Actio est reactio von Ur (von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung) ================================================================================ Kapitel 48: Nachfolge --------------------- Ich weiß spätestens, dass es ein wichtiges Spiel ist, als meine Mutter, Mari und Linda am Spielfeldrand auftauchen, während wir uns am Samstag warm machen. Es ist viertel vor zehn und Linda ist für gewöhnlich nicht vor elf aus dem Bett zu bekommen. Ich jogge kurz zu ihnen hinüber, um sie zu begrüßen und versuche nicht peinlich berührt darüber zu sein, dass meine Mutter mir einen Kuss auf die Wange drückt, um mir viel Glück zu wünschen. »Alter, ist das deine Schwester?«, will Basti von mir wissen. Ich werfe ihm einen Blick zu, der hoffentlich gleichzeitig ausdrückt, wie dumm ich die Frage finde und dass ich seine Mittäterschaft am Baggersee nicht vergessen habe. »Sieht man doch«, sage ich und wedele mit beiden Händen in Richtung meines Gesichts. »Ziemlich heiß«, sagt Basti und ich muss mich sehr zusammenreißen, ihm nicht einfach direkt auf die Schuhe zu kotzen. »Die neben ihr ist ihre Freundin. Bist nicht ihr Typ«, informiere ich ihn grimmig und wende mich von ihm ab, um potentiellen Äußerungen darüber zu entgehen, dass Lesben heiß sind. Ich weiß noch, wie Mari mir mal für eine Party abgesagt hat, auf die ich sie und Linda mitnehmen wollte. Damals war mir irgendwie noch nicht ganz so klar, mit was für einem Scheiß sie sich rumschlagen muss. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich achtzehn Jahre durchs Leben geschlafwandelt bin. Feli und ein paar ihrer Mädels gesellen sich irgendwann zu Mari und den anderen beiden. Ich erkenne unter anderem Merle, Carina und Emma, bevor ich meine Aufmerksamkeit abwenden muss, weil Trainer uns noch ein letztes Mal die Aufstellung erklärt und einige taktische Hinweise gibt. Tamino, Marek und Tae-min bekommen einen extra Schlag auf die Schulter, weil sie das erste Mal mit uns in einem offiziellen Match spielen, ohne lediglich kurz als Auswechselspieler einzuspringen—zumindest im Fall von Marek und Tae-min. Tamino sieht ziemlich nervös aus und kaut schon wieder an seinen Fingern herum. Daniel kann ich überhaupt nicht lesen. Sein Gesicht ist vollkommen neutral, während Trainer ihre Anweisungen gibt und uns schließlich auffordert, uns an der Mittellinie aufzustellen, damit wir dem anderen Team die Hand geben können. Ich erinnere mich noch an den Kapitän. Er spielt Außenverteidiger und kann fast so schnell rennen wie Tamino. Allerdings hat er den Nachteil kürzerer Beine, da er einen guten Kopf kleiner ist als mein Freund. Ha. Es klingt immer noch aufregend und ein bisschen verboten »mein Freund« zu denken. Während wir der anderen Mannschaft gegenüber stehen, habe ich das brennende Bedürfnis alle Welt wissen zu lassen, dass das mein Freund ist. Es ist ein absurder Wunsch, weil es sich anfühlt, als würde ich irgendeine tolle Errungenschaft herumzeigen wollen, wie ein Kind, das stolz auf eine Eins in Mathe auf dem Zeugnis ist. Cem sieht heute aus, als wäre er fest entschlossen. Wozu genau kann ich allerdings nicht sagen. Vielleicht will er sich Mühe geben, weil er weiß, dass es wichtig für mich ist. Vielleicht will er auch Daniel demonstrieren, wie egal er ihm ist. Oder wie