Actio est reactio von Ur (von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung) ================================================================================ Kapitel 43: drift kompatibel ---------------------------- Weil der nächste Bus erst in einer halben Stunde kommt, beschließen wir zu Fuß zu gehen. Wenn uns niemand entgegen kommt, bilden wir eine Viererkette und halten uns an den Händen—ich und Julius sind wieder außen, das scheint jetzt einfach unser ewiges Schicksal zu sein—und singen »Dangerous« von David Guetta. Dafür, dass der Abend so eine unerfreuliche Wendung genommen hat, bin ich jetzt bis oben hin voll mit Glückshormonen. Der Stress durchs Coming Out hat sich verflüchtigt und alles, was jetzt noch bleibt ist ein leises Vibrieren unter meiner Haut, das mich daran erinnert, dass ich gleich vielleicht endlich den Mut finde, Julius wieder anzufassen. Keiner der anderen beklagt sich darüber, dass eine 1,40 Meter breite Matratze zu schmal für vier Personen ist. Während Cem und Feli im Bad verschwinden, um meinen Gästezahnbürstenvorrat zu plündern, hilft Julius mir dabei, alle im Haushalt vorhandenen Wolldecken zusammenzutragen und auf mein Bett zu werfen. Die Stille zwischen uns ist nicht unangenehm, aber ich habe trotzdem das Bedürfnis, etwas zu sagen. »Du hättest nicht—« »Ich weiß. Aber... aber ich wollte«, sagt Julius kaum hörbar und wirft mir einen Blick zu. An einem Tag, an dem ich mich weniger glücklich fühle als heute, werde ich wahrscheinlich darüber nachdenken, dass ich Julius‘ Leben so endlos viel schwieriger gemacht habe. All der Stress mit der Mannschaft und den Freundschaften, die ihm eigentlich immer genug waren, meine abgefuckte psychische Gesundheit, die er irgendwie angefangen hat mitzutragen... Aber heute bin ich voll von flauschigen Gefühlen für meine Freunde. Ich höre Cems und Felis leise Stimmen aus dem Bad, während ich mir achtlos mein Hemd aufknöpfe und es beiseite pfeffere, um dann in meinen Schrank zu tauchen und ein Tanktop hervorzukramen, das ich zum Schlafen anziehen kann. Julius und ich gehen ins Bad, nachdem Feli und Cem fertig sind mit Zähneputzen und es ist etwas Vertrautes darin, wie wir uns schweigend umeinander herum bewegen und nach Handtüchern und Zahnpasta greifen und am Ende synchron ins Waschbecken spucken. Wir glucksen heiter darüber und ich denke verschwommen, dass ich eigentlich lieber auf Schlaf verzichten und dafür stattdessen Julius ansehen möchte. Er schiebt sich an mir vorbei aus dem Bad und sein nackter Arm streift meinen. Es kostet mich alles an Selbstbeherrschung, nicht die Hand nach ihm auszustrecken. Das Stück Haut, an dem wir uns berührt haben, kribbelt heftig, als ich Julius ins Zimmer folge. Cem und Feli scheinen keine Lust gehabt zu haben, auf uns zu warten. Feli liegt direkt an der Wand unter einer Wolldecke begraben und ist mit dem Oberkörper ganz dicht an Cems Rücken geschmiegt. Ihre langen Haare liegen über dem Kissen verteilt, einen Arm hat sie um Cems Taille geschlungen und Cems Mund ist bereits leicht geöffnet und seine Augen geschlossen, als wären die beiden total k.o. von den Ereignissen des heutigen Abends. Ich scheuche Julius zuerst ins Bett und mache das Licht aus, ehe ich ihm folge. Im Dunkeln höre ich, wie Julius sich eine der Decken krallt und sich ohne Federlesen an Cem kuschelt, der irgendetwas Unverständliches im Halbschlaf murmelt. Ein Rascheln sagt mir, dass die beiden sich wie Puzzlestücke aneinander sortiert haben und ich höre Julius‘ zufriedenes Seufzen. Mein Herz hämmert wie verrückt, als ich mich auf die Bettkante setze. Was, wenn ich wieder eine Grenze überschreite? Was, wenn— Finger greifen nach mir und ziehen mich aufs Bett. Ich atme zischend ein und halte die Luft an, als Julius mich herum manövriert, bis ich mit dem Gesicht zu ihm auf der Seite liege. »Darf ich?