Actio est reactio von Ur (von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung) ================================================================================ Kapitel 38: Sinkflug -------------------- Er ist nicht da. Ich hab das Gefühl, dass ich das hätte kommen sehen müssen, aber irgendwie hat mein überfordertes Gehirn sich mit den Konsequenzen nicht ausreichend befasst. Ja, mir war klar, dass Tamino das alles sehr schwer nehmen würde. Aber anscheinend habe ich vergessen, was genau das im Kontext seines Gehirns bedeutet. Tamino ist nicht einfach traurig oder gestresst. Er bricht zusammen wie ein Kartenhaus. Am Anfang der Deutschstunde denke ich noch, dass er vielleicht später kommt. Aber er taucht nicht auf und da Frau Lüske nicht fragt, wo er steckt, gehe ich davon aus, dass er offiziell abgemeldet ist. Ich kann förmlich spüren, wie Cems und Felis Blicke sich in meine Seite bohren. Aber sie fragen nicht. Stattdessen sehe ich sie auf ihren Handys herumdaddeln, sobald es zur Pause geklingelt hat und ich will gerade zögerlich fragen, ob Tamino sich bei ihnen gemeldet hat—denn ich hab nichts gehört nach meiner letzten Nachricht gestern Abend—aber da kommt Frau Lüske mit einem Stapel Papier zu meinem Platz. »Julius, hier sind die Unterlagen, die Sie bezüglich des Stipendiums ausfüllen müssen. Und Tamino hat mir Ihre Unterlagen für die nächsten Wochen Nachhilfe gemailt, damit ich sie Ihnen gebe«, sagt sie und ich registriere kaum ihre Worte, als sie mir erst einen Stapel Kopien in die Hand drückt und dann einen zweiten. Der erste Stapel sieht genauso scheußlich aus, wie man es von einem bürokratischen Alptraum erwarten würde, also lege ich ihn sofort beiseite und schaue auf den zweiten Stapel. Es ist ein ziemlich dicker Stapel mit Notizen, Übungsaufgaben und Hilfestellungen inklusive ausführlicher To Do Listen zur Prüfungsvorbereitung und ein Zeitplan. Wann hat er das gemacht? Gestern, sagt eine Stimme in meinem Hinterkopf. Gestern, als er schon wusste, dass er heute nicht kommt. Dass er länger nicht kommt. »Und Tamino hat mir Ihre Unterlagen für die nächsten Wochen Nachhilfe gemailt...« Die nächsten Wochen. Wochen. Ich schaue zu Frau Lüske auf und versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass in meinem Inneren gerade sehr unschöne Dinge passieren, die von verkrampften Eingeweiden bis hin zu einem sehr kalten Gefühl in der Magengegend reichen, als mir klar wird, was das bedeutet. »Wie lange—ähm. Wie lange ist er denn weg?«, frage ich und bin mir übermäßig bewusst, dass Cem und Feli dem Gespräch zuhören. Ich hoffe, dass meine Formulierung nicht durchblicken lässt, dass ich nichts darüber wusste, dass Tamino länger nicht kommt. Frau Lüske scheint mich jedenfalls nicht zu verdächtigen. Ihre Worte sind sorgfältig gewählt. »Ärzte«, sagt sie und ihre Betonung auf dem Wort lässt mich wissen, dass es nicht irgendein Arzt war, der Tamino krankgeschrieben hat, »dürfen ja erst einmal nur zwei Wochen krankschreiben, soweit ich informiert bin. Aber ich habe es so verstanden, dass eine Folgekrankschreibung sehr wahrscheinlich ist. Mein aktueller Stand sind vier bis sechs Wochen.« Frau Lüske wirft Cem und Feli einen kurzen Blick zu, ehe sie sich wieder mir zuwendet. »Ich bin wirklich ausgesprochen beeindruckt davon, dass Tamino diesen ganzen Stapel für Sie vorbereitet hat, obwohl es ihm so schlecht geht. Ich hoffe natürlich, dass Sie das nächste Spiel für uns gewinnen, damit seine Mühe nicht umsonst war.