sehr es ihm kein bisschen was ausmacht, dass Daniel seinen Stuhl abrückt. Vielleicht will er aber auch einfach alles so schnell wie möglich hinter sich bringen, damit er sich heute Abend mit mir die Kante geben kann. Dumpf erinnere ich mich an seine halb spaßhaft gemeinte Anfrage, zu einem Dreier eingeladen zu werden und mir steigt prompt die Hitze ins Gesicht. Da ich es nicht mal zwei Minuten aushalte, angefasst zu werden, ohne zu kommen, sollte ich mit solchen ehrgeizigen Unterfangen eher sparsam sein. Aber wer weiß. Vielleicht so in acht Monaten dann. Als der Anpfiff ertönt, schiebe ich alle Gedanken, die nicht mit dem Spiel zusammenhängen, beiseite. Cem und Tamino sind beide in Höchstform und mir wird warm ums Herz beim Gedanken, dass sie sich für mich ganz besonders bemühen. Ich darf nicht allzu sehr darüber nachdenken, dass gerade womöglich mehrere Sichter das Spiel beobachten, sonst werde ich nervös. Juls, mach dir nichts vor. Du lebst dafür, von anderen beobachtet zu werden bei Dingen, die du gut kannst. Das hier ist deine Bühne. Es dauert etwa zehn Minuten, dann hab ich vergessen, dass Sichter da sind. Oder meine Mutter. Oder sonst irgendwer. Es gibt nur noch den Ball, Mitspieler und Gegenspieler. Ich glaube, Daniel ist auch weiterhin nicht in Höchstform, aber das macht überhaupt nichts, weil Cems Verteidigung steht wie eine Eins. Zwischendurch habe ich das Gefühl, dass Cem Daniels Kopf gern gegen einen der Pfosten hauen würde, aber er lässt all seine Energie ins Spiel fließen, statt sich laut über Daniel zu beklagen. Und immerhin hält Daniel zwei ziemlich kappe Kopfbälle, also bin ich etwas beruhigt, als wir zum Gegenangriff durchstarten. Wie erwartet, ist Tamino zu schnell für den Kapitän der anderen Mannschaft, der zwar einen heldenhaften Versuch unternimmt mitzuhalten, aber letztendlich keine Chance hat. Und weil Tamino Tamino ist, bekomme ich den Ball zugespielt, um ihn im gegnerischen Tor zu versenken. Es ist egal, dass Daniel nicht mit voller Leistung spielt. Wir gewinnen zwei zu eins mit einem ziemlich spektakulären Kopfballtor von Cem in der dreiundachtzigsten Minute. Sobald das Spiel vorbei ist, begraben wir ihn unter uns und ich höre ihn gleichzeitig lachen und gespielt empört schnaufen, während vier Leute gleichzeitig an ihm hängen. Tamino wuschelt mir durch die Haare und grinst wie ein Honigkuchenpferd. Die Schmetterlinge in meinem Bauch haben nichts mit unserem Sieg zu tun. »Gut gespielt, Captain«, sagt er. Mein Magen macht einen doppelten Salto und ich schlucke, ehe ich breit zurück grinse und Tamino auf den Rücken haue. »Du auch, Spock«, gebe ich zurück und strecke ihm die Zunge heraus. Einige der Leute vom Spielfeldrand strömen aufs Feld, um uns zu gratulieren. Abgesehen von allem anderen macht mich dieser Sieg unheimlich zufrieden, weil er zeigt, dass wir Konstantin und Lennard nicht brauchen, um gut zu spielen. Ich würde fast sagen, dass wir heute sogar noch besser gespielt haben, als die letzten Male. Trainer haut uns allen nacheinander auf den Rücken und gratuliert uns breit grinsend. Sie nickt mir anerkennend zu und zeigt mir zwei Daumen hoch, was mein Inneres dazu bringt, sich vor lauter Stolz aufzublasen. Und als ich eine Viertelstunde später ganze drei Visitenkarten in den Händen