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Actio est reactio

von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Inhaltswarnung für angedeutetes homophobes Verhalten und ein (in der Vergangenheit liegendes) erzwungenes Outing, sowie Erwähnungen und Anbahnung von Panikattacken. Komplett anzeigen

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Moritz

Ich weiß, dass ich irgendwas verbockt habe.
 

Eine sehr panische Stimme in meinem Kopf sagt mir, dass es daran liegt, dass ich mit Cem in Julius‘ Zimmer verschwunden bin und er jetzt weiß, dass ich Jungs mag. Dann wiederum betrifft das Cem genauso wie mich und vor Cem flüchtet Julius in den letzten Tagen nur halb so oft, wie vor mir.
 

Und Mari ist lesbisch.
 

Und Julius hat bislang wirklich nicht den Eindruck gemacht, als würde es ihn stören, wenn Leute schwul sind. Aber.
 

Aber er kann mir kaum in die Augen sehen. Und er ist super schreckhaft. Und spricht weniger. Und ist unaufmerksam. Und...
 

Ich steigere mich so in meine Sorgen herein, dass ich zwei Nachhilfetermine absage und am Freitag zu Hause in meinem Zimmer beinahe eine Panikattacke bekomme, weil ich die ganze Zeit über Moritz nachdenken muss und wie es mit der letzten Fußballmannschaft den Bach heruntergegangen ist, nachdem—
 

Ugh.
 

Ich könnte Julius einfach fragen. Wie ein normaler Mensch.
 

»Hey Julius, irgendwie benimmst du dich anders mir gegenüber, seit wir deinen Geburtstag gefeiert haben und ich hoffe, du bist nicht sauer auf mich. Oder angeekelt, weil ich deinem besten Freund einen geblasen habe.«
 

Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen und gebe ein klägliches Geräusch von mir.
 

Ororo scheint zu merken, dass irgendwas nicht in Ordnung ist, denn sie krabbelt mein Hosenbein hoch und rollt sich in meinem Schoß zusammen. Ich bin sogar zu nervös, um irgendeinen Film reinzuwerfen oder ein neues Buch anzufangen, obwohl mich »Wonders of the Invisible World« schon seit Tagen von meinem Regal herunter anlacht.
 

Es ist schon ziemlich spät, als am Samstagabend mein Handy vibriert und ich eine WhatsApp-Nachricht von Julius bekomme.
 

»Noch wach?«
 

Mein Herz stürzt sich sofort in einen Sprint.
 

»Jap«, antworte ich.
 

»Kann ichvrbei kommrn?«
 

Oh. Die Schreibweise kenne ich. Da ist jemand gut angetrunken.
 

»Ok.«
 

Ich denke gerade darüber nach, ob ich noch schnell duschen gehen soll, als mein Handy erneut vibriert.
 

»szehsch on unten«
 

Ich blinzele.
 

Oh.
 

Meine Beine fühlen sich sehr wackelig an, als ich aufstehe und zur Tür gehe, um den Öffner zu betätigen. Mein Vater schläft schon und ich trete nervös von einem Bein aufs andere, während ich Julius‘ Schritten lausche, die die Treppe hinauf kommen.
 

Er hat Gras im Haar, seine Augen sind glasig und er riecht eindeutig nach Bier, als er schließlich vor mir steht und mich mit ungewohnt großen Augen anschaut. Der Rotschimmer auf seinen blassen Wangen kommt wahrscheinlich vom Alkohol.
 

»Hey«, nuschelt er und starrt mich von unten herauf an, als wäre er sich nicht sicher, ob ich es wirklich bin. Mein ganzer Körper kribbelt.
 

»Hey«, gebe ich unsicher zurück. Ich mache einen Schritt zur Seite, damit Julius reinkommen kann und schließe die Tür hinter ihm, während er sich die Schuhe auszieht und dabei leicht auf der Stelle wankt.
 

»Wir müssen reden«, sagt Julius und ich merke, wie mein Herz mir in die Hose rutscht. Mein Gehirn produziert automatisch jede Menge unliebsame Bilder und ich merke, dass ich die Luft anhalte und mein Körper sich erneut in eine formlose, panische Masse verwandelt.
 

Oh nein, oh neinohneinoh—
 

Ich merke kaum, dass ich auf dem besten Weg zur nächsten Panikattacke bin, als Julius in seinem von Alkohol benebelten Zustand versteht, dass gerade etwas gehörig schief geht.
 

