Als ich in den Spiegel sehe, erblicke ich knallrote Wangen und glasige Augen.
 

Die Vorstellung, morgen direkt schon wieder einen trinken zu gehen, lässt meinen Magen angestrengt aufstöhnen. Als ich zurück ins Zimmer komme, ist Tamino aufgestanden und hat das Fenster geöffnet. Von draußen kommt angenehm frische Luft herein und der Himmel färbt sich allmählich orange.
 

Als ich eintrete, dreht er sich um. Hatte ich schon erwähnt, dass er zehn Zentimeter größer ist als ich? Und erstaunlich muskulöse Oberarme hat?
 

»Ich find Umarmungen super«, gesteht Tamino leise und fährt sich durchs Haar. Oh. Er hat es nicht vergessen. Mir wird schon wieder sehr warm.
 

»Aber ich hab seit mehreren Monaten keine bekommen. Ich bin überempfindlich und komplett ausgehungert.«
 

Oh.
 

Dafür fünf Gläser Rum. Ich glaube, Tamino wankt ein bisschen auf der Stelle.
 

Es liegt vielleicht… wahrscheinlich? Gar nicht an mir.
 

»Also… wenn… das Angebot noch steht… ich bin nicht sicher–«
 

»Es steht!«, sage ich hastig. »Ich will anständig Danke sagen.«
 

Tamino schluckt.
 

»Und wenn…«
 

»Du kannst deine Batterie an mir aufladen.«
 

Meine Stimme klingt definitiv nicht wie ein Krächzen. Nope. Tamino lächelt verlegen und fährt sich erneut durch die Haare.
 

»Die Batterie ist leer und hat ein ziemlich großes Fassungsvermögen.«
 

Aha! Diesmal hat er definitiv gelallt! Er benutzt immer noch größere Worte als ich, aber ich hab es eindeutig gehört. Das fünfte Glas hat was bewirkt!
 

»Ich hab gehört, für sowas hat man Freunde«, sage ich mit einem schiefen Grinsen. Tamino macht einen Schritt auf mich zu.
 

»Dürfen alle deine Freunde dich umarmen, als wären sie ein Oktopus?«
 

»Cem würde ich es erlauben. Auch wenn’s n bisschen seltsam wäre. Weil es Cem ist. Aber hey, ich hab ihm mal auf die Schuhe gekotzt, es kann kaum schlimmer sein als das.«
 

Tamino gluckst und macht noch einen Schritt. Er steht jetzt direkt vor mir und schaut zu mir hinunter.
 

»Ich bin ziemlich betrunken. Wenn ich nicht loslasse, kannst du mich wegschieben«, erklärt Tamino sehr ernst, als würde ich es tatsächlich in Erwägung ziehen, ihn von mir wegzuschieben, nachdem ich mich heute mehrmals total zum Deppen gemacht habe und jetzt endlich diese beschissene Umarmung bekomme, über die ich schon seit gefühlt hundert Jahren nachdenke.
 

Ich beschließe, dass ich Tamino einfach davon überzeugen muss, dass diese ganze Umarmungssache eine gute Idee ist, also mache ich den letzten kleinen Schritt nach vorn, Tamino hebt automatisch die Arme und dann…
 

Meine Arme finden einen passend zu den Oberarmen muskulösen Rücken und ein Stück nackte Haut am Nacken, wo das Shirt leicht ausgeschnitten ist.
 

Tamino macht ein Geräusch irgendwo zwischen einem Seufzen und einem Wimmern, als wäre er monatelang durch die Wüste gestolpert und hätte endlich einen Schluck Wasser bekommen. Dann schlingen sich diese Arme, die ich schon den ganzen Abend angestarrt habe, um mich und es scheint, als wäre so ziemlich jeder Damm gebrochen, denn Tamino vergräbt sein Gesicht in meinen Haaren und presst sich an mich, als würde er sonst jeden Augenblick krepieren.
 

Fuck. Wow. Fuck. FUCK.
 

Seine Haut unter den Fingern meiner rechten Hand fühlt sich sehr warm an. Überhaupt ist Tamino ziemlich warm. Und ugh. Er riecht so gut.
 

Ich wage es in einem durch Bier begünstigten Anfall von Mut, mit einer Hand sachte über seinen Rücken zu streicheln, was ein weiteres Geräusch zur Folge hat und dazu führt, dass ich noch fester gedrückt werde. Ich stelle mich ein bisschen auf die Zehenspitzen, was es Tamino gestattet, sein Gesicht statt in meinen Haaren in meiner Halsbeuge zu versenken.
 

Ich spüre sehr definitiv seinen Atem auf meiner Haut.
 

Mir ist wahnsinnig heiß und ich weiß, dass das definitiv nichts ist, was ich jemals mit anderen Freunden tun würde. Nicht mit denen vom Fußball. Auch nicht mit Cem. Vielleicht nicht mal mit Mari, wenn sie nicht gerade todtraurig ist und getröstet werden muss.
 

Ich bin hundertprozentig noch niemals so umarmt worden.
 

Als wäre ich ein Rettungsboot auf weiter See. Die meisten Umarmungen sind nach wenigen Sekunden vorbei. Diese hier nicht. Taminos Finger haben sich hinten in mein Shirt verkrallt und ich glaube nicht, dass er vorhat mich in nächster Zeit loszulassen.
 

»Wie lange hattest du keinen Alkohol mehr?«, erkundige ich mich.
 

»Ungefähr so lange, wie ich keine Umarmung mehr hatte«, nuschelt er. Gegen meinen Hals. Ich würde gerne sagen, dass das alles mich kein Stück überfordert und ich ganz lässig damit umgehe, dass ein Typ, den ich aus unerfindlichen Gründen echt dringend umarmen wollte, gegen meinen Hals spricht.
 

Aber in Wirklichkeit kriege ich eine Gänsehaut und halte die Luft an.
 

»Wow, so lange. Dafür bist du recht gut im Training«, gebe ich zurück. Da ich auf Zehenspitze stehe, kann ich mein Kinn auf Taminos Schulter ablegen. Allerdings ist meine Balance durch das ganze Bier nicht mehr die beste und ich wanke ein wenig auf der Stelle wie ein Baum im Wind.
 

Tamino hält mich fest und ich gluckse.
 

»Würde mich nicht wundern, wenn ich mich heute auch noch auf die Schnauze packe.«
 

»Wieso?«
 

»Weil ich mich schon so zum Horst gemacht hab.«
 

»Ich finde nicht, dass du ein Horst bist«, sagt Tamino. Er macht ein unzufriedenes Geräusch und ich merke, wie er seine Arme von mir löst. Also lasse ich mich zurück auf den Boden sinken und ziehe meine Arme ebenfalls zurück. Tamino sieht ausgesprochen unglücklich aus über den Kontaktverlust und ich sehe, wie er schluckt.
 

»Wir müssen uns noch mal umarmen«, platzt es aus mir heraus. Tamino blinzelt. Er steht immer noch direkt vor mir, sodass ich seine Körperwärme spüren kann. »Ich hab mich noch nicht für Französisch bedankt!«
 

Ich warte nicht auf seine Reaktion, sondern umarme ihn einfach noch mal. Er lacht leise, aber es klingt auch ein bisschen erstickt und ich frage mich, wie überwältigt man sich wohl fühlt, wenn man seit Monaten nicht mehr wirklich angefasst wurde und dann eine Umarmung bekommt. Und noch eine.
 

»Danke für mein Abi.«
 

Taminos Arme legen sich diesmal vorsichtiger um meinen Oberkörper.
 

»Gern geschehen.«
 

»Ich muss noch wissen, was du eigentlich gemacht hast«, sage ich. Es ist schon ein bisschen komisch, sich in einer Umarmung zu unterhalten. Aber ich werde mich nicht beklagen.
 

»Du hattest in Aufgabe drei genau dasselbe geschrieben wie ich und er hat mir volle Punktzahl gegeben, weil ich mehr rumgeschwafelt habe. Und er hat dir ein paar Fehler angestrichen, wo nicht unbedingt welche waren. Wahrscheinlich nicht mit Absicht, aber er ist halt kein Muttersprachler.«
 

Hab ich schon erwähnt, wie gut Tamino riecht? Ich würde ihn gerne nach seinem Duschgel oder Deo oder was auch immer fragen, aber ich glaube, das wäre etwas zu krass. Selbst dafür, dass wir hier schon wieder länger als normal stehen.
 

Tamino ist wieder der Erste, der loslässt und er sieht schuldbewusst drein. Als hätte ich ihm nicht einen Freifahrschein gegeben, um seine Batterie an mich aufzuladen.
 

»Ich fasse es nicht, dass du kompetenter bist als unser Lehrer«, nuschele ich. Die nackte Haut an meinen Armen und Händen kribbelt nachdrücklich von dem Kontakt.
 

Tamino grinst ein wenig und zuckt mit den Schultern.
 

»Wie viel Prozent hat deine Batterie jetzt?«, will ich wissen. Tamino wirft mir einen Blick zu und geht dann hinüber zu seiner Flasche Rum, um das nächste Glas einzuschenken. Ich lasse mich aufs Bett fallen und greife nach der Tüte Chips, die wir bisher noch nicht angerührt haben.
 

»Vielleicht so… zwei Prozent?«
 

»Brauchst du noch mehr Rum für die nächsten zehn Prozent?«
 

Er hebt wieder seine Augenbraue. Ob er das schon früher gemacht hat, oder ob er sich das heimlich von Spock abgeguckt hat? Wenn sein Ziel ist, dass ich mich merkwürdig fühle, weil er mich so anschaut, dann klappt es definitiv. Aber wahrscheinlich ist das nicht sein Ziel.
 

»Zehn Prozent gleich. Hoch gesteckte Ziele«, nuschelt er. Und weg ist das nächste Glas. Ich grinse breit.
 

»Ich nehme diese ganze Freundschaftssache sehr ernst«, sage ich ihm.
 

»Offensichtlich. Willst du den zweiten Teil auch noch sehen? Ich hoffe, du bist kein Fan von Benedict Cumberbatch, dann sollten wir den vielleicht überspringen«, meint er.
 

»Ich hab keine Ahnung, wer Benedict Cumberbatch ist«, sage ich. Tamino setzt sich zu mir aufs Bett und reicht mir die Flasche Rum. Es ist echt nicht mehr viel drin. Soviel zum Thema er schafft keine ganze Flasche.
 

Ich nehme die Flasche und trinke. Bah.
 

»Du hast im ersten Film auf das klingonische Fluchen verzichtet«, erinnere ich ihn. Tamino lacht. Neue Lebensmission: Tamino öfter zum Lachen bringen.
 

»Keine Sorge, wenn ich Benedict Cumberbatch sehe, werde ich schon ordentlich fluchen«, verspricht er und hebt sehr feierlich die Hand. Seine Zunge stolpert definitiv über den Namen Cumberbatch.
 

»Was mache ich, wenn die Flasche Rum leer ist und du noch nicht voll genug bist?«, frage ich und reiche ihm die Pulle zurück.
 

»Wann bin ich voll genug?«
 

»Weiß nicht. Wenn du dir keine Sorgen mehr um gar nichts machst und es dir nicht peinlich ist, deine Batterie an mir aufzuladen?«
 

Tamino legt den Kopf schief und mustert mich. Dann mustert er seine Flasche Rum und scheint kurz nachzudenken. Ich sehe, wie er mit den Schultern zuckt, die Flasche ansetzt und ich falle fast vom Bett.
 

HOLY SHIT.
 

Die leere Flasche landet unfeierlich auf dem Fußboden.
 

»Für null Sorgen kann ich nicht garantieren«, sagt er und friemelt mit fahrigen Fingern nach der DVD, um sie gegen den ersten Film in seinem Laptoplaufwerk auszutauschen.
 

»Ist dir klar, dass du der King auf Parties wärst?«, will ich wissen. Er schnaubt.
 

»Eher nicht. Das ist auch eigentlich kein Partytrick.«
 

Ich verstehe nicht wirklich, was er meint. Bis ich es mit dem Puzzlestück zusammenstecke, dass Tamino meinte, dass er für null Sorgen eigentlich noch mehr trinken müsste. Ich schlucke und frage mich, ob er diese hohe Alkoholtoleranz überhaupt nicht auf Parties entwickelt hat, sondern eher… im Privaten.
 

Ich kann auf keinen Fall danach fragen.
 

»Du hast wieder schlecht geschlafen letzte Woche«, sage ich stattdessen. Er lehnt sich gegen die Wand und zuckt wieder mit den Schultern. Ich rutsche diesmal absichtlich näher zu ihm, sodass unsere Oberarme sich nun berühren. Taminos leises Seufzen angesichts des Körperkontakts geht mir durch Mark und Bein.
 

Fuck.
 

»Jup. Passt schon.«
 

»Einfach so?«
 

»Einfach so.«
 

»Wirklich?«
 

»Ich schlafe fast immer schlecht«, sagt er, dreht den Kopf und schaut mich glasig an. »Außer mit viel Alkohol. Oder wenn ich krank bin anscheinend. Oder in der richtigen Gesellschaft.«
 

Nope. Ich frage nicht, wer alles unter die richtige Gesellschaft fällt. Definitiv nicht.
 

Er lehnt den Kopf an die Wand und grinst.
 

»Ich bin ganz schön voll«, nuschelt er.
 

»Das will ich hoffen! Du hast fast ne ganze Pulle Rum gesoffen!«
 

Tamino gluckst leise.
 

»Es ist nett, dass du fragst«, sagt er ganz leise. Ich schnaube.
 

»Hey! Also so mies bin ich jetzt auch wieder nicht mit dieser ganzen Freundschaftssache«, gebe ich empört zurück. Er grinst und sieht mich an.
 

»Hab ich doch schon gesagt.«
 

Oh. Ach ja.
 

»Ok, starte diesen Film mit Benedict Cumberbitch oder wie auch immer der Kerl heißt«, sage ich und wedele in Richtung Laptop. Tamino lacht. Er hält sich wieder die Hand vor den Mund, aber ich sehe, dass sein ganzer Körper bebt und betrachte die Fältchen neben seinen Augen. Er hört überhaupt nicht mehr auf zu lachen. Ich bin ganz verdattert.
 

Weil ich ihn so doll noch nicht hab lachen sehen, weil ich offensichtlich der Grund dafür bin und weil ich keine Ahnung, worüber er lacht.
 

Nach einer Weile gibt er es auf, sein Gesicht hinter der Hand zu verstecken und hält sich mit beiden Armen den Bauch, während er lacht.
 

»Ich hab keine Ahnung, was los ist!«, sage ich halb verzweifelt, halb amüsiert. Das bringt ihn nur noch mehr zum Lachen. Er hat Tränen im Augenwinkel. Vor Lachen. Krass.
 

Nachdem er sich ein wenig beruhigt hat, wischt er sich über die Augen.
 

»Cumberbitch«, sagt er glucksend und fängt dann gleich wieder von vorne an. Jap. Definitiv betrunken. Ich bin schon ein recht großer Fan vom betrunkenen Tamino. Ich greife nach der DVD-Hülle und schaue nach, wie der Name richtig heißt.
 

Ups.
 

Naja, da Tamino ihn sowieso nicht mag, ist der Name Cumberbitch ja vielleicht auch ganz passend. Ich starte den Film, weil Tamino offenbar nicht in der Lage dazu ist.
 

»Wenn ich einer von deinen anderen Freunden wäre, wie würdest du dann jetzt hier sitzen?«, will ich wissen. Ich angele mir ein neues Bier. Tamino bebt immer noch leicht vom Lachen und beißt sich auf die Unterlippe.
 

»Weiß nicht. Wir sind immer irgendwie ineinander verknotet«, meint er. Ja, das hab ich auf den Fotos gesehen. Das sage ich natürlich nicht, sondern drücke ihm mein Bier in die Hand und klettere kurzerhand zwischen seine Beine, wobei ich beinahe vom Bett falle, was Tamino wieder zum Lachen bringt.
 

»Hey!«, sage ich empört, muss aber selber auch lachen.
 

Tamino scheint zu verstehen, was ich vorhabe, denn er macht mir mit seinen drei Meter langen Beinen Platz, sodass ich vor ihm und zwischen seinen ausgestreckten Beinen sitze. Ich nehme mein Bier zurück und lasse mich dann einfach nach hinten sinken, als wäre Tamino ein gemütlicher Sessel.
 

Jap. Definitiv nicht die Art von Freundschaft, die ich sonst pflege. Da Taminos Gesicht jetzt direkt neben meinem Ohr ist, höre ich ihn zischend einatmen und frage mich, ob das wohl ok ist. Aber der Arm, der sich im nächsten Moment unter meinen Armen hindurch schlängelt und jetzt meinen Bauch umarmt, ist Kommentar genug.
 

Ich nehme einen Schluck Bier und platziere meinen Kopf auf Taminos Schulter.
 

»Du bist zu knochig«, klage ich. Tamino schnaubt und sein Atem streift mein Ohr. Zack, Gänsehaut.
 

Er angelt mit seinem freien Arm nach einem Kissen, platziert es auf seiner Schulter und gegen die Wand und ich lehne meinen Kopf dagegen.
 

»Besser?«, nuschelt er. Ich nicke und trinke noch einen Schluck.
 

Und dann höre ich in den nächsten zwei Stunden Tamino beim Fluchen auf Klingonisch zu, lausche einem kurzen, gelallten Vortrag darüber, dass man keine weißen Schauspieler für Rollen casten sollte, die ursprünglich von braunen oder schwarzen Menschen gespielt worden sind, spüre sehr definitiv Finger an meiner Seite, die sich wahrscheinlich unbewusst bewegen und sehe, wie es in der Tat empörend ist, dass Kirk und Spock kein Paar sind.
 

Als Kirk am Ende stirbt, lasse ich fast mein Bier fallen und greife nach Taminos Unterarm.
 

»Was? WAS? Was zum–«
 

Das ist der Moment, in dem Spock vollkommen ausrastet, weil Khan seinen Jim umgebracht hat. Ich kann das durchaus nachvollziehen.
 

»So ist er nicht mal bei seiner eigenen Mutter durchgedreht«, sage ich kopfschüttelnd. Tamino gluckst leise.
 

»Hey, vielleicht sollte ich zu deinem nächsten Spiel kommen«, nuschelt Tamino. Direkt in mein Haar. Ich weiß, dass er mit seinen besten Freunden genauso kuschelig ist, aber ich bin da definitiv nicht dran gewöhnt. Kuscheln steht nicht auf der Liste der Dinge, die ich normalerweise mache – besoffen oder nüchtern. Mit wem auch immer.
 

Dumpf erinnere ich mich an Katharina – meine erste und einzige Freundin von der neunten bis zur zehnten Klasse. Da war kuscheln wohl ok. Aber es ist ein Weilchen her und sie war auch meine Freundin. Feste Freundin.
 

»Wie kommst du darauf?«
 

Mein Bier ist leer. Tamino angelt mir ungefragt ein neues.
 

»Du hast Star Trek mit mir geguckt«, sagt er.
 

»Ich bin zu voll, um das zu checken«, gebe ich zu. Er lacht leise. Ich dachte, wir sollen nicht über Fußball reden. Ich brauche ein größeres, neues Gehirn, das mit Taminos mithalten kann.
 

»Du hast dir mein Hobby reingezogen. Dann kann ich das ja auch machen.«
 

»Heh… du hast jetzt schon mit mir gesoffen, das ist nach Fußball mein zweitgrößtes Hobby!«
 

»Ts. Ich glaube, das zählt nicht«, nuschelt Tamino, während Spock Khan verprügelt. Es ist irgendwie befriedigend zu sehen, wie Spock wegen Jim durchdreht, auch wenn ich empört darüber bin, dass Kirk einfach gestorben ist. Ich meine… ist er nicht der Hauptcharakter? Und der Captain! Wieso stirbt der Captain?
 

»Wenn du zu nem Spiel kommst, zeig ich dir nen Fallrückzieher.«
 

»Beeindruckend.«
 

Mir wird schon wieder heiß. Ich fühle Taminos Oberkörper warm und fest an meinem Rücken und sein Arm ist ein bisschen wie ein Anschnallgurt im Auto. Seine Finger an meiner Seite bewegen sich ein ganz kleines bisschen, fast so, als würde es ihn jucken, mein Shirt beiseite zu schieben und statt des Stoffes Haut zu erfühlen.
 

»Ist die Batterie schon bei zehn Prozent?«
 

Diese ganze Wärme und der Alkohol machen einen ganz schön müde. Ich unterdrücke ein Gähnen.
 

»Vielleicht.«
 

Ich könnte schwören, dass der Arm ein bisschen mehr drückt, als würde Tamino erwarten, dass ich gleich aufspringe. Ich rutsche ein bisschen an Tamino herunter und bin zufrieden, weil Kirk doch nicht tot ist.
 

»Gibt es noch einen?«, will ich wissen.
 

»Hmhm. Der dritte war gar nicht übel.«
 

»Oh. Ich glaub, den schaff ich nicht mehr.«
 

»Ich auch nicht.«
 

»Vielleicht sollte ich mich auf den Weg machen, bevor ich einpenne.«
 

Tamino gibt ein unzufriedenes Geräusch von sich und dann merke ich, wie er seinen Arm zurückzieht und ich treffe eine sehr dumme und sehr besoffene Entscheidung, die ich wahrscheinlich bereue, sobald ich wieder nüchtern und wach bin. Ich fahre Taminos Laptop herunter, als der Abspann beginnt, klappe ihn zu und lege ihn kurzerhand auf den Boden. Dort bekommt er Gesellschaft von meiner letzten, leeren Bierflasche.
 

Ich traue mich nicht, Tamino noch mal anzuschauen, bevor ich einfach wieder nach hinten kippe und dort lande, wo ich vorher auch war. Tamino gibt ein leises »Uff« von sich und ich frage mich, ob ich vielleicht zu weit gegangen bin, aber im nächsten Moment ist der Arm wieder da und dann komplementiert mich Tamino mehr oder minder subtil auf die Seite und wir kippen einfach um.
 

Ich glaube, das nennt man löffeln.
 

Ich schlucke, während Tamino seine Beine von meinen entwirrt, nach der Bettdecke grabbelt und mich dafür loslässt und ehe ich es mich versehe, ist die Bettdecke halb über uns, ich rutsche ein Stück auf dem Bett nach oben, um meinen Kopf im Kissen zu vergraben und Tamino bleibt einfach hinter mir liegen. Sein Atem kitzelt mich ein wenig im Nacken und ich seufze leise.
 

»Ok?«, flüstert er. Fast hätte ich ihn nicht gehört.
 

»Hmhm. Ich will meinen Anschnallgurt zurück«, murre ich. Ein ganz leises Glucksen. Dann kehrt der Arm zurück und meine letzte Gedanken, bevor ich wegdämmere, drehen sich um Ari und Dante und die Geheimnisse des Universums, um Spocks und Kirks Hochzeit, die nicht stattgefunden hat und darum, dass Tamino gesagt hat, dass er mit Alkohol und in der richtigen Gesellschaft gut schlafen kann.

Normal

Es ist sehr warm, was mich wundert, weil nämlich nur der untere Teil meiner Beine zugedeckt ist.
 

Ich blinzele gegen Sonnenlicht an, das mir direkt ins Gesicht scheint und schlucke ein paar Mal. Es dauert ein paar Momente, bis ich mich daran erinnere, dass ich nicht in meinem eigenen Bett bin und wo genau ich übernachtet habe. Mein Herz stürzt sich sofort in einen akuten Alarmmodus und ich fühle mich innerhalb weniger Sekunden hellwach.
 

Es scheint ganz so, als hätten wir uns nachts kein bisschen gerührt, denn Tamino und ich liegen immer noch genauso wie gestern, als wir eingeschlafen sind. Sein Gesicht ist gegen meinen Rücken gepresst, sein Arm fest um meinen Oberkörper geschlungen als hätte er selbst im Schlaf keinerlei Anstalten machen wollen, mich loszulassen.
 

Mein Shirt ist irgendwann im Laufe der Nacht nach oben gerutscht – oder geschoben worden – und Taminos Hand liegt leicht in sich gekrümmt an meinem nackten Bauch. Da er mit seinem Kopf weiter unten liegt als sich, passen seine Knie direkt in meine Kniebeugen. Kein Wunder, dass mir so warm ist.
 

Tamino ist wie eine ganz persönliche, tragbare Sauna.
 

Mein Zopf hat sich aus dem Haarband gelöst und meine Haare liegen um meinen Kopf herum verteilt auf dem Kissen. Dumpf kommt mir der Gedanke, dass ich Mari nachher bitten sollte, meinen Untercut wieder nach zu rasieren, weil die Haare auf der unteren Hälfte meines Kopfes schon wieder gut zwei Zentimeter lang sind.
 

Während ich darüber nachdenke, dass Tamino hoffentlich keine Panik bekommt, wenn er aufwacht, rührt er sich hinter mir und ich halte einen Augenblick die Luft an. Sein Arm drückt mich für einen Moment dichter an ihn und ich höre, wie er einmal tief einatmet. Und dann friert er komplett ein und ich sehe meine größte Befürchtung bestätigt, dass er jetzt vermutlich alles bereut, was er gestern gesagt und getan hat.
 

Ich spüre, wie er in Zeitlupe versucht, seinen Arm zu entfernen und entscheide im Bruchteil einer Sekunde, dass ich offensiv mit dieser ganzen Sachen umgehen sollte, auch wenn ich neu auf dem Kuschel- und Freundschaftsterritorium bin, und deswegen greife ich nach seinem Handgelenk, um den Rückzug seines Arms aufzuhalten.
 

»Ich will noch nicht aufstehen«, murmele ich ins Kissen.
 

Ich könnte schwören, dass Tamino leicht zischend die Luft durch die Nase einzieht. Ich beschließe, sein Handgelenk nicht loszulassen. Stattdessen streiche ich ganz vorsichtig mit meinem Daumen über die nackte Haut dort und endlich, endlich sickert die Anspannung aus Taminos Körper heraus und es ist, als würde er direkt wieder gegen meinen Rücken schmelzen.
 

Mein Magen kündigt seine Teilnahme an der Gymnastikolympiade an und demonstriert ein paar Saltos. Super, Magen. Du wirst dich dran gewöhnen, weil das die Art von Freundschaft ist, die wir führen werden. Jawohl.
 

»Das sind jetzt doch jetzt mindestens vierzig Prozent«, nuschele ich. Tamino gluckst leise hinter mir. Fast wünsche ich mir, dass ich sein Gesicht sehen kann, aber wahrscheinlich ist es besser so. Ich bin einen Moment lang verwirrt darüber, was das komisch blubberblasige Gefühl in meinem Bauchraum ist, bis mir klar wird, dass ich ausgesprochen glücklich bin.
 

Nicht, dass das sonst nie vorkommt, aber gerade ist es wirklich besonders… doll.
 

Wenn ich bedenke, dass ich mein Abi machen kann und einen neuen Freund gesammelt habe, ist das vielleicht nicht so komisch. Womöglich hat es auch etwas mit dieser Kuschelsache zu tun, die mir sehr viel besser finde, als ich es damals mit Katharina in Erinnerung habe. Ob es angemessen wäre, wenn ich mich umdrehe und mein Gesicht an Taminos Schulter vergrabe? Wahrscheinlich ist das zu viel des Guten.
 

»Vielleicht sind es instabile zwanzig«, sagt Tamino gegen meinen Rücken. Seine Finger an meinem Bauch zucken ab und an, als würden sie sich wirklich gerne bewegen.
 

»Instabil?«
 

»Naja, wenn ich dich wieder loslasse, könnte alles den Bach runter gehen.«
 

»Oh. Na dann… sag ich die Party heute Abend wohl besser ab«, scherze ich. Tamino schnaubt.
 

»Ist schon ok. Vielleicht darf ich dich ja jetzt ab und an mal umarmen. Ohne Rum.«
 

»Definitiv«, antworte ich. Aus unerfindlichen Gründen machen Taminos Finger an meinem Bauch mich nervös.
 

Mir kommt ein Gedanke.
 

»Wie hast du geschlafen?«, frage ich und höre selber, wie aufgeregt ich klinge.
 

»Wie ein Stein.«
 

»Wow, ein Hoch auf den Rum«, sage ich und es ist halb ernst und halb spaßhaft gemeint. Einen Augenblick herrscht Stille, dann…
 

»Ich glaube nicht, dass es am Rum lag«, murmelt Tamino sehr leise gegen meinen Rücken und ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll, aber das Gefühl in meinem Brustkorb und meiner Bauchgegend bäumt sich auf wie eine Flutwelle und durchspült mich von oben bis unten.
 

Heißt das jetzt, dass ich unter die Kategorie ‚richtige Gesellschaft‘ falle?
 

»Ich sollte duschen und Zähne putzen«, murrt Tamino. Ja, ich wahrscheinlich auch.
 

»Vielleicht sollten wir auch einfach noch mehr schlafen, jetzt wo’s für dich so gut läuft«, gebe ich zu bedenken und Tamino schnaubt amüsiert hinter mir und ich merke seinen warmen Atem durch den Stoff meines Shirts.
 

»Vielleicht.«
 

Und dann sagt Tamino einfach nichts mehr, rutscht noch ein kleines Stück näher an mich und ich höre ihn seufzen. Ich liege zwei Minuten mit hämmerndem Herzen im Bett und frage mich, ob mein Vorschlag super dämlich war, aber Tamino scheint wirklich wieder eingeschlafen zu sein, denn er atmet gleichmäßig gegen meinen Rücken.
 

Nachdem meine Gedanken sich noch etwa fünfhundert Mal im Kreis gedreht haben, denke ich darüber nach, ob ich mich auf den Rücken drehen will. Aber vielleicht wäre das zu viel des Guten – und unsere Gesichter wären dann auch sehr dicht beieinander. Dann wiederum glaube ich nicht, dass ich noch mal so auf der Seite einschlafen kann und beschließe, es zu riskieren. Zur Sicherheit halte ich vorsichtig Taminos Handgelenk fest, damit er nicht spontan beschließt aus dem Bett zu springen und panisch zu flüchten, wenn ich mich bewege.
 

Ich rutsche ganze vorsichtig ein wenig herum, ehe ich schließlich auf dem Rücken lande. Tamino gibt ein leises Geräusch von sich, aber er macht keine Anstalten wieder aufzuwachen, als ich schließlich auf dem Rücken lande. Stattdessen schiebt er eins seiner Beine über meine, drückt sein Gesicht in meine Halsbeuge und seine Hand liegt in dieser Position nun schlichtweg flach auf meinem nackten Bauch.
 

Ich zwinge mich dazu, ruhig zu atmen und die Augen wieder zuzumachen. Es dauert noch eine ganze Weile, bis ich wieder einschlafen kann und als ich ein zweites Mal aufwache, liege ich alleine im Bett und es ist ungewohnt kalt ohne Tamino als meine Bettdecke. Meine Innereien machen einen unangenehmen Satz, weil ich einen Moment lang denke, dass Tamino jetzt doch eine panische Krise bekommen hat, aber dann höre ich leises Klappern in der Küche und hoffe, dass Tamino einfach echt großen Hunger hatte.
 

Ich verschwinde im Bad ohne zu wissen, wie spät es eigentlich ist. Als ich in Taminos Zimmer zurückkehre, habe ich fünf Nachrichten von Mari bekommen.
 

»Juls, kann ich deine Sportschuhe leihen, meine sind in der Waschmaschine«
 

»Ich hab sie mir einfach genommen, also wenn du nachher noch was machen wolltest: schade!«
 

»Mama fragt, wann du nach Hause kommst.«
 

»Juls, du musst dir angewöhnen, uns zu sagen, wie lange du dich wo rumtreibst!!!«
 

»Nvm, Tamino hat mich aufgeklärt. Er macht Pfannkuchen für dich. Ich glaub ich krepiere an nem Zuckerschock«
 

Die letzte Nachricht ist bestückt mit mindestens acht Herzchenaugen-Emojis und ich schlucke schwer, ehe ich mich traue, in die Küche zu gehen. Und tatsächlich steht Tamino wieder am Herd und ich beobachte ihn kurz dabei, wie er Eier in eine Schüssel schlägt.
 

»Morgen«, sage ich und er zuckt wie erwartet zusammen und dreht sich um.
 

»Hey«, gibt er verlegen zurück und es ist sehr offensichtlich, dass er nicht so richtig weiß, wo er hinschauen soll. Also gehe ich einfach zum Herd und pflastere mich direkt neben ihn, Schulter an Schulter, und schaue in die Schüssel, als wüsste ich nicht schon längst, dass er Pfannkuchen macht.
 

»Willst du heute Abend mit auf die Feier kommen?«, frage ich. Ich weiß die Antwort schon, aber ich habe nicht erwartet, dass Tamino sehr schuldbewusst aussieht, als er vorsichtig den Kopf schüttelt. Ich buffe ihn also ein wenig mit der Schulter an.
 

»Kein Problem.«
 

»Wenn du mit mir stundenlang Star Trek schaust, sollte ich auch mal was machen, was du gerne machen willst«, murmelt er und fängt an, die Mischung aus Eiern, Milch und Mehl zu verrühren. Ah.
 

»Aber ich wollte ja stundenlang Star Trek mit dir gucken«, erinnere ich ihn. Ein kleines Lächeln blitzt auf. Immerhin etwas.
 

»Ja, aber…«
 

»Kein Aber! Du kannst nächste Woche zum Spiel kommen. Wenn du willst«, sage ich. Tamino nickt und sieht tatsächlich erleichtert aus. Nachdem wir das aus dem Weg geschafft haben, scheint alles soweit in Ordnung zu sein. Tamino macht einen ganzen Berg Pfannkuchen, die wir uns mit so viel Nutella reinziehen, dass es schon ein bisschen illegal ist, während wir den dritten Film schauen – den, den Tamino ganz gut fand.
 

Ich sehe sogar ein wenig, warum, da es diesmal keine Frauen gibt, die in Unterwäsche rumspringen und obwohl Spock und Kirk immer noch nicht heiraten, hat immerhin Sulu einen Ehemann und eine Tochter. Zu meiner eigenen Überraschung bedauere ich es sehr, dass Tamino jetzt, da er wieder nüchtern ist, sich nicht mehr so sehr an die ganze Kuschelthematik herantraut. Wir sitzen nebeneinander und nicht wie gestern aneinander gebappt und auch wenn unsere Schultern sich definitiv berühren, ist es nicht dasselbe. Ich denke den ganzen Film darüber nach, ob ich irgendwie elegant dazu übergehen kann, wieder näher bei Tamino zu sein, aber da ich keinerlei Übung in diesen Dingen habe und zu nüchtern bin, um besonders mutig zu sein, lasse ich es bleiben und schlucke meine neu aufgekommenen Kuschelwünsche herunter.
 

Immerhin bekomme ich eine Umarmung zum Abschied, als ich mich nach dem Film auf den Weg nach Hause machen will. Ich sollte dringend duschen und meiner Mutter live versichern, dass ich noch lebe.
 

Es ist nicht eine von diesen Umarmungen, die ich manchmal mit Cem habe. Kein Handschlag mit gegenseitigem Heranziehen und auf die Schulter hauen, bevor man sich wieder voneinander trennt, um ja nicht zu viel Körperkontakt aufzubauen. Es ist eine Umarmung von der Sorte, die ich auch von Mari bekomme. Beide Arme, der ganze Körper aneinander gedrückt.
 

»Dreißig Prozent«, nuschelt Tamino in die Umarmung, bevor er mich wieder loslässt und ich grinse ihn breit an.
 

»Das ist viel besser als null Prozent«, sage ich. Er lächelt mich volle Breitseite an und ich habe einen Augenblick das Gefühl, gleich hintenüber zu kippen, aber ich schaffe es stattdessen unbeschadet die Treppe herunterzukommen.
 

Ich bin fast ein wenig froh, dass Mari nicht zu Hause ist, als ich heimkomme, weil ich mich dann nicht für spontane Übernachtungen und Pfannkuchen am Morgen auslachen lassen muss. Meine Mutter hat allerdings auch kein Mitleid, weil sie mich zuerst dafür rügt, dass ich nicht Bescheid gesagt habe und dann mit einem amüsierten Schmunzeln wissen will, ob ich denn auch mal für Tamino Pfannkuchen machen möchte, wenn er bei uns übernachtet.
 

Mari, die elende Verräterin.
 

Ich dusche sehr ausgiebig und finde eine Nachricht von Tamino, als ich fertig bin.
 

»Du hast dein Bier hier vergessen :O«
 

Das könnte das erste Emoji sein, das ich ihn verwenden sehe. Ich grinse.
 

»Behalt es fürs nächste Mal!«
 

Mit Bierkrug und breitem Grinse-Emoji. Der Samstag vergeht wie Kaugummi und ich weiß nicht so richtig, was ich mit mir anfangen soll. Das führt dazu, dass ich meiner Mutter beim Wäsche zusammenlegen helfe. Sie sieht mich an, als wäre ich ein Alien.
 

»Vielleicht brauchst du mehr Freunde wie Tamino, Schatz«, sagt sie amüsiert, während ich Sockenpaare sortiere. Im Fernsehen läuft irgendeine Doku übers Weltall und ich muss an Star Trek denken. So weit ist es schon gekommen.
 

»Was hat Tamino mit Wäsche zu tun?«, frage ich und verdrehe die Augen.
 

»Sag du’s mir«, meint sie.
 

Ich hab keine Ahnung, was Tamino mit Wäsche zu tun haben soll, aber aus unerfindlichen Gründen bekomme ich rote Ohren und ich könnte schwören, dass meine Mutter es bemerkt. Sie hebt die Brauen, sagt aber nichts weiter und ich bin sehr dankbar dafür.
 

Als es endlich Zeit ist, mich auf den Weg zur Party zu machen, schreibt Cem mir, dass er mich abholen kommt. Das erste, was er tut, nachdem er mir mit einem Schulterklopfen fast ein Gelenk auskugelt – fast genauso gut wie eine richtige Umarmung – hält er mir ein Video unter die Nase.
 

Ich bin kurz verwirrt, bis mir klar wird, dass es ein kurzes Video davon ist, wie jemand in einem ziemlichen Affenzahn an der Skaterbahn vorbei läuft.
 

»Ich sag dir, er kann rennen wie ein Weltmeister«, meint Cem und meine Verwirrung verfliegt, als mir klar wird, dass er mir gerade ein Video von Tamino gezeigt hat – auch wenn man ihn nur schlecht erkennen konnte.
 

»Warum machst du Videos von Leuten im Park, du Creep«, sage ich lachend und buffe ihn mit dem Ellbogen, während meine Gedanken sich im Kreis drehen, weil ich immer noch versuche das Rätsel zu lösen, wieso Tamino keinen Sportunterricht machen darf und trotzdem laufen geht, als wäre der Teufel hinter ihm her.
 

Als wir bei Feli ankommen, sind bereits jede Menge Leute da. Sie begrüßt uns beide mit Umarmung – besser als Schulterklopfen, aber auch nur mit einem Arm – und zeigt uns, wo die Getränke stehen. Wir drücken ihr eine Flasche Sekt mit zwei daran geklebten zehn Euro Scheinen in die Hand und gratulieren ihr zum Geburtstag. Und dann besteht Cem darauf, meinen Alkoholpegel zackig aufzufüllen, indem er mich zum Bierpong spielen herausfordert.
 

Jedes Mal Bierpong. Und das, nachdem ich gestern schon gut angetrunken war.
 

Aber ich kann Cem schlecht etwas abschlagen und es dauert keine zwei Stunden, da sind wir beide schon wieder ziemlich dicht. Diesmal gibt es statt einem Balkon eine große Terrasse, die wir allerdings beim Rauchen nicht für uns alleine haben, weswegen keine tiefgreifenden Gespräche zustande kommen. Wer weiß, wen auf dieser Terrasse Cem heiß findet.
 

Ich trinke mehrere Runden Shots mit den Jungs aus meiner Mannschaft, die auch hier sind. Dann trinke ich Shots mit Feli, die darauf besteht, weil sie Geburtstag hat. Ich sehe, wie Lennard und Daniel fast in ihren Ausschnitt fallen, als sie sich den Kurzen zwischen die Zähne klemmt und den Kopf in den Nacken kippt.
 

Hm.
 

Ich betrachte kurz ihren Ausschnitt. Wahrscheinlich sind es ganz großartige Brüste, aber der ganze Hype darum hat sich mir noch nie so richtig erschlossen, wenn ich ehrlich bin. Als Feli den Shot getrunken hat, grinst sie mich an.
 

Ich grinse zurück.
 

Sie ist wirklich hübsch und sehr nett.
 

Es ist, als hätte sie meine Gedanken gelesen, weil sie im nächsten Moment nach meiner Hand greift und mich quer durchs Wohnzimmer zieht. Das Pfeifen und Johlen meiner Jungs klingt mir nach, als ich mich recht verdattert in einem Raum wiederfinde, der vorher abgeschlossen war.
 

Feli mustert mich und legt den Kopf schief.
 

»Kann ich dich küssen?«, fragt sie dann frei weg. Sie lallt ein bisschen, aber sie scheint bei weitem nicht so betrunken zu sein wie ich. Ich blinzele und denke daran, dass jeder andere aus meiner Mannschaft sofort ja schreien und sich auf die Gelegenheit stürzen würde.
 

Huh.
 

Körperkontakt ist eine gute Sache. Küssen ist Körperkontakt.
 

Ich nicke.
 

Ein Paar Hände schiebt sich in meinen Nacken und Feli stellt sich auf Zehenspitzen, um ihren Mund auf meinen zu drücken. Ich hatte zwar erst einmal Sex in meinem Leben, aber geknutscht habe ich dann und wann schon. Feli küsst gut. Ich lege meine Arme um sie und sie lächelt gegen meine Lippen und manövriert mich ein Stück nach hinten, bis meine Knie an einen Sessel stoßen und ich mich mit einem leises »Uff« darauf fallen lassen. Sie klettert in meinen Schoß und küsst mich noch mal.
 

Ich denke daran, dass neunzig Prozent der Kerle aus meinem Jahrgang wahrscheinlich Geld dafür bezahlen würden, Feli küssen zu dürfen. Fast kommt es mir ein wenig ungerecht vor, dass sie sich mich ausgesucht hat, auch wenn ich darüber nachgrübele, ob vielleicht genau das der Grund ist. Vielleicht will man als Mädchen nicht mit Jungs knutschen, die einem dauernd in den Ausschnitt sabbern und zweideutige Kommentare machen und sich abends einen auf den Gedanken runterholen, dass sie die Brüste des besagten Mädchens mal anfassen dürfen.
 

Ich stelle fest, dass ich keinerlei Bedürfnis danach habe, Felis Brüste anzufassen.
 

Huh.
 

Aber ich kann ihren Nacken kraulen und ihr durchs Haare streicheln und ihre Wange festhalten und sie lächelt immer wieder gegen meinen Mund, als wäre sie mit dieser Entwicklung durch und durch zufrieden. Vielleicht wollte sie wirklich gerne einfach nur knutschen und hat sich den Jungen ausgesucht, der mit niedrigster Wahrscheinlichkeit an ihren Brüsten rumfummeln würde.
 

Ich frage mich, woher sie wusste, dass ich das nicht tun würde. Vielleicht wusste sie es auch gar nicht. Ob man sich immer beim Knutschen mit einem hübschen Mädchen so viele Gedanken über verschiedene Dinge macht? Ich würde ja Cem fragen, aber ich glaube schon zu wissen, dass es nicht normal ist.
 

Das heißt, dass ich nicht normal bin.
 

Aber was genau das bedeutet, ist mir nicht so richtig klar. Also küsse ich Feli weiter und mache mir Gedanken und versuche herauszufinden, was genau an mir nicht normal ist.

Erkenntnisse

Dinge, mit denen ich nach diesem Wochenende hätte rechnen sollen:
 

1. Dass Freundschaft nicht wie nach einem magischen Fingerschnippen passiert, nur weil man angekündigt hat, dass man gerne mit jemandem befreundet sein möchte.
 

2. Dass meine Jungs mich niemals ruhen lassen würden, weil ich mit Feli in einem abgeschlossenen Gästezimmer verschwunden bin und dass keiner von ihnen – mit Ausnahme von Cem – mir glaubt, dass Feli und ich nur geknutscht habe und sonst nichts.
 

3. Dass ich nach meinem Abend mit Tamino festgestellt habe, dass kuscheln eine großartige Sache ist, die ich aber natürlich nicht mit jedem dahergelaufenen Menschen teilen kann und will und deswegen plötzlich auf dem Trockenen schwimme – was irgendwie ironisch ist, da ich damit ja nur angefangen habe, um Taminos Batterie aufzuladen.
 

Alles in allem war es ein großartiges Wochenende mit Folgen, die so anstrengend sind, dass ich eigentlich gerne eine Woche Urlaub von der Schule nehmen würde – was prinzipiell immer der Fall ist, aber so emotional erschöpft war ich noch nie in meinem Leben. Mit Ausnahme vielleicht von der Zeit, nachdem mein Vater beschlossen hat, dass er das größte Arschloch unter der Sonne ist und uns Drei hat sitzen lassen.
 

Obwohl ich meine Abizulassung jetzt in der Tasche habe, ist Schule wahnsinnig anstrengend, weil ich mir jeden Tag mindestens fünfmal anhören muss, dass ich bei Feli »gelandet« bin. Feli selbst geht angenehm locker mit der ganzen Sache um, zwinkert mir hier und da mal zu und unterhält sich wie gewohnt mit mir – eigentlich so, als wäre es keine große Sache gewesen. Ich bin sehr dankbar dafür und wünschte mir, dass die Jungs aus meiner Mannschaft sich eine Scheibe davon abschneiden würden.
 

Cem hat lediglich gefragt: »Und, was war?«
 

Und ich hab gesagt: »Haben ein bisschen rumgemacht.«
 

Woraufhin er mir auf seine übliche Art und Weise auf den Rücken haut und breit grinst, ehe er wieder an seiner Kippe zieht und seinen momentanen Ohrwurm summt. Keine Frage nach »schmutzigen Details« und danach, wie groß Felis Brüste ohne BH sind oder gar danach, in welcher Stellung wir es denn getrieben hätten.
 

Ugh.
 

Am Mittwoch bin ich so angepisst davon, dass ich Lennard fast eins zwischen die Augen verpasse und ich gehe nach der Schule nach Hause, schließe mein Zimmer ab und google nach Pornos – das trägt insofern Früchte, als dass mir nach zwei Minuten schlecht ist, ich meine Internetgeschichte lösche und hinterher mit hochrotem Kopf und Gänsehaut an den Armen ins Bett krieche, weil ich diesen unnötigen Abstecher so ekelhaft fand.
 

Dieses Unterfangen setzt meiner neuen Erkenntnis über das Nicht-Normal-Sein einen offiziellen Stempel auf, weil ich weiß, dass keinem meiner Kumpels jemals schlecht geworden ist, weil sie einen Porno gesehen haben. Und ich habe ja noch nicht mal einen gesehen. Die Vorschauen und einzelne Bilder haben mir schon gereicht.
 

Ich ignoriere Maris Klopfen und tue so, als würde ich schlafen, während ich anfange mir darüber Gedanken zu machen, ob ich vielleicht auf Männer stehe. Aber nach einer halben Stunde, in der ich an die Decke starre und versuche mir vorzustellen, Sex mit einem Mann zu haben. Oder vielleicht einem einen zu blasen.
 

Das Ergebnis davon ist, dass ich glühende Ohren und noch mehr Gänsehaut bekomme und zu dem Schluss gelange, dass ich sehr wahrscheinlich nicht auf Männer stehe. Die Frage ist nur, worauf ich dann stehe, wenn Brüste und Blowjobs von Kerlen mich gleichermaßen kalt lassen – oder noch schlimmer: mir den Magen umdrehen.
 

Ich vergrabe meinen Kopf unterm Kissen und denke darüber nach, mit wem ich darüber sprechen könnte. Googlen will ich das definitiv nicht. Wer weiß, was für Scheußlichkeiten dabei rauskommen, wenn man eingibt »Ich will mit niemandem Sex haben, was bedeutet das?«. Ich werde es jedenfalls nicht herausfinden.
 

Mit Cem kann ich nicht darüber reden, weil ich weiß, dass er Sex super findet und mich wahrscheinlich angucken würde, als sei ich ein Alien mit Tentakeln als Gliedmaßen. Mit Mari kann ich nicht darüber reden – ich liebe sie zwar sehr, aber ehrlich gesagt will ich das Thema Sex mit meiner Schwester niemals auch nur ansatzweise besprechen. Auch wenn sie insgesamt sicherlich eine gute Ansprechpartnerin wäre. Meine anderen Kumpels fallen selbstredend raus.
 

Ich kann auch Feli nicht sagen, dass ich Küssen zwar eigentlich ganz nett fand, aber dass sich nichts in meiner Hose getan hat – was ja vermutlich normal gewesen wäre – und dass ich keinen Bock auf Sex mit ihr habe. Oder mit sonst irgendwem.
 

Mein erstes und einziges Mal Sex mit Katharina war nach etwa drei Minuten vorbei und alle Beteiligten waren peinlich berührt und ich hab kurz danach Schluss gemacht, was mir sehr leid getan hat – aber mittlerweile ist mir ziemlich klar, dass die Vorstellung, noch mal mit ihr schlafen zu müssen, dazu geführt hat, dass ich geflüchtet bin.
 

Ich krieche unter meinem Kopfkissen hervor und greife nach meinem Handy.
 

Tamino hat gesagt, dass wir Freunde sein können. Also heißt das, dass ich theoretisch über solche Sachen mit ihm reden kann. Mari meinte, dass das die Art von Freundschaft ist, die Tamino will und braucht. Ich schlucke und rufe den Chatverlauf mit ihm auf, ehe ich anfange, eine Nachricht zu tippen.
 

»Kann ich dich was fragen?«
 

Die Antwort kommt sofort.
 

»Klar.«
 

Wie immer ohne Emoji. Ich kaue auf meiner Unterlippe herum und denke darüber nach, wie ich mein Problem am besten formuliere, ohne dass Tamino hinten über vom Bett kippt.
 

»Es hat mit Sex zu tun, ist das ok?«, schreibe ich und zögere, bevor ich abschicke. Aber wahrscheinlich platze ich, wenn ich nicht darüber rede, also… Juls, Augen zu und durch! Ich schicke die Nachricht ab.
 

»Na klar!«
 

Na klar. Einfach so. Als wäre er voll geübt darin, über Sex zu reden. Vielleicht ist er das ja. Vielleicht hat er überhaupt keinen Klemmer damit, über Sex zu reden. Krass. Ich schwelge kurz darin, wie falsch ich Tamino monatelang eingeschätzt habe und tippe dann meine nächste Nachricht.
 

»Wie komisch ist es, wenn man mit fast neunzehn keinen Sex haben will?«
 

Mein Herz springt mir fast gegen den Kehlkopf und ich sollte aufpassen, dass ich meine Unterlippe nicht durchbeiße, so sehr malträtiere ich sie.
 

»Nicht komisch. Weil du auf jmd/feste Beziehung warten willst, oder weil du Sex insgesamt nicht gut findest?«
 

Meine Augen lesen die Worte »nicht komisch« ungefähr dreißig Mal und ich höre selber, wie schwer meine Atmung geht.
 

»So insgesamt«, schreibe ich. Wow, Juls. Könntest du noch kürzer angebunden sein und damit deutlich machen, wie prüde du bist?
 

»Vielleicht bist du asexuell?«
 

»???«
 

»Dh du fühlst dich zu niemandem/nur ganz selten sexuell zu Menschen hingezogen. Kann auch heißen, dass du Sex entweder als eklig oder schlichtweg langweilig empfindest.«
 

»Woher weißt du das? Ist das ein Ding? Warum hab ich davon noch nie gehört?«
 

»Lotta ist asexuell. Ja, das ist ein Ding, aber die wenigsten Leute kennen das. Wird auch nicht viel drüber geredet. Ist wahrscheinlich vor allem für Jungs auch eher nichts, über das man reden will.«
 

Ich denke an meine Mannschaftskameraden und an ihre Kommentare und ihr Gejohle und denke mir im Stillen, dass niemand, der asexuell ist, mit denen darüber reden wollen würde.
 

Irghs.
 

Wenn Lotta asexuell ist und es ihr genauso geht, dann heißt das, dass sie mit Tamino keinen Sex hat. Ich sollte definitiv nicht über Taminos Sexleben nachdenken. Ich krabbele ruhelos aus dem Bett und werfe mich vor meinen Computer. Während ich darüber nachdenke, was ich Tamino sagen könnte, bestelle ich das Buch über Aristoteles und Dante, das ich bei Tamino im Regal gesehen habe und fange an, vor lauter Ruhelosigkeit meinen Schreibtisch aufzuräumen.
 

Mein Handy vibriert.
 

»Schau mal, der deutsche Wiki-Artikel ist ziemlich gut: https://de.wikipedia.org/wiki/Asexualit%C3%A4t«

Ich öffne den Link und fange an zu lesen. Wahrscheinlich ist es nicht nötig, den Artikel sechsmal zu lesen, aber ich tue es trotzdem und es ist ein bisschen wie eine Erleuchtung.
 

»Oh mein Gott. Danke dafür«, schreibe ich mit einer ganzen Schlange aus Emojis.
 

»Gern geschehen :)«
 

Ich habe seit Samstagmorgen nicht mehr mit Tamino gesprochen, außer ihm morgens in der Schule »Hallo« zu sagen. Abgesehen davon, dass ich gerade wahnsinnig erleichtert darüber bin, dass es einen Wikipedia-Artikel über mich gibt, fühle ich mich schlecht damit, dass ich es noch nicht gebacken bekommen habe, Tamino und mein sonstiges Sozialleben irgendwie auf einen Nenner zu bringen.
 

Vielleicht kann ich ihn fragen, ob Freitag nach der Schule Zeit hat. Jetzt muss ich mich allerdings erst mal weiter durchs Internet klicken und mehr über diese Sache mit der Asexualität lesen.
 

*
 

Am Freitag kriege ich volle Breitseite mitgeteilt, was für ein grandios miserabler Freund ich nach Tamino-Standards bin.
 

Ich bin schon den ganzen Tag besonders scharf aufs Wochenende, weil die Woche so kacke war und ich habe natürlich gesehen, dass Tamino anscheinend wieder kaum oder gar nicht geschlafen hat, aber ich denke mir, dass ich ja nicht jedes Mal danach fragen kann. Man will ja auch nicht aufdringlich sein.
 

Ich lächele ihn ab und an quer durchs Klassenzimmer an und er lächelt kaum merklich zurück. Ich frage mich, ob er sich immer noch fühlt wie ein Geheimnis, weil ich zu dumm bin, mich in den Pausen angemessen aufzuteilen oder um einfach mal in einer kleinen Pause zu ihm hinzugehen, mich auf seinen Tisch zu pflanzen und über irgendwas Belangloses zu reden.
 

Als wir nach dem letzten Klingeln nach draußen strömen, geht Tamino einige Schritte vor mir und ich überlege die ganze Zeit, ob und wie ich ihn fragen kann, ob er heute vielleicht Zeit hat, aber ich komme nicht dazu. Als wir durch die Eingangstür in die strahlende Sonne treten und die Schülermassen sich nach links und rechts aufteilen, um zu Fahrrädern oder Autos zu gelangen, bleibt Tamino wie angewurzelt stehen und ich laufe beinahe in ihn hinein.
 

Trotz des lauten Geschnatters der vielen Leute höre ich ihn scharf einatmen und denke einen Moment lang, ihm würde irgendwas wehtun, bis ich seinem Blick folge und auf der Rasenfläche vor der Schule drei Menschen stehen sehe, die ich bisher nur in Fotos und über Skype gesehen habe.
 

Noah, Anni und Lotta stehen auf dem Rasen vor unserer Schule. Anni hat einen Kuchen in der Hand, auf dem eine einzelne Kerze steckt und Noah hat eine Gitarrentasche über der Schulter. Sobald sie Tamino sehen, breitet sich auf ihren Gesichtern ein Strahlen aus und sie winken in seine Richtung und Tamino ist so schnell von meiner Seite verschwunden, dass ich kaum gucken kann.
 

Er ist in der Tat ausgesprochen schnell und interessiert sich offenbar kein bisschen dafür, dass viele Leute ihn erstaunt und verwirrt ansehen, weil er einen kurzen Sprint quer über den Rasen hinlegt, als hinge sein Leben davon ab. Noah breitet kurz vor dem Zusammenstoß breit grinsend die Arme aus und Tamino landet darin, als hätte er das schon hundert Mal getan. Lotta und Anni docken sofort von hinten an Tamino an, der jetzt um Noahs Hals hängt. Anni hat Schwierigkeiten mit dem Kuchen, will es sich aber offensichtlich nicht nehmen lassen, auch so viel Körperkontakt zu Tamino aufzubauen, wie möglich. Sie hält den Kuchen von sich weg und drückt sich halb an Noah, halb an Tamino.
 

Tamino hat sein Gesicht an Noahs Hals vergraben und ich muss kaum näher herangehen, um zu sehen, dass er offensichtlich weint.
 

Vielleicht sollte ich gehen? Aber…
 

Lotta hat mich entdeckt und winkt mir. Sie wedelt mit der Hand und bedeutet mir, herüber zu kommen und ich setze mich zögernd in Bewegung.
 

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, höre ich Noah in Taminos Haar sagen.
 

Oh.
 

OH.
 

FUCK.
 

Lotta strahlt mir entgegen, als ich direkt neben der Traube zum Stehen komme.
 

»Hey Julius!«, sagt sie freundlich. Weil sie noch nicht weiß, dass ich keinen blassen Schimmer hatte, dass Tamino heute Geburtstag hat.
 

»Hey«, sage ich. Anni verdreht sich den Hals, um mich anzusehen.
 

»Aha! Der berühmte Julius!«, sagt sie. Ich grinse schief, fahre mir durchs Haar und ziehe die Schultern hoch.
 

»Wir haben schon viel von dir gehört«, sagt Noah, um dessen Hals Tamino immer noch baumelt.
 

»Gleichfalls«, gebe ich zurück. Noah setzt Tamino vorsichtig auf dem Boden ab. Er ist wirklich riesig. Tamino löst sich ungefähr zwei Zentimeter von Noah, um als nächstes Lotta zu drücken. Anni schnaubt unzufrieden und die beiden Mädchen bilden ein Sandwich um Tamino.
 

Seine Augen waren vorher schon rot und jetzt sehen sie aus, als hätte er eine ganze Woche nicht geschlafen. Man sieht nasse Flecken auf Noahs Shirt.
 

»Was macht ihr denn hier?«, fragt Tamino mit brüchiger Stimme. Er dreht sich um, damit er auch Anni von vorne umarmen kann.
 

»Wir schwänzen und sind heute Morgen gegen acht losgefahren«, erklärt Lotta.
 

»Aber dein Hausarrest…«, sagt Tamino mit großen Augen. Sie zuckt mit den Schultern.
 

»Sie können mir ja noch mehr Wochen aufbrummen und gucken, was passiert«, sagt sie. Tamino drückt ihr einen Kuss auf die Wange. Ah. Da sind sie, zuckrig klebrig, genau wie Linda und Mari.
 

»Du siehst aus, als bräuchtest du dringend ein Nickerchen«, meint Noah und mustert Tamino aus der Nähe. Tamino fährt sich durch die Haare und nickt.
 

»Hast du schon was vor, oder möchtest du uns Gesellschaft leisten?«, fragt Lotta mich lächelnd. Ich schlucke und sehe Tamino fragend an. Er strahlt und erinnert mich an den Tamino auf dem Foto.
 

»Ich will euch nicht stören«, sage ich unsicher. Tamino schüttelt den Kopf.
 

»Du störst nicht. Wir bestellen Essen und es gibt Kuchen und… also… nur wenn du möchtest«, murmelt er und sieht verlegen drein. Ich fasse es nicht, dass ich nicht wusste, dass er Geburtstag hat. Und er nimmt es mir nicht mal übel und lädt mich auch noch zu sich ein.
 

»Ok«, sage ich unter den aufmerksamen Blicken von Taminos drei besten Freunden und sie grinsen mich zufrieden an, ehe wir uns in einer kleinen Traube zusammen auf den Weg machen. Anni redet am meisten, während wir durch die Straßen gehen. Sie trägt immer noch den Kuchen mit Schokoladenguss und erzählt von einer Ausstellung ihrer Mutter in einem Museum. Es gibt auch jede Menge Neuigkeiten über Leute, die früher mal Taminos Klassenkameraden gewesen sein müssen.
 

Jemand namens Kalle hat die Nase gebrochen bekommen, weil er einem Mädchen namens Elisa an den Hintern gegrabscht hat. Ich frage mich, ob Feli Lennard auch die Nase brechen würde, wenn sie wüsste, wie er über ihre Brüste redet.
 

Noah hat ein neues Projekt angefangen, das irgendwas mit Tolkien und einer riesigen Leinwand zu tun hat. Lotta hat zum ersten Mal in ihrem Leben eine eins in Mathe geschrieben – und ich bin nicht überrascht, dass Tamino ihr dafür über Skype Nachhilfe gegeben hat. Ich frage mich, wie er es nicht nur schafft, seine eigenen Schulsachen zu stemmen und in allem exzellent zu sein, sondern auch noch für mich und seine drei besten Freunde Schularbeiten zu erledigen.
 

Der Junge ist das achte Weltwunder.
 

»Oh, Julius! Herzlichen Glückwunsch zur Abizulassung!«, sagt Lotta zu mir, als wir in Taminos Straße einbiegen.
 

»Ja, Alter. Gute Arbeit«, sagt Noah und zeigt mir einen Daumen hoch. Ich grinse verlegen.
 

»Danke. Wär nix geworden ohne mein persönliches Genie«, sage ich und wedele in Taminos Richtung. Anni grinst sehr breit, während Noah nickt, als wüsste er ganz genau, was für Wunder Tamino vollbringen kann.
 

»Wenn Tamino mir nicht ab der Achten Nachhilfe in Französisch gegeben hätte, wär ich überall durchgerasselt«, erklärt Noah und ich fühle mich ein bisschen weniger dumm.
 

»Das heißt, ihr seid nicht alle solche Genies wie Tamino?«, will ich wissen. Anni lacht laut und ausgelassen bei dem Gedanken daran, dass sie ein Genie sein könnte.
 

»Hey, lach nicht! Ihr seid alle großartig in verschiedenen Dingen!«, protestiert Tamino und haut Anni spielerisch gegen den Arm. Sie streckt ihm die Zunge raus.
 

»Ich sag ja nicht, dass wir unterbelichtete Besenstile sind, aber du weißt schon. Dein Gehirn hat die Größe eines Blauwals und wir sind mehr so… mit normalgroßen Gehirnen ausgestattet«, meint Anni.
 

Lotta nickt.
 

»Noah kann malen und du schreibst großartige Gedichte und Lotta–«
 

Lotta streckt die Hände aus, hält Taminos Gesicht fest und drückt seine Wangen dabei ein wenig zusammen.
 

»Wir lieben dich sehr«, sagt sie ernst, um Taminos flammende Verteidigungsrede auf den Intellekt seiner Freunde aufzuhalten. Taminos Gesicht wird von einem zärtlichen Lächeln erhellt und da seine Wangen immer noch zusammengedrückt sind, sieht er gleichermaßen niedlich und albern aus.
 

Fast erwarte ich, dass Lotta und Tamino sich gleich küssen, aber Lotta entlässt sein Gesicht aus ihrem Griff und wir erreichen im nächsten Moment Taminos Haustür.
 

»Du bist ja seit neustem auch für Schlaf freigeschaltet, nicht?«, sagt Anni bestens gelaunt. Ich blinzele verwirrt, während Tamino die Wohnungstür aufschließt und uns alle in den Flur lässt.

Lotta kichert und Tamino gibt ein hüstelndes Geräusch von sich. Noah schüttelt liebevoll den Kopf.
 

»Wegen Taminos Nickerchen, meine ich«, sagt Anni.
 

»Wir stecken ihn jetzt erst mal ins Bett«, fügt Noah hinzu.
 

»Ihr seid doch nicht hergekommen, damit ich jetzt schlafen gehe«, protestiert Tamino schwach und muss prompt ein Gähnen hinter seiner Hand verbergen.
 

»Du unterschätzt uns«, sagt Anni bestens gelaunt, kickt ihre Schuhe quer durch den Flur, als wäre sie schon hundert Mal hier gewesen und trägt den Kuchen in die Küche. »Wir bleiben bis Sonntagabend!«
 

Tamino sieht aus, als müsste er sich zusammenreißen, um nicht schon wieder zu weinen. Noah und Lotta schieben ihn in die Küche und ich versuche nicht krampfhaft darüber nachzudenken, dass ich kein Geschenk für Tamino habe und mich deswegen miserable fühle. Ich folge den anderen in die Küche und beobachte, wie Anni mit einem riesigen Messer ihren Kuchen zerteilt. Er ist mit bunten Smarties dekoriert.
 

Noah zündet die einzelne Kerze an und verfrachtet Tamino auf einen Stuhl, damit er die Kerze direkt wieder auspusten kann. Obwohl Tamino den ganzen Tag lang wahnsinnig müde aussah und dunkle Ringe unter den Augen hat, leuchtet er jetzt richtig von innen heraus. Er betrachtet den Kuchen und dann seine drei Freunde, als wäre er noch nie in seinem Leben glücklicher gewesen.
 

Mein Magen macht eine merkwürdige Schlängelbewegung. Und dann finden Taminos Augen mich und er lächelt mich von unten herauf ganz offen an, als wäre es überhaupt nicht schlimm, dass ich nichts von seinem Geburtstag wusste. Und dann pustet er seine Kerze aus.
 

Wir essen Kuchen und ich schreibe Mari eine Notfall-Nachricht darüber, dass Tamino Geburtstag hat.
 

»Ich hoffe, du hast keine Angst mit uns alleine zu sein?«, fragt Lotta schmunzelnd, als wir nach dem Kuchen von der Küche in Taminos Zimmer umziehen. Die ehrliche Antwort ist ja, aber es wäre bekloppt, das zuzugeben. Also schüttele ich den Kopf und bemühe mich so lässig wie möglich auszusehen.
 

Tamino wirft sich aufs Bett und wird sofort von drei Leuten begraben. Ich höre ihn erstickt lachen, während ich nur noch den unteren Teil seiner Beine sehen kann. Kein Wunder, dass seine Batterie leer war. Ich erinnere mich daran, wie Tamino mich ins Bett gesteckt und zugedeckt hat. Genau das wird jetzt auch mit ihm gemacht und Noah, Anni und Lotta gruppieren sich um ihn herum, als würden sie ein schützendes Nest um ihn bilden wollen. Dann klopft Noah neben sich aufs Bett.
 

»Es sieht sehr eng aus«, sage ich amüsiert. Anni schnaubt.
 

»Unsinn. Mein Bett ist nur neunzig Zentimeter breit und da passen wir auch alle drauf«, sagt sie und wedelt mit der Hand in meine Richtung. Ich klettere folgsam aufs Bett, setze mich neben Noah und sortiere meine Beine über Taminos Unterschenkel.
 

»Schlaf gut«, sage ich Richtung Kopfende und winke Tamino, der leise gluckst. Ich denke mir, dass man so doch unmöglich zur Ruhe kommen kann, aber es dauert keine zwei Minuten, da ist Tamino eingeschlafen.

once more with feeling

Als ich aufwache, ist mir wahnsinnig heiß und ich fühle mich aus unerfindlichen Gründen so sicher und gut aufgehoben wie seit Monaten nicht mehr. Es dauert ein paar Momente, bis mein Gehirn hochgefahren ist und mich mit den Erinnerungen an die Ereignisse nach Schulschluss beliefert. Ich reiße die Augen auf und sitze so zackig senkrecht im Bett, um mich zu vergewissern, dass ich mir all das nicht nur eingebildet habe, dass ich Anni und Noah zu Tode erschrecke und Lotta beinahe vom Bett fällt.
 

»Keine Sorge, Alter. Wir sind noch da«, sagt Noah lächelnd und ich bin schon wieder in Stimmung mir die Augen aus dem Kopf zu heulen, weil sie wirklich alle hier sind. An meinem Geburtstag. Ich schaffe es nicht einmal, mich wegen Lotta schlecht zu fühlen, die ganz sicherlich riesigen Ärger bekommen wird, sobald sie nach Hause kommt, weil ich einfach so glücklich bin, dass ich platzen könnte.
 

Noah, Anni, Lotta und Julius haben allesamt ihre Handys in der Hand und ich brauche einen Augenblick um zu verstehen, dass sie sich nicht laut unterhalten haben, sondern per WhatsApp.
 

»Wie spät ist es?«, krächze ich und wische mir mit der rechten Hand über die Augen.
 

»Halb fünf. Du hast echt nicht so lang geschlafen«, versichert Lotta mir.
 

»Ja, dafür, dass du ausgesehen hast wie ein Zombie«, fügt Anni hinzu.
 

Ich erinnere mich noch sehr an den Blick in den Spiegel, als ich mich heute Morgen für die Schule fertig gemacht habe und ich sah in der Tat aus wie ein Zombie. Wenn man die ganze Woche lang dauerhaft Panik hat, an seinem Geburtstag zum ersten Mal in seinem Leben allein zu sein, schläft es sich einfach nicht sonderlich gut.
 

Ich habe die ganze Woche lang überlegt, ob ich Julius gegenüber irgendwie erwähnen kann, dass ich am Freitag Geburtstag habe, aber es wäre mir komisch vorgekommen. Und ein bisschen erbärmlich. Als ich heute Morgen aufgestanden bin, habe ich den üblichen unbeschrifteten Umschlag mit Geld darin auf dem Küchentisch gefunden – das größte Ausmaß der »Zuneigung« meines sogenannten Vaters. Es war nicht mal eine Karte dabei, aber da das jetzt schon seit Jahren so ist, wundert es mich nicht.
 

Julius sitzt immer noch an meinem Fußende, die Beine wie ein Zelt über meine Unterschenkel gestellt und betrachtet mich schmunzelnd. Wahrscheinlich sehe ich aus wie ein Besen.
 

»Wir haben eine Gruppe für uns und Juls erstellt«, erklärt Anni. Aha. Sie ist direkt dazu übergegangen, Julius bei seinem Spitznamen zu nennen. Anni hat einfach überhaupt keine Scham. Ich beneide sie regelmäßig darum.
 

»Jap. Und wir haben ihn dazu gezwungen, das Pottermore Quiz für sein Haus zu machen«, fügt Noah hinzu. Er sieht sehr zufrieden aus mit sich.
 

»Gryffindor«, informiert Julius mich. Wer hätte gedacht, dass es mich nach zwei Monaten Bekanntschaft so zufrieden machen würde, dieses schiefe Grinsen zu sehen.
 

Noah streckt seine Hand für eine Brofist aus und Julius haut seine dagegen, da sie zusammen in einem Haus gelandet sind. Was für ein seltsames Bild. Meine zwei Leben sind ganz plötzlich miteinander verschmolzen und ich brauche noch ein paar Augenblicke, um das miteinander zu vereinbaren.
 

»Marina ist auch in Gryffindor. Sie hat einen Kapuzenpulli und ne riesige Fahne bei sich im Zimmer«, erklärt Julius.
 

»Oh! Willst du sie einladen? Vielleicht möchte sie kommen?«, sage ich hastig. Dann ist Julius nicht so allein in einer Gruppe von Leuten, die sich schon seit acht Jahren kennen. Ich bin total beeindruckt, dass Julius mit uns mitgekommen ist. Ich hätte mich das im Leben nicht getraut, wenn ich niemanden außer dem Gastgeber kenne. Wahrscheinlich ist er in Gryffindor ganz gut aufgehoben.
 

»Klar, ich kann sie fragen. Ich glaube, sie ist mit Linda verabredet«, gibt Julius zurück und fängt an auf seinem Handy herumzutippen.
 

»Ich bin sicher, Linda ist auch sehr nett und sie darf gerne mitkommen«, erkläre ich.
 

»Wie viel Knete hat dein alter Mann dir hingelegt?«, fragt Noah.
 

Anni knurrt leise.
 

»Ich glaube zweihundert. War zumindest letztes Jahr so. Ich hab noch nicht reingeschaut«, gebe ich zu und fahre mir durchs Haar. Ich sehe Julius‘ Blick kurz zu mir herüber flackern, als Noah diese Frage stellt. Ich weiß, dass er gesagt hat, dass er gerne mit mir befreundet sein möchte, aber ich hab mich noch nicht getraut, ihm besonders viele Dinge von mir zu erzählen. Das liegt vor allem daran, dass ich mich nicht aufdrängen will und daran, dass ich über vieles ungern rede, weil ich im Verdrängen besser bin.
 

Vielleicht ist er auch nicht so der Typ dafür, dass man ihm von seinen Problemen berichtet. Wer weiß, ob er nicht total überfordert damit wäre. Wundern würde es mich nicht, da ich mit meinem eigenen Leben ja schon total überfordert bin. Für andere Leute muss es dann noch schlimmer sein.
 

»Sie sagt, dass sie und Linda gerne vorbei kommen!«, informiert Julius mich.
 

»Lasst uns was Cooles spielen! Black Stories? Ohhh! Ich will Black Stories spielen!«, sagt Lotta aufgeregt und klatscht in die Hände.
 

»Ich hab Teil sechs und sieben hier irgendwo rumfliegen«, sage ich und versuche mich aus meiner Bettdecke zu befreien, was schwierig ist, wenn vier Leute darauf sitzen. Letztendlich schaffe ich es und komme mir dabei vor wie ein Schmetterling, der sich aus einem Kokon befreit.
 

»In welchem Haus ist Linda?«, will Anni wissen.
 

»Slytherin«, informiert Julius sie.
 

»YES!«, ruft Anni begeistert und stößt die Faust in die Luft. »Ich liebe sie jetzt schon!«
 

Julius lacht.
 

»Wie haben die beiden sich kennengelernt?«, will Lotta wissen.
 

»Spielen beide Volleyball für gegnerische Mannschaften«, erklärt Julius grinsend, während er eine weitere Nachricht auf seinem Handy tippt. Ich beschließe, dass ich die Vier ohne Bedenken noch ein wenig länger allein lassen kann und verschwinde zunächst einmal unter der Dusche und husche anschließend in die Küche, wo der Umschlag immer noch unangerührt liegt.
 

Ich seufze, als ich danach greife. Wie erwartet stecken zwei grüne hundert Euro Scheine darin und ich betrachte sie. Immerhin kann ich meine Freunde so zum Essen einladen – dann hat mein Vater seine gute Tat des Jahres erledigt.
 

»Hey«, ertönt Julius‘ Stimme von der Tür her und ich schaue auf, die beiden Scheine in der Hand.
 

»Hey«, sage ich lächelnd. Julius sieht nervös aus und er kaut auf seiner Unterlippe herum.
 

»Ich wusste nicht, dass du Geburtstag hast«, platzt es dann aus ihm heraus. Ich blinzele.
 

»Ich weiß. Ich habs dir ja auch nicht gesagt«, gebe ich verwundert zurück. Er sieht aus, als würde es ihm zu schaffen machen, dass er das nicht wusste. Aber woher hätte er das ahnen sollen?
 

»Ich will–hmpf«, sagt er und wedelt mit den Armen, als wüsste er nicht so genau, was er sagen soll. Dann seufzt er und gibt es mit dem Sprechen erst mal auf. Stattdessen kommt er zu mir herüber und umarmt mich. Ich gebe ein überraschtes Geräusch von mir, erwidere die Umarmung aber.
 

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, nuschelt er gegen meine Schulter. Ich lächele und drücke ihn noch ein bisschen fester. Julius lässt sich erstaunlich gut drücken. Vielleicht, weil er gute zehn Zentimeter kleiner ist als ich, oder vielleicht weil er einfach gut mit Umarmungen ist.
 

Ich bin immer noch dankbar und ein bisschen ungläubig darüber, dass Julius am letzten Wochenende so viel Körperkontakt mit mir geduldet hat. Er scheint diese ganze Freundschaftssache sehr ernst zu nehmen. Ich hatte eigentlich erwartet, dass er im nüchternen Zustand Panik kriegt und sich direkt aus dem Bett stürzt, aber nein. Die Vorstellung, dass ich meine Batterie in Zukunft vielleicht ein bisschen regelmäßiger an ihm aufladen kann, macht mich zufrieden.
 

»Willst du noch ein Stück Kuchen?«, frage ich in die Umarmung hinein. Julius hat noch keine Anstalten gemacht, mich loszulassen und ich werde mich sicherlich nicht darüber beschweren. Ich habe das Gefühl, dass ich Frau Lüske und Frau Timmermann einen Dankesbrief schreiben sollte, weil sie mir einen Freund beschert haben. Wer hätte das gedacht, als dieses ganze Nachhilfeelend losgegangen ist? Ich sicherlich nicht.
 

»Eins mit extravielen Smarties drauf?«
 

»Ok.«
 

Er löst sich von mir und ich drücke ihm unfeierlich den Umschlag in die Hand, ehe ich den Rest vom Kuchen schneide. Als es an der Tür klingelt, geht Julius ungefragt aufmachen. Ich frage mich, ob er vielleicht schon durchschaut hat, dass ich eine Angststörung habe. Dann wiederum wirkt er sonst nicht unbedingt wie ein Mensch, der sich mit solchen Dingen auskennt. Ich drücke ihm im Flur sein Stück Kuchen in die Hand und nehme den Umschlag.
 

»Wollt ihr Pizza oder Chinesisch oder Döner oder…?«, rufe ich in mein Zimmer.
 

»Pizza!«, kommt es einstimmig zurück. Mir wird ganz warm ums Herz.
 

»Pizza für dich auch ok?«, frage ich Julius.
 

»Pizza geht immer«, entgegnet er, just als Marina und Linda die Treppe herauf kommen. Marina hat einen Muffin organisiert und eine kleine Kerze hinein gesteckt.
 

»Ich wusste nicht, dass du Geburtstag hast!«, sagt sie zur Begrüßung und streckt den muffinfreien Arm nach mir aus, um mich zu umarmen. »Herzlichen Glückwunsch!«
 

»Herzlichen Glückwunsch, Tamino«, sagt Linda lächelnd. Ich habe sie bislang nur auf einem Foto gesehen, aber ihre Augen hinter den eckigen Brillengläsern sind wirklich genauso riesig wie auf dem Bild, das ich von ihr kenne. Ihre langen, braunen Haare hat sie sich über eine Schulter geflochten und sie trägt ein übergroßes Shirt mit Wonder Woman Motiv als Minikleid mit einer Netzstrumpfhose darunter.
 

»Oh mein Gott, das Shirt ist das beste, was ich je gesehen habe!«, ertönt Lottas begeisterte Stimme hinter mir und plötzlich ist der Flur voller Leute, die sich einander vorstellen und noch mehr Kuchen essen und ich muss mich wirklich zusammenreißen, um nicht schon wieder zu heulen, weil mein Herz so voll ist, dass es vermutlich gleich überläuft.
 

»Ich nehme Pizzabestellungen entgegen«, sagt Anni. Sie hat den Flyer bereits in der Hand und drückt ihn Julius gegen die Brust, zückt einen Kugelschreiber und greift nach einem Notizblock auf der Kommode im Flur.
 

»Döner und Hollandaise«, sagt Julius. Ich schüttele amüsiert den Kopf in seine Richtung und er streckt mir die Zunge raus. Anni hingegen nickt anerkennend.
 

»Gute Wahl«, sagt sie und notiert nacheinander all unsere Pizzawünsche, ehe sie ungefragt unser Telefon schnappt und ins Wohnzimmer verschwindet, um dort in Ruhe zu telefonieren. Nachdem sie wiederkommt folgen noch weitere Komplimente über T-Shirts, da Noah eines mit Gandalf darauf anhat, Anni eins in Mischung aus »Herr der Ringe« und »A Song of Ice and Fire« trägt und Marina mehrere Star Trek und Ghibli Buttons an ihrer Handtasche befestigt hat.
 

Alles in allem scheinen alle sich hervorragend zu verstehen.
 

»Wir können nicht allzu lange bleiben, weil wir noch woanders eingeladen sind«, sagt Marina entschuldigend zu mir, während wir uns alle in mein Zimmer sortieren. Noah, Marina und Julius sitzen auf dem Bett, Linda, Anni und Lotta haben sich einfach auf den Fußboden gehockt, als ich zurück ins Zimmer komme. Ich reiche Anni schweigend den Umschlag mit dem Geld, damit sie zahlen kann, wenn unsere Lieferung kommt.
 

»Kein Problem«, sage ich verlegen. »Danke, dass ihr überhaupt gekommen seid.«
 

Wir unterrichten Marina davon, dass sie mit ihrem Bruder in einem Haus gelandet ist und sie verlangt ihm ein Highfive ab.
 

»Dann kann ich dir ja zum Geburtstag einen Schal in den Hausfarben schenken«, sagt sie zufrieden. Julius schnaubt.
 

»Solange er nicht selbstgestrickt ist.«
 

»Hey! Werd nicht frech! Ich bin achtzehn Minuten älter als du!«
 

»Aber du kannst ums Verrecken nicht stricken!«
 

»Wann habt ihr Geburtstag?«, will ich sofort wissen. Vielleicht ist es ein bisschen gemein, weil ich Julius meinen Geburtstag nicht vorher verraten habe, aber ich möchte es trotzdem gerne wissen.
 

»Am fünften August«, gibt Marina bereitwillig zur Auskunft.
 

»Ich hab schon ein Geschenk für dich«, sagt Linda verträumt. Sie erinnert mich von ihrer Art her ein bisschen an Luna Lovegood. Ich speichere mir den fünften August in meinem Handykalender und stelle fest, dass der Termin noch in den Sommerferien liegt – das heißt, ich werde nicht hier sein, wenn Julius Geburtstag hat, weil ich die ganzen Sommerferien in meiner Heimat verbringe.
 

Ich will Julius gerade diesbezüglich vorwarnen, als mein Handy anfängt zu vibrieren. Die üblichen Panikglocken in meinem Gehirn gehen los und ich werfe einen raschen Blick auf das Display. Es ist Oma.
 

»Salut, Nana. Nan nga def?«, sage ich lächelnd. Wenn ich mit meiner Oma telefoniere, ist es immer ein komischer Mischmasch aus Wolof und Französisch. Ich antworte meistens auf Französisch, weil ich Wolof besser verstehen als sprechen kann, aber wenn ich ein paar Sätze fehlerfrei kenne, dann benutze ich sie auch. Ich weiß, dass Oma sich darüber freut.
 

Julius beobachtet mich, als wäre mir gerade ein zweiter Kopf gewachsen, während ich mit meiner Oma telefoniere, die fragt, ob ihr Brief schon angekommen ist und mir erklärt, dass ich mein Geschenk bekomme, sobald ich das nächste Mal bei ihr zu Besuch bin. Dann will sie wissen, ob mein Vater immer noch ein nutzloser Mistkerl ist. Ich versuche es irgendwie abzumildern, aber meiner Oma kann man nichts vormachen.
 

»Hat er dir wieder einen Umschlag hingelegt?«, will sie mit strenger Stimme auf Wolof wissen.
 

»Ja. Ich lade meine Freunde damit gleich zum Pizzaessen ein«, gebe ich auf Französisch zurück. Marina lacht Julius für seinen Gesichtsausdruck aus, was mich zum Schmunzeln bringt. Lotta erklärt leise flüsternd, dass meine Oma am Telefon ist, während Oma auf meinen Vater flucht, was mich wiederum zum Lachen bringt.
 

»Wenn ich nicht so weit von euch weggewohnt hätte, hättest du zu mir ziehen können, weißt du«, sagt sie grummelnd am anderen Ende.
 

»Ich weiß. Danke, Nana.«
 

»Dann wäre alles viel besser geworden!«
 

»Ja, wahrscheinlich. Aber ich hab einen neuen Freund gefunden«, erkläre ich. Noah grinst und übersetzt ohne Rücksicht auf meine endlose Scham für Julius, was ich gerade gesagt habe. Ich könnte schwören, dass Julius rote Ohren bekommt.
 

»Das ist gut, mein Junge. Das beruhigt deine alte Nana.«
 

»So alt bist du wirklich noch nicht.«
 

»Sag das meinen Knochen! Mein Rheuma ist nicht besser geworden!«
 

Als es klingelt, verabschiede ich mich von meiner Oma und gehe in die Küche, um den Pizzaschneider zu besorgen, während Anni die Pizza bezahlt und mit einem großen Stapel Kartons zurück in meinem Zimmer verschwindet.
 

Ganz nach Lottas Wünschen spielen wir beim Essen ein paar Runden Black Stories – Linda und Anni sind ziemlich unschlagbar darin, die genau richtigen Fragen zu stellen, was nach sieben Runden zu einem ausgelassenen Slytherin-Doppel-Highfive führt – und während ich an meinem letzten Stück Pizza kaue, beobachte ich, wie alle Anwesenden, die noch nicht die Handynummern der jeweils anderen haben, diese austauschen, bevor Linda und Marina sich auf den Weg zu ihrer nächsten Verabredung machen.
 

»Danke für die Pizza«, sagt Marina zum Abschied und umarmt mich noch mal.
 

»Viel Spaß auf der Feier«, sage ich und schaue den beiden nach, als sie händchenhaltend die Treppe hinunter verschwinden. Jetzt habe ich auch endlich einen Moment Ruhe und kann mein Handy überprüfen. Tatsächlich. Da ist eine neue Gruppe bei WhatsApp und natürlich hat Anni sie »TaminoFanclub« genannt. Sie hat wirklich keinerlei Scham.
 

»Ich kann nicht meinem eigenen Fanclub beitreten«, sage ich ihr, als ich ins Zimmer zurückkomme. Ich hoffe inständig, dass niemand Julius gesagt hat, in welchen Namen Anni unsere ehemalige GoldenQuartet-Gruppe umbenannt hat.
 

»Klar. Du bist super und solltest dein eigener Fan sein«, sagt Anni. Ich gluckse und trete der Gruppe bei. Da ich als letzter beigetreten bin, habe ich keine Möglichkeit, die Unterhaltungen von vorher zu lesen, die die anderen miteinander hatten, während ich geschlafen habe. Vielleicht frage ich sie später danach, wenn Julius weg ist.
 

»Psst, Tamino«, sagt Lotta und zupft an meinem Shirt.
 

»Hm?«
 

»Ich weiß, das Juls zum Schlafen freigeschaltet ist, aber… ist er auch fürs Singen freigeschaltet?«
 

Vier gespannte Augenpaare richten sich auf mich und ich spüre, wie mein Gesicht heiß wird.
 

»Ähm… vielleicht? Ich meine… er hat ja schon–«, stammele ich zur selben Zeit, in der Julius sagt:
 

»Du musst nicht, wenn du nicht willst!«
 

Anni giggelt sehr zufrieden und Noah wirft mir einen Blick zu, von dem ich lieber nicht wissen möchte, was genau er bedeutet.
 

»Ich hab nämlich diese Liste zusammen gestellt, von der du gesprochen hast«, fährt Lotta fort und verbucht mein Gestammel und Julius‘ rücksichtsvolle Antwort offenbar als positives Feedback, denn sie kramt in ihrem Rucksack nach einem ausgesprochen zerknitterten Stück Papier. Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie Noah vom Bett aus nach seiner Gitarrentasche angelt.
 

Mein Herz hämmert irgendwo in der Nähe meines Kehlkopfes und ich schlucke nervös, als ich das Stück Papier entgegen nehme und die Liste überfliege.
 

Ich muss schmunzeln.
 

»Wie soll ich denn das Lied aus Buffy alleine singen?«, frage ich. Lotta streckt mir die Zunge raus.
 

»Keine Sorge. Noah hat sich schon freiwillig als Giles gemeldet und ich kann Tara machen«, sagt sie.
 

»Ich singe nicht«, verkündet Anni, als wüssten wir nicht ganz genau, dass sie in etwa klingt wie eine Kreissäge, die seit fünf Jahren nicht mehr geölt worden ist.
 

»Kennst du Buffy?«, will Lotta von Julius wissen.
 

»Mari und Linda haben mich mal zu ein paar Folgen… eingeladen«, sagt er. Ich bin ziemlich sicher, dass er eigentlich »gezwungen« hat sagen wollen und schnaube.
 

»Kennst du die Musicalfolge?«
 

»Die musste ich mindestens viermal anschauen.«
 

»Cool. Dann kannst du ja Spike singen«, sagt Lotta zufrieden und fängt schon wieder an in ihrem Rucksack zu kramen. Ich sehe eindeutige Panik in Julius‘ Augen und schwanke zwischen Schadenfreude und Mitleid.
 

»Warum darf Anni aussetzen und ich nicht?«, fragt Julius empört. »Ich kann nicht singen!«
 

»Ich auch nicht«, sagt Lotta und hält mir einen zusammen getackerten Stapel Papier entgegen. Ich erkenne schnell, dass sie sehr motiviert alle entsprechenden Songtexte ausgedruckt hat. Noah bekommt ebenfalls einen Stapel – mit großer Wahrscheinlichkeit die Noten, die er zum Gitarre spielen braucht.
 

Während Anni und Julius sich darüber kabbeln, warum Anni schweigen darf und Julius nicht, prüfe ich noch einmal die Liste.
 

1. Sia – Elastic Heart

2. Destiniy’s Child – Survivor

3. Halestorm – Here’s to Us

4. Kesha – Praying

5. Delta Rae – Outlaws

6. Buffy OST – Walk through the Fire

7. Young the Giant – Cough Syrup

8. fun. – Carry On

9. Andreas Bourani – Delirium

10. Tanz der Vampire – Nie geseh’n
 

Es wäre nicht Lotta, wenn nicht mindestens ein Lied aus Tanz der Vampire auf der Liste gestanden hätte und ich bin amüsiert darüber, dass sie es ganz unten notiert hat, als wäre es ihr ganz zum Schluss eingefallen.
 

»Singst du das Duett mit mir?«, frage ich Lotta lächelnd. Sie strahlt mich an und nickt.
 

»Wir können gleich mit Buffy anfangen, damit Julius es hinter sich bringen kann«, meint Noah. Er sieht auch ziemlich schadenfroh aus. Während ich die Texte durchgehe und mich zu meinen Freunden aufs Bett quetsche, verteilen die anderen weitere Rollen aus dem Lied und Anni erbarmt sich für Anya und Willow, die beide nur jeweils eine oder zwei Zeilen singen.
 

Zu fünft passen wir gerade so auf mein Bett, wenn wir uns alle mit dem Rücken zur Wand setzen. Da Noah seine Gitarre auf dem Schoß hat, haben er und Anni keine Möglichkeit Platz zu sparen, indem sie sich stapeln. Anni sitzt neben Noah, Lotta neben Anni, Julius neben Lotta und ich am Ende des Bettes neben Julius. Ich würde mich vor ihm ja gerne verstecken, aber wenn er sich schon hat breit schlagen lassen, den Abend mit mir und meinen Freunden zu verbringen und mit uns zu singen, dann kann ich mich auch ein bisschen zusammen reißen.
 

Lotta verteilt noch mehr Texte. Sie ist wie immer bestens ausgestattet und ich beobachte Julius‘ Gesicht, als sie ihm seinen Zettel in die Hand drückt.
 

»Alles ok?«, frage ich leise. Er dreht den Kopf zu mir und sieht mich mit ziemlich großen, grünen Augen an.
 

»Das ist fast schlimmer als die Französischklausur«, sagt er, aber er muss wohl bemerken, wie mein Gesichtsausdruck sehr besorgt wird, denn er winkt hastig ab.
 

»Das war übertrieben! Alles ok!«
 

Kurze Stille. Dann…
 

»Danke, dass ich noch mal zuhören darf«, murmelt er. Lotta hat ihn offensichtlich gehört, denn sie strahlt übers ganze Gesicht, sodass man beinahe Angst hat, dass ihre Wangen einen Krampf bekommen. Ich fühle mich sehr warm und viel weniger aufgeregt als vorher. Julius sitzt sehr dicht bei mir – unsere Seiten sind direkt aneinander gepresst, weil auf dem Bett nicht mehr Platz ist. Noah stimmt seine Gitarre und Lotta summt leise vor sich hin.
 

Ich denke darüber nach, Julius‘ Hand zu halten, weil sie direkt auf seinem Oberschenkel liegt und mich anlacht – aber ich darf nicht vergessen, dass Julius immer noch ein normaler Kerl ist und nicht mit seinen Freunden Händchen hält.
 

»Kann losgehen«, sagt Noah schließlich und man hört für einen Augenblick nur Papierrascheln, ehe er die ersten Töne anstimmt. Ich hole Luft und fange an, Buffys Part zu singen. Am Anfang ist es schwierig, ganz loszulassen, weil ich es noch nicht gewöhnt bin, vor Julius zu singen und ich merke, wie er mich von der Seite beobachtet. Aber als der erste Refrain kommt, schließe ich einfach die Augen und versuche mich zu beruhigen.
 

Julius singt seine Zeilen sehr leise und wie er angekündigt hat, kann er keinen einzigen Ton halten, aber ich freue mich trotzdem wie ein Schneekönig – vor allem, weil Anni definitiv noch viel schlechter singt als Julius.
 

Mein Herz schwillt auf die doppelte Größe an, als am Ende der Teil kommt, an dem alle gemeinsam singen und ich hoffe, dass die anderen vielleicht auch bei einigen der anderen Lieder mit einsteigen.
 

Julius bindet neben mir seinen Zopf neu und lehnt dann seinen Kopf an die Wand, während Noah die ersten Töne für Elastic Heart anstimmt. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass Lotta einige der Lieder speziell für mich ausgesucht hat, da manche von den Texten sich sehr persönlich anfühlen. Aber mit Sia bin ich noch auf der sicheren Seite. Mitten beim zweiten Refrain verknote ich mir fast die Zunge, weil Julius kurzerhand nach meiner Hand gegriffen hat.
 

Ich starre hinunter auf meinen Oberschenkel, wo jetzt unsere beiden Hände verhakt miteinander liegen. Julius ist knallrot im Gesicht und er hat Gänsehaut auf den Armen und die Augen immer noch geschlossen. Ich sehe, wie Lotta die Hand auf ihren Mund presst, um ein Geräusch zu unterdrücken und ich höre meine eigene Stimme ein wenig zittern.
 

Das ist definitiv der beste Tag in meinem Leben seit vielen, vielen Monaten und Julius lässt meine Hand auch während der nächsten acht Lieder nicht los.

Theorie und Praxis

»Ich hoffe, das mit dem Rum hält sich in Grenzen«, sagt Lotta leise, nachdem ich noch einmal ausführlich erzählen musste, wie genau das von meinen Freunden als »Kuschelwochenende« betitelte Treffen mit Julius gelaufen ist. Ich friemele an meinem Shirtsaum herum und seufze.
 

»Keine Sorge«, murmele ich.
 

Lotta hat natürlich alles Recht der Welt, das zu sagen und zu befürchten. Ich und Alkohol, wir haben eine recht ungesunde Vergangenheit miteinander und ich habe kein Bedürfnis, wieder an einen Ort zurückzukehren, den ich Gott sei Dank hinter mir gelassen habe.
 

»Vielleicht wäre es eine gute Idee mit Juls darüber zu reden? Du weißt schon, damit er da auch ein Auge drauf haben kann, wenn wir nicht da sind«, meint Anni vorsichtig. Wir liegen zu viert in einem Bündel auf meinem Bett. Noahs Finger spielen mit meinen Haaren, die schon wieder viel zu lang geworden sind und in alle Himmelsrichtungen abstehen.
 

Es ist nicht so einfach, sich einen Termin zu machen, wenn man nicht mit fremden Menschen reden oder irgendwen anrufen will – und dann muss man auch noch einer wahrscheinlich weißen Friseurin erklären, wie sie am besten Haar mit Afrotextur schneiden soll. Nein danke. Vielleicht sollte ich sie einfach wachsen lassen und in einem zusammengebundenen Puschel tragen.
 

»Ich bin nicht sicher, wie ich das Thema am besten ansprechen soll, ohne, dass es komisch ist«, sage ich. Ich kann auch nicht leugnen, dass die Stimme in meinem Kopf, mit der ich schon seit Jahren lebe, immer noch große Vorbehalte und Zweifel bezüglich dieser frischen Freundschaft hegt. Aber da das dieselbe Stimme ist, die mir manchmal nachts einreden will, dass Noah, Anni und Lotta nur aus Mitleid mit mir befreundet sind und mich eigentlich gar nicht mögen, versuche ich sie so gut es geht zu ignorieren.
 

Wie fängt man mit solchen Sachen am besten an? Noah, Anni und Lotta waren alle live dabei und ich musste das Thema nicht künstlich einleiten. Aber ich kann schlecht zu Julius hingehen und sagen: »Hey Julius, es wäre cool wenn du ein Auge auf meinen Alkoholkonsum haben könntest, weil ich vor ein paar Jahren schon ziemlich nah dran war ein jugendlicher Alkoholiker zu werden, nachdem meine Mutter gestorben ist. Haha. Wie wäre es mit noch einer Folge Deep Space Nine?«
 

»Vielleicht kannst du einfach mit ihm drüber sprechen, wenn er dich nächstes Mal zum Saufen einlädt«, schlägt Noah vor. Macht ziemlich viel Sinn, aber mein Herz hämmert trotzdem unangenehm doll bei dem Gedanken daran, diese scheußlichen Dinge vor Julius auszubreiten.
 

Es ist peinlich und ich will nicht, dass er mich komisch anschaut, oder anfängt eine Mitleidsschiene zu fahren oder…
 

»Ich sehe da arges Kopf zerbrechen«, sagt Anni und patscht ihre Hand auf mein Gesicht, was mich zum Lachen bringt und die Spirale in meinem Gehirn anhält. Zumindest für den Moment. Ich rede selbst mit meinen Freunden selten über das Thema, weil ich damals zu dem Entschluss gekommen bin, dass Verdrängung für mich erst mal am besten funktioniert. Vielleicht habe ich nach dem Abi ja genug Zeit und Ruhe, um mich um die Scherben zu kümmern. Aber für ein Jahr muss Sekundenkleber reichen.
 

»Ich fasse es nicht, dass Juls insgeheim so ein Teddybär ist. Weißt du noch, wie du am Anfang über ihn geredet hast? ‚Boah, der Typ ist so ein arroganter Lackaffe. Er hat einen IQ wie ein Stück Brot. Ich will ihm keine Nachhilfe geben…‘«, sagt Lotta und imitiert dabei meinen angestrengten Ton, den ich angeschlagen habe, als ich vor ein paar Monaten angefangen habe, über Julius zu reden.
 

Ich grabbele nach einem Kissen und haue es ihr halb empört, halb liebevoll ins Gesicht. Sie lacht und windet sich zwischen Anni und mir, als könnte sie irgendwohin entkommen, wenn Noahs Beine auf ihr drauf liegen. Ha! Sie ist mir ausgeliefert. Ich haue noch ein paar Mal mit dem Kissen nach ihr, bis Lotta so doll lacht, dass ihr Tränen über die Wangen laufen.
 

»Ich hab nie behauptet, gute Menschenkenntnis zu haben!«, sage ich, nachdem Lotta aufgehört hat zu lachen.
 

»Um fair zu sein… er war ja schon auch einer von diesen Typen, die über Taminos Noten die Augen verdreht haben«, erinnert Noah Lotta.
 

»Ja. Ich hoffe, er hat ein schlechtes Gewissen deswegen«, murrt Anni. »Aber er ist schon ziemlich lieb. Und habt ihr gesehen…«
 

»Wie sie Händchen gehalten haben?«, ergänzt Lotta und seufzt. »So süß…«
 

»Ich dachte eher, er wäre so ein… ‚No Homo‘-Typ«, gebe ich peinlich berührt zu.
 

»Ist er denn eigentlich hetero?«, will Noah wissen. Ich zucke mit den Schultern.
 

»Wahrscheinlich«, sage ich. Ich hab natürlich keine Ahnung und es ist auch ziemlich egal. Die Tatsache, dass Julius asexuell ist, hat mich überrascht und vielleicht auch ein bisschen gefreut, weil das heißt, dass er diesbezüglich mit zur Community gehört. Aber wie seine sonstigen Interessen aussehen, weiß ich nicht.
 

Ich hab ihn noch nicht ein einziges Mal irgendwas über irgendwen sagen hören – egal welchen Geschlechts. Er hat viele männliche Freunde, versteht sich mit den meisten Mädchen im Jahrgang… aber er ist in keiner festen Beziehung und ich gehe noch nicht lang genug auf die Schule, um zu wissen, ob er schon mal eine Freundin oder einen Freund hatte. Ich vermute mal, dass seine komischen Kumpels anders mit ihm umgehen würden, wenn Julius an Kerlen interessiert wäre.
 

Einige von denen sind eindeutig No Homo-Typen. Dieser Lennard zum Beispiel. Und der hat wirklich einen IQ wie ein Stück Brot – von der Meinung rücke ich auch nicht ab. Ich mag ihn nicht besonders, aber ich glaube, er spielt auch in Julius‘ Mannschaft mit.
 

»Hetero oder nicht, ich glaube du hast ihn angesteckt. Mit dem Kuschelvirus«, sagt Lotta zufrieden.
 

Ich muss lachen.
 

»Da hab ich nichts gegen«, gestehe ich und spüre, wie mein Gesicht warm wird.
 

»Er riecht auch ziemlich gut«, meint Lotta. Ich hüstele.
 

»Aha! Das ist dir auch schon aufgefallen!«
 

»Hey! Ich bin auch nur ein Mensch! Und blind bin ich auch nicht!«, sage ich zu meiner Verteidigung. Noah gluckst.
 

»Er sieht schon sehr gut aus«, meint er.
 

»Jap. Und er hat diesen Pferdeschwanz…«, sagt Lotta seufzend.
 

»Ihr müsst aufhören, Julius anzuschmachten«, sage ich streng.
 

»Das sagst du nur, weil es dir peinlich ist, dass er Fußball-Kapitän ist!«, meint Anni gnadenlos. Ich grummele.
 

»Ist ja nicht so, als hätte ich gute Erfahrungen mit Fußball-Kapitänen gemacht«, sage ich ungnädig.
 

»Naja! Aber du kannst doch Julius nicht mit Moritz vergleichen!«
 

Ich dachte eigentlich, dass der Name nach über einem halben Jahr vielleicht nicht mehr dieses unangenehme Gefühl in meinem Magen auslösen würde, aber offenbar hab ich mich getäuscht. In mir zieht sich immer noch alles zusammen, wenn ich den Namen höre und ich atme mehrmals tief ein und aus.
 

»Ah, fuck. Sorry, sorry, sorry«, sagt Anni und ich merke, wie sie sich aus unserem Knäuel löst und mein Gesicht in beide Hände nimmt.
 

»Ich dachte…«, meint sie und sieht ganz verloren aus, wie ihr Gesicht über meinem schwebt. Ich dachte auch. Aber anscheinend nicht.
 

»Schon ok«, presse ich zwischen den Zähnen hervor und konzentriere mich weiter aufs Atmen.
 

»Ich könnte ihm immer noch nachträglich die Fresse polieren«, sagt Anni.
 

»Ich würde sogar seine Arme festhalten«, meint Noah, der sonst ausgesprochen pazifistisch durchs Leben geht. Ich möchte sehr dringend nicht weiter über Moritz reden oder über ihn nachdenken oder ihm so viel Platz in meinem Leben einräumen, dass ich nach mehreren Monaten immer noch konzentriert atmen muss, um keine Panikattacke zu bekommen. Ich ärgere mich über mich selbst, weil ich so schlecht darin bin, mit beschissenen Dingen umzugehen, die in meinem Leben passieren.
 

Lotta nimmt meine Hand und alle Drei schweigen, während ich mit geschlossenen Augen atme und im Stillen Dinge aufliste, die ich in der letzten Woche gelernt habe. Es dauert ein paar Minuten, bis es vorbei ist und ich merke, dass ich ziemlich durchgeschwitzt bin, also sortiere ich mich aus dem Knäuel und setze mich auf.
 

»Ich hab Julius gesagt, dass ich morgen zu seinem Fußballspiel gehe«, sage ich schließlich und fange an, frische Klamotten aus meinem Schrank zu sortieren. Ich weiß, dass die Drei hinter meinem Rücken einen Blick tauschen.
 

»Ich nehme an, Julius weiß nicht…«, fängt Lotta zögerlich an. Ich schüttele den Kopf.
 

»Wir gehen mit hin, ok?«, sagt Noah. Ich drehe mich um und schaffe ein halbes Lächeln.
 

»Ok«, sage ich. »Ich geh eben duschen.«
 

Wir reden den Rest des Samstags nicht mehr über Moritz. Oder über Fußball. Aber wir gehen in den Bürgerpark und kaufen uns Eis, das ich auch vom Geld meines Vaters bezahle. Ich gebe dem Mann, der uns das Eis verkauft, einen zwanzig Euroschein und er ist verwirrt, aber wir winken ihm nur strahlend zu und machen uns auf den Weg. Mir fällt auf, dass Lotta viel Zeit an ihrem Handy verbringt. Als ich sie danach frage, grinst sie nur spitzbübisch und sagt nicht, worum es geht.
 

Wir gucken zusammen die neusten Folgen von Star Trek Discovery und diskutieren einige Fantheorien. Gegen halb zehn bekomme ich eine Nachricht von Julius.
 

»Kommst du morgen?«
 

»Ja. Mit den anderen zusammen, wenn das ok ist.«
 

»Klar. Je mehr Fans, desto besser.«
 

Die letzte Nachricht enthält eine Menge lachende Emojis, drei nach oben gereckte Daumen und einen Fußball.
 

»Soll ich dir ein Schild basteln? ‚Julius, ich will ein Kind von dir‘?«
 

»Ja bitte. Wirf auch gerne Unterwäsche aufs Feld!«
 

Ich gluckse heiter vor mich hin und halte das Handy in die Richtung der anderen, damit sie die neusten Nachrichten lesen können.
 

»Was ist deine Lieblingsfarbe? Dann packe ich schon mal ein paar Boxershorts ein.«
 

»Grün passt am besten zu meinen Augen ;)«
 

Ich grinse mein Handy an, dann fällt mir auf, dass drei Augenpaare mich sehr interessiert beobachten.
 

»Was?«, frage ich.
 

»Ihr flirtet«, erklärt Anni trocken. Noah wackelt mit den Augenbrauen. Ich hole tief Luft und werfe einen Blick auf die Nachrichten. Dann atme ich wieder aus und klappe meinen Mund zu.
 

»Ups?«, sage ich.
 

Lotta und Anni lachen, Noah verdreht die Augen und boxt mir sachte gegen den Oberarm.
 

»Wahrscheinlich hat er es auch nicht gemerkt, dann ist es auch egal«, meint Lotta.
 