« Ich schaffe ein müdes Lachen und senke meinen Blick dann wieder auf die Unterlagen. Vier bis sechs Wochen. Vier. Bis. Sechs. Wochen. Ist er alleine in seinem Zimmer wie letztes Mal, als er nichts gegessen oder getrunken hat? Wahrscheinlich will er mich überhaupt nicht sehen. Aber irgendwer sollte ihm die Unterlagen bringen. Aber, Juls. Er will dich nicht sehen. Deswegen ist er weg. »Alter«, höre ich Cems bedächtige Stimme neben mir und ein paar blauer und brauner Augen pinnen mich gegen meinen Stuhl, als ich aufblicke. »Was geht?« Ich halte mich an meinem Stapel Unterlagen fest und schlucke. »Ich—uh.« »Was hast du ihm denn gesagt?« »Nichts! Ich—ich hab gesagt, dass alles ok ist und er sich keinen Stress machen muss«, krächze ich. Und das war anscheinend genau das Falsche. »Vier bis sechs Wochen? Was zum—«, fängt Cem an, aber mein Blick bringt ihn zum Schweigen. »Er hat—er ist krank, ok? Psychisch, meine ich. Und wehe du sagst irgendwas Dummes darüber!«, fahre ich ihn an. Cem hebt beschwichtigend die Hände. »Hatte ich nicht vor, Alter. Elif ist bipolar.« Cems Schwester ist bipolar. Warum weiß ich das nicht? Warum weiß ich solche Dinge nicht? Warum weiß ich nicht, dass Feli mit ihrer Tante wohnt und dass Cems Schwester psychisch krank ist und— Fuck. Mein Gehirn fühlt sich an, als hätte jemand es in Benzin getunkt und angezündet. Ich sage den ganzen Rest der Pause kein einziges Wort und ich entnehme der Art, wie Feli und Cem beide immer wieder auf ihr Handy schauen, ohne auf irgendeine Nachricht zu antworten, dass Tamino ihnen nicht geschrieben hat. Ich sammele alle Unterlagen, die wir bekommen für Tamino ein und stecke sie in meinen Rucksack, aber ich bringe es nicht über mich, zu ihm nach Hause zu gehen. Mari und Mama fragen beide, was los ist, aber ich hab keinerlei Elan es irgendwem zu erklären. Ich hab keine Ahnung, wie das alles so ausufern konnte. Ein kleiner Teil von mir reagiert bockig. Deine Gefühle sind deine Gefühle. Wenn Tamino darauf so heftig reagiert, ist das nicht deine Schuld. Aber der rationale Teil meines Gehirns weiß, dass ich meine Gefühle schlichtweg nicht erklärt habe, obwohl ich wusste, was in Taminos Kopf vor sich geht, wenn so etwas passiert. Wie auch immer man ‚so etwas‘ definieren möchte. Ugh, Juls. Ich kaue auf meiner Unterlippe herum und denke an Taminos Angewohnheit, an seinen Fingern herumzukauen, bis sie bluten. Daran, dass er noch viel mehr Rum getrunken hat, obwohl er schon betrunken war, als ich abgehauen bin. Darüber, dass ein Teil von ihm Dinge nicht tun kann, die er gerne tun würde, weil er Angst hat, und ein anderer Teil von ihm ihn mit Selbstbestrafung sabotiert. Ich stelle mir vor, wie die schlechten Gefühle, die ich jetzt habe, noch um ein Vielfaches multipliziert wären, wenn mein Gehirn krank wäre, wie das von Tamino. Fuck. Ich krame nach meinem Handy und bevor ich zu sehr darüber nachdenken kann, tippe ich eine Nachricht an Tamino. »Hey, ich hab Unterlagen für dich, kann ich vorbeikommen?