«, flüstert Julius, seine Stimme kaum zu hören über das Rascheln der Decken und Cems Atmen. Mein Herz überschlägt sich, als ich im Dunkeln nicke, als könnte Julius das sehen. Ich weiß nicht mal so richtig, was er eigentlich fragt, aber dann schlingen sich Arme um mich, wunderbar warme, starke Arme, die mich ganz dicht an ihn heranziehen. Und dann bricht der Damm. Julius gibt ein ersticktes Geräusch von sich und presst sich an mich, als würde er versuchen in mich hineinzukriechen. Ich schlinge meine Arme um Julius‘ Oberkörper, vergrabe mein Gesicht an seinem Hals und ehe ich es mich versehe, finde ich mich auf dem Rücken wieder und Julius liegt auf mir. Sein Atem kitzelt mich am Hals direkt unter meinem Ohr und ich vergrabe meine Finger in seinem Haar, streiche über seinen Rücken, finde meinen Weg unter sein Shirt und berühre endlich nackte Haut. Fuck, ich will ihn so unbedingt küssen. Meine Haut steht in Flammen. Ich kann mich überhaupt nicht entscheiden, wo ich zuerst anfassen will, aber letztendlich landet eine Hand dauerhaft in Julius‘ Haar und die andere bleibt unter seinem Shirt. Er riecht nach seinem Deo und meiner Zahnpasta und ein bisschen nach Rauch. Ich rutsche—mit Julius auf mir drauf—ein Stück näher zu Cem und eine von Julius‘ Händen findet eine von Cems. Jetzt, da meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, kann ich sehen, dass die beiden Händchen halten. Julius‘ andere Hand liegt auf meiner Schulter. »Ich geh hier nie mehr runter«, nuschelt Julius gegen meinen Hals und ich würde gerne sagen, dass ich eloquent antworte, aber alles, was dabei herauskommt, ist ein wirklich ausgesprochen kläglich klingendes Seufzen. »Ok«, flüstere ich. Julius schläft beinahe so schnell ein wie Cem und Feli, aber ich liege noch lange wach und lausche ihrem Atem und fahre mit den Fingern vorsichtig durch Julius‘ Haar. Hin und wieder gibt er ein wohliges Geräusch von sich und ich frage mich dunkel, ob ich ihn gerade vollkommen unpassend ausnutze, weil meine Gedanken schon wieder in eine schmutzige Richtung gehen und er dafür eindeutig nicht unterschrieben hat. Aber ich bin so glücklich, ihn anfassen zu dürfen. Alles in mir seufzt und kribbelt und ist zu einer Pfütze aus wohligen Gefühlen geschmolzen. Ich bin so am Eimer. So viel Verliebtheit kann ein Mensch unmöglich fühlen. Vielleicht sickert es schon durch die Matratze. Irgendwann zupfe ich behutsam eine Wolldecke über uns und ich schlafe erst ein, als es draußen schon wieder hell wird. Als ich aufwache, ist mir wahnsinnig warm. Es dauert einige Momente, bis mein Gehirn sich vollständig hochgefahren hat und ich mich daran erinnere, was gestern Abend alles passiert ist. Wie auf Kommando verfällt mein Herz in einen heftige Sprint, noch bevor ich wirklich anfangen kann mich in meiner Umgebung zu orientieren. Julius liegt nur noch halb auf mir. Er ist seitlich von mir heruntergerutscht und Cem klebt seitlich an ihm, eine Hand lose auf Julius’ Hüfte. Feli löffelt Cem immer noch und sie schnarcht leise gegen seinen Rücken. Alles in allem ist diese ganze Szene zu niedlich und wunderbar. Mein Herz fühlt sich an wie ein Plüschtier. Ich angele vorsichtig nach meinem Handy, das wie