»Wäre auch peinlich. Nicht, dass er denkt ich will was von ihm«, hüstele ich.
 

»Weiß er eigentlich, dass du…«, meint Anni und wedelt mit der Hand. Ich seufze.
 

»Anni, vielleicht kannst du dir einfach merken, dass er nichts über mich weiß, außer die vielen Gründe dafür, warum ich die neuen Star Trek Filme nicht mag und dass meine Oma aus dem Senegal kommt«, erkläre ich.
 

Nein, Julius weiß nicht, dass ich schwul bin. Er weiß nicht, dass meine Mutter tot ist und dass ich eine Angststörung habe und dass ich ungute Erfahrungen mit einem Fußballkapitän namens Moritz gemacht habe. Er hat keine Ahnung, dass ich selber gerne Fußball spiele – und das auch ziemlich gut und dass wir – wenn ich nicht weggezogen und aus der Mannschaft ausgetreten wäre vielleicht gegen ihn hätte spielen müssen. Er weiß nicht, dass ich auf dem besten Weg zu einem Alkoholproblem war, weil ich mit dem Tod meiner Mutter nicht klar gekommen bin. Er weiß kein kleines bisschen und ich bin nicht sicher, ob er diese Dinge überhaupt wissen wollen würde.
 

»Er guckt dich an, als würde dir die Sonne aus dem Arsch scheinen«, informiert Anni mich. »Ich bin mir recht sicher, dass er alles über dich wissen möchte und nur nicht so richtig weiß, wie er das am besten sagen soll.«
 

Ich seufze und schaue noch mal hinunter auf mein Handy und die Nachrichten. Mein erster Gedanke ist: Mit Alkohol wäre es nicht so schwierig, über diese Dinge zu reden. Aber das ist das gefährlichste am Alkohol. Er baut meine Hemmschwellen ab, von denen ich so viele habe. Das macht ihn ausgesprochen verführerisch für jemanden, der Angst vor allem hat und sich angetrunken weniger ängstlich fühlt.
 

Ich verwerfe den Gedanken, Julius noch mal zu einem Trinkgelage einzuladen.
 

»Ich versuch‘s mal häppchenweise«, murmele ich.
 

Den Rest des Abends kuscheln und reden wir im Dunkeln und als ich einschlafe, träume ich zum ersten Mal seit langem wieder von meiner Mutter.
 

*
 

Weil das Spiel schon um zehn anfängt, haben wir uns einen Wecker um acht gestellt, weil alle unter die Dusche wollen. Während Lotta duscht, kümmern Anni und ich uns um das Frühstück. Mein Vater sitzt im Wohnzimmer und liest Zeitung und achtet kein bisschen auf uns – es ist ein bisschen so, als wären wir gar nicht da. Immerhin hat er Noah, Anni und Lotta begrüßt, als er mitbekommen hat, dass sie das Wochenende über hier waren.
 

Es macht mich immer ein bisschen zufrieden, wie eisig Anni ist, wenn er zufällig in unserer Gegenwart ist. Ich könnte schwören, dass er ganz genau spüren kann, was sie von ihm hält. Nicht, dass ihm das viel ausmachen würde, aber allein die Tatsache, dass er weiß, dass meine Freunde ihn beschissen finden, ist irgendwie befriedigend. Ein Jahr Schule noch, dann mache ich mich aus dem Staub und werde ihn hoffentlich nie wieder sehen.
 

Ich lehne Annis Vorschlag ab, die Rühreier mit Zimt zu würzen und benutze stattdessen Pfeffer und Fondor. Sie schüttelt den Kopf, als wäre ich ein echter Kostverächter und deckt den Tisch. Noah hat seine Gitarre mit in die Küche gebracht und klimpert ein wenig darauf herum.
 

Unweigerlich muss ich daran denken, wie anders es in dieser Küche wäre, wenn meine Mutter noch am Leben wäre. Sie würde mir beim Frühstück machen helfen und jede Menge Obst schnippeln, mit mir zusammen Lieder singen und mit meinen besten Freunden scherzen. Sie würde sich nach Annis Müttern und Noahs Vater und Schwester erkundigen und Lotta Komplimente zu ihrem selbstgenähten Kleid machen.
 

Sie hätte Julius sehr wahrscheinlich auch gemocht.
 

»Woran denkst du?«, fragt Noah sachte vom Küchentisch aus. Wahrscheinlich sieht man mir an, dass ich mich in meinen eigenen Gedanken verlaufen habe – das passiert manchmal und ich glaube, ich starre dann einfach in die Leere, als könnte ich dort Dinge sehen, die anderen verborgen bleiben.
 

»Mama«, gebe ich ehrlich zurück. Noah nickt. Anni hat ihren Kopf im Kühlschrank und schaut, was sie alles fürs Frühstück hervorkramen kann. Es ist so vertraut und heimelig, dass ich direkt wieder Angst davor habe, wie es sein wird, wenn die Drei heute Abend wieder fahren.
 

Ich rühre in der Pfanne herum und sehe aus dem Augenwinkel zu, wie Anni alles an Aufschnitt auf dem Tisch ausbreitet und dann anfängt, einen Berg Toast zu machen.
 

»Kommen Mari und Linda auch zum Spiel?«, erkundigt Anni sich, während sie umsichtig einen großen Turm aus Toastscheiben baut.
 

»Ich glaube Linda wohl nicht. Marina meinte, dass sie am Wochenende nie vor elf aufsteht«, gebe ich zurück.
 

»Verständlich«, meint Lotta, die gerade in die Küche kommt und bereits fertig gekleidet ist. Sie trägt ein selbstgenähtes Kleid mit Kirschenmuster, dessen Druck perfekt zu ihren rot gefärbten Haaren passt. Ihre Haare sind bereits geföhnt und in einer komplizierten Hochsteckfrisur auf ihren Kopf getürmt.
 

Sie sieht aus, als würde sie auf ein Pferderennen gehen wollen und nicht auf einen Sportplatz.
 

»Rührei ist fertig«, sage ich lächelnd, während sie sich setzt. Noah stellt seine Gitarre beiseite und Anni trägt ihren Toast-Turm zum Tisch, während ich auf jeden Teller Rührei verteile.
 

»Sollen wir deinem Vater was anbieten?«, zischt Lotta.
 

»Nope«, sagt Anni brüsk, setzt sich neben Noah und fängt sehr zackig an, ihr Rührei in sich hinein zu schaufeln, als würde sie erwarten, dass Lotta es ihr wegnehmen und zu meinem Vater ins Wohnzimmer tragen will.
 

Wir machen uns um halb zehn auf den Weg zum Unigelände, auf dem die Spiele der Schule stattfinden. Da die Universität direkt neben der Schule liegt, wird der Sportunterricht oft dort abgehalten und auch für offizielle Veranstaltungen wird das Gelände genutzt. Unsere Fußballmannschaft ist bereits auf dem Feld und macht sich warm, als wir ankommen.
 

Man erkennt Julius sofort, weil er der einzige mit Haaren ist, die die Farbe von Vanillepudding haben. Ich glaube, der Typ, mit dem er seine Dehnübungen macht, ist einer seiner engsten Freunde. Cem.
 

Cem ist ein ziemlich lustiger Kerl – ich habe ihn nicht in vielen Kursen, aber ich musste schon ab und an über seine Bemerkungen im Unterricht schmunzeln. Er trägt immer ein Cap, aber jetzt hat er es abgenommen und ich glaube, ich sehe zum ersten Mal seine kurzen, schwarzen Haare. Er ist kleiner als Julius und die beiden albern herum, während Cem sich auf Julius‘ Rücken stützt, damit Julius im Sitzen mit den Fingern an seine Schuhspitzen kommt.
 

Am Rand verteilt stehen schon mehrere Leute, quatschen und lachen und einige Leute rufen den Spielern auf dem Feld irgendwelche Dinge zu.
 

Ich atme tief ein und denke daran, wie großartig es wäre, auch quer über den Platz zu laufen und mir einen der Bälle zu schnappen. Vielleicht hab ich es schon verlernt.
 

Weil Anni keine Scham über nichts hat, brüllt sie quer über den Platz, um Julius auf uns aufmerksam zu machen.
 

»Oi! Juls!«
 

Julius dreht sich um, entdeckt uns und winkt zu uns herüber. Und natürlich kommt er prompt in unsere Richtung und Cem folgt ihm.
 

»Sah aus, als würdest du dir gleich was brechen«, meint Anni zur Begrüßung und Julius schnaubt empört.
 

»Wie bitte? Ich bin topfit!«
 

»Aber steif wie’n Brett, Alter«, meint Cem und zuckt mit den Schultern. Julius boxt ihn.
 

»Verräter!«
 

Cem grinst Julius an, dann wendet er seine Aufmerksamkeit mir zu und schmunzelt zu mir hoch. Er ist noch ein bisschen kleiner als Julius, das heißt, dass er zu mir aufschauen muss. Ich schiebe nervös meine Brille nach oben.
 

»Der Nachhilfelehrer«, sagt Cem amüsiert. Aus unerfindlichen Gründen wird Julius rot wie eine Tomate.
 

»Jap. Das bin ich«, gebe ich verlegen zurück.
 

»Gut, dass du dich erbarmt hast, sonst müssten wir heute wahrscheinlich schon ohne ihn spielen«, sagt Cem und klopft Julius auf den Rücken. Ich lächele unsicher zu ihm hinunter.
 

»Keine Ursache«, gebe ich zurück. Ich bin wirklich sehr schlecht in Smalltalk. Und dann passiert etwas, mit dem ich eindeutig nicht gerechnet habe. Cem schaut mich an. Und mit anschauen meine ich – er schaut mich von oben bis unten und von unten bis oben an. Und zwinkert.
 

Ähm.
 

Ich öffne den Mund und merke, wie mein Gesicht heiß wird.
 

»Dehnübungen!«, sagt Julius energisch und zerrt Cem weg von der Balustrade, die das Spielfeld umrandet. Cem winkt in unsere Richtung, während Julius ihn davon schleift.
 

»Hat er gerade…?«, frage ich unsicher.
 

»Jup. Hat er«, sagen Lotta und Noah gleichzeitig. Anni pfeift durch die Zähne.
 

»Ein Kerl nach meinem Geschmack«, sagt sie breit grinsend und Noah schnaubt.
 

»Dann hast du dir den falschen Freund ausgesucht«, meint er. Anni streckt ihm die Zunge heraus.
 

»Ich hab mir genau den richtigen ausgesucht, du Horst!«
 

Als das Spiel angepfiffen wird, werde ich von Lotta und Anni gelöchert, ob Cem mein Typ ist und ob ich mir vorstellen könnte, ihn näher kennen zu lernen.
 

»Ich habe keinen Typ«, sage ich abwehrend und mustere Cem, während er neben Julius über den Rasen jagt.
 

»Er hat ein ziemlich gutes Grinsen«, meint Lotta. Ja, ok. Er hat ein ziemlich gutes Grinsen. Und beeindruckende Wangenknochen. Ja, er sieht eindeutig nicht übel aus.
 

Aber er raucht auch wie ein Schlot, ist Fußballer und einer von den coolen Jungs. Coole Jungs sind nichts für mich. Zumindest theoretisch.
 

Ugh, warum ist das passiert?
 

Es bleibt natürlich niemandem verborgen, dass auch mehrere Mädchengruppen das Spiel besuchen und sie scheinen alle ihre Lieblinge zu haben. Besonders beliebt sind offensichtlich Julius, Cem und Daniel – der Torwart, der fast so groß ist wie Noah und vielleicht mein Typ gewesen wäre, bevor das ganze Desaster mit Moritz passiert ist.
 

Julius spielt wirklich sehr gut. Ich kann sehen, warum er der Star der Mannschaft ist und ich komme tatsächlich dazu, einen seiner berühmt berüchtigten Fallrückzieher zu beobachten – etwas, das ich nie besonders gut hinbekommen habe. Ich glaube, dafür sind meine Gliedmaßen zu lang.
 

Ich könnte schwören, dass Julius direkt nach seinem Glanzstück zu uns herüber schaut, als würde er prüfen wollen, ob wir es auch ja gesehen haben. Immerhin hat er es mir ja groß angekündigt, dass er mir einen Fallrückzieher zeigen will, wenn ich zu seinem Spiel komme.
 

»Fußball ist wirklich nur interessant, wenn Leute mitspielen, die man mag«, meint Anni und klatscht ausgelassen in die Hände.
 

Es juckt mich das ganze Spiel über in den Beinen, weil ich auch laufen möchte. Und Tore schießen. Auf die Zuschauer könnte ich dabei gut und gerne verzichten, aber ich vermisse den Sport. Vielleicht ist das das nächste Geheimnis, das ich Julius erzählen kann und wenn er es weiß, dann haben wir ja eventuell die Möglichkeit, irgendwann mal zusammen in den Park zu gehen und ein bisschen zu trainieren.
 

In eine Mannschaft gehe ich besser nicht mehr, nicht nach dem letzten Desaster. Hier in dieser Mannschaft sind auch Kerle wie Lennard, die man wirklich nicht in seiner näheren Umgebung braucht. Er ist mit großer Sicherheit einer von diesen Kerlen, die mit Anti-Insektenspray rumlaufen, nachdem sie mitbekommen haben, dass jemand in ihrer Nähe schwul ist.
 

Nein danke.
 

»Du zappelst«, informiert Noah mich lächelnd. Ich blinzele und stelle fest, dass er recht hat. Ich trete ununterbrochen von einem Bein aufs andere.
 

»Ich will auch«, klage ich und Noah bufft mich mit der Schulter an.
 

»Du könntest...«, meint er. Ich seufze.
 

Ja, theoretisch könnte ich. Theoretisch könnte ich auch Cem fragen, warum er so geguckt hat. Theoretisch könnte ich anfangen, mit Julius‘ Kumpanen in den großen Pausen abzuhängen.
 

Aber praktisch und theoretisch sind immer unterschiedliche Dinge und meistens muss ich die Theorie gegen meine Angst wiegen. Und die Theorie verliert fast immer dabei.
 

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Julius nach dem Spiel noch mit seiner Mannschaft feiern will, denn sie gewinnen recht problemlos 4:1 und der Sieg scheint mir Julius‘ schulischen Erfolg zu zementieren. Sehr schön.
 

Die Mannschaft wäre ohne ihn sicherlich bedeutend schlechter.
 

»Wann geht euer Zug nachher?«, frage ich kurz nach dem Abpfiff, während die Mannschaft auf dem Feld ein verschwitztes Knäuel bildet. Ja, es ist definitiv besser, wenn ich nicht mehr in eine Fußballmannschaft gehe.
 

»Ach, wir haben noch ein paar Stunden Zeit«, meint Lotta und winkt ab. Sie hakt sich bei mir unter und ich beobachte, wie Noah Anni einen Kuss aufs Haar gibt.
 

»Dann können wir deine Batterie noch ein bisschen aufladen gehen«, sagt Noah sanft und legt mir einen Arm um die Schulter. Ich werfe einen Blick zurück und sehe Julius inmitten seiner Mannschaftskameraden stehen. Wer drei von vier Toren geschossen hat, verdient es, von seiner Mannschaft gefeiert zu werden.
 

Vielleicht hätte ich ihm gerne gratuliert. Vielleicht hätte ich ihn gerne umarmt. Aber das wäre hier mitten auf dem Sportplatz sicherlich keine gute Idee und er ist zu beschäftigt mit seinen Freunden, um mir noch großartig Beachtung zu schenken.
 

Das ist ok, denke ich.
 

Aber, sagt eine leise Stimme in meinem Kopf, bist du jetzt nicht auch einer von seinen Freunden?

the kids aren't alright

Ich hab ja schon geahnt, dass das passieren würde, aber nach einem emotionalen Hoch kommt meistens ein Tief. Und diesmal geht es sehr tief runter.
 

Nachdem Noah, Lotta und Anni im Zug sitzen, bleibe ich eine Viertelstunde am Bahnsteig stehen und starre dem Zug nach, als könnte ich ihn mit der Kraft meiner Gedanken anhalten, aber selbstverständlich kommt der Zug nicht zurück.
 

Sobald ich zu Hause bin, lege ich mich ins Bett und mache mir nicht die Mühe einen Wecker zu stellen. Natürlich kann ich nicht schlafen. Also liege ich einfach im Bett und starre an die Decke. Es wird dunkel draußen. Und dann wird es wieder hell und ich bleibe liegen.
 

Ich kriege es weder gebacken, duschen zu gehen oder zu frühstücken, noch auf die WhatsApp-Nachrichten zu antworten, die mir seit Sonntagabend auf dem Handy angezeigt werden. Ich bin so beschäftigt mit der Abwesenheit meiner Freunde, dass ich mich kein Stück mehr dafür interessiere, dass Julius nach dem Spiel zu beschäftigt war, um mit mir zu sprechen. Ich hab ihm nicht mal mehr per WhatsApp zum Sieg gratuliert.
 

Der Weg zum Bad scheint besonders lang zu sein. Noch zwei Wochen bis zu den Sommerferien. Vielleicht kann ich einfach zwei Wochen im Bett bleiben. Es würde sowieso niemandem auffallen.
 

Ich bin gar nicht so sicher, wie viele Tage ich im Bett liege, aber ich habe definitiv viel zu lange nichts gegessen. Wahrscheinlich habe ich Bauchschmerzen, aber es fühlt sich alles ziemlich stumpf und taub an.
 

Als ich irgendwann vormittags – vielleicht ist es Mittwoch? – auf mein Handy schaue, habe ich 47 ungelesene Nachrichten. Die Zahl überfordert mich dermaßen, dass ich sie nicht öffne, das Handy einfach wieder unters Kissen stecke und mir die Decke übers Gesicht ziehe. Mir geht seit ungefähr drei Stunden »Mad World« von Gary Jules durch den Kopf und es ist nicht das beste Lied, um in einer depressiven Episode darauf konzentriert zu sein.
 

Aber mein Gehirn macht selten, was ich von ihm will. Also dreht sich der Text im Kreis und ich wünsche mir, dass es mir so geht wie anderen depressiven Leuten, die den ganzen Tag schlafen können. Nicht, dass das wirklich besser wäre, aber im Moment würde ich es sehr begrüßen, einfach weg zu dämmern.
 

Irgendwann klingelt es und ich hoffe inständig, dass es nur ein Paketbote ist, der meinem Vater irgendwelche Krawatten liefert. Ich denke darüber nach, wann ich das letzte Mal ein so krasses depressives Tief hatte und kann mich nicht so richtig daran erinnern. Wahrscheinlich nach meinem Austritt aus der Fußballmannschaft.
 

Natürlich ist es kein Paketbote, sondern Julius.
 

Da ich komplett unter meiner Bettdecke verborgen liege, höre ich sehr gedämpft, wie meine Zimmertür aufgeht. Ich habe meine Jalousie unten, das heißt Julius sieht vermutlich nicht wirklich viel. Und mich sieht er gar nicht. Ich fühle mich zu taub, um Panik zu kriegen, weil ich seit Sonntagmorgen nicht geduscht habe und Julius mich so kläglich hier herumliegen sieht.
 

Nur anhand der Geräusche stelle ich fest, dass die Jalousie nach oben gezogen und das Fenster geöffnet wird. Julius spricht nicht und ich höre ihn in meinem Zimmer herum wuseln, das Zimmer verlassen, zurückkommen und Dinge aus seinem Rucksack kramen.
 

Dann setzt er sich zu mir aufs Bett.
 

»Hey«, sagt er und seine Stimme klingt sehr zögerlich, dafür, dass er hier so hereinspaziert ist, als wäre nichts dabei und als wäre ich kein Wrack.
 

Ich antworte nicht.
 

Natürlich tut er mir nicht den Gefallen, einfach wieder zu gehen, sondern zieht bedächtig das Kissen von meinem Kopf und die Decke ein Stück zurück. Ich halte beharrlich die Augen geschlossen und den Kopf Richtung Wand gedreht.
 

»Ich hab die Hausaufgaben auf den Schreibtisch gelegt«, informiert er mich. Es riecht nach frischer Luft und ich höre draußen jede Menge Vogelgezwitscher. Die Vögel klingen so heiter, dass ich am liebsten kotzen würde.
 

Als ich weiterhin nichts sage, schweigt auch Julius eine ganze Weile. Wahrscheinlich muss er ansonsten nicht mit depressiven Freunden rumschlagen, die alle einfach stinknormal sind und deren größtes Problem ist, dass sie in Physik eine Fünf geschrieben haben. Man, würde ich gerne eine Fünf in Physik schreiben, wenn ich dafür diese Scheiße los wäre.
 

»Wann hast du das letzte Mal was gegessen?«
 

Mein schmerzender Bauch schreit mich an. Ich hole tief Luft und beschließe, dass es keinen Sinn macht, Julius zu ignorieren, also drehe ich den Kopf, öffne die Augen und halte mir sofort die Hand vor die Augen.
 

Ugh. Es ist viel zu hell.
 

»Sonntag«, sage ich heiser. Meine Stimme wurde seit Tagen nicht benutzt und man hört es.
 

Julius sieht nervös aus. Kein Wunder. Ich sehe, das er sein Handy in der Hand hat und ruhelos damit herumspielt.
 

»Es ist Mittwoch«, sagt er und klingt ernsthaft schockiert.
 

Hey, ich hab den Tag richtig geraten. Ich zucke mit den Schultern.
 

»Ok, ich besorge was zu essen«, sagt er.
 

»Ich will nichts essen.«
 

»Tja«, sagt Julius ungehalten, steht auf und macht sich auf den Weg. Bald kennt er sich in unserer Küche besser aus als ich selbst. Ich frage mich, ob ich die 47 Nachrichten auf meinem Handy lesen will, aber ich verwerfe den Gedanken wieder und sehe, dass Julius mir eine Flasche Wasser auf den Nachtschrank gestellt hat.
 

Die letzten Tage habe ich eigentlich nur getrunken, wenn ich sowieso auf Klo musste und dann auch nur aus dem Wasserhahn. Also setze ich mich mühselig auf und greife nach der Flasche. Meine Hände zittern dermaßen, dass ich fast eine halbe Minute brauche, um überhaupt die Flasche aufzudrehen.
 

Kein Wunder, wenn man drei Tage am Stück nichts isst.
 

Ich trinke fast die halbe Flasche Wasser aus und frage mich, wie beschissen ich wohl aussehe. Julius kommt mit einer Schale Müsli zurück und hält sie mir kommentarlos hin. Ich schaue ihn an und denke darüber nach, ihm die Schale aus der Hand zu schlagen und zu sehen, wie er reagiert.
 

Dann seufze ich, greife nach der Schale und nehme mit zittrigen Fingern den Löffel in die Hand und rühre lustlos in dem Müsli herum.
 

Julius tippt irgendwas auf seinem Handy und kaut auf seiner Unterlippe herum. Ich beobachte ihn, statt mein Müsli zu essen, aber als er aufschaut und feststellt, dass ich noch nichts gegessen habe, stemmt er tatsächlich die Hände in die Hüfte und sieht mich streng an. Nicht, dass ich das besonders beeindruckend finde, aber es ist wahrscheinlich besser, wenn ich es hinter mich bringe.
 

Also zwinge ich mir ein paar Löffel Müsli rein. Jeder Bissen scheint in meinem Mund mehr zu werden und ich würde am liebsten alles wieder ausspucken. Aber ich esse die Schale auf, stelle sie beiseite und lege mich wieder hin.
 

Julius tritt nervös von einem Bein aufs andere.
 

»Ich weiß nicht so richtig, was ich machen soll«, gibt er letztendlich zu.
 

»Gar nichts«, murmele ich in mein Kissen.
 

»Aber ich hab eine Liste bekommen«, sagt er dann.
 

»Liste?«
 

»Von… von Lotta, Anni und Noah.«
 

Ich seufze und drehe mich im Bett um und schaue ihn von unten herauf an. Ich will mir lieber nicht vorstellen, wie diese Unterhaltung ausgesehen haben mag. Hilfe, Tamino ist nicht in der Schule und er antwortet nicht auf meine Nachrichten, weiß irgendwer was? Oh, das liegt daran, dass er psychisch krank ist, wahrscheinlich liegt er seit Tagen ungeduscht im Bett und kriegt es nicht mal gebacken eine Banane zu essen.
 

Ugh. Ich hasse mich.
 

»Und?«
 

Julius zögert einen Moment, dann hält er mir sein Handy hin. Ich greife danach.
 

TaminoFanclubII

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Julius

ich kann ihn ja schlecht zum essen zwingen?
 

Lotta

du musst.
 

Anni

es kann gut sein dass er seit tagen einfach nur im bett liegt und es wär super wenn du ihn vielleicht dazu kriegen kannst unter die dusche zu gehen
 

Lotta

depressionen sind ein arschloch. wenn wir da wären könnte wir dir helfen D:
 

Noah

er ist wahrscheinlich abgesackt, weil wir da waren. sry juls. er hat auf unsere nachrichten auch ewig nicht geantwortet
 

Anni

wenns nach mir ginge würden wir einfach gleich wieder zurück fahren. fick die schule, es sind eh nur noch zwei wochen bis zu den ferien

Julius

Vielleicht will er mich überhaupt nich sehen
 

Noah

will er ziemlich sicher nicht, liegt aber nich an dir, alter
 

Noah

lass dich nich rausschmeißen. er muss was essen, trinken und soll duschen. und wenn du ihn dann noch dazu kriegst n frisches shirt anzuziehen wär das bombe
 

Lotta

boah ich fass es nich dass wir nich da sind. aber ja!!! neues shirt! vor allem essen und trinken!!!!
 

Julius

man ich bin so mies in diesem ganzen freundschaftsding
 

Anni

naja………… sagen wir mal du brauchst noch n bisschen übung (ihn sonntag nachm spiel ignorieren war nich cool, mein lieber. und in der schule auch!)
 

Lotta

aber du hast schon die richtigen ansätze! wenn du willst bastele ich dir eine powerpointpräsentation :D :D :D

Julius

ich hab ihm müsli gegeben und das fenster aufgemacht und wasser hingestellt? soll ich noch mehr essen besorgen?
 

Lotta

nee. kriegt er wahrscheinlich eh nich runter. müsli ist super, danke juls! das war das wichtigste <3
 

Ich lasse das Handy neben mich aufs Bett plumpsen und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Es ist alles so peinlich. Ich bin schlimmer als ein kleines Kind. Julius setzt sich zurück zu mir aufs Bett.
 

»Tut mir Leid wegen Sonntag. Und wegen der Schule«, sagt er leise. Mir ist sehr nach heulen zumute. Ich seufze gegen meine Hände und schlucke ein paar Mal, um die Tränen zu unterdrücken.
 

»Das hier ist… nicht deswegen«, krächze ich.
 

»Ich weiß. Aber trotzdem. Sorry.«
 

»Ich bin abgefuckt.«
 

»Bist du nicht.«
 

»Siehst du doch.«
 

Finger berühren meine Hände und ich zucke heftig zusammen. Julius zieht mir behutsam die Hände vom Gesicht und schaut mich an.
 

»Schaffst du es unter die Dusche?«, fragt er leise. Ich zucke mit den Schultern. Keine Ahnung was passiert, wenn ich aufstehe.
 

»Vielleicht geht’s ja im Sitzen«, schlägt er vor. Ich hole tief auf und setze mich erneut auf. Nichts motiviert einen so sehr wie die Scham vor jemandem, der mit den besten Freunden eine Diskussion darüber hatte, was für ein Häufchen Elend man ist.
 

Ich versuche, langsam aufzustehen, aber wie erwartet macht mein Kreislauf schlapp und Julius hat Schwierigkeiten mein Gewicht zu halten, weil ich größer bin als er. Nach drei Versuchen stehe ich wohl oder übel aufrecht und mein Zimmer verschwimmt immer wieder vor meinen Augen, aber ich angele mich bis zum Türrahmen und schaffe es ins Bad.
 

Scheißdreck.
 

Es dauert gefühlte hundert Jahre sich aus den Klamotten zu schälen und mich in die Dusche zu setzen.
 

»Nicht abschließen!«, ruft Julius aus dem Flur. Ich schalte das Wasser an, das eigentlich viel zu heiß eingestellt ist, aber es ist mir egal. Ich weiß nicht, wie lange ich unter der Dusche sitze, aber irgendwann geht die Badezimmertür auf.
 

»Alles ok?«
 

»Wie man‘s nimmt.«
 

»Ah. Aber du bist nicht abgeklappt.«
 

»Wenn ich weiter so heiß dusche, kommt das gleich noch«, gebe ich gleichgültig zu. Julius schweigt einen Moment. Ich kann mir in etwa vorstellen, was in ihm vor sich geht, aber schließlich kommt er tatsächlich ins Bad und öffnet kurzerhand die Duschkabine. Als er unters Wasser greift, um den Regler herunter zu drehen, flucht er lautstark. Ich sehe, dass er die Augen geschlossen hat und muss beinahe lachen.
 

Dann reißt er das Fenster im Bad auf.
 

»Genug geduscht«, meint er mit seiner pseudostrengen Stimme. Ich greife blindlings nach Shampoo oder Duschgel oder was auch immer ich als erstes zu fassen kriege und fange an, mich mehr schlecht als recht zu waschen, während Julius wieder aus dem Bad verschwindet.
 

Ich muss förmlich aus der Dusche kriechen, weil mir vom heißen Duschen und mangelnden Essen so schwindelig ist und ich schaffe es, mich halbwegs trocken zu bekommen. Gerade, als ich darüber nachdenke, ob ich im Handtuch zurück in mein Zimmer schwanken soll, taucht Julius wieder auf und legt mir einen Stapel frischer Wäsche hin.
 

Meine Haare triefen, als ich mich mühselig anziehe und dann zurück ins Zimmer gehe. Julius hat mein Bett frisch bezogen und verschwindet jetzt, um meine Wäsche aus dem Bad einzusammeln. Er kommt mit einem Handtuch zurück und trocknet meine Haare. Ich protestiere halbherzig und fühle mich miserabel, weil ich schlimmer bin als ein kleines Kind.
 

Das Fenster ist mittlerweile wieder geschlossen, aber Julius hat die Jalousie offen gelassen, sodass immer noch jede Menge Sonnenlicht in mein Zimmer scheint.
 

Julius schubst mich vorsichtig nach hinten und dann krabbelt er ungefragt zu mir ins Bett und lässt sich halb neben mich und halb auf mich fallen. Sein Atem streift meinen Hals, ein Arm liegt auf meinem Oberkörper und eins seiner Beine hat er über meine geschoben. Ich will wirklich nicht anfangen zu heulen, aber es kann auch nichts dagegen machen, als mir Tränen über die Wangen laufen.
 

Es ist kein Wunder, dass er mich in der Schule ignoriert. Ich bin total lächerlich.
 

»Willst du die Geschichte hören, wie ich mit acht aus Versehen unseren Weihnachtsbaum in Brand gesteckt habe?«
 

Ich gebe ein ersticktes Hicksen von mir, das alles bedeuten kann, aber Julius beschließt offensichtlich, dass es »Ja« bedeutet, denn er fängt an zu erzählen, während ich heulend aber immerhin frisch geduscht auf dem Bett liege.
 

»Also, meine Mutter hat diesen Kerzenleuchter, den sie hütet, wie ihren Augapfel…«
 

*
 

Ich schlafe nach einer Stunde anhaltendem Heulen tatsächlich ein und als ich wieder aufwache, ist es draußen fast dunkel und Julius liegt immer noch neben mir. Er scheint auch eingeschlafen zu sein, denn er atmet ziemlich gleichmäßig und ich glaube, er hat auf meine Schulter gesabbert.
 

Es geht mir tatsächlich besser.
 

Vielleicht hat die hohe Dosis Körperkontakt geholfen, oder die generelle Gesellschaft. Und ich fühle mich nach dem Duschen definitiv mehr wie ein Mensch als vorher. Mein Magen gibt ein sehr lautes Grummeln von sich und ich stelle fest, dass mein Arm eingeschlafen ist.
 

Julius wacht auf, rutscht ein Stück von mir weg und wischt sich über den Mund.
 

»Ach, scheiße«, nuschelt er. Ich kann nicht umhin matt zu glucksen.
 

»Auf meine Schulter«, murmele ich. Julius gibt ein peinlich berührtes Stöhnen von sich und legt sich eins meiner kleineren Kissen aufs Gesicht.
 

»Wie kommt‘s, dass ich dir schon auf die Schulter gesabbert habe, aber nicht mal weiß, was deine Lieblingsfarbe ist?«, will er gedämpft unter dem Kissen hervor wissen.
 

»Keine Ahnung. Aber es ist rot«, informiere ich ihn. »Du hast mich auch schon zweimal wie einen Zombie im Bett erlebt und du hast mit einer halben Panikattacke bei mir angerufen.«
 

»Fangen all deine Freundschaften so an?«, will er wissen, ohne das Kissen von seinem Gesicht zu nehmen.
 

»Ich hatte seit der fünften Klasse immer dieselben drei Freunde und die haben alle anders angefangen. Aber irgendwann ist wahrscheinlich immer das erste Mal.«
 

»Nur damit du’s weißt, ich muss unter diesem Kissen bleiben, weil ich dich angesabbert habe«, erklärt Julius ernst und ich muss lachen. Lachen tut im Bauch weh, weil ich solchen Hunger habe – was wahrscheinlich ein gutes Zeichen ist. Mein Magen knurrt erneut und ich grummele ihn ungnädig an.
 

Julius sitzt kerzengerade im Bett und das Kissen fällt von seinem Gesicht. Sein Haar hat sich aus dem üblichen Zopf gelöst und steht in alle Himmelsrichtungen ab. Er hat ein bisschen Schlaf im Augenwinkel.
 

»Soll ich dir noch was zu essen besorgen?«, fragt er unsicher.
 

Ich betrachte sein zerknautschtes Gesicht und stelle fest, dass er wirklich sehr hübsch ist. Kein Wunder, dass alle Mädchen ihm hinterherlaufen. Und nett ist er auch.
 

»Du musst nicht–«
 

»Ok! Essen!«, sagt er, krabbelt über mich drüber und verfängt sich fast in der Bettdecke, was dazu führt, dass er mehr schlecht als Recht auf dem Boden landet und kurz wankt.
 

»Deswegen bin ich Fußballkapitän«, erklärt er mir mit sehr ernster Miene und ich muss lachen. Lachen tut wirklich weh.
 

Er dreht sich um und geht Richtung Tür.
 

»Was ist deine Lieblingsfarbe?«, will ich wissen.
 

Er schaut über die Schulter und grinst.
 

»Grün.«
 

Während Julius in der Küche verschwunden ist, greife ich zum dritten Mal nach meinem Handy und öffne WhatsApp. Mir fällt auf, dass ich Julius immer noch nicht unter seinem Namen eingespeichert habe, sondern er bei mir nach all der Zeit noch Blondie McSurferboy heißt.
 

Ich ändere seinen Namen in meinen Kontakten und mustere kurz Julius‘ Profilbild, das ihn mit Cem zeigt. Beide tragen dieselbe scheußliche, vergitterte Sonnenbrille und grinsen in die Kamera. Ich schnaube leise und öffne die Nachrichten von Julius, überfliege sie aber nur. Wahrscheinlich sind sie alle in etwa im Ton von »Alles ok bei dir?« und »Wo bist du?«. Dreizehn der 47 Nachrichten waren von Julius, die anderen sind in der Gruppe, die Anni jetzt endlich wieder in GoldenQuartet umbenannt hat.
 

Auch diesen Chat öffne ich nur einmal kurz, scrolle nach unten und schließe ihn wieder. Jetzt werden mir auf dem Handy wenigstens keine 47 ungelesenen Nachrichten mehr angezeigt.
 

Julius kommt ein paar Minuten später mit einer Eieruhr zurück.
 

»Ich habe Nudeln und Glas Tomatensoße gefunden«, sagt er und platziert die Eieruhr auf meinem Schreibtisch.
 

»Meine Mutter hat mich heute zum ungefähr dreihundertsten Mal daran erinnert, dass ich dich fragen soll, wie viele Stunden du seit deiner Grippe auf mich verwendet hast, damit sie dir das bezahlen kann«, meint Julius und lässt sich neben mich aufs Bett fallen.
 

Ich blinzele verwirrt.
 

»Mit Sprachnachrichten und so«, fügt Julius hinzu. Ich schüttele den Kopf.
 

»Ich will das Geld gar nicht mehr«, sage ich und ziehe die Schultern nach oben. »Ich meine… wenn wir ja jetzt…«
 

Ich sacke ein bisschen in mich zusammen und verkrieche mich weiter auf mein Bett. Ugh. Tamino. Reiß dich zusammen.
 

»Wenn wir jetzt doch sowieso Freunde sind«, nuschele ich kaum hörbar. Julius antwortet eine ganze Weile lang nicht und ich beobachte, wie er wieder auf seinem Handy herum tippt.
 

»Ich hab noch ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk für dich«, sagt er dann undrutscht ein Stück auf dem Bett nach hinten. »Aber ich kann es dir erst am Wochenende bringen. Und Mari und meine Mutter haben sich auch dran beteiligt. Und ich hab ein Foto, das ich dir jetzt schon mal zeigen kann, damit du im Zweifelsfall sagen kannst, dass du es nicht haben willst.«
 

Ich lege den Kopf schief und mustere ihn gespannt. Natürlich habe ich überhaupt nicht erwartet, dass er mir irgendwas schenkt und jetzt beobachte Julius, wie er im Schneidersitz vor mir auf dem Bett hockt und dann das besagte Bild auf seinem Handy sucht. Dann holt er tief Luft und hält mir sein Handy hin.
 

Ich starre auf den Bildschirm, dann auf Julius‘ Gesicht und dann wieder aufs Handy.
 

»Ich hab mit den anderen geredet«, sagt Julius hastig und ich denke, dass er mit ‚den anderen‘ wohl Lotta, Noah und Anni meint, »ob es überhaupt eine gute Idee ist. Aber sie haben gesagt, es sei–«
 

Ich schnappe ihm das Handy aus der Hand und starre auf den Bildschirm. Mir schaut eine kleine, bunte Katze entgegen, der ein Ohr fehlt. Sie hängt auf Julius‘ Arm – man erkennt seinen Pferdeschwanz von hinten – und maunzt offenbar gerade, als das Foto aufgenommen wurde.
 

»Meine Tante hat uns gefragt, ob wir jemanden kennen, der eine haben möchte und meine Mutter ist allergisch und meine Tante meinte, dass niemand sie haben wollte, weil ihr ein Ohr fehlt, aber sie ist–«
 

Ich werfe das Handy beiseite und tackele Julius just in dem Moment nach hinten, als die Eieruhr klingelt. Julius gibt ein erstauntes Japsen von sich, als er hinten über kippt und ich auf ihm lande. Gott sei Dank hab ich geduscht. Mein Magen knurrt schon wieder.
 

»Oh mein Gott«, flüstere ich. Und ich kann nichts dagegen machen, aber ich muss schon wieder heulen.
 

»Heißt das, du nimmst sie?«, fragt Julius erstickt.
 

Ich nicke gegen seinen Hals und ignoriere die Tatsache, dass unsere Position etwas prekär aussehen könnte, wenn irgendwer reinkäme, weil ich zwischen seinen Beinen gelandet bin. Wen interessiert das schon? Ich bekomme eine Katze.
 

»Danke.«
 

Julius legt seine Arme vorsichtig um mich.
 

»Wenn du willst, bleib ich über Nacht.«
 

»Weißt du… es ist eigentlich voll egal, ob du mich in der Schule ignorierst. Du hast diese Freundschaftssache voll drauf.«
 

Julius schnaubt und drückt mich ein bisschen fester.
 

»Heißt das, du willst?«
 

»Hm.«
 

»Ok. Und jetzt lass mich zu den Nudeln. Du musst was essen!«

Ororo

Dinge, die ich nicht hab kommen sehen:
 

1. Dass ich irgendwann mal an einem Donnerstagmorgen von einem Wecker geweckt werden würde und dabei nicht alleine im Bett liege.
 

2. Und dass der jemand, der mit mir im Bett liegt, Julius ist, der extra für mich über Nacht geblieben ist, weil ich eine depressive Episode hatte.
 

3. Dass Julius mir irgendwas zum Geburtstag schenken würde und dass es von allen Dingen auf dieser Welt eine junge Katze mit nur einem Ohr sein würde.
 

Als ich wach werde, spüre ich einen sehr warmen anderen Körper von hinten an mich gepresst. Ich habe mich über Nacht in den kleinen Löffel verwandelt und Julius schnarcht leise, als würde er den Wecker überhaupt nicht hören. Tatsächlich konnte ich sogar schlafen – etwas, das mich jetzt nicht mehr überraschen sollte. Aber der Gedanke, dass Julius sich in den Kreis derer eingereiht hat, in deren Gesellschaft ich wirklich gut schlafen kann, ist sehr unwirklich.
 

Ich habe mich noch nicht wirklich entschieden, ob ich heute schon wieder aufstehen und zur Schule gehen kann, aber ich drehe mich vorsichtig um und betrachte Julius‘ Gesicht, nachdem ich den Wecker ausgemacht habe. Von draußen scheint die Junisonne herein und kündet von hervorragendem Wetter.
 

Julius‘ Mund ist leicht geöffnet und seine blonden Haare hängen ihm wirr ins Gesicht. Die abrasierten Haare an der Seite seines Kopfes sind schon wieder recht lang geworden, weil er sie länger nicht nachrasiert hat und ich widerstehe der Versuchung, sie anzufassen und zu prüfen, ob sie so flauschig sind, wie sie aussehen.
 

Dann stupse ich Julius vorsichtig an.
 

»Hmpf«, macht er leise und klappt den Mund zu. Seine Augen öffnen sich blinzelnd und er schaut mich verschlafen und ziemlich desorientiert an. Kein Wunder.
 

»Schule«, sage ich leise und mit heiserer Stimme. Julius stöhnt unzufrieden, rutscht dichter an mich und vergräbt sein Gesicht an meiner Schulter. Ich muss lächeln. Wer hätte gedacht, dass in Blondie McSurferboy ein Kuscheltier schlummert? Ich jedenfalls nicht.
 

»Wenn du wegen mir schwänzt, werde ich mich sehr schlecht fühlen«, murmele ich leise gegen sein Haar. Es ist seltsam, so mit ihm hier zu liegen, weil ich es nicht gewöhnt bin. Wenn ich so neben Noah oder Anni oder Lotta aufwachen würde, dann würde ich mich kein bisschen darüber wundern. Ich hebe eine Hand und streiche behutsam durch das blonde Haar. Es ist in der Tat sehr weich.
 

Julius gibt ein zufriedenes Seufzen von sich. Ich glaube, wenn er es könnte, würde er schnurren.
 

In mir breitet sich eine ungeahnt liebevolle Wärme aus und ich beschließe kurzerhand, dass ich zu depressiv bin, um mich zu schämen und schlinge einen Arm um Julius Oberkörper, um ihn noch ein bisschen näher an mich zu drücken und sachte über seinen Rücken zu streicheln. Weil die Sonne volle Kanne in mein Zimmer scheint, kann ich beobachten, wie Julius auf dem Unterarm Gänsehaut bekommt, als ich mit den Fingern die nackte Haut in seinem Nacken berühre.
 

»Kommst du mit zur Schule?«, nuschelt Julius verschwommen gegen meine Schulter. Es klingt, als wäre er betrunken und ich muss schmunzeln.
 

»Ich weiß nicht«, gebe ich ehrlich zu. Julius schnauft angestrengt, dann löst er sich langsam von mir und schaut mich kurz aus seinen noch halb geschlossenen Augen an.
 

»Musst du nicht ein Attest haben, wenn du so lange weg bleibst?«, fragt er nachdenklich. Ich zucke mit den Schultern und mache ihm Platz, damit er aufstehen kann.
 

»Frau Lüske weiß Bescheid. Also… über die… ähm…«
 

Ich seufze.
 

»Sie weiß, dass das passieren kann. Ich hab bisher fast keine Fehltage und ich steh sowieso überall auf eins, ich glaube, es ist so kurz vor den Ferien ein bisschen egal.«
 

Wow. Das ist mehr, als ich in den letzten drei Tagen geredet habe. Julius schüttelt amüsiert den Kopf.
 

»Superhirn«, nuschelt er gespielt stichelnd und dann tut er etwas sehr Unerwartetes und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Ich blinzele. Julius auch. Dann läuft er scharlachrot an, krabbelt hastig aus dem Bett und flüchtet ins Bad.
 

Huh.
 

Nicht, dass ich was gegen Küsse einzuwenden hätte – ich bin großer Fan von Küssen. So ziemlich überallhin. Aber Julius scheint mir insgesamt sehr neu auf dem ganzen platonischen-Kuschel-Zug zu sein und dafür hat er ziemlich schnellen Fortschritt gemacht. Vielleicht dachte er, dass er gerade eine Grenze überschritten hat. Und vielleicht sollte ich ihm sagen, dass ich Küsse super finde und sie mir überhaupt nichts ausmachen.
 

Es war ehrlich gesagt ausgesprochen niedlich, mich Superhirn zu nennen und dann quasi meine Stirn stellvertretend für besagtes Superhirn zu küssen.
 

Wer hätte gedacht, dass ich über Julius Timmermann jemals als süß denken würde?
 

Als Julius aus dem Bad wiederkommt, sind seine Haare nass und er riecht nach meinem Duschgel. Ich krieche aus dem Bett und versuche probehalber aufzustehen. Wenn man drei Tage nichts gegessen hat und dann nur eine Schale Müsli und einen halben Teller Nudeln schafft, ist der Kreislauf von einer aufrechten Haltung eher nicht so begeistert.
 

»Du kannst auch liegen bleiben«, sagt Julius zögerlich, als er sieht, wie ich auf der Stelle wanke. Ich seufze.
 

»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob noch mehr liegen die beste Idee ist, auch wenn es sehr verlockend klingt«, murmele ich. Jetzt, da die volle Breitseite der Episode erst einmal abgewendet ist, ist es mir schon wieder peinlich, dass Julius mich so erlebt hat. Fast wünsche ich mir die Gleichgültigkeit der letzten Tage zurück, weil sie meine Angststörung in ihrer Heftigkeit ausbootet. Eine psychische Krankheit eifert mit der anderen um die Wette – und meistens siegt meine Angststörung, bis auf wenige Ausnahmen.
 

Bevor meine Schamgrenze ihr übliches Limit erreicht, sollte ich die Kusssache klarstellen.
 

»Küsse sind ok. Übrigens. Also… mehr als ok. Küsse sind ne gute Sache«, sage ich und greife nach der Wasserflasche auf meinem Nachtschrank. Julius wird sofort wieder rot und kratzt sich peinlich berührt im Nacken.
 

»Oh. Ok. Cool. Ähm… ja. Ich weiß auch nicht, wo das herkam… ich…«
 

Ich mache einen entschlossenen Schritt vorwärts, nehme Julius‘ Gesicht in beide Hände und sehe noch einen Moment lang seine sich weitenden Augen, bevor ich ihm ebenfalls einen Kuss auf die Stirn drücke. Meine Lippen kribbeln. Sie haben schon sehr lange niemanden mehr geküsst – wohin auch immer.
 

»Ich glaube, ich sollte zur Schule gehen«, sage ich dann und tue so, als wäre diese ganze Sache mit den Küssen kein großes Ding, damit Julius nicht vor Scham vergeht. Wenn man sich selbst fast ununterbrochen über irgendwelche Dinge schämt, lernt man irgendwann, wie man anderen Menschen Scham am besten nehmen kann.
 

Julius scheint in der Tat dankbar zu sein, dann er fährt sich kurz mit den Fingern über die Stirn – fast so, als hätte er noch nie einen Kuss dorthin bekommen – und fängt dann an, in seinem Rucksack zu kramen. Tatsächlich hat er Deo und eine Zahnbürste eingepackt und verschwindet wieder ins Bad. Diesmal ganz ohne Fluchttempo.
 

Als ich ins Bad komme, riecht es dort nach einer Mischung aus meinem Duschgel, Julius‘ Deo und Zahnpasta. Ich höre meinen Vater in der Küche herum werkeln und nehme meine eigene Zahnbürste zur Hand. Noch mal duschen schaffe ich nicht, also muss Zähneputzen und Gesicht waschen erst mal reichen.
 

»Hast du dir schon einen Namen überlegt?«, fragt Julius, während er sich seine blonde Haarmähne kämmt und sie anschließend nass wie sie ist in einen Knuddel auf seinem Hinterkopf zusammenbindet.
 

»Ist es eine Katze oder ein Kater?«
 

»Eine Katze.«
 

Ich denke darüber nach, während ich mir die Zähne putze.
 

Es gibt so viele Möglichkeiten. Aber ich habe immerhin noch bis zum Wochenende Zeit, um mich zu entscheiden. Nachdem ich meine Zähne fertig geputzt habe, gehe ich kurzerhand in die Küche. Manchmal, wenn ich meinen Vater ansehe, frage ich mich, was meine Mutter jemals in ihm gesehen hat. Aber da ich weiß, dass die beiden eine relativ glückliche Beziehung hatten, versuche ich darüber nicht allzu sehr den Kopf zu schütteln.
 

Da er weiß ist und ich nicht habe ich Gott sei Dank die Genugtuung mich angemessen von ihm zu unterscheiden. Wenn man uns zusammen sehen würde, würde wohl niemand auf die Idee kommen, dass wir verwandt sind, da ich ganz nach meiner Mutter gebe. Das einzige, was er genetisch beigetragen hat, war meine Haut etwas heller zu machen, als die meiner Mutter und meine Haarstruktur zu beeinflussen.
 

»Am Wochenende zieht eine Katze hier ein«, sage ich ohne Begrüßung und Einleitung. Er sitzt am Küchentisch und liest seine Zeitung. Jetzt schaut er auf und runzelt die Stirn.
 

»Aha?«, sagt er. Manchmal möchte ich sein Desinteresse an meinem Leben gerne in physische Form bringen und ihm damit so richtig eins überbraten. Aber wahrscheinlich ist es so immer noch besser als mit Eltern wie die von Lotta und deswegen schlucke ich meinen Ärger meistens hinunter.
 

»Es ist ein Geburtstagsgeschenk«, erkläre ich.
 

»Solange das Vieh von meinen Sachen wegbleibt«, sagt er über seine Zeitung hinweg. Ich zwinge mich, nicht mit den Schultern zu zucken und nehme das einfach als uneingeschränkte Zustimmung. Ohne ein weiteres Wort drehe ich mich um, gehe zurück in mein Zimmer und fange an mich auszuziehen.
 

Julius ist an seinem Handy zugange und schaut auf, als ich hereinkomme und anfange, mir die Schlafsachen vom Körper zu zerren. Da Julius sich regelmäßig in Umkleidekabinen mit jeder Menge Fußballern darin umzieht, dachte ich eigentlich, dass ihn ein bisschen nackte Haut nicht stören würde, aber er blinzelt mehrmals und schaut dann wieder sehr konzentriert auf sein Handy.
 

Vielleicht hat er Angst, dass mir das unangenehm ist.
 

Ich würge zum Frühstück eine halbe Banane runter, den Rest gebe ich Julius auf dem Weg nach unten. Es ist ungewohnt mit ihm zur Schule zu gehen und er scheint kein Morgenmensch zu sein, denn er gähnt alle paar Schritte und macht ab und an angestrengte Geräusche, während wir nebeneinander herlaufen.
 

»Ich hab übrigens angefangen Aristoteles und Dante zu lesen«, informiert er mich kurz vorm Eingang der Schule. Ich erinnere mich daran, wie er das Buch bei mir im Zimmer in den Händen hatte und schlucke angesichts der Tatsache, dass Julius daran ja vielleicht merkt, dass ich auf Jungs stehe. Aber ich könnte das Buch ja auch einfach so mögen. Weil es eine schöne Geschichte ist.
 

»Oh, cool. Erzähl mir, wie es dir gefällt«, sage ich lächelnd. Er grinst verschlafen.
 

»Ich brauche wahrscheinlich zweihundert Jahre dafür. Hab schon ewig kein Buch mehr einfach so gelesen«, meint er.
 

Wir sind so unterschiedlich. Aber irgendwie funktioniert es ja ganz gut.
 

»Der Schreibstil ist auf jeden Fall nicht so anstrengend wie der von Thomas Mann«, sage ich amüsiert und Julius schnaubt.
 

»Bestimmt ist kein Buch so anstrengend wie dieser Scheiß«, gibt er zurück. Ich fühle mich immer noch wie Dreck, aber Julius‘ Gegenwart hilft, die Bewegung und die frische Luft tun mir auch gut und ich denke, dass ich ja immer noch früher nach Hause gehen kann, wenn es nachher gar nicht mehr geht. Ich hab auch keinerlei Hausaufgaben zu heute gemacht, aber meistens kann ich diese Dinge ganz gut improvisieren.
 

Zu meiner grenzenlosen Überraschung gesellt sich Julius in der großen Pause zu mir, nachdem ich auf dem Schulhof in der Sonne Platz genommen habe. Ich kann von hier aus die Traube aus seinen Kumpels sehen, die meistens in der Raucherecke stehen und dort Cem und einigen anderen Gesellschaft leisten.
 

Er wirft sich neben mir auf die Bank und reißt einen Müsliriegel auf, den er wohl gerade beim Kiosk erworben hat. Ehe ich es mich versehe, hat er mir auch einen in den Schoß geworfen und beißt ein großes Stück von seinem ab. Ich lege ein Lesezeichen in mein Buch und stecke es behutsam zurück in meine Tasche.
 

»Hey«, sage ich leise und lächele, ehe ich den Müsliriegel nehme. Es ist ein extragroßer mit Schokolade. »Danke.«
 

»Kein Ding. Wenn du willst, können wir uns nach der Schule irgendwo was kaufen«, mampft er und streckt seine Beine aus. Ich merke, dass viele seiner Kumpels zu uns herüber sehen und frage mich, was die wohl gerade denken. Cem beobachtet uns ebenfalls und ich muss daran denken, wie er mich vorm Fußballspiel gemustert hat. Ich hab Cem definitiv schon von Exfreundinnen reden hören. Das macht ihn dann mit großer Wahrscheinlichkeit bisexuell.
 

Mit einer lesbischen Schwester und einem bisexuellen besten Kumpel kann Julius doch eigentlich nichts dagegen haben, wenn ich schwul bin, oder? Oder weiß er es von Cem nicht und findet es bei Jungs eklig? Das gibt es schließlich oft genug.
 

Aber eigentlich ist er so ein netter Kerl…
 

»Heißt das, du kommst nachher wieder mit zu mir?«, frage ich und höre selber, wie hoffnungsvoll meine Stimme klingt. Julius grinst mich an.
 

»Wenn ich darf.«
 

»Klar.«
 

Ich bin so dankbar, dass ich noch nicht wieder alleine sein muss und noch eine Nacht ruhig schlafen kann. Mein Herz schwillt auf die doppelte Größe an.
 

»Danke«, murmele ich leise und beiße in meinen Müsliriegel.
 

Julius bufft mich mit der Schulter an.
 

»Kein Ding. Ich muss nur später noch zum Training und vorher meine Sachen von zu Hause holen«, erklärt er und schiebt sich das letzte Stück Riegel in den Mund. Dann stopft er den Müll in seine Hosentasche und streckt sich. Ich hätte ihm Frühstück anbieten sollen, aber ich habs vergessen, weil ich selber überhaupt keinen Hunger hatte.
 

»Boah, ich hab Bock auf Döner. Können wir Döner holen?«
 

»Was immer du möchtest«, sage ich. Der sanfte Ton war gar nicht unbedingt beabsichtigt, auch wenn ich mich im Moment wie ein großer Wattebausch fühle, weil Julius mir Gesellschaft leistet, eins meiner Lieblingsbücher lesen will, mir eine Katze geschenkt hat und heute nach der Schule noch mal bei mir übernachtet.
 

Julius dreht den Kopf zu mir um und sieht mich an. Seine Ohren sind rot, als er mich mustert. Es sieht aus, als würde er irgendwas sagen wollen, aber er presst die Lippen aufeinander und hält sein Gesicht dann der Sonne entgegen.
 

Ich krame mein Handy hervor und sehe endlich zu, meinen Freunden bei WhatsApp zu antworten. Zwar denke ich, dass Julius sie wohl auf dem Laufenden gehalten hat, – immerhin haben sie jetzt eine TaminoFanclubII-Gruppe ohne mich – aber sie sollten trotzdem von mir hören.
 

Julius summt irgendetwas neben mir und ich frage mich, ob es ihm mit mir nicht zu langweilig ist, wenn er auch mit seinen Kumpels herumalbern könnte. Aber wenn es ihn stört, dann sagt er kein bisschen, sondern beobachtet mich dabei, wie ich meinen Freunden schreibe und nebenbei langsam meinen Müsliriegel esse, von dem ich wieder nur die Hälfte schaffe und den Rest Julius gebe, der nur zwei Bisse braucht, um ihn aufzuessen.
 

Als es klingelt, bin ich ein bisschen traurig darüber, dass ich nicht noch länger mit Julius in der Sonne sitzen kann.
 

Der Schultag vergeht in einem depressiven Nebel, in dem ich mich nicht am Unterricht beteilige, es aber immerhin schaffe Frau Lüske über mein derzeitiges Problem zu informieren. Wie erwartet gibt sie mir zu verstehen, dass ich ein herausragender Schüler bin, es kurz vor den Sommerferien ist und ich mir keine Gedanken machen soll. Dann wünscht sie mir gute Besserung, was wohl eine seltsame Formulierung für Depressionen ist, aber ich danke ihr trotzdem und bin froh, als ich endlich wieder nach Hause gehen kann.
 

Da Julius Training hat, bin ich erst einmal auf mich allein gestellt und zwinge mich dazu, zumindest ein paar der Hausaufgaben zu machen, die Julius mir gestern mitgebracht hat. Es ist alles ziemlich wischiwaschi, aber wenn ich bedenke, dass die meisten Leute ihr Leben lang solche Hausaufgaben abliefern – oder sie gar nicht erst machen – bin ich wohl auf der sicheren Seite.
 

Neben jeder Menge Forderungen darüber, so viele Katzenbilder wie möglich in die Gruppe zu posten, sobald ich den kleinen Wischmopp zu Hause habe, finde ich auch eine Anfrage von Anni, ob sie einen Termin bei Frau Dr. Dunker für mich in den Sommerferien machen soll. Noch so eine Sache, die mein sogenannter Vater außer Acht gelassen hat, als er mich in diese Stadt geschleift hat, ist, dass ich meine Therapie abbrechen musste und mir selber keine neue suchen konnte.
 

Weil ich leider noch nicht in der Lage bin, mir irgendwo Termine geben zu lassen. Da er das auch nicht für mich tut und ich am Anfang keine Freunde hatte, die mir dabei hätten helfen können, ist eine Fortführung meiner Therapie auf Grundeis gegangen.
 

Wenn ich nach dem Abi wieder zurückgehe, kann ich die Therapie hoffentlich weiter fortsetzen.
 

Ich koche mir Tee, mache bei offenem Fenster laut Musik an und tue so, als wüsste ich nicht, dass mein Vater Stromae ganz scheußlich findet. Als es klingelt, lasse ich ihn zur Tür gehen und bleibe einfach auf meinem Bett liegen, während die frohe Abendsonne in mein Zimmer scheint und mein weißes Shirt orange anmalt.
 

Als Julius den Kopf in mein Zimmer steckt, läuft gerade »Ta fête«.
 

»Döner?«, fragt er. Er hat wieder nasse Haare, weil er direkt beim Training geduscht hat. Ich hoffe doch sehr, dass er vorher noch irgendwas gegessen hat und nicht mit der Grundlage von anderthalb Müsliriegeln und einer halben Banane zum Training gegangen ist.
 

»Döner«, sage ich und setze mich auf. Ich hab keine Ahnung, ob ich auch nur einen halben Döner essen kann. Aber ich bin sicher, dass Julius sich dem Rest erbarmen würde.
 

»Meine Mutter hat angeboten das ganze Zubehör mit dem Auto zu dir zu karren, damit wir es nicht schleppen müssen«, informiert Julius mich, während wir uns zu Fuß auf den Weg zum nächsten Dönerladen machen.
 

»Ihr habt schon alles besorgt?«, frage ich halb beeindruckt, halb entsetzt darüber, dass Familie Timmermann so viel Geld für mich ausgegeben hat.
 

»Jap. Mari und ich haben uns die Katze geteilt und Mama hat den Rest gezahlt. Sie meinte, das wäre ein angemessenes Geschenk als Dank für mein Abi«, erklärt Julius amüsiert.
 

»Aber das wäre wirklich nicht nö–«
 

Julius legt mir die Hand auf den Mund und sieht mich an. Es soll wohl ein strenger Blick sein, aber Julius hat das einfach nicht drauf mit dem streng gucken. Seine grünen Augen funkeln entschlossen.
 

»Pscht. Du verdienst nette Dinge.«
 

Er zieht die Hand von meinem Mund zurück und ich muss mich wahnsinnig zusammenreißen, nicht mitten auf der Straße das Heulen anzufangen. Julius summt wieder leise vor sich hin und ich erkenne eine schiefe Version von »Ta fête« in den Tönen.
 

Tief durchatmen, Tamino.
 

»Danke«, murmele ich sehr leise.
 

Julius grinst nur schweigend und schiebt seine Hände in die Hosentaschen, während er neben mir hergeht.
 

Wir verbringen den Abend mit Döner – ich schaffe wirklich nur die Hälfte und Julius isst seinen kompletten Döner inklusive meiner übrigen Hälfte – und ein paar Folgen Deep Space Nine. Julius sitzt wieder zwischen meinen ausgestreckten Beinen und ich male mit den Fingern Muster auf seine nackten Unterarme, während wir mit der zweiten Staffel anfangen.
 

Ich frage mich, was Julius‘ Mutter davon hält, dass er quasi bei mir eingezogen ist, aber Julius hat nichts darüber gesagt und ich traue mich nicht zu fragen. Seine Gegenwart beschert mir eine weitere Nacht ruhigen Schlaf und den Antrieb, auch am Freitag zur Schule zu gehen. Immerhin habe ich nur sechs Stunden und Julius hat gesagt, dass wir hinterher die Katze holen können.
 

Vor lauter Vorfreude auf meine Katze vergesse ich sogar aufgeregt darüber zu sein, dass ich mit Julius, seiner Schwester und seiner Mutter Auto fahren muss, um die Katze zu holen. Wie es scheint, haben Marina und ihre Mutter das ganze Zubehör schon in den Wagen geladen – inklusive eines Katzenkorbs, in dem sie dann transportiert werden kann. Marina drückt mir eine Packung Leckerlis in die Hand und ich muss mehrere Minuten sehr konzentriert atmen, um nicht vor Julius‘ Familie in Tränen auszubrechen.
 

Verflucht seien die Depressionen und die damit einhergehende mangelnde Kontrolle über meine Emotionen.
 

Wie es sich herausstellt, sieht Julius‘ Tante beinahe genauso aus wie Julius‘ Mutter, was mich vermuten lässt, dass die beiden auch Zwillinge sind. Der größte Unterschied ist, dass Julius‘ Tante dicker ist, weniger Lippenstift und eine dieser Kurzhaarfrisuren trägt, die viele weiße Frauen in ihren Vierzigern tragen.
 

Ich habe nicht wirklich die Kapazität, auf das familiäre Geschnatter zu achten, weil aus einer der geöffneten Türen ein flauschiges Köpfchen mit nur einem Ohr hervor lugt. Während Julius gerade erklärt, dass ich sein Abi gerettet habe und Familie Timmermann ihm deswegen diese Katze schenkt, gehe ich langsam durch den mir unbekannten Flur und lasse mich auf die Knie sinken.
 

Die Katze mustert mich mit riesigen Pupillen – wahrscheinlich ist sie mit der Menge an Menschen in diesem Flur ziemlich überfordert. Als ich die Hand ausstrecke, zögert sie kurz, dann kommt sie langsam hervor und schnuppert an meinem Finger.
 

Meine Tränendrüsen laufen wahrscheinlich gleich über, weil ich schon den ganzen Tag Tränen zurück halte.
 

»Hallo«, sage ich leise und beobachte, wie sie meine Hand ganz genau untersucht. Ich krame nach den Leckerlis, die Marina mir gegeben hat, und halte eines auf der offenen Handfläche hin. Das kommt gut an. Nachdem sie meine Finger ausgiebig abgeleckt hat, macht sie noch ein paar tapsige Schritte auf mich zu und stupst ihren Kopf gegen mein Knie. Ich hoffe, dass niemand mein Schniefen hört.
 

Ich kriege nichts mit vom Rest der Unterhaltungen oder davon, wie wir wieder ins Auto steigen oder von der Fahrt. Alles, was ich anschaue, ist das kleine tapsige Tier mit den großen Augen, das mich durch die Stangen der Korbtür anschaut und jedes Leckerli isst, das ich anbiete.
 

Wenigstens schaffe ich es, noch ungefähr fünfzehn Mal meinen Dank zu stammeln, als ich zu Hause abgesetzt werde und alle mir dabei helfen, die verschiedenen Dinge in die Wohnung zu tragen. Marina übernimmt den recht sperrigen Kratzbaum, da sie laut Julius die meisten Armmuskeln hat. Ich trage den Korb, Julius einen Rucksack voll mit Futterdosen und einen Sack Streu und Julius‘ Mutter das leere Katzenklo und zwei Futternäpfe.
 

Ich umarme Marina und Julius zum Abschied und werde von Frau Timmermann umarmt – etwas, das mich ein wenig überfordert, aber wenigstens ist meine Batterie dank Julius so weit aufgeladen, dass es nicht peinlich wird und ehe ich es mich versehe, bin ich mit dem kleinen Fellknäuel allein in meinem Zimmer und öffne behutsam den Korb.
 

Sie hat bunt gemustertes Fell – weiß und schwarz und rot wild durcheinander und strahlend orangene Augen – und als ich den Korb öffne, huscht sie sofort unters Bett und ich lege mich auf den Bauch, um sie dort zu beobachten.
 

So verbringe ich die nächsten drei Stunden – ich rede mit ihr und sie erforscht den Staub unter meinem Bett. Ich höre sie ab und an niesen und hin und wieder leuchten ihre Augen mir entgegen.
 

Mein Handy vibriert und ich lese die eingegangene Nachricht von Julius.
 

»Hat sie schon einen Namen?«
 

»Ich denke, ich werde sie Ororo nennen, aber mit zweitem Namen sollte sie definitiv Juli heißen.«
 

»Spinner ❤«
 

Ich starre das Herz ungefähr zehn Minuten lang und werde erst abgelenkt, als ein haariges Etwas an meiner Wange schnüffelt.

flirting with nerds 101

Sonntag ist ein guter Tag, weil ich morgens mit einem ruhig atmenden und sehr warmen Flauschball auf dem Bauch aufwache. Ororo hat sich dort auf der Bettdecke eingerollt – vielleicht ohne sich dessen bewusst zu sein, dass ich darunter liege.
 

Ich beobachte sie einige Minuten, mache ungefähr dreitausend Fotos mit meinem Handy und strecke dann vorsichtig die Hand aus, um sie zu streicheln. Sie gibt eines dieser entzückenden Gurrgeräusche von sich und ich könnte direkt wieder anfangen zu weinen. Anscheinend findet sie mich heute schon nicht mehr so beunruhigend wie am Freitag.
 

Ich bleibe solange im Bett liegen, bis Ororo die Nase voll davon hat, gestreichelt zu werden und vom Bett springt. Dann stehe ich auf und frühstücke in meinem Zimmer, weil mein Vater in der Küche sitzt und ich keine Lust auf seine Gesellschaft habe.
 

Ich schicke einen Berg Katzenbilder an die WhatsApp-Gruppe, in der Julius auch ist, und mache mich dann fertig, um laufen zu gehen. Draußen ist das Wetter schön und mir geht es nach Bewegung immer besser – da mir die letzte Woche noch ziemlich tief in den Knochen sitzt, halte ich es für eine gute Idee, so viel frische Luft und Endorphine wie möglich zu tanken.
 

Noch eine Woche Schule, dann bin ich für sechs Wochen befreit von der elenden Schule und fahre zusammen mit Ororo nach Hause. Ich hoffe, dass sie sich nicht allzu schwer damit tut, mit mir zusammen in den Urlaub zu fahren, aber ich lasse sie sicher nicht allein mit meinem Vater zu Hause, wo ich sie doch gerade erst bekommen habe. Weil Noah und sein Vater früher auch Katzen hatten, steht noch jede Menge Zubehör auf ihrem Dachboden.
 

Ich schnüre meine Schuhe, verabschiede mich von Ororo und schiebe mir Stöpsel in die Ohren, ehe ich auf meinem Handy meine Lauf-Playlist öffne und es anschließend in meine Hosentasche gleiten lasse.
 

Der Juni ist wahrscheinlich mit Abstand mein liebster Monat und zwar nicht nur, weil ich Geburtstag habe. Es ist warm, aber noch nicht so brennend heiß wie im Juli und im August, es ist sehr lange hell draußen… Natürlich mögen das auch andere Menschen, was man daran merkt, wie voll der Park ist. Ich habe die letzten Male immer versucht, nicht erst im Dunkeln loszulaufen – es ist hilfreich, ab und an über seinen eigenen Schatten, oder vielleicht besser gesagt seine Angststörung, zu springen.
 

Wer »Phoenix« von Fall out Boy kennt, weiß in etwa, in welchem Tempo ich laufen gehe. Es ist das einzige sportliche Ventil, das ich noch habe, und ich bin großer Fan davon mich so sehr auszupowern, dass ich abends tot ins Bett falle und einfach aus Erschöpfung fest schlafe. Es kann schließlich nicht jede Nacht ein gewisser blonder Jemand in meinem Bett übernachten, um einen halbwegs gesunden Schlafrhythmus zu gewährleisten.
 

Ich laufe nicht mehr ganz so viel wie zu der Zeit, als ich noch Teil einer Fußballmannschaft war, aber ich schaffe es immerhin jede Woche mindestens zweimal. Das heißt, das meine Kondition immer noch ziemlich gut ist. Andere Jogger, die mir entgegen kommen, sehen immer mal wieder entsetzt aus, weil ich so renne, aber ich versuche nicht auf sie zu achten.
 

Zumindest solange, bis ein anderes Paar Turnschuhe sich zu meinen gesellt und ich verwirrt aufblicke, weil jemand neben mir herläuft. Mein erster Gedanke war, dass jemand einfach nur zeigen will, dass er auch schnell laufen kann und mich deswegen überholen möchte.
 

Aber nein.
 

Mir grinst ein sehr zufrieden aussehender Cem entgegen, der vermutlich sehr viel Anstrengung aufbringen muss, um mit mir Schritt zu halten, weil seine Beine in etwa halb so lang sind wie meine. Ich hab keine Ahnung, wie er mich gefunden hat, was er hier treibt, und wieso er neben mir her rennt. Unweigerlich muss ich an das Zwinkern denken und hoffe inständig, dass die Hitze in meinem Gesicht auf meinen erhöhten Puls zurückzuführen ist.
 

Weil das höflich ist, nehme ich einen Stöpsel aus dem Ohr, aber ich verringere mein Tempo nicht. Ob Cem zufällig auch gerade Laufen ist und mich dann gesehen hat? Das muss es sein. Er trägt ein schwarzes Muskelshirt, das seine ziemlich beeindruckenden Oberarme zeigt. Seine Haut ist zwar heller als meine, aber trotzdem braun.
 

»Alter, du rennst ja, als wär der Teufel hinter dir her«, keucht Cem. Ich weiß nicht wirklich, was ich dazu sagen soll, also zucke ich nur mit den Schultern. In meinem rechten Ohr ertönt jetzt Stromae, zu dessen Musik man auch ganz hervorragend schnell laufen kann, aber ich richte meine Aufmerksamkeit auf Julius‘ besten Freund. Ich möchte ungern Schuld daran sein, dass er mich für einen kompletten Armleuchter hält – schließlich mag Julius ihn und ich will nicht, dass Cem zu Julius hin geht und Sachen sagt wie »Was willst du eigentlich mit dem?«.
 

»Schon mal dran gedacht, Fußball zu spielen?«, will Cem wissen. Er lässt sich definitiv nicht abschütteln und hält mein Tempo, obwohl ich sehe, dass es ihn sehr anstrengt. Ich will fragen, warum er sich mit mir unterhält und neben mir herläuft und wieso er mir zugezwinkert hat. Drei Stimmen in meinem Kopf, die sich sehr deutlich nach Noah, Anni und Lotta anhören, sagen mir, dass Cem mich attraktiv findet.
 

Seltsam.
 

Ich habe mich auch noch nicht entschieden, ob ich ihn eigentlich auch attraktiv finde und weil meine Gedanken sich gerade um alles Mögliche drehen, hat sich mein üblicher Filter ausgeschaltet.
 

»Ich hab an meiner alten Schule Fußball gespielt.«
 

Fuck.
 

Cem sieht sehr zufrieden aus.
 

»Geil. Du solltest mal zum Training kommen.«
 

Oh nein.
 

»Ähm…«
 

»Sprint bis zum Springbrunnen?«
 

Ich bin so froh, dass mich ein Wettrennen vom Antworten erlöst, dass ich nicke und im nächsten Augenblick schieße ich davon, an Cem vorbei, der zwar auch sein Tempo erhöht, aber mit seiner Größe einfach nicht mit meinen langen Beinen mithalten kann. Ich komme um Längen vor ihm beim besagten Springbrunnen an und habe von hier aus eine gute Aussicht auf die Skaterbahn. Der Park könnte das beste an der ganzen Stadt sein – abgesehen von Julius.
 

»Alter Schwede«, japst Cem, als er bei mir und dem Springbrunnen ankommt. Er stützt sich auf seinen Knien ab und atmet schwer. Er ist einer dieser extrovertierten Menschen, die mit jedem reden können und überhaupt kein Problem damit haben, mit fremden Leuten durch den Park zu rennen. Während meine Gedanken rasen und sich im Kreis drehen, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll, wischt Cem sich mit hochrotem Kopf den Schweiß vom Gesicht und lässt sich auf einen der großen Steine fallen, die den großen Springbrunnen umrahmen.
 

Eine weiße, alte Dame geht langsam an uns vorbei und starrt uns misstrauisch an. Der Türke und der Schwarze mitten in ihrem Park scheinen sie ungnädig zu stimmen. Cem bemerkt sie auch und winkt ihr mit einem breiten Grinsen zu, als würde er sie kennen. Die Oma sieht verwirrt und etwas empört aus und geht etwas schneller, um an uns vorbeizukommen.
 

»Wählt wahrscheinlich AfD«, sage ich.
 

Cem lacht. Weil er immer noch außer Atem ist, verkommt es schnell zu einem Husten. Er sieht ungewohnt aus ohne sein übliches Cappi.
 

Einerseits habe ich den Impuls einfach die Beine in die Hand zu nehmen und dieser ungewohnten Situation zu entfliehen – aber da das immer die Grundeinstellung meines kaputten Gehirns ist und meine Therapeutin sicher stolz auf mich wäre, wenn ich das nicht tun würde, setze ich mich auch auf einen der Steine und strecke meine Beine aus.
 

Dann schalte ich meine Musik vorerst aus, weil man sich mit einem Stöpsel im Ohr schlecht unterhalten kann. Ich schaue der Oma nach, die jetzt die Skaterbahn erreicht hat und sich fast zu Tode erschreckt, weil ein junges Mädchen mit Skateboard dicht an ihr vorbeirast. Man hört sie unterdrückt fluchen.
 

»Die Jugend von heute«, meint Cem und schüttelt den Kopf. Er hat die Szene ebenfalls beobachtet. Ich muss grinsen und fahre mir durchs Haar. Ich frage mich, wie lange Cem und Julius schon beste Freunde sind und was für eine Art von besten Freunden sie sind. Wahrscheinlich eher nicht auf die Art, wie ich und Noah. Aber ich kann mir schon vorstellen, dass es auch nicht ganz so oberflächlich ist wie bei anderen Freunden, die Julius in seinem Umkreis hat.
 

»Sturm, Mittelfeld oder Verteidigung?«, will Cem dann wissen. Mein Magen zieht sich ein wenig zusammen, aber ich habe schon so lange nicht mehr über Fußball gesprochen und jetzt ist es sowieso zu spät mit der Heimlichkeitsschiene.
 

Ich zucke mit den Schultern.
 

»Ich hab alles schon mal gespielt, außer Torwart. Aber zum Schluss war ich Stürmer.«
 

Cem nickt.
 

»Mit den Beinen kein Wunder«, sagt er grinsend. Ich merke, wie mir Hitze ins Gesicht steigt. Cem ist einer dieser Menschen, die alles wie zweideutiges Innuendo klingen lassen können. Dummerweise bin ich sehr anfällig für sowas. Und weil Cem durchaus attraktiv ist, meldet sich natürlich auch prompt meine lange Zeit unterdrückte Libido.
 

Ugh.
 

Hier ist die traurige Wahrheit: Ich würde Cem definitiv einen blasen.
 

Eine weitere traurige Wahrheit: Das hat mich schon mal in die Bredouille gebracht und ich sollte nicht einfach irgendeinem Fußballer, den ich attraktiv finde, einen blasen.
 

Cem muss definitiv nicht wissen, worüber ich gerade nachdenke, also bleibe ich beim mehr oder weniger unverfänglichen Thema Fußball.
 

»Und du?«
 

Ich meine… ich war beim Spiel und hab gesehen, dass Cem Außenverteidiger spielt. Aber hey, ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Ein Hoch auf meine großartigen Small Talk Künste.
 

»Außenverteidiger«, sagt Cem weiterhin grinsend, als gäbe es an diesem sonnigen Tag nichts Besseres, als mit einem schüchternen Streber im Park zu hocken und über Fußball zu reden.
 

Die Sache ist die: ich fühle mich meistens eher wohl mit Leuten, die auch keine sozialen Schmetterlinge, vielleicht auch introvertiert, schüchtern oder generell Außenseiter sind. Aber oft ist es so, dass diese extrovertierten Menschen wie Cem oder Julius es einem verteufelt leicht machen, mit ihnen zu reden, weil sie schlichtweg drauflos brasseln.
 

Das erleichtert mir das Gespräch und sie haben kein Problem damit, mehr zu reden als ich. Es stellt sich heraus, dass Cem Vize-Kapitän ist und sehr lange versucht hat, sich aus der Position herauszuwinden, weil ihm das zu viel Verantwortung ist.
 

»Ich hab vier Geschwister, Alter, ich brauch nicht noch mehr Verantwortung.«
 

Außerdem wird mir während des Gesprächs klar, dass Cem wahrscheinlich – und ich weiß nicht mal, ob ihm das selber klar ist – für Julius in einen aktiven Vulkan springen würde. Es ist die Art, wie er über ihn redet und wie er so dreinschaut, während er das macht. Das macht mir Cem sogar noch sympathischer.
 

Dumpf frage ich mich, ob ich mich nicht auch für Julius in einen Vulkan stürzen würde und ob Julius deswegen Kapitän ist – weil er Leute dazu bringt, solche Dinge über ihn zu denken.
 

»Ich will mich in den Springbrunnen legen«, sagt Cem mit einem Blick auf das sprudelnde Wasser. Ich schnaube.
 

»Ich würde dich nicht aufhalten«, sage ich amüsiert. Cem sieht mich einen Moment lang mit einem Funkeln in den Augen an, dann streckt er so schnell den Arm aus, dass ich keine Zeit habe, zu reagieren und zieht mich mit sich nach hinten in den riesigen Springbrunnen.
 

Ein Hoch darauf, dass Handys heutzutage wasserdicht sind, denn abgesehen von meinen Turnschuhen, die mitsamt meiner Unterschenkel auf dem Stein hängen bleiben, versinke ich komplett in dem kalten Wasser. Ich japse nach Luft und wedele mit den Armen und höre Cem neben mir prusten und lachen.
 

Was für ein Spinner.
 

»Alter«, sage ich und wische mir Wasser aus den Augen, während Cem lacht und lacht.
 

»Schade, dass die AfD-Oma das nicht gesehen hat«, sagt Cem schwer atmend. Ich schaue ihn an und kann mir das breite Schmunzeln, dass sich jetzt auf meinem Gesicht breit macht, einfach nicht verkneifen. Wahrscheinlich sehe ich aus wie ein Wischmopp mit meinen nassen Haaren.
 

Cem erwidert den Blick gut gelaunt und es dauert ein paar Sekunden, bis mir klar wird, dass wir uns immer noch schweigend ansehen. Ich frage mich, wie lange es her ist, dass ich irgendwen geküsst habe.
 

Dann wiederum ist Julius‘ bester Freund vielleicht auch nicht die beste Person, die ich küssen könnte. Immerhin weiß Julius immer noch nicht, dass ich überhaupt auf Männer stehe, oder dass ich Fußball mag und selber gespielt habe. Ich nehme mir in diesem Springbrunnen vor, ihm das so bald wie möglich zu sagen.
 

Cems Augen huschen definitiv zwischen meinem Mund und meinen Augen hin und her. Selbst meine Angststörung kann das nicht weg reden. Also richte ich mich triefend auf und mache auf diese Art auch noch meine Turnschuhe nass, ehe ich aus dem Springbrunne klettere und Cem eine Hand reiche, um ihm aufzuhelfen. Er greift sie und ich ziehe ihn mit einem Ruck nach oben, was ihn zum Schlingern bringt.
 

Natürlich.
 

Natürlich landen wir halb aufeinander, während ich versuche uns davon abzuhalten, direkt wieder in den Brunnen zu stürzen. Es wird eine ungeschickte halbe Umarmung und ich nehme sofort Abstand, nachdem wir beide wieder sicher auf den Beinen stehen.
 

Cem sieht aus, als wäre er von diebischem Vergnügen erfüllt, was mir schon wieder die Hitze ins Gesicht treibt.
 

»Wenn wir weiterlaufen trocknen wir schneller«, meint er, zwinkert schon wieder – er muss dringend damit aufhören – und läuft einfach los. Weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll, trabe ich neben ihm her, viel langsamer als ich es normalerweise tun würde. Laufen in nassen Turnschuhen ist ziemlich gewöhnungsbedürftig, aber zumindest meine Klamotten trocknen dank der Sommersonne relativ schnell.
 

Als wir schließlich am Sportplatz hier im Park vorbeilaufen, wird Cem von einigen Leuten, die er offenbar kennt, herbei gerufen und ich hebe die Hand zum Abschied, ehe ich weiterlaufe und wieder ein strafferes Tempo einschlage.
 

*
 

Als ich nach Hause komme, habe ich eine WhatsApp-Nachricht von Julius auf meinem Handy.
 

»Cem fragt, ob er deine Nummer haben kann!«
 

Ich kaue zehn Minuten auf meiner Unterlippe herum und beobachte Ororo dabei, wie sie ihren eigenen Schwanz jagt, während ich darüber nachdenke, ob ich Cem meine Nummer geben will. Er weiß jetzt, dass ich Fußball spiele. Und er ahnt vermutlich, dass ich auf Männer stehe. Sonst würde er sich kaum so verhalten. Denke ich zumindest. Ich gebe ein unzufriedenes Geräusch von mir und lasse mich aufs Bett fallen, ehe ich nach meinem Handy greife und eine Antwort an Julius tippe.
 

»Du kannst sie ihm ruhig geben«
 

Die Antwort kommt prompt.
 

»Wenn er dir auf den Sack geht, sag Bescheid. Dann mach ich ihn frisch!«
 

Jede Menge lachende Emojis. Ich zögere.
 

»Er scheint ziemlich cool zu sein«, schreibe ich schließlich. Klingt nicht zu schwul, denke ich. Ich frage mich, was Cem eigentlich von mir will. Dann wiederum macht es vielleicht Sinn, sich an einen Kerl ranzuschmeißen, der sonst keine Freunde hat, wenn man nicht will, dass die eigene sexuelle Orientierung rauskommt.
 

Ich fühle mich direkt wieder gemein, dass über Cem zu denken – schließlich habe ich keine Ahnung, was für Erfahrungen er damit gemacht hat und ob das wirklich seine Intentionen sind. Moritz hat mich verbogen und ich hab es noch nicht geschafft, mich wieder gerade zu hämmern. Eine weitere Niederlage im Spielstand meines Lebens.
 

Yay.
 

Ich schicke eine längere Sprachnachricht an meine Freunde zu Hause und erzähle ihnen von dem Jogging-und-Springbrunnen-Abenteuer, das ich mit Cem erlebt habe. Ich sage auch, dass er der Typ vom Fußballspiel ist, der mir zugezwinkert hat. Anni antwortet am schnellsten und macht einige eindeutig zweideutige Bemerkungen über Cem, die mich dazu bringen, mir ein Kissen auf den Kopf zu legen.
 

Noah schreibt, dass er mir Glück wünscht, in welche Richtung ich diese Sachen auch immer weiter verfolgen möchte und dass er mir später länger antwortet, aber gerade mit seiner Schwester Wii spielt.
 

Lotta schickt jede Menge bunte Emojis und betitelt Cem als Charmeur und mich als Männermagneten, was ich für ein Gerücht halte. Während Ororo ihr Abendessen verspeist, leiste ich ihr mit einem Pistazieneis Gesellschaft auf dem Küchenfußboden, als mein Handy erneut vibriert und mir eine Nachricht von einer bislang unbekannten Nummer anzeigt.
 

»morgen ist training, speedy!!! komm vorbei wenn du bock hast, wir können nen stürmer gut gebrauchen ;) ;) ;)«

Das gelbe Monster

Alleine schlafen ist scheiße.
 

Nachdem ich zwei Nächte bei Tamino im Bett gepennt habe, kommt mir mein eigenes viel zu groß vor. Das ist natürlich Blödsinn, weil es nicht größer ist, als vorher. Aber Tamino hat wohl ein schlafendes Gen in mir geweckt und jetzt ist jede Stunde, in der ich niemanden irgendwie anfassen kann, verschwendet.
 

Zu meiner endlosen Schande hat Mari mich darauf angesprochen, ob alles in Ordnung ist, weil ich sie seit zwei Wochen viel häufiger umarme als sonst und letztens sogar meine Mutter zum Abschied umarmt habe – etwas, das ich sonst eigentlich eher selten machen. Vielleicht mal, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren oder so.
 

Auch bei Cem ist mir mein verwurstetes Verhalten schon aufgefallen. Ich haue ihm öfter auf die Schulter, buffe ihn mit der Schulter, lehne mich gegen ihn, wenn ich über irgendwas lachen muss. Cem hat mich selbstredend nicht darauf angesprochen. Ich würde auch definitiv sterben, wenn er es täte.
 

Aber ich könnte schwören, dass es ihm aufgefallen ist. Manchmal guckt er mich mit diesem Funkeln in den Augen an, das mir zu verstehen gibt, dass mein bester Kumpel insgeheim allwissend ist.
 

Ich bin etwas überrascht, als Cem mir am Sonntag schreibt und mich darüber informiert, dass er Tamino beim Laufen getroffen hat. Er kommt spontan bei mir vorbei und wirft sich auf mein Bett, mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck, der mich aus unerfindlichen Gründen irgendwie beunruhigt.
 

»Und, wie war‘s?«, frage ich, als wären die beiden ganz herkömmlich verabredet gewesen.
 

»Cool. Er rennt als wär Satan persönlich hinter ihm her«, sagt Cem und kickt seine Schuhe von den Füßen, sodass sie mitten in meinem Zimmer landen. Er setzt sogar sein Cappi ab, um es sich so richtig bequem zu machen.
 

Ich wundere mich nicht darüber, dass Tamino so schnell laufen kann – seine Beine müssen in etwa drei Meter lang sein.
 

»Ich hab erst überlegt, ob ich ihn noch auf’n Eis einladen soll, aber da war er schon weg«, sagt Cem grinsend der Decke entgegen. Ich runzele die Stirn und will gerade fragen, warum um alles in der Welt Cem Tamino auf ein Eis einladen will, als Cem schon fortfährt.
 

»Hey, kannst du mir seine Nummer geben?«
 

Ich blinzele.
 

»Ich kann ihn mal fragen«, sage ich verwirrt und greife nach meinem Handy. Es dauert eine Weile, bis ich eine Antwort bekomme, aber letztendlich kriege ich die Erlaubnis, Taminos Nummer weiterzureichen. Cem scheint die Nummer nicht nur einzuspeichern, sondern auch direkt Gebrauch davon zu machen.
 

Mir kommt ein Gedanke.
 

»Warte mal… versuchst du… baggerst du?«, frage ich.
 

Cem starrt mich an, dann fängt er an zu lachen und hört für gute zwei Minuten nicht auf.
 

»Alter. Wieso würd‘ ich ihn sonst auf’n Eis einladen wollen? Du bist so schwer von Begriff«, sagt Cem breit grinsend.
 

Ich erinnere mich daran, wie Cem Tamino als scharf befunden und ihn auf dem Sportplatz angesehen hat, als würde er ihn gerne aufessen.
 

Ich schüttele den Kopf und räuspere mich.
 

»Ich fürchte, du kannst dir dein Eis sparen. Tamino hat ‘ne Freundin«, informiere ich Cem. Cem schaut mich an, als hätte ich den Verstand verloren.
 

»Dude, ich weiß nicht, wie ich’s dir sagen soll…«, fängt er an und sieht aus, als müsste er sich schon wieder zusammenreißen, nicht zu lachen. »Aber Tamino hat ganz sicher keine Freundin.«
 

»Hä?«
 

»Verwechselst du da was? Hat er vielleicht ‘nen Freund?«
 

Ich starre ihn an.
 

»Nein. Seine Freundin heißt Lotta.«
 

Cem schnaubt und schüttelt amüsiert den Kopf.
 

»Dann tut die Kleine mir Leid.«
 

»Was? Wieso?«
 

Ich versteh nur Bahnhof.
 

Cem fährt sich schmunzelnd mit einer Hand übers Gesicht.
 

»Alter, Tamino ist schwul. Hundert pro. Wenn nicht, fress ich n Besen.«
 

In meinem Gehirn hat sich irgendein unauflösbarer Knoten gebildet. Das macht alles überhaupt keinen Sinn.
 

»Hat er dir das erzählt?«, will ich wissen.
 

»Nee. Brauch er auch nicht. Ich hab ja Augen im Kopf.«
 

Ich will Cem gerade sagen, dass man das Menschen doch unmöglich ansehen kann, bis mir eine andere Sache in den Sinn kommt und ich die Arme vor der Brust verschränke.
 

»Alter, selbst wenn’s so wäre«, was definitiv nicht der Fall ist, »dann kannst du das doch nicht einfach Leuten erzählen!«
 

Cem holt Luft, um zu antworten, während ich mir vorstelle, wie Mari mir stolz die Haare tätschelt. Dann klappt er den Mund wieder zu und hebt die Hände.
 

»Ok. War dumm. Ich dachte nur, weil du’s ja bist«, meint er und zuckt mit den Schultern. Ich brumme.
 

In diesem Moment bekommt Cem eine Nachricht auf sein Handy und sein Gesicht verzieht sich zu einem Grinsen, das ich schon öfter gesehen habe. Kurz bevor er ein Bier ext und sich dann auf den Weg durch einen Partyraum macht, um zwei Minuten später mit irgendeinem Mädchen zu verschwinden.
 

»Lass ‘nen Film gucken. Dabei kann ich in Ruhe baggern«, sagt Cem unumwunden und ich will ihm sofort das Handy aus der Hand reißen und prüfen, was er Tamino eigentlich geschrieben hat. Stattdessen atme ich einmal tief durch und frage Cem, was für einen Film er sehen will. Letztendlich geht es mich ja auch nicht wirklich was an.
 

Auch wenn Tamino und ich jetzt befreundet sind.
 

Er kann schließlich machen was er will. Und flirten mit wem er will.
 

Aber ich bin mir immer noch sicher, dass Cem sich das alles eingebildet hat. Ich kaue auf meiner Unterlippe herum und versuche mir vorzustellen, was genau an Tamino Cem darauf gebracht hat, dass er schwul sein könnte.
 

Und mir fällt nichts ein.
 

Ja, gut, er ist ein bisschen… knuddeliger… als andere Jungs, die ich kenne, aber das scheint Noah ja auch zu sein und der ist auch nicht schwul. Es kann doch nicht jeder Kerl, der gerne kuschelt, schwul sein. Die Fragen brennen mir auf der Zunge, aber ich will sie eigentlich auch nicht fragen, weil es mir komisch vorkommt, mit Cem darüber zu reden, ob und warum Tamino schwul ist.
 

Auch das geht mich letztendlich nicht an.
 

Und ich weiß schließlich, dass Tamino und Lotta zusammen sind und Tamino scheint mir nicht der Typ zu sein, der mit einem Mädchen zusammen ist und sie eigentlich nur verarscht, weil er eigentlich auf Kerle steht.
 

Cem muss da irgendwas falsch verstanden haben.
 

Wir ziehen uns Ocean’s Eleven rein und ich verschlucke mich fast an meiner Fanta, als Cem verkündet, dass er sich vom jungen Brad Pitt ja durchaus gegen eine Wand vögeln lassen würde. Cem lacht mich aus, weil ich Fanta quer über mein Bett gespuckt habe. Dann fragt er mich, ob er aufhören soll darüber zu reden, dass er Kerle auch geil findet.
 

»Was? Nein? Was?«
 

Cem zuckt mit den Schultern und sieht mich nicht an, sondern hat den Blick weiterhin sorgfältig ungezwungen auf meinen Fernseher gerichtet.
 

»Kann ja sein, dass du’s abartig findest.«
 

»Alter«, sage ich und stelle fest, dass Cem anscheinend wirklich viel an meiner Meinung diesbezüglich liegt und er immer noch nicht hundertprozentig sicher ist, ob ich mit der ganzen mein-bester-Freund-ist-bi-Sache ok bin.
 

»Es stört mich kein Stück. Ich war nur überrascht, ok?«
 

»Ok.«
 

Dann…
 

»Stört’s dich, wenn ich am Fenster eine rauche?«
 

Ich zucke mit den Schultern und Cem nimmt das als Erlaubnis, öffnet mein Fenster weit und setzt sich auf die Fensterbank, von wo aus er den Fernseher weiterhin im Blick hat. Ich zögere.
 

»Hattest du schon mal? Also… mit nem Kerl?«
 

Cem zieht an seiner Zigarette und schaut kurz aus dem Fenster. Er sieht wie immer ungewohnt aus ohne sein Cap.
 

»Nee«, gibt er dann zu, ohne mich anzusehen. »Bietet sich auch nicht so an, wenn man nicht geoutet ist.«
 

Ich muss einsehen, dass das stimmt.
 

»Meinst du, die Jungs hätten was dagegen?«, frage ich. Cem schnaubt.
 

»Es sind Fußballer.«
 

»Hey! Ich bin Fußballer!«
 

»Ja, man. Du bist cool und alles. Aber mal ehrlich. Lennard? Konstantin?«
 

Ich versuche mir vorzustellen, wie Lennard ganz cool und lässig darauf reagiert, dass einer seiner Mannschaftskameraden auch auf Männer steht.
 

»Wahrscheinlich denkt er, ich will seinen Arsch, wenn ich es erzähle«, meint Cem und verzieht das Gesicht. Ich muss lachen.
 

»Kannst ihm ja sagen, dass dir Daniels Arsch lieber wäre«, schlage ich grinsend vor. Cem lacht und zieht erneut an seiner Kippe und fährt sich durch die Haare.
 

»Seien wir ehrlich, am liebsten wäre mir einer an meinem Arsch«, meint Cem. Ich muss lachen und Cem auch. Ich betrachte ihn, wie er so lässig da in der Fensterbank sitzt und an seiner Kippe zieht und darüber redet, dass er beim Sex lieber unten liegen würde. Um ehrlich zu sein, hab ich meinen besten Kumpel selten cooler gefunden als in diesem Augenblick. Und er hat es nicht verdient, dass so ein Besen wie Lennard ihn davon abhält, über diese Sache offen zu reden.
 

»Wenn Lennard was Dummes sagt, hau ich ihm aufs Maul«, sage ich. Und das meine ich ganz ernst. Ich hab mich erst einmal so richtig geprügelt, aber wenn Lennard irgendeinen Scheiß über Cem sagen würde…
 

»Alter, erstmal hau ich ihm selber aufs Maul. Dann kannst du noch einen oben drauf setzen«, meint Cem. Ich grinse.
 

»Heißt das, du willst dich vielleicht outen?«
 

Cem zieht die Schultern hoch. Ein seltenes Zeichen von Unsicherheit.
 

»Keine Ahnung. Ist ja nur noch ein Jahr.«
 

»Noch ein Jahr, in dem du versuchen kannst, dich von Micha oder Daniel flachlegen zu lassen«, sage ich grinsend. Cem grinst und schnippt seine Kippe aus dem Fenster und auf die Straße.
 

»Bei Daniel ist Hopfen und Malz verloren. Und Micha… keine Ahnung. Ich glaube nicht, dass er der Typ ist, um andere flachzulegen.«
 

Ich grübele darüber nach, ob Cem denkt, dass Tamino der Typ dafür ist, andere flachzulegen. Aus unerfindlichen Gründen steigt mir dabei Hitze ins Gesicht.
 

Cem mustert mich von der Fensterbank aus.
 

»Cool, dass du keinen Schiss hast, dass ich dir an den Arsch will«, meint er dann mit einem schiefen Grinsen. Ich verdrehe die Augen.
 

»Cool, dass du nicht willst, dass ich bei dir rangehe«, gebe ich zurück, was Cem wieder zum Lachen bringt. Er wirft sich erneut aufs Bett neben mich.
 

»Cool, cool…«, murmelt er und fängt dann wieder an, auf seinem Handy herumzutippen.
 

*
 

Ich verbringe am Montag eine Pause mit meinen Jungs und eine Pause mit Tamino, der heute irgendwie besonders nervös zu sein scheint. Ich weiß nicht, ob ich mir das einbilde, aber er scheint dauernd zu Cem hinüber zu schauen und ich frage mich, was um alles in der Welt Cem ihm denn geschrieben hat, um ihn in so ein Nervenbündel zu verwandeln.
 

Da Tamino es selber nicht anspricht, tue ich es auch nicht.
 

Die Lehrer haben in der letzten Woche größtenteils aufgegeben, uns noch anständig zu unterrichten und wir reden vor allem über Abiklausuren, besprechen die Themen fürs nächste Schuljahr oder gucken irgendwelche Filme, die jeweils vage zu den entsprechenden Fächern passen, in denen sie gezeigt werden.
 

Ich sitze mittlerweile nicht nur in Französisch, sondern auch in Deutsch und Bio neben Tamino und während die Lehrer das etwas verwirrt hingenommen haben, – mit Ausnahme von Frau Lüske, die irgendwie zufrieden deswegen aussieht – beschweren sie sich auch nicht darüber. Wahrscheinlich, weil sie denken, dass Tamino einen guten Einfluss auf mich hat.
 

Was vermutlich stimmt.
 

»Wollen wir Freitag einen zusammen trinken?«, frage ich nach Ende der letzten Stunde. Tamino wirft mir einen amüsierten Blick zu.
 

»Wirst du in den Ferien jeden Tag besoffen sein?«, will er wissen. Ich lege mir gespielt empört die Hand auf die Brust.
 

»Wie kannst du das nur sagen?«
 

»Kannst mir wieder besoffene Sprachnachrichten schicken«, sagt er lächelnd, während wir uns durch die Menge schieben. Weiter hinten in der Eingangshalle sehe ich Cems rotes Cap. Er wartet am Eingang auf mich, damit wir zusammen zum Training gehen können.
 

»Mach ich. Ab und an könntest du auch einfach live dabei sein«, schlage ich vor. Tamino sieht mich erstaunt an.
 

»Naja… ich fahr ja weg. Also, die Ferien über. Ich bin die ganzen sechs Wochen nicht hier«, sagt er. Irgendetwas in meinem Inneren zieht sich zusammen. Ich versuche, nicht enttäuscht auszusehen.
 

»Oh. Achso.«
 

Und weil ich sehe, wie Tamino jetzt sogar noch nervöser aussieht als vorher, füge ich hinzu:
 

»Was ist mit Ororo?«
 

»Die kommt mit. Kann mit mir bei Noah wohnen«, sagt Tamino, als wir Cem erreichen. Eigentlich hätte mir klar sein müssen, dass Tamino nicht hier bleibt, wo er seine Freunde doch immer so vermisst. Aber irgendwie hab ich verdrängt, dass das heißt, dass er ganze sechs Wochen verschwunden sein wird.
 

Dieses neu erwachte Gen in mir bekommt einen mittelschweren Panikanfall und schreit mich an, dass ich Tamino sofort umarmen soll, damit ich wenigstens noch eine richtige Umarmung bekomme, bevor er fährt.
 

»Aber wir können Freitag gerne noch einen zusammen trinken«, meint Tamino dann. Wir erreichen Cem und ich schlage ein, als er mir seine Hand hinhält. Dann grinst er Tamino an und zwinkert. Tamino gibt ein Geräusch von sich, das halb Fiepsen und halb Husten ist und fährt sich verlegen durchs Haar.
 

Ich bin verwirrt.
 

»Bereit?«, fragt Cem und ich bin nicht sicher was er meint. Noch verwirrter bin ich, als Tamino sich uns anschließt und Richtung Umkleiden mit uns geht.
 

Ich bin immer noch verwirrt, als wir dort ankommen und Cem sagt, dass er ein Trikot für Tamino suchen geht.
 

»Ähm…«, sage ich und stelle meine Tasche ab. Tamino hat die Hände in einander verschlungen und seine Augen sind ungefähr doppelt so groß wie normalerweise.
 

»Äh… Cem hat mich eingeladen. Zum… zum Training?«
 

Er klingt heiser und sieht aus, als würde er jeden Moment in Ohnmacht fallen.
 

»Ok…?«, sage ich. »Cool?«
 

»Ich… äh… ich hab… ich hab schon ‘ne Weile nicht mehr gespielt«, sagt Tamino leise. Mein Gehirn macht wieder diese Sache, wo es sich verrenkt und dann einen Krampf bekommt, der es mir unmöglich macht, anständige Gedanken zu fassen. Cem kommt zurück und drückt Tamino eins unserer Trikots in den Arm.
 

Tamino dreht sich hastig von mir weg und fängt an, sich auszuziehen. Cem sieht bestens gelaunt aus.
 

»Ha. Warte mal, bis du ihn rennen siehst. Nichts gegen Oli, aber…«
 

Meine Augen huschen die ganze Zeit zwischen Cem und Tamino hin und her. Tamino hat mir das mit dem Fußballspielen nicht erzählt. Ich erinnere mich noch an unser Saufgelage, bei dem er explizit darum gebeten hat, nicht über Fußball reden zu wollen. Aber mit Cem hat er das gemacht. Der Knoten in meinem Innern verfestigt sich noch ein wenig mehr.
 

Ich räuspere mich.
 

»Ich wusste nicht, dass du spielst«, sage ich. Meine Stimme klingt… distanziert? Das war nicht meine Absicht. Ich bin sicher, dass Tamino das auch hört, denn er zuckt zusammen und zerrt sich hastig sein Trikot mit der Nummer 13 über den Kopf.
 

»Ähm… sorry? Ich… ah…«
 

»Er ist ein Stürmer«, sagt Cem breit grinsend, als würde er nicht merken, dass die Stimmung gerade gekippt ist. »Ich geh mal Trainer suchen.«
 

Unser Trainer – oder besser gesagt unsere Trainerin – heißt eigentlich Frau Holm, aber irgendwie nennen alle sie nur Trainer. Und ich glaube, das findet sie gut so. Sie hatte es mit uns nicht so einfach am Anfang, aber nachdem sie die derbsten Kritiker und Banausen verbal niedergerungen hatte, ging es eigentlich ganz gut.
 

»Komm mit«, sagt Cem, sobald Tamino seine Hose angezogen hat und zerrt ihn aus der Umkleide, um Trainer Bescheid zu sagen, dass Tamino mit uns trainieren will.
 

Ok, Julius. Normalerweise solltest du dich freuen, dass Tamino offenbar dein Hobby mit dir teilt. Wieso freust du dich nicht?
 

Wieso ist deine Laune gerade total in den Keller gerasselt?
 

Eine Stimme in meinem Kopf sagt: Vielleicht spielt er ja auch total miserabel.
 

Ich weigere mich darüber nachzudenken, wieso das relevant sein soll.
 

Es dauert allerdings keine fünf Minuten, bis mir klar wird, dass Tamino nicht miserabel spielt. Natürlich nicht. Ich meine, was habe ich erwartet von einem Genie, das alles zu Gold macht, was es anfasst?
 

Fünfzehn Punkte in fast allen Fächern, kann singen, spricht mehrere Sprachen… und kann offensichtlich Fußball spielen.
 

Trainer ist begeistert. Sie will wissen, wie lange Tamino gespielt hat, ob er schon immer Stürmer gespielt hat, ob das seine bevorzugte Position ist, an welcher Schule er war, wieso er aufgehört hat. Die Jungs sehen allesamt beeindruckt aus.
 

Cem sieht noch nach etwas anderem aus, über das ich jetzt wirklich nicht auch noch nachdenken möchte.
 

Julius, sei kein Arsch. Wieso freust du dich nicht?
 

Und wieso bin ich zwar beeindruckt, aber auf eine Art, die irgendwie dazu führt, dass meine Eingeweide sich anfühlen wie Eisklumpen?
 

Ein kleiner, verborgener Teil meines Gehirns weiß genau, wieso. Es ist der Teil, der mit der Stimme meines Vaters mit mir redet. Der Teil, der dunkel und kalt und unangenehm dauerpräsent in den Tiefen meines Kopfes hockt und darauf lauert, bei jeder Gelegenheit darüber zu schwafeln, dass ich ein Versager bin, der nichts gebacken bekommt.
 

Das hier war mein Ding.
 

Das eine Ding, in dem ich besser war als Tamino.
 

Und es stellt sich raus, dass Tamino auch in dieser einen Sache genauso gut ist wie ich. Vielleicht sogar besser. Keine Ahnung. Dafür hab ich ihn noch nicht lang genug spielen sehen.
 

Ich höre kaum zu, während er Trainers Fragen beantwortet und denke darüber nach, Kopfschmerzen vorzutäuschen und mich zu verziehen. Aber ich will auch kein Feigling sein. Man kann mir offenbar ansehen, dass irgendwas nicht ok ist, denn Cem sieht mich mit einem fragenden Gesichtsausdruck an. Ich zucke die Schultern und sehe woanders hin.
 

Sieh’s ein, Julius. Du wirst nie in irgendwas der Beste sein, sagt die Stimme in meinem Kopf.
 