« Dann starre ich ganze zehn Minuten auf mein Handy und warte, dass die Nachricht als gelesen markiert angezeigt wird. Als die Worte »Tamino schreibt« auftauchen, fühle ich mein Herz irgendwo in der Gegend meiner Adamsapfels schlagen. Fuckfuckfuck. »Hey Julius, hier ist Lotta. Noah und Anni haben Tamino gestern abgeholt. Er hat mir sein Handy gegeben. Wir kümmern uns, aber es wäre nett wenn du die Unterlagen weiter sammelst.« Ich muss die Nachricht mehrmals lesen, bis ich verstehe, was sie beinhaltet. Kein Emoji. Kein Juls. Keine Versicherung, dass es Tamino ok geht. Weil es ihm nicht ok geht. Tamino hat sein Handy abgegeben. Ich erinnere mich daran, wie er auf so viele WhatsApp-Nachrichten nicht geantwortet hat, als er das letzte Mal eine depressive Episode hatte. Wahrscheinlich, weil es ihn überwältigt. Ich hab keine Ahnung, was ich Lotta darauf antworten soll, vor allem, da ihr Ton mich nicht sonderlich ermutigt überhaupt irgendetwas zu erwidern. Ich starre gute zehn Minuten meine Decke an und frage mich, was ich tun kann, um das alles irgendwie zu entschärfen, aber mir fällt nichts Sinnvolleres ein außer in der Zeit zurückzureisen und Tamino einfach auf den Mund zu küssen, statt wie ein hysterischer Armleuchter aus der Bar zu laufen. Ugh. Die nächsten Tage bringe ich es nicht über mich, Tamino noch mal zu schreiben und die Woche vergeht in einem Sumpf aus Sorgen, Vorwürfen und Überforderung mit der ganzen Situation. Jegliche Versuche von Mari, Mama und Feli mich zum Reden zu bringen blocke ich konstant ab und obwohl ich mir erst letztes Wochenende vorgenommen habe, jetzt länger nichts zu trinken, verabrede ich mich für Samstag mit Cem zum Saufen bei mir, weil weder Mama noch Mari zu Hause sind. »Was für ’ne dumme Idee, Alter«, sagt Cem, als er unser erstes Bier öffnet. Er sitzt an meinem offenen Fenster und raucht, pustet den Qualm nach draußen und dem Himmel entgegen und reicht mir mein geöffnetes Bier von der Fensterbank herunter. Ich sitze im Sessel direkt neben der Fensterbank—der Sessel, in dem Tamino Cem einen geblasen hat—und nicke mit finsterem Gesichtsausdruck. »Jap. Richtig dämlich«, sage ich. Aber keinen von uns hält es davon ab, die Flasche anzusetzen und zu trinken. Julius, deine Lebensentscheidungen werden immer sinnvoller, denke ich mir und versuche nicht allzu sehr darüber nachzudenken, was auf diesem Sessel passiert ist, auf dem ich jetzt sitze. Cem hat das Möbelstück beim Hereinkommen mit einem breiten Grinsen und einem beinahe sehnsüchtigen Gesichtsausdruck gemustert, woraufhin ich ihn trocken darauf aufmerksam gemacht habe, dass ich ihm keinen Blowjob geben werde. Cems Grinsen war ein bisschen diabolisch und hat mich daran erinnert, dass wir ja zumindest schon miteinander rumgemacht haben. Es ist unfassbar, wie weit weg das jetzt schon zu sein scheint, dabei ist es noch gar nicht so lange her. »Wenn wir genug getrunken haben, krieg ich dann Sexdetails?«, erkundige ich mich nach einem halben Bier. Cem schnaubt. »Ich dachte, Sex ist dir nicht so wichtig?« Ich komme nicht umhin ihm die Zunge rauszustrecken. »Sex mit Tamino vielleicht schon«, gebe ich ehrlich zurück. Cem lacht und lässt beinahe seine Kippe fallen, dann nimmt er einen weiteren Schluck Bier und verzieht das Gesicht. »Nach letzter Woche schmeckt es irgendwie nur noch halb so gut«, brummt er ungehalten und mustert seine Bierflasche beinahe feindselig. Ich bin froh festzustellen, dass zwischen uns beiden weiterhin alles wie beim Alten ist. Wir reden nicht über ernste Themen, sondern über irgendwelche Filme, übers nächste Spiel, darüber, wie Markus am Donnerstag ganz offensichtlich total bekifft in Politik saß. »Hat dieser Anish-Typ dir eigentlich mal geschrieben?