halte, schaltet sich mein Bewusstsein wegen Reizüberflutung aus und ich muss mich erstmal in Ruhe irgendwohin setzen. Wie es sich herausstellt, haben schon zwei andere Leute genau denselben Platz für Ruhe auserkoren wie ich und als ich um die Ecke hinterm Umkleidengebäude biege, entdecke ich Feli und Daniel mit dem Rücken an die Backsteinmauer gelehnt. Feli sieht mich und wirft mir ein flüchtiges Lächeln zu, ehe sie mit dem Kopf ruckt um mir anzudeuten, dass ich mich wieder verpieseln soll. Also drehe ich auf dem Absatz um, bevor Daniel mich sieht und in Panik gerät und verstecke mich stattdessen auf dem Klo. Die drei Visitenkarten fühlen sich merkwürdig schwer in meiner linken Hand an. Ich bleibe eine Viertelstunde einfach auf dem Klodeckel sitzen und denke darüber nach, was ich mit meinem Leben anfangen will. Jetzt, wo das Adrenalin allmählich abebbt und die Müdigkeit einsetzt, fangen meine Gedanken automatisch wieder an zu kreiseln. Diese Visitenkarten sind das, worauf ich jahrelang hingearbeitet habe. Irgendwie hab ich das Gefühl, dass es sich anders anfühlen sollte. Ich schiebe die drei Karten in die Hosentasche meiner Shorts und verlasse die Toilette, um zu duschen und mich umzuziehen. Tamino und Cem sind schon fertig und warten auf mich. »Alles ok, Alter?«, fragt Cem leise. »Jap. Brauchte nur’n Moment zum Durchatmen«, gebe ich zurück. Cem schnaubt amüsiert. »Da hast du dir mit’m Klo ja genau den richtigen Ort ausgesucht.« »Halt die Schnauze, man, ich war erst draußen, aber da waren Daniel und Feli und wollten ihre Ruhe haben«, brumme ich halb empört, halb amüsiert und haue Cem auf den Oberarm. Bei der Erwähnung von Daniel flackert sein Gesicht und er stopft seine Hände in die Hosentaschen. »Steht heute Abend noch?«, fragt Cem schließlich, als hätte ihm allein die Erwähnung von Daniels Namen nichts ausgemacht. Tamino macht sich dezent schon einmal auf den Weg Richtung Tür. »Auf jeden Fall, man. Was willst du trinken? Ich geh einkaufen«, sage ich. »Alles um die vierzig Prozent ist Bombe, Alter«, gibt Cem zurück und zuckt mit den Schultern. »Ok.« »Kannst zu mir kommen. Der Rest der Bagage ist übers Wochenende ausgeflogen«, meint er. Cem liebt seine Familie abgöttisch, aber er lädt Leute meistens nur dann ein, wenn kaum oder keiner von ihnen zu Hause ist, weil ihm die Gastfreundschaft seiner Familie zu peinlich ist. Ich hab selten nettere Leute kennengelernt als Cems Eltern und ich glaube, wenn Cem irgendwann mal eine Gruppe Freunde einladen würde, dann würden all diese Leute so arg verhätschelt werden, dass sie keine Ahnung, wie ihnen geschieht. Jedes Mal, wenn ich zu Besuch bin, verlasse ich das Haus anschließend mit ungefähr zehn Kilo mehr Körpergewicht. Ich finde Mama, Mari und Linda draußen, die mir noch mal gratulieren und mir erzählen, wie stolz sie auf mich sind. Ich freue mich, aber ich hab auch Cem und Daniel im Hinterkopf. Wahrscheinlich gibt es das perfekte Glück nicht wirklich. Als ich Tamino entdecke, winke ich ihn zu uns herüber, weil ich irgendwie immer noch nicht dazu gekommen bin, Mama und Mari zu erzählen, dass ich seit neustem vergeben bin. Weil ich in der Umkleide so lange getrödelt habe, ist kaum noch jemand da und Tamino tritt deutlich nervös neben mich. Ich werfe ihm einen fragenden Blick zu und er scheint zu verstehen, was ich meine, denn er nickt verlegen und fängt prompt an, an seinen Fingern herumzukauen. »Ähm. Mama, weißt du noch, wie ich meinte, dass ich nicht glaube, dass ich diesen besagten Jungen erobert kriege?