immer unter meinem Kopfkissen begraben liegt, und versuche mit einem Arm ein Foto von der Situation auf dem Bett zu machen. Es klappt nur so mäßig gut, aber ich schicke das Foto an meine Freunde und erhalte eine riesige Menge an Herzchen-Emojis zurück. Julius‘ Bein schiebt sich nach oben und landet auf meinem Schritt. Ich gebe ein sehr würdeloses Geräusch von mir und muss mich arg zusammenreißen, nicht mein Becken nach oben zu drücken oder aus dem Bett zu springen, als hätte eine Tarantel mich gebissen. Meine Atmung macht sehr peinliche Dinge und ich presse meine Lippen zusammen. Julius seufzt gegen meinen Hals und ich schlucke ein Wimmern. Scheiße, scheiße, scheiße. Ich muss aufstehen, sonst passiert mir noch ein sehr schreckliches Missgeschick. Ich fädele mich vorsichtig unter Julius aus dem Bett und er gibt ein unzufriedenes Grummeln von sich, schnappt sich aber prompt meine Decke, sobald ich aufgestanden bin, und umarmt sie statt mir. Ich betrachte die drei Leute in meinem Bett eine halbe Minute und mache noch ein weiteres Foto, dann husche ich leise ins Bad. Da die Schuhe meines Vaters nicht im Flur stehen, kann ich sicher sein, dass er unterwegs ist. Ich gehe duschen, um den Schlaf aus meinen Gliedern zu vertreiben. Gott sei Dank bin ich es gewohnt mit nicht mehr als vier Stunden Schlaf durch den Tag zu kommen, sonst würde ich mich jetzt vermutlich viel gerädeter fühlen, als es jetzt der Fall ist. Frisch geduscht und immer noch mit einem andauernden Fallgefühl im Magen husche ich in die Küche, schließe die Tür hinter mir und fange an, Pfannkuchen zu machen, während ich leise vor mich hinsinge und noch mal die Ereignisse des vorigen Abends durchgehe. Lennard hat nicht nur Feli sexuell belästigt, sondern auch Cem verprügelt und mit homophoben Beleidigungen um sich geworfen. Wir haben uns zu dritt vor Daniel geoutet, der zwar etwas verwirrt schien, aber immerhin nicht wirkte, als würde er das weitererzählen. Julius hat gesagt, dass er mit Trainer über Lennard—und vielleicht auch über Konstantin—reden will. Irgendwas geht ab zwischen Daniel und Cem. Cem hat uns als Freunde mit Extras bezeichnet. Und wir haben zu viert Händchen gehalten und alle kuschelnd in einem Bett geschlafen. Und, vielleicht am wichtigsten: Julius und ich haben uns angefasst. Nach einer Zeitspanne, die sich wie eine Ewigkeit angefühlt hat, hatte ich ihn endlich wieder im Arm und es hat mich so unglaublich viel Selbstbeherrschung gekostet ihn nicht zu küssen. Direkt da im Bett, gleich neben Feli und Cem. Ich wollte noch nie in meinem Leben einen Menschen so dringend küssen wie Julius. Mein Magen kribbelt wie ein ganzer Ameisenhaufen und ich lasse beinahe eins der Eier fallen, die ich für die Pfannkuchen brauche, während ich darüber nachdenke, wie es sich wohl anfühlt, Julius zu küssen. Immerhin weiß ich aus nächster Nähe, wie er aussieht, wenn er jemanden küsst. Auch wenn ich nicht eifersüchtig auf Cem bin, brenne ich ziemlich vor Neid, einfach weil ich Julius so sehr will. Ugh. Als ich Ororo an der Tür kratzen höre, verlasse ich meinen Posten am Herd kurz, um ihr zu öffnen. Sie schiebt sich mit einem anklagenden Maunzen in die Küche und schmiegt sich an meine Beine. Ich krame eine Dose Katzenfutter aus einem der Küchenschränke und stelle ihr einen Teller neben den Tisch. Ororo schmatzt zufrieden vor sich hin, während ich mich wieder meinem geplanten Berg Pfannkuchen widme. Kochen ist irgendwie beruhigend. Ich mache was mit meinen Händen und habe etwas, auf das ich mich