«, will ich wissen. Cem wirft mir einen Blick zu und ich könnte schwören, dass er ein bisschen rot anläuft. Vielleicht liegt das aber auch am Bier. »Hmhm«, murmelt er und trinkt den Rest seiner Flasche auf ex. Ich habe das Gefühl, dass er nicht weiter darüber reden will, also belasse ich es dabei und frage nicht weiter nach. Erst nach fünf Flaschen Bier und einem angenehmen, alkoholischen Summen im Gehirn wendet sich das Gespräch Themen zu, die Cem und ich nüchtern sicherlich nicht besprechen würden. »Ok, spucks schon aus«, sage ich mit einem deutlichen Lallen in der Stimme. Ich liege mittlerweile auf meinem Bett und Cem kommt von einer weiteren Zigarette am offenen Fenster zu mir herüber, schiebt mich beiseite und wirft sich neben mir auf die Matratze. »Was willst du denn überhaupt wissen, man? Ist ja nicht so, als wüsstest du nicht, dass mein Arsch derjenige war, der—« Ich stoße ein würdeloses Gurgeln aus und haue Cem ein Kissen ins Gesicht. »Stop! Ich habs mir anders überlegt, ich muss doch noch mehr Bier trinken!« Cem lacht gehässig, entreißt mir das Kissen und fängt an, mich damit zu verprügeln. Letztendlich fallen wir beide vom Bett und ich lande halb auf ihm, wo ich lachend und ziemlich erschöpft liegen bleibe. Cem macht einige halbherzige Anstalten, mich von sich herunterzuschieben, aber dann gibt er auf und ich merke, wie er den Kopf schüttelt. »Ok. Ok, ich halts aus. Schieß los«, murmele ich grinsend gegen Cems Schulter. Eine Hand findet ihren Weg in meine Haare und für einen Augenblick vermisse ich Tamino so schrecklich, dass ich kaum atmen kann. Fuck. »Er hat. Uh. Ziemlich lange Finger. Und ähm. Ich weiß nicht, ob dus weißt, aber. Man kann kommen ohne—« Ich gurgele peinlich berührt. Die Hand in meinem Haar tätschelt meinen Kopf beruhigend. »Ich bin zweimal gekommen. Einmal nur mit Fingern. Und einmal dann beim eigentlichen Sex.« Mein Gesicht sieht garantiert aus wie eine reife Tomate, aber ich kann auch nicht weghören und ich will tatsächlich alles wissen. Mein Gehirn fängt an Bilder auszuspucken und ich denke mir, dass ich beizeiten dringend von Cem herunterrollen sollte, wenn das hier nicht schnell peinlich werden soll. Ich lasse mich also seitlich von Cem herunterkullern und versuche krampfhaft nicht obsessiv über Taminos lange Finger nachzudenken. »Willst du noch mehr hören?«, fragt Cem knallrot im Gesicht aber auch sichtlich amüsiert. Ich gebe ein Geräusch von mir wie ein sterbendes Nashorn und zucke mit den Schultern, während ich gleichzeitig nicke. Irgendwo in mir schlummert ein versteckter Masochist, von dem ich bislang nichts wusste. »Er redet jede Menge. Keine Ahnung, ob das nur am Alkohol lag oder—naja. Stille Wasser sind tief, Alter.