«, platzt es schließlich aus mir raus und ich sehe, wie Taminos Augen sich weiten angesichts der Offenbarung, dass ich mit meiner Mutter über meinen Liebeskummer geredet habe. Ihr Gesicht ist einen Augenblick lang verwirrt, dann huschen ihre Augen zu Tamino und ihr Gesichtsausdruck hellt sich auf. »Oh!«, sagt sie und strahlt so offenkundig begeistert, dass mir ganz warm ums Herz wird. Tamino sieht aus, als würde er gleich in Ohnmacht fallen. »Ähm… ja. Ich hab mich jedenfalls geirrt und eine Eroberung hat definitiv stattgefunden und wir sind nicht geoutet, also wär’s geil, wenn ihr jetzt nicht irgendwie in Tränen ausbrecht oder sowas«, füge ich hastig hinzu, weil Mari und Linda aussehen, als würden sie sich jeden Moment tanzend und quietschend in die Arme fallen wollen. »Na schön, aber dann will ich euch alle zum Essen einladen«, sagt meine Mutter. Tamino lächelt verlegen und duckt sich ein bisschen. Ich würde sehr gerne seine Hand nehmen, aber reiße mich zusammen und räuspere mich. »Na schö—« »Thailändisch!«, ruft Mari enthusiastisch und ich verdrehe entnervt die Augen, widerspreche aber nicht. So landen wir zu fünft bei unserem Stamm-Thailänder und Tamino und ich teilen uns jeweils unsere Gerichte, weil wir uns nicht entscheiden konnten, woraufhin Mari, Mama und Linda etwa zehn Minuten damit verbringen, uns zu erzählen, was für ein süßes Paar wir sind. Ich sterbe mehrere Schamtode innerhalb kürzester Zeit. Tamino hingegen sieht zwar auch ziemlich verlegen aus, aber er leuchtet auch, als wäre er in diesem Moment sehr, sehr glücklich. Unweigerlich denke ich daran, dass sein Vater sich mit großer Wahrscheinlichkeit kein Stück dafür interessiert, dass sein Sohn in einer Beziehung ist. Ich erinnere mich daran, dass Tamino meinte, dass seine Mutter mich sicher gemocht hätte. Mein Herz fühlt sich bei dieser Erinnerung gleichzeitig federleicht und tonnenschwer an. Ich betrachte meine eigene Mutter, die munter mit Linda über irgendeinen Film schnackt und sich so sehr für mich freut, weil ich den Jungen bekommen habe, den ich unbedingt haben wollte. »Hey, Mama«, sage ich leise und unterbreche so das Gespräch zwischen ihr und Linda. Sie wendet den Kopf zu mir um und ich schaue sie einen Moment lang schweigend an. »Danke«, füge ich hinzu. Sie blinzelt kurz verwirrt, aber dann breitet sich ein sehr zärtliches Lächeln auf ihrem Gesicht aus und sie drückt mir einen Kuss auf die Wange. Ich versuche nicht wie ein dummer Teenager zu reagieren und mir mit der Hand übers Gesicht zu fahren. »Ich bin sehr stolz auf euch, wisst ihr?«, meint sie. Ich glaube, sie hat ein bisschen feuchte Augen. Oh man. »Wir sind auch sehr stolz auf dich, Mama«, sagt Mari beherzt und drückt unsere Mutter, damit ich es nicht machen muss. In Gedanken an meine spätere Verabredung mit Cem frage ich mich unweigerlich, wie viele emotionale Achterbahnfahrten ich heute noch erleben werde. * Cems Haus ist riesig. Jedes der fünf Atilgan-Kinder hat ein eigenes Zimmer zusätzlich zu einem Wohn-, Schlaf- und Gästezimmer. Im Keller der Atilgans kann man