konzentrieren kann. Als die Küchentür vorsichtig geöffnet wird, wende ich gerade den zweiten Pfannkuchen. »Du warst weg«, nuschelt Julius‘ verschlafene Stimme hinter mir und mein Herz purzelt durch meinen Brustkorb, als wäre es einen Abhang hinunter gestolpert. Julius schließt die Tür hinter sich und ich höre ihn barfuß näher kommen. »Konnte nicht mehr schlafen«, krächze ich und starre den Pfannkuchen sehr konzentriert an, als könnte er jeden Augenblick explodieren. Zögerlich schlingen sich Arme um meinen Oberkörper und ich spüre die Hitze von Julius‘ an meinem Rücken. Ich atme ziemlich laut ein und halte meinen Atem an. »Ok?« »Hm.« Julius schweigt und bleibt einfach hinter mir stehen, die Arme um mich geschlungen. Zu allem Überdruss liegen seine Hände auf meinem Brustkorb, das heißt, er kann garantiert fühlen, dass mein Herz im Moment hämmert wie eine Dampflok. Was nur dazu führt, dass das Tempo meines Herzschlags sich noch steigert. Der zweite Pfannkuchen brennt mir an. Scheiße. Der Dritte wird wieder besser. Dann drückt Julius einen Kuss in meinen Nacken und ich merke, wie jedes kleine Haar auf meinen Armen sich aufrichtet und eine heftige Gänsehaut sich ausbreitet wie ein Lauffeuer. Ich schwanke sehr zwischen dem Impuls zu fliehen und mich umzudrehen und Julius kurzerhand beduselig zu küssen. Gegen die Küchentheke, auf dem Tisch, gegen die Tür— Letztendlich bleibe ich stocksteif stehen und brate Pfannkuchen nach Pfannkuchen. Erst bei Pfannkuchen Nummer sieben tritt Julius einen Schritt zurück und ich bin so abgelenkt von der plötzlichen Leere hinter mir, dass ich mir prompt die Finger verbrenne. »Fuck!« Mir fällt fast der ganze Messbecher mit dem Restteig in die Pfanne, als Julius nach meiner Hand mit den verbrannten Fingern greift und mich hastig vom Herd weg und zur Spüle hin zieht, damit ich meine Hand unter kaltes Wasser halten kann. Leider ist Julius zu lieb. Und zu großartig. Und viel zu gut aussehend. Ich brauche einen Arzt. Oder ein Gehirnreboot. Vielleicht auch ein neues Herz, dass nicht bei allem vollkommen durchdreht, was Julius tut und sagt. Julius hält meine Finger unter kaltes Wasser und ich bin so nah dran einfach durchzudrehen und ihm von meinen unpassenden Gefühlen zu erzählen, als die Küchentür erneut aufgeht. »Pfannkuchen«, nuschelt eine sehr verschlafene Feli. Sie trägt eins von meinen Shirts, das ihr bis zur Hälfte der Oberschenkel reicht und hinter ihr schiebt sich Cem in die Küche, dessen kurzes Haar wild in alle Richtungen absteht. Er sieht ziemlich verknittert und verkatert aus. »Wasser?«, brummt er. Julius greift wortlos nach einem Glas, hält es kurz unter das schon laufende Wasser und hält es Cem hin. Ich ziehe meine Finger zurück und trockne sie ab, während meine Rippen sich anfühlen, als wären sie von einem sehr nachdrücklichen Hammer bearbeitet worden. Es ist wie eine ganz neue Art der Angststörung, nur irgendwie... aufregender? Weniger schrecklich, aber definitiv genauso stressig. Ich brate die letzten Pfannkuchen und schaffe es, keinen weiteren mehr anbrennen zu lassen, während Julius den Tisch deckt—weil er sich in der Küche wahrscheinlich besser auskennt, als mein eigener Vater. Als ich mich mit dem Berg Pfannkuchen in der Hand umdrehe, muss ich unweigerlich lächeln. Feli hat ihren Stuhl ganz dicht an Cems Stuhl geschoben und er döst auf ihrer Schulter, während sie gähnend seine Haare tätschelt. Julius hockt im Schneidersitz auf dem Fußboden und krault Ororo, die sich auf den Rücken gedreht hat und ihm ihren