« Ich schlucke. Taminos Stimme. Ist ja nicht so, als hätte ich nicht sowieso schon ein Ding für seine Stimme, aber wenn ich mir vorstelle, wie diese Stimme schmutzige Sachen in mein Ohr flüstert. Alter Schwede. »Ok, jetzt musst du aufhören, sonst krieg ich ‘ne Latte«, gebe ich offen zu und Cem lacht so laut, dass ich ihm aus Reflex den Mund zuhalte. Was für eine dumme Idee. Jetzt habe ich zu allem Überfluss jede Menge dreckige Bilder und Worte im Ohr. Herzlichen Glückwunsch Juls, du bestehst im Moment aus nichts als brillanten Ideen. * Julius herr rosenheim hatte heute wieder eins seiner bücher dabei und ich hab zum ersten mal so richtig auf den titel geachtet und im online wörterbuch nachgeschlagen und es kam definitv das wort verboten drin vor Julius ich hoffe du bist stolz auf mich ich hab all deine unterlagen von der letzten woche schon brav ordentlich abgeheftet Julius danke für die unterlagen Julius ich weiß übrigens dass du das nicht selber liest (zumindest jetzt grad nicht) aber ich bins mittlerweile wahrscheinlich gewohnt mit dir zu reden Julius hey lotta falls du das liest sag bescheid wenn das gespamme dich nervt oder so Ich weiß, dass es beknackt ist, Tamino die ganze Woche über mit Nachrichten zu bombardieren, aber ich kann es auch nicht lassen. Wahrscheinlich sollte ich vor allem anderen erst einmal versuchen die Situation zu klären, aber mir ist immer noch keine gute Idee gekommen, wie ich das anstellen soll, ohne Tamino zu erklären, dass ich mich Hals über Kopf verliebt habe und deswegen so in Panik geraten bin. Mittlerweile weiß ich nicht mal mehr, ob das überhaupt eine Erklärung für irgendwas ist. Je öfter ich die Szene in meinem Kopf durchspiele, desto klarer wird mir, dass Tamino absolut gedacht haben muss, dass er sich mir auf unpassende Weise aufgedrängt hat und ich deswegen in Tränen ausgebrochen bin. Kein Wunder, dass er in sich zusammengefallen ist wie ein Kartenhaus. Wenn ich dem Eindruck unterlegen wäre, dass ich Tamino sexuell belästigt habe, würde ich vielleicht auch ein paar Tränen verdrücken. Oder zumindest meine Zimmerwand schlagen. Aber auf jeden Fall viel Alkohol trinken. Ugh, Julius. Ich fahre damit fort Tamino mit Nachrichten zu bombardieren und ich schicke ihm auch ab und an Fotos und Sprachnachrichten, auch wenn ich jedes Mal Angst habe, dass man meiner Stimme anmerkt, dass sie kein bisschen natürlich klingt, auch wenn ich mir alle Mühe gebe ganz normal zu klingen. Ich erzähle Tamino so gut wie alles—alles, was nicht von größerer Bedeutung ist, zumindest. Ich lasse weg dass Cem momentan häufig an seinem Handy hängt und ab und an rot anläuft. Ich erzähle nichts davon, dass Cem beinahe eine Schlägerei beim Fußball anzettelt, weil Konstantin und Lennard schwulenfeindliche Witze erzählen. Ich klammere das Thema Schwulsein komplett aus, weil es thematisch zu eng mit der Party zusammenhängt. Dumpf stelle ich mir vor, wie Mari mir meine Sortierung nach Gryffindor offiziell aberkennt, weil ich mich verhalte wie ein feiger Besen. Dann erinnere ich mich daran, dass Tamino mich als Hufflepuff bezeichnet hat und ich vermisse ihn so schrecklich, dass ich nicht so richtig weiß wohin mit mir und meinen beknackten Gefühlen. Julius ich bin übrigens bald durch mit ari und dante Ich klammere meine Gefühle über die letzten Wendungen des Buches aus—plötzlich machen Maris Reaktion auf das Buch und Taminos Verlegenheit, als ich es in der Hand hatte Sinn—über die ich zwar sehr zufrieden aber auch sehr peinlich berührt bin. Ich muss daran denken, wie ich dachte, dass Tamino und ich Ari und Dante ähneln. Das war, bevor Dante sich in Ari verliebt hat und alles den Bach runter gegangen ist. Julius und wir müssen dringend deep space nine weitergucken sobald du wieder auf dem damm bist Julius feli cem und ich sind später zum eis essen verabredet Julius wir planen mit der mannschaft übrigens unseren alljährlichen ausflug und ich hab besonders wenig bock dieses jahr Julius hab ich schon danke für die unterlagen gesagt? die haben mir in bio heute den hals gerettet. ich bin einfach zu dumm für bio -.