sich verlaufen und der Garten ist so immens, dass ich mich jedes Mal frage, wann genau jemand die hundert Stunden Zeit findet, um all diese Beete mit Gemüse zu bearbeiten und trotzdem Vollzeit arbeiten zu gehen. Es riecht immer nach Tee im Haus und jeder Zentimeter Wand ist bepflastert mit Fotos von der Familie—und zwar nicht nur mit den fünf Kindern und den Eltern, sondern auch mit Bildern der erweiterten Familie. Das bedeutet Bilder von ungefähr zehn Tanten und Onkels inklusive deren Kinder und teilweise schon weiteren Nachkommen. Großeltern über Großeltern. Ich hab über all die Jahre nie alle Namen gelernt und ich glaube nicht, dass ich auch nur die Hälfte von Cems Cousins und Cousinen jemals gesehen habe—um ehrlich zu sein weiß ich nicht, ob er nicht selber schon ein wenig den Überblick verloren hat. Ein Teil der Familie lebt auch in der Türkei und jeden Sommer packen Herr und Frau Atilgan ihre Koffer und fahren zu Besuch dorthin. Dieses Wochenende scheint eine Familienfeier irgendwo in der Nähe von Bonn stattzufinden, auf die Cem nicht mitwollte, weil er beim Spiel dabei sein musste. Cem schickt mich und den Alkohol, den ich in der Hand halte, direkt nach oben in sein Zimmer, während er noch mal an einen der dunkelbraunen Schränke geht, um nach Knabbersachen zu forschen. Sein Zimmer sieht aus wie ein Schweinestall. Ordnung war noch nie Cems Stärke, aber ich habe das Gefühl, dass ich dafür niemanden verurteilen kann, weil ich auch seltener aufräume als es meiner Mutter lieb wäre. Ich buddele mir einen Fleck Sofa frei und setze mich, stelle den Rum neben mir auf den Fußboden und lasse das Chaos aus Klamotten, DVDs, Konsolenzubehör, Schulsachen und Geschirr, das eigentlich in die Spülmaschine geräumt werden sollte, auf mich wirken. Cem lässt nicht lange auf sich warten und balanciert ein bunt gemustertes Tablett mit drei Flaschen Cola, Chips, Erdnussflips und einem Berg Eiswürfel ins Zimmer. Mit dem rechten Fuß schiebt er einen Stapel Kicker Magazine vom Tisch, ehe er das Tablett darauf abstellt und mich direkt erstmal mit einem Eiswürfel bewirft. »Ok, Ansage«, meint Cem, katapultiert einen Berg Wäsche vom Sofa auf den Teppich und wirft sich neben mich, »kein Gelaber über Gefühle bis ich anfange unkoordiniert zu sprechen und keine Umarmungen, bis ich kaum noch laufen kann.« Ich habe Gefühl, dass ich anmerken sollte, dass das kaum eine gesunde Art ist mit seinen Problemen umzugehen. Aber da ich selber im Glashaus sitze, was das angeht, halte ich die Klappe und vertraue meinem besten Kumpel. Außerdem darf er auch mal dumm sein. Mein Gehirn ist auch ein wenig an der Tatsache hängen geblieben, dass Cem offensichtlich davon ausgeht, Umarmungen und Gespräche über Gefühle zu brauchen und zu wollen. Vielleicht ist es dieses ganz spezielle Thema, das ihn zu irrationalem Verhalten treibt. Wir haben alle so ein Thema—oder vielleicht auch mehrere davon. Bei mir ist es alles, was mit meinem alten Mann zu tun hat. Bei Cem scheint es Daniel zu sein. Ich fasse es immer noch nicht so richtig, dass mir nie wirklich klar war, dass Daniel quasi mein Vorgänger war. Junger Teenager Julius war geistig wirklich nicht sonderlich auf der Höhe. Wir schenken uns Rum-Cola ein, reißen eine Tüte Erdnussflips auf—die ich ausschließlich aus Solidarität