Spätestens nachdem Trainer Elfmeterschießen angesetzt hat, ist meine Laune dermaßen im Keller, dass ich am liebsten irgendwas treten würde.
 

»Alter, du siehst aus wie ‘ne Gewitterwolke«, sagt Cem zu mir, während wir in der Reihe stehen und darauf warten, dass wir mit Schießen dran sind. Daniel ist ein ziemlich guter Torwart, aber er hat noch keinen Schuss von Tamino gehalten und Tamino hat noch nicht ein einziges Mal danebengeschossen.
 

Lass ihn einmal danebenschießen, sagt die Stimme in meinem Kopf. Wenigstens einmal.
 

Ich antworte Cem nicht und als ich selbst den Schuss total versemmele und der Ball einen Meter übers Tor hinausschießt, drehe ich mich um und verschwinde vom Platz.
 

Fuck, fuck, fuck.
 

Ich erwarte fast, dass Cem oder Trainer mir nachkommen und mir ordentlich die Leviten lesen, aber letztendlich ist es Tamino, der in die Umkleide kommt und sich unsicher neben mich auf die Bank setzt.
 

»Alles ok?«, fragt er.
 

Die Stimme fragt, wieso er so unsicher ist, wo er doch alles kann. Alles.
 

Ich zucke mit den Schultern.
 

Schweigen.
 

»Bin ich schuld?«
 

Ja. Nein. Eigentlich ist mein Vater schuld, aber wenn Gefühle immer so rational funktionieren würden, wäre die Welt ein unkomplizierterer Ort.
 

»Nö«, sage ich. Wow, Julius. Wer würde dir das in dem Ton glauben?
 

»Ich wollte dir das erzählen, ich hab nur… ich weiß nicht? Ich red nicht gern drüber und… ähm… es gibt da ein paar Sachen, die…«
 

»Naja, du hast Cem davon erzählt«, unterbreche ich ihn. Meine Stimme klingt furchtbar. Hör auf, Julius. Sei kein Arsch.
 

Tamino sackt ein wenig in sich zusammen. Ich sehe es aus dem Augenwinkel, weil ich stur geradeaus starre.
 

»Er hat gefragt? Ich… es hat sich irgendwie ergeben? Ich bin nicht gut mit Unterhaltungen, ich wollte dich nicht sauer machen.«
 

»Ich bin nicht sauer«, sage ich. Meine Stimme hört sich an, als hätte ich das Gegenteil gesagt. Fuck, Julius. Reiß dich zusammen. Er hat dir überhaupt nichts getan.
 

»Ich muss ja nicht noch mal mit zum Training, ich dachte nur… ich hab schon so lang nicht mehr gespielt und… naja. Ich…«
 

»Alter, du kannst machen, was du willst. Ich war nur überrascht, sonst nichts. Dass du das auch noch so drauf hast. Wie sonst auch alles.«
 

Wenn Stimmen Farben hätten, dann wäre meine grellgelb.
 

Stille.
 

Ich hebe den Kopf und stelle fest, dass Tamino angefangen hat, sich umzuziehen. Seine Hände zittern, als er sich die Hose auszieht und sie unfeierlich zu Boden fallen lässt.
 

Er hat es dir nicht erzählt und jetzt erzählt er dir wahrscheinlich nie wieder irgendwas, weil du ein Arsch bist, Julius Timmermann. Sag irgendwas. Sag, dass es dir Leid tut und dass es nicht seine Schuld ist. Sag, dass dein Vater schuld ist, dass du Komplexe hast. Sag–
 

Als er vor mir steht, sehe ich endlich auf und stelle zu meinem Entsetzen fest, dass seine Wangen nass sind und seine Augen gerötet. Als er spricht, zittert seine Stimme genauso wie seine Hände.
 

»Weißt du… wenn ich mein Gehirn mit deinem tauschen könnte, würd ich’s machen. Dann kannst du all die tollen Sachen mit denen du nichts anfangen kannst, weil du Schiss vor allem hättest und in deinem eigenen Kopf steckst.«
 

Er ist mit drei großen Schritten bei der Tür.
 

»Tut mir Leid, dass ich hergekommen bin.«
 

Und dann ist er weg. Ich starre die Tür immer noch an, als Cem zwei Minuten später den Kopf herein steckt.
 

»Alter, Trainer ist voll sauer, weil du einfach abgehauen bist«, sagt er und schaut sich um. »Wo ist Tamino?«
 

»Weg«, sage ich und fahre mir mit den Händen übers Gesicht. Ich verstehe gleichzeitig nur Bahnhof und weiß trotzdem ganz sicher, dass ich ein Arschloch bin. »Ich hab’s verbockt.«
 

Cem setzt sich neben mich auf die Bank.
 

»So richtig?«, fragt er.
 

»Jap. So richtig.«

Ein wahrer Gryffindor

Am Dienstag kommt Tamino nicht zur Schule und ich verfalle in Panik, weil ich denke, dass er vielleicht wieder so abgerutscht ist wie letztes Mal. Das wäre meine Schuld. Weil ich ein Arschloch bin.
 

Als er am Mittwoch wieder auftaucht, bin ich zuerst erleichtert, aber als er sich auf einen anderen Platz setzt, verfliegt das Gefühl ziemlich schnell. Ich beobachte ihn die ganze Zeit, während er mit dem Kopf auf dem Tisch liegt. Wahrscheinlich schläft er wieder schlecht. Cem schaut mich vorwurfsvoll an.
 

Einerseits denke ich mir, dass das alles nicht passiert wäre, wenn Cem sich nicht eingemischt hätte. Dann wiederum kann ich die Schuld für mein arschiges Verhalten echt nicht auf Cem abwälzen, um mich besser zu fühlen.
 

Es würde sowieso nicht funktionieren.
 

Ich habe den ganzen Dienstag das dringende Bedürfnis gehabt, bei meinem Vater anzurufen und ihn anzuschreien, weil ich wegen ihm ein neiderfüllter Wichser geworden bin, der es anderen zum Vorwurf macht, wenn sie irgendwas besser können als ich. Als wäre das irgendjemandes Schuld.
 

Ugh.
 

In Bio schläft Tamino nicht und er kaut so heftig an seinen Fingern herum, dass am Ende drei davon bluten.
 

Ich weiß immer noch nicht, was er gemeint hat, dass er mit seinen Talenten nichts anfangen kann und vor allem Schiss hat, aber letztendlich ist es auch egal. Er hätte alles Recht der Welt sauer zu sein, auch wenn dem nicht so wäre. Weil ich ein Trottel bin.
 

»Kleiner Tipp am Rande. Es ist produktiver sich zu entschuldigen, statt sich die ganze Zeit im Kopf als Arschloch zu betiteln«, informiert Cem mich in der großen Pause, als Tamino mit einem blutigen Taschentuch an uns vorbei hastet, als würden wir uns gleich auf ihn stürzen.
 

»Und seit wann bist du Experte für sowas?«, maule ich ungehalten und bin sehr versucht, gegen die nächstbeste Wand zu treten. Cem verdreht die Augen.
 

»Seit gesunder Menschenverstand erfunden wurde«, sagt Cem und boxt mir so heftig gegen die Schulter, dass es richtig wehtut. Ich kriege direkt wieder Panik, weil heute Mittwoch ist und Tamino am Wochenende wegfährt.
 

Für sechs Wochen.
 

So kann ich nicht in die Ferien gehen. Ich muss mich zusammenreißen und mich entschuldigen.
 

Als ich nach der Schule nach Hause komme, treffe ich Mari im Flur.
 

»Kann ich dich was fragen?«, sage ich zögerlich. Sie hat ein Handtuch auf dem Kopf und sieht aus, als wäre sie im Begriff sich fertig zu machen.
 

»Klar«, sagt sie und tingelt weiter ins Bad. Ich folge ihr und beobachte interessiert, wie sie anfängt, Makeup aufzutragen.
 

»Wie… äh… wie kommst du so damit klar, dass Linda besser im Volleyball ist als du?«
 

Mari blinzelt und schaut mich über die Schulter an. Ich hab mich auf den Klodeckel gesetzt und schaue peinlich berührt zurück.
 

»Ähm… keine Ahnung? Gut? Also… ich war früher voll sauer und frustriert, weil wir jedes Mal gegen ihre Mannschaft abgesoffen sind. Aber als ich sie dann kennen gelernt hab, fand ich es eher beeindruckend. Und dann irgendwann war ich vor allem stolz?«
 

Sie fängt an, ihre Wimpern zu tuschen. Ich seufze.
 

»Und… äh… du hast da nicht manchmal…«
 

Ich rudere mit den Händen durch die Luft und versuche irgendwie auszudrücken, was eigentlich mein Problem ist. Mari dreht sich zu mir um und schaut mich an.
 

»Wegen Papa?«
 

Sie zieht die Schultern hoch. Wir reden eigentlich nie über ihn und es ist komisch, Mari »Papa« sagen zu hören. Als wäre er tatsächlich irgendwie unser Vater, obwohl er schon seit Jahren überhaupt nicht mehr in unserem Leben ist.
 

Ich nicke und kaue auf meiner Unterlippe herum.
 

Mari verzieht das Gesicht und seufzt.
 

»Naja… seien wir ehrlich. Auf mir hat er nie so rumgehackt wie auf dir«, sagt sie leise. Irgendwie ist es gut das zu hören, weil ich mir nie so richtig sicher war, ob das stimmt, oder ob es sich nur so angefühlt hat.
 

»Hm…«
 

»Wie kommst du darauf?«, will sie wissen und dreht sich wieder zum Spiegel, um mit einem Lidstrich weiterzumachen.
 

»Ähm… Tamino war mit uns beim Training«, sage ich. Das reicht, um Mari verstehen zu lassen, was in etwa passiert sein muss. Sie hat mich schon oft genug darüber reden hören, dass Tamino alles kann und ein Superhirn ist und…
 

»Jedenfalls war ich ein Arschloch«, füge ich hin.
 

»Hast du ihm erklärt, wieso du ein Arschloch warst?«
 

»Nee.«
 

»Dann kannst du damit ja vielleicht einsteigen«, schlägt sie vorsichtig vor. Ich beobachte, wie sie roten Lippenstift aufträgt und ich frage mich, was sie vorhat.
 

»Ich hab noch nie mit irgendwem über… darüber geredet«, gebe ich zu.
 

»Ist ja auch kacke. Kann aber echt guttun«, meint sie. »Vor allem, wenn andere Leute dann sagen: ‚Was? Was für ein Arschloch ist der Typ denn? Das geht ja gar nicht!‘«
 

Sie grinst mich schief an. Ich grinse schief zurück und stehe auf.
 

»Ok. Danke«, sage ich und verlasse das Bad.
 

»Kein Ding«, ruft sie mir nach. »Viel Erfolg!«
 

Ich schnappe mir Schlüssel, Portemonnaie und Handy und verlasse das Haus, bevor ich es mir anders überlegen kann. Wahrscheinlich braucht Mari das Auto für ihre Feierpläne, also gehe ich zur Fuß. Es kostet mich ganze zwei Minuten, bevor ich mich traue die Klingel zu betätigen, als ich an Taminos Wohnungstür angekommen bin.
 

Als es summt, fällt mir fast das Herz zwischen die Füße, aber ich steige die Treppe nach oben und fühle mich tonnenschwer, als ich Taminos Augenringe und die Pflaster an seinen Fingern sehe. Er sieht aus, als wüsste er nicht, ob er die Tür nicht eigentlich gerne wieder zumachen würde, aber als ich oben angekommen bin, tritt er einen zögerlichen Schritt zur Seite und lässt mich herein.
 

Ich trete von einem Bein aufs andere und überlege, wie ich es am besten formulieren soll. Tamino macht schon wieder diese Sache – er versucht kleiner auszusehen, als er ist und es tut mir unsagbar Leid, dass ich ihm das Gefühl gegeben habe, sich klein machen zu müssen.
 

»Tut mir leid«, platzt es schließlich aus mir raus. »Ich… äh… es tut mir echt leid. Ich… ich war ein Arsch. Ich weiß nicht so richtig, was…«
 

Er schaut mich aus seinen dunkelbraunen Augen hinter seiner Brille hervor an und beißt sich auf die Unterlippe. Dann habe ich einen Arm voller Tamino und gebe ein peinliches Geräusch von mir, das ich lieber nicht näher beschreiben möchte. Ich klammere mich an ihm fest, als wäre er ein Rettungsring auf dem weiten Meer.
 

Wann genau das alles passiert ist, weiß ich wirklich nicht.
 

Von »Ich hab echt keinen Bock auf Nachhilfe bei diesem Streber« hin zu »Wenn ich ihn ein paar Tage lang nicht umarme, geht die Welt ein bisschen unter« innerhalb weniger Monate.
 

»Tut mir leid«, nuschele ich noch mal, diesmal gegen seine Schulter. Tamino hat seine Hände in meinen Haaren vergraben und sein Gesicht irgendwo an meiner Halsbeuge, während meine Finger sich in seinem Shirt festkrallen.
 

Er zieht sich ein Stück zurück, aber ich mache keine Anstalten loszulassen.
 

»Uh-uh«, mache ich und schüttele den Kopf. Tamino kommt zurück in die Umarmung und ich stelle zum ungefähr tausendsten Mal fest, dass er gut riecht.
 

Ich muss ihm erklären, warum ich ein Arschloch war, aber ich kann auch nicht wirklich gut denken. Meine Eingeweide haben sich von eisig kalten Klumpen in sehr heiße Lavabrocken verwandelt und ich weiß überhaupt nicht wohin mit mir.
 

»Tut mir leid«, murmele ich immer und immer wieder.
 

»Mir auch«, krächzt er schließlich. Ich blinzele, dann ziehe ich meinen Kopf zurück. Ich habe das dringende Bedürfnis, sein Gesicht in beide Hände zu nehmen. Weiß der Geier, wo diese Anwandlungen herkommen.
 

»Was? Wieso?«
 

»Ich hab‘s dir nicht erzählt«, sagt er kläglich.
 

»Naja, du… musst mir ja auch nichts erzählen, wenn du nicht willst«, gebe ich zurück.
 

Er zieht die Schultern hoch.
 

»Aber ich hab… ich hab dir einfach nichts erzählt«, sagt er dann noch mal, eindringlicher. Er sieht beinahe ein wenig panisch aus, als würde er erwarten, dass ich abhaue, weil er mir nicht seine komplette Lebensgeschichte erzählt hat. Ich folge meinem Impuls von vorher und nehme sein Gesicht in beide Hände.
 

Das ist, als würdest du ihn gleich küssen, sagt eine Stimme in meinem Kopf.
 

»Es war definitiv alles meine Schuld«, sage ich sehr bestimmt. Ich habe einen Kloß im Hals und Tamino sieht aus, als würde er gleich wieder anfangen zu weinen. Wenn ich ihn jemals wieder zum Weinen bringe, haue ich meinen Kopf gegen die nächstbeste Wand.
 

»Kann ich– kann ich versuchen zu erklären?«, fragt er unsicher. Ich nicke und lasse sein Gesicht los.
 

»Vertraust du mir?«, fragt er und klingt bei dieser Frage sogar noch viel unsicherer. Ich muss nicht nachdenken, bevor ich nicke.
 

»Du hast Angst vorm Ertrinken… nicht?«
 

Ich blinzele verwirrt, nicke aber erneut. Er nickt ebenfalls, dann greift er nach meiner Hand und zieht mich zur Tür. Ich habe keine Ahnung, was als nächstes passiert, aber ehe ich es mich versehe, sind wir unten auf der Straße und Tamino fordert mich auf, mich auf den Gepäckträger seines Fahrrads zu setzen.
 

Meine Hände locker auf seine Hüften zu legen, fühlt sich ein wenig seltsam an. Ich sehe die Nachbarschaft vorbeiziehen und überlege, wo er wohl mit mir hin will, bis mir klar wird, dass wir auf einen der Parks zusteuern, die sich in der näheren Umgebung befinden. Ein Park, den ich für gewöhnlich meide, weil er etwas beherbergt, das ich ungern ansehe.
 

Nämlich einen ziemlich großen Teich. See. Wie auch immer man es nennen soll. Es ist ein stehendes Gewässer, in dem definitiv schon Leute ertrunken sind und auf dem manche Bekloppte im Winter Eislaufen gehen.
 

Mein Puls beschleunigt sich wie auf Kommando und ich schlucke, als Tamino das Rad an einem Baum abstellt und abschließt. Es sind viele Leute hier, weil es warm ist, aber Tamino steuert direkt auf Bäume und Gebüsch zu und ich habe kaum die Möglichkeit einen Fluchtreflex zu entwickeln, da sind wir am See entlang an eine Böschung gelangt, die vielleicht einen Meter oberhalb der Wasseroberfläche liegt.
 

»Vertraust du mir immer noch?«, fragt er.
 

Ich nicke, lasse das Wasser aber nicht aus den Augen. Tamino holt tief Luft und schiebt mich vorsichtig an den Rand der Böschung. Jede Faser meines Körpers möchte ganz dringend nicht hier sein und ich höre selbst, dass mein Atem schwerer geht.
 

»Ok… also… was ich am Montag meinte, ist… ich hab… ich hab ‘ne Angststörung«, sagt er. Ich runzele die Stirn.
 

»Was–«
 

»Ist eine psychische Störung. Ich bin… ich hab immer Angst. Fast immer. Vor allem. So wie du dich gerade fühlst…«, und an dieser Stelle lässt er meine Schultern los und ich stehe plötzlich sehr alleine sehr nah am Wasser und möchte rückwärtsgehen. Mein Herz hämmert, während ich mir vorstelle, nach vorne zu kippen und dann in der nächsten Sekunde schon keine Luft mehr zu bekommen. »So fühle ich mich fast immer.«
 

So fühlt Tamino sich… die ganze Zeit?
 

»Daher kommen auch meine… daher kommen auch die Depressionen? Durch den Stress von der Angststörung. Ich bin… ja… ähm… ich bin krank. Aber halt nicht so wie jemand, der Asthma oder Diabetes hat, sondern… im Gehirn.«
 

Es herrscht ein Moment Stille, während ich versuche, meiner Angst Herr zu werden. Wie kann man so durch den Alltag gehen? Ich versuche mir vorzustellen, wie es sein muss, diese Gefühle zu empfinden, die ich gerade durchmache, aber einfach bei allem.
 

Völlig konfus erinnere ich mich daran, dass Mari gesagt hat, dass Tamino nicht gerne telefoniert und wie überrascht sie war, dass er den Anruf angenommen hat. Wahrscheinlich wusste sie Bescheid.
 

»Ich hab Angst vor der Schule und vor anderen Leuten. Und vorm Telefonieren. Und davor, in Läden zu gehen, oder Essen irgendwo zu bestellen. Ich hab… ich hatte Angst zum Training zu gehen, obwohl ich wirklich gerne spielen wollte. Ich hab Angst, vor anderen zu singen und davor, dass meine Freunde mich insgeheim hassen. Ich hab Angst vorm Versagen und vor den einfachsten, alltäglichen Dingen… ich werde nie irgendwas mit all meinen Talenten anfangen können, weil ich zu viel Angst vor allem habe…«
 

Mir ist mittlerweile der kalte Schweiß ausgebrochen. Ich versuche, die Worte zu verarbeiten, während ich mich so nah am Wasser befinde und frage mich, wie Tamino die Schule mit einem Einserschnitt bewältigen kann, während er sich so fühlt.
 

Weil er Angst vorm Versagen hat, flüstert eine leise Stimme.
 

Angst vor allem.
 

Arme schlingen sich von hinten um mich und halten mich fest, ziehen mich ein kleines Stück rückwärts. Ich entspanne mich ein wenig und atme tief ein und aus. Das ist besser. Noch nicht angstfrei, aber viel besser.
 

»So ist es mit dir«, flüstert Tamino mir ins Ohr und ich bekomme eine Gänsehaut.
 

Dann zieht er mich weiter zurück, weg vom Wasser, bis ich die Böschung kaum noch sehen kann und er dreht mich, sodass ich wegschaue vom Wasser.
 

»So ist es, wenn ich zu Hause bei meinen Freunden bin.«
 

Oh.
 

Wer würde nicht sechs Wochen mit seinen Freunden verbringen wollen, wenn sie die Angst dermaßen lindern können.
 

Tamino lässt mich los und ich frage mich, was ich sagen kann. Aber vielleicht kann man dazu auch nichts sagen, es ist so viel auf einmal und ich bin immer noch ziemlich schweißgebadet. Ich lasse mich erst mal auf den Boden sinken.
 

Tamino tut es mir gleich und mustert mich.
 

»Jetzt gerade hab ich Angst, dass du mich für bekloppt hältst und nichts mehr mit mir zu tun haben willst, weil ich nicht ganz dicht bin«, gibt er zu. Ich blinzele und sehe ihn empört an.
 

»Was? Nein!«
 

Er lächelt schief.
 

»Wasser ist gar nicht so gefährlich«, meint er. Ich verstehe kurz nicht, was er meint, bis mir klar wird, dass meine Angst vorm Ertrinken sich natürlich nicht einfach legt, nur weil Tamino mir das sagt. Ich seufze.
 

»Wow«, murmele ich und zwinge mich, wieder zum Wasser hinzuschauen.
 

»Wie lange hast du das schon?«
 

Er zuckt mit den Schultern.
 

»Vielleicht schon immer? Auf jeden Fall seit ich zwölf bin, oder so. Vielleicht schon vorher. Die Depressionen sind später dazu gekommen. Vor allem nachdem… ah… nachdem meine Mutter gestorben ist.«
 

Oh.
 

Anscheinend fährt Tamino jetzt die volle Breitseite aus, als wäre in ihm ein Knoten geplatzt. Direkt im nächsten Moment zerschmettert er diesen Eindruck.
 

»Es gibt noch andere Sachen, aber… ähm… ich hab… ich kann nicht über alles auf einmal reden und ich hab ja sowieso Schiss, dass du mich jetzt für total bekloppt hältst und… so«
 

Ich lege mich auf den Rücken und schaue hoch in den Himmel. Tamino tut es mir gleich und ein paar Sekunden später finden seine Finger meine Hand. Ich drehe meine Handfläche nach oben und verhake unsere Finger miteinander.
 

»Mein Vater ist ein Arschloch«, sage ich dann, während ich ein paar Wolkenfetzen beobachte, »hat immerzu auf mir rumgehackt, dass ich nicht gut genug in der Schule bin und zu nichts zu gebrauchen und… ah… ich hab zwischen Realschule und Gym geschwankt und er hat gesagt, dass ich es eh nicht schaffen würde, mein Abi zu kriegen. Und dann hat… ähm… meine Mutter ihn angeschrien, dass ich das wohl schaffe und hat ihn rausgeschmissen.«
 

Tamino drückt meine Hand ein wenig und ich bin ziemlich sicher, dass er versteht, inwiefern das alles damit zusammen hängt, warum ich mich am Montag wie der letzte Wichser benommen habe. Mir wird ganz schlecht, wenn ich daran denke.
 

»Unsere Väter können einen Club gründen«, meint er.
 

Ich schnaube.
 

»Jap.«
 

Wir liegen eine ganze Weile schweigend im Gras und schauen hoch in den Himmel, während man in der Ferne lachende Menschen und Wasserplätschern hört.
 

»Ich will… ähm… ich will auch…«, fange ich an, verhaspele mich nervös und schnaube entnervt über mich selber.
 

»Als du mich umgedreht hast, weg vom Wasser«, sage ich dann und sehe Tamino aus dem Augenwinkel nicken. Ich drehe meinen Kopf und schaue ihn an. Mein Gesicht ist wahrscheinlich knallrot.
 

»Das will ich auch sein. Für dich.«
 

Tamino lächelt mich an. Mein Herz fängt an, wie blöd gegen meine Rippen zu hämmern.
 

Irgendwas ist definitiv nicht in Ordnung mit mir, wenn mein Körper dauernd so durchdreht, weil Tamino mich anlächelt.
 

»Meine Mutter wäre großer Fan von dir gewesen«, sagt er leise. Ich frage mich wieso und will die Frage eigentlich auch gerne laut stellen, aber ich schlucke sie herunter. Es macht wahrscheinlich wenig Freude, über seine verstorbene Mutter zu sprechen.
 

»In welchem Haus bist du? Bei Harry Potter?«, will ich völlig aus dem Kontext gerissen wissen, aber es ist mir gerade eingefallen, dass ich nie gehört habe, in welchem Haus Tamino ist, als wir den Test gemacht haben.
 

»Pottermore sagt Ravenclaw«, sagt er. Ich muss lachen und Tamino lacht mit. Natürlich Ravenclaw. Sein Daumen streichelt ganz behutsam meinen Daumen und mein Magen überschlägt sich mehrfach.
 

»Tja. Falls du es noch nicht wusstest, ich bin… äh… zertifizierter Hogwartsexperte. Und ich befinde hiermit, dass du definitiv nach Gryffindor gehörst.«
 

Tamino blinzelt. Dann schluckt er.
 

»Gryffindor?«
 

Ich nicke. Seine Stimme klingt heiser, als hätte er einen Kloß im Hals.
 

»Wer vor allem Schiss hat und trotzdem all diese Dinge macht, die du machst, der gehört da definitiv hin«, erkläre ich. Wer sowieso nie Angst hat, kann auch nicht mutig sein, denke ich.
 

Tamino schaut mich an, als hätte ich den Mond an den Himmel gehangen. Dann rutscht er näher und lehnt seine Stirn gegen meine.
 

»Willst du meine Hausdiagnose für dich auch hören?«, fragt er leise. Ich schließe die Augen und nicke langsam.
 

»Hufflepuff«, sagt er wie aus der Pistole geschossen, als hätte er schon eine Weile darüber nachgedacht. »Harte Arbeit, Geduld und Loyalität. Ich hab selten so’nen Hufflepuff getroffen wie dich.«
 

Ich lache leise. Ich war mit Gryffindor eigentlich ganz zufrieden, vor allem, weil Mari auch dorthin sortiert wurde, aber wenn Tamino es so sagt, klingt Hufflepuff eigentlich ziemlich gut.
 

»Trinken wir am Freitag darauf?«, frage ich.
 

»Hmhm«, sagt Tamino leise und drückt erneut meine Hand.
 

In diesem Moment habe ich ganz vergessen, dass wir am Wasser liegen.

Rum zum Abschied

»Für alle Jungen, die lernen mussten, nach anderen Regeln zu spielen«
 

Weil ich ein echt langsamer Leser bin, hab ich von Taminos Ari und Dante Buch noch nicht viel mehr als zwanzig Seiten geschafft. Im Bett liegen und lesen kommt mir irgendwie komisch vor. Während ich darüber nachdenke, ob ich es noch schaffe, zehn weitere Seiten zu lesen und bei diesen Grübeleien die Widmung des Buches anstarre, kommt Mari herein.
 

Sie stutzt, als sie mich auf dem Bett liegen sieht, ein Buch in den Händen. Dann legt sie den Kopf ein wenig schief, um den Titel lesen zu können. Ihren Gesichtsausdruck kann ich nicht so richtig deuten.
 

»Möchtest du mir irgendwas sagen?«, fragt sie mit einem amüsierten Zucken um die Mundwinkel.
 

»Hm?«
 

Ich schaue den Buchrücken an, dann wieder meine Schwester.
 

»Was denn?«
 

Sie verengt die Augen ein bisschen und mustert mich eindringlich, als würde sie herausfinden wollen, ob ich sie verarsche. Dann scheint sie einen Entschluss zu fassen.
 

»Seit wann liest du?«, fragt sie. Ich zucke mit den Schultern und schaue erneut die Widmung an. Ich frage mich schon die ganze Zeit, was sie bedeuten soll, aber vielleicht kommt die Erleuchtung, wenn ich mehr als zwanzig Seiten gelesen habe.
 

»Ist eins von Taminos Lieblingsbüchern«, erkläre ich, auch wenn das ihre Frage nicht so richtig beantwortet.
 

Mari schnaubt und fährt sich durch ihr kurzes Haar.
 

»Hey, ich kann sogar Gemeinsamkeiten zwischen euch Vieren entdecken!«, meint sie breit grinsend.
 

»Weil Ari nicht schwimmen kann?«
 

Mari sieht aus, als läge ihr eine Erwiderung auf der Zunge.
 

»Ja, das auch.«
 

»Das heißt, du hast es auch gelesen?«
 

»Jup. Ist ein sehr schönes Buch!«
 

Sie kommt zu mir herüber und lässt sich neben mir aufs Bett fallen.
 

»Eigentlich wollte ich dich was wegen unserer Geburtstagsfeier fragen«, sagt sie dann.
 

»Ok. Feiern wir wieder zusammen?«
 

»Ja, schon. Ich dachte nur, wir könnten vielleicht zweimal feiern. Weil… ich mir dachte, dass du Tamino ja sicher auch einladen willst, aber erstens ist er am fünften noch bei seinen Leuten und zweitens glaub ich nicht, dass er Bock auf sone große Feier hätte«, meint sie.
 

Darüber habe ich noch nicht nachgedacht, aber sie hat sehr wahrscheinlich Recht. Ich hatte schon wieder vergessen, dass er die ganzen Ferien weg ist – ich glaube, mein Gehirn will sich das einfach nicht merken – und deswegen auch nicht zu unserem Geburtstag kommen kann.
 

»Und vielleicht wäre es cool, wenn wir eine zweite, kleine Feier machen. So… wir beide und Tamino und Linda und du könntest Cem fragen, ob er Bock hat. Und Taminos Freunde, wenn die es schaffen, herzukommen. Und vielleicht sonst noch ein, zwei nette Leute«, schlägt sie vor. Ich klappe das Buch zu und lege es beiseite.
 

»Keine schlechte Idee«, sage ich und erinnere mich an meine fehlgeschlagenen Versuche, Tamino auf eine Party einzuladen. Dann wiederum machen seine Absagen ziemlich Sinn, seit ich weiß, dass er eine Angststörung hat.
 

»Cool«, meint Mari und sieht zufrieden aus.
 

»Du…ähm… du wusstest über Tamino Bescheid, oder?«, frage ich schließlich etwas aus dem Zusammenhang gerissen.
 

»Bescheid?«
 

»Naja… wieso er nicht gerne telefoniert und so«, sage ich ausweichend für den Fall, dass sie vielleicht doch nicht Bescheid weiß.
 

»Oh, achso. Ja. Hat er dir davon erzählt?«, will sie wissen. Ich nicke und frage mich, was an meiner Schwester Tamino veranlasst hat, ihr so früh davon zu erzählen und mir nicht. Ich will nicht schon wieder in diese Gedankenschiene rutschen, aber ich kann diese blöden Fragen auch schlecht abschalten.
 

»Ähm… ja. Gestern.«
 

»Ok. Dann ist alles wieder ok bei euch?«
 

Ich nicke. Dann denke ich darüber nach, ob ich Mari nach dieser Sache fragen soll, die Cem angesprochen hat. Aber es kommt mir komisch vor, mit meiner Schwester über Taminos sexuelle Orientierung zu reden, also lasse ich es bleiben und rappele mich auf.
 

»Wir trinken morgen Abend einen zusammen. Bevor er sich Samstag aus dem Staub macht«, sage ich. Mari kneift mich in die Wange.
 

»Aww, bist du maulig, weil er die Ferien woanders verbringt?«
 

Ich öffne empört den Mund, um sie zu fragen, wie sie sich fühlen würde, wenn Linda sechs Wochen weg wäre, aber schlucke die Worte gerade noch rechtzeitig herunter als mir klar wird, dass Mari und Linda ein Paar sind und es etwas anderes wäre, wenn…
 

Wie zum Teufel hat mein Gehirn diesen komischen Bogen geschlagen?
 

»Zieh Leine, du Pest«, maule ich und schubse sie kurzerhand vom Bett. Sie macht eine unelegante Arschlandung und ich strecke ihr die Zunge heraus, bevor sie aus meinem Zimmer verschwindet.
 

Ob man seine Schwester nach achtzehn Jahren noch umtauschen kann?
 

*
 

Ich habe beschlossen, dass Bier diesmal keine Option ist und schließe mich Taminos Rumkonsum an. Es dauert einfach zu lange, bis man mit Bier einen angemessenen Pegel erreicht hat. Wir beenden die zweite Staffel von Deep Space Nine und Tamino lacht mich aus, weil ich kerzengerade im Bett sitze und die Geschehnisse der letzten Folge mit verfolge.
 

»Aber was sind das für Leute? Was? Wo kommen die her?«
 

Ich schüttele ihn an der Schulter und nehme noch einen Schluck Rum. Ich verzichte auf Cola und schaudere nach jedem Schluck. Es hat nur anderthalb Folgen gedauert, bis ich mich ziemlich angeduselt gefühlt habe. Tamino hat schon wieder doppelt so viel getrunken wie ich und ist eloquent wie eh und je, während mir der bloße Gedanke an das Wort eloquent schon leichten Schwindel verursacht.
 

»Ich hätte dir auch was anderes besorgen können, wenn du keinen Rum magst«, sagt Tamino schmunzelnd. Wir sitzen dicht nebeneinander und ich versuche das elende Geschrei in meinem Kopf zu ignorieren, das mir befiehlt, mehr Körperkontakt aufzubauen.
 

»Ach, letztendlich schmeckt das ganze Zeug doch scheiße«, sage ich und muss mich sehr konzentrieren, um nicht zu lallen.
 

Als würde Tamino mir das Gegenteil beweisen wollen, nimmt er einen großen Schluck Rum und leckt sich hinterher über die Lippen. Ich folge der Bewegung seiner Zunge.
 

Ok, Julius. Du musst aufhören übers Knutschen nachzudenken, wenn du Tamino ansiehst. Vielleicht solltest du ein bisschen langsamer trinken.
 

Oder noch sehr viel schneller.
 

»Noch ne Folge?«, fragt Tamino und rutscht ein bisschen tiefer ins Bett, um es sich bequemer zu machen. Ich beschließe, dass ich schon betrunken genug bin, um mich nur noch minimal zu schämen und dass ich meine Hemmungen über Bord schmeißen sollte, weil Tamino morgen sechs Wochen von der Bildfläche verschwindet.
 

Also stelle ich den Laptop vom Bett herunter, wobei Tamino mich interessiert beobachtet. Er hat die Brille abgenommen und den Kopf schief gelegt, während seine Augen auf mir ruhen. Unweigerlich denke ich daran, dass Cem Tamino als scharf betitelt hat. Und je öfter ich Tamino ansehe, desto häufiger stelle ich fest, dass Tamino tatsächlich… schön ist.
 

Ich wedele mit der Hand undeutlich Richtung Kopfende, aber Tamino versteht sofort, was ich meine und legt sich längs ins Bett. Dann grinst er mich schief an und mein Herz stolpert ganz eindeutig. Bevor ich mir nähere Gedanken darüber machen kann, was das bedeutet, werfe ich mich neben ihn aufs Bett, sortiere seinen Arm zur Seite und platziere meinen Kopf an seiner Schulter.
 

Sein Arm legt sich sofort um mich, als wäre das etwas, das schon ganz natürlich passiert. Wie atmen. Ich lege eine Hand auf seinen Bauch und Tamino dreht den Kopf zur Seite, um… jap.
 

Um seine Lippen auf mein Haar zu drücken.
 

Definitiv nicht mehr so nüchtern, wie er wirkt. Ich frage mich, ob er mich noch woanders hin küssen würde, wenn er mehr getrunken hätte. Und die Tatsache, dass mein ganzer Körper sofort mit einem wohligen Kribbeln auf den Gedanken antwortet, versetzt mir einen erkenntnisreichen Stromschlag.
 

Fuck.
 

Fuckfuckfuck.
 

Taminos Finger der einen Hand malen Muster auf meine Seite, die andere Hand hat meine auf seinem Bauch gefunden und liegt locker darauf. Sobald mein Gehirn bei der Erkenntnis eingerastet ist, dass etwas sehr Schreckliches mit meinen Gefühlen passiert ist, steht mein ganzer Körper in Flammen.
 

Jede Stelle, die Tamino anfasst, fühlt sich an, als würde gleich ein Vulkanausbruch darunter stattfinden.
 

Ich will, dass er mich küsst. Und ich will, dass er mich immerzu anfasst und dass ich meine Nase in seinem Haar vergraben kann, weil er gut riecht. Ich will alles über ihn wissen und dass er sich bei mir in Sicherheit fühlt.
 

Ich will, dass er mich küsst.
 

Ich will. Dass Tamino mich küsst.
 

Verfluchter Mistdreck, ich hab mich verknallt. Ich war noch nie verknallt. Ich bin in einen Kerl verknallt.
 

Ich atme einmal tief ein und aus und versuche ruhig zu bleiben.
 

Es ist kein Wunder, dass diese Erkenntnis so ewig gedauert hat, wo doch alles an der Beziehung zwischen Tamino und mir neu ist und ich diese ganze Körperkontakts- und emotionale Nähe-Schiene überhaupt nicht gekannt habe. Ich dachte, es wäre alles einfach nur neu und ungewohnt.
 

Ich bin verknallt. In einen Jungen. Ich hab mich in Tamino verknallt und es jetzt erst gemerkt. Mein Gehirn verlangt mehr Alkohol, um mit dieser Erkenntnis besser umgehen zu können, aber im nächsten Augenblick lenkt Taminos Stimme mich ab.
 

»Kennst du das… wenn man gar nicht nah genug dran sein kann… an jemandem?«
 

Ich räuspere mich. Mein Herz hämmert irgendwo in der Nähe meines Adamsapfels.
 

»Bisher nicht. Aber ich… äh… sehe, was du meinst«, krächze ich.
 

Tamino atmet tief ein, dann scheint er einen Entschluss zu fassen und manövriert mich scheinbar vollkommen problemlos auf sich drauf. Ich lande zwischen seinen Beinen, während mein Kopf weiterhin auf seiner Schulter liegt und er schlingt so beide Arme um mich und drückt mich an sich.
 

Während mein Gehirn vorher wild herum gestottert hat, ist es jetzt ganz still.
 

Alles in mir kribbelt.
 

»Ok?«, flüstert Tamino gegen meine Stirn. Ich nicke hastig.
 

Ich höre ein leises Glucksen und da mein Gehirn sich anscheinend vom gesunden Menschenverstand verabschiedet hat, beschließt meine Zunge von allein drauflos zu plaudern.
 

»Weißt du, du solltest noch mehr… ähm… bevor du fährst. Solltest du meine Batterie noch mal aufladen«, sage ich.
 

Jup, ich lalle definitiv und habe dabei auch noch den Verstand verloren. Tamino lacht leise und ich bekomme eine Gänsehaut. Die wird sogar noch schlimmer, als Finger sich unter mein Shirt schieben und über meinen nackten Rücken streicheln.
 

»Seit wann hast du ‘ne Batterie?«, will er wissen.
 

»Deine Schuld«, murre ich und drücke mein Gesicht in seine Halsbeuge. Wenn ich ihn jetzt anschaue, mache ich bestimmt irgendwas Dämliches. Wie ihn zu küssen.
 

Taminos Finger sind ein bisschen wie Federn auf meiner nackten Haut und die Gänsehaut beruhigt sich überhaupt nicht mehr. Seine Körperwärme scheint in mich hineinzusickern.
 

»Ich bleib einfach hier liegen«, nuschele ich benommen gegen seinen Hals. Ich höre ihn förmlich schmunzeln. Er wird immer so viel gelassener mit Alkohol, es ist wirklich beeindruckend. Aber vermutlich nicht verwunderlich, wenn ich darüber nachdenke, dass Alkohol Hemmschwellen abbaut. Das gilt sicher auch für die übermäßig großen Hemmschwellen, die er wegen seiner Angststörung hat.
 

Ich habe keine Ahnung, wie lange wir so auf Taminos Bett liegen, aber nach einiger Zeit muss ich mich aktiv zusammenreißen, um nicht zu zittern, weil ich auf all die Gefühle überhaupt nicht klar komme und Taminos Finger so ziemlich überall hin wandern, wo sie hin wandern können und nackte Haut finden. Er löst auch mein Haargummi und fährt mir immer wieder durchs Haar.
 

»Weich«, murmelt er leise.
 

Wenn mein Herz gleich explodiert, dann wäre es wenigstens ein schöner Tod. Um nicht durchzudrehen und mich vor einer Blamage zu bewahren, hebe ich den Kopf und sehe Tamino ziemlich verhangen an. Sein Gesicht ist definitiv zu nah an meinem dran und ich schlucke, ehe ich versuche Worte zu finden.
 

»Würdest du… äh… wie stehst du zu vorlesen?«
 

Er hebt beide Augenbrauen.
 

»Ich les ganz gerne vor. Wieso?«
 

»Ich hab Ari und Dante im Rucksack«, sage ich mit einem verlegenen Grinsen und beschließe, dass ich von Tamino herunter krabbeln muss, um nicht eine Dummheit zu begehen. Wie ihn zum Beispiel zu küssen.
 

Tamino setzt sich auf, als ich nicht mehr auf ihm liege und schaut kurz auf seine Hände. Dann seufzt er und ich frage mich, ob er den Körperkontakt auch sofort vermisst. Ich frage das lieber nicht laut.
 

»Dann muss ich erst mal mit Rum aufhören«, meint er und fährt sich durchs Haar. Ich frage mich, ob der betrunkene Tamino der Tamino ist, der er ohne Angststörung wäre. Dann beschließe ich, dass das ein dämlicher Gedanke ist und angele nach meinem Rucksack, um das Buch herauszuziehen. Sobald ich es ihm gereicht habe, trinke ich mehrere sehr große Schlucke Rum.
 

Auf dass mir der Rum durch meine Krise helfen kann.
 

Tamino nimmt das Buch entgegen und lacht leise darüber, dass ich noch nicht besonders weit gekommen bin. Dann lehnt er sich wieder gegen die Wand und ich bereue meine Frage eigentlich sofort, weil mit dem Buch in der Hand das Rumgekuschel fast unmöglich geworden ist.
 

Ich lege mich mit dem Kopf auf seinen Oberschenkel und beschließe, dass das erst einmal reichen muss. So kann ich mich auch besser beruhigen, als wenn ich wie ein Stück Butter auf ihm schmelze, als wäre er eine Herdplatte.
 

»Eines war sicher: Ich würde keinen dieser Idioten bitten, mir beim Schwimmenlernen zu helfen. Es war besser, allein zu sein und sich elend zu fühlen. Es war besser zu ertrinken.

Ich blieb also für mich und ließ mich ein bisschen auf dem Wasser treiben. Nicht dass mir das Spaß machte.

Und dann hörte ich seine leicht näselnde Stimme. ‚Ich kann dir beibringen, wie man schwimmt.‘«, liest Tamino.
 

Ich weiß genau, wie ich auf diese Idee gekommen bin. All diese Sprachnachrichten und das Singen haben zu der Erkenntnis geführt, dass Tamino eine sehr angenehme Stimme hat. Er könnte mir wahrscheinlich das Telefonbuch vorlesen und ich würde es mir anhören.
 

Meine Fresse, mich hat’s arg erwischt.
 

Ob ich Cem davon erzählen soll? Nein, der baggert Tamino sehr engagiert an. Mari? Keine Ahnung, wie sie darauf reagieren würde. Aber wahrscheinlich wäre es kein sehr großer Skandal. Schließlich ist sie mit Linda zusammen.
 

Wie meine Mutter das wohl findet, dass beide ihre Kinder… hm. Ja, was eigentlich? Ich hab gerade erst rausgefunden, dass ich wahrscheinlich asexuell bin. Und jetzt das. Heißt das, ich bin schwul? Kann man gleichzeitig schwul und asexuell sein? Bi und asexuell? Ich hab keine Ahnung, wie das alles funktioniert und ich weiß auch nicht, wen ich darüber ausfragen kann, weil Tamino sich ganz plötzlich nicht mehr als Gesprächspartner anbietet. Wahrscheinlich verrate ich mich in all meinem Ungeschick noch selber.
 

Toll.
 

Jetzt muss ich vor Tamino ein Geheimnis haben. Was für ein Scheißdreck.
 

»Er redete über das Schwimmen wie über eine Lebenshaltung. Er war fünfzehn. Wer war dieser Typ? Er wirkte ein bisschen zerbrechlich – aber das täuschte. Er war diszipliniert und zäh und klug; er tat nicht so, als wäre er dumm und gewöhnlich. Er war keines von beiden.
 

Er war lustig, konzentriert und leidenschaftlich. Er konnte wirklich leidenschaftlich sein. Und er hatte nichts Gemeines an sich. Mir war nicht klar, wie man in einer gemeinen Welt leben kann, ohne dass ein bisschen von dieser Gemeinheit auf einen abfärbt. Wie konnte jemand ohne einen Hauch von Gemeinheit leben?
 

Dante wurde ein weiteres Geheimnis in einer Welt voller Geheimnisse.«
 

Tamino ist auch ein einziges wandelndes Geheimnis, genau wie Dante. Ansonsten ist er eher nicht so wie Dante. Also. Vielleicht ein bisschen. Weil er alles kann und weiß. Ich sollte aufhören, Tamino mit einem fiktiven Charakter zu vergleichen. Nach noch vier großen Schlucken Rum wackelt die Welt zeitverzögert, wenn ich meinen Kopf bewege.
 

Tamino liest mir in etwa zwanzig weitere Seiten vor, dann klappt er das Buch zu.
 

»Ungewohnt auf Deutsch«, sagt er.
 

Ich schaue ihn an.
 

»Würdest du Französisch reden, wenn ich drum bitte?«
 

Er lacht. Und nickt.
 

»Und singen?«
 

Ein Zögern. Dann noch ein Nicken.
 

»Aber nur, wenn du wieder herkommst«, sagt er dann mit funkelnden Augen und ganz ohne eine Spur von Scham. Ich bin sehr sicher, dass ich knallrot im Gesicht bin.
 

»Ok«, krächze ich, als er seine Arme ausstreckt und sich wieder so hinlegt wie vorher. Wahrscheinlich singt es sich nicht besonders gut mit über siebzig Kilo auf einem drauf, aber Tamino beklagt sich nicht, als ich mich wieder auf ihn lege. Seine Arme finden sofort ihren Weg um meinen Oberkörper, unter mein Shirt.
 

Ugh. Fuck.
 

Ich wünschte, ich könnte von einem Blitz erschlagen werden.
 

»Liedwünsche?«
 

»Weiß nicht. Was Französisches?«
 

»Seit wann magst du Französisch?«
 

»Seit niemals. Nur, wenn du’s sprichst.«
 

Er lacht leise gegen mein Haar. Und dann singt er mir ein Lied auf Französisch, dass ich natürlich nicht kenne und von dem ich selbstredend kein einziges Wort verstehe. Aber die Tatsache, dass er überhaupt für mich singt, trägt nur noch mehr dazu bei dieses Luftballongefühl in meinem Innern zu verstärken und ich schließe die Augen, um zuzuhören, wie Taminos Stimme französische Worte formt.
 

»Qui ne connaît pas la peur

Ne connaît pas le courage…«
 

Ich frage mich, wie Verliebtsein sich gleichzeitig so großartig und schrecklich anfühlen kann und schlafe ein, bevor das Lied zu Ende ist.

captain's log, stardate unknown

Tag 1
 

Ich wache genauso auf, wie ich eingeschlafen bin – auf Tamino drauf. Der Unterschied ist, dass ich eine sehr peinliche Morgenlatte habe. Tamino hat einen Arm um mich gelegt, der andere liegt auf der Matratze und ich bin froh festzustellen, dass er noch schläft, weil ich so ins Bad flüchten kann, ohne aufzufliegen.
 

Auch nüchtern hat sich nichts an meinen Gefühlen geändert, wie ich feststellen darf, als ich verschlafen in den Spiegel blinzele und daran denke, wie Taminos Finger sich auf meinem Rücken angefühlt haben. Und wie er mir vorgelesen und auf Französisch vorgesungen hat.
 

Ich dusche ungefähr zwanzig Minuten und als ich vollkommen aufgeweicht ins Zimmer zurückkehre, ist Tamino schon aufgestanden und hat angefangen, in der Küche Frühstück zu machen. Ein offener Koffer mit jeder Menge Klamotten steht mitten im Zimmer und Ororo hat es sich inmitten dieser Sachen gemütlich gemacht, als wüsste sie schon, dass sie auch heute im Laufe des Tages verreisen wird.
 

Ich beobachte Tamino, während er leise summend im Kühlschrank herumwühlt. Als er mich sieht, lächelt er so strahlend, dass mein Brustkorb sich zusammenzieht. Wahrscheinlich gleichermaßen aus Verliebtheit und aus dem Wissen heraus, dass er sich so sehr darüber freut, von hier wegzukommen und seine Freunde zu sehen.
 

Ich kann es ihm natürlich nicht verübeln, – sogar noch weniger nach unserem Ausflug ans Wasser – aber das ändert nichts daran, dass es sich anfühlt als hätte jemand mein Herz als Nadelkissen benutzt.
 

Wow, Juls. Wie melodramatisch von dir.
 

Wenigstens habt ihr euch wieder vertragen und du musst nicht sechs Wochen darauf warten, wieder alles ins Lot zu bringen, erklärt mir der vernünftige Teil meines Gehirns.
 

Ich wollte mit ihm befreundet sein und es hat geklappt. Und ich weigere mich das zu ruinieren, indem ich mich in irgendwelchen blöden Gefühlen suhle. Nope. Ohne mich.
 

»Ich kann dich zum Bahnhof fahren«, sage ich.
 

Tamino lacht.
 

»Hast du nicht noch vier Promille Restalkohol?«
 

Ich schnaube und verschränke gespielt empört die Arme vor der Brust.
 

»Pff. Ich fahre ganz hervorragend Auto!«
 

»Statistisch gesehen ist das wenig wahrscheinlich. Jungs zwischen achtzehn und fünfundzwanzig verursachen die meisten Autounfälle jährlich«, erklärt Tamino amüsiert. Ich schüttele den Kopf und frage mich, wann genau ich mich eigentlich in diese wandelnde Enzyklopädie verknallt habe.
 

Ich gehe zu ihm herüber und bleibe vor ihm stehen. Manchmal kommt es mir komisch vor, dass er zehn Zentimeter größer ist als ich, weil er so ein schüchterner Kerl ist.
 

»Tatsächlich liegt das Geschlechterverhältnis etwa bei 80 zu 20 Prozent–«
 

Ich hebe die Hand und halte Tamino den Mund zu. Das war definitiv ein Fehler, weil seine Lippen so meine Hand berühren und das meinen Magen in eine heftige Krise stürzt, die sich durch akutes Kribbeln äußert.
 

»Nerd«, flüstere ich breit grinsend. Tamino schmunzelt gegen meine Hand, dann zieht er den Kopf ein Stück zurück, zögert, drückt einen Kuss auf meine noch dort in der Luft schwebende Handinnenfläche und fährt damit fort, Frühstück zu machen.
 

Jap.
 

Ich bin am Arsch.
 

Tag 3
 

Tamino hat mir insgesamt fünfzehn Fotos von verschiedenen Leuten geschickt, von denen ich natürlich nur die mir bekannten Drei erkenne. Die Beziehung der anderen zu Taminos Freunden muss ich erraten, aber ich bin mir recht sicher, dass es sich unter anderem um Noahs Mutter, Vater, Schwester und um Annis Mütter handelt.
 

Noah, Anni und Lotta haben es sich anscheinend zur Aufgabe gemacht, indessen besonders viele Fotos von Tamino zu machen und mir alle davon per WhatsApp zu schicken.
 

Tamino in Badehose am Pool.
 

Tamino mit Ororo auf dem Kopf.
 

Tamino schlafend und händchenhaltend mit Lotta – ich versuche nicht extraschnell weiter zu wischen.
 

Tamino lachend mit einer Grillzange in der Hand.
 

Tamino zwischen Annis Müttern, die beide sehr viel kleiner sind als er.
 

Ein Video von Tamino und Noahs Vater beim Fußballspielen.
 

Tamino beim Lesen und Noah, der ihn dabei zeichnet.
 

Tamino mit Milchbart.
 

»Hey, alles ok?«, will Mari wissen, während ich die Fotos ansehe. Wir haben gerade Mittag gegessen und mein Teller ist noch halb voll.
 

»Jup«, lüge ich. »Alles bestens.«
 

Tag 7
 

»Hey«, sage ich, als ich Mama beim Bügeln im Wohnzimmer finde. Es läuft irgendeine Dokumentation über Wikinger.
 

»Hey«, sagt sie und greift nach der Fernbedienung, um den Ton leiser zu stellen. Ich lasse mich aufs Sofa fallen und beobachte, wie auf dem Bildschirm verschiedene Grabbeigaben gezeigt werden.
 

»Alles gut?«, will sie wissen und fährt damit fort, eine von Maris Jeans zu bügeln. Ich verstehe nicht, wieso Leute bügeln. Es scheint mir vollkommene Zeitverschwendung zu sein, aber jeder muss ja selbst wissen, wie er seine Zeit verbringt.
 

»Hmhm«, mache ich.
 

Sommerferien waren noch nie so lang und so langweilig. Ich vermisse Tamino. Ich habe eine Woche lang niemanden richtig umarmt und das hat mich noch nie gestört. Ich bin in einen Typen verliebt. Und der hat auch noch eine Freundin. Außerdem bin ich wohl asexuell und weiß nicht so richtig, mit wem ich darüber reden kann.
 

»Du bist so still die letzten Tage«, meint Mama. Ihrem Ton kann ich entnehmen, dass sie vorsichtig abtastet, ob sie weiter bohren darf oder nicht.
 

»Ja. Weiß auch nicht«, sage ich. Vielleicht platze ich bald, wenn ich nicht mit irgendwem über einen Bruchteil all dieser Probleme rede.
 

»Wann fährst du auf diese Fußballfreizeit?«, will sie wissen.
 

»Übernächste Woche.«
 

»Freust du dich schon?«
 

»Ja, schon.«
 

Schweigen. Meine Mutter bügelt eins meiner Shirts.
 

»Kann ich dich was fragen?«, sage ich schließlich und kaue auf meiner Lippe herum. Es spukt mir schon länger im Kopf herum, aber bislang hab ich mich nicht getraut es anzusprechen. Meine Mutter hält inne und dreht sich zu mir um. Sie trägt ihren üblichen roten Lippenstift und die streng nach hinten gebundenen Haare.
 

»Sicher«, sagt sie und mustert mich interessiert.
 

»Ähm… als… äh… Papa damals weg war… hattest du da eigentlich Depressionen?«
 

Sie blinzelt, weil sie offensichtlich irgendwas anderes erwartet hat. Ich sehe, wie sie das Bügeleisen mustert und es dann abstellt, die Arme vor der Brust verschränkt und die Schultern ein wenig nach oben zieht.
 

»Ja. Wahrscheinlich schon. Wie kommst du darauf?«, will sie wissen.
 

»Ah… ich hab ‘nen Freund, der Depressionen hat. Und die Symptome haben mich dran erinnert wie das war. Als er weg war«, antworte ich. Sie nickt und lächelt ein wenig.
 

»Es war gut, dass ich euch hatte. Da musste ich aufstehen und konnte nicht einfach die ganze Zeit im Bett liegen bleiben«, gibt sie zu.
 

Ich denke an Tamino, der es drei Tage lang nicht aus dem Bett geschafft hat, überhaupt keinen Hunger hatte… Und ich erinnere mich daran, wie lange Mama früher an den Wochenenden geschlafen hat. Und wie oft sie krankgeschrieben war.
 

Ich denke an Tamino und daran, dass er jetzt Ororo hat – für die er definitiv aufstehen muss, selbst wenn er mal keinen Antrieb hat. Was für eine gute Idee. Mama runzelt die Stirn.
 

»Aber es ist wirklich ein Freund? Oder denkst du, dass du Depressionen hast?«, will sie dann wissen. Ich blinzele.
 

»Nee. Ich hab keine. Echt nicht«, sage ich und hebe abwehrend die Hände. Ich verstehe schon, wie sie darauf kommt – die »Es geht um einen Freund«-Leier ist ja auch ziemlich alt. Aber in diesem Fall geht es wirklich nicht um mich. Sie entspannt sich sichtlich.
 

»Ok. Sonst könntest du selbstverständlich mit mir darüber reden«, sagt sie ernst. Im Hintergrund auf dem Bildschirm findet irgendeine Schlacht statt. Ich nicke verlegen und zupfe an meiner Unterlippe herum.
 

Dann…
 

»Was würdest du sagen, wenn ich… äh… wenn ich in einen Jungen verknallt wäre?«
 

Das war definitiv nicht geplant. Aber jetzt, da die Worte heraus sind, bereue ich sie eigentlich auch nicht. Mein Herz macht einen Salto, weil es das erste Mal ist, dass ich es laut ausspreche. Mama blinzelt erneut, dann lacht sie und fährt sich mit der Hand übers Gesicht.
 

»Zwillinge«, murmelt sie amüsiert und schüttelt den Kopf.
 

»Ich würde fragen, wer und wie er ist, dass er meinem Sohn so den Kopf verdreht hat, dass er seit einer Woche nichts mehr essen mag«, gibt sie schmunzelnd zurück.
 

Eine kleine, große Wahrheit: Ich liebe meine Mutter.
 

»Ähm…«, sage ich und merke, wie ich knallrot im Gesicht werde. Mama zieht die Brauen hoch.
 

»Ihr seid aber noch kein Paar, oder?«, fragt sie dann, als sie merkt, dass ich nicht wirklich mit der Sprache rausrücken will. Ich schüttele hastig den Kopf.
 

»Na. Wenn du ihn erobert hast, kannst du ihn mir vorstellen«, sagt sie und greift wieder nach ihrem Bügeleisen.
 

»Ich glaube nicht, dass ich ihn erobern kann«, sage ich resigniert.
 

»Das würde mir sehr leid tun, mein Schatz«, meint sie ehrlich. Ich nicke und stehe vom Sofa auf.
 

»Mir auch.«
 

Tag 13
 

Meiner Mutter zu erzählen, dass ich in einen Jungen verliebt bin, hat die ganze Sache irgendwie seltsam offiziell gemacht. Ich denke darüber nach, es auch Mari zu erzählen, aber bevor ich genug Mut zusammen gekratzt habe, ist sie schon mit Linda auf und davon in ihren Ostsee-Urlaub verschwunden und lässt mich mit meiner Mutter alleine zu Hause zurück.
 

Weil meine Mutter überraschend taktvoll sein kann, fragt sie nicht weiter nach, in wen genau ich denn eigentlich verliebt bin, aber sie besteht darauf, dass ich wieder mehr esse und ab und an wirft sie mir diese wissenden und leicht amüsierten Blicke zu.
 

Zugegebenermaßen ist es wirklich recht amüsant, dass Mari und ich beide in eine gleichgeschlechtliche Richtung schwingen. Mari hat mir schon mal von einer Band von zwei eineiigen Zwillingen erzählt, die auch beide lesbisch sind – wir sind also nicht die ersten in der Statistik.
 

Verliebt.
 

Wow, Juls.
 

Ein Jahr vorm Abi hat es dich nun doch erwischt, nachdem du zwölf Jahre durch die Schule gewandert bist, ohne auch nur ein Fünkchen von Verliebtheit zu spüren. Und jetzt hat es dir mit einer Riesenkeule so richtig einen über den Schädel gezogen. Plötzlich liegt man nachts wach und starrt mit hämmerndem Herzen an die Decke, weil man sich ausversehen ausgemalt hat, wie es wäre, wenn Tamino einen auf den Mund küsst.
 

Plötzlich scheint mir die Vorstellung, dass ich jemals dachte, auf Mädchen zu stehen, absolut lächerlich zu sein. Es ist, als hätte man einen Schalter in mir umgelegt. Die Sache mit dem Sex hat sich nicht geändert, aber ich schaue Jungs ganz anders an, seit ich in dieser verhängnisvollen Nacht auf Tamino lag und er meinen Rücken gestreichelt hat.
 

Fuck my life.
 

Ich fahre nächste Woche zu einem Trainingscamp mit Jungs, die ich zugegebenermaßen nicht sonderlich attraktiv finde, aber ich frage mich unweigerlich, ob es irgendwem auffällt, dass ich mich anders fühle als vorher. Cem hat gesagt, dass er sich absichtlich nicht vor der Mannschaft outet, weil er keinen Nerv hat, dumm angeschaut zu werden.
 

Ich frage mich, ob ich wiederum den Nerv habe, das Ganze noch ein ganzes Jahr geheim zu halten.
 

Als ich mit hämmerndem Herzen aufwache, weil ich geträumt habe, dass Tamino mir gesagt hat, dass er sich in mich verliebt hat, greife ich kurz entschlossen nach meinem Handy und öffne einen neuen Chat.
 

»hey lotta, kann ich dich was fragen?«
 

Es ist erst kurz nach sieben, aber die Antwort erfolgt sofort.
 

»klar. was gibt’s?«
 

»tamino hat mir gesagt, dass du asexuell bist (sorry, is das zu direkt?)«
 

»naaah, kp. ist kein geheimnis ;)«
 

»ok cool. ich bins sehr wahrscheinlich auch«
 

»nice :D :D :D«, und dann, ein paar Sekunden später: »ACE HIGHFIVE!«
 

Ich schicke ihr ein paar Highfive-Emoji.
 

»war das die frage? :P«
 

»nee. ich wollte nur wissen wie genau das läuft. mit dem verlieben?«
 

»aw juls!!!!!!!!!!! du zuckerschneckchen!!!«
 

Ich bin definitiv noch nie als Zuckerschneckchen bezeichnet worden und blinzele verschlafen und verwirrt mein Display an.
 

»funzt wie bei andern leuten auch. man lernt wen kennen, den man super findet und dann BOOOOM«
 

Boom, in der Tat.
 

»ok«, tippe ich. Das scheint mir als Antwort etwas kurz zu sein. »also kann man gleichzeitig asexuell und schwul/lesbisch/bi sein?«
 

»jup. verlieben geht auch ohne sex! ganz egal in wen :) :) :)«
 

»cool. danke«
 

»kein ding!!!! schlaf noch n bisschen, es sind ferien :P«
 

Ich schnaube und muss grinsen. Notiz an mich selbst: schwul und asexuell schließt sich nicht aus. Irgendwie beruhigt mich das. Mein Handy zeigt eine neue Nachricht.
 

»und wenn dus dir mit dem sex bei irgendwem oder iwann mal anders überlegst, heißt das auch nicht, dass du nicht ace bist! es geht nur darum, dass man nicht leute anschaut und denkt BOAH GEIL MIT DEM/DER WÜRD ICH GERN MAL IN NEM DUNKLEN ECKCHEN VERSCHWINDEN! auch wenn viele sex iwie komisch oder langweilig oder eklig finden. immer dran denken, es is ein spektrum!!!! du kannst einfach du sein :) <3«
 

Ich lächele mein Handy an.
 

»das war sehr hilfreich, danke!!«
 

»null problemo, juliooo«
 

Ich schiebe mein Handy unters Kissen und schlafe tatsächlich noch mal ein.
 

Tag 16
 

Die Wahrheit ist, dass ich nicht die geringste Lust darauf habe, mit meiner Fußballmannschaft Campen zu fahren. Wenn man mich vor ein paar Wochen gefragt hätte, wäre ich sicherlich schwer begeistert gewesen, aber seit meiner neusten Gefühlsentdeckung weiß ich nicht, wie genau ich mich verhalten soll.
 

Wie immer, ist wahrscheinlich die richtige Antwort – aber wenn man sich so dermaßen anders fühlt als sonst, ist das leichter gesagt als getan. Ich habe nicht damit gerechnet, wie mir plötzlich tausende von Kleinigkeiten auffallen würden, die ich sonst ignoriert oder hingenommen habe.
 

Das Wort Schwuchtel fällt sehr viel häufiger, als mir jemals klar war. Und es ist nicht mal so, dass die Jungs es unbedingt auf eine gehässige Art verwenden. Sie verwenden es schlichtweg für alles. Irgendwer motzt über schlechtes Wetter? Er soll keine Schwuchtel sein. Es kommt ein Fünkchen von Gefühl auf? Schwul.
 

Offensichtlich sind Gefühle schwul.
 

Was auch immer das heißen soll. Jedes Mal setzt mein Herz aus, als hätten sie mich direkt angesprochen. Was natürlich Unsinn ist. Aber ich bin definitiv überempfindlich und ich könnte schwören, dass Cem mir auf der Spur ist. Innerhalb von zwei Tagen fragt er mich viermal, ob »alles senkrecht« ist.
 

Einmal, als Konstantin Daniel als Schwuchtel bezeichnet, weil Daniel gesagt hat, dass er nicht so auf Actionfilme steht, verdreht Cem die Augen und bewirft Konstantin mit einem Stück Tomate von seinem Teller.
 

Ich fliehe vor der Essensschlacht, die daraufhin ausbricht und drücke mich um eine Kneipentour, die anschließend angesetzt wird, indem ich Magenschmerzen vortäusche. Fast erwarte ich, dass Konstantin mich als Schwuchtel bezeichnet, weil ich nicht mit Saufen gehe, aber er hat immer noch ein bisschen Tomatenschleim im Haar kleben und zuckt nur mit den Schultern, als ich sage, dass ich nicht mitgehe.
 

Cems Augen, die mich durchbohren und kritisch mustern, erinnern mich sehr an Mari. Ich haue ihm auf die Schulter, wünsche ihm viel Spaß und verkrieche mich in meinen Schlafsack. Dann krame ich mein Handy hervor und kaue eine gute Minute auf meiner Unterlippe herum, bevor ich eine absolut nichtssagende Nachricht an Tamino schicke.
 

»was treibst du gerade?«
 

»noah und ich üben die rap teile aus hamilton«
 

»hamilton?«
 

»hip hop musical von lin manuel miranda. noah hört seit ungefähr drei monaten kaum was anderes«
 

»ich wusste nicht, dass du rappen kannst«
 

»kann ich nicht. es klingt schrecklich. noah ist ziemlich gut aber ich mach lieber die singenden teile«
 

Dumpf denke ich darüber nach, dass ich sehr viel lieber Tamino beim Singen zuhören würde, als in einem pekigen Zelt zu liegen und einem leichten Regen zu lauschen, der vor kurzem begonnen hat. Ich hoffe, es fängt nicht richtig an zu gießen, am Ende schwimmen unsere Zelte noch weg.
 

»schick mir eine sprachnachricht?«
 

»ok, warte kurz«
 

Mein Herz hämmert peinlich doll bei dem Gedanken, Taminos Stimme zu hören. Was zum Teufel, Julius. Das ist doch lächerlich. Mit Sicherheit waren mindestens fünfzig Prozent der Jungs aus deiner Mannschaft schon mal verschossen und die haben sich nie verhalten wie total beduselte Armleuchter, die kaum noch geradeaus denken können.
 

Ich bekomme zwei Sprachnachrichten. Die erste ist anscheinend eine gekürzte Version von einem Lied namens »Satisfied«, in dem ich Tamino ein bisschen Singen und Noah rappen höre. Das zweite ist ein Lied namens »It’s quiet uptown« in dem kein bisschen gerappt wird, sondern lediglich Taminos Gesang mit Noahs sanftem Gitarrenspiel im Hintergrund zu hören ist.
 

»gib noah ein highfive von mir. coole sache!«, schreibe ich und schnaube über meine vorgetäuschte Lässigkeit. Dann höre ich die zweite Sprachnachricht noch mal. Und noch mal. Vielleicht höre ich sie sieben Mal, bevor ich beschließe, dass ich der jämmerlichste Kerl unter der Sonne bin.
 

Dinge, die ich schreiben möchte:
 

»Ich vermisse dich ein bisschen.«
 

»Ich war noch nie verknallt, und du bist Schuld, dass das jetzt anders ist.«
 

»Ich möchte mich für dich freuen, weil du so viel Spaß ohne mich hast, während ich hier rumhänge wie ein Häufchen Elend, aber es fällt mir verdammt schwer.«
 

»Ich vermisse dich verdammt, beschissen, scheußlich doll.«
 

Dinge, die ich tatsächlich schreibe:
 

»ich geh mit den jungs einen saufen! viel spaß noch!!«

captain's log, supplemental

Tag 18
 

Cem hatte mir auf einer Feier gesagt, was für Jungs er attraktiv findet. Dass mir vorher nie aufgefallen ist, dass er manche Kerle genauso ansieht wie Mädchen, wurde mir allerdings erst klar, nachdem er es mir gesagt hat. Und seit ich meine eigene Erleuchtung hatte, bin ich geradezu empört darüber, wie blind ich vorher war.
 

Ich schaue all diese Leute an und bin immer davon ausgegangen, dass sie allesamt hetero sind. Wer weiß, wie viele aus meinem Jahrgang noch bi oder schwul oder lesbisch sind und ich schaue sie jeden Tag an und denke, dass sie hetero sind. Das ist doch total beknackt.
 

Nachdem den regnerischen Abend damit verbracht habe, Taminos Gesang für insgesamt anderthalb Stunden am Stück anzuhören – und das werde ich niemals irgendwem erzählen, nicht mal wenn es um mein Leben geht – und anschließend noch etwa dreißig Seiten von Ari und Dante zu lesen, bin ich eingeschlafen und nicht mal aufgewacht, als die besoffene Horde zurück kam.
 

Cem hat offenbar beschlossen, dass er die Schnauze voll hat von mir. Er schleift mich am vierten Tag des Camps an das hintere Ufer des Sees, an dem wir campen, steckt sich eine Kippe an und sieht mich auffordernd an, ohne irgendwas zu sagen. Ich bin so gestresst, dass mir augenblicklich der Schweiß ausbricht und unweigerlich muss ich daran denken, dass Tamino sich so bei neunzig Prozent aller sozialen Interaktionen fühlt.
 

Ich öffne mehrmals den Mund, um etwas zu sagen und sehe wahrscheinlich aus wie ein Karpfen. Cem schnippt ein bisschen Asche ins Schilf und hockt sich dann ins Gras.
 

»Ich hab Zeit«, meint er nur und zieht an seiner Zigarette. Ich verschlinge meine Hände ineinander und denke darüber nach, ob und wie ich die Dinge sagen kann, die mich beschäftigen. Cem und ich reden nicht über Gefühle. Das ist nicht unser Ding.
 

»Seit wann willst du über meine Gefühle reden«, sage ich also und lasse mich neben ihn ins Gras fallen. Er bietet mir seine Kippe an und ich schüttele den Kopf. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er mit den Schultern zuckt.
 

»Wenn‘s sein muss, kann ich auch über Gefühle reden«, sagt er. Weil ich ein Trottel bin, platzt das Erstbeste aus mir heraus, was momentan zum Thema »Gefühle« in meinem Kopf herum spukt.
 

»Ich hab gehört, Gefühle sind schwul.«
 

Cem guckt mich an, als hätte ich ihm gerade gesagt, dass ich ein paar fliegende Kaulquappen gesehen habe.
 

»Hä?«, sagt er. Ich merke, dass mein Gesicht knallrot anläuft.
 

»Hat Lennard gesagt. Er schien sich recht sicher zu sein«, sage ich und tue so, als wäre das kein total absurdes Gespräch. Ich scheitere kläglich. Cem schnaubt und bläst mir Rauch ins Gesicht, weil ich solchen Unsinn rede. Ich wedele mit der Hand und haue ihm auf den Oberarm.
 

»Lennard ist ein Stück Scheiße auf zwei Beinen«, sagt Cem ungerührt.
 

»Mir war nicht klar, dass du ihn so kacke findest«, meine ich und hüstele leise. Cem zuckt erneut mit den Schultern.
 

»Er ist halt in der Mannschaft. Ist mir zu stressig da jedes Mal Beef anzuzetteln, wenn er was Dummes sagt. Ist ja nicht so, als würde er besonders oft was sagen, was nicht super dämlich ist, da hätte ich viel zu tun«, erklärt Cem. Ich beobachte ihn eine Weile beim Rauchen.
 

»Sonst noch jemanden, den du so richtig kacke findest?«
 

Cem wirft mir einen Blick zu.
 

»Konsti ist noch schlimmer als Lennard.«
 

»Also ein großes Stück Scheiße mit zwei Beinen?«
 

»Scheiße ernährt wenigstens noch Fliegen, Alter«, brummt Cem.
 

Wir schweigen eine Weile und ich denke darüber nach, dass ich wahrscheinlich viel öfter mit Cem über seine Ansichten reden sollte. Es ist nicht so, als wären Lennard und Konstantin jemals besonders gute Kumpels gewesen, aber ich hab mehrere Jahre Zeit mit ihnen verbracht, ohne mir wirklich Gedanken darüber zu machen, ob sie Scheiße sind oder nicht. Cem hingegen scheint diese Meinung schon länger zu haben. Und nach dem, was ich in den letzten Tagen zum ersten Mal bewusst wahrnehme, hat er wahrscheinlich Recht.
 

Cem ist super cool. Er ist mein bester Kumpel.
 

Und er steht auf Tamino, erinnert mich eine leise Stimme in meinem Kopf.
 

»Ich… äh… ich steh wahrscheinlich auf Männer. Ausschließlich. Also… ja.«
 

Mein Herz explodiert gleich. Es war sehr viel einfacher meiner Mutter davon zu erzählen und die ist nicht mal bisexuell. Ich hab keine Ahnung, wieso ich mich so anstelle.
 

Cem mustert mich eine Moment lang aus seinen dunklen Augen, dann reicht er mir erneut seine Kippe. Diesmal nehme ich sie.
 

Man hört mehrere Minuten nur Wasserplätschern und ein paar Vögel. Cem versucht, ein paar Ringe aus Rauch herzustellen. Dann seufzt er.
 

»Ah, fuck. Dann muss ich jetzt doch Beef anzetteln«, sagt er. Ich blinzele verwirrt.
 

»Hä? Wieso?«
 

Cem schaut mich kurz an, dann verfinstert sich seine Miene.
 

»Wenn sie Schwuchtel sagen und es dabei um mich geht, muss ich mich ja nicht aufregen. Aber wenn sie Schwuchtel sagen und es dabei um dich geht, müssen sie dringend die Fresse halten.«
 

Ich starre Cem an. Er schaut mit hochgezogenen Augenbrauen zurück, das Knie lässig angewinkelt, den Ellbogen darauf gestützt, die Kippe in der Hand. Sein Cap sitzt wie immer mit dem Schirm nach hinten auf dem Kopf.
 

»Du musst für mich keinen Beef anzetteln«, sage ich leicht heiser.
 

»Wenn dein Gesichtsausdruck anders wäre, wenn Konsti das Wort Schwuchtel sagt, würde ich dir eventuell zustimmen, Alter«, mein Cem, als wäre er gerade nicht ein Ritter in scheinender Rüstung.
 

»Und hey… es ist ja nicht so, als würde ich den beiden nicht gerne mal die Fresse polieren«, sagt Cem und drückt seine Zigarette im Gras aus.
 

Ich male mir schreckliche Szenarien aus, in denen die Mannschaft auseinander bricht, weil Cem Konsti und Lennard die Fresse poliert und sich danach zwei Lager bilden, die sich nicht wieder vertragen wollen. Ich möchte Cem sagen, dass das wirklich nicht nötig ist. Und dass ich irgendwie dankbar bin, dass er gemerkt hat, wie nahe mir das geht. Und dass ich für ihn in einen Pool springen würde.
 

Ich sage allerdings nichts davon, sondern lege mich einfach ins Gras und starre hoch in den leicht bewölkten Himmel. Cem legt sich neben mich. Über Gefühle reden mag laut Lennard schwul sein, aber vor allem ist es super anstrengend.
 

Nach zwanzig Minuten im Gras liegen, boxt Cem mir gegen die Schulter. Ich muss lachen. Ich hab Schiss, dass Cem sich selbst oder mich aus Versehen outet. Oder dass alles den Bach runter geht. Aber insgesamt bin ich vor allem dankbar.
 

Benutz deine Worte, Juls.
 

»Danke, Alter«, sage ich.
 

Cem grinst.
 

»Jetzt können wir zusammen scharfe Jungs bewundern«, ist sein Kommentar. Ich schnaube und fühle mich sehr viel weniger schrecklich als vor dem Gespräch.
 

Tag 19
 

Es stellt sich heraus, dass Cems Taktik ziemlich stumpf ist. Jedes Mal, wenn Konsti oder Lennard oder Basti das Wort Schwuchtel verwenden, oder irgendwas, was sie scheiße finden, als schwul bezeichnen, wirft Cem Essen nach ihnen, schnipst ihnen gegen die Nase und bufft ihnen mit dem Ellbogen in die Rippen.
 

Als Konsti eine volle Ladung Instant-Kartoffelbrei ins Gesicht bekommt und Cem anraunzt, was das soll, erklärt Cem ihm gelassen, dass er die Schnauze voll von Konstis primitiver Wortwahl hat und in Frage stellt, ob er uns etwas mitteilen möchte, weil er so oft das Wort schwul verwendet.
 

Konstantin bekommt einen Wutanfall, der allerdings vollkommen an Wirkung verliert, weil alle ihn fragen, ob er schwul ist. Cem untermauert das Ganze, während er ganz in Ruhe seinen Kartoffelbrei weiter isst, als würde Konstantin ihm nicht gerade Schläge androhen.
 

»Alter, du kannst es uns ruhig erzählen, wenn du schwul bist. Wir unterstützen dich alle, man.«
 

Es ist die Art, wie er es sagt, die allen klar macht, dass Cem es total ernst meint. Es ist nicht sarkastisch gemeint. Es soll nicht dazu dienen, Konsti noch einen reinzuwürgen. Ich sehe ganz genau, dass es auch genauso bei den anderen ankommt und Lennard, der in den letzten Tagen mindestens genauso oft das Wort Schwuchtel gegrölt hat, räuspert sich und sagt Konsti, dass er sich wieder hinsetzen soll.
 

Mir wird klar, dass Konstantin jetzt so viel »Du bist selber schwul!« rufen kann, wie er will – es würde nur wie ein jämmerlicher Versuch wirken, Cem eins reinzuwürgen. Kein Schwein würde das wirklich glauben. Cem grinst Konstantin zufrieden von unten herauf an und winkt ihm mit einem weiteren Löffel Kartoffelbrei.
 

Ich möchte Cem einen Schrein bauen und ihm den Rest seines Lebens seine Kippen zahlen. Vielleicht hätte ich schon früher über meine Gefühle reden sollen. Wenn über Gefühle reden schwul ist, dann ist Schwulsein ziemlich gut.
 

Tag 20
 

Konstantin schmollt den ganzen nächsten Tag, aber niemand kümmert sich großartig darum. Cem trägt eine Tüte gesalzene Erdnüsse mit sich herum und bewirft jeden Übeltäter, der die Lektion noch nicht gelernt hat, mit Nüssen. Das Ganze wird aufgelockert, als Adnan eine der Nüsse mit dem Mund fängt und Cem ihm beeindruckt gratuliert.
 

Noch drei Tage, dann kann ich wieder nach Hause fahren. Aber es ist definitiv besser, nachdem Cem ein bisschen aufgeräumt hat und an diesem Abend gehe ich mit trinken. Konstantin macht eine große dramatische Show daraus, allen lauthals zu verkünden, wie geil er eine Mittzwanziger Blondine in der Kneipe findet.
 

Cem hat keine Geduld für sein dämliches Verhalten.
 

»Dude, ich glaube du hast dir n bisschen Bier aufs Hemd gesabbert.«
 

Wenn Cem so weiter macht, kriegt er wirklich noch eins auf die Schnauze.
 

Gerade, als ich das denke, streckt Konsti die Hand aus, um nach Cems Hemdkragen zu greifen, und während Cem vollkommen unbeeindruckt aussieht, greife ich sofort nach Konstantins Arm. Im gleichen Augenblick wie Daniel.
 

»Alter, es reicht«, sagt Daniel mit hochgezogenen Augenbrauen.
 

»Ohne Scheiß, man«, füge ich hinzu. Konstantin sieht aus, als würde ihm gleich Rauch aus den Ohren steigen. Er ext sein Bier und schweigt mit finsterer Miene. Ich beobachte Daniel interessiert.
 

Ich weiß, dass Cem Daniel scharf findet. So rein objektiv kann ich mir vorstellen, wieso Leute ihn gutaussehend finden. Er hat einen markanten Kiefer, wuscheliges, braunes Haar und fast so viele Sommersprossen wie ich. Außerdem ist er in etwa so groß wie Tamino und fit wie ein Turnschuh.
 

Die Sitzordnung ändert sich im Laufe des Abends und Daniel landet neben Cem, nachdem Konsti tatsächlich versucht hat, die Blondine anzubaggern, die sehr eindeutig keinerlei Interesse an ihm hat. Ich beobachte Daniel und denke daran, dass Cem gesagt hat, dass bei Daniel Hopfen und Malz verloren ist.
 

Aber woher weiß Cem das? Ich hatte keine Ahnung, dass ich Jungs mag. Theoretisch ist es möglich, dass noch irgendwer anders hier mit an diesem Tisch sitzt. Und Cem hat schließlich auch keinen geheimen Röntgenblick, der ihm mitteilt, wer auf Kerle steht und wer nicht. Bei mir hatte er auch keine Ahnung.
 

Unweigerlich denke ich an Cems Sicherheit bezüglich Taminos Neigung. Aber vor allem da Cem bei mir auch keinen blassen Schimmer hatte, kann ich davon ausgehen, dass er sich bei Tamino genauso irrt. So gut kennt er ihn schließlich nicht.
 

Daniel sitzt so nah an Cem, dass ihre Schultern sich regelmäßig berühren. Vielleicht wäre das anders, wenn Daniel wüsste, dass Cem ihn scharf findet.
 

Ich exe mein Bier und bestelle als nächstes Rum Cola. Eine leise Stimme in meinem Kopf sagt, dass ich bekloppt bin Rum zu trinken, obwohl ich ihn nicht mag, einfach nur, weil er mich an Tamino erinnert. Das hindert den irrationalen Teil meines Hirns allerdings nicht daran, fünf Mischungen zu trinken und sturzbesoffen über einen Hortensienbusch zu fallen.
 

Cem und Adnan fischen mich wieder raus und lachen den ganzen Weg zurück zum Zeltplatz. Ich krame torkelnd nach meinem Handy.
 

»ich bn havkedikt«, tippe ich und schicke die Nachricht ab. Besoffen im Gehen schreiben ist schwieriger als man denkt. Der Fußweg ist Gott sei Dank breit genug für meinen Slalomkurs. Cem und Adnan singen irgendein türkisches Lied zusammen, während sie Arm in Arm vor mir herschwanken. Daniel, Basti und Oli gehen hinter mir und irgendwo ganz hinten sind Konsti, Lennard und die anderen unterwegs – alle mehr oder minder voll bis oben hin.
 

»Heeeh, ich auch«, kommt die Antwort.
 

Ich blinzele. Mein Magen macht einen Salto und ich weiß nicht warum.
 

»hab rum getrunken«
 

»ich auch :D«
 

Als nächstes kommt ein Selfie. Jup. Definitiv hackedicht. Tamino grinst breit und ziemlich verschwommen in die Kamera und zeigt mir einen Daumen hoch. Mein Magen tänzelt aufgeregt in meinem Inneren herum und mein Herz fühlt sich an, als wäre es spontan auf die doppelte Größe angeschwollen.
 

Fuckfuckfuck.
 

»eigentlich genau der richtige Zustand, um dich auf mir drauf liegen zu haben.«
 

FUCK.
 

Ich falle beinahe in einen seichten Graben und lasse mein Handy fallen. Mein Gehirn schwimmt in Rum und Verliebtheit. Irgendwer sollte mir das Telefon wegnehmen.
 

»gehtdasss nir vedpffn?«
 

»besoffen«, schicke ich hinterher, weil man den ersten Versuch kaum erkennen kann.
 

»nah. du machst dich nüchtern bestimmt genauso gut auf mir drauf«
 

Wie kann er so fehlerfrei tippen, wenn er doch hackedicht ist? Das ist unfair. Und was zum Henker? Flirtet er mit mir?
 

Ich kann nicht mal Cem fragen, weil der nicht wissen soll, dass ich in Tamino verschossen bin.
 

»fuck ich wilkuscheln. das is alles dne schuld!!!!!«
 

Tamino schickt eine lange Reihe lachender Emojis, die er sonst so gut wie nie verwendet.
 

»beam dich rüber, captain, dann lad ich deine batterie auf ;)«
 

Ich starre diesen zwinkernden Smily fast zwei Minuten an, laufe dabei fast gegen zwei Laternenpfähle und als wir am Campingplatz ankommen, verschwinde ich unter die Dusche, während alle anderen in ihre Schlafsäcke fallen. Und dann tue ich etwas, was ich noch nie in meinem Leben getan habe:
 

Ich hole mir auf eine konkrete Person einen runter. Und das alles wegen ein bisschen Rum und einem zwinkernden Smily.
 

Tag 22
 

Als ich von dem Campingtrip nach Hause komme, bin ich kurz davor Tamino beim Wort zu nehmen, ein Zugticket zu kaufen und zu ihm zu fahren. Aber Tamino hat diese Einladung sehr wahrscheinlich nicht ernst gemeint. Außerdem war er besoffen.
 

»Alles ok bei dir?«, will Mari beim Mittagessen wissen und sieht mich fragend an. Ich antworte nicht und stochere in meinem Kohlrabigemüse herum.
 

»Juls?«, sagt Mari.
 

»Lass gut sein, Schatz«, sagt Mama leise.
 

Mari fragt nicht noch mal.
 

Tag 27
 

Fuckfuckfuckfuck.
 

FUCK.
 

Tag 31
 

Ich höre »It’s quiet uptown« von Tamino zum ungefähr dreihundertsten Mal. Und ich habe keine Ahnung, worum es in dem Musical geht, aber der Ton des Liedes spricht mir sehr aus der Seele. Ein besonders peinlicher Teil meines Gehirns wünscht sich beinahe, Philipp oder Eliza zu heißen, einfach nur, damit Tamino meinen Namen singt.
 

Ich habe das Gefühl, es kann nicht noch schlimmer werden. Ich bin ganz unten angekommen und es kann unmöglich noch scheußlicher werden. Oder peinlicher.
 

Ich plane mit Mari unsere gemeinsamen Geburtstagsfeiern und bin sehr bemüht, nicht wie der erbärmlichste Trauerkloß der Welt zu erscheinen. Wahrscheinlich kauft sie es mir nicht ab, aber die fragt auch nicht weiter nach. Ich ertappe sie nur ab und an dabei, wie sie mir besorgte Blicke zuwirft.
 

Als ich die Einladung an Tamino und seine Freunde in unsere WhatsApp-Gruppe sende, kommt als Antwort ein Vierer-Selfie mit strahlenden Gesichtern und der Bildunterschrift »Wir kommen gerne!!!«.
 

Anni

hätte nich gedacht dass du der typ fürs kleine feiern bist juls :P
 

Julius

bin ich nicht, ich feiere vorher groß. aber tamino steht nicht so auf große partys und ich wollte ihn gern einladen, deswegen machen wir ne kleine feier ein we später
 

Lotta

!!!!!!!! JULS!
 

Noah

Nice, Dude *thumps up*
 

Anni

Haaaaa, ich glaub er weint gleich xDDDD
 

Tamino

niemand weint!
 

Tamino

vielen dank ♥
 

Lotta

<3<3<3<3<3<3<3
 

Ich bekomme angesichts des Herzchens in Taminos Nachricht einen mittelschweren Herzinfarkt. Im nächsten Augenblick schickt Tamino mir eine private Nachricht in unserem Chat.
 

»Ich hoffe, diese extra Feier macht nicht zu viele Umstände. Vielen Dank, dass du das extra für mich machst. Und dass du mich gerne zu deinem Geburtstag einladen möchtest!«
 

Ich schicke ihm einen nach oben gestreckten Daumen und einen grinsenden Emoji. Dann lege ich das Handy beiseite, um mich von dem Herzchen zu erholen. Wenn Mari mir gesagt hätte, dass Verliebtsein sich so anfühlt, hätte ich mich vielleicht besser darauf vorbereiten können, wir anstrengend es ist.
 

Dauernd ein Fallgefühl im Magen, Kribbeln im Bauch, Herzklopfen.
 

Das ist noch schlimmer als Lampenfieber vor wichtigen Spielen und Klausuren.
 

Mein Handy vibriert.
 

Anni

heyyyyy ich hoffe es ist ok wenn ich dir eben privat schreibe?
 

Julius

klar
 

Anni

ok tamino hat uns/mich drum gebeten mit dir über alkohol zu schnacken weil er sich nich traut aber will dass du bescheid weißt
 

Julius

ähm, ok?
 

Anni

ich weiß dass ihr gerne mal einen zusammen trinkt und das ist auch soweit kein ding, aber es wär tippitoppi wenn du n auge drauf haben könntest dass es nich ausartet
 

Julius

was heißt ausgeartet?
 

Anni

er hatte n ziemliches alk problem nachdem seine mama gestorben is. war mehrmals die woche hackedicht und so. ganz oft auch bis zum blackout und so. und ihm ist das super peinlich und er wollte dass dus weißt aber wusste nich so richtig wie er das am besten sagen soll. und er trinkt gern mit dir mal einen und hat das gefühl, dass du darüber bescheid wissen solltest. vor allem wenns ihm nich so gut geht
 

Ich lese die letzte Nachricht mehrmals und schlucke schwer. Noch während ich versuche, das zu verarbeiten, schreibt Anni die nächste Nachricht.
 

Anni

weil er tamino is hat er natürlich schiss dass er sich dir zu sehr aufdrängt und dir umstände macht und dass er zu abgefuckt ist und dich das abschreckt und alles. wenn dir das alles zu viel is wärs cool wenn du die reißleine rechtzeitig ziehst (kann man dir auch nich übel nehmen, wenn du einfach nur gechillt mit tamino befreundet sein wolltest)
 

Anni

also er is total hin und weg von dir und dieser ganzen freundschaftskiste und is voll nervös dass er das ruiniert weil er zu kompliziert ist und so
 

Total hin und weg von dir.
 

Ich schlucke sehr schwer und meine Daumen schweben über der Tastatur, weil ich mich eigentlich auf die Alkoholsache konzentrieren sollte, aber leider an dem »hin und weg« hängen geblieben bin.
 

Julius

sag ihm dass er mir immer alles erzählen kann. ich werd ein auge drauf haben!!
 

Anni

du bist der beste juls <3 danke!!!!!
 

Ich frage mich, wie viele tausend Dinge ich noch nicht über Tamino weiß. Irgendwie kann ich ja schon nachvollziehen, dass es ihm unangenehm ist, darüber zu reden. Umso mehr freue ich mich, dass er eine Lösung gefunden hat, es mir trotzdem zu erzählen. Ich kaue auf meiner Unterlippe herum bei dem Gedanken daran, wie beeindruckt ich davon war, wie viel Alkohol Tamino verträgt und wie schnell er diesen Rum wegkippen konnte.
 

Die Erinnerung an eine Unterhaltung schiebt sich in mein Gehirn. Darüber, dass Tamino eher privat als auf Partys getrunken hat. Erst jetzt verstehe ich, dass das heißt, dass er sich vor lauter Kummer hat volllaufen lassen – vielleicht sogar allein in seinem Zimmer.
 

Total hin und weg von dir.
 

Ich öffne meinen privaten Chat mit Tamino.
 

»Du wirst mich nicht mehr los, Spock. Der Zug ist abgefahren.«
 

Ich stopfe mein Handy in die Hosentasche, weil mein Herz so aufgeregt hämmert, dass ich die Antwort vielleicht nicht sofort lesen will. Dann stapfe ich hinüber zu Maris Zimmer und klopfe.
 

»Ja!«
 

Ich öffne die Tür und finde sie auf dem Boden und dabei ihre Fußnägel zu lackieren.
 

»Hey«, sagt sie und grinst zu mir hoch.
 

»Ich bin in Tamino verknallt«, sage ich.
 

Sie blinzelt. Dann lächelt sie.
 

»Ich weiß.«
 

Tag 40
 

»Hast du heute Nacht was vor?«
 

»Noch nicht.«
 

»Kannst du bei mir schlafen?«
 

Ich lasse fast mein Handy fallen, bevor ich ein hastiges »Ja« mit ein paar Konfetti-Emojis antworte. So schnell hab ich noch nie eine Tasche gepackt. Ich will gerade die Frage hinterher schieben, wann ich denn vorbeikommen soll, da finde ich ein Selfie von Tamino und Ororo auf meinem Handy, mit der Unterschrift »Wir freuen uns :)«.
 

Jup. Warten wird überbewertet.
 

»Ich penn heute bei Tamino!«, rufe ich in die Wohnung und noch während meine Mutter »Viel Spaß!« antwortet, schließe ich die Tür hinter mir und renne los.
 

Verzweifelt und peinlich? Ich?
 

Absolut richtig.
 

Aber wen interessiert das schon. Mich jedenfalls nicht. Und als Tamino die Tür aufmacht schmeiße ich meinen Rucksack schlichtweg auf den Boden und mich selbst in Taminos Arme.
 

»Uff«, sagt er und lacht. Ich brumme.
 

»Ich würde diese Batterie gerne umtauschen. Kann ich mich da an dich wenden?«, frage ich.
 

Er gluckst gegen mein Haar und drückt mich sehr fest an sich. Fast, als würde er sagen wollen, dass er mich auch vermisst hat. Was er wahrscheinlich nicht hat.
 

Ugh.
 

»Die Umtauschfrist ist abgelaufen«, nuschelt er.
 

Wenn ich gleich explodiere, dann würde mich das kein bisschen wundern.
 

»Weißt du noch, als du dachtest, ich sei ein arroganter Mistsack?«, frage ich in Taminos Shirt. Er löst die Umarmung und grinst verlegen aber auch ein bisschen spitzbübisch zu mir herunter.
 

»Nope. Muss mir entfallen sein«, meint er. Ich schnaube, boxe ihn gegen den Oberarm und schleppe meinen Rucksack in sein Zimmer.
 

»Wir müssen dringend Deep Space Nine weitergucken. Ich bin immer noch nicht drüber hinweg, was in der letzten Staffel passiert ist«, sage ich und kicke meine Schuhe in eine Ecke von Taminos Zimmer. Er schließt die Tür hinter uns.
 

»Du darfst auch allein weiterschauen«, meint er und wirft sich mit seinem Laptop aufs Bett. Mein Herz hämmert so doll, weil ich dringend mehr Körperkontakt will, aber es mir zu peinlich ist, das zu sagen. Und heute haben wir keinen Alkohol hier, um mich aufzulockern.
 

»Was? Nein! Das ist unser Ding!«, sage ich empört und alles kribbelt, als Tamino mich anlächelt.
 

»Ok. Das gefällt mir«, gibt er zu und angelt nach der DVD-Box, die von unserem letzten Treffen noch auf dem Nachtschrank liegt.
 

»Außerdem will ich alle Fotos von deinen Sommerferien sehen«, sage ich.
 

»Deal«, gibt er zurück und winkt mich zu sich. Ich zögere kurz vorm Bett und es ist, als könnte er meine Gedanken lesen, denn er schiebt den Laptop von seinen Knien, öffnet seine Beine und gestikuliert dazwischen.
 

Nüchtern kuscheln. Eindeutig was Neues.
 

Ich schlucke und klettere aufs Bett. Taminos Arme schlingen sich augenblicklich um meinen Oberkörper und ich starte die nächste DVD.
 

»Willkommen zurück«, sage ich und klinge leicht heiser. Taminos Lippen sind sehr nah an meinem Ohr. Seine Arme drücken leicht zu.
 

»Hab dich vermisst«, flüstert er kaum hörbar in die Intromusik hinein.
 

Mein Herz bricht mir gleich ein paar Rippen. Ich muss mich sehr bemühen, um nicht in Schnappatmung auszubrechen.
 

Fuck.
 

»Dito«, krächze ich.

Neuanfänge

»hey großer, kommst du montag mit zum training? trainer hat nach dir gefragt, ich glaub sie weint nachts weil sie dich so dringend in der mannschaft haben will ;) ;) ;)«
 

Cem ist die körperliche Manifestation des zwinkernden Emojis, denke ich mir. Er hat den ganzen Sommer immer wieder mal geschrieben und ich kann nicht anders als zuzugeben, dass ich ihn wirklich gut leiden kann. Er hat auch das ein oder andere Bild von Julius geschickt – unter anderem eines, in dem Julius offenbar stockbesoffen in einen Hortensienbusch gefallen ist.
 

Zwei Selfies von sich selbst. Und ja, er ist definitiv hübsch. Gutaussehend. Was auch immer.
 

Ich habe alle Unterhaltungen mit Cem meinen Freunden vorgelesen und sie waren sich sehr einig, dass Cem arg mit mir flirtet. Der rationale Teil meines Gehirns war sich dessen irgendwie bewusst – ich meine, eine Nachricht über meine beeindruckenden Schenkel ist nicht besonders hetero oder platonisch – aber der angstgestörte Teil meines Gehirns möchte sich nicht zum Deppen machen und irgendwas falsch interpretieren, deswegen brauche ich immer noch mal die Bestätigung von außen, dass ich mir diese Dinge nicht einbilde.
 

Ob ich mit zum Training gehen soll, weiß ich nicht. Ich starre die Nachricht an und denke darüber nach, was für ein absolutes Desaster das letzte Mal war. Mein Herz fängt automatisch an wie verrückt zu hämmern, als ich mich daran erinnere, wie Julius‘ Stimme geklungen hat. Vielleicht will er mich immer noch nicht da haben. Ich meine, klar, er hat sich entschuldigt. Aber vielleicht haben seine Gefühle dich nicht geändert? Das könnte ja sein.
 

Jeder hat sein Päckchen zu tragen und Julius‘ Vater hat offensichtlich dafür gesorgt, dass Julius‘ Selbstbewusst nicht so groß ist, wie es von außen her scheint. Und ich will definitiv nicht dafür verantwortlich sein, dass es ihm schlecht geht und er in Minderwertigkeitskomplexen badet. Das hat er nicht verdient. So dringend muss ich auch kein Fußball spielen, auch wenn ich es wirklich, wirklich gern wieder mal tun würde.
 

Während ich auf mein Handy gucke und Cems Nachricht betrachte, liegt Julius neben mir im Bett und schläft tief und fest. Sein Kopf ruht auf meiner Schulter, während ich einen Arm um in geschlungen habe. Seine blonden Haare kitzeln mich ein bisschen am Hals und eins seiner Beine liegt auf meinen. Es ist ziemlich warm, weil Julius so eine Art Heizdecke ist. Die Tatsache, dass er sofort zu mir gekommen ist, weil ich danach gefragt habe und sich quasi in meine Arme geschmissen hat, hat mein Herz ziemlich zum Schmelzen gebracht.
 

Die einzige Möglichkeit, wie meine Sommerferien noch perfekter hätten sein können, wäre, wenn Julius auch da gewesen wäre. Natürlich weiß ich, dass das nicht geht – er hat schließlich seine eigenen Freunde und Fußballfreizeiten und Partys, auf die er gehen will und andere coole Dinge, die man macht, wenn man einen ganzen Jahrgang voll mit bewundernden Schulkameraden hat.
 

Aber ich hab ihn sehr vermisst.
 

Wer hätte gedacht, dass wir hier ankommen würden, nachdem wir beiden so dermaßen wenig Bock auf diese ganze Nachhilfe-Geschichte hatten. Ich habe ein leicht schlechtes Gewissen, weil ich über die Ferien schlichtweg vergessen habe, mich um Julius‘ Schulkram zu kümmern und ihn daran zu erinnern, dass er ab und an mal in seine Französisch-Vokabeln schauen soll.
 

Ich vergrabe meine Finge in den weichen, blonden Haaren und Julius gibt ein leises Seufzen von sich, während ich versuche, mit der anderen Hand Cems Nachricht zu beantworten.
 

»weiß nicht ob julius mich da haben will«, antworte ich wahrheitsgemäß. Die Antwort kommt sofort.
 

»frag ihn, ob’s ok is. aber er soll sich nich so einscheißen ;)«
 

Ich glaube, ich habe noch keine einzige Nachricht von Cem bekommen, in der am Ende kein zwinkernder Smily sitzt.
 

Während ich Julius‘ Haare kraule, presst er sich dichter an mich und dann, ganz plötzlich, sitzt er senkrecht im Bett und verpasst mir mit seinem Kopf beinahe einen Kinnhaken. Ich lasse mein Handy vor lauter Schreck auf die Matratze fallen und setze mich ebenfalls hastig auf.
 

»Is‘ schon Montag?«, fragt er vollkommen verschlafen. Seine Haare stehen ab und sind vollkommen zerzaust. Nach dem ersten Schreck muss ich mir ein Lachen verkneifen und beiße mir amüsiert auf die Unterlippe.
 

»Nein. Es ist Sonntagmorgen«, informiere ich ihn. Er dreht den Kopf und schaut mich an.
 

»Oh«, sagt er und klingt ein bisschen, als wäre er besoffen. Ich glaube, er ist wirklich kaum wach.
 

»Du bist wieder da«, stellt er dann fest. Ich gluckse leise. Julius reibt sich Schlaf aus den Augen und gähnt ausgiebig, dann lässt er sich wieder neben mich ins Bett fallen und vergräbt sein Gesicht im Kissen.
 

»Ist deine Batterie wieder aufgeladen?«, frage ich schmunzelnd. Julius hebt den Kopf aus dem Kissen, schaut mich missmutig an und streckt mir die Zunge heraus.
 

»Das ist alles deine Schuld«, nuschelt er ungnädig. Ich muss lachen.
 

»Ist doch nicht so schlimm. Ich steh dir zur Verfügung«, sage ich und breite die Arme ein bisschen aus, um ihm deutlich zu machen, dass er mich gerne jederzeit als Kuschelkissen missbrauchen kann. Julius blinzelt, dann wird sein Gesicht rot und er verschwindet wieder in seinem Kissen.
 

Huh.
 

Wahrscheinlich ist ihm diese ganze Kuschelschiene immer noch ziemlich peinlich. Gestern war das erste Mal, dass wir ohne Alkohol miteinander gekuschelt haben. Ich hoffe, dass er sich das jetzt nicht wieder anders überlegt, es ist nämlich ganz wunderbar. Und dafür, dass Julius vorher kein Typ fürs Kuscheln war, scheint er sich jetzt geradezu in ein Kuschelmonster verwandelt zu haben.
 

Es ist ein bisschen so, als würde er in mich hineinkrabbeln wollen, wenn er sich so an mich drückt wie gestern.
 

»Müssen wir schon aufstehen?«, murmelt Julius ins Kissen. Ich verstehe ihn kaum, weil seine Stimme so gedämpft ist.
 

»Nein, es ist erst halb sieben.«
 

Julius hebt den Kopf erneut und starrt mich an.
 

»Warum bist du wach?«, fragt er vorwurfsvoll. Ich zucke mit den Schultern.
 

»Denke nach«, sage ich. Er runzelt die Stirn.
 

»Worüber?«
 

Ich zögere.
 

»Cem fragt, ob ich noch mal zum Training kommen will«, sage ich leise und mein Herz stürzt sich sofort in einen heftigen Sprint. Julius blinzelt, dann breitet sich auf seinem Gesicht etwas aus, das gleichzeitig Scham und ein sehr schlechtes Gewissen zu sein scheint.
 

»Ah, fuck«, nuschelt er und dreht sich auf den Rücken.
 

»Ich will nicht, wenn’s dir damit schlecht geht«, sage ich leise. Meine Stimme ist eindeutig heiser, während die altbekannte Panik sich in mir breit macht. Es herrscht eine Weile lang Stille und ich spiele nervös mit meinem Handy herum, während Julius an die Decke starrt. Dann richtet er sich halb auf, stützt sich auf seinen Ellbogen und sein Kinn in die Hand und schaut mich an. Ich wage einen Blick zur Seite.
 

»Du musst nicht vom Training wegbleiben, weil ich ein Arschloch bin«, krächzt er. Ich drehe mich auf die Seite, überlege kurz und nehme dann Julius‘ Gesicht in beide Hände. Seine Augen werden riesig, als wäre er sich nicht sicher, was als nächstes passiert und eine Sekunde lang habe ich den wahnwitzigen Gedanken, dass ich sein Gesicht genauso halten würde, wenn ich ihn küssen wollen würde.
 

»Du bist kein Arschloch, dein Vater ist ein Arschloch«, sage ich.
 

Julius schluckt und ich ziehe meine Hände zurück.
 

»Ich hätte definitiv Bock. Aber ich hab auch Schiss. Naja, nichts Neues… aber jedenfalls… will ich nicht gehen, wenn du dich damit schlecht fühlst«, murmele ich und schaue nun meinerseits an die Decke.
 

»Alter, ich brauch einen ordentlichen Tritt in den Hintern, ok? Gib mir die volle Breitseite. Heilung durch Desensibilisierung oder wie das heißt«, sagt Julius, während ich nervös auf meiner Unterlippe herum kaue.
 

»Aber was, wenn du mich wieder richtig scheiße findest?«, platzt es aus mir raus. Ich weiß noch genau, wie Julius‘ Gesicht ausgesehen hat. Und wie seine Stimme ganz anders geklungen hat als sonst. Das war dermaßen scheiße, ich glaube ich würde einfach in mich zusammensacken wie ein halbfertiges Gebäude aus brüchigem Sandstein.
 

»Ich finde dich nie scheiße«, protestiert Julius und er klingt so empört und beherzt, dass sich eine sehr angenehme Wärme in meinem Brustkorb ausbreitet und durch den Rest meines Körpers flutet. Ich drehe den Kopf und schaue ihn an. Sein Haar ist immer noch dermaßen zerzaust, dass ich ihn eigentlich kaum ernstnehmen kann, aber sein Gesichtsausdruck ist so…
 

Huh.
 

»Komm mit zum Training«, sagt Julius. Vollkommen verpennt und trotzdem so entschlossen. Mein Herz stolpert.
 

»Ok«, sage ich leise und versuche mich an einem Lächeln. Julius grinst mir breit entgegen und lässt sich dann mit einem Seufzen zurück auf die Matratze sinken.
 

»Es ist zu früh«, stöhnt er dann und ich lache leise. Meine Finger finden ihren Weg in sein ohnehin schon zerzaustes Haar und ich sehe interessiert zu, wie seine Augen sich flatternd schließen und er ein Seufzen ausstößt. Ich frage mich dumpf, wieso er keine Freundin hat. Ich weiß natürlich nicht, was er so auf all diesen Partys treibt, auf die er immer geht, aber ich habe noch nichts gehört, dass irgendwie den Eindruck vermittelt, dass er jedes Wochenende eine andere abschleppt.
 

Er sieht gut aus, ist sportlich, nett, witzig…
 

Stehen viele Mädchen nicht normalerweise auf sowas? Findet er keine von denen gut? Aber es gibt viele hübsche Mädchen in unserem Jahrgang und ich bin sicher, dass einige davon auch nett sind – auch wenn ich sie nicht näher kenne.
 