flauschigen Bauch präsentiert. Mein Herz schwillt auf die doppelte Größe an. Meine Güte. Kann ein Mensch so viele Gefühle auf einmal haben, ohne zu platzen? Cems Gesicht sieht aus, als würde es ordentlich wehtun, aber er sagt nichts darüber. Ich koche Tee und Kaffee, stelle Marmelade, Nutella, Zimt und Zucker und Frischkäse auf den Tisch und nehme schließlich neben Julius Platz, der Ororo nun für einen Pfannkuchen verlassen hat. »Sagt mal«, murmelt Cem und verteilt einen ganzen Berg Zimt und Zucker auf seinem Pfannkuchen, »haben wir uns gestern allesamt vor Daniel geoutet?« Julius, Feli und ich werfen uns einen Blick zu. Ich räuspere mich. »Ähm... ja?« Cem schweigt einen Augenblick. Mit seinem blauen, zugeschwollenen Auge und der aufgerissenen Lippe sieht er wahrlich übel aus. »Oh.« Julius runzelt neben mir die Stirn. »Was genau ist das eigentlich mit euch beiden?« »Huh?« »Naja, es ist irgendwie... komisch? Keine Ahnung, du hast mal gesagt, dass bei ihm Hopfen und Malz verloren ist. Und er sah irgendwie komisch aus gestern, nach dem Armdrücken. Und—« Cem bewirft Julius mit einem Stück Pfannkuchen. »Halt die Klappe«, murmelt er, aber seine Ohren sind eindeutig rot. Interessant. Cem scheint mit sich zu ringen. Er isst einen ganzen Pfannkuchen auf eine Art, die irgendwie impliziert, dass der Pfannkuchen sein erwählter Erzfeind ist. Dann starrt er mich und Julius ziemlich bockig über den Tisch hinweg an. »Wir haben mal rumgemacht«, knurrt er schließlich. »Was!?« »Red nicht so laut, du Wichser!«, blafft Cem Julius an, der eindeutig schockiert aussieht. »Sorry«, flüstert Julius, was Feli zum Kichern bringt. Sie isst ihren Pfannkuchen mit Marmelade und rührt nachdenklich in ihrem schwarzen Tee mit Milch herum. »Aber ich dachte Tamino wäre der erste Kerl gewesen, der—« Ich hüstele leise. »Tja, war er nicht. Aber ich habs nicht—es ist. Ugh. Fuck. Es ist auch schon ‘n paar Jahre her, ok? Und er hat immer gesagt, dass ich’s bloß keinem weitersagen soll. Also wehe ihr sagt es irgendwem, sonst mach ich euch die Hölle heiß!«, brummt Cem unwillig. Er sieht wirklich sehr unzufrieden aus mit der Richtung, in die dieses Gespräch gegangen ist. Als wir ihn alle erwartungsvoll anstarren, wirft er resigniert die Hände in die Luft. »Seine erste Reaktion, nachdem’s passiert ist, war zu sagen, dass er hetero ist, ja? Es war nicht so Bombe. Außerdem waren wir beide hackedicht. Und dann hab ich gesagt, dass ich auch hetero bin, weil ich mir die scheiß Blöße nicht geben wollte. Und dann hat er mich schwören lassen, dass ich das keinem erzähle, weil seine Eltern ihn sonst garantiert vor die Tür setzen würden. Also hab ich die Schnauze gehalten und bis gestern waren wir beide ganz offiziell hetero«, mault er und schiebt sich ein riesiges Stück Pfannkuchen in den Mund, vielleicht damit er eine Ausrede hat, um nicht weiter reden zu müssen. »Oh scheiße«, sage ich leise. Cem grummelt um seinen Mund voll Pfannkuchen herum. »Ich weiß überhaupt nichts über Daniels Eltern«, sagt Feli nachdenklich und Julius nickt zustimmend. Cem gibt ein Geräusch von sich, das vielleicht beunruhigend wäre, wenn er nicht immer noch auf seinem Stück Pfannkuchen herumkauen würde. Nachdem er geschluckt hat, zieht er die Schultern hoch und starrt bockig auf seinen Teller. »Sagen wir’s mal so, ja? Ich durfte da nie vorbeikommen. Schlechter Einfluss und so. Schlecht integrierte Türken klauen Deutschen die Arbeitsplätze und schleppen den Islam ein und verprügeln gute, deutsche Frauen und was weiß ich nicht noch für’n Scheiß.