zu Cem esse—und lassen noch mal das Spiel von heute Morgen Revue passieren. Es dauert keine anderthalb Stunden, da ist Cem auf dem besten Weg zu hackedicht. Ich trinke zwar mit, aber etwas weniger fleißig, damit ich noch ein halbwegs funktionierendes Gehirn habe, falls es tatsächlich zu irgendwelchen Gefühlsausbrüchen kommt. Cem hat aus Elifs Zimmer Mario Kart besorgt und obwohl er schon betrunkener ist als ich, ist er ziemlich unschlagbar. Ich fluche laut, als ich zum zweiten Mal von der Rainbow Road falle und Cem lacht mich sehr gehässig aus. »Warum bist du so gut in diesem Scheißspiel«, beklage ich mich und nehme noch einen Schluck Rum-Cola und ein paar Erdnussflips, während Toad wieder auf die Bahn gesetzt wird, damit ich weiterfahren kann. »Übung, mein Lieber. Übung.« Ich beende die Runde sehr viel später als Cem und drehe den Kopf, um ihn liebevoll zu beleidigen, aber sein Gesichtsausdruck ist irgendwo zwischen meinem letzten Erdnussflip und der Kopfdrehung in sich zusammengefallen. Oh. »Hey«, sage ich, während Cem den Bildschirm anstarrt, als hätte er einen Geist gesehen. »Hey«, gibt er zurück. Er lehnt sich in der Couch zurück und leert sein noch halb volles Glas Rum-Cola. »Wir haben den Scheiß früher dauernd gespielt.« Ich muss nicht fragen, um wen es geht. Kurz überlege ich, ob ich den Controller beiseitelegen soll, aber ich will nicht, dass Cem das Gefühl hat, dass ich eine große Sache daraus mache, also behalte ich ihn in der Hand und nehme noch mehr von diesen fürchterlichen Erdnussflips. »Er durfte keine Konsole haben, deswegen war er richtig mies. Mieser als du und das will schon was heißen«, fügt Cem hinzu und schnaubt, offenbar in der Erinnerung daran versunken, wie schlecht Daniel im Mario Kart spielen war. »Weißt du noch, die Party bei Lasse, wo Christian auf Lasses Bett und Olis Hose gekotzt hat?« Ich nicke. Damals hatte Cem noch eine Zahnspange. »Und weißt du noch, wie ich später mit ‘ner Alkoholvergiftung ins Krankenhaus musste und dann erstmal gut ‘nen Monat Hausarrest hatte?« Ich lege den Controller jetzt doch beiseite und drehe mich auf dem Sofa so um, dass ich Cem anschauen kann. Er betrachtet immer noch den Bildschirm, aber es kommt mir vor, als würde er eigentlich etwas ganz anderes sehen. Vielleicht die Party vor vier Jahren, auf der Cem so voll war, dass er weder stehen noch sprechen konnte, woraufhin... Daniel einen Krankenwagen angerufen hat. Ah. »Das war die Party, auf der ich‘s verschissen hab«, meint Cem und dreht endlich den Kopf zu mir um. Ich schlucke. »Die Party, auf der ihr...?«, frage ich vorsichtig. Cem wirft seinen Controller beiseite und nickt abrupt. »Weil ich. Meine verfickten Finger nicht bei mir lassen konnte. Ist ja nicht so, dass mir nicht klar war mit was für Scheißeltern er aufgewachsen ist. Und ich dachte...« Cem bricht ab und er sieht aus, als würde er gerne irgendwas schlagen. »Aber er hat... ähm. Er hat zurückgeküsst?