Statt bei einer potentiellen Freundin im Bett zu liegen, liegt er an einem Sonntagmorgen in meinem Bett und seufzt leise, weil ich seine Haare kraule. Das scheint mir nicht zu seinem bisherigen Lebensstil zu passen.
 

»Ich glaub meine Batterie hat ein Leck«, nuschelt Julius und drückt sich gegen meine Hand. Mein Herz stolpert noch mal.
 

»Was meinst du?«, frage ich und widerstehe dem Drang, seine Augenbrauen mit meinem Finger nachzuziehen.
 

»Wird nicht voll«, murmelt Julius und ich glaube, er ist schon wieder halb weggedöst. Ororo springt am Fußende aufs Bett und stakst vorsichtig über die Matratze, bis sie bei meinem Kopfkissen angekommen ist. Dann ringelt sie sich direkt über Julius‘ Haar ein und gähnt.
 

Ich beobachte die beiden einen ziemlich langen Moment, während Julius‘ Atmung sich beruhigt und er wieder einschläft. Dann mache ich ein Foto von den beiden und schicke es meinen Leuten, ehe ich das Handy wieder unter das Kopfkissen stecke und mich vorsichtig an Julius heran kuschele.
 

Mit Julius und Ororo und Fußballtraining schaffe ich dieses letzte Schuljahr vielleicht doch noch mit weniger Anstrengung, als ich ursprünglich gedacht hatte.
 

*
 

Obwohl ich weiß, dass Schule mit Julius‘ Freundschaft weniger schlimm ist als vorher, geht es mir Montagmorgen so schlecht, dass ich mich fast übergeben muss. Sechs Wochen lang habe ich in einer abgeschirmten, glücklichen Blubberblase gelebt, in der meine Angst derart reduziert wurde, dass meine Toleranzgrenze sich anscheinend herunter geschraubt hat.
 

Dank des neuen Stundenplans und der neuen Raumverteilung hätte ich theoretisch die Möglichkeit, mich in dem einen oder anderen Fach neben Julius zu setzen, aber es gibt so viele Leute, die neben Julius sitzen wollen, dass meine Chancen eher gering stehen. Und aufdrängen will ich mich schließlich auch nicht.
 

Da ich aus lauter Panik zu spät zu kommen viel zu früh da bin, setze ich mich in die letzte Reihe, als noch alle Plätze frei sind und nach und nach kommen die anderen herein geschneit. Ich versuche tief durchzuatmen und so zu tun, als wäre ich nicht einer kleinen Panikattacke nahe, weil ich nicht weiß, wer neben mir sitzen wird – oder vielleicht noch schlimmer, ob direkt neben mir zwei Plätze frei bleiben werden, als hätte ich eine ansteckende Krankheit.
 

Noch während meine Gedanken eine Spirale fahren und mich in Schweiß ausbrechen lassen, lässt jemand sich auf meiner rechten Seite auf einen Stuhl fallen und haut mir auf die Schulter.
 

»Jo«, sagt Cem bestens gelaunt.
 

»Hallo«, sage ich mit schwacher Stimme und hämmerndem Herzen.
 

»Was geht, Speedy?«, meint Cem und gähnt ausgiebig.
 

»Nicht so viel. Keine Lust auf Politik«, gebe ich zurück. In diesem Moment kommt Julius herein. Er sieht wie immer vollkommen verpennt aus, grüßt ungefähr sieben Leute mit Handschlag oder Umarmung und kommt dann zu mir und Cem. Zu meiner grenzenlosen Verwirrung setzt er sich auf meine andere Seite, sodass ich nun zwischen Cem und Julius sitze.
 

»Morgen«, nuschelt er und klopft mir auf den Rücken. Cem bekommt über mich hinweg ebenfalls einen Handschlag.
 

Wie ich nach einem raschen Blick in die Klasse feststelle, bin ich nicht der einzige, der über Julius‘ Platzwahl verwundert ist. Ich glaube, die meisten wissen kaum, dass ich existiere – die Tatsache, dass ich jetzt plötzlich zwischen zwei der beliebtesten Jungs im Jahrgang hocke, ist vermutlich ein seltsames Bild.
 

Ich bin sehr dankbar, dass ich mir darüber keine weiteren Gedanken machen muss, weil der Unterricht startet und ich ganz für mich alleine Panik über diese ungeahnte Aufmerksamkeit schieben kann.
 

Julius hat bisher erst einmal neben mir gesessen und das war in der schicksalsträchtigen Französischstunde, als ich sein Abitur gerettet habe. Und plötzlich gucken alle immer wieder zu uns herüber, vor allem, als Julius geistesabwesend anfängt, ein paar Katzenhaare von meinem Shirt zu zupfen.
 

Kati und Merle starren ganz offensichtlich zu uns herüber und ich stehe sehr abrupt auf. Julius blinzelt verwirrt und zieht seine Hand zurück, während ich aus dem Klassenraum flüchte. Die nächsten Toiletten sind mir zu weit entfernt, also reiße ich die nächstbeste Tür auf, hinter der sich keine Leute verbergen dürften – in diesem Fall der alte Computerraum, der größtenteils für Gerümpel genutzt wird.
 

Mein Herz hämmert und ich komme mir total bescheuert vor. All die Zeit wollte ich dringend, dass Julius mir Aufmerksamkeit schenkt und wir auch in der Schule befreundet sein können. Und jetzt, im letzten Schuljahr, als Julius sich neben mich setzt und mich tatsächlich so behandelt, wie er mich privat auch behandeln würde, kriege ich eine halbe Panikattacke, weil Leute uns dabei beobachten.
 

Ich kann einfach nicht gut damit umgehen, wenn Leute mich ansehen.
 

Ugh. Was für eine Scheiße.
 

Ich schließe die Tür hastig hinter mir, lehne mich dagegen und… starre direkt in ein hübsches und eindeutig verweintes Gesicht.
 

»Oh. Ah, entschuldige, ich–«, fange ich an zu plappern. Ich krame hastig in meinem Gedächtnis nach dem Namen. Ich glaube, dass das Feli ist. Feli aus meinem Französisch- und Deutschkurs.
 

Meine Augen vermeiden den Blickkontakt mit ihr automatisch und fallen in ihren Schoß. Oh.
 

Feli merkt sofort, wo ich hinsehe und sie gibt ein ersticktes Geräusch von sich und verschränkt hastig ihre Arme über ihrem Schritt.
 

»Shit«, sage ich voller Mitgefühl.
 

Sie lässt den Kopf hängen. Ich vergesse augenblicklich meine eigene Panik im Angesicht der Tatsache, dass Feli sich hier drin versteckt, weil sie offenbar unbemerkt ihre Tage bekommen hat und jetzt ein unheimlich sichtbarer Blutfleck ihre hellblaue Hose ziert. Sie trägt nichts, mit dem sie ihn verdecken könnte – nur ein schulterfreies Oberteil mit Blumenmuster.
 

»Ok, ok«, murmele, pelle mich aus meiner Kapuzenjacke und halte sie ihr hin. »Gib mir zwei Minuten, ich besorg dir… ich bin gleich wieder da.«
 

Sie sieht vollkommen perplex aus, greift aber nach meiner Jacke und gibt einen kleinen Hicks von sich. Der Trick, seine eigene Panik zu überwinden ist, anderen Leuten zu helfen, die auch Panik haben. Bei mir funktioniert das immer.
 

Ich husche wieder ins Klassenzimmer, ignoriere Cems und Julius‘ fragende Blicke und fange an, in meinem Rucksack herumzuwühlen. Im kleinen Fach sind immer Tampons. Weil zwei meiner besten Freunde mitten in der Schule zum ersten Mal ihre Tage bekommen haben, hab ich mir angewöhnt, immer sowas mit mir herumzuschleppen.
 

Ich stopfe zwei der Tampons in meine Hosentasche und gehe wieder. Ich spüre, wie die Blicke mir folgen, aber jetzt habe ich die Panik eines anderen Menschen als Schild dabei. Ein Hoch auf Schlupflöcher in meinem eigenen Gehirn.
 

Feli hat sich meinen Kapuzenpulli um die Hüfte geschlungen, als ich den Abstellraum wieder betrete. Sie zuckt merklich zusammen, als ich eintrete. Auf meiner ausgestreckten, offenen Hand zeige ich ihr die Tampons. Sie guckt mich an, als wäre ich ein Geist.
 

»Ich hab zwei beste Freundinnen?«, sage ich unsicher. Es ist mir irgendwie klar, dass die meisten Jungs eher allergisch auf das Thema Periode reagieren, aber die meisten Jungs sind auch scheiße. Sie greift zögerlich danach und schnieft herzzerreißend.
 

»Danke«, sagt sie. »Das ist… es ist super peinlich.«
 

Ich mache einen Schritt zurück und mustere ihre Konstruktion mit meinem Kapuzenpulli.
 

»Man sieht nichts mehr«, versichere ich ihr. Sie hat den Knoten seitlich gebunden, sodass mein Pulli wie ein halber Rock ihren Schritt verdeckt. Feli dreht sich um und ich schaue, ob man von hinten noch irgendwas sehen kann.
 

»Hinten ist auch alles ok«, sage ich.
 

Sie seufzt schwer und nickt.
 

»Ok. Danke.«
 

Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Fiepsen. Dann wischt sie sich über die Augen und atmet ein paar Mal tief durch, bevor sie die Tampons in ihre Hosentasche gleiten lässt.
 

»Tamino… richtig?«, fragt sie dann. Ich nicke. Feli bringt ein Lächeln zustande und zieht die Schultern hoch, ehe sie Richtung Tür geht, um sich zur Toilette aufzumachen.
 

»Ich bring dir den Pulli irgendwann die Woche gewaschen mit«, verspricht sie peinlich berührt.
 

»Kein Stress«, sage ich mit einem halbem Lächeln und schiebe mir die Brille auf der Nase nach oben. Dann huscht Feli aus dem Raum und ich habe die Gelegenheit, ein wenig durchzuatmen.
 

Das ist eindeutig der seltsamste Schultag, den ich seit langem hatte.
 

Wie es sich herausstellt, wird es noch seltsamer. Leute bemerken natürlich, dass Feli diesen mysteriösen Kapuzenpulli mit sich herumträgt. Sobald Französisch losgeht und Herr Rosenheim die Anwesenheit überprüft, merke ich, dass die Mädchen tuscheln. Feli sieht verlegen aus, Julius verwirrt.
 

Er hat sich wieder neben mich gesetzt und ist jetzt damit beschäftigt, meine nackten Unterarme zu betrachten, als würde er darüber nachdenken, ob da vorher lange Ärmel drüber waren oder nicht. Allerdings bin ich recht sicher, dass er zu der richtigen Erkenntnis kommt, als Feli den Kapuzenpulli komplett überzieht. Weil ich so groß bin, ist der Pulli quasi ein Kleid für sie und man kann den Fleck auch weiterhin nicht sehen.
 

Aber dafür erkennt man jetzt auch eindeutig, dass dieser Kapuzenpulli mit großer Wahrscheinlich nicht ihr gehört.
 

»Sag mal, ist das nicht dein Pulli?«, fragt Julius verwirrt, während Herr Rosenheim in seiner Mappe nach irgendwelchen Folien und Ausdrucken kramt.
 

»Hmhm«, sage ich. Julius starrt mich an.
 

»Seit wann kennst du Feli?«, fragt er verwirrt.
 

»Seit ich hier zur Schule gehe?«, gebe ich unsicher zurück. Ich meine, es ist nicht wirklich gelogen. Julius schaut mich vollkommen verdattert an.
 

»Aber ich meine… seit wann kennst du sie so gut, dass du ihr deine Klamotten gibst?«
 

»Seit…vorhin«, erwidere ich ausweichend. Ich will Felis Problem nicht an die große Glocke hängen. Aber es starren mich schon wieder so viele Leute an – diesmal, weil Feli meinen Pullover hat. Was hab ich mir dabei gedacht, mich mit drei der beliebtesten Menschen im ganzen Jahrgang einzulassen? Ich muss vollkommen wahnsinnig sein.
 

Julius sieht offensichtlich ein, dass ich nicht auskunftsbereit bin und lässt das Thema fallen. Dafür schneidet er etwas anderes an, das mich direkt wieder in Aufregung stürzt.
 

»Kommst du nachher mit zum Training?«, will er wissen. Herr Rosenheim teilt einen Stapel Kopien aus und ich notiere geflissentlich das Datum oben rechts in der Ecke.
 

»Ich denke schon. Aber ich bin schon den ganzen Tag nah dran, eine Angstattacke zu kriegen, also gucke ich mal, wie es mir nachher geht«, gebe ich offen zu. Es ist befreiend, mit Julius über diese Dinge reden zu können. Er sieht sofort alarmiert aus und ignoriert die Kopien vor sich auf dem Tisch.
 

»Kann ich helfen?«, will er wissen.
 

Ich lächele schief.
 

»Nee«, antworte ich. Ich werde einen Teufel tun und ihm sagen, dass er bitte wieder Abstand halten soll, damit Leute aufhören mich anzuschauen. Das ist mein Problem und ich werde mich daran gewöhnen. »Aber danke.«
 

Ich hab ein Jahr ohne Freunde in diesem Höllenloch geschafft, dann schaffe ich auch ein Jahr mit Freunden.

Schritt für Schritt

Ich bin heute beim Training ein bisschen weniger aufgeregt als beim ersten Mal. Trainer ist begeistert mich zu sehen und Julius sieht bei weitem nicht so feindselig aus wie beim letzten Mal, als ich beim Training dabei war, also habe ich mehr Gelegenheit, mich umzuschauen, während wir zum Aufwärmen ein paar Runden um den Platz laufen.
 

Cem joggt munter neben mir her und hat es sich anscheinend zur Aufgabe gemacht, mir jeden Mitspieler beim Namen zu nennen und seltsame Details über sie zu erzählen - was tatsächlich ausgesprochen hilfreich ist, da ich mir all die Namen so viel besser merken kann.
 

Einige der Namen kenne ich natürlich schon. Leute wie Lennard, Konstantin oder Basti sind mir schon hier und da negativ aufgefallen, weswegen ich sie so gut meide, wie es geht. Leute, die ununterbrochen das Wort »Schwuchtel« durch die Gegend schreien, gehören nicht zu dem Kreis Menschen, mit dem ich mich umgeben möchte. Zu meiner Überraschung hat Cem diesbezüglich auch gleich eine Anekdote parat, während wir nebeneinander her laufen.
 

»Im Trainingscamp hab ich Konsti 'ne Ladung Kartoffelbrei ins Gesicht katapultiert, weil er dauernd Schwuchtel geblökt hat. Ich muss sagen, dass mir sein Gesicht nie besser gefallen hat.«
 

Ich notiere mir dieses zufrieden stellende Wissen über Cem und kann mir ein amüsiertes Schnauben nicht verkneifen.
 

Dadurch, dass ich dieses Mal weniger von meiner eigenen Panik abgelenkt bin, kann ich Julius ausgesprochen gut in seinem Element beobachten. Er ist beim Laufen damit beschäftigt, immer wieder neben anderen Mitgliedern seiner Mannschaft Schritt zu halten und sich mit ihnen zu unterhalten, sich über frühere Spiele auszutauschen und die kommenden Spiele zu besprechen. Als er neben Cem und mir herläuft, mustert er mich mit leuchtenden Augen und schafft ein schiefes Grinsen.
 

»Alles gut?«, fragt er. Ich nicke.
 

»Bei dir?«, will ich wissen. Ich denke, er weiß, was ich meine.
 

»Ich arbeite dran«, verspricht er. Ich nicke erneut und lächele ein wenig gequält. Cem rempelt Julius von der Seite an.
 

»Gute Arbeit, Kapitän!«, verkündet er überschwänglich und haut Julius so hart auf den Rücken, dass er ein wenig stolpert.
 

»Wichser«, mault Julius. Cem lacht und streckt einen Daumen in die Höhe.
 

»Arschloch«, erwidert er voller Zuneigung. Julius schnaubt grinsend, dann zieht er sein Tempo an und joggt etwas weiter vor, um mit Yousef und Adnan Schritt zu halten.
 

»Ihr habt eine sehr spezielle Art, eure Freundschaft auszudrücken«, sage ich amüsiert. Cem lacht und zuckt mit den Schultern. Sein Atem geht schon etwas schwerer als noch vor wenigen Minuten, aber er läuft stur weiter neben mir her. Ich mustere seine erstaunlich langen Wimpern. Er ist schon ein ziemlich hübscher Bursche.
 

»Wenn wir besoffen genug sind, umarmen wir uns auch mal«, versichert Cem mir bestens gelaunt und ich verdrehe die Augen. Wahrscheinlich erwähne ich es besser nicht, dass Julius durchaus glücklich über mehr Körperkontakt wäre. Die meisten Jungs sind was das angeht einfach komisch. Ich bin froh, dass Noah es nicht seltsam findet, wenn ich auf ihm drauf liege.
 

Weil ich so konzentriert bin, mich nicht zum Deppen zu machen, bekomme ich kaum etwas vom Rest des Trainings mit abgesehen von der Tatsache, dass Julius seine Mittelfeldposition wahnsinnig gut drauf hat und ich ihm liebend gerne stundenlang dabei zusehen würde, wie er seine Mannschaft übers Feld kommandiert.
 

Dieses Mal üben wir kein Elfmeterschießen, wofür ich dankbar bin, weil es letztes Mal im Desaster geendet hat und ich darauf keine Lust habe. Außerdem habe ich die Gelegenheit mit Julius zusammen in einer Mannschaft zu spielen, als wir ein kleines Trainingsspiel starten, das heißt, ich muss auch nicht darüber nachgrübeln, ob ich ihn eventuell ausboote.
 

Wenn ich irgendetwas nicht in meinem Leben will, dann ist es Rampenlicht, also halte ich mich so gut es geht zurück ohne wie ein kompletter Loser da zu stehen. Es macht mich zufrieden, von Julius Anordnungen zu bekommen und sie dann so gut ich kann auszuführen, zu sehen, wie ich damit Erfolg habe und dann Julius anzuschauen und festzustellen, dass er sich gut damit fühlt, eine sinnvolle Ansage gemacht zu haben.
 

Angeben liegt nicht in meiner Natur, aber Oli, der andere Stürmer, ist nicht besonders beeindruckend. Er ist auch nicht miserabel, aber ich habe das Gefühl, dass er in der Defensive besser aufgehoben wäre. Da er in diesem Trainingsspiel für die andere Mannschaft spielt, komme ich an mehreren Stellen dazu, gegen ihn zu laufen und…
 

Es ist ein bisschen wie mit Harrys Feuerblitz im Kampf gegen den nicht üblen aber auch nicht vergleichbaren Sauberwisch Sieben.
 

Trainer dreht insgesamt fünf Pirouetten und haut mir nach dem Training so heftig auf den Rücken, dass ich einen Hustenanfall bekomme. Dann bittet sie mich, der Mannschaft beizutreten, damit sie »den arroganten Saftsäcken aus Nordrhein-Westfahlen zeigen kann, wo der Hammer hängt«.
 

Nichts gegen Nordrhein-Westfahlen, da komme ich ursprünglich her. Aber ich kann auch nicht sagen, dass der Großteil meiner ehemaligen Mannschaftskameraden besonders bescheiden gewesen ist. Was mit den Mannschaften aus anderen Städten los ist, kann ich schlecht beurteilen. Meistens war ich bei wichtigen Spielen zu aufgeregt, um groß darauf zu achten, wie die anderen Mitspieler sich verhalten – und meinem Urteil ist bei solchen Dingen auch nur schlecht zu trauen.
 

»Ich, ah… denk drüber nach«, sage ich mit heftig klopfendem Herzen und immer noch leicht hüstelnd. Oli wirft mir im Vorbeigehen einen säuerlichen Blick zu und ich schrumpfe ein bisschen in mir zusammen.
 

»Trainer, seh ich da ein paar Tränen in deinen Augenwinkeln?«, fragt Cem amüsiert, als er zu mir aufschließt. Er ignoriert Oli vollkommen, wirft mir einen Arm um die Schultern – so gut es eben geht, wenn man so viel kleiner ist als ich – und grinst seine Trainerin breit an. Sie schnaubt und schnipst ihm gegen die Nase.
 

»Geh duschen, Frechdachs«, entgegnet sie, zwinkert mir zu und macht sich dann auf den Weg zu ihrer eigenen Umkleide. Ich kann sie gut leiden. Eine Frau, die kaum einen Meter sechzig groß ist und es schafft mit einer Gruppe von pubertierenden Halbstarken zusammenzuarbeiten und sie zum Spuren zu bringen, verdient jede Menge Respekt. Ich bin jedenfalls sehr beeindruckt.
 

In der Umkleide beobachte ich, wie Julius und drei andere der Jungs sich mit ihren getragenen Socken bewerfen und schüttele schnaubend den Kopf darüber. Ich höre zu, wie er sich mit Cem, Daniel und Yousef zum Döneressen verabredet und verabschiede mich leise, bevor ich aus der Umkleide husche.
 

*
 

Tamino

ich hab mich immer noch nicht getraut julius das geschenk zu geben…………………
 

Lotta

WHAT
 

Lotta

ABER ER WIRD ES LIEBEM!!!!
 

Lotta

*LIEBEN
 

Anni

definitiv. you can do it!
 

Noah

auf der feier willst du es ihm ja wahrscheinlich lieber nicht geben, wenn alle anderen auch da sind, oder?
 

Tamino

nee wirklich nicht… vielleicht den freitag davor? Wann kommt ihr nochmal an?
 

Anni

kurz nach acht, gleis vier
 

Lotta

gib ihm das geschenk! ES IST PERFEKT!
 

Tamino

ich sag euch bescheid ob ichs freitag geschafft hab >___<
 

Noah

wir denken an dich!
 

Lotta

<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3
 

*
 

Während ich normalerweise an jeder Ecke damit rechne, dass Menschen mich hassen, war ich irgendwo so abgelenkt von meinen Gedanken an Julius‘ Geburtstagsgeschenk, den Vorfall mit Feli, das nächste Training und die bald wieder startende Nachhilfe mit Julius, dass ich irgendwie aus den Augen verloren habe, dass Oli wegen mir jetzt plötzlich zum Loser Nummer eins in seiner Mannschaft auserkoren wurde.
 

Nicht, dass ich das beabsichtigt hätte und mich jetzt alle als Helden feiern. Aber sie waren schon recht beeindruckt und mussten feststellen, dass Oli als Stürmer nichts taugt. Das heißt, dass Oli mir jetzt offiziell die Schuld daran gibt, dass ein Teil seiner weniger netten Mannschaftskameraden ihn als Schnecke bezeichnen und ihn zu Wettrennen auffordern, bei denen sie dann gegen ihn wetten. Mit Geld oder Bier, je nachdem in welcher Stimmung sie sind.
 

Julius und Cem beteiligen sich dankenswerterweise nicht an diesem dämlichen Unfug, aber – und das überrascht mich nicht – Konstantin und Lennard sind ganz vorne mit dabei und haben Oli damit schon mehr als einmal auf die Palme getrieben.
 

Dummerweise richtet sich Olis Wut nicht hauptsächlich gegen Konstantin und Lennard, die offenkundig bekloppt sind und sich ein neues Hobby suchen sollten, sondern gegen mich.
 

Ich merke es erst am Mittwoch daran, wie er mich in Politik feindselig anstarrt und dann am Donnerstag beschließt, dass seine Misere nur dadurch gemildert werden kann, dass er mich kräftig im Gang anrempelt, während ich für Frau Lüske einen Stapel Bücher durch die Gegend trage. Das führt dazu, dass ich gegen die Wand zu meiner Rechten und die Bücher mit einem lauten Klatschen auf den Boden krachen.
 

Abgesehen davon, dass ich mich heftig erschrecke, fängt mein Herz unweigerlich an zu rasen, weil die Augen aller Anwesenden sich auf mich richten.
 

Na toll.
 

Meine Kehle wird trocken und ich möchte mich eigentlich gerne hinknien, um die Bücher aufzuheben, aber die Blicke der Leute und das verhaltene tuscheln und glucksen nagelt mich an der Wand fest. Bis eine Stimme mich aus meiner Starre reißt.
 

»Alter, Oli! Was soll der Scheiß?«
 

Mein erster Gedanke wandert automatisch zu Cem und Julius. Aber die Person, die sich vor mir aufbaut und die Hände in die Hüften stemmt, ist winzig, zierlich und hat einen sehr langen, braunen Pferdeschwanz, der beinahe bis zu ihrem Hintern reicht.
 

Während Oli so tut, als würde es ihm nichts ausmachen, dass eines der begehrtesten Mädchen aus dem Jahrgang ihn angepflaumt hat, kniet Feli sich mitten in den Gang und fängt an, die Bücher zusammenzusammeln. Ich folge ihr hastig auf den Boden.
 

»Danke«, nuschele ich. Feli wirft Oliver einen empörten Blick über die Schulter zu und ich sehe aus dem Augenwinkel, wie er sich aus dem Staub macht. Feli pustet sich ein paar lose Strähnen aus dem Gesicht und stapelt die restlichen Bücher in meinen Arm.
 

»Ich kann dir die Hälfte abnehmen«, meint sie und mustert den riesigen Stapel, der leicht in meinen Armen wankt, während ich aufstehe.
 

»Ähm«, sage ich geistreich, da mein Herz immer noch im Sprintmodus ist und so verhindert, dass ich kohärente Gedanken oder Worte formen kann.
 

Feli nimmt meine Antwort als Zustimmung und greift sich die obersten Bücher.
 

»Bibliothek?«
 

Ich nicke. Wir machen uns auf den Weg Richtung Bibliothek und ich denke darüber nach, ob ich das Fußballtraining nicht lieber schmeißen soll, damit Oli mich in Ruhe lässt.
 

»Ich hab deinen Pulli dabei«, sagt Feli mit einem verlegenen Lächeln. Wenn sie lächelt hat sie Grübchen in den Wangen. Ihre Augen sind wirklich riesig. Ich verstehe, wieso so viele Jungs aus dem Jahrgang hinter ihr her sind und das ganz abgesehen davon, dass sie eine Oberweite hat, die ihr vermutlich jetzt schon manchmal Rückenschmerzen beschert.
 

»Danke«, sage ich. Dann räuspere ich mich. »Auch für eben.«
 

Feli zieht die Schultern hoch und nickt.
 

»Kein Ding. Oli war total daneben«, gibt sie zurück und wir steigen die Wendeltreppe zur Bibliothek hoch.
 

»Verletzter Fußballerstolz«, erkläre ich etwas heiser und sie verdreht die Augen.
 

»Super dumm.«
 

»Ich glaube, er hatte Angst vor dir«, meine ich und Feli kichert.
 

»Ich glaube nicht. Er hatte eher Angst, dass er nie bei mir landen wird. Und das hätte sowieso nicht geklappt«, erwidert sie ungerührt und greift ihre Bücherladung nun mit einem Arm, um mit einer Hand an die Tür der Bibliothek zu klopfen und sie dann zu öffnen.
 

Wir nennen es Bibliothek, aber es ist eigentlich nur ein etwas größerer Klassenraum mit engen, unordentlichen Regalreihen, die mit Büchern vollgestopft sind und von einer sehr alten, ehrenamtlich arbeitenden Dame betreut werden, die oftmals vergisst ihr Hörgerät einzuschalten. Wir laden unsere Ladung Bücher bei ihr ab und sehen dabei zu, wie sie sie in ihrem handschriftlichen Ausleihregister einträgt, bevor sie uns entlässt.
 

»Wenn du kurz wartest, hol ich eben deinen Pulli. Wir sind jetzt in Raum 42«, sagt Feli, nachdem wir die Tür hinter uns geschlossen haben.
 

»Ok«, sage ich und folge ihr die Treppe hinunter und bis zu ihrem Klassenzimmer. Ich glaube, das könnte der Mathe-LK sein, wenn ich mir die Zusammensetzung der Leute anschaue. Alle sind irritiert, als sie mich im Türrahmen stehen sehen und als Feli den Pulli aus einer Tüte holt und zu mir geht, um ihn zurückzugeben, sind alle noch irritierter.
 

Ich flüchte mit einem hastigen »Danke«, bevor ich noch länger angestarrt werde und den Schultag vorzeitig abbrechen muss.
 

Während ich in Englisch sitze, schreibe ich Julius eine WhatsApp-Nachricht.
 

»Hey, meinst du, Feli kann am Samstag auch kommen?«
 

»Klar. Ich kann sie einladen ;)«
 

Ich lächele und kaue nervös auf meiner Unterlippe herum.
 

»Cool!«
 

*
 

Die Tatsache, dass meine Freunde auf Julius‘ Feier eingeladen sind – seine zweite Feier, die er extra deswegen ausrichtet, damit ich mitfeiern kann, weil er weiß, dass ich große Feiern nicht mag – mildert meine Angst vor dem Anlass ein wenig. Immerhin kommen Cem und Feli, zwei Leute, die zwar sehr nett sind, die ich aber nicht besonders gut kenne und die normalerweise eher zu der Sorte Leute gehören, von denen ich einen Sicherheitsabstand halten würde.
 

Zu allem Überfluss kommt auch noch Julius‘ Geschenk hinzu, das ich ihm am Donnerstag immer noch nicht gegeben habe, obwohl Samstag die Feier ist und ich es ihm nicht vor allen anderen geben will. Seitdem ich es gemacht habe, debattiere ich ununterbrochen mit mir selber, ob ich nicht lieber alles über den Haufen werfen und einen Kinogutschein und eine Kiste Bier kaufen soll, weil das womöglich eher den Geschenken entspricht, die Julius sich vorstellt.
 

Aber ich glaube, meine Freunde würden mich sehr streng ansehen, wenn ich das nicht durchziehe, immerhin haben sie alle tatkräftig mitgeholfen.
 

Deswegen stehe ich am Freitagabend vor Julius‘ Haustür, nachdem ich ihn gefragt habe, ob ich kurz vorbeikommen kann, um ihm sein Geschenk zu bringen. Jetzt habe ich Herzrasen und schwitzige Hände, während ich das kleine Paket mit der linken Hand umklammere und mit der rechten auf den Klingelknopf drücke.
 

Die Karte, die ich für Julius geschrieben habe, ist so dicht bekritzelt, dass ich mich frage, ob er es überhaupt lesen kann. Aber ich hatte erstaunlich viel darüber zu sagen, wie dankbar ich ihm bin, weil er das Leben hier erträglicher für mich gemacht hat und ein grandioser Freund ist.
 

Als die Tür summt, um mich einzulassen, zucke ich so heftig zusammen, dass ich beinahe das Geschenk fallen lasse. Mari ist diejenige, die oben wartet.
 

»Juls ist noch duschen, um sich für die Party nachher fein zu machen«, sagt sie grinsend zur Begrüßung. »Wir haben Muffins, falls du dich beim Warten stärken möchtest.«
 

Ich folge Mari in die Küche, wo auch Linda sitzt, der Mund voller Krümel und mit einem zufrieden verträumten Lächeln auf dem Gesicht.
 

»Hey Tamino«, sagt sie, nachdem sie ihren Bissen geschluckt hat und bevor sie sich einen weiteren Muffin greift. Eigentlich bin ich zu aufgeregt, um irgendwas zu essen, aber ich will aus Höflichkeit nicht ablehnen, also nehme ich einen Muffin und knabbere nervös daran herum.
 

»Bei wem feiert er denn heute Abend?«, frage ich abwesend und breche ein kleines Stück Muffin ab, ehe ich es mir in den Mund stecke.
 

»Ich glaube bei Marcel. Er hat auch hoch und heilig versprochen nicht so viel zu saufen, damit er morgen Abend wieder fit ist«, meint Mari und gibt Linda einen Kuss auf die Stirn. Wenn ich irgendwann mal einen Freund haben sollte, dann möchte ich auch so ein Pärchen werden wie die beiden.
 

Ich schnaube.
 

»Ich glaube nicht, dass das klappt«, sage ich und schaffe ein halbes Lächeln. Mari gluckst.
 

»Ich auch nicht. Wenn er mit Cem unterwegs ist, dann ist keine Flasche Bier sicher.«
 

»Lästert ihr über mich?«, ertönt Juls Stimme vom Türrahmen her und da steht er mit klatschnassen Haaren und lediglich einer Jeans bekleidet. Ich muss ein paar Mal tief durchatmen, weil ich eben doch auch nur ein schwuler Typ bin, der hübsche Männer zu schätzen weiß.
 

Und Julius ist definitiv hübsch.
 

»Ja. Jeden Tag mindestens dreimal«, sagt Mari ernst. Julius schnaubt und wirft mit dem Hand nach ihr, das er gerade verwenden wollte, um sich die Haare zu trocknen.
 

»Wir haben nur festgestellt, dass du wahrscheinlich nicht nüchtern nach Hause kommen wirst«, erkläre ich wahrheitsgemäß. Das Päckchen in meiner Hand wiegt fünfhundert Tonnen, während Julius mir die Zunge heraus streckt. Dann fliegt das Handtuch zurück und landet in seinem Gesicht. Mari lacht, Linda kichert und ich schnaube amüsiert, während Julius sich daraus befreit und dann in sein Zimmer verschwindet.
 

Ich winke Linda und Mari und folge ihm.
 

»Wer ist Marcel?«, will ich wissen, während ich mich auf Julius‘ Bett werfe und ihn dabei beobachte, wie er seine Haare trocknet und das Handtuch dann in die nächstbeste Ecke wirft. Er sieht jetzt aus wie ein Besen.
 

Ein hübscher Besen.
 

»War früher in meiner Klasse, bevor er sitzen geblieben ist«, erklärt Julius und steckt seinen Kopf in den Kleiderschrank, um sich ein Oberteil auszusuchen. Ich versuche unterdessen, nicht allzu sehr seine Rückenmuskeln zu betrachten. Freunde sollten sich wenn möglichst nicht begeiern. Ich seufze und starre stattdessen auf das Päckchen.
 

»Bevor ich eine Panikattacke kriege, muss ich dir dieses Paket geben«, platzt es aus mir heraus und Julius zieht seinen Kopf aus dem Schrank, ein kariertes, kurzärmeliges Hemd in den Händen und mit einem alarmierten Gesichtsausdruck.
 

»Meine Fresse«, sagt er und wirft das Hemd zur Seite, kommt zum Bett und entwindet mir das Paket.
 

»Tief durchatmen!«, sagt er, legt die Karte beiseite und reißt so schnell das Papier auf, dass ich überhaupt keine Zeit habe, noch nervöser zu werden.
 

Seine Augen werden rund wie Teller, als er die CD betrachtet, die er in den Händen hält.
 

»Also, eigentlich ist das alles Lottas Schuld«, versuche ich zu erklären, während er die CD umdreht und die Titelliste betrachtet, die dort zu finden ist. Mixtapes sind eine Sache aus den Neunzigern, wie ich versucht habe einzuwenden, aber Lotta hat darauf bestanden, dass Julius dringend etwas Persönliches geschenkt kriegen sollte – und was gibt es persönlicheres, als fünfzehn Lieder für jemanden zu singen und dann auf CD zu brennen?
 

»Ich, ah… es… also, eine Katze ist wirklich kaum zu toppen«, krächze ich mit immer noch hämmerndem Herzen, während Julius die CD beiseitelegt und jetzt nach der Karte greift, das Star Trek Motiv auf der Vorderseite mit einem Schmunzeln bedenkt und dann umdreht, um zu lesen.
 

Ich beobachte seine Mimik sehr genau und wische so unauffällig wie möglich meine Hände an meiner Shorts ab. Julius‘ Ohren und Wangen werden sehr rot und ich sehe wie er im Laufe des Textes anfängt, auf seiner Unterlippe herum zu kauen. Mein Herz fühlt sich gleichzeitig sehr groß und sehr leicht.
 

»Alter, ich kann da jetzt nicht mal reinhören, weil ich gleich los muss«, sagt er vorwurfsvoll und mit hochrotem Kopf, als er die Karte zur Seite legt und mich anstarrt. Ich fahre mir durch die Haare, die schon wieder recht lang geworden sind. Früher hat meine Mutter sich um meine Haare gekümmert, weil die meisten weißen Friseure mit Afros nichts anfangen können.
 

»Ähm… sorry?«, krächze ich. Im nächsten Moment habe ich den Arm voller Julius und strauchele hinten über. Er landet auf mir und seine nassen Haare kitzeln mich im Gesicht.
 

»Danke«, nuschelt er irgendwo in der Nähe meiner Wange und ich seufze erleichtert. Er findet es nicht total beknackt. Die Stimmen meiner Freunde in meinem Kopf sagen: Natürlich findet er es nicht beknackt, Tamino.
 

»Bedank dich nicht zu früh. Lotta hat die Songauswahl getroffen und es ist jede Menge Pop dabei«, gebe ich mit zittriger Stimme zurück.
 

»Ich komm klar. Kann ja nach jedem Lied ein bisschen Gangsta-Rap zur Beruhigung hören«, sagt Julius und ich höre das Grinsen in seiner Stimme. Ich bin nicht sicher, wo ich meine Hände hinpacken soll. Ja, ich hatte meine Finger schon unter Julius‘ Shirt. Aber jetzt kommt es mir irgendwie anders vor, während er so halbnackt auf mir drauf liegt. Julius nimmt mir die Entscheidung ab, indem er sich aufrappelt und nach der Karte und der CD greift, um sie fein säuberlich auf seinen sehr unordentlichen Schreibtisch zu legen.
 

Ich werfe einen Blick auf das Chaos.
 

»Nächste Woche geht’s mit Nachhilfe weiter. Bis dahin solltest du das alles schön sortiert haben«, sage ich und versuche streng zu klingen, aber Julius betrachtet immer noch sein Geschenk und seine Augen funkeln zufrieden und ich fühle mich sehr flauschig. Und mir ist warm.
 

Julius grummelt leise und wirft die Hände in die Luft, ehe er nach seinem Hemd greift und anfängt, es zuzuknöpfen.
 

»Nächste Woche ist nächste Woche. Das ist ein Problem für Sonntagsjulius«, sagt er. Dann merkt er, dass er falsch geknöpft hat und ich lache ihn aus, während er leise fluchend alles wieder öffnet und neu knöpft.
 

Ich freue mich auf morgen.

Duette

Meine Mutter hat freundlicherweise angeboten, den Großteil des Alkohols für meine zweite Geburtstagsfeier zu bezahlen. Ich habe die starke Vermutung, dass sie sich freut, weil ich diese Feier extra für Tamino ausrichte und sie ihn wirklich gut leiden kann. Manchmal habe ich die dumpfe Vermutung, dass sie den Braten schon riecht und ahnt, dass Tamino derjenige ist, in den ich mich verknallt habe.
 

Während ich versuche, so viele Flaschen in den Kühlschrank zu stopfen wie möglich ist, ohne angebrochene Milchpackungen und Jogurts vollständen zu verdrängen, räumt Mari ihr Zimmer auf, in dem das ganze Spektakel stattfinden soll. Ihr Zimmer ist größer als meins und ich vermute, dass wir ohnehin alle auf dem Boden sitzen werden.
 

Mama hat angeboten für die Nacht auszuwandern, aber da ich – vielleicht mit Ausnahme von Cem, der sich in dieser Gesellschaft hoffentlich anständig benimmt – keine Raudies eingeladen habe, haben Mari und ich beschlossen, dass sie nicht ausziehen muss. Hoffentlich bereue ich das später nicht.
 

Ich bin merkwürdig aufgeregt, was ich definitiv noch nie vor einer Feier war. Aber meine Feiern sind meistens entweder sehr groß oder reine Saufgelage mit Leuten aus meiner Mannschaft. Jetzt plötzlich frage ich mich, ob Tamino und seine Freunde vielleicht irgendwelche Unterhaltung erwarten und ich mir Gedanken um Partyspiele oder so einen Schmu hätte machen sollen.
 

Allerdings ist es dafür jetzt auch zu spät. Ich habe es geschafft, mich nach dem gestrigen Absturz so gut es geht wieder zu fangen. Cem und ich haben unseren Vorsatz, nicht zu viel zu saufen, leider grandios verfehlt und so viel getrunken, dass wir insgesamt dreimal aufeinander gefallen sind, als wir uns darum gestritten haben, wer zuerst aufs Klo gehen darf.
 

Dann haben wir versucht mit Apfelsaft und Hefe Bier herzustellen, was Marcel nur so mittelmäßig witzig fand, weil wir die halbe Küche vollgesaut haben. Ich fürchte, dass wir erst mal länger nicht mehr eingeladen werden. Das Beste am Abend war, dass Cem irgendwann angefangen hat männliche Berühmtheiten zu googlen, die er gut findet und sie mir unter die Nase gehalten hat, damit ich sie bewerte.
 

Als ich sturzbesoffen nach Hause kam, hab ich Taminos Geschenk in meine Anlage geworfen – da war es in etwa halb vier Uhr morgens. Vorsichtshalber hab ich Mari mein Handy ins Zimmer geworfen und nachdem sie mich angefaucht hab, weil ich sie aufgeweckt habe, hat sie mein Handy einfach hinter ihr Bett fallen lassen.
 

Eine erstaunlich sinnvolle Idee von mir, weil ich, sobald der erste Ton aus meiner Anlage kam, liebend gern schmachtende Nachrichten an Tamino geschrieben hätte. Was dann dazu geführt hätte, dass ich mich heute leider aus dem Fenster hätte stürzen müssen. Vor lauter Scham.
 

Ich bin zum Klang von Taminos Stimme eingeschlafen und morgens wieder aufgewacht, weil ich in meinem Alkoholdunst die Anlage auf Repeat gestellt habe und sie einfach die ganze Nacht durch lief. Morgens durfte ich mich von Mari auslachen lassen, weil sie morgens die Musik durch meine Tür gehört und Taminos Stimme erkannt hat.
 

Geschwister sind schon was ganz Besonderes.
 

Mari und ich gehen zusammen einkaufen und besorgen jede Menge Chips und anderes Knabberzeugs. Mari besteht auf einen Berg Tiefkühl-Minipizzen, weil sie meint, dass alle super hungrig sein werden, wenn sie erst mal angefangen haben zu trinken. Wahrscheinlich hat sie damit recht. Ich bin einfach nicht so der Bomben-Gastgeber.
 

Linda kommt schon am späten Nachmittag und sie und Mari überreden mich dazu, ihnen die CD vorzuspielen, die Tamino mir geschenkt hat.
 

Es ist weniger schlimm als ich gedacht habe, weil beide einfach nur mit offenem Mund zuhören und keine dummen Kommentare in meine Richtung machen, was ich sehr zu schätzen weiß. Diese ganze Sache mit den Gefühlen ist schon fürchterlich genug, da muss ich es nicht noch alle zwei Minuten aufs Brot geschmiert bekommen.
 

Ich frage mich schon die ganze Zeit, wie es dazu gekommen ist, dass Tamino nach Feli gefragt hat – die übrigens freudestrahlend zugesagt hat, als ich sie eingeladen habe. Jetzt sind Feli und Cem die einzigen aus meinem Jahrgang, die zu meiner Feier kommen und ich frage mich, ob das Feli den falschen Eindruck vermittelt, dass ich sie auf diese gewisse Art und Wiese gut finde. Immerhin haben wir jetzt schon zweimal miteinander rumgemacht.
 

Aber sie hat bisher nie irgendwelche Andeutungen darüber gemacht, dass sie an irgendwas anderem interessiert wäre.
 

Vielleicht frage ich die beiden nachher mal, wie sie sich kennengelernt haben. Mit Taminos Pulli ist sie schließlich auch schon rumgelaufen. Vielleicht steht sie auch auf Tamino? Warum stehen alle Leute auf Tamino? Ich meine, ich weiß warum, aber warum muss ich mich damit rumschlagen und deswegen regelmäßig unangenehme Eifersuchtsanfälle bekommen – zum Beispiel wenn Cem ihn ansieht, als würde er ihn gerne ausziehen und Schlagsahne von ihm herunter essen.
 

Ugh.
 

Verliebtsein ist anstrengend und ich könnte gut und gerne darauf verzichten.
 

Mari hat mir geraten, es Cem zu erzählen, damit er Abstand von Tamino nehmen kann, was er mit Sicherheit tun würde. Aber ich denke mir, dass Taminos Beziehung zu Lotta da ja eigentlich ausreichen müsste – wobei Cem natürlich der festen Überzeugung ist, dass Tamino keine Beziehung hat und schwul ist.
 

Ich frage mich gerade, was ich machen soll, falls Feli zuerst kommt und sie dann hier alleine ist, als es an der Tür klingelt. Mari öffnet, während ich noch nach Schalen für Chips und Salzstangen im Wohnzimmer herumkrame und ich höre mehrere Stimmen im Flur.
 

Phew.
 

Wie es sich herausstellt, haben sich Feli und Taminos Gruppe vor der Tür getroffen und Feli ist direkt in ein Gespräch mit Lotta vertieft, die heute ein Shirt mit der Aufschrift »Wicked« trägt, was wohl auch Gegenstand der Unterhaltung ist. Soviel zur Sorge, dass Feli sich vielleicht ein bisschen fehl am Platz fühlt. Linda macht ihr direkt ein Kompliment zu ihren Schuhen und das Eis, von dem ich gedacht hätte, dass es vielleicht gebrochen werden muss, scheint schlichtweg nonexistent zu sein.
 

Tamino umarmt mich zur Begrüßung, was mir einen Haufen Schmetterlinge im Bauch beschert. Mari beobachtet uns und ich hoffe, dass sie nicht jeden Augenblick anfängt zu schmunzeln. Auch Feli sieht recht interessiert aus. Allerdings werde ich im Nächsten Moment auch von Taminos Freunden umarmt und ich weigere mich, mir weitere Gedanken darüber zu machen.
 

»Wir haben jede Menge Knabberzeugs, Pizza für später und jede Menge Alk«, verkündet Mari, nachdem sie alle Gäste in ihr Zimmer verfrachtet und Musik eingeschaltet hat.
 

»Es gibt auch Rum«, erkläre ich Tamino. Er grinst mich an und zeigt mir zwei Daumen nach oben.
 

»Dann hätte ich gerne Rum«, gibt er zurück und angelt sich eine Tüte Chips. Was zum Geier ich eigentlich mit seinen Unterarmen habe, kann ich nicht genau erklären, aber ich muss sie immerzu anstarren.
 

»Irghs, trinkst du den pur?«, fragt Feli und verzieht das Gesicht.
 

»Jap. Meistens.«
 

»Ich möchte irgendwas Süßes«, sagt Feli und schüttelt sich beim Gedanken an Rum pur.
 

»Wir haben Hugo und Baileys«, verkündet Mari.
 

»Baileys!«, rufen Linda und Feli gleichzeitig und ich verschwinde in die Küche, um die Bestellungen zu besorgen. Während mein Kopf im Kühlschrank steckt, klingelt es erneut. Das wird dann wohl Cem sein, denke ich mir, und ja. Ich höre seine Stimme im Flur, als er meine Schwester begrüßt.
 

»Der wichtigste Gast kommt immer zum Schluss!«
 

Ich schnaube und angele nach dem Rum, der irgendwo hinterm Bier vergraben ist. Als ich mit dem Arm voll Alkohol zurück in Maris Zimmer komme, hat Cem sich sehr enthusiastisch neben Tamino gesetzt und vollkommen ungeniert einen Arm um ihn gelegt. Innerhalb von anderthalb Minuten hat er es irgendwie geschafft, direkt aufs Thema Fußball zu kommen und davon zu schwärmen, wie Tamino so schnell rennen kann, dass man ihn nur als roten Schleier vorbei flimmern sieht.
 

Ich versuche geflissentlich das unangenehme Ziehen in meiner Magengegend zu ignorieren, das sich dort beim Anblick von Cem und Tamino breit macht und setze mich zwischen Lotta und Feli während die verschiedenen Parteien sich einander vorstellen. Ich reiche Cem, Mari und Anni ein Bier. Noah trinkt nichts, sondern knabbert an ein paar Salzstangen herum. Er hat wieder seine Gitarre dabei und ich frage mich, ob er die einfach überall mit hin nimmt.
 

Die Vorstellung, dass Tamino irgendwas singen könnte, während Cem zuhört macht mich absolut ungesund eifersüchtig und ich würde am liebsten meinen Kopf gegen die Wand hauen. Eifersucht ist ein scheußliches Gefühl und nicht nur, weil es sich unangenehm anfühlt, sondern auch, weil ich keinerlei Recht habe besitzergreifend zu werden.
 

Was für ein Scheiß.
 

Ich bin erstaunt, wie gut diese zusammengewürfelte Runde funktioniert. Cem, Linda und Feli tauschen Geschichten über ihre zahllosen Geschwister aus, – Linda gewinnt mit sechs Geschwistern, Cem folgt mit vier und Feli bildet mit drei Geschwistern das Schlusslicht, aber ich bin doch recht froh, dass ich nur eine Schwester habe – Noah und Mari unterhalten sich über Musik und ich quatsche mit Anni und Lotta über verschiedene Wege, bei Klausuren zu bescheißen.
 

»…und dann hatten wir die geile Idee, Bier selber zu machen«, höre ich Cem erzählen und vergrabe mit einem Stöhnen mein Gesicht in den Händen.
 

»Mit… mit Hefe und Apfelsaft?«, wiederholt Tamino ungläubig, als wäre es das bekloppteste, was er jemals in seinem Leben gehört hat. Cem grinst sehr zufrieden und ich komme nicht umhin zu bemerken, wie dicht er bei Tamino sitzt. Unweigerlich werfe ich einen Blick zu Lotta hinüber, aber sie ist damit beschäftigt, sich mit Mari und Feli über Musik zu unterhalten.
 

Wenn sie nicht eifersüchtig ist, sollte ich zum Henker noch mal erst recht nicht eifersüchtig sein.
 

»Es war grandios. Bis Juls fast alles auf dem Boden verteilt hat, weil er so voll war.«
 

»Alter, du warst genauso dicht! Wenn du dich nicht an mir festgehalten hättest–«
 

»Es war nur ‘ne leichte Störung in der Feinmotorik!«
 

»Alter, du bist über eine eingebildete Teppichfalte gestolpert, weil du zu viel gekifft hattest! Kein Schwein hat Teppich in der Küche!«
 

Cem lacht ausgelassen über seine eigene Großartigkeit und ext sein Bier.
 

»Wenn ich mich recht erinnere, hast du auch laut gerufen, dass ich dich retten soll«, sage ich amüsiert und er zeigt mir gönnerhaft den Mittelfinger, bevor er nach einem neuen Bier verlangt.
 

»Es war ein heldenhafter Moment«, sagt Cem bestens gelaunt und hebt seine Arme in einer Siegerpose.
 

»Hey Noah, wofür ist die Gitarre?«, höre ich Feli neben mir flüstern – auf diese Art flüstern, die man anwendet, wenn man laufende Gespräche nicht unterbrechen will, aber auch eigentlich etwas lauter sprechen muss, um quer durch den Raum zu dringen. Noah grinst.
 

»Wenn Tamino noch ein oder zwei Gläser Rum mehr trinkt, können wir vielleicht was singen«, antwortet er gedämpft. Die Diskretion verpufft als Feli einen Quietschlaut von sich gibt und mich aufgeregt schüttelt, während sie Tamino anschaut.
 

»Oh mein Gott, du kannst singen?«, will sie wissen. Cem hebt interessiert die Brauen und pausiert seinen Bericht darüber, wie ich hackedicht in diesen Hortensienbusch gefallen bin, als wir auf Freizeit waren. Tamino sieht ausgesprochen verlegen aus, als alle ihn mustern, obwohl die meisten hier ja ohnehin schon wissen, dass er singen kann – Linda und Mari wissen es spätestens seit sie mich gezwungen haben, ihnen die CD vorzuspielen.
 

Nur Cem und Feli wussten es nicht.
 

»Ähm… ein bisschen?«, sagt Tamino und klingt ein wenig heiser. Ich sehe zu, wie er nervös sein Glas in den Händen dreht und es im nächsten Moment in einem Zug leert.
 

»Pf, ein bisschen«, sage ich und schüttele den Kopf.
 

»Er singt auf Anfrage auch Musicals«, erklärt Lotta verschwörerisch und Feli sieht aus, als wären ihre kühnsten Träume wahrgeworden.
 

»Ich singe auch. Ein bisschen«, ruft sie ausgelassen, rappelt sich von ihrem Platz hoch und scheucht kurzerhand Cem zur Seite, der ziemlich empört aussieht, aber sich nicht gegen ihren Enthusiasmus wehren kann oder will, als sie sich neben Tamino setzt und ihn aus nächster Nähe aus ihren riesigen braunen Augen anschaut.
 

»Kennst du Moulin Rouge?«, fragt sie, was Cem ein angestrengtes Stöhnen entlockt und ihn dazu verleitet, seine halbe Flasche Bier auf ex zu leeren. Tamino kratzt sich verlegen am Hinterkopf.
 

»Wenn man mit Lotta zusammen ist, kommt man um solche Filme kaum herum«, gibt er zurück und Lotta deutet eine Verbeugung an, als wären Taminos Worte als Kompliment gedacht gewesen.
 

»Darf ich dir Rum nachschenken?«, fragt Feli strahlend und ich lache prustend, während Tamino hilflos und verlegen dabei zusieht, wie Feli ihm ein sehr volles Glas Rum einschenkt und es ihm in die Hand drückt.
 

Die nächsten fünf Minuten listet Feli Lieder auf, von denen sie wissen möchte, ob Tamino sie kennt und singen kann. Die meisten davon sind Balladen und ich glaube, ich muss sterben, wenn Tamino nicht nur singt, sondern auch noch eine Ballade singt, während Cems Augen auf ihm ruhen wie sie das schon den ganzen Abend tun. Lotta und Tamino machen keine Anstalten Cem irgendwie zu verstehen zu geben, dass sie ein Paar sind, was meine Hoffnung zerstört, das Cem in naher Zukunft mit seinen Baggerversuchen aufhört.
 

Und als Noah auch noch aufrutscht, damit Cem auf Taminos anderer Seite Platz hat, ist das verwirrende Bild komplett. Da sitzt er nun zwischen Cem und Feli, beide eindeutig hingerissen von ihm – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – und ich hocke ihm gegenüber und schmachte wie der letzte erbärmliche Trottel sein schiefes, nervöses Lächeln und seine geknackten Unterarme an.
 

Was zum Henker hab ich eigentlich mit seinen Unterarmen?
 

Ugh.
 

»Die beiden sind so süß«, sagt Lotta leise zu mir, während ihre Augen an Tamino hängen.
 

»Wer?«, frage ich verwirrt und öffne mir eine neue Flasche Bier.
 

»Cem und Feli. Es macht mich immer ganz glücklich wenn Leute Tamino angucken, als würde ihm die Sonne aus dem Hintern scheinen«, erwidert sie und seufzt zufrieden. Prinzipiell würde ich ihr zustimmen, wenn nicht dieses hässliche gelbe Monster in meinem Brustkorb wohnen würde, das ungefragter Weise grummelt und faucht.
 

Wieso genau ich eigentlich eifersüchtiger auf Cem bin als auf Lotta, kann ich allerdings nicht wirklich erklären.
 

Wie es sich herausstellt, braucht Tamino in der Tat noch zwei Gläser Wein mehr, bevor er sich bereit erklärt, ein Lied von Ed Sheeran und Beyoncé mit Feli zu singen. Cem vergräbt zuerst das Gesicht in den Händen, als Noah die ersten Akkorde anstimmt, aber als Tamino anfängt zu singen, taucht er wieder auf und starrt ihn an, als wäre er hypnotisiert.
 

Lotta legt ihren Kopf auf meine Schulter, während sie Noah, Tamino und Feli beobachtet. Feli schunkelt leicht im Takt der Musik, während sie auf ihren Einsatz wartet. Das Ganze wird noch schlimmer für mich, weil es ein schnulziges Liebeslied ist und Feli und Tamino sich beim Singen die ganze Zeit anschauen, während sie darüber singen, wie sie sich schon als Kinder verliebt haben und später eine Familie gründen wollen.
 

Wow.
 

Ein sehr bitterer Teil meines Gehirns – der Teil, der direkt mit dem gelben Monster in meiner Brust gekoppelt ist – flüstert »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«. Aber da ich versuche, das gelbe Vieh zu ersticken, achte ich nicht darauf und versuche mich auf die Musik zu konzentrieren.
 

Feli kann ebenfalls erstaunlich gut singen. Sie ist natürlich keine Beyoncé – wer ist das schon – aber sie harmoniert ziemlich gut mit Tamino und sieht so glücklich aus, dass sie einen Jungen gefunden hat, der mit ihr schmalzige Liebeslieder singt, das es mir direkt wieder leid tut, dass ich mich so missgünstig fühle.
 

Lotta verlangt ein Lied aus Moulin Rouge – ein Film, den ich nie gesehen habe, aber zu meinem Erstaunen verkündet Cem, dass er ihn kennt.
 

»Woher kennst du so ‘nen Film?«, will ich verwirrt wissen. Cem wirft Feli einen kurzen Blick zu, den ich nicht deuten kann, zumindest nicht, bis ich seine Antwort höre.
 

»Also erst mal hab ich drei Schwestern, Alter«, meint er und grinst mich mit seltsam leuchtenden Augen an, »und außerdem ist Ewan McGregor ziemlich geil.«
 

Ich blinzele erstaunt und sehe meine Überraschung in Taminos Gesicht gespiegelt. Feli legt den Kopf schief und mustert Cem einen Augenblick lang, dann huschen ihre Augen hinüber zu Mari und Linda, die schon seit ungefähr zwei Stunden Händchen halten und dann – und ich weiß nicht genau, wieso – zu mir herüber.
 

Sie sagt allerdings nichts, sondern wendet sich im nächsten Moment schon wieder Tamino zu.
 

»Come what may?«, fragt sie hoffnungsvoll. Cem stöhnt schon wieder, aber ich sehe in seinem Gesicht, dass es ihm nicht wirklich etwas ausmacht. Lotta klatscht begeistert in die Hände und ich höre Mari sagen:
 

»Ich krieg gleich Zahnweh, so süß sind sie alle.«
 

Ich spüre ihren Blick auf mir, aber ich erwidere ihn absichtlich nicht und schiebe mir eine Handvoll Chips in den Mund, während ich einem weiteren Liebeslied lausche, bei dem Lotta tatsächlich ein paar Tränen verdrückt. Ich kann genau sehen, dass Tamino an diesem Punkt in seinem Alkoholkonsum angekommen ist, wo seine Angst arg gelindert und seine Hemmschwellen weit gesunken sind.
 

Als Cem sich schlichtweg gegen seine Schulter lehnt, passiert einen Herzschlag lang nichts, bis Tamino seinen Arm um ihn legt.
 

Ich werfe Lotta einen raschen Blick zu und sie grinst so breit, dass ich mich frage, ob Cem nicht vielleicht doch recht hatte, als er meinte, dass Tamino keine Freundin hat. Cems Gesichtsausdruck sieht unheimlich zufrieden aus. Ich frage mich, ob er einfach nur scharf auf Tamino ist, oder ob er mehr von ihm will. Vielleicht ist er ja verknallt? Hätte er mir das wohl erzählt?
 

Als das Lied zu Ende ist, tippt Cem Tamino an. Ich höre nicht, was er ihm ins Ohr flüstert, aber Tamino zögert kurz und nickt dann, ehe er aufsteht und Cem aus dem Zimmer folgt. Annis lautes Pfeifen ist nicht besonders ermutigend.
 

»Spiel irgendwas weniger schmalziges, ich muss mich erst mal erholen von all dem Zucker«, sagt Mari zu Noah. Feli kommt zu mir herüber und hockt sich vor mich.
 

»Deine Freunde sind großartig«, flüstert sie mir verschwörerisch zu. Ich schaffe ein Lächeln und ein Nicken. Dann leere ich mein Bier, esse drei weitere Chips und stehe auf.
 

»Bin eben im Bad«, sage ich und verlasse das Zimmer, nicht ohne die Tür vorsichtig hinter mir zu schließen. Noahs Gitarrenspiel dringt bis in den Flur und ich sehe mich kurz um, ehe ich meine eigene, halb angelehnte Zimmertür ins Visier nehme. Da hier kein Licht brennt, glaube ich nicht, dass irgendwer in einem angrenzenden Zimmer mich bemerken würde und ich kann nicht umhin mich wie ein Spanner zu fühlen, als ich zwei Schritte auf meine Tür zugehe und vorsichtig hinein blicke.
 

Ich bin nicht sicher, was ich eigentlich erwartet habe, aber mein Herz macht einen mächtigen Satz in meine Kehle, als ich die beiden entdecke. Tamino sitzt auf dem Sessel, in dem er auch das erste Mal saß, als er hier in unserer Wohnung war und Cem hockt rittlings auf seinem Schoß. Die beiden knutschen so heftig miteinander, dass mir ganz heiß wird.
 

Ich habe bisher nur hier und da mit Cem über seine Vorlieben geredet, aber ich weiß, dass er – zumindest was Männer angeht – eigentlich gerne… passiv ist. Ich hab ihn auch schon mit Mädchen rummachen sehen, aber solche Geräusche, wie die, die er jetzt macht, hab ich noch nie von ihm gehört.
 

Tamino hält Cems Gesicht in beiden Händen, während Cem die Finger beider Hände vorne in Taminos Shirt vergraben hat, als müsste er sich irgendwo Halt suchen – ein Gefühl, dass ich beim Gedanken daran, mit Tamino zu knutschen, durchaus verstehen kann.
 

Die Art, wie Cems Unterkörper sich gegen den von Tamino bewegt, lässt mir die Röte ins Gesicht schießen und Tamino sieht aus, als hätte er sowas schon hundert Mal getan. Ich sehe im Dämmerlicht einer Straßenlaterne von außen wie sein Daumen über Cems Wange streichelt und wie er seine andere Hand dazu benutzt, Cem näher zu sich heranzuziehen.
 

Cem sieht aus, als würde er jeden Augenblick auf Taminos Schoß schmelzen.
 

Er wimmert als Taminos Hand ein Stück tiefer rutscht und auf seinem Hintern zum Liegen kommt und zu meinem grenzenlosen Entsetzen spüre ich, dass meine Jeans eng wird. Meine Eifersucht hat sich offenbar fürs Erste aus dem Staub gemacht und einer mir bislang vollkommen ungeahnten Erregung Platz geschaffen, die mich schwer schlucken lässt.
 

Fuck, fuck, fuck.
 

Es ist, als könnte Cem meine Gedanken lesen, weil er den Kuss im nächsten Augenblick unterbricht und »Fuck, fuck, fuck« keucht. Sein Unterkörper hat nicht aufgehört sich zu bewegen und verdammt, ich will unbedingt so auf Taminos Schoß sitzen. Ich will ihn unbedingt küssen. Und ich will sehr dringend, dass seine langen Finger sich in meine Shorts schieben und–
 

»Dude, ich mach ‘ne Sauerei, wenn wir nich‘ aufhören«, murmelt Cem kaum hörbar. Ich sehe, wie Taminos Gesicht sich zu einem Grinsen verzieht – ein Grinsen, das elektrische Impulse direkt in meine Körpermitte schießen lässt. Fuck. Ich sollte hier nicht stehen, ich sollte definitiv nicht zuschauen – und was, wenn gleich jemand rauskommt, um zu sehen, wo wir bleiben?
 

»Wenn ich’s schlucke, ist alles sauber.«
 

FUCK.
 

Cem friert auf Taminos Schoß ein und gibt ein Geräusch von sich, das so erregt und hingerissen klingt, das ich Angst habe, dass mir auch gleich ein Malheur passiert und das wäre definitiv nicht ok. Oh nein. Ich komme nicht von sexuellen Geräuschen, die mein bester Kumpel macht, während er mit meinem… während er mit Tamino rummacht, als gäbe es kein Morgen mehr.
 

»Oh Gott, oh Gott, oh Gott«, flüstert Cem ununterbrochen, während Tamino ihn von seinem Schoß herunter und dann in den Sessel befördert. Trotz seines Alkoholpegels sieht es aus, als hätte Tamino diese Bewegungen schon hundert Mal gemacht – das fließende Hinknien, die geübten Handgriffe, die Jeans eines anderen zu öffnen, und die absolute Abwesenheit eines Zögerns, als er sich vorbeugt und Cem dazu bringt hastig seine Hände auf den Mund zu pressen, um das sehr laute Stöhnen zu ersticken, das ihm entfährt.
 

Es dauert keine fünfzehn Sekunden, bis Cem kommt und ich warte nicht, um zu sehen, ob er Tamino den Gefallen zurückgibt oder nicht. Ich verschwinde hastig im Bad, schließe hinter mir ab und entledige mich meiner Hose in einem Tempo, das ich in meinem Zustand überhaupt nicht mehr für möglich gehalten hätte.
 

Ich würde gerne behaupten, dass ich länger durchhalte als Cem, aber die Wahrheit ist, dass ich mich noch nie so notgeil gefühlt habe, wie in diesem Moment. Und als ich komme, brennt sich das Bild von den beiden in mein Gehirn.

Spektrum

Alle meine Freunde haben großen Spaß an meiner Geburtstagsfeier. Der Einzige, dem jeglicher Spaß vergangen ist, bin ich. Mein Kopf kreist vor lauter Bildern, Fragen und nun, da die Erregung ein wenig abgeklungen ist, erneuter Eifersucht, die sich einfach nicht niederringen lässt, egal wie sehr ich es versuche.
 

Irgendwie macht es mich glücklich in dieser Runde zu sitzen – ich erinnere mich an dieses Gespräch über Freundschaft, das ich mit Mari hatte und es scheint mir so, als wären alle Anwesenden Kandidaten für eine ‚richtige‘ Freundschaft.
 

Nur leider ist diese Erkenntnis davon getrübt, dass ich in Tamino verliebt bin und der aber gerade wild mit meinem besten Kumpel rumgemacht hat.
 

Als die beiden zurück ins Zimmer kommen, bin ich extra eifrig damit beschäftigt, allen noch mehr Alkohol einzuschenken und tue so, als würde ich das Pfeifen von Linda, Anni und Lotta nicht hören.
 

Ich reiche Tamino ein neues Glas Rum ohne ihm in die Augen zu schauen und zucke innerlich zusammen, als Feli sich an Cem wendet und sagt:
 

»Ich wusste nicht, dass du auch Jungs magst.«
 

Ich sehe Cem gespannt an. Seine Wangen sind rot – wahrscheinlich eine Mischung vom Alkohol und den Erinnerungen an den Blow Job, den er gerade bekommen hat – und er mustert Feli eingehend. Sie hält seinem Blick stand, ihr Kopf leicht zur Seite geneigt.
 

Soweit ich erkennen kann, war da kein verurteilender Unterton. Ein Ergebnis, zu dem auch Cem zu kommen scheint, denn er zuckt mit den Schultern.
 

»Ich erzähls auch nicht unbedingt rum«, gibt er zurück. Ich werfe ihm ein Lächeln zu, von dem ich hoffe, dass es aufmunternd wirkt. Allerdings kann ich dafür nicht garantieren, denn Tamino hat gerade angefangen mit seinen Fingern durch Cems Haare zu streichen und Cem schließt seine Augen, als würde er das sehr genießen.
 

Verfluchter Drecksmist.
 

»Also… seid ihr beide—naja. Seid ihr zusammen?«, will Feli interessiert wissen. Cem öffnet ein Auge und schaut sie an.
 

»Bist du mit Juls zusammen?«
 

Ich blinzele. Feli schnaubt.
 

»Nein.«
 

»Na bitte«, sagt Cem, als wäre damit alles geklärt. Als würden Feli und ich auf Feiern Schulter an Schulter sitzen und uns gegenseitig die Haare kraulen.
 

»Solo und rallig?«, meint Tamino und er lallt mittlerweile definitiv. Sein Kommentar bringt alle Anwesenden zum Lachen. Ich schwanke zwischen Erleichterung und Verzweiflung.
 

Solo und rallig. In der Tat.
 

Und das, nachdem ich gerade festgestellt habe, dass ich asexuell bin. Was es damit genau auf sich hat, weiß auch kein Mensch. Ugh.
 

Ich will mein altes Leben zurück, in dem alles noch unkompliziert war.
 

Wir essen Pizza und Noah spielt noch etwas mehr Gitarre und ich tue nach meinem nächsten Bier so, als wäre mir schlecht vom Alkohol. Mari lacht mich aus bevor sie sich erkundigt, ob sie mir die Haare halten soll. Geschwisterliebe in ihrer ganzen Glorie.
 

»Geht schon, danke«, nuschele ich und muss nicht mal so tun, als würde ich aus dem Zimmer wanken. Ich schließe meine Zimmertür hinter mir ab und starre gute zwei Minuten lang den Sessel an, der unschuldig an seinem angestammten Platz steht und so tut, als hätte Cem nicht gerade darauf gesessen, während Tamino ihm einen geblasen hat.
 

Ich werfe mich aufs Bett und statt zu versuchen tatsächlich zu schlafen, lasse ich das Filmchen immer und immer wieder in meinem Kopf ablaufen. Weiß der Geier, wann ich angefangen habe, masochistisch durch die Welt zu gehen.
 

Nebenan hört man Gelächter, Gitarrenklänge und fröhliche Stimmen. Als es leise an der Zimmertür klopft, antworte ich nicht und schließe die Augen.
 

Herzlichen Glückwunsch, Juls.
 

*
 

Zugegebenermaßen bin fast froh darüber, dass die Schule wieder losgeht, weil ich dann den Tag über zumindest ein bisschen Ablenkung habe. Auch wenn das natürlich heißt, dass ich Tamino jetzt wieder jeden Tag sehe und wir auch wieder angefangen haben, Nachhilfestunden zu planen.
 

Der Bewerbungsschluss für das Stipendium rückt näher und ich frage mich, ob ich dieses bekloppte Stipendium überhaupt haben will. Vielleicht ist es all den Stress auch überhaupt nicht wert. Der einzige Grund, wieso ich mir so den Arsch abrackere und nicht einfach eine Klasse wiederhole, ist, damit ich meinem dämlichen alten Mann den Mittelfinger zeigen und »Ha! Du hattest nicht Recht!« sagen kann.
 

Ob das als Motivation gut genug ist, weiß ich mittlerweile nicht mehr.
 

Cem, der mich viel zu gut kennt, merkt selbstverständlich, dass irgendwas im Busche ist, aber er spricht mich Gott sei Dank nicht darauf an, sondern wirft mir nur immer wieder Blicke von der Seite zu, die eindeutig sagen »Ich sehe, dass irgendwas nicht stimmt, aber ich bin ein zu großartiger Kumpel, um dich deswegen zu bedrängen, du Wichser.«.
 

Zu meiner endlosen Erleichterung verhalten Tamino und Cem sich nicht großartig anders zueinander, aber Feli scheint beschlossen zu haben, dass sie mehr Zeit mit uns verbringen möchte. Vor allem mehr Zeit mit Tamino, an dem sie eindeutig einen Narren gefressen hat.
 

Sie reden über alles. Tamino hört geduldig zu, während Feli ihm alles über eine Serie namens Riverdale erzählt und sie sieht schlichtweg glücklich aus, dass jemand sich davon berichten lässt und interessierte Nachfragen stellt. Tamino hat einen Ort gefunden, an dem er sich über Medienkritik auslassen kann und nicht nur großäugiges Nicken zurückbekommt, sondern empörte Zustimmung, mehrere »Oh Gott, ja!«-Ausrufe und konstruktive Antworten.
 

Cem und ich sitzen mehr als einmal mit schiefgelegten Köpfen neben den beiden und hören ihnen eher verständnislos zu.
 

»Ich versteh kein Wort«, sagt Cem an einer Stelle, als Tamino gerade über etwas redet, das er ‚toxische Maskulinität‘ nennt. Während Feli nickt und »Boah, wirklich! Es ist echt eine Pest!« antwortet.
 

»Ich auch nicht«, gebe ich zurück. Aber irgendwie ist es gut, den beiden zuzusehen. Ich kann es nicht genau erklären, aber dieser Enthusiasmus ist irgendwie schön zu beobachten. Die beiden scheinen richtig aus sich heraus zu leuchten, wenn sie sich in Diskussionen vertiefen und die Welt um sich herum vergessen, auch wenn diese Welt mich und Cem einschließt.
 

Ein Großteil des Jahrgangs ist verwirrt über diese neuerlichen sozialen Entwicklungen.
 

Ich höre mehrere dreckige Bemerkungen darüber, dass Feli sich einen Harem angelacht hat. Ganz böse Zungen bezeichnen sie als Schlampe. Ich verstehe überhaupt nicht, was eigentlich los ist, aber jedes Mal, wenn ich sowas höre, will ich eigentlich den Mund aufmachen und was sagen. Meistens kommt Cem mir zuvor.
 

Ich hab irgendwie den Dreh noch nicht raus solche Leute anständig zum Schweigen zu bringen.
 

Traurig aber wahr.
 

Man gewöhnt sich an einen sozialen Status und wenn man anfängt, dauernd Leute anzupaulen, könnte das alles zusammenbrechen.
 

Mit anderen Worten verhalte ich mich wie der letzte feige Arsch.
 

Frau Lüske erkundigt sich, wie es mit der Nachhilfe läuft. Tamino rattert ihr einen ziemlich detailliert ausgearbeiteten Plan herunter, den er irgendwann in den Ferien erstellt haben muss. Ich stöhne innerlich bei dem Gedanken daran, so viele Französischvokabeln lernen zu müssen. Frau Lüske hingegen ist begeistert.
 

»Und wie ich höre, sind Sie unserer Fußballmannschaft beigetreten, Tamino? Ich bin gespannt zu sehen, wie Sie sich machen!«
 

Tamino schrumpft in sich zusammen.
 

»Er macht sich ziemlich gut«, sage ich breit grinsend und haue ihm heftig auf den Rücken. Frau Lüske lächelt zufrieden.
 

»Eigentlich habe ich nichts anderes erwartet.«
 

Ich auch nicht, denke ich stumm bei mir, während Tamino zurück auf seinen Platz flüchtet und sich dort so klein wie möglich macht, damit Frau Lüske bloß nicht auf die Idee kommt, ihm noch mehr Komplimente zu machen.
 

Da wir jetzt in der Dreizehnten sind, gibt es keine feste Sitzordnung mehr und alle Leute können sich neue Sitzplätze suchen. Das hat dazu geführt, dass Tamino jetzt eigentlich immer entweder neben mir, Feli oder Cem sitzt—oder irgendwo zwischen uns Dreien.
 

Nach der anfänglichen Verwirrung der anderen und der damit verbundenen Aufmerksamkeit scheint Tamino sich halbwegs daran gewöhnt zu haben. Er kritzelt Bemerkungen oder schlechte Zeichnungen auf meine und Felis Unterlagen und spielt Käsekästchen mit Cem, wenn ihm langweilig ist.
 

Natürlich kritisiert nie irgendein Lehrer Taminos Unaufmerksamkeit, da er es irgendwie drauf hat, trotz der Nebenaktivitäten mit halbem Ohr dem Unterricht zu folgen und bohrende Nachfragen zu beantworten. Bei mir, Cem und Feli ist das Lehrpersonal nicht so nachgiebig, weil wir allesamt keine grandiosen Überflieger sind—ich würde uns als goldenen Durchschnitt bezeichnen. Zumindest seitdem Tamino mich mit Nachhilfe unterstützt.
 

Alles in allem kann man sagen, dass mit jedem Tag meine beknackten Gefühle mehr werden. Ich war ja vorher schon von Tamino beeindruckt, aber seitdem mir klar geworden ist, in welche Richtung die ganze Sache steuert, kriege ich kaum noch irgendwas gebacken, weil ich alle Nase lang damit beschäftigt bin darüber nachzudenken, wie großartig Tamino ist. Und wie er mich zur Begrüßung umarmt hat. Und wie er lächelt. Und wie er über Cems Witze gelacht hat und dabei die Nase rümpft. Und wie dringend ich ihn küssen will.
 

Einfach toll. Kann man seine Gefühle irgendwo umtauschen? Mit dem Bewerbungsschluss für die Stipendien so nah um die Ecke kann ich eigentlich keine Ablenkung gebrauchen. Ich soll Französischvokabeln lernen und nicht darüber nachdenken, wie sich Taminos Lippen auf meinen anfühlen würden.
 

Ganz abgesehen von allen Baustellen, die ich gerade habe—das Stipendium, meine dummen Gefühle, die Eifersucht, mein schlechtes Gewissen gegenüber Feli—kommt auch noch hinzu, dass ich immer noch über meine neu entdeckte Asexualität nachdenke. Und wie ich reagiert habe, als ich Tamino und Cem beobachtet habe.
 

Vielleicht hab ich was übrig für Voyeurismus? Vielleicht bin ich doch nicht asexuell? Lotta hat gesagt, dass ich mir darüber keine Gedanken machen soll, wenn ich mich doch mal zu irgendwem hingezogen fühle. Ist es nicht eigentlich auch egal, ob das Wort passt oder nicht?
 

Argh.
 

Nach zwei Wochen endlosen Grübelns, sinnlosem Vokabeln lernen, wenn ich ja doch nichts behalten kann und schlechtem Essverhalten, das meine Schwester und meine Mutter in Besorgung stürzt, treffe ich eine Entscheidung.
 

Vielleicht auch mehrere Entscheidungen.
 

»Kann ich dich bei Skype anrufen?«
 

Es dauert zehn Minuten, bevor ich die Nachricht abschicke, aber die Antwort kommt sofort. Lotta schickt mir zwei Daumen hoch und ihre Skype-Kontaktdaten. Bevor ich es mir anders überlegen kann, schmeiße ich meinen Laptop an, schicke ihr eine Kontaktanfrage und werfe mich in den Sessel, auf den ich jetzt provisorisch eine Wolldecke gelegt habe. Als könnte das meine Gedanken davon abhalten, über diesen verfluchten Blowjob nachzudenken.
 

»Hey Juls«, sagt Lotta und winkt mir zu. Ich sehe sie zum ersten Mal ungeschminkt und mit einer Frisur, die eigentlich gar keine ist. Aber sie lächelt breit und hält eine Tasse mit irgendeinem Getränk in den Händen.
 

»Hey«, sage ich und ringe mir ebenfalls ein Lächeln ab. Lotta beugt sich vor und kneift die Augen zusammen und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie das kleine Fenster näher betrachtet, in dem jetzt mein Gesicht zu sehen ist.
 

»Du siehst natürlich zauberhaft aus wie immer, aber etwas ungesund, wenn ich das so sagen darf«, meint Lotta und nimmt einen Schluck von ihrem Getränk. Auf der Tasse sind jede Menge bunte Früchte.
 

»Eh, ja. Mir geht’s auch nicht so geil«, gebe ich zu. Alleine das zuzugeben ist irgendwie erleichternd. Wenn man dauernd alle Leute anlügt, strengt das einfach zu sehr an.
 

»Wie kann ich helfen?«, will sie wissen.
 

»Ähm... ja. Ich bin nicht ganz sicher. Es gibt mehrere Baustellen? Ich dachte... naja. Also, es wäre cool, wenn du das vielleicht sonst niemandem weitersagst?«
 

Meine endlose Eloquenz macht sich mal wieder bemerkbar. Top, Juls. Einfach Großartig.
 

Lotta nickt.
 

»Ehrensache. Meine Lippen sind versiegelt. Versprochen!«
 

»Ok. Cool. Danke.«
 

Sag es einfach. Du hast es schon mal gesagt. So schwer ist es doch nicht, Julius.
 

Lotta wartet geduldig, während ich mit mir ringe und nervös auf meiner Unterlippe rumkaue.
 

»Ok, also. Ich dachte, du und Tamino. Äh. Ich dachte, dass ihr ein Paar seid?«
 

Ein wunderbarer Einstieg. Als wäre das mein Problem. Lotta blinzelt, dann kichert sie.
 

»Aber Juls. Tamino mag Jungs? Und ich weiß nicht, wen ich so mag, aber ich kann hoch und heilig versichern, dass Tamino zwar ein wunderbarer Mensch und mein bester Freund ist, aber ich kein Interesse an ihm habe.«
 

Die Tatsache, dass sie es einfach so sagt—»Tamino mag Jungs.«—ist... keine Ahnung. Es ist einfach diese simple Tatsache, von der ich nichts wusste. Und ich komme mir immer noch dumm vor, dass ich die beiden für ein Paar gehalten habe.
 

»Ja, das, eh. Hab ich mir nach meiner Feier gedacht. Wegen Cem und... so.«
 

Bei der Erwähnung grinst Lotta.
 

»Ah, ja. Cem ist super, muss ich sagen. Ich freu mich, dass Tamino nette Fußballer kennen gelernt hat. Unsere Jungs hier sind zu 95% Vollpfosten.«
 

Da sind sie wieder, die Andeutungen darüber, dass Tamino und Fußballer irgendwie nicht zueinander passen sollen. Ich entscheide mich, dass dies ein Problem für wann anders ist.
 

»Ja, Cem ist... cool. Jedenfalls. Vielleicht, ähm. Oder nicht vielleicht, eher sehr sicher. Ugh. Fuck.«
 

Lotta ist eine sehr geduldige Gesprächspartnerin. Sie hakt nicht nach, sondern wartet ganz in Ruhe, bis ich meine Zunge enttüddelt habe und nippt weiter an ihrer Tasse.
 

»Ich hab mich in Tamino verliebt und jetzt hat er mit Cem angebandelt und ich hab die beiden beobachtet und ich dachte, ich wäre asexuell, aber so, wie ich mich da gefühlt habe, hat es sich definitiv nicht sehr asexuell angefühlt und jetzt weiß ich nicht mehr, was eigentlich los ist und außerdem hab ich Schiss, dass Tamino mit Cem zusammen kommt, was mich zu ‘nem Arschloch macht, weil Cem mein bester Kumpel ist und Tamino... naja. Jedenfalls ist alles super scheiße und ich hab keine Ahnung, was ich machen soll.«
 

Das alles rattere ich in einem Affentempo herunter, aber ich habe das Gefühl, dass Lotta im Training ist. Wahrscheinlich, weil sie mit Anni befreundet ist, die auch ab und an so schnell redet, dass ich kaum folgen kann.
 

Lotta stellt ihre Tasse beiseite und macht sehr große Augen.
 

»Oh, Juls«, sagt sie leise und ich fahre mir durch die Haare. Meine Augenwinkel fühlen sich plötzlich sehr prickelig an.
 

»Und ich muss die ganze Zeit darüber nachdenken und kann mich nicht auf die Nachhilfe konzentrieren, weil... naja. Wegen dieser ganzen Gefühlsscheiße. Aber der Bewerbungsschluss für das Stipendium ist bald und ich hab keine Ahnung, wie ich das alles gebacken kriegen soll. Und außerdem haben Leute im Jahrgang angefangen auf Feli rumzuhacken, weil sie jetzt mit uns abhängt und ich kriegs nicht geschissen da mal einzugreifen, weil ich offenbar ein feiger Saftsack bin und ich hab mit Cem noch nicht darüber geredet, dass ich Tamino gut finde und ich weiß nicht, ob er Tamino nicht vielleicht auch gut findet. Für mehr als fürs Rummachen. Oder wie auch immer.«
 

»Kein Wunder, dass du so fertig aussiehst, bei so vielen Gefühlen«, sagt Lotta mitfühlend und beugt sich in ihrem Stuhl ein wenig nach vorne.
 

»Worüber möchtest du am meisten reden?«
 

Ich lache freudlos.
 

»Eigentlich will ich die ganze Zeit nur über Tamino reden und komme mir ziemlich dämlich dabei vor.«
 

Lotta lächelt ein warmes, liebevolles Lächeln, das meine Augenwinkel in eine erneute Krise stürzt.
 

»Ich habe absolut nichts dagegen, über Tamino zu reden. Aber wenn du möchtest, kann ich dir auch erklären, was ich so für Gedanken zu Asexualität habe.«
 

Ich schlucke und nicke.
 

»Ja. Das wäre... cool.«
 

Zugegebenermaßen habe ich ja auch eigentlich deswegen bei Lotta angerufen und nicht bei irgendwem anders. Da ich weiß, dass sie asexuell ist und wir schon mal darüber geredet haben, war sie die einzige Adresse, bei der ich mich darüber erkundigen kann. Wer weiß, vielleicht kennt Mari auch zehn Leute, die asexuell sind und ich weiß es es einfach nicht, weil ich sie nie danach gefragt habe. Aber mit meiner Schwester muss ich echt nicht darüber reden, wen ich oder wen ich nicht geil finde.
 

»Ok, also. Ich fass noch mal zusammen, was ich weiß, ja?«
 

Ich nicke.
 

»Du hast nie so richtig verstanden, was andere Leute an Sex toll finden. Du fängst nicht an zu sabbern, wenn du irgendwo nackte Leute siehst. Du denkst dir nie ‚boah, mit dem da würde ich gerne in die Kiste steigen‘.«
 

Ich schlucke.
 

»Eh. Ja. So in etwa. Also, ich meine. Diese ganze Erkenntnis, dass ich eigentlich auf Kerle stehe, ist ziemlich neu, deswegen machts vermutlich Sinn, dass ich noch nie ein Mädchen angeschaut hab und dachte ‚Geiler Scheiß‘.«
 

Lotta grinst und nimmt noch einen Schluck aus ihrer Tasse.
 

»Fair point. Aber seit der Erkenntnis hast du ja schon hier und da ein paar Jungs angeschaut. Und ehrlich gesagt sind die meisten Jungs, die nicht asexuell sind, ziemlich sabbernde Hormonschleudern, also wenn du in die Richtung noch nichts bemerkt hast, kann ich dir mit recht großer Sicherheit sagen, dass Sex für dich einfach nicht so das Thema ist.«
 

Sie hat natürlich vollkommen recht. Wenn ich die anderen Jungs aus meinem Jahrgang angucke, ist die Bezeichnung »sabbernde Hormonschleudern« noch freundlich ausgedrückt. Selbst Cem, der schon recht zurückhaltend ist, wenn es um solche Dinge geht, macht trotzdem keinerlei Hehl daraus, dass er Sex für einen der besten Zeitvertreibe des Lebens hält.
 

»Ok«, sage ich kleinlaut und greife nach einem Stift auf dem Schreibtisch, einfach um irgendwas mit meinen Händen tun zu können. Über Gefühle reden ist so verdammt anstrengend, ich würde eigentlich gerne ein Nickerchen machen.
 

»Und es gibt auch Leute, die sich nur für Menschen interessieren, denen sie emotional nahe stehen. Wie ist es damit?«
 

Ich blinzele in die Kamera.
 

»Sowas gibt‘s?«
 

Lotta nickt. Sie ist wirlich sehr geduldig mit mir.
 

»Jap. Sowas gibt’s. Nennt sich demisexuell. Es ist halt ein Spektrum, weißt du? Manche Asexuelle machen es sich selber, andere nicht. Manche haben Sex mit Partnern, andere nicht. Manche finden Sex widerlich, andere einfach nur langweilig.«
 

Ich denke darüber nach, wie ich auf Cem und Tamino reagiert habe.
 

Emotionale Nähe zu beiden Beteiligten? Check.
 

»Weißt du, und selbst wenn du dich jetzt als asexuell identifizierst und später feststellst, dass das doch nicht passt, ist es auch ok. Manchmal muss man sich eben erst ein bisschen besser kennenlernen, bevor man ein endgültiges Urteil fällen kann.«
 

Ich seufze und fahre mir mit den Fingern durch die Haare. Es entsteht eine kurze Stille, in der Lotta aus ihrer Tasse trinkt und ich darüber nachdenke, wie ich dieses endlose Wollknäuel aus Problemen am besten lösen kann.
 

»Darf ich einen Vorschlag machen?«, fragt Lotta.
 

»Unbedingt. Ich bin für alle Vorschläge sehr offen«, sage ich kläglich und Lotta lacht.
 

»Ok. Ich würd an deiner Stelle mit Cem und Tamino reden. Keine Sorge. Nicht mit beiden zusammen. Aber ich denke, du solltest Cem sagen, dass du Gefühle für Tamino hast. Und du kannst mit Tamino darüber reden, dass er Jungs mag. Weil du das vorher nicht wusstest.«
 

Ich schlucke und stelle mir vor, wie ich Cem von meinen Gefühlen erzähle. Was, wenn er sagt »Tja, ich bin aber auch in Tamino verknallt.«?
 

Ugh.
 

Wer hat Gefühle eigentlich erfunden?
 

»Ich versteh auch nicht, wieso er mir das nicht erzählt hat«, klage ich. Lotta verzieht traurig den Mund.
 

»Ah. Ich weiß, das hilft dir nicht weiter, aber ich würde es an deiner Stelle nicht persönlich nehmen. Es ist... ähm. Kompliziert. Naja, eigentlich ist es nicht kompliziert, es ist scheiße und Tamino redet nicht gerne drüber. Wie über viele Dinge. Ich kann aber nichts Genaueres dazu sagen«, meint sie und hebt entschuldigend eine Hand.
 

Ich schnaube.
 

»Ja, das dachte ich mir schon.«
 

»Bist du sauer?«
 

»Nein. Ich zweifele an meiner Vertrauenswürdigkeit«, murmele ich.
 

»Das versteh ich. Aber ihr kennt euch ja wirklich noch nicht so lange, ich erinnere mich noch dran wie Tamino mir damals erzählt hat, dass du ihn im Unterricht auch gern mal als Streber betitelt hast«, meint Lotta.
 

Ich zucke merklich zusammen und lasse den Kopf sinken.
 

Ah ja.
 

Dinge, die ich an mir selbst nicht besonders mag und von denen mir nie so richtig klar war, dass ich damit Probleme hab.
 

Namentlich: Gruppenzwang.
 

Was für ein Trottel ich bin.
 

»Ich meine nur... wenn ihr länger befreundet seid, wird es vermutlich noch jede Menge Dinge geben, die du nicht wusstest und er weiß ja sicherlich auch nicht alles über dich. Hast du... hast du ihm eigentlich schon erzählt, dass du auf Jungs stehst?«
 

Ich hole tief Luft und schüttele den Kopf.
 

Lotta grinst mich aufmunternd an.
 

»Aha! Dann könnt ihr darüber reden, wie ihr beide Jungs gut findet!«
 

Aus irgendeinem Grund steigt mir bei der Vorstellung Hitze in den Kopf. Und dann schweifen meine Gedanken ab in eine Richtung, über die ich eigentlich lieber nicht nachdenken würde, während ich mit einer von Taminos besten Freundinnen telefoniere.
 

»Wahrscheinlich hast du Recht«, gebe ich zu und sie zwinkert, leert ihre Tasse und stellt sie beiseite.
 

»Geht es dir ein kleines bisschen besser?«
 

»Ja. Ja, schon.«
 

»Sehr schön!«
 

»Sag noch mal, wie das Wort mit der emotionalen Nähe heißt.«
 

»Demisexuell«, sagt sie lächelnd.
 

Ich probiere das Wort in meinem Kopf aus.
 

»Alles ist ein Spektrum«, wiederhole ich.
 

Lotta kichert.
 

»Das ist es.«
 

»Ok. Ok, cool. Ähm. Danke, fürs Zuhören. Ich werd dann jetzt mal mein Leben ein bisschen sortieren gehen«, sage ich mit einem müden Lächeln und Lotta zeigt mir beide Daumen hoch.
 

»Wenn du noch mehr Redebedarf hast, bin ich hier.«
 

»Danke. Bis bald!«
 

Sie winkt und dann ist Lottas Bild verschwunden und ich starre noch einige Sekunden den Bildschirm an, bevor ich meinen Laptop zuklappe und tief durchatme.
 

Auf geht’s, Juls.

Am Ende der Eifersucht

Leider scheitere ich dreimal daran, all diese Themen mit Cem anzusprechen, während ich nüchtern bin. Ich versuche es nach dem Training auf dem Weg zum Döner-Essen, einmal in der großen Pause, als wir zum Bücherschleppen verdonnert worden sind und einmal, als er zum Filmschauen bei mir vorbei kommt und wir uns mit Chips bewerfen, bis ich beschließe, einfach mein Bett neu zu beziehen.
 

Ich finde einfach nicht den richtigen Ansatz.
 

»Ja, witzig wie Basti sich da gemault hat. Oh, übrigens. Was ich dir noch sagen wollte. Ich bin übrigens in Tamino verliebt und es wäre total super, wenn er dir nicht noch mal einen auf meinem Sessel blasen würde.«
 

Allein die Erinnerung an diese Szene treibt mir regelmäßig die Röte ins Gesicht. Die Selbstverständlichkeit, mit der Tamino es vorgeschlagen hat. Und wie er einfach auf die Knie gegangen ist, als hätte er das schon hundert Mal gemacht. Wenn ich behaupten würde, dass ich mir in Gedanken an dieses Bild nicht ein einziges Mal einen runtergeholt hätte, dann wäre das sehr gelogen. Und ich bin normalerweise überhaupt nicht scharf darauf, mir sonderlich oft einen runterzuholen.
 

Irgendwo in mir drin scheint ein Damm aufgebrochen zu sein und ich kann nicht behaupten, dass ich diese Entwicklung als positiv empfinde. Außerdem habe ich jedes Mal ein schlechtes Gewissen, dass ich meine beiden engsten Freunde—und ja, mittlerweile bin ich an diesem Punkt angekommen, Tamino so zu bezeichnen—in meine schmutzigen Fantasien mit einbinde.
 

Wahrscheinlich würden die beiden angewidert die Nase rümpfen, wenn sie wüssten, was Sache ist.
 

Ugh, Juls.
 

Warum bist du so ein Disaster?
 

Es kommt mir recht erbärmlich vor, dass ich mich erst wieder voll laufen lassen muss, damit endlich was passiert, aber besser so als überhaupt nicht. Zumindest rede ich mir das ein. So lande ich ziemlich betrunken mit Cem im Park. Irgendwo weiter entfernt spielen Leute auf der Gitarre und singen Lieder und es riecht, als würden Menschen in der Nähe grillen.
 

Wir liegen auf dem Rücken im Gras, Cem raucht sich mal wieder die Lunge aus dem Leib und wir haben mehrere leere Bierflaschen um uns herum verteilt. Wenn ich mich umsehe, kann ich niemanden sonst hier in der Nähe sehen. Die letzte Person war ein Jogger mit Hund, der in zehn Metern Entfernung an uns vorbeigelaufen ist.
 

»Bist du schon voll genug?«, will Cem wissen und bufft mich mit dem Ellbogen an.
 

»Hä?«
 

Falls ich es noch nicht oft genug erwähnt habe: Alkohol schaltet meine ohnehin schon nicht wirklich vorhandene Eloquenz aus und macht mich wahnsinnig begriffsstutzig. Sogar noch mehr als ich es im nüchternen Zustand bin.
 

»Du bist seit Tagen super komisch drauf und ich warte, dass dein Pegel hoch genug ist, damit du dich drüber auskotzen kannst warum das so ist«, meint Cem gelassen und ich drehe den Kopf, um ihn anzuschauen.
 

Manchmal weiß ich nicht genau, wann das passiert ist. Dass ich es verpasst habe, was für ein einfühlsamer Kerl mein bester Kumpel ist, der mich so gut kennt, dass er sofort wittert, wenn irgendwas nicht in Ordnung ist. Ich glaube, ich weiß gar nicht mehr, wann genau ich angefangen habe, Cem als meinen besten Freund zu bezeichnen. Mit ihm abzuhängen hat schon immer am meisten Spaß gemacht, seit ich ihn in der siebten Klasse kennengelernt habe.
 

Aber wann genau kam der Moment, an dem ich dachte »Hey, der Typ ist nicht nur super witzig, sondern auch wirklich cool«? Vielleicht sollte ich ihm das häufiger sagen. Was, wenn alles so passiert, wie Mari gesagt hat und wir Abi machen und ich dann nie wieder von ihm höre? Mir wird ganz elend bei dem Gedanken.
 

»Hey Cem«, sage ich und ich höre, dass meine Stimme schon ziemlich wobbelt.
 

»Hm.«
 

»Ist dir klar, dass du mein bester Freund bist und ich dich super cool finde?«
 

Mir antwortet eine Stille. Ich betrachte weiterhin den Himmel über uns an dem man heute Nacht erstaunlich viele Sterne sehen kann. Ich verstehe, wie Tamino zu seinem Alkoholproblem gekommen ist. All die tausend Probleme, die sich im Moment vor mir auftürmen, fühlen sich so viel weiter weg an, wenn ich hier betrunken liege und einfach nur den Himmel anstarre und meinem besten Kumpel beim Rauchen zuhöre.
 

»Alter«, sagt Cem schließlich und ich drehe den Kopf. Cem hat sich auf die Seite gedreht und starrt mich an. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass er mit meinen Worten nicht so gut umgehen kann, aber sein Gesichtsausdruck sieht... gerührt aus? Erstaunt auf jeden Fall. Ich grinse ihn verschwommen an.
 

»Was? Ist wahr«, meine ich.
 

Wir starren uns mehrere Sekunden lang schweigend an und ich sehe Cem schlucken, als würde er mit sich ringen. Ich kenne ihn mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass er sich selbst davon abhalten muss, nicht einen blöden Spruch oder Scherz zu reißen, um damit die Ernsthaftigkeit der Situation zu entschärfen.
 

»Wenn ich jetzt ‚Dito‘ sage, ist es voll arschig«, meint er. Ich schnaube amüsiert.
 

»Wär schon ok, Alter. Wir können nicht alle so schwul über unsere Gefühle reden wie ich«, meine ich und er lacht tatsächlich und boxt mich gegen den Arm.
 

»Halt die Fresse, du Pfosten«, sagt er immer noch unter Lachen und ich muss mitlachen und das tonnenschwere Gewicht auf meiner Brust fühlt sich plötzlich nicht mehr ganz so schlimm an.
 

»Aber ohne Scheiß jetzt«, sagt Cem, nachdem er sich beruhigt hat. »Dito, man.«
 

»Cool«, sage ich und grinse den Himmel an.
 

»Ich will trotzdem wissen, was eigentlich los ist«, sagt er dann und bufft mich noch mal. Ich seufze und setze mich schließlich auf.
 

»Ich hab mich verknallt«, sage ich, was Cem offenbar skandalös genug findet, um sich ebenfalls aufzusetzen. Mein Herz überschlägt sich jetzt ein bisschen, weil ich unweigerlich wieder an meinen Geburtstag denken muss und daran, in was für einer Situation ich Cem beobachtet habe. Jetzt sitzt er hier vor mir, lässig wie immer, sein Cap auf dem Kopf und sein Ellbogen auf dem aufgestellten Knie abgestützt.
 

Im Dunkeln meines Zimmers hatte er die Hände auf den Mund gepresst, um sich nicht durch Geräusche zu verraten. Gewissermaßen war es der verletzlichste Moment, in dem ich ihn je gesehen habe.
 

»In... eh. In einen Typen«, fahre ich fort. Cem legt den Kopf schief und dann seufzt er schmunzelnd und schüttelt den Kopf.
 

»Ich weiß schon, ich bin einfach zu unwiderstehlich—«, fängt er grinsend an und ich muss wieder lachen und haue ihm auf den Arm.
 

»Halt die Schnauze, man! Ich bin in Tamino verknallt!«
 

Cem schaut mich an und nimmt sein Cap ab, um sich durch die Haare zu fahren.
 

»Ah, scheiße«, mein er dann, greift sich ein neues Bier und setzt sich sein Cap wieder auf. Wie immer macht er die Flasche mit den Zähnen auf und nimmt einen großen Schluck. Mein Herz hämmert wie verrückt. Jetzt kommt womöglich der Moment, in dem er mir steckt, dass er auch in Tamino verliebt ist.
 

»Wenn ich das vorher gewusst hätte, dann—«
 

Ich ziehe die Schultern hoch.
 

»Sorry, Alter. Ich wollte da nicht reinfunken«, sagt er und sieht... Er sieht sehr schuldbewusst aus.
 

Oh.
 

»Kannst du ja nicht wissen, wenn ich’s dir nicht sage«, murmele ich peinlich berührt und fordere ihn mit stummen Gesten auf, mir ebenfalls noch ein Bier aufzumachen. Wir trinken eine Weile schweigend, dann räuspere ich mich.
 

»Und du—äh. Du bist aber nicht. Also...«
 

»Nah. Nicht jetzt, jedenfalls. Nicht, dass ich nicht glaub, dass das nicht passieren könnte. Aber grad bin ich einfach bloß ziemlich scharf auf ihn«, sagt er freiweg. Ich merke, wie mir unweigerlich die Hitze ins Gesicht steigt. Ja, das hab ich gesehen. Soll ich ihm das sagen? Wahrscheinlich ist das eine schlechte Idee.
 

»Ich hab euch gesehen«, sagt meine betrunkene Verräterzunge und Cem blinzelt ein paar Mal sehr schnell, sein Mund leicht geöffnet, die Augen plötzlich groß wie Teller.
 

»Oh«, sagt er.
 

»Ja. Äh... Sorry.«
 

Wir starren uns an und ich bereue sehr, es zugegeben zu haben. Es ist mir überhaupt nicht möglich, Cems Gesichtsausdruck einzuordnen und ich bin nicht mal sicher, ob er selber weiß, was er davon halten soll. Dann muss er aber lachen und vergräbt sein Gesicht kurz in den Händen.
 

»Krass absurd«, sagt er.
 

»Schon, ja.«
 

Ich schaffe ein Grinsen.
 

»Alter. Wahrscheinlich willst du das nicht hören, ne. Aber. Fuck, das war ziemlich geil«, meint Cem und ich pruste fast meinen Schluck Bier über den Rasen, weil ich lachen muss. Es ist gut, darüber Späße zu machen. Und irgendwie hat sich meine Eifersucht sich ein bisschen in Luft aufgelöst, jetzt, wo die Katze aus dem Sack ist.
 

Juls, du Trottel. Du hättest schon viel eher darüber reden sollen.
 

»Ja. Ähm. Das... kann ich mir. Ach, was sag ich. Ich kanns mir nicht wirklich vorstellen«, sage ich und muss lachen, weil ich mir super dämlich vorkomme. Ich leere mein Bier und Cem reicht mir sofort ein Neues.
 

»Ist ok, wenn du darüber redest«, sage ich dann. Cem nickt und friemelt sich eine Zigarette aus der Hosentasche.
 

»Das war definitiv der beste Blowjob meines Lebens. Wahrscheinlich hat’s deswegen auch nur ungefähr zwanzig Sekunden gedauert.«
 

Ich muss schmunzeln. Normalerweise bin ich immer genervt bis angeekelt, wenn Leute über Sex reden. Diesmal ist es anders. Ich bin beinahe ein bisschen aufgeregt. Sexualität ist so verdammt verwirrend. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass es um Sex mit einem Mann geht. Und dass Cem nicht so darüber redet, wie es andere Kerle aus unserer Mannschaft meistens machen.
 

»War das... äh... war das generell das erste Mal von irgendwas mit irgendeinem Typen?«
 

Cem nickt und zieht an seiner Zigarette. Er pustet den Rauch gen Himmel und sieht beinahe ein bisschen verträumt aus.
 

»Ich sollte viel öfter mit Männern rummachen, Alter.«
 

»Ist das. Ähm. Ist das sehr anders? Als mit Frauen?«
 

Cem legt den Kopf schief und ich sehe zu, wie er sich über die Lippen leckt. Seit ich diese Erkenntnis darüber hatte, dass ich definitiv auf Männer stehe, fällt mir immer häufiger auf, dass Cem wirklich gut aussieht. Ich weiß, dass viele Mädchen aus dem Jahrgang auf ihn fliegen und ich kann es absolut nachvollziehen.
 

Cem betrachtet mich nachdenklich.
 

»Willst du’s ausprobieren?«
 

Ich verschlucke mich beinahe an meiner eigenen Spucke und nehme einen hastigen Schluck Bier.
 

»Was?«
 

Cem zuckt mit den Schultern und zieht erneut an seiner Kippe. Wie genau er immer so lässig beim Rauchen aussehen kann, ist mir schleierhaft.
 

»Rummachen. Knutschen. Mit nem Kerl.«
 

»Ohne Scheiß jetzt?«, frage ich, um ganz sicher zu gehen, dass ich das nicht falsch verstehe. Vielleicht meint er ja so ganz generell, ob ich es mal ausprobieren will. Mit irgendwem. Aber Cems Gesichtsausdruck ist sorgfälig ausdruckslos, als er erneut mit den Schultern zuckt und seine Zigarette im Gras ausdrückt, bevor er den Filter in eine der leeren Bierflaschen steckt.
 

»Ohne Scheiß«, sagt er dann.
 

»Oh«, sage ich und meine Stimme klingt eindeutig heiser, während mein Herz sich in meinem Brustkorb überschlägt. Ich denke daran, wie Tamino und Cem in meinem Sessel ausgesehen haben und wie sehr ich Tamino auch so küssen wollte. Ich hab nie darüber nachgedacht, dass ich auch Cem küssen könnte. Es scheint eine abstruse Idee zu sein, aber ich kann auch nicht erklären, wieso eigentlich.
 

Mari hat mir mal erzählt, dass sie ihren ersten Kuss mit ihrer damals besten Freundin hatte. Einfach zum Ausprobieren.
 

Vielleicht machen Leute das.
 

»Keine Sorge, ich fress dich schon nicht auf«, sagt Cem mit einem schiefen Grinsen, aber ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass das Unsicherheit ist, die er dahinter versteckt. Er würde es mir garantiert nicht übel nehmen, wenn ich nein sage. Aber eine übermütige Neugier hat mich gepackt und bei den Gedanken an die Bilder, die ich von meiner Geburtstagsfeier noch im Kopf habe, wird mir schon wieder sehr heiß.
 

»Ok«, sage ich.
 

Cem macht sich nicht mal die Mühe zu gucken, ob irgendwer in der Nähe ist und uns sehen könnte. Wir hocken voreinander und Cems Augen huschen hinunter zu meinem Mund, als würde er noch mal prüfen wollen, worauf er sich eigentlich einlässt. Aber der Anblick scheint ihn nicht abzuschrecken.
 

Mein Hals fühlt sich plötzlich sehr trocken an, obwohl ich diesen Abend gefühlte hundert Liter Bier getrunken habe.
 

Dumpf erinnere ich mich an eine Unterhaltung, in der Cem und ich darüber sprachen, dass er nicht möchte, dass ich »ihm an den Arsch gehe«. Der Gedanke scheint ausgesprochen absurd zu sein, als mein bester Freund sich vorbeugt und seinen Mund auf meinen drückt.
 

Oh.
 

Ich vergesse vor lauter Aufregung einen Moment lang, meine Augen zu schließen und ich glaube, ich hab Cem noch nie so aus der Nähe gesehen. Dann klappe ich meine Lider hastig zu und unterdrücke ein sehr peinliches Geräusch, als Finger sich in meinen Nacken schieben und Cems Zunge meine Lippen berührt.
 