« Ich verziehe das Gesicht. »Ah. Solche Eltern«, sage ich mitfühlend. Julius sieht ein bisschen aus, als wäre ihm schlecht. »Und, ähm... willst du denn... noch was von ihm?«, fragt Feli vorsichtig. Cem wirft ihr einen Blick zu und er seufzt, legt sein Besteck beiseite und fährt sich mit den Händen übers Gesicht. »Ich mein. Er ist mein Typ. Was auch immer. Ich will ihn nicht heiraten oder so’n Scheiß.« »Aber du magst ihn?«, frage ich behutsam. Cems Augen huschen kurz zu meinem Gesicht und dann wieder zu seinem Pfannkuchen. »Hmpf. Dich mag ich auch, Speedy. Heißt nicht, dass ich als nächstes mit dir aufn Picknick gehen und Sterne angucken will, um dir ‘nen Antrag zu machen«, brummt er. Ich muss lachen und beschließe, dass die Fragerei jetzt ein Ende haben sollte, um Cems Laune nicht noch mehr zu verschlechtern. Wir essen unsere Pfannkuchen, gehen alle nacheinander ins Bad und verschwinden anschließend schlichtweg wieder ins Bett, ohne uns wirklich miteinander abzusprechen. Ich habe eindeutig drei Leute zu meinem Kuschelkult bekehrt. »Kann irgendwer anders ‘n verficktes Geheimnis erzählen, damit ich mich nicht wie der letzte Loser fühle?«, sagt Cem. Er liegt unter mir und Feli begraben, während Julius hinter mir liegt und ich mich sehr darauf konzentrieren muss, keinen Ständer zu bekommen, weil er mir in den Nacken atmet. Kein Problem. Über Geheimnisse reden, während man darüber fantasiert, Julius auf die Matratze zu pinnen und mit Zunge und Fingern auseinanderzunehmen, bis er nur noch wimmern kann, ist definitiv eine Leichtigkeit. »Ihr wisst schon alle, dass ich nicht schwimmen kann«, nuschelt Julius gegen meinen Nacken. Alter Schwede, muss er seine Lippen so dicht an meiner nackten Haut haben? Macht er das mit Absicht? Natürlich nicht. Ugh. Tamino, reiß dich zusammen. »Ich hab noch eins«, fügt Julius hinzu. »Schieß los«, fordert Cem. »Ich hatte erst einmal Sex. Mit Katharina. Und es war richtig schrecklich und ich hab mit ihr Schluss gemacht, weil ich nicht noch mal mit ihr schlafen wollte.« Ich habe das dringende Bedürfnis, mich umzudrehen, und Julius zu umarmen. Ich winde mich ein bisschen in meiner Sandwichposition, bis ich auf dem Rücken liege, und ziehe ihn dann schlichtweg auf mich. Wahrscheinlich keine gute Idee. Ich möchte mir lieber nicht vorstellen, mit einem Mädchen Sex zu haben, einfach weil ich denke, dass es so sein muss. Und wenn man dann noch Julius‘ generelle Einstellung zu Sex insgesamt bedenkt... Ja, ich sollte dringend aufhören über Sex mit Julius zu fantasieren. »Seid ihr sicher, dass ihr mein Geheimnis hören wollt? Es ist ziemlich deprimierend«, sagt Feli. Sie klingt erstaunlich abgeklärt. Julius, Cem und ich schauen sie alle an, sofern es geht, weil ihr Gesicht auf Cems Schulter liegt. Ihre Wange ist ein bisschen eingedrückt und ihre Haare sind über mein Kissen gefächert. »Hau’s raus«, sagt Cem. Feli seufzt. »Meine Mutter hat mich mit sechzehn bekommen und weil sie ein viel zu junger Drogenjunkie war, bin ich bei meiner Tante aufgewachsen.« Schweigen tritt ein. »Oh«, sagt Cem schließlich. Feli zuckt mit den Schultern. »Jup. Sag ich ja. Es ist weniger depressiv, wenn man weiß, dass meine Tante super ist. Mehr deprimierend, wenn man weiß, dass meine Mutter wahrscheinlich Sex im Tausch für Drogen hatte und ich keine Ahnung habe, wer mein Vater ist.