«, frage ich vorsichtig. Cems Gesicht verzieht sich und er wendet den Kopf wieder ab, ehe er nickt. Ich schaue zu, wie Cem nach der Rumflasche greift und sich diesmal nicht mit Cola aufhält, sondern die Flasche ansetzt und mehrere Schlucke Rum nimmt ohne die Miene zu verziehen. Ich denke daran, dass Cem diese Sache seit Jahren mit sich rumschleppt, ohne sie einer Menschenseele erzählt zu haben. Genauso wie er jahrelang niemandem gesagt hat, dass er bi ist. Jeden Tag hat er Daniel in der Schule gesehen und sich wahrscheinlich gedacht, dass er seinen besten Freund vergrault hat. Kein Wunder, dass er das mit dem Bi-sein niemandem sagen wollte. Ich gehe davon aus, dass Daniel der Erste war, der überhaupt irgendetwas in die Richtung mitbekommen hat. Ich hole tief Luft, schlucke ein paar Mal und öffne schließlich den Mund. »Warst du... warst du verknallt... in ihn?« Ich kann nicht so recht sagen, ob das genau die richtige Frage war, oder die schlimmste, die ich hätte stellen können. Vielleicht auch beides. Zu meinem grenzenlosen Entsetzen beobachte ich, wie Cems Augen feucht werden und er sich heftig auf die Unterlippe beißt, ehe er noch mal zur Flasche greift. Ich strecke die Hand aus und nehme sie ihm weg. »Hey«, sage ich. »Ich glaube wir sind bei der Umarmungsstation angekommen«, sage ich leise. »Fick dich«, krächzt Cem ohne es wirklich zu meinen und ich zerre an seinem Handgelenk bis er auf dem Sofa halb auf mir drauf liegt, damit ich meine Arme um ihn legen kann. Cem ist niemand, der laut weint. Er ballt seine Hände zu Fäusten und atmet zittrig und ich merke, dass sein Körper bebt, aber abgesehen davon macht er keinen einzigen Mucks, außer ab und an in mein Shirt zu fluchen. »Blöder Wichser«, krächzt Cem gegen mein Shirt. Ich glaube, er meint Daniel und nicht mich. »Vermisst du ihn?«, will ich wissen. Cem schweigt, aber ich merke, dass das Weinen wieder schlimmer wird, also sage ich erstmal nichts weiter und verbuche das als ja. Es fühlt sich an, als hätte jemand Steine in meinen Magen geworfen. Ich erinnere mich daran, wie Cem mich angesehen hat auf dem Balkon, nachdem er entschieden hat mir zu vertrauen und mir zu sagen, dass er auch Jungs gut findet. Nach allem, was mit Daniel passiert ist, muss ihm das wahnsinnig schwer gefallen sein. Und dann später, als wir im Park waren und er gefragt hat, ob ich das Knutschen mit einem Kerl ausprobieren will. Dumpf frage ich mich, wie viel Überwindung das gekostet haben muss mit den Gedanken daran im Hinterkopf, dass sein letzter bester Freund sich aus dem Staub gemacht hat, weil Cem ihn geküsst hat. Die Frage, ob ich jetzt vorhabe komisch zu sein, weil ich weiß, dass er Jungs mag, fühlt sich nach all diesen Infos noch viel schwerwiegender an, als es damals der Fall war. Komisch im Sinne von: Sind wir jetzt nicht mehr beste Freunde? Komisch im Sinne von: Nimmst du jetzt Abstand von mir und triffst dich nicht mehr mit mir privat, weil du es abstoßend findest, dass ich nicht nur Mädchen scharf finde? Meine Kehle fühlt sich an, als hätte jemand einen Knoten hinein gemacht. »Tut mir echt Leid, Alter«, flüstere ich—und ich weiß, dass er nicht ahnen kann, dass ich damit alles meine. Alles von seiner Unsicherheit hin über Daniels Verhalten und ihre gemeinsame Vergangenheit bis zu der Tatsache, dass er Angst haben musste, noch einen besten Freund zu verlieren, wenn er dieses Geheimnis von sich preisgibt. Cem gibt ein undefinierbares Geräusch von sich, das so gut wie alles bedeuten kann. Ich sage nichts weiter und halte still, bis Cem irgendwann aufhört in meinen Armen zu beben. 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