- Ich frage mich in den nächsten Wochen, ob Lotta Tamino die Nachrichten vielleicht vorliest. Noch ein Grund mehr nichts darüber zu erwähnen, dass irgendwo auf der Welt Männer existieren, die andere Männer gut finden. So wie Cem. Oder ich selber. Oder Ari und Dante. Oder… Wahrscheinlich ist Lotta schon richtig genervt von mir. Ich bin selber total genervt von mir. Feli hat angefangen mich mit Samthandschuhen anzufassen, weil ich wegen jeder Kleinigkeit an die Decke gehe. Cem nimmt keinerlei solche Rücksicht auf mich—dafür hat er mir in den letzten drei Wochen schon mindestens dreißig Mal gesagt, dass ich die Schnauze halten soll. Und zwar nicht in einem spielerisch kumpelhaften Ton. Meine schlechte Laune schlägt sich aufs Training nieder und ich hab mich alle paar Tage mit Mari in den Haaren, weil mir schlichtweg alles auf den Sack geht. Am allermeisten ich selbst. Ich schaffe es wieder nicht, einer Gruppe Mädchen die Meinung zu geigen, als sie Feli dumm anmachen, ich bin schlecht beim Training und sauer auf meine Mannschaftskameraden, weil so viele von ihnen über diese bekloppten schwulenfeindlichen Witze lachen. Ich vermisse Tamino und meine Batterie ist sowas von leer, dass ich beinahe verzweifelt genug bin, Mari nach einer Umarmung zu fragen, bis mir einfällt, dass ich sie gestern als dumme Kackbratze bezeichnet habe und sie sicherlich nicht in der Stimmung ist, mich zu drücken. Ugh. Die Krönung des Ganzen kommt, als die Mannschaft entscheidet, wohin der Ausflug gehen soll. Da das Wetter auch Anfang September immer noch umwerfend ist, wird entschieden an den Baggersee zu fahren. Zum Schwimmen. Mein erster Impuls ist zu sagen, dass ich nicht mitfahre. Dann wiederum ist es das letzte Mal, dass vorm Abi nächstes Jahr so ein Ausflug stattfinden wird und ich kann mir immer noch einen Grund ausdenken, wieso ich nicht ins Wasser möchte. Immerhin weiß nicht einmal Cem, dass ich nicht schwimmen kann. Tamino weiß es. Aber Tamino ist nicht da. Er würde das nervöse Surren unter meiner Haut verstehen, das sich in mir breit macht, als ich all die Hände sehe, die sich für einen Ausflug zum See aussprechen. Fuck my life. Julius weißt du noch wie ich gesagt hab dass ich dieses jahr keinen bock auf den mannschaftsausflug hab????? Julius die mannschaft hat beschlossen schwimmen zu fahren. ich hab erst überlegt abzusagen aber es is der letzte ausflug vorm abi und…….. naja Julius ich mach mir jetzt schon vor angst in die hose Julius ehrlich gesagt wäre es viel weniger schlimm wenn du da wärst einfach weil du weißt was los ist Julius ah sry Julius ich will dich nicht unter druck setzen vergiss was ich gesagt hab Nach meiner überstürzten Beichte an Tamino schreibe ich ihm erstmal nicht mehr. Das ganze Gejammer über mein Leben geht ihm vermutlich schon auf den Keks und ich kann es ihm nicht mal verübeln. Als es schließlich soweit ist, um an den Ort meines Untergangs zu fahren, überlege ich kurz, ob ich Ari und