« Ich starre Feli mit großen Augen an. Sie erwidert meinen Blick stetig und erstaunlich unbeeindruckt. Wenn man mit so einer Lebensgeschichte aufgewachsen ist, klingt sie vielleicht in den eigenen Ohren gar nicht mehr so schockierend, aber als Außenstehender klingt es nach einem überdramatischen Krimi. »Das erklärt die Sache mit der Verhütung«, krächzt Julius auf mir drauf. »Was?«, gebe ich verwirrt zurück und Feli kichert. »Als Julius bei mir übernachtet hat, ist er morgens Andrea über den Weg gelaufen und sie hat ihn ausgequetscht, ob er denn auch weiß, wie Verhütung funktioniert«, erklärt Feli amüsiert. »Ja, sie ist bei dem Thema etwas empfindlich, nicht zu unrecht, muss ich sagen. Aber als Julius ihr erklärt hat, dass er schwul ist, war sie beruhigt und hat ihn nicht weiter belästigt.« Ich stelle mir vor, wie Julius von einer mir unbekannten Frau wegen Verhütung in die Mangel genommen wird und schnaube gegen seine Schulter. »Hättest ihr auch von Katharina erzählen können«, schlägt Cem vor und Julius patscht ihm die Hand ins Gesicht. »Halt die Fresse, Alter. Wenigstens hechele ich nicht einem prüden Katholiken hinterher«, mault er. Cem gluckst heiter. »Vielleicht sind seine Eltern auch evangelikal, dude. Fuck, interessiert mich auch einfach echt nicht. Wenns nach mir geht, können sie auch das Spaghettimonster anhimmeln, solange sie mich mit dem Scheiß in Ruhe lassen.« Wenn man mir vor ein paar Monaten gesagt hätte, dass ich mal mit Feli, Cem und Julius in einem Kuschelhaufen auf meinem Bett liegen und Geheimnisse teilen würde, dann hätte ich wahrscheinlich gelacht und abgewinkt. Aber hier sind wir nun, vier seltsam zusammengewürfelte Leute mit ganz unterschiedlichen Geheimnissen. Ich denke darüber nach, welches von meinen Geheimnissen ich teilen sollte, bis mir klar wird, dass Julius eigentlich alle davon schon kennt. Er weiß über meine Mutter Bescheid, über mein Alkoholproblem, meine psychischen Krankheiten, die Sache mit Moritz. »Wenn wir jetzt so viele Geheimnisse kennen und voll auf einer Wellenlänge sind, heißt das, wir sind jetzt drift kompatibel?«, fragt Feli amüsiert. »Drift...was?«, fragt Julius verwirrt. Feli sieht ihn voller Entrüstung an. »Kennst du etwa Pacific Rim nicht?« Cem und Julius schütteln den Kopf, woraufhin Feli und ich einen Blick tauschen. »Ok, ihr Stümper. Wir bestellen Indisch und gucken Pacific Rim, keine Widerworte!«, ordert sie an und entknotet sich von unserem Haufen, um nach einem indischen Imbiss in der Nähe zu googeln, während ich in meinem DVD-Regal nach Pacific Rim suche. »Wo wir schon bei Geheimnissen sind, erzählst du uns noch, warum du immer so rot anläufst, wenn du mit Anish schreibst?«, fragt Julius beiläufig. Ich ziehe die DVD aus dem Regal und Feli schiebt Julius meinen Laptop hin, damit er sich von der Speisekarte etwas aussuchen kann. Cem kriegt prompt wieder rote Ohren. »Tja«, sagt er und dreht den Kopf zu Julius um. Dann verengt er die Augen zu Schlitzen und öffnet den Mund. »So ist das wenn man sextet.« Die Reaktion kommt prompt und Feli lacht Julius und Cem aus, die nun beide mit knallroten Wangen und Ohren auf meinem Bett sitzen und sich anstarren. »Ok. Klar. Sexting«, krächzt Julius. »Hmhm. Dickpics. Die ganze Schiene. Willst du welche davon sehen?«, fragt Cem lauernd. Julius schmeißt fast meinen Laptop runter, so heftig wedelt er abwehrend mit den Händen. Feli lacht und lacht und ich mustere die beiden amüsiert, während sie sich Kissen um die Ohren hauen. »Vielleicht noch nicht ganz so drift kompatibel. Aber definitiv mit viel Liebe drin«, meint Feli zu mir und ich nicke voller Zuneigung. So viel Liebe. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)