Wahrscheinlich ist es realistisch zu sagen, dass es einfach immer anders ist, jemand Neues zu küssen. Es muss ja nicht unbedingt ein Unterschied darin liegen, ob man nun einen Jungen oder ein Mädchen küsst.
 

Aber.
 

Aber das Wissen, einen Jungen zu küssen, macht definitiv Dinge mit mir. Vor allem, als meine Hände Cems Schultern finden und. Jup. Definitiv ein Junge. Mit beeindruckend breiten Schultern und kurzem, stoppeligem Haar im Nacken.
 

Vor lauter Aufregung habe ich eine Sekunde lang vergessen, dass ich auch zurückküssen muss und ich nehme Cems Gesicht in beide Hände, lege den Kopf ein bisschen zur Seite, damit ich einen günstigeren Winkel erwische und schaffe es endlich, den Kuss zu erwidern.
 

Huh.
 

Cem summt zufrieden gegen meine Lippen und ich spüre, wie er ein wenig in den Kuss grinst, dann löst er sich von mir und ich. Bin. Beinahe ein wenig enttäuscht, dass es schon vorbei ist. Vielleicht mehr als ein bisschen.
 

Sei nicht komisch, Juls.
 

Ich lecke mir über die Lippen und sehe, wie Cem der Bewegung meiner Zunge mit den Augen folgt.
 

»Ok«, krächze ich und angele fahrig nach meiner Bierflasche. »Definitiv. Äh... anders.«
 

Cem schnaubt und lacht und dann.
 

»Ach, fuck it«, meint er und ich habe keine Zeit zu fragen, was er damit meint, weil ich im nächsten Moment mein Bier aufs Gras fallen lasse. Mein Schoß ist voller Cem, ein solides, muskulöses Gewicht gegen meine Brust und auf meinen Oberschenkeln, als ich wieder ein paar fester Lippen auf meinen habe und beschließe, einfach nicht weiter darüber nachzudenken.
 

»Solo und notgeil«, murmelt Cem gegen meinen Mund und ich muss lachen. Zum ersten Mal in meinem Leben kann ich das wirklich nachvollziehen.
 

»Arschloch«, murmele ich zurück und dann knutschen wir. So richtig. Ich schiebe Cems Cap von seinem Kopf und vergrabe eine Hand in seinen Haaren, was er sehr zu begrüßen scheint, denn er summt schon wieder gegen meinen Mund.
 

Die Vorstellung, dass Tamino uns so sehen könnte, jagt mir einen heißen Schauer durch den Körper und als Cem eine Hand in meine langen Haare schiebt und zieht entkommt mir ein ziemlich peinliches Geräusch. Sein Grinsen gegen meine Lippen ist fast ein bisschen raubtierhaft.
 

»Ich glaube wir haben ein neues Level von Männerfreundschaft erreicht«, nuschelt Cem zwischen zwei Küssen. Ich muss lachen.
 

»Full Homo«, sage ich in Gedanken an den Spruch »No Homo«, den ich bei Konsti und Lennard schon ab und an gehört habe, und Cem lacht so doll, dass er halb aus meinem Schoß kippt. Ich lasse mich mit ihm zur Seite fallen und wir bleiben halb verknotet nebeneinander liegen, als wäre es das Normalste auf der Welt.
 

»Full Homo«, wiederholt er und gluckst heiter vor sich hin. Eine Hand hat er immer noch locker in meinem Haar, die andere liegt jetzt auf seiner eigenen Brust.
 

»Was glaubst du, wie komisch ist das, wenn wir morgen wieder nüchtern sind?«, will er wissen.
 

»Keine Ahnung. Nicht komisch? Hoffentlich.«
 

»Jetzt musst du nur noch Tamino knutschen«, meint Cem amüsiert. Ich schnaube.
 

»An mir solls nicht liegen«, sage ich und Cem lacht leise. Er dreht den Kopf zur Seite und schaut mich an.
 

Ich denke darüber nach, wie erstaunlich wenig seltsam die ganze Situation ist. Es schiebt sich mir ein Bild vors innere Auge, wie Tamino, Cem, Feli und ich einen Kuschelhaufen bilden wie auf den Fotos, die überall in Taminos Zimmer verteilt stehen.
 

»Ich bin übrigens asexuell«, sage ich dann aus dem Nichts heraus.
 

»Heißt?«
 

»Heißt, dass... äh. Dass ich Leute nicht wirklich scharf finde oder Sex mit ihnen haben will. Außer wenn ich ihnen. Emotional nahe stehe. Oder wie auch immer«, sage ich. Sehr elegant ausgedrückt.
 

»Mir war nicht klar, dass es sowas gibt«, sagt Cem frei heraus.
 

»Mir auch nicht. Bis vor ‘n paar Wochen.«
 

»Kein Sex?«
 

»Naja. Sagen wir mal. Nach meiner Geburtstagsfeier hatte ich zum ersten Mal richtig Bock auf Sex.«
 

»Ha. Weil ich so ein scharfes Schnittchen bin, Alter«, meint Cem belustigt und ich bin sehr dankbar für den Scherz, auch wenn ich ihn trotzdem in die Seite buffe.
 

»Jap. Weil du und Tamino beide so scharfe Schnittchen seid. Und ich euch gut leiden kann«, gebe ich zurück und grinse gen Himmel. Cem summt leise irgendeinen türkischen Popsong vor sich hin, dann dreht er sich auf die Seite und guckt mich spitzbübisch an.
 

»Wenn ich mit zwanzig immer noch keinen Sex mit nem Kerl hatte, werd ich mich vertrauensvoll an dich wenden«, sagt er mit einem breiten Feixen und ich strecke ihm die Zunge raus.
 

»Halt die Schnauze, Wichser«, sage ich lachend.
 

»Ich glaub, es wird nicht komisch, wenn wir nüchtern sind«, meint Cem nachdenklich.
 

»Ich auch nicht.«
 

In der Tat ist jetzt alles viel weniger komisch und schrecklich, als es vorher war. Ich denke darüber nach, wie es wäre, jetzt Tamino und Cem beim Rummachen zu sehen, und irgendwie ist die Eifersucht zwischen Bier, Scherzen, Gesprächen und Knutschen verpufft. 

Moritz

Ich weiß, dass ich irgendwas verbockt habe.
 

Eine sehr panische Stimme in meinem Kopf sagt mir, dass es daran liegt, dass ich mit Cem in Julius‘ Zimmer verschwunden bin und er jetzt weiß, dass ich Jungs mag. Dann wiederum betrifft das Cem genauso wie mich und vor Cem flüchtet Julius in den letzten Tagen nur halb so oft, wie vor mir.
 

Und Mari ist lesbisch.
 

Und Julius hat bislang wirklich nicht den Eindruck gemacht, als würde es ihn stören, wenn Leute schwul sind. Aber.
 

Aber er kann mir kaum in die Augen sehen. Und er ist super schreckhaft. Und spricht weniger. Und ist unaufmerksam. Und...
 

Ich steigere mich so in meine Sorgen herein, dass ich zwei Nachhilfetermine absage und am Freitag zu Hause in meinem Zimmer beinahe eine Panikattacke bekomme, weil ich die ganze Zeit über Moritz nachdenken muss und wie es mit der letzten Fußballmannschaft den Bach heruntergegangen ist, nachdem—
 

Ugh.
 

Ich könnte Julius einfach fragen. Wie ein normaler Mensch.
 

»Hey Julius, irgendwie benimmst du dich anders mir gegenüber, seit wir deinen Geburtstag gefeiert haben und ich hoffe, du bist nicht sauer auf mich. Oder angeekelt, weil ich deinem besten Freund einen geblasen habe.«
 

Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen und gebe ein klägliches Geräusch von mir.
 

Ororo scheint zu merken, dass irgendwas nicht in Ordnung ist, denn sie krabbelt mein Hosenbein hoch und rollt sich in meinem Schoß zusammen. Ich bin sogar zu nervös, um irgendeinen Film reinzuwerfen oder ein neues Buch anzufangen, obwohl mich »Wonders of the Invisible World« schon seit Tagen von meinem Regal herunter anlacht.
 

Es ist schon ziemlich spät, als am Samstagabend mein Handy vibriert und ich eine WhatsApp-Nachricht von Julius bekomme.
 

»Noch wach?«
 

Mein Herz stürzt sich sofort in einen Sprint.
 

»Jap«, antworte ich.
 

»Kann ichvrbei kommrn?«
 

Oh. Die Schreibweise kenne ich. Da ist jemand gut angetrunken.
 

»Ok.«
 

Ich denke gerade darüber nach, ob ich noch schnell duschen gehen soll, als mein Handy erneut vibriert.
 

»szehsch on unten«
 

Ich blinzele.
 

Oh.
 

Meine Beine fühlen sich sehr wackelig an, als ich aufstehe und zur Tür gehe, um den Öffner zu betätigen. Mein Vater schläft schon und ich trete nervös von einem Bein aufs andere, während ich Julius‘ Schritten lausche, die die Treppe hinauf kommen.
 

Er hat Gras im Haar, seine Augen sind glasig und er riecht eindeutig nach Bier, als er schließlich vor mir steht und mich mit ungewohnt großen Augen anschaut. Der Rotschimmer auf seinen blassen Wangen kommt wahrscheinlich vom Alkohol.
 

»Hey«, nuschelt er und starrt mich von unten herauf an, als wäre er sich nicht sicher, ob ich es wirklich bin. Mein ganzer Körper kribbelt.
 

»Hey«, gebe ich unsicher zurück. Ich mache einen Schritt zur Seite, damit Julius reinkommen kann und schließe die Tür hinter ihm, während er sich die Schuhe auszieht und dabei leicht auf der Stelle wankt.
 

»Wir müssen reden«, sagt Julius und ich merke, wie mein Herz mir in die Hose rutscht. Mein Gehirn produziert automatisch jede Menge unliebsame Bilder und ich merke, dass ich die Luft anhalte und mein Körper sich erneut in eine formlose, panische Masse verwandelt.
 

Oh nein, oh neinohneinoh—
 

Ich merke kaum, dass ich auf dem besten Weg zur nächsten Panikattacke bin, als Julius in seinem von Alkohol benebelten Zustand versteht, dass gerade etwas gehörig schief geht.
 

Er murmelt ununterbrochen »Fuck, fuck, fuck«, während er mich in mein Zimmer bugsiert, die Tür hinter uns schließt und mich aufs Bett befördert. Dann habe ich plötzlich einen sehr warmen und nach Gras riechenden Julius auf mir liegen.
 

Huh.
 

»Ugh. Fuck. Ich bin son Trottel. Tut mir leid, man.«
 

Ich versuche mich aufs Atmen zu konzentrieren, aber so ein durchtrainierter Fußballer auf einem drauf macht das Luftholen nicht gerade leicht. Trotzdem will ich unbedingt nicht, dass Julius aufsteht und schlinge hastig meine Arme um ihn, um zu verhindern, dass er es sich noch anders überlegt.
 

Erst jetzt wird mir klar, dass meine Batterie wieder total abgesoffen ist, weil ich fast zwei Wochen ohne Körperkontakt durch die Weltgeschichte gelaufen bin.
 

Ich vergrabe mein Gesicht an Julius‘ Halsbeuge und er zieht zischend die Luft ein, rührt sich ansonsten aber nicht, bis irgendwann eine zögerliche Hand mein Haar berührt und vorsichtig darüber streicht.
 

»Ich hab’n paar Dinge rausgefunden«, nuschelt Julius.
 

Mir wird nicht zum ersten Mal klar, dass ich wirklich mag, wie er riecht. Ich glaube es ist sein Deo, das so riecht.
 

»Was für Dinge?«, frage ich. Meine Stimme klingt heiser und zittrig, als hätte ich sie länger nicht benutzt. Die Panik sickert langsam aus mir heraus und in die Matratze, während meine Finger fahrig über Julius‘ Rücken streichen. Es ist angenehm warm und ich bin irgendwie froh darüber, dass es dunkel ist.
 

»Ok. Also«, lallt Julius und er rutscht ein bisschen auf mir rum, ehe er schließlich den Kopf hebt und mich anschaut. Ich schlucke.
 

»Ich bin immer noch asexuell. Demis...demisexuell«, sagt er und ich spüre, wie meine Mundwinkel zucken. Das Wort ist neu von ihm. Ich frage mich unweigerlich, ob er vielleicht noch mal mit Lotta geredet hat.
 

»Ok«, sage ich leise.
 

»Aber. Ich—äh. Ich... ich mag. Jungs.«
 

Ich sehe im Licht der Straßenlaternen, die jetzt unsere einzige Lichtquelle sind, wie seine Augen mein Gesicht nach einer Reaktion absuchen. Mein Mund öffnet und schließt sich und ich halte für einen Moment die Luft an, weil ich kaum verarbeiten kann, was Julius gesagt hat.
 

»Ich—du. Oh. Oh!«
 

Julius scheint alles an Mut zusammenzunehmen, den er sich durchs Bier angetrunken hat, denn er holt sehr beherzt Luft und dann kullern die Worte aus ihm heraus wie Murmeln, die jemand mit großem Schwung aus einem Glas auf den Boden geschüttet hat. Ich habe kaum Zeit zu verarbeiten, was er gesagt hat und dass er—dass Julius Jungs mag. Wie ich.
 

Oh. Oh!
 

»Ich dachte, du wärst mit Lotta zusammen, aber das stimmt überhaupt nicht, und Cem hat gesagt, dass du auf Jungs stehst, aber ich hab ihm das nicht geglaubt. Und dann hast du auf meiner Feier—naja. Und dann, äh. Also. Ich hab mit Lotta über die ganze Sache mit dem Sex geredet. Und ich dachte, ich bin super komisch, aber sie meint, ich bin nicht komisch. Und ich mag. Jungs. Und. Du auch. Und ich wusste das nicht. Und ich war ein Trottel. Und ich... Ich war im Park. Mit Cem. Und wir haben geredet und Lotta hat gesagt, ich soll dir sagen, dass ich auf Jungs stehe. Und dann haben Cem und ich rumgemacht, und irgendwie war es super komisch, aber eigentlich auch gar nicht. Und jetzt. Ähm. Ja. Hab ich mal ‘nen Kerl geknutscht. Und das war ziemlich gut. Viel besser als mit Mädchen. Und. Ich war scheiße die letzten Tage. Tut mir leid.«
 

Meine Augen werden rund wie Teller.
 

»Warte, du hast mit Cem—«
 

»Ja. Er. Äh. Er küsst ziemlich gut«, sagt Julius und ich muss mir ein Lachen verkneifen. Dann wandern meine Gedanken zu einem Bild, wie Julius und Cem miteinander rummachen.
 

Oh.
 

»Ok. Ok, ja. Also. Ich. Äh. Ich steh auch auf Jungs«, sage ich.
 

Julius lacht und lässt sich wieder auf mich fallen, was mir ein »Uff« entlockt. Er lacht und lacht, als wäre das alles das Witzigste, was ihm jemals passiert sei. Mein Gehirn dreht sich um die Tatsache, dass Julius irgendwie dachte, dass ich mit Lotta zusammen bin. Weiß der Geier, wie er darauf gekommen ist. Vielleicht, weil er mich beim Singen erwischt hat?
 

Und dann lande ich wieder dabei, dass Cem und Julius geknutscht haben und ich muss mich sehr zusammenreißen, an diesen Gedanken nicht allzu sehr hängen zu bleiben. Nicht, wenn Julius auf mir draufliegt und.
 

Ähm. Ja.
 

Es ist keine gesunde Richtung, über einen Freund so nachzudenken.
 

Mit einem Ruck drehe ich uns, sodass wir jetzt nebeneinander liegen. Nur für den Fall, dass mein Körper auf irgendwas reagiert. Nicht, dass ich mich heute doch noch vor Scham in der Badewanne ertränken muss. Ich hab das Gefühl, es wäre ein arger Vertrauensbruch, wenn Julius mir davon erzählt, dass er Jungs mag und ich just in diesem Augenblick unter ihm ein Rohr kriege. Wie der letzte Creep.
 

Nein, danke.
 

»Ich check nicht, wie das geht«, murmelt Julius und er klingt sehr müde und sehr angetrunken.
 

»Wie was geht?«, frage ich. Seine Finger streichen immer noch durch mein Haar und ich kann mir ein wohliges Seufzen nicht verkneifen.
 

»Ich mag Jungs. Du magst Jungs. Cem mag alles. Wie sind wir alle auf einem Haufen gelandet«, nuschelt Julius.
 

»Wir finden uns immer irgendwie. Ist ein ungeschriebenes Gesetz. Motten zum Licht, oder so.«
 

Julius fängt erneut an zu glucksen. Seine Augen sind geschlossen und die Bewegungen seiner Finger werden fahrig.
 

»Ich bin bis hierher gerannt, um dir zu sagen, dass ich auf Jungs stehe. Voll dämlich.«
 

Ich schnaube.
 

»Ich bin ziemlich dankbar. Ich dachte, du bist sauer auf mich«, flüstere ich.
 

»Bin nie sauer auf dich.«
 

»Sag das meiner Angststörung.«
 

»Deine Angststörung is’n Arschloch.«
 

»Das stimmt.«
 

Eine ganze Weile lang schweigen wir und ich denke, dass Julius vielleicht eingeschlafen ist. Aber dann öffnet er doch noch einmal den Mund, während seine Finger in meinem Nacken liegen bleiben. Fast ein bisschen, als würde er mich zu sich ziehen und küssen wollen.
 

Was für ein dummer Gedanke.
 

»Warum hast du mir nicht verraten, dass du Jungs magst?«
 

Ich halte die Luft an und mein Herz macht einen heftigen Ruck.
 

»Kann ich... kann ich dir das morgen erzählen... wenn du nüchtern bist?«, krächze ich und bereue es fast ein wenig, denn das alles wäre viel leichter, wenn wir beide voll dabei wären. Aber ich habe das dumpfe Gefühl, dass Julius und ich nicht immer für jede wichtige Unterhaltung betrunken sein sollten.
 

Jetzt, wo ich weiß, dass Julius auch Jungs mag, bin ich sicher. Es ist alles nicht mehr schlimm und gruselig. Oder zumindest nicht mehr so doll wie vorher.
 

»Ja. Ja, ok.«
 

Julius bleibt genau dort liegen, wo er ist, und sein Atem wird gleichmäßig. Ich beobachte ihn eine Weile lang mit hämmerndem Herzen und versuche mir auszumalen, wie ich morgen die richtigen Worte finden kann.
 

Ich bewege mich vorsichtig und drehe mich auf den Rücken, angele nach meinem Handy und schreibe Mari eine Nachricht, dass Julius bei mir eingeschlafen ist und sie sich keine Sorgen machen muss. Ororo krabbelt nach wenigen Minuten zu uns aufs Bett und rollt sich über meinem Kopf auf dem Kopfkissen ein, wo sie leise vor sich hin schnurrt.
 

Meine Gedanken sind zu aufgewühlt, um zu schlafen.
 

Julius mag Jungs.
 

Julius hat mit Cem geknutscht.
 

Julius möchte wissen, wieso ich ihm nicht erzählt habe, dass ich Jungs mag.
 

Ich konzentriere mich sehr auf meine Atmung und starre hoch an die Decke, während Julius im Schlaf näher an mich heranrutscht und sein Gesicht in meiner Halsbeuge vergräbt. Sein Arm liegt locker über meinem Brustkorb und sein Atem kitzelt mich ein wenig am Hals.
 

Wann hab ich mich daran gewöhnt?
 

Ich schlucke.
 

Morgen, denke ich. Morgen erzähle ich Julius von Moritz.
 

*
 

Ich wache auf mit einem Arm voller Julius. Er hat offenbar im Schlaf beschlossen, dass es eine gute Idee ist, mich als Matratze zu benutzen, denn er liegt halb auf mir und hat mir schon wieder auf die Schulter gesabbert. Ich hab ein bisschen das Gefühl, dass er versucht in mich reinzukriechen und ich muss unweigerlich schmunzeln, wenn ich daran denke, wie er noch vor einigen Monaten der Typ fürs Schulterklopfen war.
 

Aber definitiv nicht fürs Kuscheln.
 

Leider Gottes meldet sich mein Körper mit einer sehr peinlichen Morgenlatte bei mir und ich bin nicht sicher, wie ich mich unter Julius herausfädeln kann, ohne ihn aufzuwecken und mich in eine fürchterliche Situation zu bringen, in der ich erklären muss, wieso—
 

»Ich bin wach. Und nüchtern«, nuschelt es in diesem Moment gegen meine Schulter und ich friere in meiner kaum merklichen Bewegung ein. Wenn Julius merkt, was los ist, dann lässt er sich jedenfalls nichts anmerken als er sich mit einem Ächzen von mir herunterrollt und sich die müden Augen reibt, während ich mich hastig aufsetze und die Bettdecke über mein Problem zerre.
 

»Das ist gut?«, sage ich etwas verwirrt darüber, wieso das seine ersten Worte sind, nachdem er aufgewacht ist. Sein Haar sieht aus wie ein geplatztes Kissen und ich kann nicht umhin zu lächeln, als ich ihn mir so verpennt entgegenblinzeln sehe.
 

»Ich mein nur. Wegen gestern. Du hast gesagt wir reden nüchtern«, erklärt er. Seine Stimme klingt immer noch betrunken, aber das liegt vermutlich daran, wie müde er eigentlich noch ist.
 

Julius‘ Worte jagen mir sofort einen kalten Schauer über den Rücken und ich schlucke schwer.
 

»Ähm. Ja. Ok. Ich... äh. Ich würd nur erst... ich geh erst duschen. Und dann... vielleicht Frühstück?«, stammele ich und Julius blinzelt noch ein paar Mal langsam, was mich unweigerlich an Ororo erinnert. Dann nickt er, gähnt und dreht sich einfach auf die Seite, wahrscheinlich, um noch ein wenig vor sich hin zu dösen.
 

Die Tatsache, dass er direkt nach dem Aufwachen daran denkt, was ich ihm gestern versprochen habe, ist eigentlich niedlich, wenn das Thema, um das es dabei geht, nur nicht so scheiße wäre.
 

Ich nehme mein Handy mit ins Bad und tippe eine hastige Nachricht darüber, dass ich gleich mit Julius über Moritz reden werde, in den Gruppenchat. Dann steige ich unter die Dusche und lasse mir so lange Wasser über den Körper laufen, bis meine Finger schrumpelig geworden sind.
 

Hinauszögerungstaktik?
 

Absolut.
 

Ich putze meine Zähne besonders langsam, rasiere mich so gründlich wie sonst selten und nachdem ich Deo benutzt und mein Gesicht eingecremt habe, sehe ich ein, dass ich nicht länger so tun kann, als könnte ich für immer in diesem Badezimmer bleiben.
 

Also wandere ich in meinem Tanktop und meiner Jogginghose zurück in mein Zimmer und stelle fest, dass Julius mittlerweile aufgestanden ist und uns schlichtweg zwei Schalen Müsli und einen Milchkarton besorgt hat.
 

Ok.
 

Er lächelt mich verschlafen an und hat seine Haare in einen zerwurschtelten Knoten verbannt. Als ich mich neben ihn setze huschen seine Augen kurz über meine Arme. Ich prüfe, ob ich irgendwo einen komischen Fleck habe, aber es sieht eigentlich alles in Ordnung aus.
 

Julius ist definitiv rot im Gesicht.
 

»Alles in Ordnung?«, frage ich verunsichert und werfe einen Blick auf mein Handy.
 

Anni

ich hoffe dass alles gut geht!!!
 

Noah

sag ihm, dass dasn sensibles thema ist
 

Lotta

DU BIST SO MUTIG! YOU CAN DO IT!
 

Ich schlucke und lege das Handy beiseite, dann nehme ich eine Schale Müsli von Julius entgegen und lasse ihn Milch darüber kippen.
 

»Oh Gott«, sagt er nach seinem ersten Löffel Müsli.
 

»Hm?«
 

»Ich hab Cem geknutscht.«
 

Ich muss lachen und verschlucke mich fast an meinem Müsli. Nachdem ich ausgekaut habe, schaue ich ihn spitzbübisch an.
 

»Cem sieht ziemlich gut aus«, sage ich. Julius wird noch röter als er ohnehin schon war.
 

»Ich mein. Ja? Ok, geschenkt. Er sieht gut aus. Aber. Es ist Cem
 

»Du bist hier an der falschen Adresse, ich hab ihn auch schon geknutscht«, sage ich und es ist. So befreiend. Da mit Julius drüber zu reden. Ich möchte eigentlich gerne anfangen zu weinen, weil plötzlich alles so viel einfacher und noch wunderbarer geworden ist, als es vorher schon der Fall war.
 

Mein Gott.
 

Julius mag Jungs.
 

Wie um alles in der Welt konnte sich diese schreckliche Nachhilfesituation in das hier verwandeln? In Müsli essen auf meinem Bett, nach einer durchkuschelten Nacht und gemurmelten Bekenntnissen darüber, dass wir beide auf Männer stehen?
 

Wie ist das alles passiert?
 

Ich bin einen Augenblick lang so durchflutet von Glück, dass ich beinahe vergesse, worüber wir eigentlich reden wollen.
 

Julius schnaubt und grinst über meinen Kommentar und ich bin so erleichtert. So erleichtert, dass es für ihn in Ordnung ist, dass ich Cem geknutscht habe.
 

Wow.
 

»Wahrscheinlich fühlt er sich wie der größte Hengst«, sagt Julius gespielt theatralisch und ich muss lachen.
 

»Ich glaube nicht«, sage ich beschwichtigend. Julius sieht mich an und sein Gesichtsausdruck wird weich.
 

»Nein. Nein, wahrscheinlich nicht.«
 

Wir essen ein paar schweigende Löffel Müsli und Ororo kommt zu uns aufs Bett, um zu prüfen, was wir essen. Als ich ihr mein Müsli verweigere, maunzt sie kläglich und verschwindet empört in den Flur.
 

»Es... äh. Es kann sein, dass ich ‘ne Panikattacke kriege. Wenn ich darüber rede«, sage ich schließlich ohne feierliche Einleitung und schaue Julius an. Ich sehe ihn ein bisschen verschwommener als sonst, weil ich meine Brille noch nicht aufgesetzt habe. Aber ich kann erkennen, dass seine Augen groß werden und er seine Schale sinken lässt.
 

»Oh«, sagt er.
 

Ich schrumpfe ein bisschen in mich zusammen und nehme noch einen Löffel Müsli. Eigentlich hab ich keinen Hunger mehr und so reiche ich Julius wortlos meine Schale, nachdem er seine aufgegessen hat und schaue dabei zu, wie er meine auch noch aufisst.
 

»Ähm, ok. Also. Warum ich dir nicht vorher erzählt hab, wieso ich... äh... Jungs mag. Ist. Moritz.«
 

Julius stellt meine jetzt leere Müslischale auf meinen Nachtschrank und ich angele blindlings nach meiner Brille, damit ich keine Regung in seinem Gesicht verpasse, während ich über diese ganze Sache rede. Mein Herz fühlt sich jetzt schon an, als würde es gleich meinen Brustkorb sprengen und ich hab bisher nichts gesagt. Außer Moritz‘ Namen.
 

»Ich... äh. Wir haben Fußball zusammen gespielt und. Er... er war der Kapitän.«
 

Julius macht ein leises »Oh«-Geräusch und ich fühle mich sehr schlecht, weil ich das Gefühl habe, Julius und Moritz in einen Topf zu schmeißen. Was absoluter Unsinn ist.
 

Ich denke an Moritz‘ Grübchen im Kinn und seine kurzen braunen Haare und das laute Lachen und eine Stupsnase ganz ohne Sommersprossen...
 

»Und. Ähm... ich. Ich war. Ich war zum ersten Mal verknallt? Und es gab sonst niemanden, der geoutet war im Jahrgang und. Ähm. Ich... Moritz hat gemerkt, wie ich ihn immer angesehen hab. Und er. Wir haben nach dem Training...«
 

Ich hole ein paar Mal tief Luft und es fühlt sich an, als hätten meine Rippen sich zusammengezogen und das Atmen schwerer gemacht. Meine Kehle ist sehr trocken und obwohl ich eigentlich Julius‘ Gesicht beobachten wollte, schaffe ich es jetzt nicht, ihn anzuschauen.
 

Ohne es wirklich zu registrieren, hab ich schon wieder einen meiner Finger im Mund. Erst als Julius behutsam die Hand ausstreckt, mein Handgelenk greift und meine Hand vom Mund wegzieht, bemerke ich wirklich, dass mein Ringfinger blutet.
 

Oh.
 

»Wir müssen nicht—«, meint Julius, aber ich unterbreche ihn.
 

»Doch. Doch, es—ich muss ja irgendwann mal lernen, darüber zu reden«, krächze ich und stecke meine Hand zwischen meine Oberschenkel, um nicht wieder an meinen Fingern herumzubeißen.
 

Blöde Angewohnheit.
 

Ich wage einen Blick hinüber zu Julius und seine Augen sind rund wie Teller, obwohl er noch nicht wirklich den Knackpunkt der Geschichte gehört hat. Weiß der Geier, was gerade in ihm vorgeht. Aber ich muss erstmal kurz atmen.
 

Atmen.
 

Einatmen. Ausatmen. Einatmen...
 

»Ausatmen.«
 

Julius hat die Hände nach mir ausgestreckt und bugsiert mich auf dem Bett herum, bis er gegen meine Wand lehnt und mich zwischen seinen Beinen sitzen hat, so wie vor einigen Monaten, als wir zusammen Star Trek geschaut haben. Seine Arme schlingen sich um mich wie ein Anschnallgurt und ich lasse meinen Kopf nach hinten auf seine Schulter kippen, schließe die Augen und atme.
 

»Besser?«, nuschelt er gegen mein Haar. Die Finger seiner linken Hand tänzeln über meinen nackten Arm.
 

»Wir waren alleine in der Umkleide. Und. Er ähm. Ich glaube, er war wohl neugierig. Und er... er hat mich angesprochen. Darauf, dass ich... ihn immer so angucke.«
 

Ich lausche Julius‘ Atem, der jetzt kurz aussetzt. Ich schlucke.
 

»Er war genauso groß wie ich«, murmele ich, was überhaupt nichts mit dem Thema zu tun hat. »Und. Er hat gefragt, ob ich ihm...«
 

Ich räuspere mich mehrmals.
 

»Ob ich ihm einen runterholen will.«
 

Julius zieht zischend die Luft ein und ich kann nicht mal richtig sagen, ob es eher empört oder geschockt klingt.
 

»Wir haben nie wirklich geknutscht oder so. Es war... alles immer. Ähm. Sehr... zielstrebig? Und meistens einseitig. Aber mir war das zu der Zeit ziemlich egal. Er hat mich nach dem Training abgepasst und... ähm. Und wir sind ins Trainerbüro verschwunden, oder einfach in der leeren Umkleide geblieben. Und. Ja.«
 

Ein kleiner Teil von mir will unbedingt wissen, was in Julius vor sich geht. Sein Atem geht unregelmäßig, das merke ich, weil mein Rücken direkt an seinem Brustkorb lehnt. Ich öffne die Augen, drehe den Kopf ein wenig und versuche einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen.
 

Er ist knallrot. Und sieht... ich weiß nicht. Entsetzt aus? Ich kann es schlecht einordnen. Julius merkt, dass ich ihn ansehe und seine Hand auf meinem Bauch, die, die nicht meinen Arm streichelt, drückt etwas fester zu.
 

»Er hat dich ausgenutzt«, platzt es schließlich aus ihm heraus.
 

Ich blinzele erstaunt und muss beinahe lachen, aber es kommt mehr als verzweifeltes Schnauben heraus.
 

»Aber ich wollte. Ich wollte, dass er... naja. Es war egal, dass er es nicht bei mir gemacht hat. Es war... es war natürlich eigentlich nicht egal, aber. In dem Moment war es egal. Und ich weiß, dass du das über mich vermutlich nicht denkst, aber ich bin... ähm. Ich bin letztendlich auch nur ein notgeiler Typ? Und ich war verknallt. Und er... manchmal dachte ich, dass er vielleicht... Manchmal haben wir noch geredet, hinterher. Über Fußball oder Schule oder irgendeinen dämlichen Film, den er gut fand. Meistens ist er direkt danach verschwunden.«
 

Julius Arm drückt mich noch ein bisschen fester. Er ist immer noch knallrot im Gesicht—und ich kann nur vermuten, dass es daran liegt, dass diese ganze Sex-mit-Typen-Thematik irgendwie sehr neu für ihn ist—und sein Atem geht ziemlich schnell.
 

»Ein halbes Jahr bevor wir hierher gezogen sind, ist dann alles ziemlich den Bach runtergegangen. Ich glaube, zu dem Zeitpunkt war ich eigentlich schon gar nicht mehr verknallt. Aber ich... ähm. Naja. Er sah... sieht. Halt ziemlich gut aus. Und ich bin. Bist du sicher, dass du mich nicht abscheulich findest?«, krächze ich hilflos. Julius schlingt auch den anderen Arm wieder um mich und vergräbt sein Gesicht in meinen Haaren.
 

»Er ist definitiv abscheulich. Du bist sehr definitiv nicht abscheulich«, murmelt er. Wenn er Moritz jetzt schon abscheulich findet, freut er sich bestimmt über das, was als nächstes kommt.
 

Ich hole noch ein paar Mal tief Luft.
 

»Die Jungs haben uns erwischt. In der Umkleide.«
 

Julius hält die Luft an.
 

»Er saß auf der Bank und ich hab vor ihm gekniet und wollte seine Hose aufmachen und... vier von den Jungs kamen rein. Und... ähm.«
 

Verflucht seien meine brennenden Augenwinkel und das Zittern, das jetzt definitiv durch meinen Körper geistert. Julius greift blindlings nach der Bettdecke und macht aus uns einen halben Kokon, als wüsste er nicht, dass mir eigentlich nicht kalt ist, sondern dass mein Gehirn mit allen Mitteln versucht mir das Leben schwer zu machen.
 

Bilder prasseln gegen mein inneres Auge wie strömender Regen, während ich versuche mich nicht in die Gefühle von vor über einem Jahr hineinzusteigern, aber es ist alles wieder da. Der Geruch der Umkleide, Moritz‘ Finger in meinem Haar, das Geräusch der Tür, die Stimmen von Leo, Jonas, Philipp und Till...
 

»Ich weiß nicht mal mehr wirklich, was alles genau gesagt wurde«, flüstere ich. »Aber es war nicht sehr... freundlich. Sobald die Vier reinkamen, hat Moritz mich von sich weggeschubst. Und er hat... ähm. Er hat so getan, als hätte ich mich an ihn rangemacht. Und. Zack, war ich geoutet. Und die Jungs waren natürlich alle schwer besorgt, dass ich mich an einen von ihnen ranmache. Und...«
 

Ich glaube, ich weine. Aber es ist sehr schwer festzustellen, weil mein ganzer Körper sich taub anfühlt. Julius hat sich in einen Klammeraffen verwandelt, der mich jetzt mit Armen, Beinen und Bettdecke einwickelt, als könnte er so verhindern, dass die Gedanken in meinem Kopf sich wie tausend heiße Nadeln in mein Inneres bohren.
 

»Ich bin aus der Mannschaft ausgetreten. Und hab aufgehört zu spielen«, krächze ich. Ich versuche mich auf Julius‘ Arme zu konzentrieren, die mich so fest halten, als hätte er Angst, ich würde gleich aufspringen und davonlaufen.
 

Ich glaube nicht, dass ich wirklich aufstehen könnte, selbst wenn ich wollte.
 

»Ich hab von meiner Ärztin eine Krankschreibung für den Sportunterricht bekommen. Weil ich... weil ich solche Panikattacken gekriegt hab. Wann immer ich in die Umkleide sollte. Und. Ähm. Ich glaube... ich glaube nicht, dass die meisten aus deiner Mannschaft besonders anders wären. Wenn sie wüssten...«
 

Ich breche ab.
 

Julius‘ Finger wischen vorsichtig über meine Wangen und wir bleiben eine ganze Weile schweigend so sitzen, bis ich nicht mehr weine und meine Atmung sich beruhigt hat.
 

»Wie gut war eure Mannschaft?«, fragt er schließlich aus heiterem Himmel.
 

Ich muss nicht fragen, wie er darauf kommt.
 

»Ziemlich gut. Gut genug für... für die Meisterschaft.«
 

Ein Moment der Stille.
 

»Das heißt. Wenn wir uns qualifizieren. Dann spielen wir gegen diesen Hurensohn?«
 

Ich hab Julius noch nie das Wort Hurensohn benutzen hören.
 

»Ja. Ja, wahrscheinlich.«
 

Julius holt tief Luft.
 

»Ok, das heißt. Wir zocken ihn erst ab. Und dann, wenn er schon ganz klein mit Hut ist. Dann polier ich ihm die Fresse.«
 

Ich schnaube und muss lachen und drehe mich halb auf die Seite, fädele meine Beine über Julius‘ Bein und platziere mein Ohr auf seinem Brustkorb. Sein Herz schlägt wie verrückt.
 

Meine Güte.
 

»Sie haben jetzt einen recht schnellen Stürmer weniger«, sage ich matt.
 

»Unser Glück.«
 

Ich frage mich, ob Julius sich gerade vorstellt, wie es gewesen wäre, gegen mich im Fußball anzutreten. Es hätte passieren können.
 

»Tut mir leid«, sage ich nach einer Weile des Schweigens.
 

»Was? Wieso tut dir was leid?«
 

Seine Stimme klingt sehr empört.
 

Ich schlucke.
 

»Weil ich dich... weil ich dich in einen Topf geschmissen hab. Mit...«
 

»Das macht doch nichts. Ist doch kein Wunder.«
 

Ich hebe den Kopf und sehe ihn hitzig an.
 

»Aber du bist wunderbar!«, sage ich empört und Julius blinzelt, dann wird er wieder genauso dunkelrot wie vorhin, als ich über Handjobs und Blowjobs geredet habe.
 

»Danke«, krächzt er und versucht ein schiefes Grinsen.
 

»Ich glaub nicht, dass ich mit euch spielen kann, wenn ihr... wenn ihr gegen meine alte Mannschaft spielt«, murmele ich betreten.
 

»Das ist ok. Du kannst zuschauen, wie ich ihm ins Gesicht grätsche«, sagt Julius grimmig.
 

»Aber dann kriegst du rot und niemand hat was davon!«
 

»Oh, das würde ich nicht sagen. Ich hätte schon ziemlich viel davon, ehrlich gesagt.«
 

»Julius...«
 

»Ja, ok. Vielleicht nicht ins Gesicht. Aber wenn ich die Gelegenheit habe, kannst du es mir nicht übel nehmen!«
 

Ich muss lachen und vergrabe mein Gesicht in den Händen.
 

»Danke.«
 

»Danke fürs Erzählen«, murmelt er und obwohl es schrecklich ist, darüber zu reden und ich mich fühle, als wäre ich fünfmal hintereinander fast ertrunken, bin ich doch sehr erleichtert, es endlich gesagt zu haben.  

three's not a crowd

Julius bleibt den ganzen Samstag und Sonntag. Wir bestellen experimentelle Pizza—will heißen, wir lassen Anni Nummern durchgeben und gucken dann, was für Pizzen das auf der Karte sind—und Julius erbarmt sich, die Oliven zu essen, die auf meiner Pizza sind. Dafür gibt er mir von seinen Champignons ab, die er zwar isst, aber nicht besonders umwerfend findet.
 

Ich lese ihm mehrere Kapitel aus Ari und Dante vor während er mit dem Kopf auf meinem Schoß liegt. Wahrscheinlich sollten wir eigentlich noch ein bisschen Französisch machen, aber ich bin zu erschöpft, um große Geistesleistungen zu erbringen.
 

»Wenn ich das alles so höre, denke ich mir, dass die beiden eigentlich ein Paar sein sollten«, murmelt Julius am Ende eines der Kapitel und ich blinzele, bis mir einfällt, dass Julius nicht weiß, was das Buch eigentlich noch so beinhaltet.
 

Mein Schnauben lässt ihn die Augen aufschlagen.
 

»Was?«
 

»Du Romantiker«, sage ich amüsiert.
 

Er wird augenblicklich rot und schnaubt.
 

»Was? Sie sind... sie passen!«
 

»Das tun sie«, sage ich verschmitzt.
 

Julius schaut mich misstrauisch an.
 

»Stirbt etwa einer von beiden? Alter, ich bin nicht bereit für noch so’n Spock und Kirk Drama!«
 

Ich muss lachen und halte mir die Hand vor den Mund.
 

»Nein. Nein, niemand stirbt. Alles wird gut«, beschwichtige ich ihn und er sieht ein wenig beruhigt aber immer noch misstrauisch aus.
 

»Ist deine Familie nicht eigentlich sauer, weil du immer tagelang bei mir rumhängst?«, erkundige ich mich nach einer Weile und lege das Buch behutsam zur Seite, nachdem ich ein Lesezeichen hineingelegt habe.
 

»Nah. Ich glaub, meine Mutter ist immer noch begeistert, dass ich so einen schlauen Freund habe. Du hast ‘nen guten Einfluss, meint sie.«
 

Ich ziehe verlegen die Schultern hoch.
 

»Na, ich weiß ja nicht«, murmele ich.
 

Julius grinst.
 

»Alter, ich lerne jeden Abend ne halbe Stunde Vokabeln wegen dir, meine Mutter würde dir den Mond vom Himmel angeln, wenn du danach fragts, ok? Sie ist Vorsitzende des Tamino-Fanclubs«, fährt Julius fort und ich merke, wie mir Hitze in den Kopf steigt. Julius imitiert jetzt die schmachtende Stimme seiner Mutter.
 

»‘Tamino ist so ein guter Junge, Julius, ich bin ganz glücklich, dass das mit der Nachhilfe geklappt hat‘.«
 

Ich lege meine Hand auf Julius‘ Mund, um ihn am Sprechen zu hindern.
 

Seine grünen Augen finden meine und wir schauen uns eine Weile lang schweigend an. Ich stelle fest, dass Julius‘ Lippen ziemlich weich sind und ziehe meine Hand zurück.
 

»Du hast damals gesagt, ich hätte ihr absagen sollen«, erinnere ich ihn, um von meiner Erkenntnis abzulenken.
 

»Ich war offensichtlich ein schwachsinniger Trottel«, gibt Julius schulterzuckend zurück und ich gluckse zufrieden, während Julius gähnt. Ich löse sein Haargummi und streiche ihm durchs Haar.
 

»Vielleicht ein bisschen«, gebe ich amüsiert zurück und Julius streckt mir die Zunge raus.
 

»Müssen wir noch was für die Schule machen, oder können wir noch mehr Star Trek gucken?«, fragt er schließlich und seine Stimme klingt sehr hoffnungsvoll. Ich weiß, dass wir eigentlich was machen sollten, aber ich kriege heute sowieso nichts mehr gebacken. Es ist ein bisschen so, als hätte ich einen Kater vom Gespräch über Moritz. Einen emotionalen Kater.
 

»Ich krieg heute nichts auf die Reihe, fürchte ich. Von mir aus können wir mit Staffel drei anfangen«, sage ich und Julius‘ Gesicht hellt sich auf. Er rappelt sich auf und krabbelt vom Bett, ehe er aus meinem Zimmer verschwindet. Wahrscheinlich hat er sich auf die Suche nach Chips begeben.
 

Mein Handy vibriert und ich öffne eine Nachricht von Feli.
 

»Hey! Wollen wir nächstes Wochenende zusammen mit Cem und Juls einen trinken gehen?«
 

»Woran hast du gedacht?«, antworte ich.
 

Die Antwort kommt prompt.
 

»Glaubst du, Juls geht mit uns in eine queere Bar?«
 

Ich bin kurz verwirrt darüber, wieso er das nicht wollen würde, bis mir einfällt, dass Julius ja gar nicht geoutet ist.
 

»Kannst ihn ja mal fragen«, schreibe ich zurück, als Julius mit zwei Tüten Chips und einer Flasche Fanta zurück in mein Zimmer kommt. Es macht mich sehr zufrieden zu sehen, wie selbstverständlich Julius sich in unserer Wohnung bewegt. Zum ersten Mal, seit wir hierher gezogen sind, hasse ich diese elende Wohnung nicht mehr und das ist alles Dank Julius.
 

Er hat mir Ororo geschenkt.
 

Er ist hier reingewandert und hat sich von Anfang an hier bewegt, als wäre er zu Hause.
 

Mein Herz ist ganz warm während ich daran denke. Julius wirft die Chipstüten aufs Bett und kramt nach seinem Handy. Wahrscheinlich, weil Feli ihm gerade geschrieben hat.
 

»Feli will mit uns in ‘ne Schwulenbar gehen«, sagt er leicht verwirrt.
 

»Queere Bar. Aber ja. Sie hat mich auch schon gefragt«, sage ich. Julius wirft sich neben mich und stellt seine Fanta ab, während ich nach meinem Laptop angele.
 

»Warum will sie da hin?«
 

Ich zucke mit den Schultern und angele die DVDs vom Nachtschrank.
 

»Ich meine... keine Ahnung, ob’s dir aufgefallen ist, aber die Jungs im Jahrgang sind alle eher eklig zu ihr. Vielleicht will sie mal in Ruhe Alkohol trinken und tanzen, ohne, dass ihr einer in den Ausschnitt sabbert«, murmele ich und schiebe die Disk ins Laufwerk. Julius summt verständnisvoll und reißt eine der Tüten auf.
 

»Und? Gehen wir?«
 

»Willst du denn?«
 

Julius scheint darüber nachzudenken.
 

»Ob Cem will?«
 

»Wieso? Willst du wieder mit ihm rummachen?«, frage ich amüsiert und beobachte, wie Julius bis unter die Haarwurzeln rot wird. Es macht mir ein bisschen zu viel Freude ihn in Verlegenheit zu stürzen. Und es geht so einfach.
 

»Nein! Vielleicht? Keine Ahnung!«
 

Ich muss lachen und Julius bufft mich mit dem Ellbogen. Einen Moment lang sieht er aus, als würde er was sagen wollen, aber dann scheint er sich eines Besseren zu besinnen und klappt den Mund wieder zu, bevor er eine Antwort ins Handy tippt.
 

Zwei Minuten später hat Feli eine neue Gruppe eröffnet und uns drei hinzugefügt.
 

Feli

yay! nächste woche in die wunderbar! wann habt ihr zeit?
 

Cem

huh?? wieso gehen wir in ne schwulenbar?
 

Feli

ich dachte, das könnte nett sein?
 

Cem

ich bin nich gerade das was man geoutet nennt
 

Tamino

ich kann euer alibi schwuler kumpel sein
 

Cem

julius?
 

Julius

ich mein. wenn feli und tamino wollen ¯_(ツ)_/¯
 

Feli

ich hab so lang nich mehr getanzt :(
 

Tamino

wenn du mir genug rumcola kaufst, tanz ich mit dir <3
 

Cem

ok, das muss ich sehen
 

Julius

behalt die hosen oben, casanova
 

Cem

halt die fresse, wichser :P
 

Julius schnaubt neben mir und wirft sein Handy zur Seite aufs Bett. Ich starte unterdessen die erste Folge der dritten Staffel.
 

»Ob das alles so’ne gute Idee ist«, murmelt Julius.
 

Nach unserer Aussprache fühle ich mich erstaunlich mutig.
 

»Ich meine... wenn da irgendwo ein hübscher Kerl rumrennt, der gerne einen Blowjob hätte—«
 

Julius lässt eine Hand voll Chips auf mein Bett fallen und ich lache schnaubend, während er sie mit hochrotem Kopf wieder einsammelt.
 

»Wahrscheinlich laufen davon mindestens zwanzig Kerle rum«, krächzt er und schiebt sich die ganze Hand Chips auf einmal in den Mund.
 

»Wenn Cem schon an dich vergeben ist, muss ich mich ja anderweitig umsehen«, sage ich schmunzelnd.
 

Julius blinzelt und holt Luft, um etwas zu sagen, aber er überlegt es sich anders. Sein Gesichtsausdruck hat sich in etwas verwandelt, das ich nicht so richtig deuten kann. Aber immerhin ist das ganze Thema immer noch ziemlich neu für ihn, also lasse ich alle weiteren Bemerkungen stecken und starte die Folge.
 

»Magst du ihn?«, fragt Julius mitten in der Folge.
 

»Huh?«
 

»Cem.«
 

»Oh. Ähm. Naja. Ich mag ihn. Also... ich bin nicht verknallt. Aber er ist schon ziemlich...«
 

Ich räuspere mich und mache eine schwammige Handbewegung. Julius mustert mich von der Seite.
 

»Scharf?«
 

Ich ducke mich und hüstele peinlich berührt.
 

»Ja?«
 

Julius verdreht schmunzelnd die Augen.
 

»Er ist nicht übel«, sagt er gönnerhaft und ich schnaube, aber Julius scheint seltsam zufrieden über meine Antwort zu sein.
 

*
 

Julius und Cem sehen beide aus wie Rehe im Scheinwerferlicht.
 

Selbst Cem, der normalerweise kein Problem damit hat, in jeder noch so stressigen Situation lässig zu wirken, hat leicht geweitete Augen und sein Mund steht halb offen, als wir die »Wunderbar« betreten haben.
 

Feli sieht sehr aufgeregt und glücklich aus. Ich stehe nicht sonderlich auf Bars und Clubs, aber ich war schon öfter mal in einer queeren Bar.
 

Wer hätte gedacht, dass ich jemals ein Partyveteran in einer Gruppe von Menschen sein würde.
 

»Cem, mach den Mund zu«, sage ich amüsiert, lege einen Finger unter sein Kinn und klappe seinen Unterkiefer hoch.
 

Cem blinzelt, schließt den Mund und schaut mich einen Moment lang verwirrt an, dann legt sich ein deutlicher Rotschimmer auf seine Wangen, bevor er sich wegdreht.
 

»Oh... meine...«, murmelt Julius. Ich folge seinem Blick und entdecke etwas weiter hinten in der Bar ein Sofa, auf dem zwei junge Männer sehr innig miteinander knutschen. Ich muss lachen.
 

»Geht ihr nicht dauernd auf diese fürchterlichen Abipartys und Geburtstagsfeiern, auf denen Heteros sich gegenseitig die Zunge in den Hals stecken?«, erkundige ich mich und navigiere den anderen voran Richtung Bar.
 

Die »Wunderbar« ist in zwei Ebenen aufgeteilt. Oben befindet sich die Bar mit jeder Menge gemütlichen Sitzgelegenheiten, unten ist die Tanzfläche, von der man sehr laut MIKA herauftönen hören kann. Die Sessel, Stühle und Sofas hier sind alle bunt durcheinander gewürfelt und überall hängen Lichterketten, Glitzergirlanden und Fahnen in verschiedenen Pride-Farben. Es ist eine ziemlich coole Bar, die ich bislang immer nur von außen gesehen habe.
 

»Alter, das hier ist wie ‘ne andere Welt«, sagt Cem.
 

Die junge Frau hinter der Bar hat kurzgeschorenes Haar, einen Nasenring und trägt Hosenträger über ihrem roten Hemd. Feli sieht aus, als hätte sie gerade eine Vision von der heiligen Mutter Gottes gehabt.
 

»Was darfs denn für euch sein?«, fragt sie freundlich.
 

Ich schaue Feli fragend an, aber sie scheint nicht in der Lage, irgendwas zu sagen. Die Barkeeperin schmunzelt.
 

»Zum ersten Mal hier?«, will sie wissen und ich weiß, dass wir alle synchron nicken.
 

»Ich brauche. Sehr dringend. Ein Bier«, sagt Cem.
 

Die Barkeeperin zeigt auf ihn.
 

»Ein Bier. Und du?«
 

Sie deutet auf Julius.
 

»Irgendwas mit viel Alkohol drin«, sagt Julius mit belegter Stimme. Feli kichert.
 

»Kann ich... gibt es irgendwas Süßes?«, fragt Feli. Ich halte mir die Hand vor den Mund, als die Barkeeperin sich vorbeugt, breit grinst und sagt »Sehr süß sogar«.
 

Ich sehe, wie die Röte in Felis Gesicht steigt, als würde jemand heißes Wasser in ein Behältnis gießen. Es fehlt nur noch, dass ihr Rauch aus den Ohren kommt.
 

»Rum Cola, bitte«, sage ich.
 

Wann genau habe ich mich in das sozial kompetenteste Mitglied dieser Truppe verwandelt?
 

Die Barkeeperin nickt immer noch sehr amüsiert und macht sich an die Arbeit, unsere Getränke zu mixen. Cem bekommt sein Bier als erstes hingestellt. Julius kriegt irgendwas, das vage bräunlich ist und sehr alkohollastig riecht, ich nehme mein Glas mit einem Lächeln entgegen und Feli bekommt einen rosa Cocktail mit Schirmchen, einer Scheibe Melone und einem Zwinkern.
 

Es dauert keine ganze Minute, da hat Cem sein Bier geleert und sich ein zweites bestellt. Ich habe das Geld von Julius‘ Nachhilfe dabei und habe den anderen versprochen, sie davon einzuladen. Also drücke ich jetzt einfach jedem einen fünfzig Euro Schein in die Hand.
 

»Es hat noch nie eine Frau mit mir geflirtet«, haucht Feli. Ich muss lachen und tätschele ihr beruhigend den Kopf.
 

»Irgendwann ist immer das erste Mal. Und du siehst sehr gut aus«, sage ich. Sie lächelt mich schüchtern an und zieht ein bisschen die Schultern hoch. Ich glaube, Komplimente anzunehmen fällt ihr ziemlich schwer. Aber es stimmt.
 

Sie trägt ein grünes Kleid und einen erstaunlich tiefen Ausschnitt dafür, dass sie normalerweise eher versucht ihre Brüste zu verstecken. Das Wunder einer queeren Bar ist natürlich, dass hier nicht alles von pubertierenden Heterojungs bevölkert ist und man deswegen ohne Sorge Dinge tragen kann, in die man sich sonst nicht hinein trauen würde. Ihr langes, braunes Haar ist geflochten und sie trägt einen besonders glitzrigen Lidschatten.
 

Cem und Julius sehen schlichtweg aus wie immer.
 

Ich hab ausnahmsweise ein dunkelrotes Hemd angezogen und die Ärmel hochgekrempelt—eine Tatsache, die meine Freunde zu Hause in Begeisterung versetzt hat.
 

Wir suchen uns einen freien Platz an einem kleinen Tisch, der von mehreren Sesseln umgeben ist. Die knutschenden Jungs auf dem Sofa sind kaum einen halben Meter von uns entfernt. Cem hält sich sehr angestrengt an seinem Bier fest.
 

»Ich gehe nur noch in queere Bars«, sagt Feli mit einem zufriedenen Seufzen und nippt an ihrem Cocktail, der in der Tat sehr süß und klebrig aussieht. Sie hat sogar einen Zuckerrand bekommen und alles.
 

»Alles ok bei euch?«, frage ich etwas besorgt, weil Julius und Cem aussehen, als würden sie jeden Augenblick in Ohnmacht fallen. Ich nehme an, wenn man wie Julius gerade erst herausgefunden hat, dass man auf Männer steht, ist das alles etwas überwältigend. Aber Cem schien mir bisher nicht den Eindruck zu machen, als hätte er seine Bisexualität erst gestern entdeckt. Vor allem nicht, weil er die ganze Zeit wie ein Weltmeister mit mir geflirtet hat.
 

»Ich weiß überhaupt nicht, wo ich hingucken soll«, sagt Julius mit großen Augen und ich muss schnauben. Cem hängt mit den Augen schon wieder an dem knutschenden Pärchen auf dem Sofa.
 

»Alter. All die Möglichkeiten«, haucht er und ich höre ihn kaum über die laute Musik.
 

Ah.
 

Cem leidet schlichtweg unter notgeiler Reizüberflutung.
 

Damit kann man ja arbeiten.
 

Julius und Cem haben sich scheinbar vorgenommen, sich so schnell wie möglich abzuschießen. Feli beobachtet mich interessiert.
 

»Wieviel Rum Cola, bis du mit mir tanzen gehst?«, will sie wissen. Ich muss lachen und schaue mein Glas an. Denn lege ich den Kopf in den Nacken und leere das Glas auf ex. Julius‘ Blick, der an mir haftet entgeht mir nicht. Als ich zu ihm herüber schaue, bemerke ich, dass Cem mich auch anstarrt.
 

»Was?«
 

Cem schnaubt und wedelt mit seiner Hand in meine Richtung.
 

»Er möchte sagen, dass du sehr hübsch anzusehen bist«, erklärt Feli diplomatisch. Ich hüstele.
 

»Das ist nicht unbedingt der Ausdruck, den ich benutzt hätte«, sagt Cem und zwinkert mir zu. Ich ziehe die Schultern hoch und beschließe, dass ich dringend zur Bar flüchten muss, um mir mehr Rum Cola zu besorgen. Die Barkeeperin erkennt mich wieder und grinst mir zu, ehe sie sich meiner Bestellung zuwendet.
 

Ich frage mich, ob Feli sich vorstellen kann, was mit einer Frau anzufangen.
 

Bisher hat sie darüber nichts gesagt.
 

Ich schiebe die drei Gläser Rum Cola, die ich bestellt habe, zusammen und nehme sie behutsam in beide Hände, damit ich nichts verschütte. Als ich damit zurück zum Tisch komme, macht Julius Augen wie ein Auto.
 

»Alter«, sagt er.
 

»Feli will tanzen«, sage ich, als würde das alles erklären, setzte das erste Glas an und leere es mit wenigen Zügen.
 

Er herrscht geschocktes Schweigen, während ich alle drei Gläser hintereinander leere und nacheinander wieder auf den Tisch vor uns stelle.
 

»Was?«, frage ich.
 

»Ok, ich muss irgendwen aufreißen«, sagt Cem, als hätte das irgendwas damit zu tun, dass ich drei Gläser Rum getrunken habe. Ich verstehe nur noch Bahnhof. Julius und Cem stecken die Köpfe zusammen und reden über irgendwas, das scheinbar nicht für Felis und meine Ohren bestimmt ist.
 

Felis Augen kleben an der Barkeeperin auf der anderen Seite des Raum.
 

»Mir war nicht klar, wie gut Frauen mit kurzen Haaren aussehen. Und Nasenringen. Und. Hemden«, sagt sie. Ich muss grinsen.
 

»Hast du gerade ein sexuelles Erwachen?«, will ich wissen.
 

»Vielleicht«, sagt sie, dann läuft sie scharlachrot an und vergräbt das Gesicht in den Händen.
 

»Cem! Gehst du noch mal mit mir zur Bar?«, ruft Feli quer über den Tisch. Julius nibbelt immer noch an seinem scheinbar so stark alkoholischen Drink, das er immer nur kleine Schlucke nehmen kann, während Cem sein Bier bereits geleert hat. Er nickt und folgt Feli Richtung Bar.
 

Ich nehme das zum Anlass mit meinem Stuhl zu Julius zu rutschen.
 

»Alles in Ordnung?«, frage ich und beuge mich zu ihm herüber. Unsere Gesichter sind sehr dicht beinander und Julius blinzelt mir entgegen, dann sehe ich ihn schlucken.
 

»Uh huh«, gibt er zurück.
 

»Du siehst’n bisschen verängstigt aus«, erkläre ich.
 

»Ist auch alles neu«, meint er verlegen und ich muss lächeln. Mein Herz fühlt sich an, als wolle es auf die doppelte Größe anschwellen, weil ich so viel Zuneigung zu diesem bekloppten Kerl empfinde, der Moritz Grätschen ins Gesicht androht und dann aussieht wie ein Hase vor der Schlange, wenn er in eine queere Bar geht und Männer miteinander knutschen sieht.
 

Nach vier so schnellen Gläsern Rum Cola spüre ich definitiv ein angenehmes Kribbeln.
 

»Kann ich dich küssen?«, frage ich.
 

Julius zuckt so heftig zurück, dass ich hastig meine Hände hebe, um ihn zu beschwichtigen. Oh, meine Güte. Tamino, benutz deine Worte.
 

»Auf die Stirn! Oh Gott, sorry!«
 

Julius‘ Augen sind wenn möglich sogar noch runder geworden und das Rot seiner Haut reicht bis unter die Haarwurzeln.
 

»Vergiss es, ich—das war. Ich wollte nicht—es war nur. Manchmal finde ich dich sehr wunderbar und—ähm«, stammele ich verlegen und ich sehe, wie Julius‘ Gesichtsausdruck schmilzt und er mir ein sehr kleines Lächeln schenkt.
 

»Du musst nicht fragen«, meint er.
 

»Wir sind in der Öffentlichkeit«, erinnere ich ihn. Er zuckt mit den Schultern und schaut sich um.
 

»Nicht so richtig«, meint er und ich verstehe, was er meint. Es ist ein geschlossener, sicherer Raum. Die beste Art von Raum. Ich lehne mich vor und drücke Julius einen Kuss auf die Stirn, gerade als Cem und Feli zurück kommen.
 

»Fangt ihr jetzt etwa auch an?«, will Cem mit leuchtenden Augen wissen und sieht zwischen uns hin und her.
 

»Keine Bange«, gebe ich amüsiert zurück und nehme das neue Glas Rum Cola entgegen, das Cem mir mitgebracht hat. Julius hat offenbar beschlossen, dass er sein Glas schneller leeren muss, denn er sieht sein Getränk sehr entschlossen an und kippt es dann in einem Rutsch.
 

Es vergeht noch etwa eine halbe Stunde, in der wir öfter zur Bar rennen, als es wahrscheinlich vernünftig ist, aber Feli bekommt noch zwei Komplimente von der Barkeeperin und wird immer kicheriger, während Cems Augen mittlerweile auch definitiv glasig sind und ich fühle mich nach noch zwei Rum Cola definitiv nicht mehr zu ängstlich, um mit Feli zu tanzen.
 

Also verlegen wir unseren Sitzplatz nach unten, wo an den Wänden jede Menge Sessel und Bänke stehen.
 

»Ok, also. Was für Kerle findest du scharf?«, will Feli von Cem wissen, als wir uns niederlassen. Weil nicht so viel Platz ist, klopfe ich auf meine Schenkel, damit Feli sich auf meinen Schoß setzen kann. Wir sitzen so jetzt zwischen Julius und Cem.
 

»Tamino zum Beispiel«, sagt Cem mit leichtem Lallen und ohne jegliche Scham. Ich stammele ohne Worte vor mich hin und verstecke mein Gesicht an Felis Rücken während Julius amüsiert schnaubt.
 

»Julius ist auch nicht so übel«, sagt Cem freiweg und jetzt ist es an Julius zu hüsteln.
 

»Ich meine. Ich versteh, was du meinst. Aber sonst so?«, sagt Feli absolut ungerührt. Cem nimmt sich Zeit sich umzuschauen. Es sind unter anderem mehrere Drag Queens und ein junger Mann mit einer pinken Federboa auf der Tanzfläche.
 

»Der im grünen Shirt ist nicht übel«, sagt Cem schließlich und ruckt mit dem Kopf Richtung einer Sesselgruppe schräg gegenüber. Ich suche nach einem grünen Shirt und finde einen jungen Mann mit brauner Haut, grasgrünem Hemd und einem sehr breiten Lächeln. Als er einem seiner Freunde die Zunge heraussteckt, sieht man, dass er ein Zungenpiercing hat.
 

»Ziemlich süß«, stimme ich zu. Feli holt gerade Luft, um zu antworten, als die ersten Klänge von Rihannas S&M aus dem Lautsprechern ertönen. Sie quietscht und springt von meinem Schoß auf, ehe sie mich ansieht und die Hände nach mir ausstreckt.
 

»Wie eng darf ich mit dir tanzen?«, will sie wissen, während sie mich strahlend auf die Tanzfläche zieht. Ich muss lachen.
 

»So eng du magst«, gebe ich zurück.
 

Feli sieht sehr glücklich aus als sie ein Plätzchen für uns findet und dann... ja. Dann tanzen wir. Ich glaube, ich bin nur so mittelgut im Tanzen, aber je nach Alkoholpegel habe ich nichts dagegen und Feli sieht ausgesprochen selig aus. Ihr Kleid wirbelt um ihre Beine, wenn sie sich dreht und ihre Augen funkeln und es macht ihr überhaupt nichts, wenn ich auf der Tanzfläche hinter ihr stehe und die Arme um sie lege.
 

Sie legt den Kopf in den Nacken, um mich anzulächeln und ich lächle zurück.
 

»Ich glaube, da gibt’s noch mehr Leute, die gern mit dir tanzen würden«, ruft sie mir über die laute Musik zu. Ich weiß nicht, wen sie meint und zucke hinter ihr mit den Schultern. Vielleicht ist Feli so glücklich, weil sie eng mit einem Jungen tanzen kann, ohne dass der ein unerwünschtes Rohr davon bekommt, dass ihr Hintern sich in der Nähe seines Schritts befindet.
 

»Aber ich tanze mit dir«, rufe ich zurück. Sie umarmt mich mitten auf der Tanzfläche.
 

»Danke fürs Mitkommen!«, sagt sie in mein Ohr und ich hebe sie ein bisschen hoch und drehe sie im Kreis, was ihr ein Quietschen entlockt. Wir tanzen zu ABBAs Dancing Queen und zu Britney Spears‘ Toxic, während Julius und Cem sich scheinbar auf die Jagd nach noch mehr Alkohol machen. Sie kommen eine ganze Weile nicht wieder und ich frage mich, ob sie sich noch mehr Mut antrinken, oder ob Cem einfach zwischendurch mal eine rauchend wollte.
 

Als die beiden zurück kommen, haben sie für Feli und mich mehr Getränke mitgebracht und wir machen eine Tanzpause. Cem und Julius starren mich beide sehr merkwürdig an und ich versuche die Blicke zu ignorieren. Der Alkoholpegel allein verhindert, dass ich mich nicht hineinsteigere, dass die beiden mich beim Tanzen absolut lächerlich fanden.
 

Als Karma Chameleon gespielt wird, taucht jemand vor uns auf und ich schaue hoch zu der Barkeeperin. Feli macht neben mir ein Geräusch das irgendwo zwischen Panik und Überraschung schwankt. Dann streckt die Barkeeperin die Hand nach Feli aus und grinst sie an. Feli sieht aus, als würde sie gleich ohnmächtig werden. Sie ist knallrot im Gesicht, drückt mir dann aber entschlossen ihren halb geleerten Cocktail in die Hand und steht auf.
 

»Da nutzt jemand seine Pause effektiv«, rufe ich amüsiert, während ich den beiden beim Tanzen zuschaue.
 

»Queerbars sind magische Orte«, entgegnet Cem. Er lallt mittlerweile sehr.
 

»Und? Sind sie magisch genug, um euch beide auch zum Tanzen zu bewegen?«, will ich wissen und leere mein Glas. Dann sehe ich zu Feli hinüber und ich bin mir fast sicher, dass sie so schnell nicht zu ihrem Cocktail zurück kommen wird, also leere ich ihr Glas schlichtweg ebenfalls.
 

Jap. Definitiv betrunken.
 

»Kommt drauf an, mit wem ich tanzen soll«, gibt Cem zurück.
 

Ich fasse in meinem stark alkoholisierten Gehirn einen Entschluss und stehe leicht schwankend auf. Dann strecke ich beide Hände nach Julius und Cem aus, die beide kurz verwirrt und vielleicht ein wenig erschrocken aussehen. Cem ist der erste, der meine Hand nimmt und sein leeres Bier beiseite stellt. Julius leert hastig sein Glas mit brauner Flüssigkeit und steht ebenfalls etwas wackelig auf, ehe er nach meiner Hand greift, gerade als Lady Marmelade anfängt zu spielen.
 

Ich glaube, die beiden wissen nicht so recht, was genau eigentlich mein Plan ist, bis ich Julius und Cem voreinander stelle und hinter Julius anfange zu tanzen. Es ist nur einen winzigen Moment komisch, bis Cem sehr breit grinst, eine Hand auf Julius‘ Hüfte legt und Julius jetzt in einem Sandwich aus Cem und mir steckt und wir ihn von vorne und hinten antanzen.
 

Ich kann sein Gesicht nicht sehen, aber seine Körpersprache sagt mir für gute drei Sekunden, dass er gerne im Boden versinken würde, bis...
 

Jap.
 

Cem packt Julius mit seiner freien Hand am Kragen seines Shirts und zieht ihn nach vorne und dann darf ich live und in Farbe sehen, wie Julius zwischen uns schmilzt, als Cem ihn beduselig knutscht.
 

Ok, vielleicht hab ich mir das genauso vorgestellt.
 

Vielleicht bin ich gerade viel zu angeturnt.
 

Das »Voulez-vous couchez avec moi«, das im Hintergrund läuft, macht es auch nicht viel besser.
 

Ich habe eine Hand auf Julius‘ Hüfte und die andere auf Cems Schulter liegen. Fuck. Das Ganze war gleichzeitig eine grandiose und schreckliche Idee. Als Julius und Cem aufhören zu knutschen frage ich mich kurz, ob ich den beiden vielleicht ihre Ruhe lassen sollte, als Julius sich kurz vorbeugt, Cem irgendetwas ins Ohr sagt und die beiden sich kurz von mir abkapseln, was mir einen winzigen Augenblick der Panik beschert, bis Cem in der Mitte von Julius und mir landet, seine Hände in meinem Hemdkragen vergräbt und mich zu sich herunterzieht.
 

Ich sehe noch einen Wimpernschlag lang Julius‘ rotes Gesicht und seinen leicht geöffneten Mund, der vom Küssen noch ganz feucht ist, dann pressen sich Cems Lippen sehr nachdrücklich auf meinen Mund und ich mache ein unfreiwilliges Geräusch und schließe die Augen.
 

Da Cem sogar noch etwas kleiner ist als Julius, muss ich mich recht weit nach unten beugen. Einen wahnwitzigen Moment lang frage ich mich, ob das heißt, dass ich Julius auch noch küssen werde.
 

Wäre das schlimm?, fragt eine leise Stimme in meinem benebelten Gehirn.
 

Nein. Nein, wäre es definitiv nicht. Ich merke mehr als dass ich es höre, dass Cem gegen meinen Mund stöhnt und da eine seiner Hände immer noch an meinem Kragen und die andere in meinem Nacken verweilt, ist die Hand auf meiner Hüfte definitiv die von Julius. Sie findet etwas nackte Haut unter meinem Hemdsaum und.
 

Fuck.
 

Es fühlt sich an, als würde ich in Flammen stehen.
 

Ich will mehr anfassen, alles an Haut küssen, was ich erreichen kann, ich will, ich willichwill—
 

Als Cem sich von mir löst, um Luft zu holen, finden meine Augen Julius‘ Gesicht. Er starrt mich mit immer noch leicht geöffnetem Mund an und als unsere Blicke sich treffen leckt er sich definitiv über die Lippen. Mir schießt Hitze in den Schritt.
 

Fuck.
 

Seine Hand ist immer noch halb unter meinem Hemd.
 

Hab ich mittlerweile einfach vergessen zu tanzen, oder bewege ich mich noch? Ich weiß, dass ich abwechselnd auf Julius‘ Mund und in seine Augen starre und sein Blick sieht glasig und... nach irgendwas anderem aus, das ich nicht benennen kann. Ich merke, das Cem sich zwischen uns wegbewegt und wir uns plötzlich direkt gegenüber stehen.
 

Mein Herz hämmert irgendwo in der Gegend meines Adamsapfels und ich wünsche mir plötzlich, dass wir irgendwo wären, wo nicht so viele Leute sind.
 

Soll ich...?
 

Aber in diesem Moment scheint in Julius eine Sicherung durchzubrennen, denn er duckt sich zwischen Cem und mir weg und murmelt irgendetwas, das man durch die laute Musik nicht hören kann.
 

Und dann ist er verschwunden.

Konsequenzen

Fuckfuckfuckfuckfuckfuck
 

»Julius?«
 

Die Backsteinmauer in meinem Rücken fühlt sich kalt und unnachgiebig an und sie ist der einzige Halt in einer Welt, die sich sehr schnell dreht, während mein Herz Tätowierungen gegen meine Rippen hämmert.
 

Wahrscheinlich buchstabiert es Taminos Namen.
 

Die behutsame Aussprache meines Namens lässt mich den Kopf drehen. Feli ist mir nach draußen gefolgt, ihr geflochtener Zopf hat sich bei all dem Tanzen etwas in Wohlgefallen aufgelöst und ihr glitzerner Lidschatten hat eine sanft funkelnde Staubschicht auf ihren Wangen hinterlassen.
 

Sie sieht ein bisschen aus wie eine Fee.
 

»Hey«, krächze ich.
 

Feli kommt zu mir und lässt sich neben mir auf dem kalten Asphalt des Gehwegs nieder, ehe eine ihrer Hände sich vorsichtig auf meine Schulter legt.
 

»Ist alles ok?«, fragt sie besorgt. »Ich hab gesehen, wie du Hals über Kopf geflüchtet bist. Ist dir schlecht?«
 

Meine Stimme geht irgendwo auf dem Weg an meiner Zunge vorbei verloren und ich gebe nur ein klägliches Geräusch von mir, während ich immer noch krampfhaft versuche den Aufruhr in meinem Brustkorb zu beruhigen.
 

Fast hätten wir uns geküsst. Tamino hätte mich fast geküsst.
 

»Ähm«, bringe ich hervor. »Ich—«
 

Ich bin wirklich ziemlich hacke.
 

»Julius«, sagt Feli noch mal, so sanft, dass ich unweigerlich aufschaue und sie ansehe. »Du weinst.«
 

»Huh?«
 

Ich weine nicht. Ich hab seit Jahren nicht geweint. Ich glaube nicht, dass ich mich so richtig dran erinnern kann, wann ich das letzte Mal—
 

Oh.
 

Als ich meine Hand zu meinem Gesicht hebe, merke ich, dass meine Wangen definitiv nass sind.
 

Felis Finger wischen behutsam ein paar Tränen fort, aber aus unerfindlichen Gründen führt das nur dazu, dass noch mehr davon auftauchen. Was zum Teufel?
 

Ich weine nie.
 

Vielleicht hab ich das letzte Mal geweint, als mein Vater aus unserem Leben verschwunden ist. Das ist so viele Jahre her. Und ich war dabei garantiert allein in meinem Zimmer und nicht auf einem öffentlichen Gehweg mitten in der Innenstadt vor einer queeren Bar, in der ich gerade fast Tamino geküsst hätte.
 

Fuck. Fuck!
 

Feli macht kurzen Prozess. Ohne zu wissen, was eigentlich los ist, krabbelt sie auf meinen Schoß, zieht mich zu sich und lehnt meinen Kopf so an ihre Schulter. Oder auf ihren Brustkorb. Ich glaube, ich heule Feli gerade in den Ausschnitt und ich verstehe nicht mal so richtig wieso eigentlich.
 

Ihre Finger streichen behutsam über meinen Kopf. Sie riecht nach irgendeinem blumigen Parfum. Meine Arme haben sich selbstsändig gemacht und sich um Felis Oberkörper geschlungen und ich halte mich an ihrer kleinen, zierlichen Form fest wie ein Ertrinkender auf hoher See.
 

Scheiße.
 

Feli ist definitiv auch ziemlich betrunken, ich höre sie lallen während sie beruhigende Dinge gegen mein Haar flüstert.
 

»Psscht, alles ist gut. Brauchst du irgendwas? Wir können einfach so hier sitzen bleiben«, murmelt sie.
 

War weinen schon immer so anstrengend, oder hab ich einfach nur vergessen, wie es sich anfühlt?
 

»Sollen wir gehen? Möchtest du nach Hause?«
 

Sie fragt nicht warum ich weine. Oder warum ich abgehauen bin. Unweigerlich denke ich daran, dass die Jungs aus meiner Mannschaft vollkommen entsetzt darüber wären, dass ich mit dem Gesicht so dicht an Felis Ausschnitt bin und es überhaupt nichts Sexuelles damit auf sich hat.
 

Dann erinnere ich mich daran, wie viele aus dem Jahrgang sie behandelt haben und dass ich nichts dagegen gesagt habe wie der beschissenste Feigling unter der Sonne. Und trotzdem hockt sie hier auf meinem Schoß und streichelt mein Haar und ich drücke sie noch ein bisschen fester, weil es mir so leid tut, dass ich sie nicht vor allen verteidigt habe.
 

»Ich weiß nicht«, bringe ich schließlich hervor. Ich weiß überhaupt nichts mehr.
 

Warum zum Teufel kann ich nicht aufhören zu heulen?
 

Ich merke, wie Feli sich suchend umschaut. Ich frage mich, ob sie schaut, wo sie mit mir hingehen könnte, wo nicht irgendwelche wahllosen Passanten vorbeikommen und man nicht weit hin gehen muss. Leider ertönt in diesem Moment eine Stimme, die mich in einen ziemlich unbekannten Panikmodus versetzt.
 

»Julius?«
 

Tamino ist mir nachgekommen. Ich meine. Natürlich ist er das. Ich hab seinen beknackten Mund angestarrt und mir über die Lippen geleckt und mir nichts mehr gewünscht, als—
 

Ich merke, dass Feli ihren Arm bewegt und ich glaube, dass sie vielleicht ihren Finger auf die Lippen legt. Selbst wenn Tamino mein Gesicht nicht sehen kann, muss ihm irgendwie klar sein, was hier gerade los ist. Die Vorstellung der absoluten Panik auf seinem Gesicht, dass er irgendwas falsch gemacht hat, bringt meinen Brustkorb dazu, sich schmerzhaft zusammenzuziehen, aber ich kann unmöglich mit ihm reden oder mich erklären, oder ihn ansehen.
 

Also bleibe ich, wo ich bin und halte die Luft an.
 

Ich kann mir die stumme Kommunikation zwischen den beiden nur vorstellen, aber schließlich höre ich Schritte und dann ist Tamino wieder verschwunden.
 

»Er ist weg«, sagt Feli leise. »Wir können zu mir gehen. Ist nur fünf Minuten zu Fuß.«
 

Ich nicke.
 

Feli klettert von meinem Schoß und hilft mir aufzustehen. Ich denke eine Sekunde darüber nach, den anderen beiden zu sagen, dass wir gehen, aber ich hab keine Energie dafür. Feli nimmt mich bei der Hand und zieht mich durch die nächtlich belebten Straßen, während ich mit meinem Ärmel versuche mein Gesicht halbwegs unter Kontrolle zu kriegen und die dämlichen Tränen loszuwerden.
 

Reiß dich zusammen, Juls. Das ist doch absolut lächerlich.
 

Es ist nichts passiert. Nichts.
 

Es dauert wirklich nicht lange, bis wir vor einem gelbgestrichenen Neubau mit quadratischen Fenstern und kleinen Balkonen ankommen und Feli einen Schlüssen aus ihrer Tasche kramt.
 

Ich war noch nie bei ihr zu Hause. Ich weiß eigentlich so gut wie nichts über sie. Kommt sie gut mit ihren Eltern klar? Sind die noch zusammen? Hat sie überhaupt Geschwister?
 

Mein Kopf fühlt sich an, als würde er jeden Augenblick explodieren. Es sind zu viele Gedanken mit zu viel Alkohol gemischt darin.
 

Feli wohnt im ersten Stock und bugsiert mich kurzerhand durch einen kleinen, schmalen Flur in ein Zimmer ganz am Ende des Ganges. Und dann stehe ich zum ersten Mal in ihrem Zimmer.
 

Es ist klein und vollgestopft und unordentlich ohne Ende. Irgendwie ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe. Feli navigiert mich an einem Berg Klamotten vorbei auf einen Sitzsack und verschwindet dann wieder aus dem Zimmer, ehe sie die Tür leise hinter sich schließt. Ich bin froh festzustellen, dass ich nicht mehr heule.
 

Ein guter Anfang.
 

Aber es ist immer noch ein schrecklicher Knoten in meinen Eingeweiden und mein Gehirn fühlt sich an, als wäre es auf Speed, während mein Körper einfach nur taub und müde vom Alkohol ist. Scheiße.
 

Auf der Fensterbank stehen jede Menge Pflanzen und Blumen. Dumpf registriere ich eine offene Schublade, in der man Unterwäsche sehen kann. Die Stimmen meiner Mannschaftskameraden dröhnen durch meinen Kopf und ich schaue woanders hin.
 

Das ist der Grund, wieso ich in diesem Zimmer sein darf. Weil ich nicht in dümmliches Grinsen verfalle im Angesicht von Felis Unterwäsche. Und wahrscheinlich, weil ich ein ganz netter Kerl bin.
 

Außer wenn nicht.
 

Ugh.
 

Feli kommt zurück. Sie hat sich abgeschminkt und ihre langen Haare gekämmt und in einen unordentlichen Puschel auf ihrem Kopf zusammengebunden. Außerdem trägt sie eine Flasche Wasser in der Hand und reicht sie mir wortlos, ehe sie in ihrer Kommode anfängt nach irgendetwas zu kramen.
 

Ich trinke die halbe Flasche Wasser und frage mich, wann genau mein Leben so aus den Fugen geraten ist.
 

Du weißt genau, wann.
 

Ich mache ein Geräusch wie ein sterbendes Nashorn als Feli plötzlich ihr Kleid über den Kopf zieht und auf einen der Kleiderhaufen auf dem Boden wirft. Mir fällt fast die Flasche runter, weil ich sehr eilends meine Augen zuhalte. Feli kichert.
 

»Kein Stress. Ich weiß doch, dass du nichts von mir willst«, sagt sie sanft und als ich das nächste Mal gucke, hat sie ein großes Schlafshirt und eine karierte Pyjamahose an.
 

»Süß«, sage ich, als ich den flauschigen Panda auf dem Shirt bemerke.
 

Sie lächelt, dann wirft sie sich aufs Bett und schaut mich aus ihren großen, blauen Augen an.
 

»Ich... äh... ich. Mag Jungs«, sage ich. Weil es natürlich genau das ist, was Feli sich die ganze Zeit gefragt hat. Nachdem ich mitten auf der Tanzfläche mit Cem geknutscht habe, kann sie sich vermutlich denken, dass ich zumindest nicht stockhetero bin.
 

Sie legt den Kopf schief und nickt.
 

»Ja. Das macht Sinn«, meint sie dann. Ich frage sie nicht, wieso sie findet, dass das Sinn macht. Ich nehme an, wenn ein Junge unter Feli sitzt und eine Stunde lang mit ihr knutscht ohne ein Rohr zu bekommen, dann ist das womöglich ein klares Anzeichen für Schwulsein oder Impotenz.
 

»Nur Jungs?«
 

Ich nicke. Sie summt verstehend und lächelt.
 

»Möchtest drüber reden? Über eben?«, fragt sie. Sie lallt immer noch, aber ihre Augen sind seltsam fokussiert. Ich frage mich, wie oft sie schon betrunken heulende Leute getröstet und ihnen ein offenes Ohr angeboten hat.
 

Ich ziehe die Schultern hoch und starre auf meine Schuhe.
 

»Ich glaube nicht, dass ich selber weiß, was eigentlich ist«, murmele ich schließlich. Feli rutscht auf dem Bett zur Seite und klopft neben sich auf die Matratze. Ich kicke meine Schuhe von den Füßen und hocke mich neben sie aufs Bett, aber sie hat offenbar ein paar Nachhilfestunden von Tamino genommen, denn sie zieht mich nach unten in eine liegende Position und umarmt mich von der Seite.
 

»Ok?«
 

»Hmhm«, nuschele ich. Ich glaube Tamino hat mich ganz generell in ein körperkontakthungriges Monster verwandelt. Feli zuppelt an meinem Zopfgummi und wirft es neben das Bett.
 

»Weich«, stellt sie fest, als sie durch meine Haare fährt. Ich tätschele prüfend ihren Knoten.
 

»Selber«, gebe ich zurück.
 

Sie kichert leise.
 

»Wir können auch einfach schlafen, wenn du willst«, sagt sie schließlich nach einer Weile des Schweigens.
 

»Ich bin in Tamino verliebt«, platzt es aus mir heraus.
 

»Oh«, haucht Feli. Sie richtet sich halb auf und stützt sich auf ihrem Ellbogen ab, sodass sie zu mir herunterschauen kann. »Ohhh...«
 

Ich schlucke.
 

Keine Ahnung, ob das mein dummes Verhalten erklärt. Ich hab keine Ahnung, wie dieser ganze Scheiß funktioniert, aber mein Gehirn ist neblig und schwimmt in irgendetwas, das vielleicht irgendein Kräuterschnaps war.
 

»Weiß Cem das?«, fragt Feli mit gerunzelter Stirn. Ich weiß sofort, wohin ihre Gedanken gegangen sind.
 

»Ja. Ja, ich—äh. Ich habs ihm erzählt. Aber ich hab. Er... ich hab gesagt, dass er nicht aufhören muss mit. Ähm. Mit Tamino rumzumachen.«
 

»Was? Warum? Ist er nicht dein bester Kumpel?«
 

»Ja. Deswegen. Die beiden sind scharf aufeinander. Solange sie nicht ineinander verknallt sind... macht es ja nichts«, krächze ich.
 

Es ist heiß, denke ich stumm bei mir. Es ist heiß den beiden zuzuschauen.
 

Das werde ich lieber nicht laut sagen. Feli hat die Stirn immer noch gerunzelt und scheint darüber nachzudenken.
 

»Und vorhin auf der Tanzfläche... ich hab euch gesehen«, meint sie leise. Ich friere ein und hole tief Luft.
 

»Er wollte... wir hätten fast—«
 

Ich lege meinen Unterarm über meine Augen und versuche sehr angestrengt, das Prickeln in meinen Augenwinkeln zu ignorieren. Fuck, Julius. Was ist dein beschissenes Problem?
 

»Willst du ihn nicht küssen?«, fragt Feli ganz behutsam. Als wäre ich was Zerbrechliches.
 

Und fuck, vielleicht bin ich zerbrechlich. Ich hab keine Ahnung mehr, was eigentlich los ist. Mit sehr großer Anstrengung ziehe ich den Arm von meinem Gesicht und schaue sie an. Ich spüre, dass meine Augen schon wieder feucht sind.
 

»Es würde nichts... es wäre nur—es wäre nur«, ich breche ab und schlucke mehrmals. Felis Gesichtsausdruck ist so zärtlich, dass ich allein deswegen direkt wieder anfangen möchte zu heulen.
 

»Und. Er würde es merken. Er würde es sofort merken, wenn ich ihn küsse. Dass ich in ihn—dass ich... Wahrscheinlich werde ich ohnmächtig, wenn er mich küsst. Ich dreh durch, wenn ich nur seine bekloppten Unterarme angucke. Er hat—er hat gefragt, ob er mich küssen kann, vorher. Auf die Stirn. Und ich bin fast aus der Haut gefahren. Ich glaub, ich dreh durch«, krächze ich heiser und muss mein Gesicht jetzt doch wieder verstecken.
 

Fuck.
 

Gefühle sollten dringend abgeschafft werden. Ich würde sie gerne deinstallieren. Umtauschen. Loswerden. Mein Herz fühlt sich tonnenschwer und hyperaktiv zur gleichen Zeit an. Beim Gedanken an Taminos Augen, die sich in meine gebohrt haben und die meinen Mund angesehen haben, als würde... als würde er mich so dringend küssen wollen.
 

Single und notgeil.
 

Das hat er gesagt. Darum geht es.
 

Guckt man so jemanden an, wenn man nur notgeil ist? Ich hab keine Ahnung, wie dieser Scheiß funktioniert, weil ich nicht zur notgeilen Brigade gehöre und diese ganze verfickte Scheiße mit sexueller Anziehung überhaupt keinen Sinn in meinem Kopf ergibt.
 

Warum bist du so bescheuert, Julius? Warum kannst du nicht normal sein und mit deinem Schwanz denken und dich nicht so anstellen?
 

»Aber vielleicht mag er dich auch?«
 

»Nein«, sage ich sehr leise.
 

»Sicher?«, fragt Feli zweifelnd.
 

»Sicher«, flüstere ich.
 

»Das tut mir sehr leid«, flüstert sie zurück und legt sich wieder neben mich, der Kopf an meiner Schulter.
 

»Kann ich hier pennen?«, frage ich heiser.
 

»Na klar«, sagt sie.
 

Ich merke kaum, wie Feli noch mal aufsteht und das Licht ausmacht und dann die Bettdecke über uns ausbreitet. Meine Gedanken beim Wegdämmern drehen sich um Taminos Mund und seine dunklen Augen und die Art, wie er mich angesehen hat.
 

*
 

Als ich aufwache, bin ich sehr desorientiert. Ich habe jemanden im Arm, aber es ist nicht die Person, die ich sonst im Arm habe, wenn ich aufwache. Es dauert ein paar Herzschläge, bis mir einfällt, dass ich bei Feli im Zimmer bin.
 

Weil ich gestern geflennt habe wie ein Schlosshund.
 

Weil.
 

Fuck.
 

Ich krame fahrig nach meinem Handy in meiner Hosentasche. 17 ungelesene Nachrichten aus drei Chats. Fuck.
 

Cem

ALTER WFT
 

Cem

*WTF
 

Cem

wieso bist du abgehauen
 

Cem

alles ok?
 

Cem

ALTER, ICH HOFFE DU HAST EINNE FUCKING GUTEN GUND
 

Cem

wenigstens hat feli moch alle tasssen im schrank du arsch
 

Cem

wenn sie nich geschreb hätte könntest duauch iwo im graben liegen du penner
 

Cem

*grscheieb
 

Cem

*geschrieben
 

Cem

fuck
 

Cem

und weißte;ich werd jetzt sex haben ud nich mehr über dich nachdenken
 

Ich schlucke, plötzlich hellwach.
 

Dann öffne ich den nächsten Chat.
 

Mari

hey juls kommst du heute noch nach hause
 

Mari

ich hab mama jetzt gesagt dass du bei tamino pennst damit sie sich keine sorgen macht, aber ich wüsst schon gerne, ob alles ok ist. Normalerweise schreibt tamino mir wenn du bei ihm pennst
 

Mari

ich hab grad tamino angerufen und was zum henker ist passiert? UND WO BIST DU?
 

Mari

Ok, nvm hab mit cem telefoniert. Der übrigens echt pissig klang. Danke an feli dass wenigstens einer mitgedacht hat -.-‘‘‘‘‘
 

Es kostet mich eine ganze Minute, bevor ich mich dazu durchringen kann, den letzten Chat zu öffnen.
 

Tamino

es tut mir wahnsinnig leid, es war eine beknackte idee, ich wollte nicht dass dud ich wegen mir schlecht fühlst, ich hab nich nachgedacht. bitte sei nicht sauermes tutm ir wirklicj leid
 

Tamino

fuckwo seid ihr hin? is alles ok?es tut mir wirklich leid
 

Ich fahre mir mit der Hand übers Gesicht. Was um alles in der Welt hab ich mir dabei gedacht einfach abzuhauen? Feli schläft noch neben mir, den Mund leicht geöffnet und ihr Haar, das sich aus dem Knoten gelöst hat, liegt wie ein Schleier ausgebreitet über dem Kissen. Mir wird klar, dass sie meinen Arm im Schlaf umarmt und mir wird sehr warm vor lauter Zuneigung.
 

Der nächste, der sie beleidigt, kriegt von mir dermaßen auf die Fresse...
 

Ich möchte sie nicht wecken, aber ich muss auch dringend pinkeln. Und ich muss sehr dringend nach Hause und irgendwie. Alles regeln. Und mich entschuldigen. Und nicht mehr so viel Alkohol trinken, wenn mir dann mein Leben so entgleist.
 

Was zum Teufel, Juls.
 

Ich schreibe Mari hastig eine Nachricht, dass soweit alles ok ist und ich bald nach Hause komme, dann setze ich mich auf und ziehe eine Grimasse angesichts der hämmernden Kopfschmerzen und der Welle von Übelkeit, die mich überkommt. Nächstes Mal einfach wieder nur Bier, Juls.
 

Oder Wasser.
 

Bilder fluten mein Gehirn von letztem Abend. Von Tamino in seinem Hemd und »Kann ich dich küssen?« und Cem und Tamino beim Knutschen und Tamino und Feli beim Tanzen und Cems Lippen auf meinen und Taminos Augen, als—
 

Fuck.
 

Feli macht ein verschlafenes Geräusch und setzt sich auf. Sobald sie die Augen auf hat, schüttele ich sie leicht an den Schultern.
 

»Was zum Teufel hab ich mir gedacht?«, frage ich. Sie blinzelt mich verwirrt an, ihre langen Haare vollkommen durcheinander.
 

»Was?«
 

»Wir sind einfach gegangen! Und ich hab nichts gesagt! Und Tamino macht sich tausend Vorwürfe! Und du hast nicht mal die Handynumer von deiner Barkeeperin bekommen!«
 

»Huh? Oh! Doch, hab ich! Und ich hab Cem und Tamino später geschrieben, dass wir zu mir gehen«, sagt sie. Ihre Stimme ist schlaftrunken und unter ihrem linken Auge ist ein bisschen von ihrer Wimperntusche übrig geblieben.
 

»Oh. Ok. Ähm. Wo ist das Klo?«
 

Feli lacht und reibt sich die Augen.
 

»Nächste Tür links«, nuschelt sie und sinkt wieder ins Kissen, während ich aus dem Bett klettere und im Bad verschwinde. In meinem Kopf findet eine Dauerschleife aus »Fuckfuckfuckfuck« statt und ich versuche mich mit Wasser im Gesicht und einem neu gebundenen Zopf halbwegs präsentierlich aussehen zu lassen.
 

Als ich die Badtür öffne, gucke ich direkt in das Gesicht einer Frau, die mir vollkommen unbekannt ist. Sie starrt mich an.
 

»Ähm«, sage ich und blinzele erschrocken. Sie ist groß und stämmig und ich denke, sie könnte vielleicht Felis Mutter sein, aber sie wirkt etwas jung dafür.
 

»Felicitas!«, ruft die Frau streng und ich zucke zusammen. Felis Zimmertür geht auf.
 

»Huh?«
 

»Warum ist ein Junge in unserer Wohnung?«
 

»Das ist Juls. Er ist in Ordnung«, sagt Feli immer noch sehr müde.
 

»Ist er in Ordnung genug, um anständig zu verhüten?«
 

»Boah, Andrea«, sagt Feli empört und ich bin sicher, dass ich jeden Augenblick sterben muss vor Scham.
 

»Ich bin schwul«, platzt es aus mir heraus und Andreas Augen huschen zu mir herüber. Sie hat einen sehr stechenden Blick und definitiv dieselben blauen Augen wie Feli.
 

»Oh«, sagt sie und zuckt schließlich mit den Schultern. »Dann ist ja gut. Herzlich willkommen.«
 

Ich schaffe ein sehr beschämtes Lächeln und flüchte mich dann zu Feli ins Zimmer, um das Bad freizumachen.
 

»Tut mir leid. Ich hab vergessen, dass das passieren kann«, sagt Feli peinlich berührt und öffnet das Zimmer in ihrem Fenster.
 

»Ist sie—«, fange ich an. Deine Mutter? Was für eine bekloppte Frage.
 

»Meine Tante«, sagt Feli, immer noch mit einem entschuldigenden Lächeln auf den Lippen. Wieder mal fällt mir auf, dass ich nichts über sie weiß. Außer ihre Ansichten bezüglich Medienkritik, Riverdale und dass sie ein sehr, sehr netter Mensch ist.
 

»Oh. Ok«, gebe ich matt zurück. Dann seufze ich.
 

»Ich glaube, ich sollte verschwinden. Bevor irgendwer mich noch erwürgt«, sage ich und sie lächelt mich an und nickt.
 

»Ok. Dann komm gut heim. Ich hoffe—ähm. Ich hoffe es wird alles ok. Mit Tamino«, sagt sie. Ich schlucke schwer und ziehe die Schultern hoch. Im Moment weiß ich nicht, wie genau das klappen soll, aber ich bin sicher, es wird sich schon irgendwie hinbiegen.
 

Wenn es sich nicht hinbiegt, muss ich das Land verlassen und als einsamer Ziegenhirte irgendwo in den Bergen ein neues Leben anfangen. Kein Abistress, keine Krisen über Sexualität, kein Tamino.
 

Kein Tamino.
 

Fuck.
 

Ziegenhirte sein wäre echt scheiße, wenn Tamino nicht da wäre.
 

Wow, Juls. Du hast ein echtes Problem.
 

Obwohl mir immer noch schlecht ist, laufe ich nach Hause. Als ich ankomme, ist Mari nicht da und Mama fragt, wie es gestern Abend war. Ich würge ein »Gut« hervor und stürze unter die Dusche, um mir weitere Fragen zu ersparen.
 

Nach zwanzig Minuten unter der Dusche, geputzten Zähnen und einem sehr großen Frühstück, das aus Resten vom gestrigen Nudelauflauf besteht, geht es mir schon besser und ich kann mich mit meinem Handy in mein Zimmer zurückziehen, um Tamino und Cem auf ihre Nachrichten zu antworten.
 

Sobald ich die Tür geschlossen und mein Handy hervorgekramt habe, sehe ich eine neue Nachricht von Cem.
 

»Ok. Ich war super angepisst gestern. Und richtig besoffen. Sorry für die tausend Nachrichten. Und ich muss mich bei dir entschuldigen, weil ich offiziell der mieseste beste Kumpel bin.«
 

Ich blinzele verwirrt und antworte nur »Wieso das?«.
 

Die Antwort kommt sofort.
 

»Ich hab gestern geschrieben, dass ich Sex haben werd. Hatte ich. Mit Tamino.«
 

Oh.
 

Oh.

Ausweichmanöver

Die Wahrheit ist, dass ich keine Lust habe, mein ganzes Wochenende mit tiefschürfenden, emotionalen Gesprächen zu verbringen. Dann wiederum ist mir auch klar, dass ich nicht einfach für immer davon laufen kann, auch wenn das momentan sehr ansprechend klingt. Da die Idee, mit Tamino zu reden, ein absolutes, allumfassendes Panikgefühl in mir auslöst, beschließe ich, dass Cem zuerst dran ist.
 

Weil es bei ihm im Haus immer super laut ist und ich keine Lust auf die beobachtenden Augen von Mari und Mama habe, treffen wir uns Sonntagnachmittag im Park, ganz in der Nähe von der Stelle, an der wir geknutscht haben. Nur, dass wir diesmal wie alte Leute auf einer Parkbank sitzen und Cem aussieht, als hätte er etwas sehr Verdorbenes zum Frühstück gegessen.
 

Ich bin mir nicht mal sicher, wer sich schlechter fühlt, Cem oder ich.
 

Ich hab ein schlechtes Gewissen, weil ich einfach abgehauen bin und alle sich Sorgen gemacht haben. Ich hab ein schlechtes Gewissen, weil Tamino sich jetzt tausend Vorwürfe macht, obwohl er überhaupt nichts Falsches getan hat. Ich fühl mich schlecht, weil ich mich in ihn verliebt habe und weil ich mich Feli gegenüber unfair verhalten habe und ganz nebenbei bin ich dauerhaft gestresst wegen diesem ganzen Abischeiß.
 

Also alles in allem ist mein Leben momentan ein riesiger Misthaufen. Und das meiste davon hab ich selber verbockt, was es kein bisschen besser macht.
 

»Warum sind wir nüchtern«, sagt Cem mit einem angestrengten Stöhnen. Ich haue ihm auf die Schulter.
 

»Weil Alkohol uns diesen ganzen Kack eingebrockt hat«, gebe ich streng zurück. Ich hab gut reden. Die Wahrheit ist, dass ich selber gerne wieder hackedicht wäre, nur damit diese ganze Situation nicht so peinlich ist.
 

Cem fährt sich mit der Hand über sein Gesicht und steckt sich eine Zigarette in den Mund. Während er nach seinem Feuerzeug kramt, ziehe ich in Erwägung mich auf den Boden zu setzen, damit ich Gras aus dem Boden reißen und meinen Händen so was zu tun geben kann.
 

»Ok, also—«
 

»Tut mir le—«
 

Wir brechen beide ab und Cem grummelt leise vor sich hin.
 

»Du zuerst«, brummt er.
 

Ich seufze.
 

»Na schön. Tut mir leid, dass ich mich einfach aus dem Staub gemacht habe ohne Bescheid zu sagen. Es war ‘ne Kurzschlussreaktion. Ich—ähm. Ich war’n bisschen überfordert mit meinem ganzen—mit. Mit meinen Gefühlen.«
 

Es ist jetzt an Cem zu seufzen. Er fährt sich wieder mit der Hand übers Gesicht und nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Ich beobachte den Rauch, den er gen Himmel pustet. Mein Herz stolpert nervös in meinem Brustkorb herum, vor allem, wenn meine Gedanken sich in Richtung von Tamino bewegen.
 

»Ich war eigentlich vor allem sauer, weil Tamino—Ugh. Du hättest ihn sehen sollen. Ja, ich dachte mit dir ist vielleicht irgendwas, aber. Is‘ ja nicht so, als wärst du nicht schon mal abgehauen. Und so mitten in der Innenstadt landet man ja eigentlich auch nicht im Graben. Aber... naja. Tamino war nich‘ so chill.«
 

Ich kann förmlich spüren, wie mir das Blut aus dem Kopf schießt und ich blass werde.
 

Fuck.
 

»Ich—ähm. Ich bin nicht so gut mit panischen Nervenbündeln«, sagt Cem mit einer Grimasse und zieht erneut an seiner Kippe. Ein sehr masochistischer Teil von mir will jede kleine Reaktion genau beschrieben bekommen. Cem dreht den Kopf und schaut mich an.
 

»Alter, ich glaub da hat jemand ‘n ziemlich krasses, psychisches Problem«, meint Cem und ich schnaube. Ja, in der Tat. Wahrscheinlich ist das eine maßlose Untertreibung.
 

»Ich dachte, er fängt gleich an zu hyperventilieren«, fährt er fort und mein Inneres zieht sich schmerzhaft zusammen.
 

»Oh«, krächze ich. Cem raucht eine Weile schweigend weiter und ich sehe ihn mit seiner freien Hand nervös an seinem Shirtsaum herumfummeln. Eine Familie mit zwei Hunden zieht laut schnatternd an uns vorbei.
 

»Wenn ich dich frage, was genau alles passiert ist, erwürgst du mich dann?«, will ich wissen. Cem dreht erneut den Kopf. Sein Gesichtsausdruck schwankt zwischen Kläglichkeit und Empörung.
 

»Vorm oder beim Sex?«
 

Mein Herz macht einen Sprung. Ach ja.
 

Sex.
 

Mein Mund entscheidet, bevor mein Gehirn Zeit zum Filtern hat.
 

»Beides«, sage ich entschlossen. Ich kann wie in Zeitlupe zusehen, wie Cems Gesicht sehr rot anläuft. Er beißt sich auf die Unterlippe und schnippt seine aufgerauchte Zigarette in den Mülleimer, der neben der Parkbank steht. Dann zieht er seine Beine in einen Schneidersitz und starrt mich an, als hätte ich den Verstand verloren.
 

»Ist das meine Strafe dafür, dass ich Sex mit Tamino hatte?«, will er wissen. Ich verenge die Augen zu Schlitzen.
 

»Wieso sollte es dafür eine Strafe geben? Ich hab gesagt, dass du weiter mit ihm rummachen kannst, wenn du willst. Und er will ja offenbar auch. Was für ein Wichser wäre ich, wenn ich mich da einmische?«
 

Cem stößt gestresst Luft zwischen den Lippen hervor und nimmt sein Cap ab, um sich durch die Haare zu fahren. Er wartet, bis zwei Jogger an uns vorbeigezogen sind, dann beugt er sich ein Stück vor. Ich lehne mich ihm entgegen und befeuchte meine Lippen mit der Zunge, was mich unweigerlich wieder an die Situation mit Tamino erinnert.
 

»Er ist dir hinterher und als er wieder zurückkam, sah er aus wie ein Zombie, also hab ich ihn auf eine von den Bänken bugsiert. Er hat gesagt er braucht mehr Alkohol. Also hab ich ihm noch mehr Rum Cola besorgt«, sagt Cem.
 

Ich stöhne und fahre mir mit beiden Händen übers Gesicht. Fuck.
 

»Ich hab keine Ahnung, wo er all diesen Alkohol hinsteckt, Alter. Er ist wie’n bodenloses Loch. Auf Parties von der Mannschaft wär er’n absoluter Renner. Naja. Jedenfalls war er super hacke und meinte, ich soll mit Anish knutschen gehen, während er sich volllaufen lässt. Und ich meinte erst, dass ich ihm Gesellschaft leisten kann, aber er hat gesagt, er wär miese Gesellschaft und dann hab ich ihn erstmal in Ruhe gelassen«, fährt Cem fort. Mein Gehirn hat Schwierigkeiten mitzuhalten, weil es damit beschäftigt ist, sich jedes winzige Detail der Situation vorzustellen.
 

Ich hab genau vor Augen wie Tamino Glas um Glas in sich hereinschüttet. Wie er Cem sagt, dass er gehen soll. Wie er—
 

»Wer ist Anish?«, will ich verwirrt wissen. Cems Gesicht wird noch ein bisschen dunkler.
 

»Grünes Shirt«, entgegnet er knapp und ich wühle durch meine Erinnerungen, bis ich mich an den jungen Mann mit Zungenpiercing entsinne.
 

»Oh. Oh! Moment, heißt das—«
 

Cem zuckt mit den Schultern.
 

»Ich war ziemlich voll und hab ihn gefragt, ob er tanzen will. Wir haben zwei Lieder miteinander getanzt, ich hab ihm meine Nummer ins Handy gespeichert. Keine Ahnung, Alter. Ich war hackedicht. Er war scharf. Er hat ein beknacktes Zungenpiercing.«
 

Cem hebt die Hände in einer Geste der Resignation und mir brennt die Frage auf der Zunge, ob Anish ihm geschrieben hat oder nicht. Es stellt sich die Frage, ob ich ehrlich interessiert an Cems Liebesleben bin, oder ob ich unterbewusst will, dass sein Liebesleben sich mit wem anders als mit Tamino beschäftigt.
 

Als ich gesagt hab, er soll ruhig weiter mit Tamino rummachen, hab ich es absolut ernst gemeint. Ja, mein Brustkorb fühlt sich merkwürdig an beim Gedanken daran, dass Cem und Tamino Sex hatten, aber es fühlt sich anders an als die Eifersucht, die ich auf meiner Geburtstagsfeier empfunden habe. Weiß der Geier, was es zu bedeuten hat.
 

Ich hab keine Ahnung, was meine dämlichen Gefühle bedeuten.
 

Gefühle sind der Feind.
 