Dante einstecken soll. Es scheint passend zu sein, wenn ich bedenke, dass Ari zumindest am Anfang auch nicht schwimmen konnte. Dann wiederum kann ich mir die Reaktion der anderen vorstellen, wenn ich ein Buch auspacke. Und dann auch noch so ein Buch. Also bleiben Ari und Dante zu Hause und ich treffe mich um halb elf mit Cem bei ihm zu Hause, wo seine Schwester Selin auf uns wartet, um uns zusammen mit unseren Taschen und einer Kiste Bier zum Baggersee zu fahren. Selin ist Cems älteste Schwester und ich kann sie gut leiden, auch wenn es absolut unfair ist, wie gut wie in Konsolenspielen ist. Sie trägt ein bunt geblümtes Kopftuch und ein breites Grinsen, als sie uns zuwinkt. Wir hören die ganze Fahrt über sehr laut türkische Popsongs, bei denen Cem und Selin ausgesprochen enthusiastisch mitsingen und ich kann es ihnen nicht mal übel nehmen weil es irgendwie nett ist, die beiden miteinander zu beobachten. Natürlich muss ich daran denken, wie Tamino Einzelkind ist—weil all meine Gedanken früher oder später bei Tamino landen. Als wir am See ankommen und Selin wieder weg ist, mache ich ein großes Drama daraus, wie ich meine Badeshorts zu Hause vergessen habe. Nicht unbedingt meine genialste Idee. Aber es funktioniert zumindest nach einigen Minuten des Gelächters und des Augenverdrehens. »Ich hüte euer Bier, ihr Wichser«, erkläre ich großmütig und pflanze mich auf ein Handtuch mitten ins Gras neben eine große Ansammlung an Bierkisten und Kühltaschen. »Wehe du säufst uns alles weg«, warnt Adnan mich mit einem breiten Grinsen. Ich zucke mit den Schultern und strecke ihm die Zunge raus, ehe ich mir mein erstes gekühltes Bier nehme. Gott sei Dank ist meine Position weit genug vom Wasser weg, sodass ich zwar ein ununterbrochen nervöses Vibrieren spüre, aber immerhin nicht komplett in Panik und Angstschweiß ausbreche. Weil mein Gehirn ein dummer Verräter ist, muss ich an den Tag denken, an dem Tamino mich mit zum kleinen See in unserer Nähe geschleppt hat, um mir seine Angststörung zu erklären. Die Sonne scheint erbarmungslos auf mich herunter, während ich mein Bier trinke und versuche mich nicht allzu sehr auf das plätschernde Geräusch des Wassers zu konzentrieren. Die meisten sind bereits im Wasser und ich schaue aus der Ferne zu, wie Cem, Adnan, Yousef, Daniel und Oli sich eine Wasserschlacht liefern. Ich frage mich, ob Cem gestresst ist, weil Daniel nur eine Badeshorts trägt und gerade dabei ist, Cem in den Schwitzkasten zu nehmen. Vielleicht bin auch nur ich so ein Weichei wenn es darum geht, von seinem Angebeteten angetatscht zu werden. Nach zwei Runden Beachvolleyball, noch drei Flaschen Bier und einer sehr hitzigen Runde UNO gegen Cem, Daniel und Adnan—UNO ist seit neustem ebenfalls schwul, wie Lennard uns erklärt hat, bevor er wieder in Richtung Wasser verschwunden ist—fühle ich mich beinahe entspannt. Vielleicht ist der Ausflug doch nicht so schlimm wie ich dachte. Vielleicht hätte ich das nicht denken sollen. Lennard, Basti und Konstantin haben offenbar beschlossen, dass es nicht sein kann, dass der Kapitän der Mannschaft kein bisschen nass wird, während wir an einem Baggersee abhängen. Zugegebenermaßen können sie nicht wissen, warum ich nicht ins Wasser will. Aber nach dem ersten ziemlich panischen »Nein!