Wieso kommen sie nicht mit Bedienungsanleitung, huh? Nein, stattdessen tappt man total im Dunkeln und hat keine Ahnung, was irgendwas soll oder bedeutet oder—
 

»Hat er schon geschrieben?«, frage ich.
 

»Nee.«
 

»Oh.«
 

Cem zuckt mit den Schultern.
 

»Ich bin nach zwei Liedern zurück zu Tamino, der übrigens kaum noch stehen konnte. Ich hab gesagt, dass ich ihn nach Hause bringe. Dann hab ich gefragt, ob seine Eltern sauer werden, wenn er so hacke nach Hause kommt. Und dann ist alles ziemlich den Bach runter gegangen, weil er dann nämlich erst mitten in die Innenstadt gekotzt hat und dann anfing darüber zu weinen, dass er ein schlechter Mensch ist.«
 

Oh mein Gott.
 

Ich versuche mir vorzustellen, wie Cem sehr bemüht war, dieses Drama irgendwie zu regeln. Während Feli mich getröstet hat wie ein Champion, war Cem mit Tamino absolut überfordert. Die beiden haben sich ihren Abend sicherlich ein wenig anders vorgestellt.
 

»Ich hab ihn gezwungen sich mit mir’n Döner zu teilen und nen halben Liter Wasser zu trinken. Dann hat er gesagt, dass seine Mutter tot ist und sein Vater sich einen Scheiß für ihn interessiert. Dann—bist du sicher, dass du alles wissen willst?«, fragt Cem mit gerunzelter Stirn. Ich nicke sehr energisch.
 

Mein Herz fühlt sich an wie ein Betonklotz.
 

»Dann hat er eine ungefähr zehn minüte Rede darüber gehalten, was für ein wunderbarer Mensch du bist und dass er dich nicht verdient hat«, fährt Cem mit einem schweren Seufzen fort und ich stelle mir die beiden irgendwo in der Innenstadt auf einem Brunnenrand vor, wie sie einen Döner teilen und Tamino mit Schluckauf und tränennassem Gesicht einen Monolog darüber hält, wie wunderbar—
 

Fuck.
 

»Dann wird alles n bisschen schwammig. Hab ich schon erwähnt, dass ich echt voll war? Also. Ich hab ihn nach Hause gebracht. Und dann dachte ich, ich könnte nett sein und hab gefragt ob ich warten soll, bis er im Bett ist. Und er ist Zähne putzen gegangen und duschen und es war die ganze Zeit n bisschen so, als würde man ‘nen Roboter beobachten, zumindest bis er wieder aus dem Bad zurück kam.«
 

Ich sehe, wie der Rotton, der sich mittlerweile wieder etwas verflüchtigt hatte, sich erneut verdunkelt. Cem kramt nach einer weiteren Zigarette, ein deutliches Anzeichen dafür, dass er nervös ist.
 

»Und ich wollte eigentlich gehen, ja? Ohne Scheiß, man«, schwört Cem und zündet seine zweite Zigarette an. Er sieht ziemlich gequält aus.
 

»Und dann—ähm. Dann kam eines zum anderen. Mein Gehirn hat sich einfach ausgeschaltet. Und dann—ja. Sex. Boom. Ende der Geschichte«, sagt er und verschränkt die Arme vor der Brust, die Kippe zwischen den Lippen. Ich horche in mich hinein. Keine Eifersucht.
 

»Ok«, sage ich.
 

Cem blinzelt.
 

»Ok?«
 

Ich zucke mit den Schultern.
 

»Ich hab gesagt, dass du weiter mit ihm—du weißt schon. Ich habs so gemeint. Und ganz ehrlich? Sex ist mir einfach ‘n bisschen... naja. Wie soll ich sagen. Es ist mir halt einfach ziemlich egal?«
 

Ich weiß, dass das anders wäre, wenn Gefühle im Spiel wären. Ich weiß, dass mich auf meiner Geburtstagsfeier alles an der Szene gestört hat, die ich gesehen habe. Aber es herrscht irgendwie eine seltsam gespaltene Gefühlswelt darüber, dass ich Cem und Tamino heiß miteinander finde, aber dass Sex insgesamt nicht so richtig in meinen Interessenkreis fällt.
 

Ich bin immer noch dabei, diese ganze Demisexualitätssache zu durchschauen. Bislang kann ich nicht sagen, dass ich sonderlich viel Glück hatte. Dann wiederum ist es wahrscheinlich auch egal. Ich fühle mich, wie ich mich fühle. Punkt.
 

»Ich hätt’s vielleicht nich‘ so stumpf bei WhatsApp erzählen sollen«, meint Cem. Er hat seine Arme aus der Verschränkung gelöst und klopft ein wenig Asche von seiner Kippe ins Gras.
 

»Schon ok. Ich glaube, wir waren einfach ganz schön dumm gestern«, meine ich.
 

Wir schweigen wieder eine Weile und ich merke, dass ein ganzes Stück der Spannung aus meinem Körper entweicht. Wenigstens ist es zwischen Cem und mir weiterhin unkompliziert. Vielleicht nicht ganz so umkompliziert wie früher als es immer nur um Alkohol und Fußball ging, aber ich glaube, das würde ich auch nicht mehr wollen.
 

Schließlich halte ich es nicht mehr aus und die Frage, die mir auf der Zunge brennt, bricht aus mir heraus.
 

»War’s gut?«
 

Cem blinzelt und ich sehe ihn schlucken. Dann läuft Cem noch ein wenig dunkler an und...
 

nickt.
 

Ich muss lachen, weil er so beschämt aussieht und gleichzeitig sehr zufrieden.
 

»Aber«, sagt er und schaut mich gespielt streng an. »Für irgendwelche Details muss ich wirklich besoffen sein. Das erzähl ich nicht nüchtern.«
 

Ich schnaube und hebe die Augenbrauen, aber Cem blickt unnachgiebig zurück.
 

»Na schön. Aber ich brauch erstmal ‘ne Pause vom Saufen«, gebe ich zurück. Cem summt zustimmend und zieht erneut an seiner Zigarette.
 

»Redest du heute noch mit Tamino?«, will er wissen.
 

In mir breitet sich ein kleines Eismeer aus. Cem sieht wohl, dass mir bei der Aussicht mit Tamino zu reden ziemlich schlecht wird, denn er boxt mir gegen den Oberarm.
 

»Alter. Bist du sicher, dass er nicht auf dich steht?«
 

»Jup«, krächze ich.
 

»Du hast seine Ode an Julius nicht gehört«, gibt Cem zu bedenken. Ich merke, wie mir die Hitze ins Gesicht schießt.
 

»So redet er über all seine Freunde«, murmele ich.
 

»Vielleicht solltest du ihm sagen, dass du in ihn verknallt bist. Wie willst du das Desaster sonst erklären?«
 

Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Was soll ich sagen? ‚Hey Tamino, ja, ich hab da n bisschen geheult und und bin total durchgedreht, weil du mich küssen wolltest. Einfach so. Ist ja normal. Haha.‘
 

»Vielleicht wandere ich auch einfach nach Italien aus«, stöhne ich und vergrabe mein Gesicht in den Händen.
 

»Gute Strategie. Ich bin sicher, in Italien gibt’s keine hübschen Jungs mit Brille und langen Beinen, in die du dich verlieben kannst«, gibt Cem amüsiert zurück und ich schubse ihn kurzerhand von der Parkbank. Während er im Gras liegt und lacht und ich dem Drang widerstehen muss, ihn noch mal ordentlich zu treten, komme ich zu dem Entschluss, dass ich unmöglich mit Tamino über diese Sache reden kann.
 

Es gibt keine Erklärung für mein Verhalten außer die eine, die ich ihm nicht geben kann.
 

Also krame ich mein Handy aus der Tasche und öffne den WhatsApp-Chat mit Tamino. Dabei versuche ich krampfhaft nicht Taminos letzte Nachrichten von gestern zu lesen, weil sie dazu führen, dass mein Brustkorb sich vor lauter schlechtem Gewissen zusammenzieht.
 

»Hey, kein Stress wegen gestern. Ich weiß auch nicht, was mich geritten hat. Ich glaub, ich bin einfach n bisschen überfordert mit allem. Sorry, dass ich abgehauen bin! Bis morgen!«

Sinkflug

Er ist nicht da.
 

Ich hab das Gefühl, dass ich das hätte kommen sehen müssen, aber irgendwie hat mein überfordertes Gehirn sich mit den Konsequenzen nicht ausreichend befasst. Ja, mir war klar, dass Tamino das alles sehr schwer nehmen würde.
 

Aber anscheinend habe ich vergessen, was genau das im Kontext seines Gehirns bedeutet.
 

Tamino ist nicht einfach traurig oder gestresst. Er bricht zusammen wie ein Kartenhaus.
 

Am Anfang der Deutschstunde denke ich noch, dass er vielleicht später kommt. Aber er taucht nicht auf und da Frau Lüske nicht fragt, wo er steckt, gehe ich davon aus, dass er offiziell abgemeldet ist. Ich kann förmlich spüren, wie Cems und Felis Blicke sich in meine Seite bohren.
 

Aber sie fragen nicht.
 

Stattdessen sehe ich sie auf ihren Handys herumdaddeln, sobald es zur Pause geklingelt hat und ich will gerade zögerlich fragen, ob Tamino sich bei ihnen gemeldet hat—denn ich hab nichts gehört nach meiner letzten Nachricht gestern Abend—aber da kommt Frau Lüske mit einem Stapel Papier zu meinem Platz.
 

»Julius, hier sind die Unterlagen, die Sie bezüglich des Stipendiums ausfüllen müssen. Und Tamino hat mir Ihre Unterlagen für die nächsten Wochen Nachhilfe gemailt, damit ich sie Ihnen gebe«, sagt sie und ich registriere kaum ihre Worte, als sie mir erst einen Stapel Kopien in die Hand drückt und dann einen zweiten.
 

Der erste Stapel sieht genauso scheußlich aus, wie man es von einem bürokratischen Alptraum erwarten würde, also lege ich ihn sofort beiseite und schaue auf den zweiten Stapel. Es ist ein ziemlich dicker Stapel mit Notizen, Übungsaufgaben und Hilfestellungen inklusive ausführlicher To Do Listen zur Prüfungsvorbereitung und ein Zeitplan.
 

Wann hat er das gemacht?
 

Gestern, sagt eine Stimme in meinem Hinterkopf. Gestern, als er schon wusste, dass er heute nicht kommt. Dass er länger nicht kommt.
 

»Und Tamino hat mir Ihre Unterlagen für die nächsten Wochen Nachhilfe gemailt...«
 

Die nächsten Wochen.
 

Wochen.
 

Ich schaue zu Frau Lüske auf und versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass in meinem Inneren gerade sehr unschöne Dinge passieren, die von verkrampften Eingeweiden bis hin zu einem sehr kalten Gefühl in der Magengegend reichen, als mir klar wird, was das bedeutet.
 

»Wie lange—ähm. Wie lange ist er denn weg?«, frage ich und bin mir übermäßig bewusst, dass Cem und Feli dem Gespräch zuhören. Ich hoffe, dass meine Formulierung nicht durchblicken lässt, dass ich nichts darüber wusste, dass Tamino länger nicht kommt. Frau Lüske scheint mich jedenfalls nicht zu verdächtigen.
 

Ihre Worte sind sorgfältig gewählt.
 

»Ärzte«, sagt sie und ihre Betonung auf dem Wort lässt mich wissen, dass es nicht irgendein Arzt war, der Tamino krankgeschrieben hat, »dürfen ja erst einmal nur zwei Wochen krankschreiben, soweit ich informiert bin. Aber ich habe es so verstanden, dass eine Folgekrankschreibung sehr wahrscheinlich ist. Mein aktueller Stand sind vier bis sechs Wochen.«
 

Frau Lüske wirft Cem und Feli einen kurzen Blick zu, ehe sie sich wieder mir zuwendet.
 

»Ich bin wirklich ausgesprochen beeindruckt davon, dass Tamino diesen ganzen Stapel für Sie vorbereitet hat, obwohl es ihm so schlecht geht. Ich hoffe natürlich, dass Sie das nächste Spiel für uns gewinnen, damit seine Mühe nicht umsonst war.«
 

Ich schaffe ein müdes Lachen und senke meinen Blick dann wieder auf die Unterlagen.
 

Vier bis sechs Wochen.
 

Vier. Bis. Sechs. Wochen.
 

Ist er alleine in seinem Zimmer wie letztes Mal, als er nichts gegessen oder getrunken hat? Wahrscheinlich will er mich überhaupt nicht sehen. Aber irgendwer sollte ihm die Unterlagen bringen.
 

Aber, Juls. Er will dich nicht sehen. Deswegen ist er weg.
 

»Alter«, höre ich Cems bedächtige Stimme neben mir und ein paar blauer und brauner Augen pinnen mich gegen meinen Stuhl, als ich aufblicke. »Was geht?«
 

Ich halte mich an meinem Stapel Unterlagen fest und schlucke.
 

»Ich—uh.«
 

»Was hast du ihm denn gesagt?«
 

»Nichts! Ich—ich hab gesagt, dass alles ok ist und er sich keinen Stress machen muss«, krächze ich. Und das war anscheinend genau das Falsche.
 

»Vier bis sechs Wochen? Was zum—«, fängt Cem an, aber mein Blick bringt ihn zum Schweigen.
 

»Er hat—er ist krank, ok? Psychisch, meine ich. Und wehe du sagst irgendwas Dummes darüber!«, fahre ich ihn an. Cem hebt beschwichtigend die Hände.
 

»Hatte ich nicht vor, Alter. Elif ist bipolar.«
 

Cems Schwester ist bipolar. Warum weiß ich das nicht? Warum weiß ich solche Dinge nicht? Warum weiß ich nicht, dass Feli mit ihrer Tante wohnt und dass Cems Schwester psychisch krank ist und—
 

Fuck.
 

Mein Gehirn fühlt sich an, als hätte jemand es in Benzin getunkt und angezündet. Ich sage den ganzen Rest der Pause kein einziges Wort und ich entnehme der Art, wie Feli und Cem beide immer wieder auf ihr Handy schauen, ohne auf irgendeine Nachricht zu antworten, dass Tamino ihnen nicht geschrieben hat.
 

Ich sammele alle Unterlagen, die wir bekommen für Tamino ein und stecke sie in meinen Rucksack, aber ich bringe es nicht über mich, zu ihm nach Hause zu gehen.
 

Mari und Mama fragen beide, was los ist, aber ich hab keinerlei Elan es irgendwem zu erklären. Ich hab keine Ahnung, wie das alles so ausufern konnte. Ein kleiner Teil von mir reagiert bockig.
 

Deine Gefühle sind deine Gefühle. Wenn Tamino darauf so heftig reagiert, ist das nicht deine Schuld.
 

Aber der rationale Teil meines Gehirns weiß, dass ich meine Gefühle schlichtweg nicht erklärt habe, obwohl ich wusste, was in Taminos Kopf vor sich geht, wenn so etwas passiert. Wie auch immer man ‚so etwas‘ definieren möchte.
 

Ugh, Juls.
 

Ich kaue auf meiner Unterlippe herum und denke an Taminos Angewohnheit, an seinen Fingern herumzukauen, bis sie bluten. Daran, dass er noch viel mehr Rum getrunken hat, obwohl er schon betrunken war, als ich abgehauen bin. Darüber, dass ein Teil von ihm Dinge nicht tun kann, die er gerne tun würde, weil er Angst hat, und ein anderer Teil von ihm ihn mit Selbstbestrafung sabotiert.
 

Ich stelle mir vor, wie die schlechten Gefühle, die ich jetzt habe, noch um ein Vielfaches multipliziert wären, wenn mein Gehirn krank wäre, wie das von Tamino.
 

Fuck.
 

Ich krame nach meinem Handy und bevor ich zu sehr darüber nachdenken kann, tippe ich eine Nachricht an Tamino.
 

»Hey, ich hab Unterlagen für dich, kann ich vorbeikommen?«
 

Dann starre ich ganze zehn Minuten auf mein Handy und warte, dass die Nachricht als gelesen markiert angezeigt wird. Als die Worte »Tamino schreibt« auftauchen, fühle ich mein Herz irgendwo in der Gegend meiner Adamsapfels schlagen.
 

Fuckfuckfuck.
 

»Hey Julius, hier ist Lotta. Noah und Anni haben Tamino gestern abgeholt. Er hat mir sein Handy gegeben. Wir kümmern uns, aber es wäre nett wenn du die Unterlagen weiter sammelst.«
 

Ich muss die Nachricht mehrmals lesen, bis ich verstehe, was sie beinhaltet.
 

Kein Emoji. Kein Juls. Keine Versicherung, dass es Tamino ok geht.
 

Weil es ihm nicht ok geht.
 

Tamino hat sein Handy abgegeben. Ich erinnere mich daran, wie er auf so viele WhatsApp-Nachrichten nicht geantwortet hat, als er das letzte Mal eine depressive Episode hatte. Wahrscheinlich, weil es ihn überwältigt. Ich hab keine Ahnung, was ich Lotta darauf antworten soll, vor allem, da ihr Ton mich nicht sonderlich ermutigt überhaupt irgendetwas zu erwidern.
 

Ich starre gute zehn Minuten meine Decke an und frage mich, was ich tun kann, um das alles irgendwie zu entschärfen, aber mir fällt nichts Sinnvolleres ein außer in der Zeit zurückzureisen und Tamino einfach auf den Mund zu küssen, statt wie ein hysterischer Armleuchter aus der Bar zu laufen.
 

Ugh.
 

Die nächsten Tage bringe ich es nicht über mich, Tamino noch mal zu schreiben und die Woche vergeht in einem Sumpf aus Sorgen, Vorwürfen und Überforderung mit der ganzen Situation. Jegliche Versuche von Mari, Mama und Feli mich zum Reden zu bringen blocke ich konstant ab und obwohl ich mir erst letztes Wochenende vorgenommen habe, jetzt länger nichts zu trinken, verabrede ich mich für Samstag mit Cem zum Saufen bei mir, weil weder Mama noch Mari zu Hause sind.
 

»Was für ’ne dumme Idee, Alter«, sagt Cem, als er unser erstes Bier öffnet. Er sitzt an meinem offenen Fenster und raucht, pustet den Qualm nach draußen und dem Himmel entgegen und reicht mir mein geöffnetes Bier von der Fensterbank herunter. Ich sitze im Sessel direkt neben der Fensterbank—der Sessel, in dem Tamino Cem einen geblasen hat—und nicke mit finsterem Gesichtsausdruck.
 

»Jap. Richtig dämlich«, sage ich.
 

Aber keinen von uns hält es davon ab, die Flasche anzusetzen und zu trinken. Julius, deine Lebensentscheidungen werden immer sinnvoller, denke ich mir und versuche nicht allzu sehr darüber nachzudenken, was auf diesem Sessel passiert ist, auf dem ich jetzt sitze. Cem hat das Möbelstück beim Hereinkommen mit einem breiten Grinsen und einem beinahe sehnsüchtigen Gesichtsausdruck gemustert, woraufhin ich ihn trocken darauf aufmerksam gemacht habe, dass ich ihm keinen Blowjob geben werde.
 

Cems Grinsen war ein bisschen diabolisch und hat mich daran erinnert, dass wir ja zumindest schon miteinander rumgemacht haben. Es ist unfassbar, wie weit weg das jetzt schon zu sein scheint, dabei ist es noch gar nicht so lange her.
 

»Wenn wir genug getrunken haben, krieg ich dann Sexdetails?«, erkundige ich mich nach einem halben Bier. Cem schnaubt.
 

»Ich dachte, Sex ist dir nicht so wichtig?«
 

Ich komme nicht umhin ihm die Zunge rauszustrecken.
 

»Sex mit Tamino vielleicht schon«, gebe ich ehrlich zurück.
 

Cem lacht und lässt beinahe seine Kippe fallen, dann nimmt er einen weiteren Schluck Bier und verzieht das Gesicht.
 

»Nach letzter Woche schmeckt es irgendwie nur noch halb so gut«, brummt er ungehalten und mustert seine Bierflasche beinahe feindselig. Ich bin froh festzustellen, dass zwischen uns beiden weiterhin alles wie beim Alten ist. Wir reden nicht über ernste Themen, sondern über irgendwelche Filme, übers nächste Spiel, darüber, wie Markus am Donnerstag ganz offensichtlich total bekifft in Politik saß.
 

»Hat dieser Anish-Typ dir eigentlich mal geschrieben?«, will ich wissen. Cem wirft mir einen Blick zu und ich könnte schwören, dass er ein bisschen rot anläuft. Vielleicht liegt das aber auch am Bier.
 

»Hmhm«, murmelt er und trinkt den Rest seiner Flasche auf ex. Ich habe das Gefühl, dass er nicht weiter darüber reden will, also belasse ich es dabei und frage nicht weiter nach.
 

Erst nach fünf Flaschen Bier und einem angenehmen, alkoholischen Summen im Gehirn wendet sich das Gespräch Themen zu, die Cem und ich nüchtern sicherlich nicht besprechen würden.
 

»Ok, spucks schon aus«, sage ich mit einem deutlichen Lallen in der Stimme. Ich liege mittlerweile auf meinem Bett und Cem kommt von einer weiteren Zigarette am offenen Fenster zu mir herüber, schiebt mich beiseite und wirft sich neben mir auf die Matratze.
 

»Was willst du denn überhaupt wissen, man? Ist ja nicht so, als wüsstest du nicht, dass mein Arsch derjenige war, der—«
 

Ich stoße ein würdeloses Gurgeln aus und haue Cem ein Kissen ins Gesicht.
 

»Stop! Ich habs mir anders überlegt, ich muss doch noch mehr Bier trinken!«
 

Cem lacht gehässig, entreißt mir das Kissen und fängt an, mich damit zu verprügeln. Letztendlich fallen wir beide vom Bett und ich lande halb auf ihm, wo ich lachend und ziemlich erschöpft liegen bleibe. Cem macht einige halbherzige Anstalten, mich von sich herunterzuschieben, aber dann gibt er auf und ich merke, wie er den Kopf schüttelt.
 

»Ok. Ok, ich halts aus. Schieß los«, murmele ich grinsend gegen Cems Schulter. Eine Hand findet ihren Weg in meine Haare und für einen Augenblick vermisse ich Tamino so schrecklich, dass ich kaum atmen kann.
 

Fuck.
 

»Er hat. Uh. Ziemlich lange Finger. Und ähm. Ich weiß nicht, ob dus weißt, aber. Man kann kommen ohne—«
 

Ich gurgele peinlich berührt. Die Hand in meinem Haar tätschelt meinen Kopf beruhigend.
 

»Ich bin zweimal gekommen. Einmal nur mit Fingern. Und einmal dann beim eigentlichen Sex.«
 

Mein Gesicht sieht garantiert aus wie eine reife Tomate, aber ich kann auch nicht weghören und ich will tatsächlich alles wissen. Mein Gehirn fängt an Bilder auszuspucken und ich denke mir, dass ich beizeiten dringend von Cem herunterrollen sollte, wenn das hier nicht schnell peinlich werden soll.
 

Ich lasse mich also seitlich von Cem herunterkullern und versuche krampfhaft nicht obsessiv über Taminos lange Finger nachzudenken.
 

»Willst du noch mehr hören?«, fragt Cem knallrot im Gesicht aber auch sichtlich amüsiert. Ich gebe ein Geräusch von mir wie ein sterbendes Nashorn und zucke mit den Schultern, während ich gleichzeitig nicke. Irgendwo in mir schlummert ein versteckter Masochist, von dem ich bislang nichts wusste.
 

»Er redet jede Menge. Keine Ahnung, ob das nur am Alkohol lag oder—naja. Stille Wasser sind tief, Alter.«
 

Ich schlucke. Taminos Stimme.
 

Ist ja nicht so, als hätte ich nicht sowieso schon ein Ding für seine Stimme, aber wenn ich mir vorstelle, wie diese Stimme schmutzige Sachen in mein Ohr flüstert.
 

Alter Schwede.
 

»Ok, jetzt musst du aufhören, sonst krieg ich ‘ne Latte«, gebe ich offen zu und Cem lacht so laut, dass ich ihm aus Reflex den Mund zuhalte. Was für eine dumme Idee. Jetzt habe ich zu allem Überfluss jede Menge dreckige Bilder und Worte im Ohr. Herzlichen Glückwunsch Juls, du bestehst im Moment aus nichts als brillanten Ideen.
 

*
 

Julius

herr rosenheim hatte heute wieder eins seiner bücher dabei und ich hab zum ersten mal so richtig auf den titel geachtet und im online wörterbuch nachgeschlagen und es kam definitv das wort verboten drin vor
 

Julius

ich hoffe du bist stolz auf mich ich hab all deine unterlagen von der letzten woche schon brav ordentlich abgeheftet
 

Julius

danke für die unterlagen
 

Julius

ich weiß übrigens dass du das nicht selber liest (zumindest jetzt grad nicht) aber ich bins mittlerweile wahrscheinlich gewohnt mit dir zu reden
 

Julius

hey lotta falls du das liest sag bescheid wenn das gespamme dich nervt oder so
 

Ich weiß, dass es beknackt ist, Tamino die ganze Woche über mit Nachrichten zu bombardieren, aber ich kann es auch nicht lassen. Wahrscheinlich sollte ich vor allem anderen erst einmal versuchen die Situation zu klären, aber mir ist immer noch keine gute Idee gekommen, wie ich das anstellen soll, ohne Tamino zu erklären, dass ich mich Hals über Kopf verliebt habe und deswegen so in Panik geraten bin.
 

Mittlerweile weiß ich nicht mal mehr, ob das überhaupt eine Erklärung für irgendwas ist. Je öfter ich die Szene in meinem Kopf durchspiele, desto klarer wird mir, dass Tamino absolut gedacht haben muss, dass er sich mir auf unpassende Weise aufgedrängt hat und ich deswegen in Tränen ausgebrochen bin.
 

Kein Wunder, dass er in sich zusammengefallen ist wie ein Kartenhaus. Wenn ich dem Eindruck unterlegen wäre, dass ich Tamino sexuell belästigt habe, würde ich vielleicht auch ein paar Tränen verdrücken. Oder zumindest meine Zimmerwand schlagen. Aber auf jeden Fall viel Alkohol trinken.
 

Ugh, Julius.
 

Ich fahre damit fort Tamino mit Nachrichten zu bombardieren und ich schicke ihm auch ab und an Fotos und Sprachnachrichten, auch wenn ich jedes Mal Angst habe, dass man meiner Stimme anmerkt, dass sie kein bisschen natürlich klingt, auch wenn ich mir alle Mühe gebe ganz normal zu klingen.
 

Ich erzähle Tamino so gut wie alles—alles, was nicht von größerer Bedeutung ist, zumindest. Ich lasse weg dass Cem momentan häufig an seinem Handy hängt und ab und an rot anläuft. Ich erzähle nichts davon, dass Cem beinahe eine Schlägerei beim Fußball anzettelt, weil Konstantin und Lennard schwulenfeindliche Witze erzählen. Ich klammere das Thema Schwulsein komplett aus, weil es thematisch zu eng mit der Party zusammenhängt.
 

Dumpf stelle ich mir vor, wie Mari mir meine Sortierung nach Gryffindor offiziell aberkennt, weil ich mich verhalte wie ein feiger Besen. Dann erinnere ich mich daran, dass Tamino mich als Hufflepuff bezeichnet hat und ich vermisse ihn so schrecklich, dass ich nicht so richtig weiß wohin mit mir und meinen beknackten Gefühlen.
 

Julius

ich bin übrigens bald durch mit ari und dante
 

Ich klammere meine Gefühle über die letzten Wendungen des Buches aus—plötzlich machen Maris Reaktion auf das Buch und Taminos Verlegenheit, als ich es in der Hand hatte Sinn—über die ich zwar sehr zufrieden aber auch sehr peinlich berührt bin. Ich muss daran denken, wie ich dachte, dass Tamino und ich Ari und Dante ähneln. Das war, bevor Dante sich in Ari verliebt hat und alles den Bach runter gegangen ist.
 

Julius

und wir müssen dringend deep space nine weitergucken sobald du wieder auf dem damm bist
 

Julius

feli cem und ich sind später zum eis essen verabredet
 

Julius

wir planen mit der mannschaft übrigens unseren alljährlichen ausflug und ich hab besonders wenig bock dieses jahr
 

Julius

hab ich schon danke für die unterlagen gesagt? die haben mir in bio heute den hals gerettet. ich bin einfach zu dumm für bio -.-
 

Ich frage mich in den nächsten Wochen, ob Lotta Tamino die Nachrichten vielleicht vorliest. Noch ein Grund mehr nichts darüber zu erwähnen, dass irgendwo auf der Welt Männer existieren, die andere Männer gut finden. So wie Cem. Oder ich selber. Oder Ari und Dante. Oder…
 

Wahrscheinlich ist Lotta schon richtig genervt von mir. Ich bin selber total genervt von mir. Feli hat angefangen mich mit Samthandschuhen anzufassen, weil ich wegen jeder Kleinigkeit an die Decke gehe. Cem nimmt keinerlei solche Rücksicht auf mich—dafür hat er mir in den letzten drei Wochen schon mindestens dreißig Mal gesagt, dass ich die Schnauze halten soll. Und zwar nicht in einem spielerisch kumpelhaften Ton.
 

Meine schlechte Laune schlägt sich aufs Training nieder und ich hab mich alle paar Tage mit Mari in den Haaren, weil mir schlichtweg alles auf den Sack geht. Am allermeisten ich selbst. Ich schaffe es wieder nicht, einer Gruppe Mädchen die Meinung zu geigen, als sie Feli dumm anmachen, ich bin schlecht beim Training und sauer auf meine Mannschaftskameraden, weil so viele von ihnen über diese bekloppten schwulenfeindlichen Witze lachen.
 

Ich vermisse Tamino und meine Batterie ist sowas von leer, dass ich beinahe verzweifelt genug bin, Mari nach einer Umarmung zu fragen, bis mir einfällt, dass ich sie gestern als dumme Kackbratze bezeichnet habe und sie sicherlich nicht in der Stimmung ist, mich zu drücken.
 

Ugh.
 

Die Krönung des Ganzen kommt, als die Mannschaft entscheidet, wohin der Ausflug gehen soll. Da das Wetter auch Anfang September immer noch umwerfend ist, wird entschieden an den Baggersee zu fahren. Zum Schwimmen.
 

Mein erster Impuls ist zu sagen, dass ich nicht mitfahre. Dann wiederum ist es das letzte Mal, dass vorm Abi nächstes Jahr so ein Ausflug stattfinden wird und ich kann mir immer noch einen Grund ausdenken, wieso ich nicht ins Wasser möchte. Immerhin weiß nicht einmal Cem, dass ich nicht schwimmen kann.
 

Tamino weiß es. Aber Tamino ist nicht da. Er würde das nervöse Surren unter meiner Haut verstehen, das sich in mir breit macht, als ich all die Hände sehe, die sich für einen Ausflug zum See aussprechen.
 

Fuck my life.
 

Julius

weißt du noch wie ich gesagt hab dass ich dieses jahr keinen bock auf den mannschaftsausflug hab?????

Julius

die mannschaft hat beschlossen schwimmen zu fahren. ich hab erst überlegt abzusagen aber es is der letzte ausflug vorm abi und…….. naja

Julius

ich mach mir jetzt schon vor angst in die hose

Julius

ehrlich gesagt wäre es viel weniger schlimm wenn du da wärst einfach weil du weißt was los ist

Julius

ah sry

Julius

ich will dich nicht unter druck setzen vergiss was ich gesagt hab
 

Nach meiner überstürzten Beichte an Tamino schreibe ich ihm erstmal nicht mehr. Das ganze Gejammer über mein Leben geht ihm vermutlich schon auf den Keks und ich kann es ihm nicht mal verübeln.
 

Als es schließlich soweit ist, um an den Ort meines Untergangs zu fahren, überlege ich kurz, ob ich Ari und Dante einstecken soll. Es scheint passend zu sein, wenn ich bedenke, dass Ari zumindest am Anfang auch nicht schwimmen konnte. Dann wiederum kann ich mir die Reaktion der anderen vorstellen, wenn ich ein Buch auspacke. Und dann auch noch so ein Buch.
 

Also bleiben Ari und Dante zu Hause und ich treffe mich um halb elf mit Cem bei ihm zu Hause, wo seine Schwester Selin auf uns wartet, um uns zusammen mit unseren Taschen und einer Kiste Bier zum Baggersee zu fahren. Selin ist Cems älteste Schwester und ich kann sie gut leiden, auch wenn es absolut unfair ist, wie gut wie in Konsolenspielen ist. Sie trägt ein bunt geblümtes Kopftuch und ein breites Grinsen, als sie uns zuwinkt.
 

Wir hören die ganze Fahrt über sehr laut türkische Popsongs, bei denen Cem und Selin ausgesprochen enthusiastisch mitsingen und ich kann es ihnen nicht mal übel nehmen weil es irgendwie nett ist, die beiden miteinander zu beobachten. Natürlich muss ich daran denken, wie Tamino Einzelkind ist—weil all meine Gedanken früher oder später bei Tamino landen.
 

Als wir am See ankommen und Selin wieder weg ist, mache ich ein großes Drama daraus, wie ich meine Badeshorts zu Hause vergessen habe. Nicht unbedingt meine genialste Idee. Aber es funktioniert zumindest nach einigen Minuten des Gelächters und des Augenverdrehens.
 

»Ich hüte euer Bier, ihr Wichser«, erkläre ich großmütig und pflanze mich auf ein Handtuch mitten ins Gras neben eine große Ansammlung an Bierkisten und Kühltaschen.
 

»Wehe du säufst uns alles weg«, warnt Adnan mich mit einem breiten Grinsen. Ich zucke mit den Schultern und strecke ihm die Zunge raus, ehe ich mir mein erstes gekühltes Bier nehme. Gott sei Dank ist meine Position weit genug vom Wasser weg, sodass ich zwar ein ununterbrochen nervöses Vibrieren spüre, aber immerhin nicht komplett in Panik und Angstschweiß ausbreche.
 

Weil mein Gehirn ein dummer Verräter ist, muss ich an den Tag denken, an dem Tamino mich mit zum kleinen See in unserer Nähe geschleppt hat, um mir seine Angststörung zu erklären. Die Sonne scheint erbarmungslos auf mich herunter, während ich mein Bier trinke und versuche mich nicht allzu sehr auf das plätschernde Geräusch des Wassers zu konzentrieren.
 

Die meisten sind bereits im Wasser und ich schaue aus der Ferne zu, wie Cem, Adnan, Yousef, Daniel und Oli sich eine Wasserschlacht liefern. Ich frage mich, ob Cem gestresst ist, weil Daniel nur eine Badeshorts trägt und gerade dabei ist, Cem in den Schwitzkasten zu nehmen. Vielleicht bin auch nur ich so ein Weichei wenn es darum geht, von seinem Angebeteten angetatscht zu werden.
 

Nach zwei Runden Beachvolleyball, noch drei Flaschen Bier und einer sehr hitzigen Runde UNO gegen Cem, Daniel und Adnan—UNO ist seit neustem ebenfalls schwul, wie Lennard uns erklärt hat, bevor er wieder in Richtung Wasser verschwunden ist—fühle ich mich beinahe entspannt.
 

Vielleicht ist der Ausflug doch nicht so schlimm wie ich dachte.
 

Vielleicht hätte ich das nicht denken sollen.
 

Lennard, Basti und Konstantin haben offenbar beschlossen, dass es nicht sein kann, dass der Kapitän der Mannschaft kein bisschen nass wird, während wir an einem Baggersee abhängen. Zugegebenermaßen können sie nicht wissen, warum ich nicht ins Wasser will. Aber nach dem ersten ziemlich panischen »Nein!« finde ich, dass sie hätten aufhören sollen.
 

Mein Gehirn schaltet sich aus, als die Drei mich Richtung Wasser schleifen. Eine kalte Panik fällt über mir zusammen, während sie mich halb ziehen, halb tragen, um mich in den See zu werfen. Meine Gliedmaßen fühlen sich an, als wären sie aus Blei.
 

Sag einfach, dass du nicht schwimmen kannst. Sag es einfach. Spuck es einfach aus.
 

Aber meine Stimme hat mich im Stich gelassen und ich glaube nicht, dass ich schon mal etwas Schrecklicheres gesehen habe als diesen verfluchten Baggersee voller lachender Menschen. Als wir den Steg erreichen, der ins Wasser ragt, hat kalter Angstschweiß mein Shirt bereits vollständig durchgenässt und ich weiß nicht, wie oft ich »Nein« und »Lasst mich los« gekeucht habe.
 

Es ist nichts mehr als statisches Rauschen in meinem Gehirn und ein verzweifelter Gedanke von »Halt die Luft an«, bevor ich merke, dass ich losgelassen werde. Der Himmel kippt und meine klammen Finger greifen nach Bastis Shirt und dann…
 

Kalte Nässe und der überwältigende Drang zu atmen, Luft zu holen, den Mund zu öffnen und panisch nach Sauerstoff zu schnappen. Ich hab keine Ahnung wo oben und unten ist als ich untergehe und mit Armen und Beinen um mich schlage, als würde mich das irgendwie an die Oberfläche zurückbringen, wenn ich nicht mal weiß, wo die Oberfläche ist.
 

Ich kann meine Augen nicht aufhalten und mein Herz hämmert so sehr, dass es mir wahrscheinlich gleich aus dem Brustkorb springt. Ich muss atmen. Ich muss Luft holen, ich muss—
 

Ein Paar langer Arme schlingen sich um meinen Oberkörper und in meiner Panik klammere ich mich an dem Anker fest, der wie aus dem Nichts aufgetaucht ist. Ich erwische Finger und den Saum eines Shirts und ich glaube, ich trete viel zu heftig um mich, als dass man mich problemlos an die Oberfläche ziehen könnte, aber—
 

Im nächsten Augenblick durchbricht mein Kopf die Wasseroberfläche und ich keuche und huste mit die Lunge aus dem Leib, während ich panisch versuche so viel Sauerstoff in meinen Körper zu ziehen wie nur irgend möglich.
 

»Hey, hey. Ich hab dich.«
 

Oh.
 

Ich will weinen. Ich will weinen und schreien und aus dem Wasser und nach Hause und atmen, atmen, atmen, während die Panik in mich wütet wie ein Vulkanausbruch.
 

Tamino ist in kompletter Montur in den See gesprungen. Ich hab keine Ahnung, wo er herkommt und warum er überhaupt da ist—»ehrlich gesagt wäre es viel weniger schlimm wenn du da wärst einfach weil du weißt was los ist«—aber im Moment ist mein Kopf nicht in der Lage irgendwas zu denken. Ich klammere mich an Tamino fest und weigere mich loszulassen.
 

Auch, als wir schon an Land sind. Ich spucke immer noch Wasser und huste und meine Luftröhre brennt schmerzhaft. Mir ist klar, dass Leute starren und flüstern, aber ich hab keine Kapazität im Gehirn für irgendetwas außer Panik.
 

»Ich hab dich. Alles ist in Ordnung«, murmelt Tamino in mein Ohr. Ich hoffe, ich heule nicht gegen seine Schulter. Ich hoffe, dass die anderen einfach wegsehen, während ich wie das letzte erbärmliche Weichei in Taminos Armen hänge wie ein buchstäblicher nasser Sack.
 

Ich glaube, ich kann Cems und Konstis Stimmen ausfindig machen aber ich verstehe nicht, was gesagt oder geschrien wird. Während ich mich heftig neben Tamino auf den Rasen übergebe, frage ich mich, ob es eigentlich noch weiter bergab gehen kann.

Space

Dinge, die ich nicht erwartet habe:
 

1.Dass Tamino auftaucht—zwei Wochen vor Ablauf der sechs Wochen—weil ich gesagt habe, dass ich Schiss hab ohne ihn mit den anderen an einen See zu fahren.
 

2. Dass Tamino in der Lage ist, Leute anzuschreien. Ein wütender Tamino ist in der Tat ein beeindruckender Anblick. Verschwunden sind die Angst und die Panik und die Schüchternheit, zumindest nach außen bin. Was bleibt, ist ein beeindruckend großer Kerl mit Armmuskeln und Augen, die Funken sprühen, als er Basti, Lennard und Konstantin ins Gebet nimmt. Cem sieht aus, als würde er gleich in seine Badeshorts kommen.
 

3. Dass Tamino für mich einmal jemandem eine reinhauen würde. Konstantin gewinnt den Preis eines Faustschlags gegen seine Unterlippe, als er sagt, dass Schwimmen keine Kunst sei und ich mich nicht wie eine Schwuchtel anstellen soll.
 

Cem hat Selin angerufen, damit sie uns wieder einsammelt und ich hab keine Ahnung, wann sie aufkreuzen wird. Ich würde gerne eingreifen, während drei der Jungs Tamino davon abhalten, Konstantin zusätzlich zu einer geplatzten Lippe auch noch die Nase zu brechen.
 

Cem hockt neben mir, eine schwere Hand auf meiner Schulter, während ich wie ein Häufchen Elend im Gras sitze. Tamino hat mich in mein Badehandtuch gewickelt und gewartet, bis meine Panik ein bisschen abgeebbt ist, bevor er sich die drei Übeltäter vorgeknöpft hat.
 

Die anderen Jungs sehen alle etwas betreten aus. Wahrscheinlich ist das alles ein bisschen zu viel Emotion für sie. Panischer Kapitän, Tränen, Streit. Mit Taminos Wut ist alles immerhin wieder in einen Bereich gerutscht, den sie verstehen können. Geschrei und Schläge, da können sie geistig mithalten.
 

Ich würde mich vor Scham und allgemein empfundener Scheußlichkeit gerne unter dem Rasen vergraben. Mein Herz hämmert immer noch wie verrückt, aber wenigstens kann ich wieder atmen, auch wenn meine Lungen und meine Luftröhre wehtun, als hätte jemand sie in Brand gesteckt. Ich bin pitschnass und alles in allem ein erbärmlicher Anblick.
 

Dass Cem den Dreien schon die Leviten gelesen hat, habe ich nur sehr vage am Rande mitbekommen, weil ich zu sehr mit Atmen und Kotzen beschäftigt war.
 

»Wenigstens sieht Basti aus, als würde er sich schlecht fühlen«, meint Cem mit finsterer Miene. Ich gebe ein gurgelndes Geräusch von mir. Wahrscheinlich funktioniert meine Stimme nicht wirklich. Cem hat von irgendwo ein Pfefferminzbonbon hervorgegraben, damit ich nicht die ganze Zeit meine eigene Galle schmecken muss, die jetzt fünf Meter entfernt den Rasen ziert.
 

Ugh.
 

»Also… das erklärt zumindest die mangelnden Ausflüge ins Freibad«, sagt Cem mit matter Stimme und ich kann nicht umhin zu schnauben und ihn leicht mit der Schulter anzustupsen. Als Tamino zu uns zurückkommt fällt mir zum ersten Mal auf, dass er dünner aussieht als vor einem Monat. Und er hat dunkle Schatten unter den Augen.
 

»Er kann froh sein, dass ich ihn nicht kastriert habe«, grummelt er und wirft mir einen flüchtigen Blick zu, ehe er sich neben mir auf den Boden hockt und anfängt, Gras auszureißen.
 

»Ehrlich gesagt hätt‘ ich das gerne gesehen«, gibt Cem zu. »Wenn ich ihn noch einmal das Wort Schwuchtel sagen höre, reiß ich ihm vielleicht einfach die Zunge raus.«
 

»Ich halte seine Arme fest, damit er sich nicht wehren kann«, verspricht Tamino finster und die beiden stoßen kurz ihre ausgestreckten Fäuste gegeneinander, als wäre es ein ernstzunehmender Pakt, den sie gerade geschlossen haben. Mir ist irgendwie klar, dass nicht alles wieder in bester Ordnung ist und ich fühle mich auch zu elend, um so richtig erleichtert zu sein.
 

Aber Tamino ist wieder da. Und wie ich in den nächsten zwanzig Minuten erfahre, hat Noahs Vater ihn bis hierher gefahren. Allerdings standen sie zwischenzeitlich im Stau, deswegen war er zu spät. Anscheinend hat Tamino von Trainer den Ort des Ausflugs in Erfahrung gebracht. Weil er mich nicht fragen wollte, nehme ich an.
 

Ugh, ich will ins Bett. Ich will schlafen.
 

Vielleicht brauche ich nach dem heutigen Tag auch eine Therapie.
 

Vielleicht muss ich aus der Mannschaft austreten bevor unser Spiel nächsten Samstag stattfindet.
 

Selin taucht einige Minuten später auf, etwas verwirrt darüber, dass wir so schnell wieder zurückwollen und darüber, dass wir plötzlich zu dritt sind. Aber sie begrüßt Tamino freundlich und ich bin dankbar, dass sie wieder lauthals mit Cem türkischen Pop singt, sodass ich nicht in die Verlegenheit komme, mit Tamino zu sprechen.
 

Wir sitzen auf dem Rücksitz und er schaut aus dem Fenster. Obwohl nur etwa dreißig Zentimeter Platz zwischen uns beiden ist, fühlt es sich an, als wäre er kilometerweit weg von mir. Aber er ist zurückgekommen. Wegen mir. Entgegen aller Gefühle, die ihn sicherlich zurück ins Bett gezogen haben, zurück zu seinen Freunden, hat er das alles stehen und liegen lassen.
 

Für mich.
 

Mein Hals fühlt sich sehr trocken an, aber ich weigere mich, schon wieder zu heulen. Es reicht, dass ich auf der Party geheult habe. Und gerade eben. Ich habe definitiv genug geheult für den Rest meines Lebens. Vielleicht kann ich mir das nächste Mal für was wirklich Relevantes aufheben, wie die Beerdigung meiner Mutter—die hoffentlich in sehr ferner Zukunft liegt.
 

Nach einigen Minuten der Fahrt sehe ich aus dem Augenwinkel, dass Tamino die Augen geschlossen hat. Sein Shirt hängt immer noch feucht an seiner nackten Haut und lässt noch deutlicher werden, dass er abgenommen hat. Ich will ihn so dringend anfassen, aber ich traue mich nicht, also starre ich ihn den ganzen Rest der Fahrt an wie ein elender Stalker, weil ich immer noch nicht ganz glauben kann, dass er wieder da ist.
 

»Willst du noch mit hochkommen?«, krächze ich, als Selin vor meiner Haustür hält. Cem tut so, als wäre er diskret und hält sich im Hintergrund, aber ich sehe, wie seine Augen Löcher in Taminos Hinterkopf brennen, als würde er ihn telepathisch dazu bewegen wollen Ja zu sagen.
 

»Ähm. Ok«, nuschelt Tamino leise und friemelt am Saum seines Shirts herum.
 

»Dann viel Spaß ihr Hübschen. Bis Montag«, ruft Cem vollkommen überenthusiastisch und schmeißt sich wieder neben seine Schwester ins Auto. Ich winke ihnen matt hinterher, ehe ich Tamino voran die Treppen zu unserer Wohnung hochsteige und aufschließe.
 

»Schon wieder d—warum bist du nass?«, sind Maris erste Worte, als ich die Wohnung betrete und sie gerade aus der Küche kommt, ein Teller voll geschnittenem Obst und eine Flasche Wasser in der Hand.
 

»Hey Tamino!«
 

»Hey«, sagt er mit müder Stimme und schafft ein halbes Lächeln. Dann wenden Maris Augen sich wieder mir zu.
 

»Ähm. N paar von den Jungs haben beschlossen, dass ich dringend auch baden gehen soll?«, krächze ich und merke schon wieder, wie meine Augenwinkel brennen. Fuck, fuck, fuck. Maris Augen werden groß wie Teller und sie stellt ihren Kram beiseite und zieht mich sofort in eine feste Umarmung.
 

»Oh scheiße«, flüstert sie gegen meine Schulter und drückt mich sehr fest an sich. Ich höre hinter mir, wie Tamino sich vorsichtig die nassen Schuhe auszieht und dann auf leisen Pfoten im Bad verschwindet.
 

»Bist du ok?«, will sie wissen.
 

Ich hole Luft und öffne den Mund. Dann klappe ich ihn wieder zu.
 

»Nein«, flüstere ich ehrlich.
 

»Soll ich loslassen?«
 

»Nein.«
 

»Ok.«
 

Ich weiß nicht, wie lange wir im Flur stehen, aber ich höre die Dusche im Bad laufen und dumpf wird mir klar, dass Tamino nach all der Zeit endlich auch angefangen hat sich in meiner Wohnung so zu verhalten, als wäre er schon oft hier gewesen. Als wäre er hier auch ein bisschen zu Hause.
 

Als Mari mich schließlich loslässt, bietet sie mir mit einem schwachen Lächeln eine Apfelspalte an, die ich dankend ablehne. Ich muss endlich aus diesen nassen Klamotten raus. Also tapse ich in mein Zimmer, reiße mir die ganzen klammen Sachen vom Leib und krieche ausschließlich mit frischen Boxershorts bekleidet unter meine Bettdecke und es dauert keine zwei Minuten, bis ich eingeschlafen bin.
 

Wahrscheinlich war es ziemlich egoistisch und unhöflich Tamino nach oben einzuladen, wenn ich dann direkt ins Bett krieche und einfach wegpenne, aber der Stress des Tages hat mich ausgeknockt. Als ich Stunden später aufwache und gegens Tageslicht blinzele, dauert es einen Augenblick bis die Erinnerungen im wahrsten Sinne des Wortes zurückgeflutet kommen.
 

Es kostet mich zwei Minuten angestrengt konzentriertes Atmen, um nicht sofort wieder in Panik zu verfallen. Als ich den Kopf drehe, stelle ich fest, dass Tamino noch da ist. Er trägt Klamotten von mir und sitzt neben dem Bett auf dem Boden, die Arme auf der Matratze verschränkt und den Kopf darauf abgelegt.
 

Er schläft.
 

Die Tatsache, dass er nicht einfach mit mir unter die Bettdecke gekrochen ist—wie er es vor mehreren Wochen garantiert getan hätte—tut mir beinahe körperlich weh. Wow, Julius, du hast es echt abgefuckt. Gut gemacht.
 

Ich betrachte Tamino schon wieder beim Schlafen und stelle mir vor, wie ich mich fühlen würde, wenn es andersrum gewesen wäre. Was, wenn ich auf dem besten Weg gewesen wäre, Tamino zu küssen und er dann panisch abgehauen wäre, woraufhin ich ihn in Tränen aufgelöst draußen gefunden hätte.
 

Mein Magen zieht sich sehr unangenehm zusammen.
 

Jap.
 

Ich würde auch denken, dass ich eine Grenze eingerissen habe. Ich würde denken, dass es unangemessen war. Und ja, ich würde ganz definitiv Sicherheitsabstand zu Tamino halten, aus Angst, ihm ungewollt auf Pelle zu rücken.
 

Meine Finger kribbeln, weil ich Taminos Haar anfassen möchte. Vielleicht würde ihm das zeigen, dass alles wieder ok ist. Dann wiederum stellt sich die Frage, ob wirklich alles ok ist. Wahrscheinlich nicht.
 

Wie auch?
 

Trotzdem gebe ich dem Impuls nach und strecke die Hand aus, fahre sachte über Taminos Kopf und schiebe meine Finger behutsam durch seine Locken. Er gibt ein leises, wohliges Geräusch von sich, ein bisschen wie eine Katze, und mein Herz macht einen dreifachen Salto, als er blinzelnd die Augen öffnet und mich anschaut.
 

Mein Gehirn stottert und kommt zum Halten, während wir uns einfach nur schweigend ansehen, meine Hand immer noch in Taminos Haaren. Dann, ganz langsam, als wäre er sich nicht sicher, ob es erlaubt ist—fuck, natürlich ist es erlaubt—angelt er meine Hand aus seinen Haaren und verhakt vorsichtig unsere Finger miteinander.
 

So behutsam, als wäre ich etwas Zerbrechliches.
 

Ich schlucke und starre ihn an, dann unsere verhakten Finger.
 

»Danke. Für vorhin«, krächze ich heiser. Meine Augen huschen zurück zu Taminos Gesicht und er betrachtet unsere Finger, als wären sie ein spannendes Puzzle, das er gerne lösen würde. Als sein Blick sich meinem Gesicht zuwendet, halte ich unweigerlich die Luft an.
 

»Ich... äh. Ich war schon da. Schon ein Weilchen. Aber—ähm. Ich hab. Ich hab noch einen Spaziergang um den See gemacht, weil ich—weil ich nervös war. Und. Ich bin sehr—sehr gerannt, aber—ja.«
 

Tamino wendet den Blick ab und beißt sich auf die Unterlippe, offenbar weil er ein schlechtes Gewissen hat. Als wäre es nicht absolut wahnwitzig, dass er extra hergefahren ist und mich aus dem See geangelt und Konstantin angeschrieen und geschlagen hat.
 

»Hey«, krächze ich und er schaut zögerlich wieder auf. »Kein schlechtes Gewissen. Nich‘ dafür. Nich‘—für nichts.«
 

Das ist der kläglichste Versuch eine Anspielung auf die Party zu machen, aber Tamino ist ein Typ für subtile Botschaften und ich sehe, wie er schluckt und seine Augen durch den Raum huschen. Die Finger, die mit meinen verhakt sind, verkrampfen sich ein wenig und ich fange an, mit dem Daumen über seinen Handrücken zu streichen.
 

Als Tamino ausatmet, klingt es zittrig.
 

»Sieht aus als wärst du mal wieder mein Superheld«, versuche ich zu scherzen. »Rettest mein Abi, rettest mich vorm Ersaufen...«
 

Tamino schüttelt den Kopf und schafft ein halbes Lächeln, als er mich erneut ansieht.
 

»Wenn das stimmt, dann bist du auch mein Superheld«, murmelt er kaum hörbar. Sein Daumen malt jetzt Kreise auf meiner Handinnenfläche und meine Haut kribbelt so heftig, dass ich mich sehr aufs Atmen konzentrieren muss.
 

»Es war alles echt nicht—nicht gut, als du mich eingesammelt hast«, flüstert er. Ich erinnere mich daran, wie wir vor gefühlten hundert Jahren angefangen haben Zeit miteinander zu verbringen. Ich glaube mir war nie so richtig klar, dass Tamino unsere Freundschaft als Rettung empfunden hat, auch wenn es irgendwie Sinn macht. Mein Herz zieht sich zusammen und ich blinzele ein paar Mal Richtung Decke.
 

Nope, Juls.
 

Kein Geheule mehr.
 

Als Tamino schließlich aufsteht und sich streckt, lösen unsere Hände sich voneinander und alles in mir protestiert, aber ich sage nichts und beobachte ihn schweigend, während er wenige Sekunden ein bisschen verloren in meinem Zimmer steht und schließlich den Kopf hängen lässt.
 

»Ich—äh. Ich sollte mich auf den Weg machen. Ich hab Ororo vorhin nur schnell oben reingesetzt und... sie muss noch was essen«, murmelt er.
 

Ich möchte sagen »Nimm mich mit und lass mich bei dir im Bett schlafen«. Aber ich traue mich nicht und es kommt mir egoistisch vor so zu tun, als wäre alles beim Alten, wenn ganz offensichtlich irgendetwas nicht in Ordnung ist.
 

»Ok«, krächze ich und versuche mich von meiner Bettdecke zu befreien.
 

»Bleib ruhig liegen«, sagt Tamino. Seine Augen huschen über meine Ausgabe von Ari und Dante auf meinem Nachtschrank und ich könnte schwören, dass er lautlos seufzt. »Ich weiß ja, wo’s raus geht.«
 

Und mir bleibt nichts anderes übrig, als Tamino nachzusehen, als er aus meinem Zimmer verschwindet. Wenige Augenblicke später höre ich die Wohnungstür leise zugehen.
 

*
 

Ich hätte mir denken können, dass Tamino eigentlich noch nicht wieder fit ist, um alleine zu Hause zu sein. Zur Schule kommt er auch weiterhin nicht und jetzt muss ich mich mit dem Gedanken abfinden, dass meine Panik ihn aus seinem behüteten Nest gerupft hat. Statt diesen beschissenen Ausflug einfach abzusagen. Oder Cem zu erzählen, dass ich nicht schwimmen kann.
 

Nein, ich jammere bei Tamino und er kommt angeflogen und jetzt liegt er wahrscheinlich allein zu Hause im Bett und wünscht sich wieder da zu sein, wo er herkommt. Sein dämlicher Vater interessiert sich garantiert auch weiterhin für nichts, was seinen Sohn betrifft.
 

Ugh.
 

Ich frage mich, ob ich vorbeigehen soll, oder ob ich die Unterlagen und Hausaufgaben besser in den Briefkasten werfe. Dann wiederum war Tamino beim letzten Mal kaum in der Lage duschen zu gehen, also bezweifle ich, dass er es bis runter zum Briefkasten schafft. Vielleicht sollte ich mich einfach zusammenreißen und einsehen, dass es gerade nicht um mich geht.
 

Der einzige Grund, warum ich mich Montag nicht krankmelde, ist, dass ich für Tamino die Hausaufgaben einsammeln will, weil ich weiß, dass er auf seine schulischen Leistungen wert legt. Ansonsten hätte ich es mir definitiv gespart, von meinen Mannschaftskameraden die ganze Zeit von der Seite angestarrt zu werden, als würden sie befürchten, dass ich gleich in Tränen ausbreche.
 

Drecksmist.
 

Dass wir später auch noch Training haben, hilft nicht unbedingt meine Nerven zu beruhigen, auch wenn Cems Anwesenheit mich ein wenig beruhigt. Konstantin hat immer noch eine mittlerweile lila-bläulich gefärbte Beule im Gesicht, die ziemlich schmerzhaft aussieht.
 

Auch wenn die anderen sich mir gegenüber verhalten, als wäre ich aus Glas, fällt mir immerhin auch auf, dass sie Konstantin meiden. Vielleicht war ihnen seine Bemerkung dann doch zu geschmacklos. Vielleicht mögen sie mich mehr als ihn. Vielleicht hab ich auch einfach keine Ahnung, was in den meisten meiner Kumpels vorgeht.
 

Tatsächlich nimmt Konstantin nicht am Training teil, womöglich weil seine Lippe sonst wieder aufplatzen würde. Ich habe keinerlei Mitleid mit ihm. Wer hätte gedacht, dass Tamino so zuschlagen kann? Dann wiederum bin ich schließlich derjenige, der dauernd auf seine Armmuskeln starrt.
 

Cem erwähnt den Samstag mit keinem Wort und verhält sich, als wäre nichts Komisches passiert. Feli hat eindeutig bemertk, dass irgendetwas im Busch ist, aber sie hat nicht nachgefragt, sondern mich nur besorgtgemustert, während ich die komplette Deutschstunde Nikolaus-Häuser und formlose Kringel auf meinen Collegeblock gekritzelt habe.
 

Als ich schließlich frisch geduscht und nervös vor Taminos Tür stehe, mein Rucksack mit ein paar Einkäufen auf dem Rücken und einer Schachtel Kekse in der Hand, dauert es unendlich lange, bis der Türöffner betätigt wird.
 

Tamino lehnt im Türrahmen, als ich die Treppe hinaufkomme, seine Augen blutunterlaufen und endlos müde. Sein Mundwinkel zuckt kaum merklich, als er mich sieht und er tritt beiseite, um mich einzulassen.
 

»Hey«, nuschelt er und schließt die Tür hinter mir.
 

»Hey«, gebe ich zurück und kicke meine Schuhe in eine Ecke. »Ich hab Essen mitgebracht.«
 

Tamino folgt mir in die Küche und beobachtet, wie ich eine recht wahllose Auswahl an Lebensmitteln auspacke. Bananen, Zimtschnecken, Pudding, Nudeln, rote Soße im Glas, eine Gurke und zwei Tiefkühllasagnen finden ihren Weg auf den Küchentisch, bevor ich ungefragt anfange, alles weg zu sortieren.
 

»Hast du heute schon was gegessen?«
 

Tamino schüttelt den Kopf.
 

»Vielleicht sollte ich mir von meiner Mutter endlich mal richtiges Kochen beibringen lassen«, sage ich und kratze mir verlegen den Hinterkopf, ehe ich nach einer der Lasagnen greife und die Zubereitungsanleitung durchlese.
 

»Du musst nicht für mich kochen«, murmelt Tamino.
 

»Tja. Vielleicht will ich aber«, gebe ich schulterzuckend zurück und drehe den Ofen an, bevor ich die Lasagne hineinschiebe und mich zu Tamino umdrehe. Er sieht kolossal scheiße aus. Ich will ihn so dringend umarmen, aber ich merke auch, dass er Abstand hält, mir Platz macht, wenn ich an ihm vorbeigehe, als hätte er Angst sich zu verbrennen.
 

Ich sollte ihm einfach sagen, dass es ok ist, wenn er mich anfasst.
 

Aber natürlich traue ich mich das nicht.
 

»Hast du irgendwo eine Eieruhr?«
 

Tamino öffnet eine der Schranktüren und reicht mir eine schlichte, weiße Eieruhr. Während das Ticken der Uhr in meinen Ohren klingt, fange ich schweigend an, Taminos Fenster zu öffnen, sein Bett zu beziehen, Wasser auf seinem Nachtschrank abzustellen, frische Klamotten aus dem Schrank zu ziehen.
 

Tamino sagt kein Wort. Er hockt auf dem Fußboden neben seiner Zimmertür und umarmt seine Knie, die Augen unfokussiert ins Leere gerichtet.
 

Als ich mich im Schneidersitz vor ihm auf den Boden setze und die Hand nach ihm ausstrecke, zuckt er zusammen wie ein verletztes Tier. Ich ziehe meine Hand zurück.
 

»Sorry.«
 

Tamino zieht die Schultern hoch und fängt an, auf seiner Unterlippe herumzukauen. Ich sehe, dass seine Hände zu Fäusten geballt sind, die Fingernägel in die Handinnenflächen gebohrt. Mein Schlucken ist unnatürlich laut in der Stille.
 

Anfassen? Nicht anfassen?
 

Ich hab keine Ahnung, was die richtige Taktik ist. Letztes Mal hat anfassen geholfen, aber letztes Mal hat Tamino auch nicht reagiert wie ein angeschossenes Reh, dass von einem Hund beschnüffelt wird.
 

Fuck.
 

Kein Anfassen.
 

»Deep Space Nine zum Essen?«, frage ich und versuche angestrengt das Ziehen in meinem Brustkorb zu ignorieren.
 

»Ok.«
 

Tamino schafft nicht mal die Hälfte der Lasagne und reicht mir den Teller wortlos, während wir in ungewohntem Abstand zueinander auf dem Bett sitzen und Star Trek schauen. Bevor ich mich mit Tamino angefreundet habe, wäre es niemals ein Problem gewesen im Abstand von dreißig Zentimetern mit einem Freund auf meinem Bett zu sitzen und eine Serie anzuschauen.
 

Jetzt spüre ich den Abstand überdeutlich, als würde alles unter meiner Haut mich zu Tamino hinüberziehen. Als wäre er ein riesiger Magnet und ich ein Haufen kleiner eiserner Nadeln, die nichts lieber täten, als sich an ihn zu schmiegen.
 

Aber erstmal scheint Körperkontakt von der Liste der möglichen Dinge gestrichen worden zu sein. Also schlinge ich meine Arme um mich selbst und starre konzentriert auf den Bildschirm, während mein Gehirn vor lauter chaotischen Gedanken wabert.
 

Ein wahnwitziger Teil meines Gehirns wünscht sich, noch mal ins Wasser zu fallen, einfach damit Tamino sich aus Sorge um mich nicht mehr scheut mich anzufassen.
 

Vielleicht morgen, denke ich. Vielleicht nächste Woche.
 

Aber vielleicht, wispert mein Gehirn verräterisch, vielleicht auch gar nicht mehr.

Scharfe Salami mit Pepperoni und extra Chili

Am dritten Tag gebe ich Julius einen Zweitschlüssel für unsere Wohnung. Ich sage meinem Vater nicht Bescheid deswegen, wahrscheinlich ist es ihm sowieso egal. Wenn ich aus dem Bett aufstehe, um Ororo zu füttern, versuche ich zumindest eine Flasche Wasser aus der Küche zu holen und meine Zähne zu putzen, bevor ich wieder ins Bett falle.
 

Julius war jeden Tag hier, seit Montag.
 

Er zwingt mich zum Essen und gestern auch zum Duschen, er lässt Frischluft in mein Zimmer, spielt mit der Katze und sitzt in einem Sicherheitsabstand von dreißig Zentimetern neben mir auf dem Bett und schaut mit mir Deep Space Nine. Er erzählt von seinem Tag, er kommentiert die Folgen.
 

Ich schweige.
 

Meine Zunge fühlt sich an, als hätte sie das Sprechen verlernt und ich kann sehen, dass es Julius aufs Gemüt schlägt, wie ich mich verhalte, aber ich hab schlichtweg keine Energie für irgendetwas. Ich möchte mich bedanken, ich möchte mich entschuldigen. Ich möchte ihm nicht zur Last fallen, aber ich kann nicht—
 

Ich kann einfach nichts im Moment.
 

Es fühlt sich an, als würde mein Inneres aus Teer bestehen. Mein Kopf ist gefüllt mit einer wattigen Apathie, die ich einfach nicht abschütteln kann. Bis Sonntag habe ich es geschafft es nicht zu bereuen, von Noah weggefahren zu sein. Jetzt liege ich den ganzen Tag alleine im Bett und starre an die Decke und wünsche mir nichts sehnlicher als wieder dort zu sein, wo ich hergekommen bin.
 

Ich weiß, dass es Julius gegenüber unfair ist. Dumpf denke ich daran, dass Mari mal gesagt hat, ich wäre einer von Julius‘ anständigen Freunden. Wenn sie wüsste, was in mir drin vorgeht, würde sie das sicherlich anders sehen.
 

Er gibt sich so viel Mühe und ich will einfach nur weg.
 

Er hat mal gesagt, dass er nie sauer auf mich ist. Vielleicht hat er das sogar ernst gemeint. Aber ehrlich gesagt würde ich einen sauren Julius eintauschen gegen das, was ich auf der Party gesehen habe. Wenn er einfach sauer wäre, dann wäre es vielleicht einfacher, dann müsste ich mich nicht mit einem Bild von einem weinenden Julius herumschlagen, das sich auf die Innenseite meiner Augenlider tätowiert hat.
 

Er hat geweint, weil ich ihn fast geküsst habe.
 

Ich erinnere mich noch sehr genau an die panisch riesigen Augen und wie er geflüchtet ist, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Und das wohl gemerkt, nachdem er wenige Sekunden vorher noch mit Cem geknutscht hat.
 

Ich hab’s einfach total verkackt.
 

Was hab ich mir in diesem Moment gedacht? Ich weiß es natürlich. Ich war notgeil und Julius ist—
 

Ich schneide meinen Gedankengang an der Stelle entschieden ab, weil ich schon genug verschissen habe. Es muss wirklich nicht sein, dass ich auch noch darüber nachsinne, dass Julius super gut aussieht und es wahnsinnig heiß war, ihn mit Cem beim Knutschen zu beobachten.
 

Ororo hat sich auf meinem Brustkorb zu einem Kringel eingerollt und schläft zufrieden, während ich darüber nachdenke, was für ein elendes Arschloch ich bin. Und um das ganze zu krönen, hab ich dann auch noch Julius‘ besten Freund entjungfert, ohne so richtig drüber nachzudenken, dass das sein verdammtes erstes Mal Sex mit einem Jungen ist.
 

Fuck.
 

Cem nimmt es mir nicht übel. Aber wahrscheinlich würde er es mir auch nicht sagen, falls es doch so wäre.
 

Meine Gedanken kreiseln darum, was für ein scheußlicher Mensch ich bin und ich kann förmlich Annis Stimme hören, die mir streng sagt, dass das die Depressionen sind, die da reden. Aber im Moment hilft der Gedanke an Annis Stimme nicht.
 

Ich hab einfach alles verbockt.
 

Keine Ahnung, wieso Julius überhaupt noch mit mir befreundet sein will.
 

Als ich höre, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wird, stelle ich mich schlafend und fühle mich dafür sogar noch schlechter, aber ich kann Julius einfach nicht ansehen. Wenn ich noch mal sehen muss, wie er mich anschaut, dann—
 

Ich höre, wie Julius leise in mein Zimmer kommt und seinen Rucksack abstellt. Dann passiert eine Weile lang gar nichts und ich muss mich bewusst dazu zwingen, gleichmäßig zu atmen, falls er mich ansieht. Auch wenn ich nicht weiß, warum er so ein Wrack wie mich ansehen wollen würde.
 

Nach einigen Momenten der Stille verschwindet er in die Küche und ich höre fernes Klappern, Rascheln und das Auf- und Zugehen des Kühlschranks. Wahrscheinlich hat er neue Sachen eingekauft. Ich glaube, wenn ich heute noch mal in diesem großen Abstand von Julius auf dem Bett sitzen und Star Trek gucken muss, dann drehe ich durch.
 

Also halte ich meine Augen geschlossen und lausche auf jedes Geräusch. Julius kommt zurück in mein Zimmer und kippt mein Fenster, ehe ich Papierrascheln höre. Vermutlich legt er die Schulunterlagen auf den Schreibtisch zu den anderen Sachen. Ich spüre, wie er kurz Ororo über den Kopf streichelt und sie prompt anfängt zu schnurren. Dann wieder nichts.
 

Mein Herz hämmert wie verrückt, weil ich das eindeutige Gefühl habe, dass er mich anstarrt.
 

Dann, ganz vorsichtig—und es kostet mich alles an Willenskraft, um nicht zusammenzuzucken—tasten Fingerspitzen nach meiner Hand auf der Matratze.
 

Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.
 

Seine Hand legt sich auf meine und bleibt dort. Ich zähle die Sekunden.
 

Neunzehn—zwanzig—einundzwanzig—
 

Meine Haut kribbelt an der Stelle, an der Julius mich berührt. Dann zieht er die Hand zurück und ich höre ihn leise seufzen, ehe er wieder aufsteht und das Zimmer verlässt.
 

Er kommt noch einmal zurück und stellt irgendwas auf meinen Nachtschrank—wahrscheinlich eine frisch gefüllte Wasserflasche und irgendwas Unaufwendiges zu essen—dann lausche ich, wie er seinen Rucksack wieder aufsetzt, leise meine Tür hinter sich zuzieht und im nächsten Moment öffnet und schließt sich die Wohnungstür.
 

Ich öffne die Augen und schlucke mehrmals. Als ich den Kopf drehe, sehe ich die erwartete Flasche Wasser, eine Banane und die Tüte Zimtschnecken auf meinem Nachtschrank, die er am Montag schon mitgebracht hat. Meine Kehle fühlt sich an, als würde jemand heftig darauf drücken.
 

Meine Augenwinkel brennen, während ich die Sachen anstarre.
 

Ich bin wirklich das größte Arschloch unter der Sonne.
 

*
 

Am Freitag bugsiert Julius mich in den Park. Rational ist mir bewusst, dass es eigentlich eine gute Idee ist ein bisschen Sonne und frische Luft zu tanken, aber ich bin trotzdem eher ungewillt mich aus dem Bett zu bewegen. Julius stopft eine Wolldecke in seinen Rucksack, besteht darauf mir im Park ein Eis zu kaufen und hockt sich neben mich, als ich mich auf die Wolldecke im Gras lege und den Himmel anstarre.
 

»Das Spiel morgen geht um elf los«, informiert Julius mich, als wäre ich momentan nicht wie eine Backsteinmauer, der man seine Lebensgeschichte erzählt. Julius ist ziemlich gut darin so zu tun, als würde es ihm nichts ausmachen, dass ich so gut wie nie antworte während er so gut wie ununterbrochen vor sich hinblubbert wie ein Glas Mineralwasser.
 

Das Spiel hatte ich schon fast vergessen. Ich bin seit Wochen nicht laufen gewesen und hab natürlich viel zu wenig gegessen. Bis sich das wieder eingependelt hat, brauche ich wahrscheinlich nicht zum Training gehen. Nachdem ich Konstantin eine reingehauen habe, brauche ich vielleicht generell gar nicht mehr zum Training gehen.
 

Noch eine Sache, die ich vermasselt habe. Auch wenn ich das kein bisschen bereue, weil Konstantin ein elender Wichser ist.
 

»Gegen wen spielt ihr?«, bringe ich hervor und lasse Julius‘ Antwort über die Gegner des morgigen Spiels über mich hinwegwaschen. Vielleicht sollte ich hingehen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass ich es schaffe mich aus dem Bett zu quälen ist sehr gering. Julius hat neben mir Hausaufgaben ausgepackt—ein seltener Anblick, auch wenn er in der letzten Woche immer mal wieder an meinem Schreibtisch saß und irgendwelche Sachen gemacht hat. Vermutlich, um mir einfach Gesellschaft zu leisten.
 

Ich frage mich, ob meine Freunde ihn gecoacht haben, wie man depressive Tamino Episoden am besten betreut.
 

Julius quält sich ganze zehn Minuten allein mit Französisch, bevor er angestrengt stöhnt und mich um Hilfe bittet. Ich drehe mich auf die Seite und angele nach dem Blatt, das er gerade bearbeitet. Obwohl mein Gehirn sich anfühlt wie ein Backstein, helfe ich Julius bei den Französischhausaufgaben. Dann bei Bio. Als er auch noch seine Englischsachen hervorkramt, kommt mir langsam der Gedanke, dass er das mit Absicht macht.
 

Ich mustere ihn von der Seite, während er über den Aufgaben brütet.
 

Obwohl er wahrlich kein Musterschüler ist, hat Julius eine wahnsinnig steile Lernkurve im Umgang mit mir hinbekommen. Er mag kein Genie sein, wenn es um akademisches Lernen geht, aber im Lernen über Menschen scheint er ein unbestreitbares Talent zu haben.
 

»Morgen Abend DVD-Abend mit Cem und Feli?«, murmelt Julius neben mir, immer noch über seine Englischhausaufgaben gebeugt. Ich blinzele und frage mich, wieso er nach dem Spiel abends nicht mit seiner Mannschaft einen trinken gehen will. Dann erinnere ich mich an das Baggerseedebakel.
 

Mir ist kein bisschen nach Gesellschaft zumute, aber ich weiß, dass es eine gute Idee ist.
 

»Ok.«
 

»Wir kommen zu dir.«
 

»Ok.«
 

Julius schaut von seinem Blatt auf und mustert mich eindringlich. Ich kaue auf meiner Unterlippe herum.
 

»Und du wirst mindestens ne halbe Pizza essen«, droht er. Ich nicke stumm. Julius lächelt mich schief an und widmet sich dann wieder seinem Arbeitsblatt.
 

»Ich hoffe, du bist bereit für Jurrassic Park und Black Panther«, sagt Julius und malt ein paar Kringel auf sein Blatt, statt sich mit Aufgabe drei auseinander zu setzen.
 

»Ich bin immer bereit für Black Panther«, murmele ich leise und lege mich wieder auf den Rücken, um den Himmel anzustarren. Warum ist er so nett zu mir? Ich hab diese ganze Nettigkeit kein bisschen verdient. Ich stelle mir vor, wie Julius auf der Party einfach vor Schreck eingefroren wäre, statt zu gehen. Dann hätte ich ihn gegen seinen Willen geküsst und—
 

»Hey«, sagt Julius leise neben mir und ich reiße mich aus meinem Gedankenkreisel, nur um zu merken, dass mein Atem schneller geht als vorher. Julius schaut mich aus seinen hellgrünen Augen besorgt an. »Komm raus aus deinem Kopf.«
 

Ich schlucke mehrere Male schwer.
 

»Geht nicht so einfach«, krächze ich.
 

Julius lächelt traurig.
 

»Ich weiß. Tut mir leid.«
 

*
 

Wie Julius mir scherzhaft mitteilte, hat Frau Lüske ihn streng ermahnt das Spiel am Samstag zu gewinnen, damit all mein Aufwand für ihn nicht umsonst war. Alles, was das mit mir angestellt hat, ist, dass ich mich noch schlechter fühle als ich a) Samstag nicht beim Spiel dabei bin und b) weil ich Julius mit meiner beknackten Depression unter Druck setze.
 

Eigentlich würde ich den DVD-Abend gerne absagen, aber ich weiß, dass Julius das nicht durchgehen lassen würde. Außerdem hat er jetzt einen Schlüssel. Ich hab keine Ahnung, ob er Feli und Cem davon erzählt hat, dass ich Depressionen habe, aber wenn sie auch nur ansatzweise wissen, was für Symptome die Krankheit mit sich bringt, dann werden sie es spätestens wissen, wenn sie mich und mein Zimmer heute gesehen haben.
 

Überall liegen Plastikverpackungen von Snacks herum, die ich ohne Zubereitungsaufwand essen kann. Mein Schreibtisch ist ein Berg aus Unterlagen, garniert mit einem Teller voller Bananenschalen. Ich sehe aus wie ein Zombie, weil ich abwechselnd gar nicht oder viel zu viel schlafe und in den letzten Wochen viel zu wenig gegessen habe.
 

Ich weiß, dass Feli und Cem um sieben hier auftauchen werden, aber alles, was ich heute produktives hinbekommen habe, ist Ororos Katzenklo zu sieben und zu duschen, damit ich nicht auch noch rieche wie ein absolutes Desaster.
 

Als um halb sechs ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wird und wenigen Momente später Julius in die Wohnung schneit, denke ich, ich hätte mich in der Uhrzeit geirrt.
 

»Hey! Ich dachte, ich kann noch ‘n bisschen beim Aufräumen helfen«, sagt er, als er bei mir ins Zimmer schneit und sein erster Gang wie immer zum Fenster ist, um es aufzureißen. Draußen regnet es heute und das Geräusch der prasselnden Tropfen an meiner Fensterscheibe hat etwas Beruhigendes an sich. Der Geruch, der von draußen hereinkommt, ist angenehm.
 

Und Julius Timmermann, Starkapitän der Schulfußballmannschaft und Jahrgangsprinz, ist hier, um mir beim Aufräumen zu helfen, weil ihm klar war, dass ich es selber nicht schaffen und mich deswegen vor Besuch unwohl fühlen würde.
 

In meinem Brustkorb passiert etwas sehr Merkwürdiges, während ich dabei zusehe, wie Julius sich den Teller mit Bananenschalen greift und damit in die Küche verschwindet, um sie zu entsorgen. Mein Herz fühlt sich an, als hätte es sich in einen Schwarm nervöser Kolibris verwandelt.
 

Julius summt eine sehr schiefe Melodie vor sich, die verdächtig nach einem der türkischen Popsongs klingt, die ich Cem schon öfter habe singen hören. Als er zurück in mein Zimmer kommt, starre ich ihn an, als hätte ich ihn noch nie gesehen. Prompt hört Julius auf zu summen und läuft scharlachrot an.
 

»Ähm...«, sagt er.
 

»Habt—habt ihr das Spiel gewonnen?«, krächze ich. Ich höre nicht auf zu starren. Julius‘ große Menge Sommersprossen ist kaum noch zu sehen, wenn er so rot wird wie jetzt und ich bin sehr dankbar für meine braune Haut. Sein Undercut ist gerade frisch rasiert worden—wahrscheinlich von Mari—und er trägt ein schlichtes, weißes Poloshirt. Aus irgendeinem Grund war er noch nie attraktiver als in diesem einen Augenblick.
 

Das ist doch bescheuert, Tamino.
 

Mein Hals fühlt sich sehr trocken an.
 

»Huh? Oh! Ja. Ja, drei zu eins«, gibt Julius verwirrt zurück. Seine Augen kleben immer noch an meinem Gesicht. Wieso stehen wir hier inmitten meines Chaos‘ und starren uns an wie zwei, die noch nie einen anderen Menschen gesehen haben?
 

»Hast du... hast du einen Müllbeutel?«, fragt Julius. Seine Augen sind rund wie Teller und er scheint vergessen zu haben, wie man blinzelt. Ich nicke in Zeitlupe.
 

Tamino. Tamino, was zum Henker ist los mit dir?
 

Ich rühre mich nicht vom Fleck.
 

»Herzlichen Glückwunsch«, sage ich. Jetzt blinzelt Julius sehr verwirrt und mir wird klar, dass das eine viel zu verspätete Antwort auf die Information ist, die er mir über das Spiel gegeben hat.
 

»Oh. Äh, danke. Cem hat das letzte Tor gemacht«, sagt Julius und offenbar ist ihm aufgefallen, wie komisch wir uns verhalten, denn er schaut weg und fängt an, nervös an seinen Haaren herumzuspielen.
 

Fuck, ich will ihn so dringend anfassen, dass es mir wehtut.
 

Ich verlasse hastig das Zimmer, um einen Müllbeutel zu organisieren und anschließend beobachte ich mit hämmerndem Herzen, wie Julius alles an Abfall und Verpackungen einsammelt und in den Beutel stopft. Mein Zimmer sieht automatisch fünfzig Prozent ordentlicher aus als vorher.
 

Schleppend und mit jammernden Gliedmaßen, als wäre jeder Schritt eine Tortur, begebe ich mich zum Schreibtisch und fange an, die Unterlagen nach Fächern zu sortieren und dann in einen ordentlichen Stapel zu legen. Abheften ist zu viel des Guten, aber wenn alles im rechten Winkel liegt, sieht es schon gar nicht mehr so scheiße aus.
 

Julius hat mehrere Tüten Chips gekauft und ein paar Gummitierchen, von denen ich nur vermuten kann, dass sie für Cem gedacht sind. Soweit ich das beurteilen kann, isst Cem keine Süßigkeiten außer Gummigedöns und Erdnussflips—eine Tatsache, die ich persönlich für ein entsetzliches Fehlurteil auf Seiten Cems halte.
 

Beim Gedanken an Cem steigt mir die Hitze an den Kopf. Wir werden uns gleich das erste Mal wiedersehen, nachdem—
 

Scheiße.
 

Was, wenn es komisch ist? Was, wenn wir jetzt nicht mehr normal miteinander umgehen können? Was, wenn ich alles ruiniert habe mit meiner bekloppten, besoffenen, abgefuckten—
 

»Hey.«
 

Warme Finger legen sich behutsam auf meinen Unterarm und ich zucke so heftig zusammen, dass Julius sich erschreckt. Die Finger ziehen sich so schnell von meinem Arm zurück, dass ich kaum gucken kann. Als hätte Julius sich verbrannt. Er sieht aus, als hätte er ein wahnsinnig schlechtes Gewissen und ich sehe, wie er die Hände kurz zu Fäusten ballt und dann wieder locker lässt.
 

»Sorry. Du sahst aus, als wärst du zu sehr in deinem Kopf.«
 

»Ja. Ähm. Wegen—wegen Cem«, krächze ich und sinke in mir selbst zusammen. Julius blinzelt kurz, als wäre er verwirrt, dann sehe ich ihn erneut rot anlaufen. Weiß der Geier, was in ihm vor sich geht.
 

»Oh, achso. Ah. Ha, ich glaube, du—du musst dir keine Gedanken machen. Er war. Er war kein bisschen reumütig darüber, als ich mit ihm drüber geredet habe«, meint Julius und schafft ein schiefes Grinsen. Mein Gehirn dreht sich im Kreis, als ich mir vorstelle, dass Julius mit Cem darüber redet, dass wir Sex miteinander hatten.
 

Aus irgendeinem Grund schaut Julius meine Finger an und wird noch röter im Gesicht, ehe er mit der vollen Plastiktüte fluchtartig das Zimmer verlässt. Ich betrachte meine Finger einen Augenblick lang verwirrt, dann fange ich schwermütig an, meine verteilten dreckigen Klamotten auf einen Berg zu legen und anschließend in den Wäschekorb im Badezimmer zu befördern.
 

Ich verstecke mich für fünf Minuten im Bad, um mich zu beruhigen, während ich Julius draußen rumoren höre. Die Depression flüstert mir zu, dass ich ein Stück Dreck bin, weil ich meinen Freund für mich aufräumen lasse, während ich hier drinnen wie ein fauler Nichtsnutz hocke und einfach nur atme.
 

Ugh.
 

Ich wasche mir das Gesicht und putze meine Zähne, um irgendwas zu tun, das mir nicht wie eine Zeitverschwendung vorkommt. Als ich wieder aus dem Bad komme, hockt Julius mitten bei mir im Zimmer und spielt mit Ororo. Ich bleibe im Türrahmen stehen und beobachte die beiden miteinander.
 

Julius hat mir diese Katze geschenkt. Auch, wenn er mich bei weitem noch nicht so lange und gut kennt wie meine anderen Freunde, hat er ein ausgesprochen gutes Gefühl dafür entwickelt, was ich in welcher Situation brauche. Und das, obwohl er—wie er selbst gesagt hat—keine Ahnung hat, wie Freundschaft so richtig funktioniert.
 

Mein Herz schwillt auf die doppelte Größe an, als ich die beiden miteinander beobachte und ich vergesse ganz in Panik zu verfallen, als es an der Tür klingelt und sich damit Cem und Feli ankündigen.
 

Julius öffnet die Tür und ich habe kaum Zeit, Panik zu schieben, als schon Feli und dann Cem plötzlich in meinem Flur stehen und Julius zur Begrüßung umarmen. Als Cem mich ansieht, grinst er breit und dann umarmt er mich schlichtweg ebenfalls.
 

Oh. Ok.
 

»Oh mein Gott, das ist die süßeste Katze der Welt«, quietscht Feli hingerissen und stürzt an mir vorbei auf Ororo zu, die von der doppelten Menge an Personen im Flur ein wenig alarmiert aussieht, es aber zulässt, dass Feli sie streichelt.
 

Während die Drei in mein Zimmer gehen, verschwinde ich in der Küche, um Getränke zu besorgen und mich ein bisschen zu beruhigen. Als ich zurückkomme, vier Gläser in den Händen und zwei Flaschen unter die Arme geklemmt, höre ich, wie sie sich unterhalten.
 

»—bestellen. Was für Pizza will Tamino?«, fragt Feli.
 

»Scharfe Salami mit Pepperoni und extra Chili«, sagt Julius ohne nachzudenken.
 

Mein Herz stolpert und ich halte mitten im Flur an. Ein Kribbeln breitet sich in mir aus, das ich von früher kenne, aber es scheint sich verdreifacht zu haben, seit ich es zum letzten Mal gespürt habe. In meinem Innern schlägt mein Magen mehrere Saltos, während ich sehr tief ein- und ausatme und das überdeutliche Gefühl in meinem Inneren vorsichtig anstupse und dann absolut zweifelsfrei identifiziere.
 

Oh.
 

Oh.

Bird Set Free

Wir sitzen zu viert auf meinem Bett, Julius und ich jeweils außen. Ich hab Feli neben mir, was mich erleichtert, weil ich neben Cem wahrscheinlich gestorben wäre und immer noch sehr bemüht bin, Julius nicht allzu sehr auf die Pelle zu rücken. Was nach meiner Erkenntnis von vor zehn Minuten noch schwieriger geworden ist, als ohnehin schon.
 

Mein Kopf schwirrt, mein Herz ist immer noch am Hämmern und alles in mir kribbelt.
 

Verliebt.
 

Ich hab mich verliebt.
 

Wie konnte das passieren? Und dann auch noch in Julius? Und wieso muss es mir in so einem bekloppten Moment klar werden? Weil er eine beschissene Pizza für mich bestellt? Das ist doch absurd.
 

Das ist alles absurd.
 

Ich will nicht verliebt sein. Schon gar nicht in einen guten Freund.
 

Fuck. Fuckfuckfuck.
 

»Gebt mir euer Geld, damit ich die Pizza gleich bezahlen kann«, sagt Julius von der anderen Seite des Bettes. Es steht kein bisschen zur Debatte, dass ich derjenige bin, der zur Tür geht, weil ich hier wohne. Julius weiß, dass ich nicht gerne mit Fremden rede und die Tür öffne. Also macht er es einfach.
 

Mein Herz überschlägt sich, während Feli und Cem nach Geld kramen.
 

»Kann ich von deiner scharfen Pizza probieren?«, will Feli wissen, nachdem sie Julius sechs Euro gegeben hat.
 

Ich erinnere mich an Julius‘ Leid, als er von meiner Pizza abgebissen hat und muss lächeln.
 

»Sie ist wirklich sehr scharf«, sage ich leise.
 

»Ist sie. Mir ist fast die Zunge abgefallen«, bestätigt Julius meine Worte. Feli lacht.
 

»Vielleicht bist du auch einfach nur ein Weichei?«, stichelt sie amüsiert. Julius sieht empört aus und schlägt mit einem Kissen nach ihr. Feli versteckt sich halb auf meinem Schoß und ich halte die Luft an, weil der plötzliche Körperkontakt unerwartet kommt. Aber nicht ungewollt.
 

Immerhin bin ich jetzt seit einer Woche auf Entzug, weil Julius tabu ist. Meine Arme legen sich automatisch um Feli und sie gibt ein erstauntes »Oh« von sich, ehe sie sich zufrieden gegen mich lehnt und in meinen Armen hängen bleibt.
 

Cem und Julius starren uns beide an, als würden sie gerne etwas sagen. Julius‘ Gesicht verzieht sich einen Augenblick lang und ich schlucke, aber er sagt nichts und boxt Cem gegen den Arm. Einfach so. Cem ist nicht begeistert.
 

»Alter, fick dich«, mault Cem und schlägt ihn direkt zurück. Feli giggelt leise und platziert ihren Kopf in meiner Halsbeuge.
 

»Hmm... das ist ziemlich gut«, murmelt sie zufrieden und ich muss lächeln.
 

»Ja. Schon«, gebe ich leise zurück und streiche ihr sachte übers Haar. Als es an der Tür klingelt, steht Julius hastig von Bett auf und wirft uns einen Blick zu, den ich nicht deuten kann. Aber ich bin ein egoistischer Mistsack und behalte Feli in meinen Armen. Körperkontakt nach so langer Zeit fühlt sich einfach zu gut an und ich fühle ein bisschen von der Anspannung aus mir heraus sickern, während Felis Finger meinen Unterarm streicheln.
 

Feli und ich lösen uns voneinander, nachdem wir unsere Pizza bekommen haben. Ich lasse sie von meiner Pizza abbeißen und sie trinkt einen halben Liter Wasser hinterher. Cem kommt besser klar, aber er klagt darüber, dass er kaum noch irgendwas schmecken kann, wenn es so scharf ist.
 

Ich genieße es, mit Feli zu kuscheln, als der Film startet, aber ich vermisse Julius ganz schrecklich. Ich vermisse sein weiches Haar und wie gut er riecht und die ganz bestimmte Art und Weise, wie seine Finger Muster auf meine nackte Haut malen. Mein Brustkorb fühlt sich an, als würde er in Flammen stehen, während ich darüber nachdenke. Und es liegt definitiv nicht an meiner sehr scharfen Pizza.
 

»Leider sind jetzt schon zu viele schöne Menschen in diesem Film«, sagt Feli neben mir.
 

»Und du hast noch nicht mal Winston Duke gesehen«, gebe ich zurück.
 

»Sag Bescheid, wenn er auftaucht«, flüstert Feli, während sie ein weiteres Stück ihrer Pizza Hawaii in den Mund nimmt.
 

»Gibt’s Leute in dem Film, die man nicht gerne vögeln möchte?«, will Cem wissen, als Erik Killmonger zum ersten Mal eingeblendet wird. Ich muss lachen und verschlucke mich fast an meiner Pizza.
 

»Also. Die beiden weißen Kerle, die mitspielen, sind definitiv nicht so Bombe«, erkläre ich ihm. Cem lacht sehr gehässig.
 

»Richtig! Spielen nicht Bilbo und Gollum mit? Mit denen würd ich in keine dunkle Ecke verschwinden«, sagt er und Feli kichert neben mir.
 

Obwohl ich den DVD-Abend eigentlich gerne abgesagt hätte, ist es gut, dass die Drei hier sind. Gesellschaft hilft. Felis Körperkontakt hilft. Ich habe einen Arm um sie gelegt, nachdem wir mit unseren Pizzen fertig waren und jetzt ist sie sehr gemütlich in meine Armbeuge gekuschelt und streicht gelegentlich abwesend mit der Hand über meinen Bauch.
 

Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Cem und Julius immer mal wieder die Köpfe zu uns herumdrehen. Feli scheint es auch irgendwann spitz zu kriegen.
 

»Wollt ihr auch?«, fragt sie strahlend und streckt den Arm, der nicht auf meinem Bauch liegt, nach Cem aus. Cem sieht einen Augenblick lang aus, als wäre er eigentlich zu cool, als dass er mit seinen Freunden kuscheln wollen würde.
 

Aber letztendlich zuckt er mit den Schultern, rutscht näher an Feli heran und zerrt Julius schlichtweg mit sich, sodass wir alle seitlich eine Kette bilden. Cems Kopf ruht jetzt auf Felis Bauch, während Julius ihn von hinten löffelt. Hin und wieder hebt Feli ihre freie Hand und streicht Julius übers Haar.
 

Ein sehr warmes Gefühl macht sich in mir breit.
 

Ich hab diese Leute hier gefunden. Fast ganz alleine. Und jetzt ist es beinahe so, als wäre ich zu Hause. Ich schließe kurz die Augen und genieße die Linderung der elenden Apathie, die sich seit Wochen in mir breit macht. Als Ororo zu uns aufs Bett springt und versucht von Felis Pizzarest zu essen, ist der Kuschelhaufen perfekt. Sie rollt sich auf Julius‘ Hüfte ein wie ein kleiner Fellball und Julius sieht sehr zufrieden mit sich und der Welt aus.
 

»Also M’Baku ist dein Ding, ja?«, fragt Feli mich amüsiert.
 

Ich schnaube und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.
 

»Hast du ihn gesehen? Wer würde da nicht gern auf dem Schoß sitzen?«
 

Julius gibt ein Geräusch von sich, dass klingt, als würde er jeden Augenblick einen Erstickungstod erleiden und Cem lacht so laut, dass das ganze Bett wackelt und Ororo fast von Julius‘ Hüfte rutscht.
 

»Ich würde definitiv auf Eriks Schoß sitzen«, erklärt Cem breit grinsend.
 

»Irgendwie wundert mich das nicht«, gebe ich zurück und werfe ihm einen verschmitzten Blick zu. Cem wird rot und hüstelt leise vor sich hin. Meine Augen huschen zu Julius hinüber, der dunkelrot im Gesicht ist und sich halb hinter Cems Schulter versteckt. Vielleicht ist ihm all das sexuelle Innuendo ein bisschen viel des Guten.
 

»Ich will ja nichts sagen, aber die beste Kandidatin, um auf ihrem Schoß zu sitzen, ist Okoye«, meint Feli nach einer Weile und drei Köpfe drehen sich zu ihr um. »Was? Habt ihr sie mit ihrem Speer gesehen?«
 

»Vielleicht müssen wir noch mal drüber reden, wie hetero du eigentlich bist«, sagt Cem bedächtig und Feli kichert gegen meine Schulter.
 

»Gute Frage, nächste Frage. Ich hab keine Ahnung«, sagt sie bestens gelaunt.
 

Als Erik Killmonger sich zum ersten Mal auszieht, hört man eindeutig, wie Cem leise röchelt und ich muss lachen. Es bricht aus mir heraus wie ein frisch geschlüpftes Küken aus einer Eierschale und ich versuche mir auf die Unterlippe zu beißen, um es zu unterdrücken, aber es hört nicht auf.
 

Mein Herz fühlt sich so leicht an, wie schon lange nicht mehr. Die letzten Wochen hat es sich so angefühlt, als hätte ich das Lachen verlernt—und ich weiß, dass das melodramatisch klingt, aber immer, wenn ich in depressiven Episoden stecke, fühlt es sich an, als wäre Lachen einfach nicht mehr möglich.
 

Als der Film zu Ende ist, weiß Feli immer noch nicht, ob sie auf Frauen oder Männer oder eine Mischung steht, aber sie weiß, dass sie dringend was Schokoladiges möchte, also biete ich ihr an, Instantpudding zu kochen. Während ich in der Küche stehe und über meine Gefühle nachdenke, singe ich ein Lied von Sia, das ich neu für mich entdeckt habe.
 

»Yes, there's a scream inside that we are frightened

We hold on so tight, but I don't wanna die, no

I don't wanna die, I don't wanna die«
 

Ich bringe langsam Milch zum Kochen und schneide die Tüte mit dem Pulver darin auf, während ich vor mich hinsinge. Ein Rascheln hinter mir lässt mich abrupt abbrechen und mich umdrehen.
 

Julius, Cem und Feli stehen alle im Türrahmen zur Küche und starren mich an, als wäre ich eine Erscheinung.
 

»Was?«, frage ich. Meine Wangen sind ganz heiß und ich schlucke verlegen. Beinahe vergesse ich, die Milch weiter umzurühren.
 

»Du hast gesungen«, sagt Feli. Sie klingt eindeutig hingerissen.
 

»Ihr habt mich alle schon singen hören«, murmele ich peinlich berührt und schütte das Pulver in den Topf, ehe ich anfange, mit einem Schneebesen darin zu rühren.
 

»Heißt nicht, dass es nicht trotzdem was Besonderes ist«, sagt Julius heiser. Ich ziehe verlegen die Schultern hoch, ignoriere das aufgeregte Stolpern in meinem Brustkorb, und atme ein paar Mal tief ein. Wenn ich mit diesen Leuten kuscheln und Scherze darüber machen kann, auf was für einem Schoß ich gerne sitzen würde, dann kann ich sicher auch nüchtern vor ihnen singen.
 

» And I don't care if I sing off key

I find myself in my melodies

I sing for love, I sing for me

I shout it out like a bird set free«
 

Die Drei bleiben einfach im Türrahmen stehen, während ich Pudding koche und Sia singe. Es scheint mir, dass sie sehr andächtig lauschen und sich kaum rühren, als würde das den Zauber meines momentan erwachten Selbstbewusstseins brechen.
 

Als der Pudding fertig ist, teilen wir ihn zu viert direkt aus dem Topf mit vier Löffeln, während Jurassic Park läuft. Während Feli und Cem darüber streiten, welche Puddingsorte am besten ist, werfe ich Julius einen Blick zu, den er aus ernsten Augen erwidert. Wir schauen uns mehrere Momente einfach nur schweigend an, Julius mit einem Löffel Pudding auf halbem Weg zum Mund.
 

»Danke«, forme ich lautlos mit den Lippen und Julius schafft ein halbes Lächeln, ehe er den Löffel hastig in den Mund schiebt und seinen Blick abwendet.
 

*
 

Am Sonntag gehe ich zum ersten Mal nach Wochen wieder Laufen. Ich schaffe bei weitem nicht so viel Strecke wie beim letzten Mal und kriege am Ende einen halben Kreislaufkollaps—natürlich, weil ich viel zu wenig gegessen habe—aber es ist trotzdem ein gutes Gefühl. Und ich habe auf eigenen Antrieb das Haus verlassen.
 

Ich schaffe es zu duschen und eine kurze Skype-Session mit meinen Freunden und als die Wohnungstür aufgeschlossen wird, denke ich zunächste, dass es mein Vater ist. Aber stattdessen habe ich im nächsten Augenblick Julius, Feli und Cem im Flur stehen, allesamt mit Rucksäcken bewaffnet. Sie sehen aus, als hätten sie eine Mission.
 

»Hausaufgabengruppe!«, sagt Feli überschwänglich und drückt mich sehr fest an sich. Ich weiß überhaupt nicht, was ich sagen soll, während die Drei es sich auf meinem Fußboden gemütlich machen und ihre Schulsachen ausbreiten, als wäre das normal. Als wären wir ohnehin verabredet gewesen.
 

»Ähm«, sage ich etwas verloren.
 

»Ich brauche dringend Hilfe mit diesem Mathescheiß«, sagt Cem und wedelt mit einer losen Zettelsammlung, die mich sehr an den ursprünglichen Zustand von Julius‘ Unterlagen erinnern.
 

»Ich muss noch irgendwas essen«, sage ich verwirrt, immer noch nicht ganz in der Lage, die Situation zu begreifen.
 

»Ich schieb dir Lasagne in den Ofen«, sagt Julius ohne Umschweife und hastet aus dem Zimmer. Ich stehe im Türrahmen wie ein Trottel und es dauert mehrere Sekunden, bis ich zu mir komme. Dann lasse ich mich im Schneidersitz neben Cem nieder und werfe einen Blick auf seine Matheaufgaben.
 

»Mathe LK«, murmele ich.
 

»Jap. Eine große Fehlentscheidung meinerseits«, sagt Cem bestens gelaunt und reicht mir die Unterlagen, damit ich sie mir ansehen kann. Feli hat Französisch-Vokabeln vor sich ausgebreitet und sieht aus, als würde sie schon seit zwei Stunden hier sitzen und lernen.
 

Julius.
 

Julius hat die beiden hierher geschleift. Er hat sie vermutlich von irgendwelchen anderen sonntäglichen Plänen abgeworben und mir hierher gebracht, weil ihm aufgefallen ist, wie hilfreich diese Art der Gesellschaft für mich ist.
 

Meine Kehle zieht sich zu und die Matheaufgaben verschwimmen ein wenig vor meinen Augen. Ich schiebe meine Brille nach oben und schlucke mehrmals, um mich zu beruhigen, dann versuche ich mich angestrengt auf die Matheaufgaben vor mir zu konzentrieren.
 

Niemand redet darüber, dass wir noch nie vorher zu viert Hausaufgaben gemacht haben. Niemand erwähnt, dass das hier irgendwie ungewöhnlich und neu ist.
 

Aber ich schaffe tatsächlich anteilig meine angehäuften Deutsch- und Französischhausaufgaben und kriege es gebacken, Cem bei seinen Mathehausaufgaben zu helfen, auch wenn ich mich erst in das Thema reinfuchsen muss.
 

Ich würde gerne mit Julius darüber reden, was in seinem Kopf vorgeht, aber irgendwie habe ich auch ein wenig Bammel mit ihm alleine zu sein. Deswegen sage ich nichts, als die Drei sich gegen Abend verabschieden—nach noch mehr Pudding und Star Wars Episode VII—und ich mich wieder allein mit Ororo in meinem Zimmer finde.
 

Ich kann körperlich spüren, dass es wieder bergauf geht mit mir. Es ist ein bisschen so, als wäre ich wochenlang in dicke Watte gewickelt gewesen und jetzt langsam werde ich ausgepackt. Mein Schlafrhythmus erholt sich langsam aber sicher—statt gar nicht zu schlafen oder volle dreizehn Stunden schlafe ich von Sonntag auf Montag sieben Stunden.
 

Ich verbringe den Vormittag mit noch mehr Hausaufgaben, einem kurzen Spaziergang und einem Berg Backwaren, den ich beim Bäcker um die Ecke einkaufe, als ich von meinem Spaziergang zurück nach Hause komme.
 

Weil Montag ist und montags Training stattfindet, weiß ich, dass Julius und Cem lange in der Schule sind und ich würde mich ohnehin nicht trauen, sie zu fragen, ob sie vorbei kommen möchten. Aber wie es sich herausstellt, muss ich das auch gar, weil ich um zwei eine Nachricht von Feli bekomme, die fragt, ob sie vorbeikommen kann.
 

Und so geht es die ganze Woche weiter.
 

Ich schlafe um die sechs, sieben Stunden, gehe raus und esse und so viel ich herunterkriegen kann. Wenn die Schule aus ist, taucht mindestens einer der Drei bei mir auf, um mit mir die zweite Tageshälfte zu verbringen. Niemand erwähnt mit einem Sterbenswörtchen, dass es darum geht, mir mit meinen Depressionen zu helfen.
 

Am Donnerstag gehen wir zu viert einkaufen, um zu kochen. Wie Julius erklärt, kann er kaum anständige Pfannkuchen selber machen und Feli hat es laut ihrer eigenen Aussage bereits geschafft, eine Mikrowelle in Brand zu stecken.
 

Also bleibt der Großteil der Arbeit an Cem und mir hängen.
 

»Alter, wenn du drei kleinere Geschwister hast, lernst du irgendwann Essen zu machen«, erklärt Cem. Ich nicke verständnisvoll.
 

»Gilt auch, wenn du einen Vater hast, der sich nicht drum schert, ob du verhungerst oder nicht. Selber kochen ist die einzige Lösung«, füge ich hinzu.
 

Cem und ich stoßen unsere Fäuste gegeneinander, während Feli und Julius betreten dreinsehen, weil sie kaum eine Zwiebel schälen können.
 

»Ihr könnt Möhren schälen? Und Wasser für Reis auf’n Herd packen«, sagt Cem großzügig und bewirft Julius gut gelaunt mit insgesamt sechs Mohrrüben, von denen Julius nur zwei fangen kann, ehe er nicht mehr genug Hand frei hat für die anderen. Feli lacht so sehr, dass ihr die Tränen kommen und sie beinahe einen Topf mit Wasser auf dem Fußboden verteilt.
 

Julius beim Möhrenschälen zuzusehen ist ein Abenteuer. Er sieht aus, als hätte er noch einen Sparschäler gehalten und raspelt sich mehr die eigenen Finger ab, als die Schale der Mohrrübe, die er schälen soll.
 

»Ok, das ist—lass mich—«, sage ich und strecke meine Finger aus, um ihm zu zeigen, wie er die blöde Möhre am besten schälen kann. Dass dabei unsere Hände sich berühren, habe ich im Affekt irgendwie nicht bedacht. Mein Herz rutscht mir in die Hose, aber ich denke, dass es jetzt auch komisch wäre, einen Rückzieher zu machen.
 

Also legen meine Finger sich vorsichtig um Julius‘ Hände und ich zeige ihm, wie man Mohrrüben schält. Sein Gesicht ist knallrot und es ist plötzlich verdächtig still in der Küche. Alles, was man noch hören kann, ist das Geräusch des Schälers, der Bahn für Bahn die Schale von der Möhre zieht.
 

Ich schlucke und versuche mich nicht allzu sehr darauf zu konzentrieren, wie meine Finger kribbeln, weil sie Julius‘ Hände halten.
 

Als ich meine Hände zurückziehe, hält Julius ganze dreißig Sekunden inne, die Möhre in seinen Händen, das Gesicht so dunkelrot, dass ich kaum noch seine Sommersprossen sehen kann. Cem räuspert sich überdeutlich und wendet sich dann wieder dem Hähnchen zu, das er gerade schneidet.
 

Felis Augen huschen abwechselnd zu Julius‘ und meinem Gesicht und ich weiß, dass ich zwar nicht knallrot bin, aber wahrscheinlich aussehe, als hätte jemand mir ein paar Backpfeifen verpasst.
 

Fuck.
 

Ich konzentriere mich so gut ich kann auf die Zwiebeln, den Knoblauch und die Chilischote vor mir und schaue niemanden an, während meine Gedanken sich um das Gefühl von Julius‘ Händen unter meinen Fingern drehen. Wenn man bedenkt, wie nah ich Julius schon gewesen bin, ist das absolut bescheuert. Aber das war bevor ich mit einer Abrissbirne voller Gefühle mitten im Gesicht getroffen worden bin, und jetzt ist plötzlich jeder Zentimeter Haut Zunder und Julius ist ein einziger, großer Waldbrand.
 

Ich kann nicht fassen, dass ich mich ein zweites Mal in einen Fußballkapitän verknallt habe, auch wenn ich sagen muss, dass die Gefühle gegenüber Moritz nichts sind im Vergleich zu dem, was gerade in mir passiert.
 

»Bist du mit deinen Hausaufgaben jetzt auf dem neusten Stand?«, fragt Feli in die Stille hinein und ich bin sehr dankbar über die Ablenkung.
 

»Mir fehlen noch Bio und Geschichte«, gebe ich zurück. Feli lehnt an meinem Stuhl und nachdem ich meine Chilischote fertig gehackt habe, lege ich einen Arm um ihre Hüfte und lehne meinen Kopf gegen ihre Seite.
 

»Au, fuck«, ertönt es vom Platz gegenüber und ich schaue auf. Julius hat seinen Finger im Mund und eine der Möhren vollgeblutet, weil er sich offenbar in den Finger geschnitten hat.
 

»Ok, mach Platz, Dornröschen, ich schäl die scheiß Möhren«, sagt Cem empört und schiebt Julius beiseite, um nach den Möhren zu greifen. Ich stehe hastig auf und greife nach Julius‘ Hand.
 

»Ich hol ein Pflaster«, sage ich, nachdem ich den Schnitt unter die Lupe genommen habe und lasse Julius‘ Hand los, um ins Bad zu huschen und ein Pflaster zu zu holen. Als ich zurück komme, hat Cem die Möhren fast fertig geschält und geschnitten und wirft Julius halb amüsierte, halb fassungslose Blicke zu. Julius hat wieder den Finger im Mund.
 

Ich versuche krampfhaft nicht darüber nachzudenken, wie das wäre, wenn es mein Finger in Julius‘ Mund wäre und greife erneut nach seiner Hand, um vorsichtig das Pflaster auf die Schnittwunde zu kleben.
 

»Danke«, sagt Julius kleinlaut.
 

»Wenigstens hast du andere Talente«, sagt Cem großmütig und haut Julius kumpelhaft auf den Rücken, ehe er aufsteht und anfängt, einige der Zutaten in die Pfanne zu schmeißen. Ich gehe zum Herd und helfe, den Reis ins kochende Wasser zu schütten.
 

Mein Herz hämmert immer noch von der Berührung unserer Finger. Ich hab das Gefühl, aus meiner eigenen Haut kriechen zu wollen. Ich will Julius umarmen, ich will meine Finger in seinem Haar vergraben, ich will, dass er auf mir oder neben mir oder unter mir liegt, ich will ihn küssen
 

Fuck.
 

Cem betrachtet mich von der Seite, seine Augen sind leicht verengt und er sieht aus, als würde er angestrengt über etwas nachdenken. Ich beobachte krampfhaft, wie er Hähnchen, Zwiebeln und Knoblauch brät und sehe ihn absichtlich nicht an, aus Angst, dass er direkt in meinen Augen lesen kann, worüber ich nachgedacht habe.
 

»Hey, Tamino«, kommt Julius‘ Stimme von hinter mir.
 

»Hm?«
 

»Kommst du Montag wieder in die Schule?«
 

Ich denke kurz darüber nach und lausche in mich hinein. Die letzte Woche war... gut. Besser. Viel besser als davor. Julius hat das geschafft.
 

Mein Herz schwillt auf die doppelte Größe an und ich hole tief Luft.
 

»Ja. Ja, ich denk schon.«
 

»Cool«, entgegnet Julius und ich höre das Lächeln in seiner Stimme.

Vier Musketiere

Es ist anstrengend, nach so vielen Wochen des nur im Bett Herumliegens wieder zur Schule zu gehen. Ich denke scharf darüber nach, das Training ausfallen zu lassen, aber wenn ich so weitermache, kann ich meiner Kondition ade sagen und gleich wieder aus der Mannschaft austreten.
 

Trainer freut sich unheimlich mich wiederzusehen und ich kann förmlich spüren, wie Konstantins Augenwinkel zucken beim bloßen Anblick meines Gesichts. Zu meiner endlosen Freude werden wir—inklusive Reservespieler—in zwei Teams geteilt und da Julius einer derjenigen ist, die wählen dürfen, lande ich mit Cem und ihm in einer Mannschaft. Konstantin und Lennard landen in der anderen.
 

Eine grimmige Genugtuung breitet sich in mir aus beim Gedanken, gegen diese elenden Mistsäcke spielen zu dürfen. Cem beklagt, dass wir Daniel nicht für unsere Seite abgreifen konnten, aber ich bin nicht sicher, ob das wirklich ein rein professionelles Bedauern ist, oder ob Cem einfach gerne mit Daniel zusammen in einer Mannschaft spielen möchte, weil er ihn gut leiden kann. Beziehungsweise, weil er ihn echt heiß findet.
 

Während Trainer uns Anweisungen gibt und wir uns dehnen, werfe ich einen Blick zu Konstantin hinüber. Er schaut mich an, als würde er mich gerne auf der Stelle erschießen. Ich habe für gewöhnlich Schwierigkeiten mit Augenkontakt, aber bei sowas kann ich mich nicht zurückhalten. Ich starre direkt zurück und irgendwann schaut er zur Seite.
 

Ich fühle mich jetzt schon wie der Gewinner.
 

»Sag mal«, ertönt Cems Stimme neben mir, »bilde ich mir das nur ein, oder hast du schon die ganze Zeit Blickkrieg mit Konsti?«
 

Ich schnaufe und verschränke die Arme vor der Brust.
 

»Ich werd ihn sowas von gegen die Wand spielen«, knurre ich.
 

Das Bild von Julius—so panisch und in sich zusammen gesunken—und Konstantins Stimme, die ihn auffordert sich nicht so anzustellen, gepaart mit dem elenden Wort Schwuchtel, das er so gerne benutzt, setzt meine Innereien in Flammen und lässt mich die Hände zu Fäusten ballen.
 

»Was flüstert ihr hier rum?«, will Julius wissen und taucht neben uns auf.
 

»Tamino starrt schon die ganze Zeit Löcher in Konstis Nacken. Er ist hochmotiviert ihn so richtig fertig zu machen«, erklärt Cem breit grinsend und reibt sich die Hände. »Ich übrigens auch.«
 

Julius‘ Augen huschen zwischen uns beiden hin und her und er schluckt merklich.
 

»Keine Gewalt«, scherzt er halbherzig. Ich werfe ihm einen Blick zu und meine Augen müssen in der Tat beunruhigend dreinschauen, denn Julius richtet sich etwas gerader auf und seine Augen werden rund wie Teller.
 

»Wenn ich ihm ins Gesicht grätsche, kannst du‘s mir nicht übel nehmen«, brumme ich und erinnere mich an unsere Unterhaltung, die wir über Moritz hatten. Julius öffnet den Mund, klappt ihn wieder zu und ein seichter Rotschimmer legt sich auf seine Wangen.
 

»Ähm—das—«
 

»So, Schluss mit Dehnen! Verteilt euch!«, unterbricht Trainers Stimme Julius‘ Einwände, die er womöglich äußern wollte. Wir drehen uns um und nehmen unsere Positionen auf dem Feld ein. Die Tatsache, dass Konstantin heute auch eine Stürmerposition spielt, macht mich sehr zufrieden. Scheiß auf verpasstes Lauftraining in den letzten Wochen.
 

Und wenn ich mir beide Beine breche, ich weigere mich, gegen Konstantin zu verlieren.
 

Trainer steckt sich die Pfeife in den Mund und nimmt ihre Position in der Mitte des Feldes ein. Während ich auf Julius‘ Anstoß warte, wandern meine Augen hinüber zu Konstantin. Er zieht seinen Zeigefinger über seinen Hals, offenbar in einem Versuch mich einzuschüchtern. Nicht, dass ich nicht generell sehr empfänglich für Einschüchterungsversuche wäre, aber Konstantin weiß nicht, dass das nicht gilt, wenn es um meine Freunde geht.
 

Als Trainer mir den Rücken zudreht, zeige ich ihm unumwunden beide Mittelfinger.
 

Irgendwo zu meiner rechten Seite höre ich ein amüsiertes Schnauben und ich glaube, dass das Cem war, aber im nächsten Moment ist Anpfiff und dann höre ich erst einmal gar nichts mehr außer Wind in meinen Ohren und Julius‘ oder Trainers Stimmen, die zwischendurch Anweisungen übers Feld rufen.
 

Wie erwartet ist Konstantin entschieden, mich zu decken. Er ist nicht viel kleiner als ich und er hat diese lächerlichen Augenbrauen, die mich irgendwie an Vulkanier erinnern, aber auf eine eher ungute Art und Weise. Er ist schlecht rasiert und ich kann immer noch die Stelle erkennen, an der meine Faust ihn getroffen hat.
 

Blöd für ihn, dass ich nicht vorhabe, mich decken zu lassen.
 

Julius ist definitiv der beste Mittelfeldspieler, mit dem ich je gespielt habe. Ich weiß genau wieso er Kapitän ist und ich weiß, dass er dieses Stipendium verdient hat. Ich weiß auch, dass ich sehr hilflos hingezogen bin zu Julius in seinem roten Trikot mit der Aura eines Anführers, die sich kein bisschen gemindert hat, nachdem seine Mannschaftskameraden ihn in diesem verletzlichen Zustand am See gesehen haben.
 

Cem ist derjenige, der mir zuspielt, selbst wenn Konstantin recht nah bei mir steht. Sein frustrierter Aufschrei, als ich zum dritten Mal den Ball um ihn herum manövriere lässt mich zufrieden grinsen. Irgendwo hinter mir höre ich Cem ausgelassen lachen.
 

Konstantin kann rennen, so viel er will, aber er kann mich nicht einholen.
 

Nicht, dass er es nicht versucht.
 

Das letzte Hindernis zwischen mir und dem Tor ist Daniel. Er ist kein schlechter Torhüter. Aber ich hab etwas zu beweisen und einen homphoben Wichser zu ärgern. Als der Ball in der oberen rechten Ecke des Netzes landet, kann ich mir ein Jubeln nicht verkneifen. Ich habe in null Komma nichts Cem auf dem Rücken baumeln, der mir durchs Haar wuschelt, um mir zu gratulieren.
 

Konstantin sieht aus, als hätte man ihm Kuhmist unter die Nase gehalten.
 

Ich merke, dass ich schneller außer Atem bin, als ich es vor zwei Monaten gewesen wäre, aber ich habe Motivation genug zu rennen, als wäre der Teufel persönlich hinter mir her. Julius macht zwei weitere Tore, Cem grätscht Konstantin zwischen die Beine und verursacht einen sehr uneleganten Sturz.
 

Wir gewinnen fünf zu eins.
 

Ich bin einem Kreislaufkollaps nahe, aber all die Anstrengung hat sich gelohnt.
 

»Wie fühlt man sich als Sieger?«, fragt Cem bestens gelaunt, als wir uns umziehen. Einige der Jungs sind duschen gegangen, aber ich verschiebe das lieber auf die Privatsphäre meiner Wohnung, als mich mit Leuten wie Lennard nackt unter eine Gemeinschaftsdusche zu stellen. Was ich nicht verhindern kann, ist, dass mein Blick immer wieder zu Julius abschweift, der gerade ohne Oberteil und nur in Shots bekleidet nach seinem Deo kramt. Den langen Teil seines Haars hat er zu einem unordentlichen Puschel zusammengebunden.
 

Ich hab ihn schon oft genug halbnackt gesehen.
 

Leider hindert das mein hormongesteuertes Hirn nicht daran, vollkommen durchzudrehen, während ich an anstarre. Das ist genau das, wovor all die Heterojungs immer Angst haben, wenn ein Schwuler sich in ihrer Nähe aufhält.
 

Ugh.
 

»Hallo? Erde an Tamino?«, ertönt Cems amüsierte Stimme direkt neben mir. Leider hat Cem auch nicht viel mehr an als Julius.
 

»Huh?«, mache ich und klinge wahrscheinlich wie ein mäßig intelligenter Besenstiel.
 

Cem lacht mich vollkommen schamlos aus und ich verstecke das Gesicht in den Händen.
 

»Was treibt ihr denn da?«, will Julius wissen.
 

»Tamino ist von zu viel nackter—«
 

»Halt die Schnauze«, zische ich panisch und halte Cem hastig den Mund zu. Er zwinkert mir zu und ich ziehe die Hand schnell wieder zurück.
 

»Ich bin weg«, sage ich eilends und renne mehr als dass ich gehe aus der Umkleide. Mein Herz ist schon wieder in meine Hose gerutscht und ich bin eigentlich zu müde, um noch mehr zu rennen, aber ich beschließe, dass ich so schnell wie möglich nach Hause muss.
 

Damit keiner mich anschauen und gleich sehen kann, dass ich beim Anblick von Julius‘ nacktem Oberkörper schwach geworden bin wie ein notgeiler Trottel. Das ist doch kein Zustand.
 

Ich erinnere mich noch daran, wie es war, als ich in Moritz verschossen war. Nicht, dass ich ihn nicht angesehen hätte, aber ich bin definitiv nicht vollkommen außer Rand und Band geraten, nur weil er sein Shirt ausgezogen hat. Ich kann es nicht fassen, wie lächerlich das alles ist.
 

Abgesehen von der endlosen Verlegenheit macht sich auch wieder ein wahnsinnig schlechtes Gewissen in mir breit. Über gute Freunde sollte man nicht auf diese Art und Weise nachdenken. Wenn Julius wüsste, wohin meine Gedanken momentan abschweifen, wenn ich ihn ansehe, dann würde er vermutlich schneller die Flucht ergreifen, als ich blinzeln kann.
 

Aus ganz verschiedenen Gründen.
 

Er hat gesagt, dass er asexuell ist. Nicht, dass das automatisch heißt, dass Sex für ihn vom Tisch ist, aber ich weiß nichts Genaueres darüber und wenn er so ist wie Lotta, dann würde er es sicherlich nicht besonders zu schätzen wissen, wenn er in meinen Kopf gucken könnte.
 

Außerdem war er allein beim Gedanken daran, von mir geküsst zu werden, schon so in Panik, dass er darüber geweint hat. Also sollte irgendetwas Sexuelles zwischen uns ganz schnell aus meinem Gehirn verschwinden.
 

Aber mein Körper interessiert sich überhaupt nicht dafür, was für rationale Gründe es gibt, um damit aufzuhören und während ich unter der Dusche stehe und mein Gehirn mich mit Bildern von Julius bombardiert, fühle ich mich wie der schlechteste Mensch unter der Sonne.
 

Ich sollte mich nicht anfassen und dabei an Julius denken.
 

Ich denke daran, wie seine Shorts so niedrig auf seinen Hüften sitzen, wie es sich anfühlt, wenn er auf mir liegt—oder unter mir—wie oft ich ihm jetzt schon so nah war, dass es überhaupt kein Problem gewesen wäre, meine Hände in seine Hose zu schieben oder ihn auf den Mund zu küssen. Ich denke daran, wie Cem und Julius sich geküsst haben, direkt vor meinen Augen, und wie Julius‘ Gesicht ausgesehen hat.
 

Ich stelle mir vor, ihn auf mein Bett zu schubsen und vor dem Bett auf die Knie zu gehen. Er wäre sicher schrecklich rot im Gesicht und endlos verlegen. Oder er würde es gar nicht wollen, weil Sex nicht sein Ding ist.
 

Ich schiebe den Gedanken für den Moment zur Seite und das Bild, zu dem ich schließlich unter der Dusche komme, ist Julius, keuchend, sich windend auf meinem Bett, wie er meinen Namen stöhnt.
 

Hinterher habe ich so ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht still sitzen kann und durch die Wohnung pirsche wie ein eingesperrtes Tier. Alles in mir kribbelt aus Sehnsucht danach, Julius anzufassen.
 

Schließlich greife ich nach meinem Handy, weil ich es nicht mehr aushalte, und öffne den Gruppenchat mit meinen Freunden.
 

Tamino

Ich hab ein riesiges Problem
 

Tamino

Ich glaube ich dreh durch
 

Anni

was ist los???
 

Noah

alles ok bei dir?
 

Tamino

Ich hab mich in Julius verliebt
 

Lotta

OH MEIN GOTT!!!!!!!!!!!!!!!
 

Noah

awwww dude, das is super süß
 

Anni

Yessss, deine Männerwahl hat sich um 300% verbessert *__________*
 

Tamino

Leute
 

Tamino

Ist euch klar, dass das ein Desaster ist? Erst die Sache im Club und jetzt DAS?
 

Lotta

ich glaub immer noch dass es für die sache im club ne gute erklärung gibt
 

Anni

du siehst sein gesicht nich so wie wir es sehen wenn er dich anguckt. und weißt du wie ihr immer aneinander geklebt habt? und aufeinander geschlafen habt? und weißt du noch wie er deine hand gehalten hat als wir zu besuch waren????
 

Noah

ohne Scheiß man es würde mich kein bisschen wundern, wenns ihm genauso geht
 

Tamino

Oh Gott, ich sterbe D:
 

Lotta

umarm ihn einfach und beende diesen kuschelstreik und schau wie er reagiert und dann können wir einen schlachtplan aushecken wie du ihn rumkriegst und dann könnt ihr zusammen in den sonnenuntergang reiten und wir werden blumen für euch streuen *____*
 

Tamino

Ich hab das Gefühl, ihr nehmt mein Leid nur so mittel ernst O_O
 

Lotta

unsinn, ich hab doch schon gesagt wie der nächste schritt ist. alles wird gut, vertrau mir!!!!!
 

Ich kriege das dumpfe Gefühl, dass Lotta irgendwas weiß, was ich nicht weiß, aber ich lege das Handy erstmal beiseite und lausche ganzen fünf Minuten meinem hämmernden Herzen im Angesicht von Lottas Ratschlag, Julius zu umarmen und zu sehen, wie er darauf reagiert.
 

Die Woche vergeht in einem Rausch aus verzweifelten Masturbationssessions, schlechtem Gewissen darüber und der unerträglichen Sehnsucht danach, Julius unter mir auf meinem Bett zu begraben und mich an ihn zu pressen und meine Finger in seinen weichen Haaren zu vergraben.
 

Ich finde mich langsam wieder in den Schulalltag ein und verbringe einen großen Teil des Tages damit, schmachtende Nachrichten über Julius an meine Freunde zu schicken, wenn er besonders wunderbar lacht oder mich angrinst, oder irgendwas Lustiges sagt, oder beim Training zu cool aussieht.
 

Es hat mich so heftig erwischt, es ist unsagbar peinlich.
 

Nicht, dass es nicht vorher auch schon so gewesen wäre, aber jetzt ist wirklich überdeutlich: Julius ist das Beste an meinem Tag. Wann immer ich ihn sehe, blüht mein ganzes Inneres auf wie eine Blumenwiese im Frühling. Wann immer er mich ansieht, führt sein Blick zu einem halben Herzklabaster und wenn unsere Hände sich doch mal aus Versehen berühren, muss ich alles an Willenskraft aufbringen, um mich nicht auf ihn zu stürzen oder wahlweise kläglich zu wimmern.
 

Mir war nicht klar, dass richtige Verliebtheit sich so anfühlt.
 

Mein Gehirn ist einfach nur noch voll von Julius. Ich werfe jede noch so kleine Interaktion zwischen uns auf die Waagschale, analysiere jeden popeligen Satz, den Julius sagt und steigere mich fürchterlich in die Fantasie hinein, dass er sich vielleicht auch in mich verlieben könnte.
 

Wenn ich nicht so ein elender Feigling wäre, würde ich mit ihm flirten. Einfach drauf los und hoffen, dass was draus wird.
 

Aber die Erinnerung an die Szene im Club ist immer noch überdeutlich. Allerdings bin ich mir dessen bewusst, dass meine Selbstbeherrschung sicher bald den Bach heruntergehen wird. Vor allem, wenn Julius mich mit seinen Hundeaugen ansieht und manchmal die Hand nach mir ausstreckt—als würde er es aus reiner Gewohnheit tun, bevor ihm einfällt, dass wir das gerade nicht tun.
 

Vielleicht ist wirklich alles nicht schlimm. Vielleicht will er mich auch umarmen.
 

»Kommt ihr Samstag mit auf die Abiparty?«, will Feli am Donnerstag wissen. Meine automatische Reaktion ist »Nein« zu sagen, aber sie sieht sehr hoffnungsvoll aus und Julius und Cem sagen beide ohne Umschweife zu.
 

»Ok«, sage ich leise und höre selber, wie unsicher ich klinge. Drei Paar Augen richten sich erstaunt auf mich und ich spüre, wie meine Ohren heiß werden.
 

»Cool«, sagt Cem enthusiastisch und haut mir munter mit der flachen Hand auf den Rücken, sodass ich husten muss. Feli strahlt mich an und Julius mustert mich mit einem kaum merklichen Lächeln, das meine Eingeweide in Wackelpudding verwandelt.
 

Er ist zu hübsch. Sein Lächeln ist zu schön. Ich kriege die Krise.
 

Ich versuche nicht beim Gedanken an diese Abiparty in Panik zu geraten. Auch Leute wie Lennard und Konstantin werden auf dieser Party sein. Aber ich muss ja nicht so viel Alkohol trinken und ich muss mich nicht mit ihnen abgeben. Und ich kann versuchen, mich nicht allzu sehr in die Gedanken an die letzte Party hineinzusteigern.
 

Als Julius nach der Pause Richtung Sportunterricht verschwindet, von dem ich freigestellt bin, schaue ich ihm peinlich lange nach.
 

*
 

Die Tatsache, dass plötzlich alle Liebeslieder, die ich je gehört—und vielleicht sogar selber gesungen habe—wahnsinnig viel Sinn machen, helfen meiner Lage nicht. Auch nicht, dass ein Großteil aller Popsongs über Sex geschrieben zu sein scheint, was meine ganze Besessenheit noch schlimmer macht.
 

Zu Hause habe ich schon aufgehört Musik zu hören, aber auf einer Abiparty ist das ziemlich unmöglich.
 

Ich habe mir vorgenommen nichts zu trinken, weil letztes Mal alles so schlimm ausgeartet ist und Julius scheint es ähnlich halten zu wollen, aber letztendlich lässt er sich vom ein oder anderen Partygast ein Bier andrehen. Cem scheint keinerlei Vorbehalte dagegen zu haben, noch mal betrunken zu sein.
 

»Manchmal«, sagt Cem mit einem überdeutlichen Lallen in der Stimme, während Feli mit ein paar Freundinnen tanzt und er, Julius und ich solange am Rand der Tanzfläche hocken und alle mehr oder minder auffällig darauf achten, dass keiner der Jungs auf der Fläche ihr zu nahe kommt, wenn sie das nicht möchte. »Manchmal denke ich, dass ich vielleicht nicht für feste Beziehungen gemacht bin. Wisst ihr? Es gibt so viele schöne Menschen, Alter. Wie soll man sich entscheiden? Und wieso kann man nicht so... mit drei Leuten auf einmal zusammen sein?«
 

Ich wende mich ihm zu und mustere sein Gesicht. Cems Augen kleben eindeutig an Daniel, der gerade mit irgendeinem mir unbekannten Kerl—ich glaube, er sitzt vielleicht mit Cem im Mathe-LK—Armdrücken betreibt.
 

Daniel ist offensichtlich am Gewinnen und Cem sieht aus, als würde er gleich anfangen zu sabbern. Ich verkneife mir ein Lachen.
 

»Naja also erstmal. Wenn du so richtig verknallt bist, ist die Entscheidung voll einfach«, sage ich. Cems Augen huschen zu meinem Gesicht und er schaut mich mit einem sehr glasigen Blick an. »Und zweitens. Kannst du ja ruhig mehrere Partner haben, man. Das nennt man Polyamorie.«
 

»Polyamo—was?«
 

»Polyamorie. Beziehung mit mehr als einer Person? Alle wissen voneinander und sind entweder miteinander zusammen oder... es gibt einen Partner als Angelpunkt. Oder alles irgendwie gemischt. Ich kann dir ein Diagramm aufzeichnen.«
 

»Nerd«, sagt Julius mit liebevollem Unterton und ich spüre meine Ohren heiß werden. Unweigerlich schlucke ich und schaffe ein verlegenes Lächeln in Julius‘ Richtung. Er nimmt einen sehr großen Schluck Bier.
 

»Willst du mir etwa sagen, dass ich... dass mit allen Leuten, die ich gut finde, auf einmal ne Beziehung haben kann?«, fragt Cem, als müsste er das noch mal klarstellen. Um sicherzugehen, dass er das Konzept richtig verstanden hat.
 

Ich nicke geduldig.
 

Cem kriegt Augen rund wie Teller.
 

»Alter«, haucht er und legt seine Hände auf meine Schultern. »Wie geil ist das bitte?«
 

Ich muss lachen.
 

»Naja, es müssen auch alle anderen Beteiligten einverstanden sind. Aber so generell... man kann ja machen, was man will. Nur weil alle anderen nur zu zweit sind...«
 

Ich bemühe mich sehr, Julius keinen Blick zuzuwerfen.
 

»In einem alternativen Universum hab ich euch beide abgeschleppt«, sagt Cem reumütig und Julius verschluckt sich heftig an seinem Bier. Ich schnaube und klopfe Julius gedankenverloren auf den Rücken, bis mir einfällt, dass ich ja gerade sehr bemüht bin, ihn nicht anzufassen. Hastig ziehe ich meine Hand zurück.
 

»Ich glaube, das ist dieses Universum«, sagt Julius röchelnd. Cem schnauft und bufft Julius mit dem Ellbogen in die Seite.
 

»Alter. Ich meine so richtig. Mit Gefühlen und all dem Scheiß.«
 

»Du willst uns in einem alternativen Universum beide mit Gefühlen abschleppen?«, sagt Julius breit grinsend und wirft mir einen sehr amüsierten Blick zu. Ich habe mir mittlerweile die Hand auf den Mund gepresst.
 

»Ja man. Euch beide. Und Feli. Und Micha und Daniel und Anish und Merle. Hab ich schon gesagt, dass es einfach zu viele schöne Menschen gibt?«
 

Julius holt gerade Luft, um zu antworten, da hält er inne und tippt Cem auf die Schulter, ehe er in die Richtung des Tisches gestikuliert, an dem Daniel sitzt.
 

»Ich glaube, er will gegen dich Armdrücken, Alter«, sagt Julius breit grinsend. Und tatsächlich. Daniel winkt Cem zu seinem Tisch hinüber. Ich sehe von der Seite, wie Cem schluckt und dann einen sehr großen Schluck Bier nimmt.
 

»Blöder, heterosexueller Saftsack«, knurrt er, dann steht er auf und stratzt zu Daniels Tisch. Er kann noch erstaunlich gerade gehen dafür, dass er so betrunken ist. Julius und ich rutschen dichter zueinander und ich bin mir der Nähe zu ihm überdeutlich bewusst. Aber unsere Blicke kleben an Daniel und Cem, die sich jetzt gegenüber sitzen. Beiden grinsen breit und herausfordernd.
 

Ich weiß, dass Cem sehr regelmäßig ins Fitnessstudio geht, aber Daniel ist größer und breiter gebaut.
 

Dann wiederum ist Cem ein ausgesprochen sturer Bock.
 

»Das muss ich sehen«, murmelt Julius mit einem kaum verhohlenen Schmunzeln und ich kann nicht umhin ihm zuzustimmen, also stehen wir auf und folgen Cem zum Ort des Geschehens. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber ich könnte schwören, dass die beiden sich besonders eindringlich anstarren.
 

»Der Verlierer zahlt dem anderen den Rest des Abends die Getränke«, sagt Daniel mit einem breiten Grinsen. Cem leckt sich über die Lippen und greift nach Daniels Hand.
 

»Das wird billig für dich, ich bin schon so dicht, da passt nicht mehr viel rein«, sagt er mit einem übermütigen Grinsen. Daniel lacht.
 

»Ich hoffe, du hast genug Bargeld dabei«, sagt er.
 

»Ach, fick dich, Alter«, meint Cem und dann geht’s los. Es ist deutlich zu sehen, dass Cem eine viel größere Herausforderung für Daniel ist, als die Jungs, die vorher bei ihm am Tisch saßen. Wenn ich nicht ich wäre, würde ich meinen Arm auf Julius‘ Schulter lehnen.
 

»Komm schon, Alter. All die Stunden in diesem verschwitzten Höllenbau müssen doch zu was getaugt haben«, sagt Julius laut. Daniel ist ganz rot im Gesicht. Ich habe kurz das Bedürfnis, Cem was Schmutziges ins Ohr zu flüstern, um ihn zu motivieren—und das, obwohl ich stocknüchtern bin—aber Cem ist nicht geoutet und ich auch nicht und es wäre eine schreckliche Idee.
 

Vielleicht würde es ihn auch zu sehr ablenken.
 

»Ah, fuck«, ruft Cem frustriert und ich muss lachen, weil die beiden so wahnsinnig angestrengt aussehen. Die Hälfte der versammelten Menge feuert mittlerweile Daniel an, die andere Cem. Mein Herz hämmert mir bis zum Hals, als ich die Hand nach Cem ausstrecke und ihm vor versammelter Mannschaft sachte mit den Fingern durchs Haar wuschele.
 

Ich kann von der Seite sehen, dass Cems Pupillen sich weiten und sein Mund sich leicht öffnet. Es hat etwas absolut Berauschendes jemanden mit nur einer kleinen Berührung so aus dem Konzept bringen zu können. Daniel sieht die Veränderung in Cems Gesicht. Er öffnet den Mund, die Augen weiten sich, als würde er etwas verstehen und vielleicht auch etwas sagen wollen, aber da haut Cem seine Hand mit einem endgültigen »Klonk« auf den Tisch.
 

Ein sehr breites Grinsen macht sich auf meinem Gesicht breit, als Cem von seinem Stuhl aufsteht und eine absolut lächerliche Siegerpose einnimmt. Die Zuschauer jubeln und stöhnen und durch seinen Sieg haben sie vielleicht schon vergessen, dass Cem absolut merkwürdig auf eine einfache Berührung von einem anderen Kerl reagiert hat.
 

Julius neben mir sieht aus, als würde sein Kopf gleich explodieren, so rot ist er im Gesicht. Und als Daniel mich von unten herauf ansieht, kann ich nicht umhin breit und sehr triumphierend zu grinsen. Er sieht aus, als hätte er einen Geist gesehen, aber ich habe keine Gelegenheit, mich weiter mit ihm zu beschäftigen.
 

»Hey, wo ist Feli abgeblieben?«, fragt Julius neben mir. Ich drehe mich um.
 

Merle und Carina sind immer noch auf der Tanzfläche, dort wo Feli vorher auch getanzt hat, aber von Feli ist keine Spur zu sehen.
 

»Vielleicht holt sie was zu trinken. Oder sie ist auf Klo«, gebe ich zurück und spähe über die Menschenmenge, ob ich das knallrote Oberteil von Feli irgendwo entdecken kann. Julius scheint beunruhigt zu sein. Ich sehe, wie er sich durch die Menge schiebt und dann kurz mit Merle spricht, deren Antwort auf seine Frage ihm anscheinend kein bisschen gefällt, denn im nächsten Augenblick steuert er auf den Ausgang zu.
 

Ich tippe Cem an, deute Richtung Ausgang und forme lautlos Felis Namen mit den Lippen, ehe ich Julius folge. Cem bricht sein Gespräch mit Daniel sofort ab und der bleibt etwas verwirrt zurück.
 

»Was ist mit Feli?«, ruft Cem mir zu. Seine Wangen sind sehr rot.
 

»Sie war weg und Julius hat gefragt, wo sie ist und dann ist er raus«, rufe ich zurück. Die Musik ist zu laut, als dass man sich in normaler Lautstärke unterhalten könnte.
 

»Vielleicht wollte sie nur in Ruhe mit wem rummachen«, schlägt Cem vor, als wir das Gebäude verlassen und uns die kühle Nachtluft ins Gesicht schlägt.
 

»Ich hatte bislang nicht den Eindruck, dass Feli mit irgendwem außer Julius—«
 

Ich breche ab.
 

»Alter, sie ist offensichtlich null interessiert an dir«, höre ich Julius‘ Stimme.
 

»Was soll der Scheiß, man? Wenn sie irgendwas nicht will, kann sie’s sagen!«
 

Wir biegen um die Ecke des Backsteingebäudes und da steht Julius, die Hand auf Lennards Brustkorb gedrückt, um ihn in Armeslänge von sich und Feli fernzuhalten.
 

»Und seit wann heißt Kopf wegdrehen und sich so klein wie möglich machen, dass jemand total Bock hat mit dir rumzumachen?«, blafft Julius und ballt seine Hand in Lennards Shirt zu einer Faust. Felis Augen sind riesig und sie sieht wirklich sehr klein aus.
 

Cem stapft sofort zu Feli hinüber und legt einen Arm um sie.
 

»Sie hat nicht nein gesagt!«, blafft Lennard zurück.
 

»Sie hat auch nicht ja gesagt, du Penner!«
 

Was dann passiert, geht alles viel zu schnell, als dass ich so richtig sehe, was eigentlich geschieht. Lennard schubst Julius. Dann fällt definitiv das Wort Schwuchtel, während eine Gruppe von Leuten um die Ecke kommt. Und dann höre ich einen Aufschrei und Lennard liegt am Boden und Cem hat Feli nicht mehr im Arm.
 

»Benutz noch einmal dieses elende Scheißwort und ich reiß dich in Stücke!«, schreit Cem. Lennards Nase blutet und er rappelt sich auf. Statt aufzugeben, geht er auf Cem los. Julius, Feli und ich versuchen dazwischen zu gehen, aber dann ist plötzlich diese ganze Gruppe auch bei uns und im Getümmel kann man kaum noch sehen, was eigentlich passiert.
 

Es ist wie in einem schlechten Film. Lennard faucht das Wort Schwuchtel immer und immer wieder, während er und Cem aufeinander einprügeln, als gäbe es kein Morgen mehr.
 

»Cem! CEM!«
 

Ich und Julius versuchen Lennard von Cem fernzuhalten, aber Cem macht es uns nicht gerade einfach, weil er offensichtlich sehr dringend Lennards Schädel einschlagen will—etwas, das ich ihm nicht mal verübeln kann.
 

Die ganzen Leute, die um uns herum stehen, sind überhaupt nicht hilfreich, weil sie nichts Sinnvolleres tun als Lennard anzustacheln, der jetzt offenbar das Gefühl hat, dass er irgendwas beweisen muss.
 

Letztendlich sind es Feli und Daniel, die das Spektakel beenden. Ich hab keine Ahnung, wo Daniel herkommt, aber er ist so viel größer als Cem, dass er keine Probleme hat, Cem von hinten festzuhalten. Vielleicht liegt es daran, dass es Daniel ist, dass Cems Körper alles an Spannung verliert und nach hinten gegen Daniels solides Gewicht taumelt. Feli stellt sich mit glühenden Augen vor Cem, als Lennard erneut ausholt.
 

»Blöde Schlampe«, zischt Lennard. Noch während Julius ihn anschreit, dass er sich verpissen soll, sehe ich Felis Gesicht steinhart werden. Und dann tritt sie Lennard mit voller Wucht in den Schritt.
 

Die Gaffer rufen »Ohhh« und »Auuu« als Lennard in die Knie geht. Feli greift fahrig nach Julius‘ und Cems Händen und zerrt sie von der Menge weg, während Lennard wie ein Häufchen Elend am Boden liegt und sich den Schritt hält. Die Genugtuung darüber verfliegt allerdings, als ich Cems Gesicht genauer in Augenschein nehme, sobald wir uns ein Stück von dem ganzen Tumult entfernt haben.
 

Julius nimmt Feli in den Arm, die jetzt deutlich zittert und Tränen in den Augen hat, während ich Cems Gesicht genauer unter die Lupe nehme.
 

»Nächstes Mal reiß ich ihm die Zunge raus«, krächzt Cem. Ich prüfe, ob seine Nase gebrochen ist und tupfe ihm Blut vom Mund, vom Kinn und von der Nase. Er sitzt ganz still vor mir und atmet bemüht konzentriert ein und aus.
 

»Ich geh am Montag mit Trainer reden«, sagt Julius. Sein Gesichtsausdruck ist eine Gewitterwolke. »Mit diesen Pfosten spiel ich in keiner Mannschaft.«
 

Wir geben sicher ein seltsames Bild ab, wie wir einige Meter entfernt von der alten Ziegelei, in der die Party stattfindet, auf dem Boden hocken, Cems Gesicht voller Blut und Felis Gesicht voller Tränen.
 

»Danke, Juls«, flüstert sie ganz kleinlaut gegen seine Schulter. Julius sieht aus, als würde ihm etwas sehr, sehr wehtun.
 

»Nicht dafür«, murmelt er und ich sehe, wie er ihr behutsam einen Kuss gegen die Schläfe drückt. Mein Herz zergeht wie Butter in der Sonne. Meine Fresse.
 

Gibt es irgendwas an Julius, das mich nicht vollkommen durchdrehen lässt?
 

»Hey«, ertönt eine Stimme hinter uns und ich stehe hastig auf und wirbele herum, bereit, wem auch immer die Stirn zu bieten, der unsere kleine Gruppe mit noch mehr Scheiß belästigen will. Es ist Daniel, der beschwichtigend die Hände hebt—und darin hält er einen Verbandskasten und ein Glas Wasser.
 

Ich blinzele erstaunt und trete zögerlich zur Seite, um Daniel zu Cem durchzulassen, der sich im Schneidersitz ins Gras gesetzt hat und jetzt stur geradeaus starrt. Als Daniel sich vor ihm hinkniet und den Kasten öffnet, huschen seine Augen zu Daniels Gesicht, aber er sagt nichts und schaut schnell wieder weg.
 

»Ich komm mit dir zu Trainer«, sagt Daniel ruhig zu Julius, stellt den Becher mit Wasser vorsichtig ab und fängt an, in dem Verbandskasten herumzukramen. Wir hocken uns alle neben Cem ins Gras und sehen schweigend zu, wie Daniel desinfiziert, kühlt, Pflaster klebt und den letzten Rest Blut von Cems Gesicht wischt.
 

Cems Augen kleben an Daniels Gesicht, während unser Torwart in aller Ruhe arbeitet, bis er den Kasten schließlich zuklappt und Cem den Rest Wasser zu trinken anbietet.
 

»Danke«, sagt Cem.
 

»Keine Ursache, man«, murmelt Daniel. Dann grinst er schief.
 

»Hey, Lennard sieht definitiv schlimmer aus als du.«
 

Cem schnaubt.
 

»Lennard ist ja auch ne dämliche Pissnelke. Er schlägt wie‘n verficktes Wattestäbchen.«
 

Daniel sitzt jetzt einfach neben uns im Gras. Es ist komisch, weil das sonst nicht vorkommt und ich gerade erst das Gefühl habe, dass Julius, Cem, Feli und ich ein richtiges Quartett geworden sind. Mit Daniel hingegen habe ich kaum je mehr als zwei Worte gewechselt. Aber wenn Cem ihn mag und er mit Julius wegen dieser Sache zu Trainer gehen will, dann kann er kein schlechter Typ sein.
 

»Also... warum hat Lennard drauf bestanden dich gerade mit dem Schimpfwort anzuschreien?«, fragt Daniel. Die Stimmung gefriert innerhalb einer Millisekunde. Keiner von uns ist geoutet. Mein Herz macht einen heftigen Sprung und ich sehe Cems Gesichtsausdruck in etwas Panisches abrutschen. Ich treffe die Entscheidung im Bruchteil eines Wimpernschlags.
 

»Weil ich schwul bin und Cem es nicht ok findet, wenn jemand ein homophober Saftsack in meiner Nähe ist.«
 

Ich sehe, wie Julius‘ Augen sich weiten. Daniel blinzelt.
 

»Oh. Ok«, sagt er. Ich fühle mich, als hätte jemand heißes Wasser über mich gegossen. Was, wenn alles wieder so endet wie in der letzten Mannschaft? Mit Leuten wie Lennard und Konstantin wäre das absolut kein Wunder, was, wenn—
 

»Alles cool, man. Ich—«
 

»Ich auch.«
 

Was zum...?
 

Daniel blinzelt erneut und dreht den Kopf, um Julius anzusehen. Er sieht beinahe bockig aus, wie er da im Gras sitzt, den Arm immer noch um Feli gelegt, die die Augen jetzt geschlossen hat.
 

»Huh?«
 

»Ich. Schwul«, sagt Julius. Er ist knallrot im Gesicht. Warum um alles in der Welt...?
 

»Oh. Wow, ok? Ähm... hätte ich jetzt nicht—«
 

»Ich bin bi.«
 

Daniel sieht jetzt eindeutig aus, als wäre er etwas überfordert mit der Menge an Coming Outs. Feli öffnet ein Auge.
 

»Ich weiß nicht, was ich bin. Aber ich steh definitiv nicht auf Lennard«, erklärt Feli. Ich schnaube amüsiert. Irgendwie fühlt diese ganze Situation sich wahnsinnig surreal und ein wenig absurd an. Daniels Augen huschen von einem zum anderen und er sieht aus, als würde er sich gerade arg das Gehirn verrenken.
 

»Ohne Witz jetzt?«, fragt er.
 

Ich nicke, Julius zuckt mit den Schultern, Cem starrt einfach nur geradeaus. Ich frage mich, was in ihm vorgeht.
 

»Warte mal, seid ihr...?«, will Daniel wissen und wedelt zwischen Cem und mir hin und her. Mein Gesicht wird heiß und Cem schnaubt amüsiert.
 

»Nah. Wir sind nur Freunde mit Extras«, sagt Cem und ich hüstele peinlich berührt ohne es zu wagen, Julius anzusehen.
 

Vielleicht bilde ich es mir ein, aber ich könnte schwören, dass Daniel ziemlich schwer schluckt.
 

»Erzähl das keinem«, brummt Cem ungehalten. Er legt sich ins Gras ohne Daniel weiter anzusehen und ich frage mich, wieso er es Daniel überhaupt gesagt hat, wenn er sich nicht sicher ist, dass der es niemandem weiter sagt.
 

»Nein, Alter. Wofür hältst du mich?«
 

Cem zuckt mit den Schultern.
 

»Bei den Heteros weiß man nie so genau.«
 

Daniel antwortet nicht darauf und nach einer Weile steht er auf und klopft sich etwas Gras von der Hose.
 

»Ich geh noch mal rein«, sagt er. Niemand antwortet ihm, nur Julius hebt kurz die Hand.
 

Eine ganze Minute lang herrscht schweigen.
 

»Wollt ihr bei mir übernachten und einen Kuschelhaufen basteln?«, krächze ich.
 

Feli kichert matt. Ich sehe Julius auch weiterhin nicht an.
 

»Fuck, ja. Was für ’ne scheiß Party«, brummt Cem. Ich helfe ihm hoch. Wir schauen nicht zurück, als wir uns zu viert auf den Weg zur Bushaltestelle machen.

drift kompatibel

Weil der nächste Bus erst in einer halben Stunde kommt, beschließen wir zu Fuß zu gehen. Wenn uns niemand entgegen kommt, bilden wir eine Viererkette und halten uns an den Händen—ich und Julius sind wieder außen, das scheint jetzt einfach unser ewiges Schicksal zu sein—und singen »Dangerous« von David Guetta.
 

Dafür, dass der Abend so eine unerfreuliche Wendung genommen hat, bin ich jetzt bis oben hin voll mit Glückshormonen. Der Stress durchs Coming Out hat sich verflüchtigt und alles, was jetzt noch bleibt ist ein leises Vibrieren unter meiner Haut, das mich daran erinnert, dass ich gleich vielleicht endlich den Mut finde, Julius wieder anzufassen.
 

Keiner der anderen beklagt sich darüber, dass eine 1,40 Meter breite Matratze zu schmal für vier Personen ist. Während Cem und Feli im Bad verschwinden, um meinen Gästezahnbürstenvorrat zu plündern, hilft Julius mir dabei, alle im Haushalt vorhandenen Wolldecken zusammenzutragen und auf mein Bett zu werfen.
 

Die Stille zwischen uns ist nicht unangenehm, aber ich habe trotzdem das Bedürfnis, etwas zu sagen.
 

»Du hättest nicht—«
 

»Ich weiß. Aber... aber ich wollte«, sagt Julius kaum hörbar und wirft mir einen Blick zu. An einem Tag, an dem ich mich weniger glücklich fühle als heute, werde ich wahrscheinlich darüber nachdenken, dass ich Julius‘ Leben so endlos viel schwieriger gemacht habe. All der Stress mit der Mannschaft und den Freundschaften, die ihm eigentlich immer genug waren, meine abgefuckte psychische Gesundheit, die er irgendwie angefangen hat mitzutragen...
 

Aber heute bin ich voll von flauschigen Gefühlen für meine Freunde.
 

Ich höre Cems und Felis leise Stimmen aus dem Bad, während ich mir achtlos mein Hemd aufknöpfe und es beiseite pfeffere, um dann in meinen Schrank zu tauchen und ein Tanktop hervorzukramen, das ich zum Schlafen anziehen kann.
 

Julius und ich gehen ins Bad, nachdem Feli und Cem fertig sind mit Zähneputzen und es ist etwas Vertrautes darin, wie wir uns schweigend umeinander herum bewegen und nach Handtüchern und Zahnpasta greifen und am Ende synchron ins Waschbecken spucken. Wir glucksen heiter darüber und ich denke verschwommen, dass ich eigentlich lieber auf Schlaf verzichten und dafür stattdessen Julius ansehen möchte.
 

Er schiebt sich an mir vorbei aus dem Bad und sein nackter Arm streift meinen. Es kostet mich alles an Selbstbeherrschung, nicht die Hand nach ihm auszustrecken. Das Stück Haut, an dem wir uns berührt haben, kribbelt heftig, als ich Julius ins Zimmer folge.
 

Cem und Feli scheinen keine Lust gehabt zu haben, auf uns zu warten. Feli liegt direkt an der Wand unter einer Wolldecke begraben und ist mit dem Oberkörper ganz dicht an Cems Rücken geschmiegt. Ihre langen Haare liegen über dem Kissen verteilt, einen Arm hat sie um Cems Taille geschlungen und Cems Mund ist bereits leicht geöffnet und seine Augen geschlossen, als wären die beiden total k.o. von den Ereignissen des heutigen Abends.
 

Ich scheuche Julius zuerst ins Bett und mache das Licht aus, ehe ich ihm folge. Im Dunkeln höre ich, wie Julius sich eine der Decken krallt und sich ohne Federlesen an Cem kuschelt, der irgendetwas Unverständliches im Halbschlaf murmelt. Ein Rascheln sagt mir, dass die beiden sich wie Puzzlestücke aneinander sortiert haben und ich höre Julius‘ zufriedenes Seufzen.
 

Mein Herz hämmert wie verrückt, als ich mich auf die Bettkante setze.
 

Was, wenn ich wieder eine Grenze überschreite? Was, wenn—
 

Finger greifen nach mir und ziehen mich aufs Bett. Ich atme zischend ein und halte die Luft an, als Julius mich herum manövriert, bis ich mit dem Gesicht zu ihm auf der Seite liege.
 

»Darf ich?«, flüstert Julius, seine Stimme kaum zu hören über das Rascheln der Decken und Cems Atmen. Mein Herz überschlägt sich, als ich im Dunkeln nicke, als könnte Julius das sehen. Ich weiß nicht mal so richtig, was er eigentlich fragt, aber dann schlingen sich Arme um mich, wunderbar warme, starke Arme, die mich ganz dicht an ihn heranziehen.
 

Und dann bricht der Damm.
 

Julius gibt ein ersticktes Geräusch von sich und presst sich an mich, als würde er versuchen in mich hineinzukriechen. Ich schlinge meine Arme um Julius‘ Oberkörper, vergrabe mein Gesicht an seinem Hals und ehe ich es mich versehe, finde ich mich auf dem Rücken wieder und Julius liegt auf mir.
 

Sein Atem kitzelt mich am Hals direkt unter meinem Ohr und ich vergrabe meine Finger in seinem Haar, streiche über seinen Rücken, finde meinen Weg unter sein Shirt und berühre endlich nackte Haut.
 

Fuck, ich will ihn so unbedingt küssen.
 

Meine Haut steht in Flammen. Ich kann mich überhaupt nicht entscheiden, wo ich zuerst anfassen will, aber letztendlich landet eine Hand dauerhaft in Julius‘ Haar und die andere bleibt unter seinem Shirt. Er riecht nach seinem Deo und meiner Zahnpasta und ein bisschen nach Rauch.
 

Ich rutsche—mit Julius auf mir drauf—ein Stück näher zu Cem und eine von Julius‘ Händen findet eine von Cems. Jetzt, da meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, kann ich sehen, dass die beiden Händchen halten. Julius‘ andere Hand liegt auf meiner Schulter.
 

»Ich geh hier nie mehr runter«, nuschelt Julius gegen meinen Hals und ich würde gerne sagen, dass ich eloquent antworte, aber alles, was dabei herauskommt, ist ein wirklich ausgesprochen kläglich klingendes Seufzen.
 

»Ok«, flüstere ich.
 

Julius schläft beinahe so schnell ein wie Cem und Feli, aber ich liege noch lange wach und lausche ihrem Atem und fahre mit den Fingern vorsichtig durch Julius‘ Haar. Hin und wieder gibt er ein wohliges Geräusch von sich und ich frage mich dunkel, ob ich ihn gerade vollkommen unpassend ausnutze, weil meine Gedanken schon wieder in eine schmutzige Richtung gehen und er dafür eindeutig nicht unterschrieben hat.
 

Aber ich bin so glücklich, ihn anfassen zu dürfen. Alles in mir seufzt und kribbelt und ist zu einer Pfütze aus wohligen Gefühlen geschmolzen. Ich bin so am Eimer. So viel Verliebtheit kann ein Mensch unmöglich fühlen. Vielleicht sickert es schon durch die Matratze. Irgendwann zupfe ich behutsam eine Wolldecke über uns und ich schlafe erst ein, als es draußen schon wieder hell wird.
 

Als ich aufwache, ist mir wahnsinnig warm.
 

Es dauert einige Momente, bis mein Gehirn sich vollständig hochgefahren hat und ich mich daran erinnere, was gestern Abend alles passiert ist. Wie auf Kommando verfällt mein Herz in einen heftige Sprint, noch bevor ich wirklich anfangen kann mich in meiner Umgebung zu orientieren. Julius liegt nur noch halb auf mir. Er ist seitlich von mir heruntergerutscht und Cem klebt seitlich an ihm, eine Hand lose auf Julius’ Hüfte. Feli löffelt Cem immer noch und sie schnarcht leise gegen seinen Rücken.
 

Alles in allem ist diese ganze Szene zu niedlich und wunderbar.
 

Mein Herz fühlt sich an wie ein Plüschtier.
 

Ich angele vorsichtig nach meinem Handy, das wie immer unter meinem Kopfkissen begraben liegt, und versuche mit einem Arm ein Foto von der Situation auf dem Bett zu machen. Es klappt nur so mäßig gut, aber ich schicke das Foto an meine Freunde und erhalte eine riesige Menge an Herzchen-Emojis zurück.
 

Julius‘ Bein schiebt sich nach oben und landet auf meinem Schritt. Ich gebe ein sehr würdeloses Geräusch von mir und muss mich arg zusammenreißen, nicht mein Becken nach oben zu drücken oder aus dem Bett zu springen, als hätte eine Tarantel mich gebissen. Meine Atmung macht sehr peinliche Dinge und ich presse meine Lippen zusammen.
 

Julius seufzt gegen meinen Hals und ich schlucke ein Wimmern.
 

Scheiße, scheiße, scheiße.
 

Ich muss aufstehen, sonst passiert mir noch ein sehr schreckliches Missgeschick. Ich fädele mich vorsichtig unter Julius aus dem Bett und er gibt ein unzufriedenes Grummeln von sich, schnappt sich aber prompt meine Decke, sobald ich aufgestanden bin, und umarmt sie statt mir. Ich betrachte die drei Leute in meinem Bett eine halbe Minute und mache noch ein weiteres Foto, dann husche ich leise ins Bad.
 

Da die Schuhe meines Vaters nicht im Flur stehen, kann ich sicher sein, dass er unterwegs ist. Ich gehe duschen, um den Schlaf aus meinen Gliedern zu vertreiben. Gott sei Dank bin ich es gewohnt mit nicht mehr als vier Stunden Schlaf durch den Tag zu kommen, sonst würde ich mich jetzt vermutlich viel gerädeter fühlen, als es jetzt der Fall ist.
 

Frisch geduscht und immer noch mit einem andauernden Fallgefühl im Magen husche ich in die Küche, schließe die Tür hinter mir und fange an, Pfannkuchen zu machen, während ich leise vor mich hinsinge und noch mal die Ereignisse des vorigen Abends durchgehe.
 

Lennard hat nicht nur Feli sexuell belästigt, sondern auch Cem verprügelt und mit homophoben Beleidigungen um sich geworfen. Wir haben uns zu dritt vor Daniel geoutet, der zwar etwas verwirrt schien, aber immerhin nicht wirkte, als würde er das weitererzählen. Julius hat gesagt, dass er mit Trainer über Lennard—und vielleicht auch über Konstantin—reden will. Irgendwas geht ab zwischen Daniel und Cem. Cem hat uns als Freunde mit Extras bezeichnet. Und wir haben zu viert Händchen gehalten und alle kuschelnd in einem Bett geschlafen.
 

Und, vielleicht am wichtigsten: Julius und ich haben uns angefasst. Nach einer Zeitspanne, die sich wie eine Ewigkeit angefühlt hat, hatte ich ihn endlich wieder im Arm und es hat mich so unglaublich viel Selbstbeherrschung gekostet ihn nicht zu küssen. Direkt da im Bett, gleich neben Feli und Cem.
 

Ich wollte noch nie in meinem Leben einen Menschen so dringend küssen wie Julius.
 

Mein Magen kribbelt wie ein ganzer Ameisenhaufen und ich lasse beinahe eins der Eier fallen, die ich für die Pfannkuchen brauche, während ich darüber nachdenke, wie es sich wohl anfühlt, Julius zu küssen.
 

Immerhin weiß ich aus nächster Nähe, wie er aussieht, wenn er jemanden küsst.
 

Auch wenn ich nicht eifersüchtig auf Cem bin, brenne ich ziemlich vor Neid, einfach weil ich Julius so sehr will.
 

Ugh.
 

Als ich Ororo an der Tür kratzen höre, verlasse ich meinen Posten am Herd kurz, um ihr zu öffnen. Sie schiebt sich mit einem anklagenden Maunzen in die Küche und schmiegt sich an meine Beine. Ich krame eine Dose Katzenfutter aus einem der Küchenschränke und stelle ihr einen Teller neben den Tisch.
 

Ororo schmatzt zufrieden vor sich hin, während ich mich wieder meinem geplanten Berg Pfannkuchen widme.
 

Kochen ist irgendwie beruhigend. Ich mache was mit meinen Händen und habe etwas, auf das ich mich konzentrieren kann. Als die Küchentür vorsichtig geöffnet wird, wende ich gerade den zweiten Pfannkuchen.
 

»Du warst weg«, nuschelt Julius‘ verschlafene Stimme hinter mir und mein Herz purzelt durch meinen Brustkorb, als wäre es einen Abhang hinunter gestolpert. Julius schließt die Tür hinter sich und ich höre ihn barfuß näher kommen.
 

»Konnte nicht mehr schlafen«, krächze ich und starre den Pfannkuchen sehr konzentriert an, als könnte er jeden Augenblick explodieren. Zögerlich schlingen sich Arme um meinen Oberkörper und ich spüre die Hitze von Julius‘ an meinem Rücken. Ich atme ziemlich laut ein und halte meinen Atem an.
 

»Ok?«
 

»Hm.«
 

Julius schweigt und bleibt einfach hinter mir stehen, die Arme um mich geschlungen. Zu allem Überdruss liegen seine Hände auf meinem Brustkorb, das heißt, er kann garantiert fühlen, dass mein Herz im Moment hämmert wie eine Dampflok. Was nur dazu führt, dass das Tempo meines Herzschlags sich noch steigert.
 

Der zweite Pfannkuchen brennt mir an.
 

Scheiße.
 

Der Dritte wird wieder besser. Dann drückt Julius einen Kuss in meinen Nacken und ich merke, wie jedes kleine Haar auf meinen Armen sich aufrichtet und eine heftige Gänsehaut sich ausbreitet wie ein Lauffeuer.
 

Ich schwanke sehr zwischen dem Impuls zu fliehen und mich umzudrehen und Julius kurzerhand beduselig zu küssen. Gegen die Küchentheke, auf dem Tisch, gegen die Tür—
 

Letztendlich bleibe ich stocksteif stehen und brate Pfannkuchen nach Pfannkuchen. Erst bei Pfannkuchen Nummer sieben tritt Julius einen Schritt zurück und ich bin so abgelenkt von der plötzlichen Leere hinter mir, dass ich mir prompt die Finger verbrenne.
 

»Fuck!«
 

Mir fällt fast der ganze Messbecher mit dem Restteig in die Pfanne, als Julius nach meiner Hand mit den verbrannten Fingern greift und mich hastig vom Herd weg und zur Spüle hin zieht, damit ich meine Hand unter kaltes Wasser halten kann.
 

Leider ist Julius zu lieb. Und zu großartig. Und viel zu gut aussehend.
 

Ich brauche einen Arzt.
 

Oder ein Gehirnreboot. Vielleicht auch ein neues Herz, dass nicht bei allem vollkommen durchdreht, was Julius tut und sagt.
 

Julius hält meine Finger unter kaltes Wasser und ich bin so nah dran einfach durchzudrehen und ihm von meinen unpassenden Gefühlen zu erzählen, als die Küchentür erneut aufgeht.
 

»Pfannkuchen«, nuschelt eine sehr verschlafene Feli. Sie trägt eins von meinen Shirts, das ihr bis zur Hälfte der Oberschenkel reicht und hinter ihr schiebt sich Cem in die Küche, dessen kurzes Haar wild in alle Richtungen absteht. Er sieht ziemlich verknittert und verkatert aus.
 

»Wasser?«, brummt er. Julius greift wortlos nach einem Glas, hält es kurz unter das schon laufende Wasser und hält es Cem hin. Ich ziehe meine Finger zurück und trockne sie ab, während meine Rippen sich anfühlen, als wären sie von einem sehr nachdrücklichen Hammer bearbeitet worden.
 

Es ist wie eine ganz neue Art der Angststörung, nur irgendwie... aufregender? Weniger schrecklich, aber definitiv genauso stressig. Ich brate die letzten Pfannkuchen und schaffe es, keinen weiteren mehr anbrennen zu lassen, während Julius den Tisch deckt—weil er sich in der Küche wahrscheinlich besser auskennt, als mein eigener Vater.
 

Als ich mich mit dem Berg Pfannkuchen in der Hand umdrehe, muss ich unweigerlich lächeln. Feli hat ihren Stuhl ganz dicht an Cems Stuhl geschoben und er döst auf ihrer Schulter, während sie gähnend seine Haare tätschelt. Julius hockt im Schneidersitz auf dem Fußboden und krault Ororo, die sich auf den Rücken gedreht hat und ihm ihren flauschigen Bauch präsentiert.
 

Mein Herz schwillt auf die doppelte Größe an. Meine Güte. Kann ein Mensch so viele Gefühle auf einmal haben, ohne zu platzen?
 

Cems Gesicht sieht aus, als würde es ordentlich wehtun, aber er sagt nichts darüber. Ich koche Tee und Kaffee, stelle Marmelade, Nutella, Zimt und Zucker und Frischkäse auf den Tisch und nehme schließlich neben Julius Platz, der Ororo nun für einen Pfannkuchen verlassen hat.
 

»Sagt mal«, murmelt Cem und verteilt einen ganzen Berg Zimt und Zucker auf seinem Pfannkuchen, »haben wir uns gestern allesamt vor Daniel geoutet?«
 

Julius, Feli und ich werfen uns einen Blick zu.
 

Ich räuspere mich.
 

»Ähm... ja?«
 

Cem schweigt einen Augenblick. Mit seinem blauen, zugeschwollenen Auge und der aufgerissenen Lippe sieht er wahrlich übel aus.
 

»Oh.«
 

Julius runzelt neben mir die Stirn.
 

»Was genau ist das eigentlich mit euch beiden?«
 

»Huh?«
 

»Naja, es ist irgendwie... komisch? Keine Ahnung, du hast mal gesagt, dass bei ihm Hopfen und Malz verloren ist. Und er sah irgendwie komisch aus gestern, nach dem Armdrücken. Und—«
 

Cem bewirft Julius mit einem Stück Pfannkuchen.
 

»Halt die Klappe«, murmelt er, aber seine Ohren sind eindeutig rot.
 

Interessant.
 

Cem scheint mit sich zu ringen. Er isst einen ganzen Pfannkuchen auf eine Art, die irgendwie impliziert, dass der Pfannkuchen sein erwählter Erzfeind ist. Dann starrt er mich und Julius ziemlich bockig über den Tisch hinweg an.
 

»Wir haben mal rumgemacht«, knurrt er schließlich.
 

»Was!?«
 

»Red nicht so laut, du Wichser!«, blafft Cem Julius an, der eindeutig schockiert aussieht.
 

»Sorry«, flüstert Julius, was Feli zum Kichern bringt. Sie isst ihren Pfannkuchen mit Marmelade und rührt nachdenklich in ihrem schwarzen Tee mit Milch herum.
 

»Aber ich dachte Tamino wäre der erste Kerl gewesen, der—«
 

Ich hüstele leise.
 

»Tja, war er nicht. Aber ich habs nicht—es ist. Ugh. Fuck. Es ist auch schon ‘n paar Jahre her, ok? Und er hat immer gesagt, dass ich’s bloß keinem weitersagen soll. Also wehe ihr sagt es irgendwem, sonst mach ich euch die Hölle heiß!«, brummt Cem unwillig. Er sieht wirklich sehr unzufrieden aus mit der Richtung, in die dieses Gespräch gegangen ist.
 

Als wir ihn alle erwartungsvoll anstarren, wirft er resigniert die Hände in die Luft.
 

»Seine erste Reaktion, nachdem’s passiert ist, war zu sagen, dass er hetero ist, ja? Es war nicht so Bombe. Außerdem waren wir beide hackedicht. Und dann hab ich gesagt, dass ich auch hetero bin, weil ich mir die scheiß Blöße nicht geben wollte. Und dann hat er mich schwören lassen, dass ich das keinem erzähle, weil seine Eltern ihn sonst garantiert vor die Tür setzen würden. Also hab ich die Schnauze gehalten und bis gestern waren wir beide ganz offiziell hetero«, mault er und schiebt sich ein riesiges Stück Pfannkuchen in den Mund, vielleicht damit er eine Ausrede hat, um nicht weiter reden zu müssen.
 

»Oh scheiße«, sage ich leise.
 

Cem grummelt um seinen Mund voll Pfannkuchen herum.
 

»Ich weiß überhaupt nichts über Daniels Eltern«, sagt Feli nachdenklich und Julius nickt zustimmend. Cem gibt ein Geräusch von sich, das vielleicht beunruhigend wäre, wenn er nicht immer noch auf seinem Stück Pfannkuchen herumkauen würde. Nachdem er geschluckt hat, zieht er die Schultern hoch und starrt bockig auf seinen Teller.
 

»Sagen wir’s mal so, ja? Ich durfte da nie vorbeikommen. Schlechter Einfluss und so. Schlecht integrierte Türken klauen Deutschen die Arbeitsplätze und schleppen den Islam ein und verprügeln gute, deutsche Frauen und was weiß ich nicht noch für’n Scheiß.«
 

Ich verziehe das Gesicht.
 

»Ah. Solche Eltern«, sage ich mitfühlend.
 

Julius sieht ein bisschen aus, als wäre ihm schlecht.
 

»Und, ähm... willst du denn... noch was von ihm?«, fragt Feli vorsichtig. Cem wirft ihr einen Blick zu und er seufzt, legt sein Besteck beiseite und fährt sich mit den Händen übers Gesicht.
 

»Ich mein. Er ist mein Typ. Was auch immer. Ich will ihn nicht heiraten oder so’n Scheiß.«
 

»Aber du magst ihn?«, frage ich behutsam. Cems Augen huschen kurz zu meinem Gesicht und dann wieder zu seinem Pfannkuchen.
 

»Hmpf. Dich mag ich auch, Speedy. Heißt nicht, dass ich als nächstes mit dir aufn Picknick gehen und Sterne angucken will, um dir ‘nen Antrag zu machen«, brummt er. Ich muss lachen und beschließe, dass die Fragerei jetzt ein Ende haben sollte, um Cems Laune nicht noch mehr zu verschlechtern.
 

Wir essen unsere Pfannkuchen, gehen alle nacheinander ins Bad und verschwinden anschließend schlichtweg wieder ins Bett, ohne uns wirklich miteinander abzusprechen. Ich habe eindeutig drei Leute zu meinem Kuschelkult bekehrt.
 

»Kann irgendwer anders ‘n verficktes Geheimnis erzählen, damit ich mich nicht wie der letzte Loser fühle?«, sagt Cem.
 

Er liegt unter mir und Feli begraben, während Julius hinter mir liegt und ich mich sehr darauf konzentrieren muss, keinen Ständer zu bekommen, weil er mir in den Nacken atmet. Kein Problem. Über Geheimnisse reden, während man darüber fantasiert, Julius auf die Matratze zu pinnen und mit Zunge und Fingern auseinanderzunehmen, bis er nur noch wimmern kann, ist definitiv eine Leichtigkeit.
 

»Ihr wisst schon alle, dass ich nicht schwimmen kann«, nuschelt Julius gegen meinen Nacken. Alter Schwede, muss er seine Lippen so dicht an meiner nackten Haut haben? Macht er das mit Absicht? Natürlich nicht.
 

Ugh.
 

Tamino, reiß dich zusammen.
 

»Ich hab noch eins«, fügt Julius hinzu.
 

»Schieß los«, fordert Cem.
 

»Ich hatte erst einmal Sex. Mit Katharina. Und es war richtig schrecklich und ich hab mit ihr Schluss gemacht, weil ich nicht noch mal mit ihr schlafen wollte.«
 

Ich habe das dringende Bedürfnis, mich umzudrehen, und Julius zu umarmen. Ich winde mich ein bisschen in meiner Sandwichposition, bis ich auf dem Rücken liege, und ziehe ihn dann schlichtweg auf mich. Wahrscheinlich keine gute Idee. Ich möchte mir lieber nicht vorstellen, mit einem Mädchen Sex zu haben, einfach weil ich denke, dass es so sein muss. Und wenn man dann noch Julius‘ generelle Einstellung zu Sex insgesamt bedenkt...
 

Ja, ich sollte dringend aufhören über Sex mit Julius zu fantasieren.
 

»Seid ihr sicher, dass ihr mein Geheimnis hören wollt? Es ist ziemlich deprimierend«, sagt Feli. Sie klingt erstaunlich abgeklärt. Julius, Cem und ich schauen sie alle an, sofern es geht, weil ihr Gesicht auf Cems Schulter liegt. Ihre Wange ist ein bisschen eingedrückt und ihre Haare sind über mein Kissen gefächert.
 

»Hau’s raus«, sagt Cem.
 

Feli seufzt.
 

»Meine Mutter hat mich mit sechzehn bekommen und weil sie ein viel zu junger Drogenjunkie war, bin ich bei meiner Tante aufgewachsen.«
 

Schweigen tritt ein.
 

»Oh«, sagt Cem schließlich. Feli zuckt mit den Schultern.
 

»Jup. Sag ich ja. Es ist weniger depressiv, wenn man weiß, dass meine Tante super ist. Mehr deprimierend, wenn man weiß, dass meine Mutter wahrscheinlich Sex im Tausch für Drogen hatte und ich keine Ahnung habe, wer mein Vater ist.«
 

Ich starre Feli mit großen Augen an. Sie erwidert meinen Blick stetig und erstaunlich unbeeindruckt. Wenn man mit so einer Lebensgeschichte aufgewachsen ist, klingt sie vielleicht in den eigenen Ohren gar nicht mehr so schockierend, aber als Außenstehender klingt es nach einem überdramatischen Krimi.
 

»Das erklärt die Sache mit der Verhütung«, krächzt Julius auf mir drauf.
 

»Was?«, gebe ich verwirrt zurück und Feli kichert.
 

»Als Julius bei mir übernachtet hat, ist er morgens Andrea über den Weg gelaufen und sie hat ihn ausgequetscht, ob er denn auch weiß, wie Verhütung funktioniert«, erklärt Feli amüsiert. »Ja, sie ist bei dem Thema etwas empfindlich, nicht zu unrecht, muss ich sagen. Aber als Julius ihr erklärt hat, dass er schwul ist, war sie beruhigt und hat ihn nicht weiter belästigt.«
 

Ich stelle mir vor, wie Julius von einer mir unbekannten Frau wegen Verhütung in die Mangel genommen wird und schnaube gegen seine Schulter.
 

»Hättest ihr auch von Katharina erzählen können«, schlägt Cem vor und Julius patscht ihm die Hand ins Gesicht.
 

»Halt die Fresse, Alter. Wenigstens hechele ich nicht einem prüden Katholiken hinterher«, mault er. Cem gluckst heiter.
 

»Vielleicht sind seine Eltern auch evangelikal, dude. Fuck, interessiert mich auch einfach echt nicht. Wenns nach mir geht, können sie auch das Spaghettimonster anhimmeln, solange sie mich mit dem Scheiß in Ruhe lassen.«
 

Wenn man mir vor ein paar Monaten gesagt hätte, dass ich mal mit Feli, Cem und Julius in einem Kuschelhaufen auf meinem Bett liegen und Geheimnisse teilen würde, dann hätte ich wahrscheinlich gelacht und abgewinkt. Aber hier sind wir nun, vier seltsam zusammengewürfelte Leute mit ganz unterschiedlichen Geheimnissen. Ich denke darüber nach, welches von meinen Geheimnissen ich teilen sollte, bis mir klar wird, dass Julius eigentlich alle davon schon kennt.
 

Er weiß über meine Mutter Bescheid, über mein Alkoholproblem, meine psychischen Krankheiten, die Sache mit Moritz.
 

»Wenn wir jetzt so viele Geheimnisse kennen und voll auf einer Wellenlänge sind, heißt das, wir sind jetzt drift kompatibel?«, fragt Feli amüsiert.
 

»Drift...was?«, fragt Julius verwirrt. Feli sieht ihn voller Entrüstung an.
 

»Kennst du etwa Pacific Rim nicht?«
 

Cem und Julius schütteln den Kopf, woraufhin Feli und ich einen Blick tauschen.
 

»Ok, ihr Stümper. Wir bestellen Indisch und gucken Pacific Rim, keine Widerworte!«, ordert sie an und entknotet sich von unserem Haufen, um nach einem indischen Imbiss in der Nähe zu googeln, während ich in meinem DVD-Regal nach Pacific Rim suche.
 

»Wo wir schon bei Geheimnissen sind, erzählst du uns noch, warum du immer so rot anläufst, wenn du mit Anish schreibst?«, fragt Julius beiläufig. Ich ziehe die DVD aus dem Regal und Feli schiebt Julius meinen Laptop hin, damit er sich von der Speisekarte etwas aussuchen kann.
 

Cem kriegt prompt wieder rote Ohren.
 

»Tja«, sagt er und dreht den Kopf zu Julius um. Dann verengt er die Augen zu Schlitzen und öffnet den Mund. »So ist das wenn man sextet.«
 

Die Reaktion kommt prompt und Feli lacht Julius und Cem aus, die nun beide mit knallroten Wangen und Ohren auf meinem Bett sitzen und sich anstarren.
 

»Ok. Klar. Sexting«, krächzt Julius.
 

»Hmhm. Dickpics. Die ganze Schiene. Willst du welche davon sehen?«, fragt Cem lauernd.
 

Julius schmeißt fast meinen Laptop runter, so heftig wedelt er abwehrend mit den Händen.
 

Feli lacht und lacht und ich mustere die beiden amüsiert, während sie sich Kissen um die Ohren hauen.
 

»Vielleicht noch nicht ganz so drift kompatibel. Aber definitiv mit viel Liebe drin«, meint Feli zu mir und ich nicke voller Zuneigung.
 

So viel Liebe.

system overload

Ich kann nicht genau sagen warum, aber irgendwie habe ich nicht damit gerechnet, dass Daniel tatsächlich mitkommt, als ich vor dem Training zu Trainer ins Büro gehe. Aber tatsächlich, er wartet bereits vor der Halle, um sich mir, Cem und Tamino anzuschließen, als wir die Halle betreten.
 

Cem ist... hm.
 

Ich bin nicht ganz sicher, was in ihm vorgeht, aber er ist schon den ganzen Tag recht still und wirft Daniel nur einen sehr kurzen Blick zu, als ich und Tamino ihn begrüßen. Unweigerlich versuche ich festzustellen, ob Daniel uns irgendwie komisch anschaut oder sich anders als sonst verhält.
 

Dann wiederum ist er auch einfach einer dieser ziemlich ruhigen, chilligen Kerle. Ich erinnere mich daran, wie er auf der Fußballfreizeit eingegriffen hat, als Konstantin nach Cems Hemdkragen greifen wollte. Selbst das hat er mit einer Gelassenheit gemacht, die irgendwie entwaffnend ist.
 

Normalerweise würde ich Cem auch als gechillt bezeichnen, aber er trägt das irgendwie mit einer anderen Art der Lässigkeit. Ich kann es schlecht erklären. Vollkommen irrational kommt mir der Gedanke, dass ich nicht mal wirklich weiß, ob Daniel Geschwister hat oder nicht. Cem weiß das sicherlich.
 

Cem und Daniel.
 

Huh.
 

»Hey Trainer, können wir kurz stören?«, sage ich, als wir die Bürotür geöffnet haben. Trainer ist eine stämmige Frau Mitte vierzig mit ziemlich kurzen Haaren und einem kantigen Unterkiefer, der ihr irgendwie das Aussehen einer respekteinflößenden Bulldogge verleiht. Aber sie hat auch Lachfältchen an den Augen und eine erstaunlich sanfte Stimme, wenn sie nicht gerade über den Platz brüllt, dass wir uns mehr bewegen sollen.
 

»Sicher. Kommt rein.«
 

Sie gestikuliert zu einem zerschlissenen Sofa hinüber, das an der linken Wand des Büros steht und schließt die Tür ihres Büros, nachdem Cem den Raum als letzter betreten hat.
 

»Was kann ich für euch tun?«, will sie wissen, setzt sich beschwingt auf ihren Schreibtisch und lässt die Beine baumeln. Auf ihrem Desktop erkenne ich Punktetabellen der aktuellen Saison.
 

»Ähm... ich... das heißt, wir? Wir wollten über Konstantin und Lennard reden«, sage ich mit trockenem Mund. Müssen wir uns jetzt wieder alle outen? Will ich mich vor einer Lehrerin outen? Will ich, dass das überhaupt mitbedacht wird, wenn sie darüber nachdenkt, was sie mit den beiden tut? Sollte ihr Verhalten nicht sowieso schon schlimm genug sein, ganz egal, ob ich zufällig selber auf Jungs stehe, oder nicht?
 

Trainers buschige Augenbrauen schießen in die Höhe und sie lässt den Blick kurz über uns schweifen. Ich habe mich immer noch nicht entschieden, was ich eigentlich sagen will, als Tamino mir mal wieder den Hintern rettet.
 

»Ich bin schwul«, sagt er frei heraus. »Und ich möchte nicht mit Konstantin oder Lennard in einer Mannschaft spielen, weil beide aggressiv homophobes Verhalten gezeigt haben und ich mich damit nicht wohlfühle.«
 

Oh.
 

Ja, so kann man es natürlich auch drehen. Nicht, dass es nicht wahr wäre. Aber es ist natürlich auch nur die halbe Wahrheit.
 

»Ich—wir möchten alle vier?«, fange ich an und schaue kurz zu Daniel hinüber, der Cem einen Blick zuwirft und dann nickt. »Wir möchten alle nicht in einer Mannschaft spielen, in der sowas geduldet wird.«
 

Trainers Gesichtsausdruck ist einen Augenblick lang nicht lesbar. Dann breitet sich ein sanftes Lächeln auf ihrem kantigen Gesicht aus und sie lässt ihre Beine vom Schreibtisch baumeln, ehe sie schließlich nickt.
 

»Fußball ist... eine schwierige Domäne für...«
 

Sie pausiert einen Augenblick, legt den Kopf schief, und fährt dann leise fort.
 

»Für Frauen und natürlich auch für Schwule. Ich freue mich aber, dass euch daran gelegen ist, diese Mannschaft zu einer Umgebung zu machen, in der das anders sein kann. Ich kann natürlich nicht bewerten, inwiefern Lennard und Konstantin—«
 

»Ich hab ein Video«, unterbricht Daniel sie.
 

Alle starren ihn an.
 

»Huh?«, meint Cem. Er sieht vollkommen fassungslos aus. Daniel kramt nach seinem Handy und zögert, ehe er es zunächst Cem hinhält. Da man immer noch sein Veilchen und seine geschwollene Lippe sehen kann, scheint er zu dem Entschluss zu kommen, dass es jetzt auch egal ist, ob Trainer es sieht.
 

Daniel startet das Video und hält es Trainer unter die Nase. Sie greift danach und im nächsten Augenblick erfüllen bekannte Schreie das Trainerbüro.
 

»Sie hat nicht nein gesagt!«

»Sie hat auch nicht ja gesagt, du Penner!«

»Verpiss dich, du elende Schwuchtel!«

»Benutz noch einmal dieses elende Scheißwort und ich reiß dich in Stücke!«

»Cem! CEM!«
 

Lennards kunterbunte, homophobe Beleidigungen dröhnen durchs Büro, während er und Cem auf dem Video aufeinander einprügeln und als das Video endet, wirft sie Cem einen Blick zu und mustert sein blaues Auge und seine Lippe.
 

»Cem Atilgan«, sagt Trainer und schüttelt den Kopf. Cem verschränkt störrisch die Arme vor der Brust und starrt Trainer als. Er sieht eindeutig nicht so aus, als wäre sein Gewaltausbruch ihm peinlich.
 

»Was? Er hat aufs Maul verdient! Außerdem hat er Feli belästigt und ist alles in allem ein widerlicher Drecksack!«
 

Trainer reicht Daniel sein Handy zurück und seufzt leise.
 

»Und was ist mit Konstantin?«
 

Ich berichte ihr von der Fußballfreizeit, auf der Konstantin ähnliches Verhalten gezeigt hat und Cem ergänzt, was am Baggersee passiert ist, nachdem ich beinahe abgesoffen wäre. Mir ist klar, dass Trainer die beiden nicht einfach spontan aus der Mannschaft kicken kann, ohne vorher andere Schritte einzuleiten.
 

Aber es ist sehr befriedigend zu sehen, wie verwirrt und etwas beunruhigt Lennard und Konsti aussehen, als Trainer sie nach dem Training in ihr Büro ruft, nachdem sie alle anderen bereits entlassen hat. Mein Gehirn dreht sich immer noch um die Tatsache, dass Daniel diese Szene gefilmt hat, als wüsste er, dass wir das brauchen würden. Dann wiederum war er auch am See und mit auf der Freizeit, hat oftmals mitbekommen wie die beiden sich verhalten—vielleicht ist für ihn das Fass genauso übergelaufen wie für Cem, aber statt drauflos zu prügeln hat er seine Kamera draufgehalten.
 

Ich weiß nicht allzu viel über Daniel.
 

Ich weiß, dass er auch mal Handball gespielt und als Kind Judo gemacht hat. Ich weiß, dass er seine mündliche Abiprüfung in Sport ablegen wird und dass er Mathe zwar gut kann, aber richtig langweilig findet. Ich weiß, dass ich ihn noch nie auf irgendeiner Party mit irgendwem hab rummachen sehen—etwas, das jetzt irgendwie an Bedeutung gewinnt, da ich die Geschichte von Cem gehört habt—und das obwohl sehr viele Mädchen aus verschiedenen Jahrgängen ihn anschmachten wie einen Rockstar.
 

Ich weiß auch, dass er tatsächlich Rock und Metal hört—ganz im Gegensatz zu dem türkischen Pop, den Cem gerne singt—und dass er allergisch auf Äpfel ist.
 

Da endet meine Liste. Wie seltsam fast sieben Jahre mit jemandem in einer Mannschaft Fußball zu spielen und so eine kurze Liste mit Dingen zu haben, die man über den anderen weiß. Ich nehme an, dass Cems Liste länger ist.
 

Wenn ich in meinem Oberstübchen grabe, erinnere ich mich womöglich daran, dass Cem und Daniel früher häufiger miteinander abgehangen haben und das dann irgendwann endete—aber es war kein großes Spektakel, deswegen habe ich dem nie irgendwelche Bedeutung zugemessen.
 

Jetzt denke ich mir, dass es wahrscheinlich geendet ist, nachdem die beiden rumgemacht haben.
 

Unweigerlich frage ich mich, ob es bei mir und Tamino auch so enden würde, wenn wir miteinander knutschen würden.
 

Wenigstens behauptet von uns beiden keiner hetero zu sein.
 

Ich habe tatsächlich das Gefühl, immer weniger hetero zu werden, je länger meine Verliebtheit für Tamino anhält. Irgendwie ist mir klar, dass das keinen Sinn macht, aber ich könnte schwören, es ist eine Steigerung vorhanden.
 

Vielleicht liegt das daran, dass ich mir noch nie in meinem Leben so oft einen runtergeholt habe, wie in den letzten Wochen. Meistens war das für mich nie ein großes Ding und es ist eher selten vorgekommen. Seit meiner Geburtstagsfeier ist diese Nonchalance definitiv den Bach runtergegangen und irgendwo, ganz tief in mir verborgen, hat sich ein Monster namens Sexualtrieb geregt, auf das ich gut und gerne verzichten könnte.
 

Diese ganze Demisexualitätssache hat sich von hinten an mich angeschlichen, auf den richtigen Moment gewartet und mir dann mit einer Libidokeule eins von hinten über gebraten. Seitdem kriege ich nicht nur zu den unpassendsten Momenten einen Ständer, sondern fantasiere auch absolut unfeierlich über Tamino.
 

Es reicht, wenn er vage in meine Richtung schaut, da sind meine Gedanken schon dahingehend unterwegs, dass er seine langen Finger in meine Hose schiebt und mir in den Hals beißt. Ich hab keine Ahnung, was eigentlich los ist und ich bin definitiv maßlos überfordert. Eine ganz neue Höhe dieser Unannehmlichkeiten habe ich erreicht, nachdem Tamino und ich endlich wieder auf den Kuschelzug aufgesprungen sind.
 

Also seit gestern.
 

Sobald ich zu Hause angekommen bin, hab ich mich in meinem Zimmer eingeschlossen und hab allein bei dem Gedanken an Taminos leises, wimmerndes Geräusch so zackig einen Orgasmus bekommen, wie noch nie vorher. Es ist, als wäre ich noch mal ganz neu in die Pubertät gestartet und ich will, dass es aufhört.
 

Wie können Leute so durchs Leben gehen?
 

Geht’s sexuellen Menschen dauernd so? Wie um alles in der Welt kriegen die irgendwas in ihrem Leben gebacken? Masturbieren die auch dreimal an einem Abend, weil sie über ein beschissenes Geräusch und das Gefühl von nackter Haut an ihren Lippen nachdenken?
 

Das kann ich mir kaum vorstellen.
 

Ich werde Cem auch definitiv nicht danach fragen.
 

Ich nehme dieses verzweifelt in mir wohnende Gefühl schlichtweg mit ins Grab, wenn ich in drei Wochen wegen zu massivem Schmachten tot umfalle. So einfach ist das.
 

Am Dienstag beobachte ich in Englisch amüsiert und interessiert Tamino dabei, wie er ein Polyamorie-Diagramm für Cem zeichnet, statt dem Unterricht zu folgen. Leider hat er dabei die Zunge zwischen die Lippen gesteckt und mein verräterisches Gehirn versorgt mich mit ausgiebigen Gedanken an Blow-Jobs.
 

Um ehrlich zu sein glaube ich nicht, dass ich auch nur zwei Sekunden durchhalten würde, wenn Taminos Mund irgendwo in die Nähe meines Schritts kommt. Dann wiederum wäre das eine schöne Art zu sterben.
 

Es juckt mich in den Fingern, Tamino anzufassen, aber im Unterricht ist das definitiv eine schlechte Idee. Ich versuche an irgendwas anderes zu denken oder wahlweise auch dem Unterricht zu folgen, aber ich scheitere kläglich. Der Höhepunkt—in diesem Fall ausnahmsweise einer, der kein Sperma involviert, aber immerhin auf dem besten Weg dahin ist—passiert in der letzten großen Pause.
 

Cem und Feli sind beim Kiosk und eine Traube jüngerer Schülerinnen geht an mir und Tamino vorbei. Sie werfen uns kichern verstohlene Blicke zu und zwei von ihnen sind definitiv rot im Gesicht.
 

»Was ist mit denen los?«, frage ich verwirrt. Tamino wirft mir einen ungläubigen Blick zu und macht eine Geste mit der Hand, die in etwa ausdrückt »Hast du noch alle Tassen im Schrank?«.
 

»Was denn?«, frage ich abwehrend. Tamino lacht leise.
 

»Julius. Ist dir eigentlich nicht klar, wie unglaublich gut du aussiehst?«
 

Ich blinzele, während mein Gehirn ein paar Sekunden braucht, um die Worte inhaltlich zu verarbeiten. Dann rauscht eine heiße Welle durch meinen Körper, ich merke, wie ich knallrot anlaufe und aus absolut unerfindlichen Gründen bin ich in etwa so erregt wie zum letzten Mal am Sonntag, als ich kurz davor war zu kommen.
 

Zu allem Überfluss bekomme ich auch noch einen Ständer. Mitten auf dem beschissenen Schulhof.
 

Fuck. Was zum Teufel?
 

Alles für ein beklopptes Kompliment?
 

Ich gebe ein würdeloses Geräusch von mir und klatsche mir den Hand auf den Mund, während ich versuche meine Sitzposition so anzupassen, dass Tamino nicht mitbekommt, was gerade passiert.
 

Fuck, fuckfuckfuck.
 

»Nein?«, krächze ich und muss leider sagen, dass meine Stimme definitiv zwei Oktaven höher klingt als sonst. Tamino hat den Kopf schief gelegt und betrachtet mich interessiert. Als wäre ich ein sehr spannendes Forschungsobjekt. Mir wird heiß unter diesem Blick. Es hilft nicht, dass Cem und Feli mit ihren Einkäufen zurückkehren und Cem mich fragt, wieso ich aussehe wie eine Verkehrsampel.
 

»Ich—äh«, stammele ich geistreich. Tamino schmunzelt. Er sieht plötzlich ein bisschen gefährlich aus und ich beiße mir auf die Unterlippe, um nicht noch mehr peinliche Geräusche zu machen.
 

»Julius kann nicht gut Komplimente annehmen«, erklärt er scheinheilig.
 

Fuck.
 

»Huh? Also wenn ich ihm was Nettes sage, sieht er definitiv nicht so aus«, erklärt Cem unumwunden und drückt mir mehrmals hintereinander den Zeigefinger gegen die Wange.
 

»Hm«, macht Tamino, als wäre das die beste Information, die er je erhalten hat. Wenigstens verteilt er den Rest der Pause keine Komplimente mehr, sondern reicht Cem sein Diagramm und erklärt ihm, wie er es aufgebaut hat. Cem wirkt ehrlich interessiert und auch Feli beugt sich gespannt über die selbst gezeichnete Grafik, während sie Tamino andächtig lauscht.
 

Mein Gehirn ist unterdessen einfach stecken geblieben.
 

Ich versuche krampfhaft mich daran zu erinnern, ob Tamino mir nicht schon mal vorher ein Kompliment gemacht hat. Aber wahrscheinlich nicht in diese Richtung. Es liegt vielleicht auch einfach daran, dass meine Gefühle für Tamino sich geändert haben.
 

Gibt es tatsächlich Menschen, die fast in ihre Unterwäsche kommen wie peinliche 15-Jährige, nur weil das Objekt ihrer Begierde ihnen Komplimente macht? Gibt es sowas? Ist das ein Ding? Kann man das googeln, ohne vor Scham zu sterben, wenn man die Ergebnisliste anschaut?
 

Dann wiederum gibt es Menschen, die auf Füße oder Strumpfhosen oder die Bezeichnung »Daddy« stehen. Wenn das ein Fetisch ist, dann kommt er wahrscheinlich von mangelndem Selbstwertgefühl.
 

Ich will eigentlich nicht weiter darüber nachdenken.
 

Das Problem ist, dass Tamino… nicht aufhört.
 

Die ganze Woche über passiert es immer und immer wieder.
 

»Wow, das war ein beeindruckender Fallrückzieher.«
 

»Deine Haare sind so schön weich.«
 

»Gute Arbeit, die Aufgabe hätte ich selber nicht besser beantworten können!«
 

»Du riechst einfach so gut.«
 

»Dein Lachen macht mir gute Laune.«
 

Jedes Mal ist meine Reaktion dieselbe, manchmal gewürzt mit heftigem Herzklopfen, einfach weil Tamino diese Dinge sagt. Bei manchen von seinen Komplimenten frage ich mich benebelt, ob er mit mir flirtet, aber das ist absurd.
 

Das würde er nicht.
 

Tamino würde nicht…
 

Ugh, fuck.
 

Ich frage Cem und Feli diesbezüglich, aber beide können nicht genau sagen, ob das Taminos Art und Weise zu flirten ist, oder ob es einfach nur der normale, freundschaftsflauschige Tamino ist, auch wenn Cem anmerkt, dass Tamino weder mit ihm noch mit Feli auf dieselbe Art flauschig ist wie mit mir.
 

Das liegt aber vielleicht nur daran, dass wir schon länger befreundet sind.
 

Fuck, ich hab einfach keine Ahnung.
 

In einem Anflug von Verzweiflung schreibe ich Lotta eine Nachricht.
 

»Hey, sag mal. Wenn Tamino der Typ fürs Flirten wäre… wie würde das wohl aussehen?«
 

Ich traue mich über eine halbe Stunde lang nicht, diese dämliche Nachricht abzuschicken, ehe ich es schließlich über mich bringe und danach erstmal zwanzig Minuten duschen gehe, um mich zu beruhigen.
 

Als ich zurückkomme, habe ich eine Antwort.
 

»Sexual Innuendos und ein Haufen Komplimente. Kann ich aber nicht zu 100% sagen, weil er natürlich mit keinem von uns je geflirtet hat.«
 

Tamino macht mir gegenüber definitiv keine sexuellen Anspielungen. Dann wiederum weiß er, dass ich asexuell bin und findet es deswegen vielleicht unpassend.
 

Ich tigere mehrere Minuten durch mein Zimmer, bis ich schließlich zu dem Ergebnis komme, dass dieses ganze Gegrübel super dämlich ist, weil es irgendwie impliziert, dass Tamino was von mir will, was garantiert nicht der Fall ist. Wir sind gute Freunde. Wir sind…
 

Ugh.
 

Ich werde überhäuft mit Komplimenten und statt mich einfach darüber zu freuen und mich zu bedanken, werde ich in eine weitere Sexualkrise gestürzt. Kann ich nicht einfach mal normal auf Dinge reagieren? Was zum Henken ist eigentlich los mit mir?
 

Seit Sonntag haben Tamino und ich noch nicht die Gelegenheit gehabt, alleine miteinander zu sein. Das heißt, ich kann noch nicht genau sagen, ob die ganze Sache mit der körperlichen Nähe wieder komplett hergestellt ist, oder ob das alles nur gilt, wenn Feli und Cem neben uns auf dem Bett liegen.
 

Ich bin allerdings froh, dass ich mich getraut habe, diesen Schritt zu machen. Wahrscheinlich haben Feli und Cem sich absichtlich in die Ecke des Bettes verkrochen, damit Tamino und ich gezwungen sind, einander anzufassen. Leider führt mich dieser Gedankengang wieder zu Taminos kleinem Geräusch, das er gemacht hat und das wiederum sorgt zum achthundertsten Mal dazu, dass ich einen Ständer kriege, und langsam aber sicher habe ich wirklich die Schnauze voll davon.
 

Ich würde meine Hormone und meinen Körper gerne umtauschen.
 

Was für ein elender Scheiß.
 

Am Freitag verkündet Trainer, dass sie kein feindliches Verhalten irgendwelchen Minderheiten gegenüber in ihrer Mannschaft duldet und dass alle, die das nicht einsehen wollen—und an dieser Stelle ist sehr klar, dass sie mit Konstantin und Lennard gesprochen hat und es keine fruchtbare Unterhaltung war—mit einer anderen Mannschaft spielen gehen können. Alle wissen sofort, um wen es geht. Während Trainer erklärt, dass sie darüber auch mit der Direktion gesprochen hat und dass sie keinerlei Skrupel empfindet, diesbezüglich Eltern zu informieren, sehe ich aus den Augenwinkeln, wie Tamino mal wieder seine Finger im Mund hat.
 

Alle wissen irgendwie, dass es um Schwulenfeindlichkeit geht. Niemand außer uns—und Daniel—weiß, dass es um konkrete Menschen geht. Und ich kann die Frage auf den Gesichtern meiner Mannschaftskameraden sehen. Um wen genau geht es? Und auch Tamino sieht das.
 

Kein Wunder, dass er so nervös ist. Mit seiner letzten Mannschaft war das ein komplettes Desaster. Dann wiederum wurden aus seiner letzten Mannschaft auch nicht zwei Trottel für homophobes Verhalten suspendiert.
 

Ich muss schon sagen, dass die Stimmung im Team irgendwie angenehmer ist, jetzt da Konsantin und Lennard nicht mehr mit dabei sind.
 

»Kann ich... willst du vielleicht mit zu mir kommen?«, fragt Tamino mich auf dem Weg in die Umkleide. Zwei seiner Finger bluten.
 

»Klar. Wenn ich die Dusche benutzen darf«, sage ich breit grinsend und Tamino schmunzelt.
 

»Ich denke das lässt sich einrichten.«
 

Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie Cem und Daniel sich direkt nebeneinander umziehen. Cem ist sehr sorgfältig darauf bedacht, nicht in Daniels Richtung zu schauen—vielleicht unter anderem deswegen, weil er vor Daniel jetzt geoutet ist und nicht will, dass Daniel irgendwelche falschen Eindrücke kriegt.
 

Dann wiederum wäre der Eindruck, dass Cem Daniel scharf findet, absolut richtig.
 

Tamino folgt meinem Blick nach ein paar Sekunden und während Cem einen ziemlich guten Job hinlegt, einfach auf seine eigenen Sachen zu gucken und lässig nach seinem Shirt zu kramen, sind Daniels Augen bei weitem nicht so widerstandsfähig gegen die nackte Haut, die sich offenbart hat, seitdem Cem sein Trikot ausgezogen hat.
 

Dumpf frage ich mich, ob Daniel schon immer so geschaut hat und es mir einfach nicht aufgefallen ist, oder ob das Outing und die ganze Party irgendwas geändert haben.
 

Tamino wendet sich mir zu—ausschließlich in Jeans bekleidet und ich starre sehr konzentriert in sein Gesicht, als er sich zu mir beugt—und murmelt:
 

»Da hat aber jemand Hunger.«
 

Ich verschlucke mich fast an meiner eigenen Spucke und Tamino lacht leise, bevor er sich endlich sein Shirt über den Kopf zieht und mich von der Qual befreit seinen nackten Oberkörper weiter ansehen zu müssen.
 

Ich riskiere noch einen Blick hinüber zu den beiden. Cem hat definitiv noch nie so lange gebraucht, um sich umzuziehen. Tamino hat vermutlich schon erkannt, was mir bis vor einer Sekunde nicht klar war: Die schiere Berechnung von Cem, der zwar selber keinen zweiten Blick auf Daniel wirft, dafür aber mit geöffneter Jeans und nacktem Oberkörper mitten in der Umkleide steht und jetzt sein Handy checkt, als wäre das viel wichtiger, als möglichst schnell aus dieser stickigen Umkleide zu entkommen.
 

Was für ein Schlitzohr.
 

Ich schüttele amüsiert den Kopf und wende mich von den beiden ab, bevor ich noch Zeuge davon werden muss, wie Daniel anfängt zu sabbern.
 

»Wenn er sich meine Grafik zu Herzen nimmt, kann er uns vielleicht bald zwei neue Liebhaber vorstellen«, sagt Tamino unumwunden, als wir die Umkleide verlassen und Daniel und Cem zurückgelassen haben.
 

Ich hüstele trocken.
 

»Ist das schon die ganze Zeit so und ich habs einfach nicht gecheckt?«, will ich wissen.
 

Tamino sieht nachdenklich aus.
 

»Ich hab ehrlich gesagt nie so auf Daniel geachtet. Wir können Cem fragen«, sagt er und sieht beinahe ein wenig spitzbübisch aus, als würde ihn diese Entwicklung der Dinge ziemlich zufrieden machen. Ich versuche mir Cem als verliebten Trottel vorzustellen und scheitere kläglich.
 

Notgeil, gebongt.
 

Aber so richtig… so wie ich mich seit Monaten fühle? Daran scheitert mein Gehirn kläglich.
 

»Es ist doch schon super anstrengend in einen Menschen verliebt zu sein, wie um alles in der Welt schaffen Leute das mit mehreren Partnern?«, frage ich ohne weiter über meine Worte nachzudenken. Als Tamino etwas länger schweigt, als es vielleicht üblich wäre, lasse ich mir meine Aussage noch mal durch den Kopf gehen und dann ist es, als hätte jemand eine Lampe in meinem Kopf angeknipst und es geht sofort los mit Herzüberschlägen, hochroter Birne und schwitzigen Handinnenflächen.
 

Fuck, scheiß, FUCK!
 

Ich wage einen Blick zu Tamino hinüber, der neben mir hergeht, aber mich sehr eindringlich mustert. Fast schon, als würde er mich scannen wollen.
 

Shit, shit, shit, Juls, was zum Henker!?
 

Tamino öffnet den Mund, als würde er etwas sagen wollen, schließt ihn wieder und ich sehe, wie er kurz nervös die Finger aneinander reibt, als wären sie kalt und würde sie aufwärmen wollen.
 

»Ja. Ich weiß, was du meinst«, sagt er langsam und schiebt sich seine Brille hoch. Dann wendet er den Blick ab und guckt weiter geradeaus.
 

Ähm.
 

Huh?

where no man has gone before

Meine Gedanken sind eine Achterbahn.
 

Was soll das heißen, Tamino weiß, was ich meine?
 

Entweder es heißt, dass er schon mal so richtig volle Kanone verliebt war—und so klang es nicht, als wir über Moritz den elenden Sack geredet haben—oder... dass er in noch jemand anderen verliebt war, von dem ich nichts weiß, oder es bedeutet, dass er jetzt gerade verliebt ist.
 

Der einzige Kandidat dafür wäre Cem, aber Tamino und Cem haben beide gesagt, dass sie nicht auf diese Art aneinander interessiert sind.
 

Und wer anders sollte es sein, außer...?
 

Nein.
 

Nope, das macht keinen Sinn.
 

Das...
 

Vielleicht war er wirklich noch mal in wen anders verliebt, von dem ich nichts weiß?
 

Vielleicht hab ich den Satz auch falsch verstanden?
 

Mein Gehirn fühlt sich an, als hätte es jemand durch den Fleischwolf gedreht, als ich neben Tamino anhalte, während er die Haustür aufschließt und wir gemeinsam die Treppe zu seiner Wohnung hinaufsteigen.
 

Nach seiner letzten Aussage habe ich keinen einzigen Piep mehr gesagt, weil ich gedanklich so damit beschäftigt war, mich wie ein irre gewordener Kreisel zu drehen.
 

Tamino ist mit seinem Handy zugange, während er seine Schuhe achtlos in die Ecke des Flurs kickt und ich murmele hastig etwas von wegen Badezimmer, ehe ich unter die Dusche flüchte und dort wie ein begossener Pudel auf dem Boden sitze und mich beregnen lasse.
 

»Ja. Ich weiß, was du meinst.«
 

Ich glaube, ich sollte nicht eine halbe Stunde unter Taminos Dusche sitzen und vollkommen durchdrehen, aber ich bin mir auch fast sicher, dass Tamino recht schnell merken wird, dass irgendwas nicht stimmt. Was, wenn er fragt? Was, wenn ich ihn dann anlüge und er sieht, dass ich lüge und er fühlt sich schlecht, weil er denkt, dass er was falsch gemacht hat?
 

Argh.
 

Als ich mich endlich aus dem Bad traue, ist Tamino in der Küche zugange. Ich wurschtele mein nasses Haar zu einem Knoten zusammen und stelle mich neben ihn an den Küchentresen. Dumpf denke ich daran, dass ich ihn genau hier letztes Wochenende von hinten umarmt habe, während er Pfannkuchen gebraten hat.
 

»Ich hoffe, Curry ist ok?«, sagt Tamino. Ich werfe ihm einen Blick von der Seite zu. Er wirkt erstaunlich entspannt dafür, dass ich mich verhalte wie ein Reptil in Winterstarre. Normalerweise ist es ja eher anders herum.
 

»Jap«, gebe ich zurück und hoffe, dass meine Stimme nicht so heiser klingt, wie es sich in meinen Ohren anhört. »Soll ich was helfen?«
 

Tamino gluckst heiter.
 

»Damit du dir wieder die Finger abschälst?«, fragt er amüsiert.
 

»Hey! Ich bin Profi im Mohrrüben schälen, ich hatte einen exzellenten Lehrer!«
 

Tamino lacht und ich sauge das Geräusch auf wie ein staubiger Schwamm.
 

»Dann kannst du Möhren schälen. Und vielleicht den Spinat waschen. Und—ach, mach das erstmal fertig und dann kriegst du neue Anweisungen«, sagt er und ich sehe kurz zu, wie er Hähnchen klein schneidet, ehe ich mich zum Kühlschrank wende und nach Möhren suche.
 

»Aye, aye, Captain«, sage ich.
 

»Das bin ich aber nur beim Kochen«, sagt Tamino grinsend und streut Salz und Pfeffer über das Hähnchenfleisch, während ich anfange sehr umsichtig die Möhren zu schälen.
 

Leider ist mein Gehirn ein elender Verräter und versorgt mich mit dem Zusatz »Und im Bett«, was meine Wangen sofort hitzig explodieren lässt und ich lasse prompt meine Möhre fallen.
 

Juls, reiß dich zusammen!
 

Ich zerhackstücke ein paar Möhren, wasche Spinatblätter, packe Brokkoliröschen mit einem nassen Zewatuch in die Mikrowelle und reiche Tamino Dinge aus dem Vorratsschrank, von denen ich noch nie vorher gehört habe. Aber es riecht ziemlich gut, also werde ich mich nicht beschweren.
 

»Bevor ich von zu Hause ausziehe, sollte ich mir von Mama einen Crashkurs geben lassen«, sage ich, während ich Tamino dabei zusehe, wie er Gemüse und Fleisch in der Pfanne brät. Ich kann mich schließlich nicht mein Leben lang von Instant-Nudeln und Pizza ernähren.
 

»Gute Idee. Momentan bist du eindeutig nicht lebensfähig«, stimmt Tamino mir zu und ich boxe ihm empört gegen den Oberarm.
 

»Hey! Ist es nicht dein Job mir zu erzählen, was ich für ein toller Typ bin?«, klage ich und verschränke die Arme vor der Brust. Ich erkenne meinen Fehler leider zu spät. Erst als Tamino sich zu mir umdreht, ein beunruhigend diabolisches Schmunzeln auf dem Gesicht und sich ein wenig vorbeugt, bis er mir direkt in die Augen schauen kann.
 

»Julius«, sagt er und ich kriege prompt eine Gänsehaut und lehne mich automatisch ein bisschen zurück, während mein Herz beschließt, dass es wieder Zeit für ein bisschen Chaos in meiner Brust ist, »du bist großartig, umwerfend, wunderbar, liebenswert—«
 

Ich gebe ein Geräusch von mir, dass gut von einer in den letzten Atemzügen liegenden Gazelle hätte stammen können und flüchte aus der Küche. Taminos Lachen folgt mir in den Flur und ich schließe viel zu laut und hastig die Badezimmertür hinter mir.
 

Mein Gesicht sieht aus wie eine Verkehrsampel, als ich in den Spiegel schaue.
 

Fuck.
 

Mir ist so heiß, als hätte Tamino mich geradewegs in einen Vulkan geschubst und meine Erregung ist von null auf hundertachtzig geschossen. Was um alles in der Welt ist eigentlich falsch mit mir?
 

Und... und außerdem...
 

Das war Absicht.
 

Es war definitiv Absicht.
 

Meine Fresse, ich brauche ein Beatmungsgerät. Und ein neues Gehirn. Und meine Würde zurück.
 

Um mein Gesicht zu wahren, drücke ich die Spülung, obwohl ich nicht wirklich das Klo benutzt habe und gehe zurück in die Küche, weil ich keine Ausrede habe, das nicht zu tun. Meine Hose fühlt sich immer noch ein wenig zu eng an für meinen Geschmack und mein Gesicht sieht eindeutig immer noch aus wie eine reife Tomate.
 

Tamino summt gut gelaunt vor sich hin und es riecht mittlerweile ausgesprochen fantastisch nach Curry.
 

»Kannst du Teller und Besteck rausholen?«, fragt Tamino und ich höre eindeutig, dass er verschmitzt klingt. Ich weiß wirklich nicht, was eigentlich los ist. Unweigerlich denke ich an das, was er vorhin gesagt hat.
 

Er weiß, was ich meine.
 

Wie wahrscheinlich ist es, dass man sich in einen guten Freund verknallt und der zufällig auch an einem interessiert ist? Wie wahrscheinlich ist es überhaupt, dass zwei Leute, die sich durch sowas Beklopptes wie Nachhilfe kennenlernen, beide auf Männer stehen? Allein das ist doch vollkommen absurd. Wie genau funktioniert dieser ganze Mist überhaupt?
 

Das Universum hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank.
 

Ich krame mit rasendem Herzen und kreiselnden Gedanken nach Besteck und Geschirr, während Tamino noch einmal den Reis umrührt und die Pfanne vom Herd nimmt. Dann beladen wir beide unsere Teller und verziehen uns in Taminos Zimmer und hocken uns aufs Bett.
 