« finde ich, dass sie hätten aufhören sollen. Mein Gehirn schaltet sich aus, als die Drei mich Richtung Wasser schleifen. Eine kalte Panik fällt über mir zusammen, während sie mich halb ziehen, halb tragen, um mich in den See zu werfen. Meine Gliedmaßen fühlen sich an, als wären sie aus Blei. Sag einfach, dass du nicht schwimmen kannst. Sag es einfach. Spuck es einfach aus. Aber meine Stimme hat mich im Stich gelassen und ich glaube nicht, dass ich schon mal etwas Schrecklicheres gesehen habe als diesen verfluchten Baggersee voller lachender Menschen. Als wir den Steg erreichen, der ins Wasser ragt, hat kalter Angstschweiß mein Shirt bereits vollständig durchgenässt und ich weiß nicht, wie oft ich »Nein« und »Lasst mich los« gekeucht habe. Es ist nichts mehr als statisches Rauschen in meinem Gehirn und ein verzweifelter Gedanke von »Halt die Luft an«, bevor ich merke, dass ich losgelassen werde. Der Himmel kippt und meine klammen Finger greifen nach Bastis Shirt und dann… Kalte Nässe und der überwältigende Drang zu atmen, Luft zu holen, den Mund zu öffnen und panisch nach Sauerstoff zu schnappen. Ich hab keine Ahnung wo oben und unten ist als ich untergehe und mit Armen und Beinen um mich schlage, als würde mich das irgendwie an die Oberfläche zurückbringen, wenn ich nicht mal weiß, wo die Oberfläche ist. Ich kann meine Augen nicht aufhalten und mein Herz hämmert so sehr, dass es mir wahrscheinlich gleich aus dem Brustkorb springt. Ich muss atmen. Ich muss Luft holen, ich muss— Ein Paar langer Arme schlingen sich um meinen Oberkörper und in meiner Panik klammere ich mich an dem Anker fest, der wie aus dem Nichts aufgetaucht ist. Ich erwische Finger und den Saum eines Shirts und ich glaube, ich trete viel zu heftig um mich, als dass man mich problemlos an die Oberfläche ziehen könnte, aber— Im nächsten Augenblick durchbricht mein Kopf die Wasseroberfläche und ich keuche und huste mit die Lunge aus dem Leib, während ich panisch versuche so viel Sauerstoff in meinen Körper zu ziehen wie nur irgend möglich. »Hey, hey. Ich hab dich.« Oh. Ich will weinen. Ich will weinen und schreien und aus dem Wasser und nach Hause und atmen, atmen, atmen, während die Panik in mich wütet wie ein Vulkanausbruch. Tamino ist in kompletter Montur in den See gesprungen. Ich hab keine Ahnung, wo er herkommt und warum er überhaupt da ist—»ehrlich gesagt wäre es viel weniger schlimm wenn du da wärst einfach weil du weißt was los ist«—aber im Moment ist mein Kopf nicht in der Lage irgendwas zu denken. Ich klammere mich an Tamino fest und weigere mich loszulassen. Auch, als wir schon an Land sind. Ich spucke immer noch Wasser und huste und meine Luftröhre brennt schmerzhaft. Mir ist klar, dass Leute starren und flüstern, aber ich hab keine Kapazität im Gehirn für irgendetwas außer Panik. »Ich hab dich. Alles ist in Ordnung«, murmelt Tamino in mein Ohr. Ich hoffe, ich heule nicht gegen seine Schulter. Ich hoffe, dass die anderen einfach wegsehen, während ich wie das letzte erbärmliche Weichei in Taminos Armen hänge wie ein buchstäblicher nasser Sack. Ich glaube, ich kann Cems und Konstis Stimmen ausfindig machen aber ich verstehe nicht, was gesagt oder geschrien wird. Während ich mich heftig neben Tamino auf den Rasen übergebe, frage ich mich, ob es eigentlich noch weiter bergab gehen kann. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)