»Bist du bereit für Klingonen?«, fragt Tamino. Ich könnte schwören, dass seine Augen funkeln und ich bin mir nicht sicher, ob das irgendwas mit den angekündigten Klingonen zu tun hat, oder immer noch mit der Szene von gerade eben.
 

»Du weißt, dass ich seit Staffel eins drauf warte«, gebe ich zurück und schaffe es meine Stimme lässig klingen zu lassen. Ich bringe sogar ein Grinsen zustande und platziere ein Kissen an der Wand, um es mir dort bequem zu machen, während Tamino seinen Laptop zu sich angelt und die entsprechende DVD einlegt.
 

Wir essen unser Curry und ich lerne offiziell Commander Worf kennen. Tamino und ich sitzen Schulter an Schulter, was eine große Verbesserung ist zu den Tagen, an denen wir Sicherheitsabstand gehalten haben, aber wenn es nach mir ginge, würde ich gerne wieder in Tamino hinein krabbeln.
 

»Kann ich dich was fragen?«, sagt Tamino zögerlich, während Garak Captain Siskos Maße nimmt. Ich nicke abgelenkt und beobachte weiter, was auf dem Bildschirm passiert, als Finger sich behutsam um meine Hand legen und anfangen, vorsichtige Muster auf den Handrücken zu malen. Mein Körper fängt sofort an zu kribbeln wie ein Glas mit Brausepulver.
 

»Mit...äh. Mit Katharina. Was du erzählt hast? Glaubst du... glaubst du das war, weil sie ein Mädchen ist oder... ähm... wegen Sex so ganz generell?«
 

Ich blinzele verwundert, als die Frage ihren Sinn in meinem Kopf hinterlässt. Ich hab noch nie darüber nachgedacht. Es war insgesamt alles eher nicht so gut. Was nicht unbedingt an Katharina lag, sondern vor allem daran, dass ich eigentlich gar nicht wirklich wollte und mich nur drauf eingelassen habe, weil alle es gemacht und dauernd drüber geredet haben.
 

Ich glaube, es hat letztendlich keine drei Minuten gedauert und dabei ist noch nicht mal irgendwer gekommen—weder Katharina, noch ich. Wie zum Geier ich überhaupt einen hochkriegen konnte, kann ich auch nicht mehr genau sagen, aber es war von vorne bis hinten fürchterlich.
 

»Hm«, sage ich und lehne meinen Kopf gegen die Wand hinter mir. »Weiß nicht. Ich hab nichts zum Vergleichen. Also, es lag bestimmt schon auch dran, dass sie ein Mädchen war. Aber keine Ahnung, obs wegen Sex generell so gewesen ist, ich hab... äh... ich hab noch nie mit nem Jungen... und so.«
 

Ich hüstele verlegen und fahre mir durch die immer noch feuchten Haare.
 

Tamino summt zustimmend.
 

»Und... wenn du eine Beziehung hättest. Mit einem Jungen. Heißt das, du würdest es ausprobieren wollen?«
 

Meine Augen huschen zu Tamino hinüber, der immer noch sehr interessiert den Bildschirm anstarrt, aber auch auf seiner Unterlippe herumkaut.
 

Mein Herz überschlägt sich beim Gedanken daran, eine Beziehung mit Tamino zu haben und Sex mit ihm auszuprobieren.
 

Tja.
 

Ich nehme an, das beantwortet die Frage ohne Gewähr erstmal mit ja.
 

»Ähm... Ja? Also, vielleicht, äh. Vielleicht nicht gleich die volle Breitseite...?«
 

»Oh. Achso, ja. Ich meine so... ganz generell.«
 

»Ja. Ja, ich denk schon.«
 

Meine Stimme klingt sehr heiser.
 

Wenn die Anzahl an Ständern in der letzten Zeit und die Menge an Masturbationsabenteuern ein Indiz ist, dann bricht wahrscheinlich jeder Damm sobald sich mir die Möglichkeit bietet.
 

Taminos Finger zeichnen immer noch Muster auf meinen Handrücken.
 

Ich denke an Taminos Geschichte mit Moritz und an das Rummachen mit Cem und daran, dass Tamino kein kleines bisschen asexuell ist. Ich räuspere mich.
 

»Ist ja wahrscheinlich nicht so geil... so... als jemand, der Sex gut findet. Mit wem Asexuelles zusammen zu sein.«
 

Mir ist klar, dass wir uns in gefährlich spezifisches Territorium begeben, aber dann wiederum hab ich das Gefühl, wir sind schon seit der Unterhaltung nach der Schule dort angekommen. Ich hoffe so inständig, dass nicht nur ich das so sehe, sondern dass es wirklich so ist.
 

Sonst müsste ich leider das Land verlassen.
 

Dumpf erinnere ich mich an Cems Stimme, die mir sarkastisch mitteilt, dass es in Italien ganz bestimmt keine hübschen Nerds mit Brille und langen Beinen gibt, in die ich mich verlieben könnte.
 

»Ich hab zwei gesunde Hände«, sagt Tamino spitzbübisch und ich verschlucke mich prompt an meiner eigenen Spucke und Tamino lacht neben mir, während ich vor mich hin röchele. Ich kann mich kaum auf die dramatische Kampfszene zwischen klingonischen Schiffen und der Raumstation konzentrieren, weil ich gedanklich zu sehr damit beschäftigt bin, mir Tamino beim Masturbieren vorzustellen und darüber zu sinnieren, dass er gerade quasi gesagt hat, dass es ihn nicht stören würde, falls ich doch keinen Sex wollen würde.
 

Wenn wir in einer Beziehung wären.
 

Was wir nicht sind.
 

Argh.
 

»Hey, Julius«, sagt Tamino leise und pausiert die Folge. Ich atme einmal tief ein.
 

»Hm?«
 

»Auf der Party...«
 

»Die Abiparty?«
 

»Nee... die... die in der ‚Wunderbar‘.«
 

Oh.
 

Ich schlucke und drehe den Kopf.
 

»Hm?«, mache ich erneut. Ich glaube meine Kehle könnte keine sinnvoll zusammenhängenden Worte bilden, selbst wenn ich wollte. Irgendwie war mir klar, dass wir darüber noch mal reden müssen, aber ich hatte es schon halb wieder vergessen, seit sich diese ganze Sicherheitsabstandsgeschichte wieder eingerenkt hat.
 

»Ich... ähm. Ich weiß immer noch nicht, wieso—«
 

Tamino bricht ab und seufzt. Ich komme mir vor wie ein Arschloch, weil ich die ganze Sache immer noch nicht erklärt habe und er das die ganze Zeit mit sich rumschleppt. Als er versucht, seine Hand wegzuziehen—vermutlich, weil er den Impuls hat, an seinen Fingern herumzukauen—halte ich sie fest und schaue Tamino an.
 

Tamino sieht jetzt ausgesprochen unsicher aus, nachdem er noch vor ein paar Minuten über Masturbation gescherzt hat. Ich starre ihn an. Dunkel erinnere ich mich an eine Party, auf der ich besoffen mit Cem zum ersten Mal darüber gesprochen habe, dass Cem Tamino scharf findet. Ich weiß noch, dass er von mir wissen wollte, ob ich Tamino auch scharf finde.
 

Damals hab ich gesagt, dass ich es nicht weiß.
 

Aber wenn ich ihn jetzt anschaue mit den schwarzen Locken, der braunen Haut, den fast schwarzen Augen hinter den eckigen Brillengläsern und den vollen Lippen, die gerade von ausgesprochen weißen Zähnen in die Mangel genommen werden, weiß ich nicht, wie um alles in der Welt ich je denken konnte, dass ich ihn nicht viel zu schön für mein eigenes Wohl finde.
 

»Ja. Ich weiß, was du meinst.«
 

»Julius, du bist großartig, umwerfend, wunderbar, liebenswert—«
 

»Und... wenn du eine Beziehung hättest. Mit einem Jungen...«
 

Ich wende mich Tamino zu, sodass ich neben ihm auf dem Bett knie. Er blinzelt verwirrt und seine Augen werden groß, als ich beide Hände nach seinem Gesicht ausstrecke, meine Finger in seinen Nacken schiebe und mit den Daumen kurz über seine Wangen streiche.
 

Dann küsse ich ihn auf den Mund.
 

Es ist, als hätte jemand in meinem Magen ein Feuerwerk angezündet. Ich gebe ein absolut peinlich schmachtendes Geräusch von mir, als ich Taminos Lippen an meinen spüre und für eine Millisekunde denke ich, dass ich mich geirrt habe, denn Tamino scheint in eine Schockstarre verfallen zu sein.
 

Dann plötzlich werde ich in seinen Schoß gezerrt und lange Finger, über die ich schon viel zu viel fantasiert habe, schieben sich in meine Haare, lösen mein Zopfgummi und krallen sich in mein Shirt, als würden sie mich davon abhalten wollen, wegzulaufen.
 

Ich wollte noch nie weniger dringend vor irgendetwas weglaufen.
 

Mein Herz stürzt sich in einen Sprint, während ich mich so dicht an Tamino presse, wie es mir möglich ist. Er küsst mich so stürmisch, dass mir ganz schwindelig wird und ich keuche peinlich hingerissen gegen seine Lippen, als seine Zunge ihren Weg in meinen Mund findet.
 

Fuck, fuck, fuck.
 

Ich hab definitiv noch niemals jemanden so geküsst. Mein Gehirn ist leer—wahrscheinlich, weil all mein Blut sich aus meinem Kopf in meinen Schritt zurückgezogen hat.
 

Tamino lässt mein Shirt los und schlingt den nun freien Arm um mich, schiebt seine Finger unter den Stoff meines Oberteils und berührt dort meine nackte Haut.
 

Ich würde gerne sagen, dass ich nicht wimmere. Aber es wäre eiskalt gelogen.
 

Vage und sehr verschwommen erinnere ich mich daran, dass Tamino mir eine Frage gestellt hat.
 

»Des—deswegen«, keuche ich gegen seinen Mund, bevor ich erneut meine Lippen auf seine presse.
 

»Weil du zu gut küssen kannst und ich dann Gefahr gelaufen wäre, auf der Tanzfläche in meine Jeans zu kommen?«, entgegnet Tamino heiser und drückt mehrere kleine Küsse auf meinen Mund, meine Wange und schließlich auf meinen Hals.
 

Fuck.
 

Das Kompliment rauscht über mich hinweg wie eine Woge heißen Wassers und ich beiße mir heftig auf die Unterlippe, um nicht noch mehr peinliche Geräusche zu machen.
 

»N—nein, weil... weil... du dann sofort gewusst hättest, dass ich—ah!«
 

Tamino hat seine Lippen in meine Halsbeuge gepresst und ich spüre seine Zähne und seine Zunge an meiner nackten Haut. Mein Inneres besteht nur noch aus einer Mischung aus Wackelpudding und Lava, während Tamino meinen Hals küsst und sich ein Kribbeln in mir ausbreitet, das all meine Nervenenden in Flammen setzt.
 

Oh Gott.
 

Taminos Hand ist von meinem Rücken zu meinem Hintern gewandert und ich merke eindeutig, wie er seinen Unterkörper nach oben gegen meinen Schritt drückt. Ich kralle meine Finger in sein Haar und gebe ein würdeloses Stöhnen von mir, ziehe eine meiner Hände von seinem Kopf zurück und presse sie mir auf den Mund. Aber ehe ich es mich versehe, haben sich Finger um mein Handgelenk gelegt.
 

»Ich mag diese Geräusche«, flüstert Tamino.
 

Fuckfuckfuckfuckfuck
 

»Also... du hattest Angst mich zu küssen, weil ich dann gewusst hätte, dass...«
 

Taminos Mund beschäftigt sich wieder mit meinem Hals und findet schließlich mein Ohr.
 

»Wenn du willst, dass ich—ah—rede, musst du das lassen«, keuche ich und winde mich in Taminos Schoß, was eine absolut schlechte Idee war, da meine Erektion davon viel zu begeistert ist und Tamino zittrig gegen meinen Hals atmet, als ich es mache, was erstens viel zu heiß klingt und mir zweitens eine heftige Gänsehaut beschert.
 

Dann ziehen sich Mund und Hände von mir zurück und ich beobachte aus glasigen Augen, wie Tamino beide Hände unter seine Oberschenkel schiebt, als müsste er sich körperlich davon abhalten, mich weiter anzufassen. Mein Herz krepiert gleich in meinem Brustkorb. Es hat bereits die Schlagfrequenz eines Kolibris erreicht.
 

»Du verlangst ganz schön viel«, sagt Tamino. Seine Augen leuchten.
 

Meine Fresse, ich bin so schrecklich verliebt, ich brauch ein Beatmungsgerät und eine halbe Flasche Rum.
 

»War ‘ne dumme Idee. Reden wird überbewertet«, sage ich vollkommen außer Atem, als hätten wir zwei Stunden ausgiebig Training gehabt. Tamino lacht.
 

»Hm... je schneller du redest, desto eher kann ich weitermachen«, sagt er schmunzelnd und legt den Kopf schief.
 

Oh, fuck.
 

Ich bin am Arsch, erledigt, dem Tod geweiht.
 

»Ok. Also—ich... ich äh... weißt du noch, wie ich vorhin gesagt hab, dass es anstrengend ist, verliebt zu sein?«, krächze ich. Meine Stimme klingt, als wäre ich in einen zweiten Stimmbruch gekommen.
 

Ich höre Tamino sehr bewusst und tief einatmen.
 

Er nickt.
 

»Ich... also—da... ähm. Da hab ich... von dir geredet?«
 

Feigling.
 

Sag: Ich bin verliebt in dich.
 

Aber mein Herz drückt auf meinen Kehlkopf und ich bringe es einfach nicht über mich. Mein Gesicht sieht wahrscheinlich wieder aus wie Erdbeermarmelade.
 

Obwohl ich mich selbst sehr streng für meine Worte ins Gebet genommen habe, werden Taminos Gesichtszüge weich. Es sieht ein bisschen aus, als würde er leuchten. Sein Lächeln ist eine ganze Supernova.
 

Ich glaube, ich muss sterben.
 

»Hmm... ich hatte sehr Angst, dass ich das falsch verstanden habe«, murmelt er liebevoll. Jetzt, wenn ich ihn so anschaue, sieht er genauso schmachtend aus wie ich mich fühle.
 

»Hast du nicht«, sage ich peinlich berührt. »Auch, wenn’s n Versehen war.«
 

»Ein gutes Versehen.«
 

»Oh, ja«, seufze ich zufrieden. Ich will Taminos Hände zurück. Und seinen Mund.
 

Ugh.
 

»Darf ich dich noch mehr küssen?«, fragt Tamino sanft.
 

»Oh Gott, bitte«, krächze ich und er lacht , zieht seine Hände unter seinen Oberschenkeln hervor und umfasst mein Gesicht, bevor er mich wieder auf den Mund küsst. Wenn ich den Rest meines Lebens nicht anderes mehr machen muss, als Tamino zu küssen, wäre ich sehr zufrieden.
 

Jede Berührung unserer Zungen schickt Gefühle durch meinen Körper, die sich eindeutig wie Stromschläge anfühlen und die sich sehr überdeutlich in meiner Hose bemerkbar machen. Als Tamino beide Hände unter meinen Hintern schiebt und mich ganz problemlos in eine liegende Position und von sich herunter manövriert, muss ich mich sehr zusammenreißen nicht sofort in meine Boxershorts zu kommen.
 

Ehe ich es mich versehe, liegt er zwischen meinen Beinen, sein Unterkörper gegen meinen gedrückt. Die Tatsache, dass er genauso erregt ist wie ich lässt eine Hitzewelle nach der anderen in mir aufsteigen.
 

»Ok?«, flüstert er gegen meinen Hals.
 

Ich nicke hastig.
 

»So—sowas von ok«, krächze ich. Vielleicht klammere ich mich sehr verzweifelt und rallig wie noch nie in in meinem ganzen Leben an ihm fest. Vielleicht mache ich unendlich viele peinliche Geräusche, während Tamino mich überall dort küsst, wo er nackte Haut erreichen kann. Vielleicht wimmere ich ziemlich hilflos gegen seine Schulter, als er anfängt, immer und immer wieder seinen Unterkörper gegen meinen zu drücken.
 

Vielleicht komme ich wie ein Vierzehnjähriger in meine Boxershorts.
 

Vielleicht ist das schrecklich peinlich, aber auch ein bisschen egal, weil Tamino mich anschaut, als wäre ich das Allerbeste, das er in seinem Leben je gesehen hat.

Beziehungen

»Seit wann?«, frage ich in Julius‘ Haar.
 

Er liegt in Boxershorts neben mir auf dem Bett. Ich kann nicht ganz genau sagen, ob er immer noch knallrot im Gesicht ist, aber ich kann es mir gut vorstellen. Mich stört es kein bisschen, dass Julius offensichtlich so wahnsinnig empfindlich auf alles reagiert, was ich mit ihm anstelle. Im Gegenteil. Tatsächlich würde ich sagen, dass es das Beste ist, was mir je passiert ist.
 

Es ist ein bisschen so, als würde Julius aus Papier bestehen und jede meiner Fingerspitzen ist ein brennendes Streichholz. Ich werde nie wieder aufhören ihn anzufassen, damit ich für immer diese wunderbaren Geräusche hören kann, die er macht.
 

»Hm. Weißt du noch, als wir Rum getrunken haben, bevor du in die Sommerferien gefahren bist?«
 

Ich blinzele. Das ist Monate her.
 

»Ja. Ich hab dir vorgelesen und auf Französisch vorgesungen«, sage ich. Mein Herz wird ganz warm bei dem Gedanken daran.
 

»Jap. Da ist es mir aufgefallen. Aber…ähm. Ich glaub ganz ehrlich, dass es schon vorher losging. Ich war nur zu dumm es zu checken.«
 

Ich schnaube liebevoll und fahre Julius durchs Haar. Es ist mittlerweile ganz getrocknet, nachdem er vorhin geduscht hat und ich bin seitdem ununterbrochen damit beschäftigt, mit einer Hand sein Haar zu streicheln und mit der anderen so viel nackte Haut anzufassen wie möglich.
 

Das hat dazu geführt, dass Julius innerhalb von anderthalb Stunden, die wir jetzt auf dem Bett verbracht haben, schon drei Mal gekommen ist. Er trägt frische Boxershorts von mir, nachdem er damit fertig war, sich unter meinem Kissen zu verstecken.
 

»Du?«, will er leise wissen.
 

»Du darfst nicht lachen.«
 

»Ok.«
 

»Ok, weißt du noch, als du und Cem und Feli hier wart, als es mir mies ging und wir Pizza bestellt haben?«
 

»Hmhm.«
 

»Als Feli gefragt hat, was ich für Pizza esse und du direkt geantwortet hast… da ist es mir aufgefallen.«
 

Julius schweigt einen Moment lang. Dann gluckst er leise.
 

»Hey! Du hast gesagt, du lachst nicht«, klage ich schmunzelnd. Er löst sich ein wenig von mir, um den Kopf zu drehen und mich anzuschauen. Mein Herz stolpert, als seine Augen meine finden und er mich so liebevoll anlächelt, dass ich ihn eigentlich direkt wieder überfallen möchte.
 

»Seltsam, aber süß«, sagt er grinsend. Ich schnaube und drücke meine Stirn gegen seine.
 

»Vielleicht auch schon vorher. Aber da wusste ich es«, erkläre ich. Wenn man mir am Anfang der Nachhilfe gesagt hätte, dass ich mal quasi nackt mit Julius auf meinem Bett liegen und darüber reden würde, wann sich wer in wen verliebt hat, dann hätte ich sehr darüber gelacht und den Kopf geschüttelt.
 

Jetzt ist alles eine rosa Wattewolke aus weichen, liebevollen Gefühlen und immer mal wieder aufflammenden Sehnsüchten, die mich dazu auffordern, Julius überall zu küssen und mit allem, was ich habe, um den Verstand zu bringen. Allerdings habe ich den Eindruck, dass ich mich ein wenig zurückhalten sollte.
 

Immerhin ist Julius‘ Beziehung zu Sex weitestgehend negativ bis unerforscht. Obwohl ich jetzt immerhin schon rausgefunden habe, dass Handjobs mit ziemlich großem Enthusiasmus aufgenommen werden.
 

Ich glaube, mein Grinsen sieht ganz schön verschwommen aus.
 

»Sind wir jetzt… sind wir jetzt offiziell Tamino und Julius?«, nuschelt Julius in meine Halsbeuge. Mein Herz macht ein paar Saltos.
 

»Ich meine… ich würde gerne? Aber… äh… Also. Nur, wenn du auch—«
 

»Hmhm. Definitiv.«
 

»Oh. Ok! Ok.«
 

Alles in mir kribbelt. Meine Augenwinkel brennen ein bisschen.
 

»Es tröstet mich ein bisschen, dass ich dein erster Freund bin«, sagt Julius dann und grinst mich an. Ich blinzele.
 

»Worüber tröstet dich das hinweg?«
 

»Naja. Wo du schon sonst von allem—ähm. Mehr Ahnung hast«, erklärt er und wird prompt wieder rot. Ich muss lachen und er versteckt sein Gesicht wieder an meinem Hals.
 

»Dann können wir jetzt zusammen die Beziehungsgewässer testen«, sage ich liebevoll. Julius nickt, ehe wir wieder in Schweigen verfallen und Julius‘ Finger immer wieder am Bund meiner Boxershorts entlangwandern.
 

Ich versuche angestrengt nicht schon wieder auf dumme Gedanken zu kommen.
 

»Übrigens«, sage ich leise, als ich mich an unser Gespräch über hypothetische Beziehung von vorhin erinnere. »Macht es mir nichts aus… wegen. Wegen deiner Asexualität? Wenn du keinen Sex möchtest. Sag einfach… ähm… ich muss nur wissen, wo stop ist. Nicht, dass ich nicht sowieso vorher fragen würde! Aber ich meine nur, du kannst mir sagen, wenn du irgendwas nicht—«
 

Finger legen sich auf meinen Mund und stoppen meinen verbalen Ausbruch. Ich drücke automatisch einen Kuss gegen Julius‘ Zeigefingerspitze und sehe ihn aus dem Augenwinkel lächeln.
 

»Ok. Vielleicht—ähm. Vielleicht können wir’s einfach so nehmen wie’s kommt«, sagt er.
 

»Ok.«
 

Einen Moment Schweigen. Dann…
 

»Danke…«
 

»Dafür, dass du mir wichtiger bist als Sex?«, frage ich halb amüsiert, halb empört.
 

»Naja! Ich glaub, nicht jeder wäre so verständnisvoll!«
 

Ich schnaube und hebe den Kopf, um Julius ins Kissen zu drücken und ihn zu küssen. Ich glaube, ich kann nie wieder irgendwas anderes machen. Vielleicht müssen wir uns die letzten Staffeln von Deep Space Nine abschminken. Wie soll ich 45 Minuten am Stück mit Julius auf meinem Bett sitzen und ihn nicht alle zwei Minuten beduselig knutschen?
 

»Ich hab noch eine Frage«, sagt Julius leicht außer Atem, als ich meinen Mund von seinem löse, um sein gerötetes Gesicht zu betrachten. Ich möchte jede Sommersprosse einzeln küssen.
 

»Hm«, mache ich und fange an, auf jeden Millimeter seines Gesichts Küsse zu verteilen. Finger finden ihren Weg in mein Haar und ich höre ein sehr leises, hingerissenes Seufzen.
 

»Ähm… Können wir das noch ein bisschen unter der Decke halten? Also. In der Schule?«, fragt Julius.
 

Ich höre das Zögern in seiner Stimme und die Unsicherheit. Aber ich verstehe—wahrscheinlich sogar noch besser als er—warum er das fragt und warum er es sich wünscht.
 

»Auf jeden Fall«, murmele ich zwischen zwei Küsse auf Julius‘ Stirn. »Aber meinen Freunden darf ich es erzählen?«
 

»Oh. Ja, klar. Ich, äh. Ich hab auch schon mit Lotta über die ganze Sache geredet«, gesteht Julius und ich muss schmunzeln. Das erklärt Lottas vehemente Dringlichkeit darüber, dass ich unbedingt mehr mit Julius flirten soll. Als ich ihr vorhin auf dem Nachhauseweg geschrieben habe, dass Julius sich verplappert hat darüber, dass er verliebt ist, war sie vollkommen aufgelöst.
 

Lotta

NATÜRLICH MEINT ER DICH!!!!! SAG WAS! TU WAS! LASS IHN NICHT IN DER LUFT HÄNGEN!!!!!!
 

Ich grinse bei der Erinnerung an ihre Aufregung. Wahrscheinlich sollte ich ihr beizeiten schreiben, damit sie nicht noch anfängt zu hyperventilieren. Vielleicht hat sie Noah und Anni schon alarmiert.
 

»Willst du’s Cem und Feli sagen?«, frage ich. Ich bin jetzt in der Nähe von Julius‘ Ohr angekommen und mein Atem streift seine Ohrmuschel. Ich beobachte voller Hingabe und Begeisterung, dass er prompt eine Gänsehaut auf den Unterarmen bekommt. Ich kann es mir nicht verkneifen und schließe kurz sachte meine Zähne um sein Ohrläppchen.
 

Julius macht ein wunderbares Geräusch und drückt sich sofort wieder die Hand auf den Mund.
 

Ich widme mich seinem Kieferknochen, damit er ein bisschen durchatmen kann.
 

»Ich glaub nicht, dass ich das vor Cem geheim halten könnte. Will ich auch gar nicht. Die beiden werden’s schon niemandem sagen«, sagt Julius mit heiserer Stimme, kurz bevor ich wieder bei seinem Mund ankomme.
 

»Nimm’s mir nicht übel, wenn ich dich nicht offiziell meinem alten Mann vorstelle«, murmele ich gegen Julius‘ Lippen. Er schnaubt und schlingt seine Arme um meinen Oberkörper.
 

»Keine Sorge.«
 

Dann zieht er mich ganz auf sich und küsst mich und ich denke, wir haben erstmal genug geredet.
 

*
 

Lotta

I’M SO HAPPY I’M GONNA DIE
 

Noah

herzlichen glückwunsch man <3 ich freu mich für euch :-)
 

Anni

fucKING FINALLY YOU DOOFUS (lieb dich <3)
 

*
 

»Oh mein Gott, ich kann’s nicht ertragen. Ihr seid schrecklich«, stöhnt Cem.
 

»Stell dich nicht so an«, meint Feli gespielt streng und beißt sich auf die Unterlippe, um nicht zu lachen.
 

»Guck sie dir an, Alter! Schlimmer als Zuckerwatte«, gibt Cem zurück.
 

Julius sitzt auf meinem Schoß. Er hat sich sehr gesträubt, aber ich habe darauf bestanden und jetzt umarme ich ihn von hinten wie ein Oktopus, während Feli und Cem auf meinem Bett sitzen, ein Berg Englisch-Unterlagen vor ihnen ausgebreitet.
 

»Ich mag Zuckerwatte«, murmele ich gegen Julius’ Schulter.
 

Cem stöhnt erneut und fährt sich mit der Hand über das Gesicht. Ich weiß, dass es ihn nicht wirklich stört, deswegen bin ich vor allem amüsiert über seine Reaktion.
 

»Wie läuft’s denn so mit Daniel?«, will Julius wissen und auch wenn ich sein Gesicht nicht sehen kann, ist mir klar, dass er verschmitzt grinst.
 

»Hä? Was soll denn da laufen? Der blöde Penner kann mich mal«, sagt Cem ungehalten und klappt sein Englischbuch so energisch zu, dass Feli neben ihm zusammenzuckt.
 

»Ok? Was hat er verbrochen?«, fragt Feli.
 

Cem wirft ihr einen ungnädigen Blick zu.
 

»Nichts. Seit neustem kann er anscheinend nicht mehr neben mir sitzen. Bin ihm wahrscheinlich zu schwul. Vielleicht hat er Angst sich anzustecken«, mault er und verschränkt die Arme vor der Brust.
 

»Seit wann will er nicht mehr neben dir sitzen?«, fragt Julius verwirrt.
 

»Alter, weiß ich doch nicht. Hab mich gestern in Physik neben ihn gesetzt und er ist mit seinem verfickten Stuhl von mir abgerückt, als hätt‘ ich die Pest, ey. Blöder Wichser«, knurrt Cem.
 

»Wahrscheinlich ist er in Panik ausgebrochen, weil er gemerkt hat, dass er auf dich abfährt«, sagt Julius. Ich stimme ihm im Stillen zu, bin aber auch voller Verständnis dafür, dass Cem darauf wenig Lust hat. Und kaufen kann er sich davon auch nichts, wenn Daniel sich mit seiner neugewonnenen Erkenntnis so verhält.
 

»Is‘ ja schön für ihn, aber es gibt auch Leute, die mich geil finden und nicht ihren scheiß Stuhl von mir wegrücken, also denk ich mal eher nicht, dass ich mich damit weiter auseinander setzen will«, murmelt Cem und ersticht mit einem Bleistift das Arbeitsblatt, mit dem er gerade zugange ist.
 

»Wie Anish?«, will Julius wissen.
 

»Zum Beispiel wie Anish. Der übrigens nächste Woche mit mir Klettern gehen will. Und vielleicht ein Eis essen. Ich geh stark davon aus, dass er seinen Stuhl nicht von mir wegrückt, wenn wir zusammen nen verfickten Erdbeerbecher teilen.«
 

Cem flucht heute in der Tat besonders viel. Er scheint wegen dieser ganzen Daniel-Sache wirklich ausgesprochen unleidig zu sein und ich kann es ihm kaum verübeln. Julius dreht sich auf meinem Schoß um und wirft mir einen fragenden Blick zu. Ich zucke mit den Schultern und rucke mit dem Kopf in Richtung Cem, um Julius zu bedeuten, dass das ja schließlich sein bester Freund ist.
 

»Tut mir echt Leid, Alter. Dass Daniel so’n Pfosten ist«, sagt Julius. Cem sieht einen Moment lang so aus, als würde er eigentlich gerne verächtlich schnauben und laut verkünden, dass es ihm doch scheiß egal ist, was genau Daniels Problem eigentlich ist. Aber er entscheidet sich dagegen und fährt sich erneut mit der Hand übers Gesicht.
 

»Ich kenn den blöden Saftsack seit der fünften Klasse, man. So bescheuert hat er sich nicht mal verhalten, nachdem wir rumgemacht haben«, murmelt Cem. Ich frage mich dumpf, ob Cem den Kumpel vermisst, den er mal hatte. Im nächsten Augenblick bestätigt sich meine Vermutung.
 

»Also, ich mein. Nachdem das damals passiert ist, is‘ schon alles ziemlich auseinander gedriftet. Aber vorher waren wir ziemlich dicke miteinander. Und jetzt oute ich mich wie der letzte Trottel, weil ich hackedicht bin und all meine Gehirnzellen weggesoffen habe und er sagt, das wäre kein Problem. Von wegen kein Problem«, murrt er ungehalten und verschränkt die Arme vor der Brust.
 

Feli schiebt ihre Unterlagen beiseite, rollt sich auf dem Bett zusammen und platziert ihren Kopf auf Cems Schoß. Ohne darüber nachzudenken, fängt er an, ihr Haar zu streicheln. Die beiden sind leider zu niedlich miteinander. Ich drücke Julius ein bisschen fester an mich.
 

»Kannst du nicht vielleicht mit ihm darüber reden? Vielleicht lässt es sich ja irgendwie klären?«, sagt Feli unsicher.
 

Cem seufzt und zuckt mit den Schultern.
 

»Keine Ahnung. Ich glaub kaum, dass er Bock hat sich mit mir über irgendwas zu unterhalten, wenn er nicht mal neben mir sitzen kann.«
 

Eine Weile lang schweigen wir und ich sehe Cem dabei zu, wie er ziellos durch sein Buch blättert und ab und an irgendwas auf einem seiner Zettel notiert. Nach einer Weile blickt er auf und schaut Julius und mich an.
 

»Aber ohne Scheiß jetzt«, sagt er und legt den Kopf schief. »Ich freu mich für euch. Auch wenn ich motze.«
 

Julius gluckst und ich muss grinsen. Cem grinst zurück.
 

»Und ladet mich immer gerne ein. Ihr wisst schon«, fügt er hinzu und sein Grinsen wird breiter. Ich lache gegen Julius‘ Rücken und obwohl ich sein Gesicht nicht sehen kann, bin ich sicher, dass Julius gerade knallrot anläuft.
 

»Alter, du lässt auch nichts anbrennen«, klagt Julius. Cem streckt ihm die Zunge raus.
 

»Ich hab’s euch ja gesagt. Zu viele heiße Leute da draußen. Ich bin jung und brauche das Geld.«
 

»Also ich bezahl dich nicht dafür, dass du mit uns in die Kiste steigst, du Flachpfeife«, meint Julius.
 

Cem lacht.
 

»Ach weißt du, ich würd mich statt mit Geld auch mit so zwei, drei Orgasmen zufrieden geben, weil ihr es seid.«
 

Feli vergräbt ihr Gesicht an Cems Oberschenkel und ich sehe, wie sie vor Lachen bebt.
 

»Ich bin von notgeilen Hammeln umgeben«, nuschelt sie erstick in Cems Hose.
 

»Hey! Das verbitte ich mir!«, meint Julius.
 

In Erinnerung an die zahlreichen Orgasmen, die er vor ein paar Tagen hatte, räuspere ich mich vielsagend, was Cem dazu bringt Tränen zu lachen—ich nehme an, das hängt auch damit zusammen, dass er Julius‘ Gesicht sehen kann, das sicherlich sehr vielversprechend aussieht im Moment.
 

»Oh, übrigens, Feli«, sage ich, weil mir beim Thema ‚notgeile Hammel‘ etwas recht Unerfreuliches wieder einfällt. »War das gestern eigentlich Andrea mit dir vorm Sekretariat?«
 

Ich hab Feli mit einer mir unbekannten Frau vorm Sekretariat sitzen sehen. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und ich fand, dass sie sich durchaus ähnlich gesehen haben, aber ich wollte bei der Unterhaltung nicht stören, deswegen bin ich vorbei gehuscht.
 

Feli dreht sich auf Cems Schoß um und schaut mich an, ehe sie nickt.
 

»Jap. Sie hat bei Lennards Eltern angerufen und die richtig zur Sau gemacht. Dann hat Lennards Mutter später noch mal bei ihr angerufen und sich hundert Mal entschuldigt. Ich glaube der Satz ‚Ich weiß nicht, wo er das herhat, ich hab ihn so nicht erzogen‘ ist ungefähr dreihundert Mal gefallen. Andrea hat auf Lautsprecher geschaltet«, erklärt Feli und seufzt. Sie kaut ein wenig auf ihrer Unterlippe herum und Cem fängt wieder an, ihr Haar zu streicheln. Sie wirft ihm ein flüchtiges Lächeln zu, ehe sie weiter redet.
 

»Jedenfalls hatten wir deswegen auch einen Termin bei der Direktion. Also, gestern, meine ich. Ich wusste nicht, ob ich diesen ganzen Trubel überhaupt haben will… ist ja nicht so, als würde sowas nicht dauernd passieren.«
 

Ich merke, wie Julius sich auf meinem Schoß verspannt.
 

»Aber… ähm. Ich weiß auch nicht. Es war einfach… diesmal war’s einfach besonders schlimm? Und Andrea… Andrea meinte, dass… dass ich selber entscheiden kann, ob ich was machen will. Und ich dachte. Ich dachte, bevor das irgendwann noch mal entgleist, mit wem anders? Also… wisst ihr?«
 

Ihre Stimme wird immer leiser gegen Ende und sie starrt an die Decke, während sie redet. Die Wahrheit ist, dass keiner von uns nachvollziehen kann, wie es ihr geht. Mädchen haben, was das angeht, einfach die Arschkarte gezogen. Ich schlucke und stupse Julius Richtung Bett. Er versteht, was ich will und steht von meinem Schoß auf, ehe er sich neben Feli auf die Matratze hockt. Ich folge ihm.
 

Feli und Cem machen Platz für uns und Julius verbannt die Englisch-Unterlagen auf den Fußboden. Felis Kopf bleibt da, wo er ist, aber jetzt hat sie links und rechts noch je einen von uns an sich gedrückt liegen. Ich seh sie lächeln.
 

»Es ist auch egal, was man macht, wisst ihr? Wenn man mit dem Kerl rummacht, ist man eine Schlampe. Wenn man nicht mit ihm rummacht, ist man auch eine«, flüstert sie. »Ich dachte… ich dachte wirklich, er knallt mir gleich eine. Oder—«
 

Sie hält inne und holt tief Luft. Mein Herz zieht sich zusammen bei der Vorstellung, wieviel Angst Feli gehabt haben muss und wie unangenehm es sein muss, auf jeder Party mit so etwas rechnen zu müssen. Unweigerlich werde ich wieder sauer auf Lennard und wünschte mir, Cem hätte seinen Unterkiefer gebrochen.
 

»Der Termin war ganz ok, glaub ich«, fährt Feli leise fort, während wir andächtig lauschen. Auf Cems und Julius’ Gesicht sehe ich die gleiche Mordlust, die ich auch fühle. »Ich war froh, dass Andrea da war. Ich hatte zuerst nicht so richtig den Eindruck, dass Herr Stäuber versteht, was genau eigentlich das Problem ist, weil ja nicht wirklich was passiert ist, wie er’s formuliert hat. Aber Frau Laute—ähm, kennt ihr die? Das ist die Vertrauenslehrerin—war auch da und die war sehr empört und ähm… sie hatte anscheinend auch mit Frau Holm geredet? Also, über die Sache mit der Fußballmannschaft und den ganzen homophoben Mist. Und es wirkte ein bisschen so, als würde Herr Stäuber sich lieber nicht mit eurer Trainerin und Frau Laute anlegen wollen, also hat er gesagt, dass Lennard ‘ne offizielle Verwarnung kriegt und wenn sowas noch mal passiert, dann fliegt er wahrscheinlich.«
 

Feli schweigt einen Moment.
 

»Ich hab nur drauf gewartet, dass er noch zu mir sagt, dass ich Lennard seine Zukunft ja womöglich versaue, wenn er so kurz vorm Abi von der Schule fliegt und alles. Ich könnte schwören, dass es ihm schon auf der Zungenspitze lag... Andrea hat mich hinterher zum Inder eingeladen und ungefähr eine halbe Stunde auf ihn und Lennard geflucht...«
 

Ich beobachte Cems Finger, die immer noch in einem gleichmäßigen Rhythmus Felis Haar streicheln. Da ich mit Anni und Lotta befreundet bin und wir eigentlich immer über alles reden, weiß ich, dass die beiden schon ähnliche Probleme hatten—aus durchaus unterschiedlichen Richtungen.
 

Weil Lotta schon immer pummelig war, wird ihr dauernd gesagt, dass sie für jedes bisschen Aufmerksamkeit von Kerlen dankbar sein soll—egal wie ungewollt und unpassend diese Aufmerksamkeit sein mag. Weil viele Leute leider rassistische Wichser sind, muss Anni sich dauernd mit ekligen Vorurteilen über ostasiatische Frauen anhören. Ich möchte sie alle in Watte einwickeln und vor der Welt verstecken, die so scheußlich zu ihnen ist.
 

»Tut mir Leid«, murmele ich gegen Felis Schulter.
 

Aus dem Augenwinkel sehe ich sie lächeln.
 

»Ich hab das Gefühl, wenn ich jetzt sage, dass man sich dran gewöhnt, dann klingts irgendwie nach so einem Märtyrerkomplex. Ich will mich eigentlich auch nicht daran gewöhnen. Es ist scheiße, so wie es ist. Aber... ähm. Aber es hilft, wenn andere Jungs diesen Kerlen sagen, dass es nicht ok ist, was sie machen? Weil... keine Ahnung. Ich glaube, das nehmen sie irgendwie ernster? Was natürlich auch scheiße ist, aber. Es hilft. Also... danke«, sagt Feli.
 

»Wenn er dir noch mal zu nahe kommt, kastrier ich ihn«, verkündet Cem schließlich mit grimmiger Miene. Feli lacht leise und streckt ihre Hand nach oben aus, um Cem durchs Haar zu streicheln. Mittlerweile hab ich mich fast an den Anblick von ihm ohne Cap gewöhnt.
 

»Du bist ein toller Kerl, weißt du?«, sagt Feli mit einem liebevollen Lächeln. »Wenn Daniel dich nicht haben will, ist er ein Trottel.«
 

Cem verzieht das Gesicht und seufzt, schafft dann aber ein schiefes Grinsen.
 

»Danke. Wenn das Abi erstmal durch ist und ich irgendwohin studieren gehe, muss ich seine blöde Hackfresse ja auch nicht mehr sehen«, sagt Cem. Ich verkneife mir einen Kommentar darüber, dass diese Aussicht so klingt, als wäre Cem schon ziemlich emotional investiert in diese ganze Sache mit Daniel.
 

Es klingt, als würde er versuchen über eine Trennung hinwegzukommen.
 

Aber ich sage nichts, sondern lege meine Hand auf seinen Oberschenkel neben Felis Kopf und nach einer kleinen Weile greift Cem mit seiner freien Hand danach.
 

Er hat wirklich was Besseres verdient als jemanden, der seinen Stuhl von ihm wegrückt.

Ausgehungert

Ich glaube, mit mir ist irgendwas kaputt.
 

Es ist zwei Wochen her, seit Tamino und ich uns zum ersten Mal geküsst haben und wenn ich dachte, dass in mir vorher schon Hormonbomben explodiert sind, dann ist das nichts im Vergleich dazu, wie es sich jetzt anfühlt. Meine Konzentrationsfähigkeit hat sich anscheinend komplett in Luft aufgelöst—außer es geht darum darüber zu fantasieren, wie Tamino mich anfasst oder ich ihn anfasse oder er vor mir auf die Knie geht und mir den ersten Blowjob meines Lebens beschert.
 

Die Tatsache, dass ich immer voller Unverständnis den Kopf über meine Kumpels geschüttelt habe, weil die so sexbesessen sind, scheint jetzt als schlechtes Karma auf mich zurückzufallen. Ich weiß, dass es bei Lotta anders funktioniert—wir haben darüber geredet, dass sie die Libido von der Größe einer Käferlarve hat und sich das auch nicht ändert, wenn sie in jemanden verknallt ist.
 

Bei mir hingegen scheint ein Großteil der Pubertät nur darauf gewartet zu haben, dass ich mich verliebe, damit ich mich dann in ein Sexungeheuer verwandeln und daran zugrunde gehen kann.
 

Ich hab überhaupt keine Zeit, um mich zwanzig Mal am Tag auf Tamino zu stürzen und ihn anzubetteln, mir einen runterzuholen. Abgesehen davon, dass das super peinlich wäre, sind wir in der Schule ja auch nicht offiziell geoutet. Das wiederum bedeutet, dass ich von morgens bis nachmittags in Taminos Nähe sein muss, ohne ihn anfassen zu dürfen. Oder zu küssen.
 

Mein Körper ist vollkommen am Durchdrehen.
 

Wenn ich im Unterricht nicht gerade in versauten Tagträumen schwelge, starre ich Tamino an. Cem hat mich schon ungefähr fünfzig Mal dafür ausgelacht, weil ich anscheinend aussehe wie jemand, der unter dem Einfluss von Drogen und einem Liebeszauber steht, wenn meine Augen an Tamino kleben, als wäre er das einzige auf der Welt, das ich sehen kann.
 

Ein kleiner Trost ist die Tatsache, dass Tamino nicht vollkommen unbeeindruckt von all diesen Dingen ist. Wir haben schon sehr heftig in einer Abstellkammer rumgemacht, nachdem ich ihn eine komplette Doppelstunde Geschichte so schmachtend angesehen habe, dass es ihm scheinbar zu viel geworden ist. In der Pause hat er mich in den besagten Raum geschleift, mich gegen die Tür gedrückt und zwanzig Minuten so heftig geküsst, dass ich fast in meine Hose gekommen wäre—etwas, das mir seit neustem viel zu oft passiert.
 

Denn abgesehen von meiner unstillbaren Gier nach allem, was Tamino mir an sexuellen Handlung zu geben bereit ist, scheint mein Durchhaltevermögen dem einer vierzehnjährigen Jungfrau zu gleichen. Ich weiß, dass es Tamino nicht stört.
 

Aber mich stört es unendlich doll, dass Tamino kaum seine Hand in meine Hose schieben muss und ich keine zehn Sekunden später komme, als hätte er mich vorher zwei Stunden aufgeheizt, statt einfach eine Viertelstunde mit mir zu knutschen.
 

Das Verhältnis der Anzahl von Taminos Orgasmen zu meinen ist… ungleich. Aber er hat mir schon zehnmal gesagt, dass er viel zu viel Freude daran hat, mich »auseinander zu nehmen« als dass er sich daran stören würde, dass ich für jeden seiner Orgasmen dreimal so viele bekomme.
 

Es fühlt sich ein bisschen so an, als wäre jeder meiner Reaktionen auf Taminos Küsse und Berührungen ein ganzer Berg Weihnachtsgeschenke für ihn. Trotzdem kann ich mich noch nicht von selber dazu überwinden, meine Hand vom Mund zu nehmen und die Geräusche nicht zu unterdrücken.
 

Es ist einfach alles viel zu peinlich.
 

Ugh.
 

Aber es ist auch alles so gut. Meine Haut fängt prompt wieder an zu kribbeln und mir wird heiß.
 

Tamino hat noch nichts anderes versucht, außer seine Hände zu benutzen oder uns beide solange gegeneinander zu bewegen, bis wir kommen. Mein Unterbewusstsein ist allerdings nachhaltig besessen vom Anblick des Blowjobs, den ich zwischen Cem und Tamino beobachtet habe und von der Information, die Cem mir hat zukommen lassen. Nämlich, dass man allein von Fingern…
 

Argh, fuck.
 

Ich verstehe absolut, wieso Tamino sich noch nicht nackt auf mich gestürzt hat und ich rechne es ihm eigentlich auch sehr hoch an. Aber ich habe überhaupt keine Ahnung, wie ich das Thema ansprechen soll. Ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt wirklich bereit für sowas bin, ohne an einem Herzinfarkt zu sterben.
 

Eins ist jedenfalls sicher: Sex mit Tamino löst in mir definitiv nicht dieselben fürchterlichen Gefühle aus, wie Sex mit anderen Leuten. Oder genauer gesagt, wie damals mit Katharina.
 

»Wir haben im nächsten Spiel ein paar Sichter zu Gast, also, Julius—Julius?«
 

»Huh?«
 

Trainer guckt mich an, als wäre ich von allen guten Geistern verlassen, womit sie absolut Recht hat.
 

»Erde an Julius! Sichter, beim Spiel! Diesen Samstag! Wer ist hier der Herr mit dem Sportstipendium?«, sagt Trainer und äfft meine verwirrte Stimme nach, die Hände in die Hüften gestemmt und ein strenger Blick auf ihrem kantigen Gesicht. Ich räuspere mich und versuche, die Gedanken an Taminos lange Finger beiseite zu schieben.
 

Sportstipendien und anstehende Vokabeltests in Französisch verblassen im Angesicht der hormonellen Dringlichkeit, mich nackt an meinen Freund zu drücken und von ihm buchstäblich aufgegessen zu werden.
 

Fuck, Sichter.
 

Ich frage mich, wie ich anständig spielen soll, wenn alles, was in meinem Kopf momentan Platz hat, meine absolut peinliche Notgeilheit auf Level 100 ist. Aber wenn ich mit Fußball irgendwohin will, dann sollte ich dringend ein paar Sichter beeindrucken und zum Probetraining eingeladen werden.
 

Ich straffe die Schultern und räuspere mich.
 

»Tut mir Leid, Trainer. Hab kurz nicht aufgepasst«, sage ich so würdevoll wie möglich. Trainer schnaubt.
 

»Das habe ich gemerkt. Wir haben zwei feste Spieler weniger und müssen deswegen umso härter trainieren. Marek und Tae-min ersetzen Konstantin und Lennard in der neuen Startaufstellung. Wir machen übermorgen und Donnerstag extra Trainingseinheiten und Freitag wird sich dann ordentlich ausgeruht fürs Spiel am Samstag. Kein Alkohol! Keine sonstigen Drogen! Und acht Stunden Schlaf, ist das klar?«
 

Ein Chor aus »Ja!« und »Aye, Aye!« ertönt und Trainer teilt uns in Zweierteams für Dehnübungen. Während Tamino und Cem beieinander landen, kriege ich Daniel zugeteilt, der mir aus unerfindlichen Gründen nervöse Blicke zuwirft. Ich ziehe fragend die Augenbrauen hoch.
 

»Ist was?«, frage ich und denke unweigerlich an Cem und daran, dass Daniel seit dem Outing auf der Party irgendwie komisch ist, obwohl er gesagt hat, dass es ihm nichts ausmacht. Er ist immerhin auch mit zu Trainer gegangen wegen dieses ganzen Debakels mit Lennard. Warum würde er das tun, wenn er jetzt so aussieht, als hätte ich eine ansteckende Krankheit?
 

»Nee«, sagt er leise und wendet den Blick ab. Dann starten wir unsere Dehnübungen. Ausnahmsweise schaffe ich es, mich auf den Moment zu konzentrieren, was vor allem an Daniel liegt, der versucht unauffällig zu Tamino und Cem hinüberzuschauen, die über irgendetwas lachen und dabei dauernd ihre Balance verlieren.
 

Mein Herz fühlt sich an wie ein großer Wattebausch. Scheiße, ich bin so wahnsinnig verliebt, es ist wirklich nicht feierlich. Wenn Tamino lacht, werden irgendwo Babyeinhörner geboren. Es hat mich schlimm erwischt und es gibt definitiv kein Zurück mehr.
 

Daniel und ich beobachten Cem und Tamino. Nach einer gescheiterten Übung hat Cem Tamino jetzt im Schwitzkasten und Tamino lacht so sehr, dass er sich überhaupt nicht richtig wehren kann. Cem sieht sehr zufrieden aus mit dem Leben, während er mit den Fingerknöcheln über Taminos Kopf reibt ohne Erbarmen zu zeigen.
 

»Freunde mit Extras, hm?«, murmelt Daniel. Ich blinzele kurz verwirrt, bis mir einfällt, dass Daniel überhaupt nicht weiß, dass Tamino und ich zusammen sind und dass sein Stand der Dinge immer noch das ist, was wir ihm auf der verfluchten Abiparty gesagt haben.
 

»Naja. Seit einiger Zeit nur noch Freunde ohne Extras«, sage ich vage und bin bemüht nicht rot anzulaufen und mich zu verraten. Trainer gibt Anweisungen für einen Positionswechsel und ich setze mich breitbeinig auf den Boden und lasse mir von Daniel auf den Rücken drücken, um meine Schuhspitzen mit den Fingern zu erreichen.
 

»Hm«, macht Daniel unverbindlich. Ich schwanke zwischen Neugier und Empörung. Ich will fragen, was eigentlich los ist, aber ich hab auch das Gefühl, dass es eigentlich nicht meine Angelegenheit ist. Dann wiederum geht es um meinen besten Freund. Gibt es irgendwas, was mehr meine Angelegenheit ist, als das Wohlergehen meines besten Kumpels?
 

»Alter, wenn du’n Problem mit Cem hast, dann haben wir beide definitiv auch eins«, sage ich mit finsterer Stimme. Ich merke, wie Daniels Finger sich auf meinem Rücken kurz verkrampfen, ehe er seine Fassung wieder gewinnt. Es macht überhaupt keinen Sinn, dass Daniel seinen Stuhl von Cem wegrückt, aber mit mir Dehnübungen macht, als wäre alles in Ordnung. Wir haben uns alle vor ihm geoutet. Der einzige, dem er sich gegenüber anders verhält, ist Cem.
 

»Ich hab kein Problem—«, fängt Daniel an. Seine Stimme klingt sehr angestrengt.
 

»Dude«, unterbreche ich ihn. »Wer kein Problem mit was hat, der schiebt nicht seine Stühle weg von Leuten.«
 

So. Da. Ich hab es gesagt. Wenn Cem mich nachher dafür in einen Graben schubsen will, dann würde ich mich nicht mal wehren.
 

Daniel schweigt. Und schweigt. Trainer ordert in den nächsten Minuten fünf weitere Übungen an und Daniel sagt kein einziges Wort mehr. Ich mustere ihn unverfroren, während er meinem Blick ausweicht. Er ist etwa so groß wie Tamino, sein üblicherweise kurzes, braunes Haar ist in den letzten Wochen etwas länger geworden und hängt ihm jetzt ins Gesicht. Der markante Kiefer und das schiefe Grinsen machen Daniel zu einem der am meisten begehrten Jungs im Jahrgang, auch wenn er nicht so mein Typ ist. Mir ist objektiv klar, dass er gut aussieht.
 

Und ich weiß, dass Cem Schweißausbrüche kriegt, wenn er über Daniels breites Kreuz und seine Rückenmuskeln nachdenkt.
 

Nachdem wir mit den Dehnübungen durch sind, werfe ich Daniel einen letzten säuerlichen Blick zu und lasse ihn stehen, um zu Cem und Tamino hinüber zu gehen. Tamino hat offensichtlich Tränen gelacht, denn ich kann immer noch die nassen Spuren auf seinen Wangen erkennen.
 

»Alles gut bei dir, Alter?«, will Cem wissen. Er grinst sehr breit und bufft Tamino mit der Schulter. Julius ans Universum: Danke für all die wunderbaren Menschen in meinem Leben.
 

»Jap. Alles bestens«, sage ich. »Eventuell hab ich Daniel dafür angepampt, dass er seinen Stuhl abgerückt hat.«
 

Cem blinzelt und das Grinsen verblasst langsam. Dann seufzt er leise.
 

»Ah. Ok«, meint er. Seine Augen huschen zu Daniel hinüber, der gerade mit Tae-min und Yousef etwas bespricht, während Trainer Marek irgendeine Einweisung gibt, ehe es losgehen kann. Ich mustere ihn ein wenig nervös.
 

»Sorry, ich war sauer und konnt’s mir nicht verkneifen«, gebe ich zu. Cem wirft mir ein halbes Lächeln zu.
 

»Ja, kein Ding. Ist ja eigentlich auch egal.«
 

Ich weiß, dass es wirklich nicht egal ist. Und ich sehe, dass auch Tamino weiß, dass es nicht egal ist. Aber im nächsten Moment teilt Trainer uns in zwei Mannschaften und Cem und Daniel landen in einer, während ich und Tamino in die andere Mannschaft verteilt werden. Nachdem ich über meine anfänglichen Schwierigkeiten hinweg gekommen bin, spiele ich tatsächlich ausgesprochen gern mit Tamino.
 

Und seit er mir im Flüsterton im Dunkeln verraten hat, dass er mich in meiner Kapitänsrolle heiß findet, spiele ich vielleicht sogar noch ein bisschen lieber mit ihm als vorher.
 

Es stellt sich heraus, dass meine Kommentare in Daniels Richtung eventuell größere Wirkung gezeigt haben, als ich ursprünglich dachte. Er spielt so schlecht wie schon lange nicht mehr und als Tamino das dritte Tor für unsere Mannschaft schießt, höre ich Daniel zum ersten Mal laut fluchen, bevor er volle Breitseite gegen den linken Pfosten tritt, woraufhin Trainer ihn grillt, dass er mit seinem Körper gefälligst sorgfältiger umgehen soll.
 

Eine Sekunde lang sieht Daniel aus, als würde er etwas sehr Unhöfliches erwidern wollen, was beeindruckend genug ist, weil Daniel normalerweise weder besonders harte Ausdrucksweise an den Tag legt, noch irgendwelche Schimpfworte benutzt. Damit ist er unter den Jungs im Jahrgang definitiv in der Minderheit, wenn man bedenkt, wie oft am Tag ich die Worte »Wichser« und »Hurensohn« zu hören kriege.
 

Daniel beendet das Training ohne einen einzigen Ball gehalten zu haben und als Adnan ihm sagt, dass er am Samstag seinen »Scheiß hoffentlich geschissen gekriegt hat, damit wir nicht total ablosen«, dreht er sich einfach um und verschwindet Richtung Umkleide.
 

Ich sehe, dass Cem ihm nachstarrt. Kurz erwarte ich, dass er Daniel vielleicht nachgeht, aber er steht einfach weiter wie angewachsen auf dem Spielfeld und kaut auf der Innenseite seiner Wange herum. Tamino macht neben Cem Halt und ich sehe ihn leise mit Cem sprechen, aber Cem schüttelt den Kopf und wirft Tamino einen kurzen Blick zu, ehe er sich auch in Richtung Umkleide davon macht.
 

»Hat er was gesagt?«, will ich nervös wissen. Was, wenn ich jetzt alles verbockt habe, weil ich mein Maul nicht halten konnte?
 

Tamino schüttelt den Kopf.
 

»Ich hab ihn gefragt, ob er will, dass ich mit Daniel rede«, erklärt Tamino leise, zieht sei Trikot hoch und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Ich versuche nicht auf seinen nackten Bauch zu starren. »Aber das wollte er nicht. Ich… ähm. Ich glaube, er bereut das Outing.«
 

Ich seufze und friemele an meinem Haargummi herum, während wir uns gemeinsam auf den Weg zur Umkleide machen. Auf dem Weg dorthin haue ich Tae-min und Marek auf den Rücken und sage ihnen, dass sie einen guten Job gemacht haben. Beide sehen sehr zufrieden aus und grinsen mich breit an.
 

Das ist wirklich sehr viel besser, als ununterbrochen das Wort Schwuchtel übers Spielfeld dröhnen zu hören.
 

»Und, bist du aufgeregt wegen den Sichtern?«, will Tamino wissen, als wir die Umkleide erreicht haben. Es ist laut, voll und stickig, aber von Cem und Daniel fehlt jede Spur. Ich mache eine mentale Notiz ihm gleich eine Nachricht zu schicken und zu fragen, ob alles ok ist.
 

»Ja, schon. Ich meine… ich hab gut gespielt die letzten Wochen. Aber kommt halt auch immer auf die Tagesform an. Und die, gegen die wir am Samstag spielen, haben uns letztes Mal total abgezockt.«
 

Tamino summt verständnisvoll. Dann grinst er.
 

»Und wenn sie dich sehen und schwer beeindruckt von dir sind, bin ich dann bald der geheime Freund eines Profifußballers?«, fragt er sehr leise und verschmitzt. Mir schießt sofort Hitze in die Wangen und ich räuspere mich.
 

»Also erstmal wird man zum Probetraining eingeladen. Wenn man das geschissen gekriegt hat, dann wird man vielleicht als Nachwuchstalent in die Mannschaft geholt. Aber… dafür muss man halt auch echt gut sein.«
 

Tamino lächelt mich sehr liebevoll an und mein Magen explodiert in Schmetterlingen. Seine Augen sagen »Du bist sehr gut« und »Ich bin stolz auf dich« und in mir drin ist sofort Hochsommer. Meine Kehle fühlt sich sehr trocken an. Meine Reaktion auf Komplimente hat sich immer noch nicht geändert. Ich kann nur hoffen, dass ich irgendwann etwas abstumpfe.
 

»Wenn sie dich rekrutieren, kannst du Feli fragen, ob sie dein Bart sein möchte«, meint Tamino auf dem Weg nach Hause. Ich schnaube amüsiert.
 

»Ich weiß nicht, ob sie da Bock drauf hätte. Und ich weiß auch nicht, ob ich darauf Bock hätte. Die ganze Zeit so zu tun, als wär ich hetero scheint mir ziemlich anstrengend zu sein«, gebe ich zurück. Es muss so viele Kerle im Profifußball geben, die diese Dinge über sich geheim halten, weil es keinen Platz im Sport hat. Es ist super scheiße, dass es so ist.
 

Und ich kann nicht sagen, ob ich diesen Weg dringlich genug gehen will, um diese Konsequenz zu leben. Die Vorstellung, Tamino in drei Jahren immer noch nur insgeheim treffen zu können, statt Händchen haltend irgendwo durch den Park tingeln zu dürfen, fühlt sich absolut scheußlich an.
 

Ein Grund mehr ein Studium abzuschließen, um irgendeinen Plan B zu haben.
 

Dafür muss man natürlich wissen, was für ein Studium es sein soll.
 

Ugh, Zukunftsgrübeleien sind scheiße.
 

An der nächsten Kreuzung bleibt Tamino stehen und scheint kurz zu zögern, aber schließlich wuschelt er mir nur durchs Haar und grinst mich schief an.
 

»Bis morgen«, sagt er mit schief gelegtem Kopf. Fuck, ich hab ihn heute den ganzen Tag nicht geküsst.
 

Shit, fuck, shit.
 

Wir waren die letzten zwei Wochen fast jeden Tag beieinander, aber heute bin ich mit Mari und Mama verabredet, weil Mama einen neuen Wohnzimmerschrank bei IKEA kaufen will und wir versprochen haben beim Aussuchen und Aufbauen mitzuhelfen.
 

»Bis morgen«, krächze ich heiser. Wir stehen peinlich lange voreinander und starren uns an, bis Tamino sich schließlich einen Ruck gibt und mir noch mal winkt, ehe er sich umdreht und nach links abbiegt, während ich weiter geradeaus gehe.
 

Wow. Verliebt sein macht einen definitiv zu einem total unzurechnungsfähigen Trottel.
 

Um den Rest des Weges zu überbrücken, krame ich mein Handy hervor und schreibe Cem.
 

»Alles ok bei dir? Sorry noch mal wegen vorhin.«
 

Die Antwort kommt prompt.
 

Cem

kp. schlimmer kanns eig nich werden

Cem

sa nachm spiel saufen?
 

Julius

Jo auf jeden fall, ich geb dir einen aus
 

Cem

charmeur
 

Julius

Kann ich sonst iwas für dich tun?
 

Cem

in der zeit zurückreisen und mich davon abhalten mich besoffen vor daniel zu outen. das wäre ziemlich nice
 

Julius

Ich hab das gefühl das sollte nich die lösung sein…..
 

Cem

und wann bist du voll erwachsen und vernünftig geworden hm????
 

Ich schnaube und schicke ihm ein paar Poop-Emojis, ehe ich das Handy wieder in die Hosentasche stecke.
 

Der Rest der Woche vergeht in einem Nebel aus Sehnsucht danach Tamino anzufassen, Training, Sorge um Cem, der entweder viel zu still oder viel zu laut ist, Sexfantasien, die mir nachts den Atem stehlen und tagsüber die Röte ins Gesicht treiben und bösen Blicken, die ich Daniel zuwerfe, weil es momentan alles ist, was ich tun kann.
 

Am Freitag nach der Schule schleife ich Tamino zu ihm nach Hause und sobald seine Zimmertür hinter uns ins Schloss fällt, drücke ich ihn dagegen und presse meinen Mund auf seinen. Tamino macht ein ganz wunderbares Geräusch und seine Hände sind sofort unter meinem Shirt, als hätte er genau wie ich nur darauf gewartet, endlich allein zu sein und mich wieder anzufassen.
 

»Aus«, keucht er und zerrt an meinem Shirt und ich verliere beim Ausziehen mein Haargummi, was Tamino scheinbar sehr begrüßt, denn er vergräbt sofort seine Hände in meinen offenen Haaren und zieht mich wieder zu sich heran, um mich erneut zu küssen. Ich komme nicht mal dazu, mich dafür zu schämen, dass ich nach nicht mal einer Minute knutschen schon wieder einen Ständer habe, weil Tamino sich bückt, seine Hände unter meinen Hintern legt und mich hochhebt, um mich zum Bett zu befördern, als wäre ich ein Fliegengewicht.
 

Meine Erregung explodiert in einem Feuerwerk aus Hitze und ich strecke die Hände nach Tamino aus, der mit fahrigen Fingern am Reißverschluss seiner Jeans zugange ist. Sobald er seine Hose und seine Brille losgeworden ist, kniet er sich zu mir aufs Bett, drückt mich in die Matratze und küsst mich so verlangend, dass mir beinahe ein bisschen schwindelig wird.
 

Fuck.
 

Vier Tage lang nicht ein einziger Kuss und ich bin ausgehungert wie ein Asket in der Fastenzeit. Ich drücke meinen Unterkörper gegen Taminos Schenkel, den er zwischen meinen Beinen platziert hat. Ein sehr enthusiastisches Stöhnen, das leider Gottes aus meinem eigenen Mund kommt, treibt mir unweigerlich die Röte ins Gesicht, aber Tamino seufzt zufrieden als Antwort, als hätte er nur darauf gewartet, dass ich endlich wieder anfange die Geräusche zu machen, die er so wunderbar heiß findet.
 

Zu meiner grenzenlosen Zufriedenheit scheint Tamino heute auch keine Geduld dazu zu haben, mich ausführlich mit Küssen und seinen Fingern wahnsinnig zu machen, bevor er sich meiner Erektion widmet. Er zerrt mir meine Hose inklusive Boxershorts vom Körper und ich laufe sogar noch dunkelroter an, als er mich aus glasigen Augen mustert, wie ich splitterfasernackt vor ihm auf dem Bett liege.
 

»Starr nicht so«, murmele ich peinlich berührt. Taminos Augen flackern hoch zu meinem Gesicht.
 

»Hmm«, macht er und schmunzelt. »Ist ja nicht meine Schuld, dass du so scharf bist.«
 

Wie auf Knopfdruck flutet eine weitere Welle der Erregung meinen Körper, sobald das Kompliment vollständig Taminos Mund verlassen hat. Ich verstecke mein Gesicht in den Händen und gebe ein klägliches Geräusch von mir.
 

Während ich noch mit meiner Scham beschäftigt bin, zieht Tamino seine Shorts ebenfalls aus und dann liegt er wieder auf mir, Haut an Haut. Alles in mir kribbelt und ich keuche in den nächsten Kuss, während meine Finger jeden Zentimeter von Taminos Körper anfassen, den sie erreichen können.
 

So, wie er jetzt auf mir liegt, spüre ich seine Erektion direkt an meiner.
 

»Was, wenn ich gleich schon wieder—«, fange ich an aber Tamino bringt mich mit einem Kuss zum Schweigen.
 

»Mir egal. Von mir aus kannst du auch zehnmal kommen. Ich mag, wenn du wegen mir kommst«, flüstert er gegen meinen Mund und jedes einzelne Wort ist eine kleine Explosion in meinem Unterleib.
 

Fuck, fuck, fuck.
 

»Wenn du redest, geht’s noch schneller«, klage ich atemlos und stöhne hilflos, als Tamino anfängt, seinen Unterkörper ganz wunderbar rhythmisch gegen meinen zu bewegen.
 

»Hmm, aber ich rede so gerne mit dir«, flüstert er direkt in mein Ohr, ehe eine Zunge ihren Weg an meine Ohrmuschel findet und alles, was ich dann tun kann, ist mich an Tamino festzuklammern und zu atmen und dabei zu versuchen, nicht allzu laut zu werden.
 

Es ist keinerlei Überraschung, dass ich wieder als erstes komme, aber Tamino scheint die Woche über einiges an sexueller Energie aufgestaut zu haben, denn er folgt mir nur wenige Augenblicke später mit einem zittrigen Ausatmen und einem leisen »Oh«, das mich fast direkt wieder in Stimmung bringt.
 

»Ich glaube, so hat Trainer sich die Ruhephase am Freitag nicht vorgestellt«, murmele ich verschwommen. Tamino lacht leise.
 

»Heißt das, ich muss den Rest des Tages die Finger von dir lassen?«, will er wissen.
 

Ich sehe ihn empört an.
 

»Ich warne dich.«
 

Er lacht wieder und drückt mir einen Kuss auf die Nase, ehe er nach Taschentüchern auf seinem Nachtschrank angelt.
 

»Gib mir ‘ne Viertelstunde, Captain«, meint er verschmitzt und ich haue ihn mit einem Kissen.
 

»Sei froh, dass du heiß bist, Frechdachs«, sage ich gespielt streng und Tamino kichert wie ein Schulmädchen und legt sich den Unterarm auf die Augen.
 

»Hm... ich bin in der Tat sehr froh«, murmelt er.
 

Ich vergrabe mein Gesicht an Taminos Halsbeuge und grinse zufrieden. Das Leben ist in diesem Moment einfach zu großartig, um sich Gedanken über Sichter oder potentiell homophobe Mannschaftskameraden zu machen.

Nachfolge

Ich weiß spätestens, dass es ein wichtiges Spiel ist, als meine Mutter, Mari und Linda am Spielfeldrand auftauchen, während wir uns am Samstag warm machen. Es ist viertel vor zehn und Linda ist für gewöhnlich nicht vor elf aus dem Bett zu bekommen.
 

Ich jogge kurz zu ihnen hinüber, um sie zu begrüßen und versuche nicht peinlich berührt darüber zu sein, dass meine Mutter mir einen Kuss auf die Wange drückt, um mir viel Glück zu wünschen.
 

»Alter, ist das deine Schwester?«, will Basti von mir wissen. Ich werfe ihm einen Blick zu, der hoffentlich gleichzeitig ausdrückt, wie dumm ich die Frage finde und dass ich seine Mittäterschaft am Baggersee nicht vergessen habe.
 

»Sieht man doch«, sage ich und wedele mit beiden Händen in Richtung meines Gesichts.
 

»Ziemlich heiß«, sagt Basti und ich muss mich sehr zusammenreißen, ihm nicht einfach direkt auf die Schuhe zu kotzen.
 

»Die neben ihr ist ihre Freundin. Bist nicht ihr Typ«, informiere ich ihn grimmig und wende mich von ihm ab, um potentiellen Äußerungen darüber zu entgehen, dass Lesben heiß sind. Ich weiß noch, wie Mari mir mal für eine Party abgesagt hat, auf die ich sie und Linda mitnehmen wollte. Damals war mir irgendwie noch nicht ganz so klar, mit was für einem Scheiß sie sich rumschlagen muss.
 

Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich achtzehn Jahre durchs Leben geschlafwandelt bin.
 

Feli und ein paar ihrer Mädels gesellen sich irgendwann zu Mari und den anderen beiden. Ich erkenne unter anderem Merle, Carina und Emma, bevor ich meine Aufmerksamkeit abwenden muss, weil Trainer uns noch ein letztes Mal die Aufstellung erklärt und einige taktische Hinweise gibt.
 

Tamino, Marek und Tae-min bekommen einen extra Schlag auf die Schulter, weil sie das erste Mal mit uns in einem offiziellen Match spielen, ohne lediglich kurz als Auswechselspieler einzuspringen—zumindest im Fall von Marek und Tae-min.
 

Tamino sieht ziemlich nervös aus und kaut schon wieder an seinen Fingern herum. Daniel kann ich überhaupt nicht lesen. Sein Gesicht ist vollkommen neutral, während Trainer ihre Anweisungen gibt und uns schließlich auffordert, uns an der Mittellinie aufzustellen, damit wir dem anderen Team die Hand geben können.
 

Ich erinnere mich noch an den Kapitän. Er spielt Außenverteidiger und kann fast so schnell rennen wie Tamino. Allerdings hat er den Nachteil kürzerer Beine, da er einen guten Kopf kleiner ist als mein Freund.
 

Ha. Es klingt immer noch aufregend und ein bisschen verboten »mein Freund« zu denken. Während wir der anderen Mannschaft gegenüber stehen, habe ich das brennende Bedürfnis alle Welt wissen zu lassen, dass das mein Freund ist. Es ist ein absurder Wunsch, weil es sich anfühlt, als würde ich irgendeine tolle Errungenschaft herumzeigen wollen, wie ein Kind, das stolz auf eine Eins in Mathe auf dem Zeugnis ist.
 

Cem sieht heute aus, als wäre er fest entschlossen. Wozu genau kann ich allerdings nicht sagen. Vielleicht will er sich Mühe geben, weil er weiß, dass es wichtig für mich ist. Vielleicht will er auch Daniel demonstrieren, wie egal er ihm ist. Oder wie sehr es ihm kein bisschen was ausmacht, dass Daniel seinen Stuhl abrückt. Vielleicht will er aber auch einfach alles so schnell wie möglich hinter sich bringen, damit er sich heute Abend mit mir die Kante geben kann.
 

Dumpf erinnere ich mich an seine halb spaßhaft gemeinte Anfrage, zu einem Dreier eingeladen zu werden und mir steigt prompt die Hitze ins Gesicht. Da ich es nicht mal zwei Minuten aushalte, angefasst zu werden, ohne zu kommen, sollte ich mit solchen ehrgeizigen Unterfangen eher sparsam sein.
 

Aber wer weiß.
 

Vielleicht so in acht Monaten dann.
 

Als der Anpfiff ertönt, schiebe ich alle Gedanken, die nicht mit dem Spiel zusammenhängen, beiseite.
 

Cem und Tamino sind beide in Höchstform und mir wird warm ums Herz beim Gedanken, dass sie sich für mich ganz besonders bemühen. Ich darf nicht allzu sehr darüber nachdenken, dass gerade womöglich mehrere Sichter das Spiel beobachten, sonst werde ich nervös.
 

Juls, mach dir nichts vor. Du lebst dafür, von anderen beobachtet zu werden bei Dingen, die du gut kannst. Das hier ist deine Bühne.
 

Es dauert etwa zehn Minuten, dann hab ich vergessen, dass Sichter da sind. Oder meine Mutter. Oder sonst irgendwer. Es gibt nur noch den Ball, Mitspieler und Gegenspieler. Ich glaube, Daniel ist auch weiterhin nicht in Höchstform, aber das macht überhaupt nichts, weil Cems Verteidigung steht wie eine Eins.
 

Zwischendurch habe ich das Gefühl, dass Cem Daniels Kopf gern gegen einen der Pfosten hauen würde, aber er lässt all seine Energie ins Spiel fließen, statt sich laut über Daniel zu beklagen. Und immerhin hält Daniel zwei ziemlich kappe Kopfbälle, also bin ich etwas beruhigt, als wir zum Gegenangriff durchstarten.
 

Wie erwartet, ist Tamino zu schnell für den Kapitän der anderen Mannschaft, der zwar einen heldenhaften Versuch unternimmt mitzuhalten, aber letztendlich keine Chance hat. Und weil Tamino Tamino ist, bekomme ich den Ball zugespielt, um ihn im gegnerischen Tor zu versenken.
 

Es ist egal, dass Daniel nicht mit voller Leistung spielt. Wir gewinnen zwei zu eins mit einem ziemlich spektakulären Kopfballtor von Cem in der dreiundachtzigsten Minute. Sobald das Spiel vorbei ist, begraben wir ihn unter uns und ich höre ihn gleichzeitig lachen und gespielt empört schnaufen, während vier Leute gleichzeitig an ihm hängen.
 

Tamino wuschelt mir durch die Haare und grinst wie ein Honigkuchenpferd. Die Schmetterlinge in meinem Bauch haben nichts mit unserem Sieg zu tun.
 

»Gut gespielt, Captain«, sagt er. Mein Magen macht einen doppelten Salto und ich schlucke, ehe ich breit zurück grinse und Tamino auf den Rücken haue.
 

»Du auch, Spock«, gebe ich zurück und strecke ihm die Zunge heraus.
 

Einige der Leute vom Spielfeldrand strömen aufs Feld, um uns zu gratulieren. Abgesehen von allem anderen macht mich dieser Sieg unheimlich zufrieden, weil er zeigt, dass wir Konstantin und Lennard nicht brauchen, um gut zu spielen. Ich würde fast sagen, dass wir heute sogar noch besser gespielt haben, als die letzten Male.
 

Trainer haut uns allen nacheinander auf den Rücken und gratuliert uns breit grinsend. Sie nickt mir anerkennend zu und zeigt mir zwei Daumen hoch, was mein Inneres dazu bringt, sich vor lauter Stolz aufzublasen.
 

Und als ich eine Viertelstunde später ganze drei Visitenkarten in den Händen halte, schaltet sich mein Bewusstsein wegen Reizüberflutung aus und ich muss mich erstmal in Ruhe irgendwohin setzen. Wie es sich herausstellt, haben schon zwei andere Leute genau denselben Platz für Ruhe auserkoren wie ich und als ich um die Ecke hinterm Umkleidengebäude biege, entdecke ich Feli und Daniel mit dem Rücken an die Backsteinmauer gelehnt.
 

Feli sieht mich und wirft mir ein flüchtiges Lächeln zu, ehe sie mit dem Kopf ruckt um mir anzudeuten, dass ich mich wieder verpieseln soll. Also drehe ich auf dem Absatz um, bevor Daniel mich sieht und in Panik gerät und verstecke mich stattdessen auf dem Klo. Die drei Visitenkarten fühlen sich merkwürdig schwer in meiner linken Hand an.
 

Ich bleibe eine Viertelstunde einfach auf dem Klodeckel sitzen und denke darüber nach, was ich mit meinem Leben anfangen will. Jetzt, wo das Adrenalin allmählich abebbt und die Müdigkeit einsetzt, fangen meine Gedanken automatisch wieder an zu kreiseln.
 

Diese Visitenkarten sind das, worauf ich jahrelang hingearbeitet habe. Irgendwie hab ich das Gefühl, dass es sich anders anfühlen sollte.
 

Ich schiebe die drei Karten in die Hosentasche meiner Shorts und verlasse die Toilette, um zu duschen und mich umzuziehen. Tamino und Cem sind schon fertig und warten auf mich.
 

»Alles ok, Alter?«, fragt Cem leise.
 

»Jap. Brauchte nur’n Moment zum Durchatmen«, gebe ich zurück. Cem schnaubt amüsiert.
 

»Da hast du dir mit’m Klo ja genau den richtigen Ort ausgesucht.«
 

»Halt die Schnauze, man, ich war erst draußen, aber da waren Daniel und Feli und wollten ihre Ruhe haben«, brumme ich halb empört, halb amüsiert und haue Cem auf den Oberarm. Bei der Erwähnung von Daniel flackert sein Gesicht und er stopft seine Hände in die Hosentaschen.
 

»Steht heute Abend noch?«, fragt Cem schließlich, als hätte ihm allein die Erwähnung von Daniels Namen nichts ausgemacht. Tamino macht sich dezent schon einmal auf den Weg Richtung Tür.
 

»Auf jeden Fall, man. Was willst du trinken? Ich geh einkaufen«, sage ich.
 

»Alles um die vierzig Prozent ist Bombe, Alter«, gibt Cem zurück und zuckt mit den Schultern.
 

»Ok.«
 

»Kannst zu mir kommen. Der Rest der Bagage ist übers Wochenende ausgeflogen«, meint er. Cem liebt seine Familie abgöttisch, aber er lädt Leute meistens nur dann ein, wenn kaum oder keiner von ihnen zu Hause ist, weil ihm die Gastfreundschaft seiner Familie zu peinlich ist. Ich hab selten nettere Leute kennengelernt als Cems Eltern und ich glaube, wenn Cem irgendwann mal eine Gruppe Freunde einladen würde, dann würden all diese Leute so arg verhätschelt werden, dass sie keine Ahnung, wie ihnen geschieht.
 

Jedes Mal, wenn ich zu Besuch bin, verlasse ich das Haus anschließend mit ungefähr zehn Kilo mehr Körpergewicht.
 

Ich finde Mama, Mari und Linda draußen, die mir noch mal gratulieren und mir erzählen, wie stolz sie auf mich sind. Ich freue mich, aber ich hab auch Cem und Daniel im Hinterkopf. Wahrscheinlich gibt es das perfekte Glück nicht wirklich.
 

Als ich Tamino entdecke, winke ich ihn zu uns herüber, weil ich irgendwie immer noch nicht dazu gekommen bin, Mama und Mari zu erzählen, dass ich seit neustem vergeben bin. Weil ich in der Umkleide so lange getrödelt habe, ist kaum noch jemand da und Tamino tritt deutlich nervös neben mich. Ich werfe ihm einen fragenden Blick zu und er scheint zu verstehen, was ich meine, denn er nickt verlegen und fängt prompt an, an seinen Fingern herumzukauen.
 

»Ähm. Mama, weißt du noch, wie ich meinte, dass ich nicht glaube, dass ich diesen besagten Jungen erobert kriege?«, platzt es schließlich aus mir raus und ich sehe, wie Taminos Augen sich weiten angesichts der Offenbarung, dass ich mit meiner Mutter über meinen Liebeskummer geredet habe.
 

Ihr Gesicht ist einen Augenblick lang verwirrt, dann huschen ihre Augen zu Tamino und ihr Gesichtsausdruck hellt sich auf.
 

»Oh!«, sagt sie und strahlt so offenkundig begeistert, dass mir ganz warm ums Herz wird. Tamino sieht aus, als würde er gleich in Ohnmacht fallen.
 

»Ähm… ja. Ich hab mich jedenfalls geirrt und eine Eroberung hat definitiv stattgefunden und wir sind nicht geoutet, also wär’s geil, wenn ihr jetzt nicht irgendwie in Tränen ausbrecht oder sowas«, füge ich hastig hinzu, weil Mari und Linda aussehen, als würden sie sich jeden Moment tanzend und quietschend in die Arme fallen wollen.
 

»Na schön, aber dann will ich euch alle zum Essen einladen«, sagt meine Mutter. Tamino lächelt verlegen und duckt sich ein bisschen. Ich würde sehr gerne seine Hand nehmen, aber reiße mich zusammen und räuspere mich.
 

»Na schö—«
 

»Thailändisch!«, ruft Mari enthusiastisch und ich verdrehe entnervt die Augen, widerspreche aber nicht.
 

So landen wir zu fünft bei unserem Stamm-Thailänder und Tamino und ich teilen uns jeweils unsere Gerichte, weil wir uns nicht entscheiden konnten, woraufhin Mari, Mama und Linda etwa zehn Minuten damit verbringen, uns zu erzählen, was für ein süßes Paar wir sind.
 

Ich sterbe mehrere Schamtode innerhalb kürzester Zeit. Tamino hingegen sieht zwar auch ziemlich verlegen aus, aber er leuchtet auch, als wäre er in diesem Moment sehr, sehr glücklich. Unweigerlich denke ich daran, dass sein Vater sich mit großer Wahrscheinlichkeit kein Stück dafür interessiert, dass sein Sohn in einer Beziehung ist.
 

Ich erinnere mich daran, dass Tamino meinte, dass seine Mutter mich sicher gemocht hätte. Mein Herz fühlt sich bei dieser Erinnerung gleichzeitig federleicht und tonnenschwer an. Ich betrachte meine eigene Mutter, die munter mit Linda über irgendeinen Film schnackt und sich so sehr für mich freut, weil ich den Jungen bekommen habe, den ich unbedingt haben wollte.
 

»Hey, Mama«, sage ich leise und unterbreche so das Gespräch zwischen ihr und Linda. Sie wendet den Kopf zu mir um und ich schaue sie einen Moment lang schweigend an.
 

»Danke«, füge ich hinzu. Sie blinzelt kurz verwirrt, aber dann breitet sich ein sehr zärtliches Lächeln auf ihrem Gesicht aus und sie drückt mir einen Kuss auf die Wange. Ich versuche nicht wie ein dummer Teenager zu reagieren und mir mit der Hand übers Gesicht zu fahren.
 

»Ich bin sehr stolz auf euch, wisst ihr?«, meint sie. Ich glaube, sie hat ein bisschen feuchte Augen. Oh man.
 

»Wir sind auch sehr stolz auf dich, Mama«, sagt Mari beherzt und drückt unsere Mutter, damit ich es nicht machen muss. In Gedanken an meine spätere Verabredung mit Cem frage ich mich unweigerlich, wie viele emotionale Achterbahnfahrten ich heute noch erleben werde.
 

*
 

Cems Haus ist riesig. Jedes der fünf Atilgan-Kinder hat ein eigenes Zimmer zusätzlich zu einem Wohn-, Schlaf- und Gästezimmer. Im Keller der Atilgans kann man sich verlaufen und der Garten ist so immens, dass ich mich jedes Mal frage, wann genau jemand die hundert Stunden Zeit findet, um all diese Beete mit Gemüse zu bearbeiten und trotzdem Vollzeit arbeiten zu gehen.
 

Es riecht immer nach Tee im Haus und jeder Zentimeter Wand ist bepflastert mit Fotos von der Familie—und zwar nicht nur mit den fünf Kindern und den Eltern, sondern auch mit Bildern der erweiterten Familie. Das bedeutet Bilder von ungefähr zehn Tanten und Onkels inklusive deren Kinder und teilweise schon weiteren Nachkommen. Großeltern über Großeltern. Ich hab über all die Jahre nie alle Namen gelernt und ich glaube nicht, dass ich auch nur die Hälfte von Cems Cousins und Cousinen jemals gesehen habe—um ehrlich zu sein weiß ich nicht, ob er nicht selber schon ein wenig den Überblick verloren hat. Ein Teil der Familie lebt auch in der Türkei und jeden Sommer packen Herr und Frau Atilgan ihre Koffer und fahren zu Besuch dorthin.
 

Dieses Wochenende scheint eine Familienfeier irgendwo in der Nähe von Bonn stattzufinden, auf die Cem nicht mitwollte, weil er beim Spiel dabei sein musste.
 

Cem schickt mich und den Alkohol, den ich in der Hand halte, direkt nach oben in sein Zimmer, während er noch mal an einen der dunkelbraunen Schränke geht, um nach Knabbersachen zu forschen.
 

Sein Zimmer sieht aus wie ein Schweinestall. Ordnung war noch nie Cems Stärke, aber ich habe das Gefühl, dass ich dafür niemanden verurteilen kann, weil ich auch seltener aufräume als es meiner Mutter lieb wäre.
 

Ich buddele mir einen Fleck Sofa frei und setze mich, stelle den Rum neben mir auf den Fußboden und lasse das Chaos aus Klamotten, DVDs, Konsolenzubehör, Schulsachen und Geschirr, das eigentlich in die Spülmaschine geräumt werden sollte, auf mich wirken.
 

Cem lässt nicht lange auf sich warten und balanciert ein bunt gemustertes Tablett mit drei Flaschen Cola, Chips, Erdnussflips und einem Berg Eiswürfel ins Zimmer. Mit dem rechten Fuß schiebt er einen Stapel Kicker Magazine vom Tisch, ehe er das Tablett darauf abstellt und mich direkt erstmal mit einem Eiswürfel bewirft.
 

»Ok, Ansage«, meint Cem, katapultiert einen Berg Wäsche vom Sofa auf den Teppich und wirft sich neben mich, »kein Gelaber über Gefühle bis ich anfange unkoordiniert zu sprechen und keine Umarmungen, bis ich kaum noch laufen kann.«
 

Ich habe Gefühl, dass ich anmerken sollte, dass das kaum eine gesunde Art ist mit seinen Problemen umzugehen. Aber da ich selber im Glashaus sitze, was das angeht, halte ich die Klappe und vertraue meinem besten Kumpel. Außerdem darf er auch mal dumm sein. Mein Gehirn ist auch ein wenig an der Tatsache hängen geblieben, dass Cem offensichtlich davon ausgeht, Umarmungen und Gespräche über Gefühle zu brauchen und zu wollen.
 

Vielleicht ist es dieses ganz spezielle Thema, das ihn zu irrationalem Verhalten treibt. Wir haben alle so ein Thema—oder vielleicht auch mehrere davon. Bei mir ist es alles, was mit meinem alten Mann zu tun hat. Bei Cem scheint es Daniel zu sein.
 

Ich fasse es immer noch nicht so richtig, dass mir nie wirklich klar war, dass Daniel quasi mein Vorgänger war. Junger Teenager Julius war geistig wirklich nicht sonderlich auf der Höhe.
 

Wir schenken uns Rum-Cola ein, reißen eine Tüte Erdnussflips auf—die ich ausschließlich aus Solidarität zu Cem esse—und lassen noch mal das Spiel von heute Morgen Revue passieren.
 

Es dauert keine anderthalb Stunden, da ist Cem auf dem besten Weg zu hackedicht. Ich trinke zwar mit, aber etwas weniger fleißig, damit ich noch ein halbwegs funktionierendes Gehirn habe, falls es tatsächlich zu irgendwelchen Gefühlsausbrüchen kommt.
 

Cem hat aus Elifs Zimmer Mario Kart besorgt und obwohl er schon betrunkener ist als ich, ist er ziemlich unschlagbar. Ich fluche laut, als ich zum zweiten Mal von der Rainbow Road falle und Cem lacht mich sehr gehässig aus.
 

»Warum bist du so gut in diesem Scheißspiel«, beklage ich mich und nehme noch einen Schluck Rum-Cola und ein paar Erdnussflips, während Toad wieder auf die Bahn gesetzt wird, damit ich weiterfahren kann.
 

»Übung, mein Lieber. Übung.«
 

Ich beende die Runde sehr viel später als Cem und drehe den Kopf, um ihn liebevoll zu beleidigen, aber sein Gesichtsausdruck ist irgendwo zwischen meinem letzten Erdnussflip und der Kopfdrehung in sich zusammengefallen.
 

Oh.
 

»Hey«, sage ich, während Cem den Bildschirm anstarrt, als hätte er einen Geist gesehen.
 

»Hey«, gibt er zurück. Er lehnt sich in der Couch zurück und leert sein noch halb volles Glas Rum-Cola. »Wir haben den Scheiß früher dauernd gespielt.«
 

Ich muss nicht fragen, um wen es geht. Kurz überlege ich, ob ich den Controller beiseitelegen soll, aber ich will nicht, dass Cem das Gefühl hat, dass ich eine große Sache daraus mache, also behalte ich ihn in der Hand und nehme noch mehr von diesen fürchterlichen Erdnussflips.
 

»Er durfte keine Konsole haben, deswegen war er richtig mies. Mieser als du und das will schon was heißen«, fügt Cem hinzu und schnaubt, offenbar in der Erinnerung daran versunken, wie schlecht Daniel im Mario Kart spielen war.
 

»Weißt du noch, die Party bei Lasse, wo Christian auf Lasses Bett und Olis Hose gekotzt hat?«
 

Ich nicke. Damals hatte Cem noch eine Zahnspange.
 

»Und weißt du noch, wie ich später mit ‘ner Alkoholvergiftung ins Krankenhaus musste und dann erstmal gut ‘nen Monat Hausarrest hatte?«
 

Ich lege den Controller jetzt doch beiseite und drehe mich auf dem Sofa so um, dass ich Cem anschauen kann. Er betrachtet immer noch den Bildschirm, aber es kommt mir vor, als würde er eigentlich etwas ganz anderes sehen. Vielleicht die Party vor vier Jahren, auf der Cem so voll war, dass er weder stehen noch sprechen konnte, woraufhin... Daniel einen Krankenwagen angerufen hat.
 

Ah.
 

»Das war die Party, auf der ich‘s verschissen hab«, meint Cem und dreht endlich den Kopf zu mir um. Ich schlucke.
 

»Die Party, auf der ihr...?«, frage ich vorsichtig. Cem wirft seinen Controller beiseite und nickt abrupt.
 

»Weil ich. Meine verfickten Finger nicht bei mir lassen konnte. Ist ja nicht so, dass mir nicht klar war mit was für Scheißeltern er aufgewachsen ist. Und ich dachte...«
 

Cem bricht ab und er sieht aus, als würde er gerne irgendwas schlagen.
 

»Aber er hat... ähm. Er hat zurückgeküsst?«, frage ich vorsichtig. Cems Gesicht verzieht sich und er wendet den Kopf wieder ab, ehe er nickt. Ich schaue zu, wie Cem nach der Rumflasche greift und sich diesmal nicht mit Cola aufhält, sondern die Flasche ansetzt und mehrere Schlucke Rum nimmt ohne die Miene zu verziehen.
 

Ich denke daran, dass Cem diese Sache seit Jahren mit sich rumschleppt, ohne sie einer Menschenseele erzählt zu haben. Genauso wie er jahrelang niemandem gesagt hat, dass er bi ist. Jeden Tag hat er Daniel in der Schule gesehen und sich wahrscheinlich gedacht, dass er seinen besten Freund vergrault hat.
 

Kein Wunder, dass er das mit dem Bi-sein niemandem sagen wollte. Ich gehe davon aus, dass Daniel der Erste war, der überhaupt irgendetwas in die Richtung mitbekommen hat.
 

Ich hole tief Luft, schlucke ein paar Mal und öffne schließlich den Mund.
 

»Warst du... warst du verknallt... in ihn?«
 

Ich kann nicht so recht sagen, ob das genau die richtige Frage war, oder die schlimmste, die ich hätte stellen können. Vielleicht auch beides. Zu meinem grenzenlosen Entsetzen beobachte ich, wie Cems Augen feucht werden und er sich heftig auf die Unterlippe beißt, ehe er noch mal zur Flasche greift.
 

Ich strecke die Hand aus und nehme sie ihm weg.
 

»Hey«, sage ich. »Ich glaube wir sind bei der Umarmungsstation angekommen«, sage ich leise.
 

»Fick dich«, krächzt Cem ohne es wirklich zu meinen und ich zerre an seinem Handgelenk bis er auf dem Sofa halb auf mir drauf liegt, damit ich meine Arme um ihn legen kann. Cem ist niemand, der laut weint. Er ballt seine Hände zu Fäusten und atmet zittrig und ich merke, dass sein Körper bebt, aber abgesehen davon macht er keinen einzigen Mucks, außer ab und an in mein Shirt zu fluchen.
 

»Blöder Wichser«, krächzt Cem gegen mein Shirt. Ich glaube, er meint Daniel und nicht mich.
 

»Vermisst du ihn?«, will ich wissen. Cem schweigt, aber ich merke, dass das Weinen wieder schlimmer wird, also sage ich erstmal nichts weiter und verbuche das als ja. Es fühlt sich an, als hätte jemand Steine in meinen Magen geworfen. Ich erinnere mich daran, wie Cem mich angesehen hat auf dem Balkon, nachdem er entschieden hat mir zu vertrauen und mir zu sagen, dass er auch Jungs gut findet.
 

Nach allem, was mit Daniel passiert ist, muss ihm das wahnsinnig schwer gefallen sein. Und dann später, als wir im Park waren und er gefragt hat, ob ich das Knutschen mit einem Kerl ausprobieren will. Dumpf frage ich mich, wie viel Überwindung das gekostet haben muss mit den Gedanken daran im Hinterkopf, dass sein letzter bester Freund sich aus dem Staub gemacht hat, weil Cem ihn geküsst hat.
 

Die Frage, ob ich jetzt vorhabe komisch zu sein, weil ich weiß, dass er Jungs mag, fühlt sich nach all diesen Infos noch viel schwerwiegender an, als es damals der Fall war.
 

Komisch im Sinne von: Sind wir jetzt nicht mehr beste Freunde? Komisch im Sinne von: Nimmst du jetzt Abstand von mir und triffst dich nicht mehr mit mir privat, weil du es abstoßend findest, dass ich nicht nur Mädchen scharf finde?
 

Meine Kehle fühlt sich an, als hätte jemand einen Knoten hinein gemacht.
 

»Tut mir echt Leid, Alter«, flüstere ich—und ich weiß, dass er nicht ahnen kann, dass ich damit alles meine. Alles von seiner Unsicherheit hin über Daniels Verhalten und ihre gemeinsame Vergangenheit bis zu der Tatsache, dass er Angst haben musste, noch einen besten Freund zu verlieren, wenn er dieses Geheimnis von sich preisgibt.
 

Cem gibt ein undefinierbares Geräusch von sich, das so gut wie alles bedeuten kann. Ich sage nichts weiter und halte still, bis Cem irgendwann aufhört in meinen Armen zu beben.



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Von:  Goldlover
2020-08-24T15:49:27+00:00 24.08.2020 17:49
Ich habe heute die Story gefunden und musste sie in einem durchlesen. Pause nicht möglich. Du hast einen mitreissenden Schreibstil und ich habe richtig mit den Jungs mitgefühlt.
Ich bin gespannt, wie es weiter geht und drücke Cem ganz dolle die Daumen!
Von:  Finniwinniful
2020-06-29T18:03:20+00:00 29.06.2020 20:03
Ich habe die Story nun zum dritten oder vierten Mal gelesen und Cem tut mir jedes Mal etwas mehr leid!! Ich hoffe soooooo, dass sich die angelegenheit mit Daniel klären kann!!
Ich bin allerdings dafür, dass Cem es alles richtig rauslassen soll...also nicht stumm in Juls Schulter beben, sondern alles mal rauslassen...sowas tut gut...und auch mit Daniel mal ganz offen reden, damit er weiss, wie es Cem nach dem rumknutschen ging...
Kann mir aber auch gut vorstellen, dass Daniel damlas vielleicht ähnlich was gefühlt hat wie Cem und einfach selbst davon geplättet war...und Cem hat nach dem Kuss und nach Daniels 'Ich bin Hetero' bekundung ja selbst gesagt, er sei es...vielleicht hat Daniel danach auch einfach gedacht, dass es eh nichts wird und dazu noch die einstellung seiner Eltern...Aufgrunddessen hat er sich dann einfach von Cem entfernt und hat sie ohne es zu wollen oder halt zu wissen, beide verletzt!!

Fand seine klaren Worte allerdings lustig, was den Pegel um über Gefühle und was den Pegel um in den Arm genommen zu werden angeht :3

Vielleicht haben wir leser ja Glück und erfahren es bald, was es mir Daniels Verhalten auf sich hat UND selbstverständlich wie es mit Tamino und Juls weitergeht...

Liebe Grüße und einen schönen Tag/Abend wünsche ich :3


Von:  MrsKimchi
2020-05-14T13:57:40+00:00 14.05.2020 15:57
Tolle story
Von:  EmilieJasminR
2020-04-02T14:33:04+00:00 02.04.2020 16:33
Liebe Ur, ich hoffe dir geht es soweit gut. Ich wollte dich wissen lassen dass ich (und meine Freunde) weiterhin gespannt auf die weitere Entwicklung deiner Geschichte warten und uns unglaublich freuen würden, mal wieder was von dir zu lesen!
Gerade im Moment, in dieser herausfordernden Zeit, merke ich, wie ich mich nach einem kleinen Stück Normalität sehne. Und die Geschichte unserer Lieblinge ist genau das für mich: Normalität. Vielleicht findest du ja ein bisschen Zeit oder Lust dafür? Ich wäre sehr glücklich!
Alles Liebe! Emi
Von:  Ratana
2019-10-13T12:19:08+00:00 13.10.2019 14:19
Liebe Ur,
Ich lese die FF schon gefühlte Ewigkeiten mit und wollte Dir endlich auch mal mitteilen, dass ich die Geschichte an sich total super finde und auch Dein Schreibstil mega ist :) Die Charaktere sind einfach so durchdacht, dass man sie alle Liebhaben muss. Und irgendwie bin ich ein bisschen neidisch auf die ganzen Knuddelhaufen. XD
Es hat mich echt gefreut, als Du wieder etwas Zeit/Muse hattest zu schreiben und ich hoffe auf eine Fortsetzung :)

Übrigens bin ich auf einer WG-Feier von einem Tamino begrüßt worden der Recht gut zu Deiner Geschichte passt XD

Liebe Grüße
Von:  MiuAyumi
2019-07-24T19:37:01+00:00 24.07.2019 21:37
Ich dachte hier geht die post ab wenn nach meinem Umzug reinschaue... ups xD aber egal! So kann ich aktuell die Kapitel kommentieren 💚

Ich bin froh das Juls Gedankengänge am ende so schön erklärend sind. Ich hätte nie so weit gedacht... Das macht Cems lage so viel greifbarer und... Hart! Der hat im stillen so viel durchgemacht ey q.q Daniel aber auch y__y" oh jungs... Ich glaube Juls' und Cems freundschafts lvl haben jetzt das Max. erreicht! Bromance 💕
Antwort von:  Ur
25.07.2019 15:08
Der Sommer hat leider mein Gehirn in Mehlschwitze verwandelt, deswegen ist im Moment etwas tote Hose hier :'D Aber danke für den lieben Kommentar, ich glaube auch, dass Cem und Julius jetzt bei 100/100 angekommen sind ;)
Antwort von:  MiuAyumi
16.09.2019 15:26
Nur damit du Bescheid weißt, ich warte sehnsüchtig auf neue Kapitel. (Wie sagt man sowas ohne stressen zu wollen QvQ" deprimierend diese ENS immer zu sehen und dann ist es nur eine geburtstagserinnerung TvT)
Von:  Deedochan
2019-07-02T20:36:37+00:00 02.07.2019 22:36
Ich liebe Juls Mum ♡ musste gesagt werden.

Und: armer Cem :( gut, dass sein jetziger bester Freund nicht so ein Schisser ist! Cems Gefühlswelt - trotz Julius' Perspektive - hast du sehr gut rübergebracht... wie immer :*

Bis bald!
Antwort von:  Ur
03.07.2019 08:05
Ich meine, ich will mal fair zu Daniel sein--er hats nicht leicht mit solchen Eltern und internalisierte Homophobie ist richtig kacke, aber ich bin natürlich auch sehr froh, dass Juls auf Cem besser reagieren kann als Daniel ;) Danke fürs Kommentieren!
Von:  Yunaxxx
2019-07-02T12:20:11+00:00 02.07.2019 14:20
Das Kapitel war ein auf und ab für mich.
Das Spiel war super. Juls war so süß als er seine 3 Visitenkarte bekommen hat. Dann kommt die Szene wo Feli mit Daniel spricht. In dem Moment dachte ich nur Mist ich will Maus spielen und erfahren worüber die beiden reden. Reden die vielleicht über Cem oder über das was auf der Party passiert ist?
Danach wieder total süß. Als er seiner Familie seinen Freund vorstellt.
Wieder Schock! Cem der so leidet. Am liebsten wäre ich zu ihm gerannt und hätte gesagt, alles wird wieder gut. Leider geht das nicht. Ich lese heute die Geschichte zum zweiten mal und ich brauche trotzdem Taschentücher. Hoffentlich kann Juls 9em ein bisschen aufheitern.
Was ich vergessen habe. Juls denkt über einen dreier nach in ca 8 Monate??? Oh mein Gott! Also auf das Kapitel bin ich jetzt schon gespannt!
Liebe Grüße :)
Antwort von:  Ur
02.07.2019 14:25
Ich glaube Juls hat nicht wirklich einen festen Zeitplan, aber es ist nichts, was er generell ablehnen würde, wenn es sich mal ergibt :'D Vorher muss er aber erstmal generell n bisschen klarkommen auf Sex, da ist er ja noch ganz grün hinter den Ohren ;)
Danke fürs liebe Kommentieren <3
Von: Karma
2019-07-01T13:30:38+00:00 01.07.2019 15:30
Verdammt, jetzt brauch ich auch Taschentücher.
;_____;
Cem tut mir so unendlich leid. Das muss so verdammt hart sein, so was jahrelang zu verstecken und nie mit irgendjemandem darüber reden zu können. Klar, dass er das nicht einfach so wegsteckt. Und ich bin verdammt froh, dass Juls sich so weiterentwickelt hat. Ich denke, ganz am Anfang - also bevor er mit der Nachhilfe bei Tamino angefangen hat - hätte er mit der ganzen Sache mit Cems Bi-Sein und seinen Gefühlen wahrscheinlich echt Probleme gehabt und dann hätte Cem das ganze Elend wohl noch ein zweites Mal durchmachen müssen. Gut, dass ihm wenigstens das erspart geblieben ist. Und ich hoffe jetzt noch mehr als vorher schon, dass die beiden sich irgendwann aussprechen, dass Daniels Zunge sich lockert und dass sie einen Weg zueinander finden.
*geht jetzt aus lauter Mitleid und Liebe für die Charas noch eine Runde heulen*
Gut, dass ich noch Mittagspause hab. Die zweite Schicht nachher wird lustig. Besser, wenn ich da nicht an das Kapitel hier denke.
^^°
Oh, by the way, freut mich für Juls, dass das Spiel so gut gelaufen ist. Mal kucken, was sich da jetzt entwickelt.
:)
*Taschentücher nehm und von dannen zuckel*
Antwort von: Karma
01.07.2019 15:32
Ah, bevor ich das noch vergesse: So süß, dass Juls sich und Tamino vor seiner Familie geoutet hat und dass seine Mama, Mari und Linda sich so für die beiden freuen.
<3
Ganz viel Liebe für alle - und besonders für Cem und Daniel, weil die's beide derzeit besonders brauchen können.
Antwort von:  Ur
01.07.2019 20:41
Julius wäre wahrscheinlich irritierter gewesen als er es war, als Cem es ihm gesagt hat, aber ich glaube nicht irgendwie negativ gesinnt. Immerhin ist er mit Mari verwandt, the raging lesbian :'D (Who shouted about being a lesbian since age 14 xD) *ein paar Tempos rüber reich*

Danke für all die Liebe, die Süßen können es gebrauchen!
Antwort von: Karma
01.07.2019 22:18
*Taschentücher annehm*
Danke, die kann ich gebrauchen. Hab das Kapitel jetzt schon zwei Mal gelesen und es tropft auch beim zweiten Mal nicht weniger. Sie tun mir alle so leid und ich hab sie so lieb.
<3
Von:  Yamasha
2019-07-01T07:58:08+00:00 01.07.2019 09:58
Ich freu mich über dieses Kapitel, weil es die ewig lange Warterei in Wartezimmer erträglicher macht. Ich freu mich auch, dass das Fußballspiel so gut gelaufen ist und Juls 3 Visitenkarten bekommen hat. Und, dass er seiner Mutter gesagt hat, dass er und Tamino jetzt zusammen sind und sie und Mari sich so sehr darüber freuen.
Was mich nicht freut, ist, dass die Sache mit Daniel Cem so unheimlich fertig macht!!! Gott, der Arme!!! So viele verdammte Jahre trägt er das mit sich rum. Es muss so hart für ihn gewesen sein und ist es bestimmt immer noch! Die ganze Zeit mit der Angst zu leben, noch einen besten Freund zu verlieren, falls er sich outet. Das will ich mir gar nicht vorstellen! Ich bin so froh, dass er sich Juls jetzt anvertrauen kann und ihm soweit vertraut. Und ich bin Julius unheimlich dankbar, dass er Cem nicht verlassen hat, als er erfahren hat dass er bi ist. Gott, ich hoffe, dass das mit den beiden sich noch regelt! Ich würde es Cem so sehr wünschen! (und natürlich sollte Cems Familie das ganze akzeptieren. Bei Daniels habe ich da keine Hoffnung...)
Antwort von:  Ur
01.07.2019 12:34
Ich freu mich, dass ich dir das Warten im Wartezimmer etwas versüßen konnte ^^ Wartezeiten beim Arzt sind fürchterlich D: Ich hatte auch sehr Mitleid mit Cem beim Schreiben, das fiel mir in der Tat sehr schwer D: Aber man kennt mich ja, es wird erst alles schrecklich und dann wird alles besser! Danke fürs Kommentieren! <3


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