Er murmelt ununterbrochen »Fuck, fuck, fuck«, während er mich in mein Zimmer bugsiert, die Tür hinter uns schließt und mich aufs Bett befördert. Dann habe ich plötzlich einen sehr warmen und nach Gras riechenden Julius auf mir liegen.
 

Huh.
 

»Ugh. Fuck. Ich bin son Trottel. Tut mir leid, man.«
 

Ich versuche mich aufs Atmen zu konzentrieren, aber so ein durchtrainierter Fußballer auf einem drauf macht das Luftholen nicht gerade leicht. Trotzdem will ich unbedingt nicht, dass Julius aufsteht und schlinge hastig meine Arme um ihn, um zu verhindern, dass er es sich noch anders überlegt.
 

Erst jetzt wird mir klar, dass meine Batterie wieder total abgesoffen ist, weil ich fast zwei Wochen ohne Körperkontakt durch die Weltgeschichte gelaufen bin.
 

Ich vergrabe mein Gesicht an Julius‘ Halsbeuge und er zieht zischend die Luft ein, rührt sich ansonsten aber nicht, bis irgendwann eine zögerliche Hand mein Haar berührt und vorsichtig darüber streicht.
 

»Ich hab’n paar Dinge rausgefunden«, nuschelt Julius.
 

Mir wird nicht zum ersten Mal klar, dass ich wirklich mag, wie er riecht. Ich glaube es ist sein Deo, das so riecht.
 

»Was für Dinge?«, frage ich. Meine Stimme klingt heiser und zittrig, als hätte ich sie länger nicht benutzt. Die Panik sickert langsam aus mir heraus und in die Matratze, während meine Finger fahrig über Julius‘ Rücken streichen. Es ist angenehm warm und ich bin irgendwie froh darüber, dass es dunkel ist.
 

»Ok. Also«, lallt Julius und er rutscht ein bisschen auf mir rum, ehe er schließlich den Kopf hebt und mich anschaut. Ich schlucke.
 

»Ich bin immer noch asexuell. Demis...demisexuell«, sagt er und ich spüre, wie meine Mundwinkel zucken. Das Wort ist neu von ihm. Ich frage mich unweigerlich, ob er vielleicht noch mal mit Lotta geredet hat.
 

»Ok«, sage ich leise.
 

»Aber. Ich—äh. Ich... ich mag. Jungs.«
 

Ich sehe im Licht der Straßenlaternen, die jetzt unsere einzige Lichtquelle sind, wie seine Augen mein Gesicht nach einer Reaktion absuchen. Mein Mund öffnet und schließt sich und ich halte für einen Moment die Luft an, weil ich kaum verarbeiten kann, was Julius gesagt hat.
 

»Ich—du. Oh. Oh!«
 

Julius scheint alles an Mut zusammenzunehmen, den er sich durchs Bier angetrunken hat, denn er holt sehr beherzt Luft und dann kullern die Worte aus ihm heraus wie Murmeln, die jemand mit großem Schwung aus einem Glas auf den Boden geschüttet hat. Ich habe kaum Zeit zu verarbeiten, was er gesagt hat und dass er—dass Julius Jungs mag. Wie ich.
 

Oh. Oh!
 

»Ich dachte, du wärst mit Lotta zusammen, aber das stimmt überhaupt nicht, und Cem hat gesagt, dass du auf Jungs stehst, aber ich hab ihm das nicht geglaubt. Und dann hast du auf meiner Feier—naja. Und dann, äh. Also. Ich hab mit Lotta über die ganze Sache mit dem Sex geredet. Und ich dachte, ich bin super komisch, aber sie meint, ich bin nicht komisch. Und ich mag. Jungs. Und. Du auch. Und ich wusste das nicht. Und ich war ein Trottel. Und ich... Ich war im Park. Mit Cem. Und wir haben geredet und Lotta hat gesagt, ich soll dir sagen, dass ich auf Jungs stehe. Und dann haben Cem und ich rumgemacht, und irgendwie war es super komisch, aber eigentlich auch gar nicht. Und jetzt. Ähm. Ja. Hab ich mal ‘nen Kerl geknutscht. Und das war ziemlich gut. Viel besser als mit Mädchen. Und. Ich war scheiße die letzten Tage. Tut mir leid.«
 

Meine Augen werden rund wie Teller.
 

»Warte, du hast mit Cem—«
 

»Ja. Er. Äh. Er küsst ziemlich gut«, sagt Julius und ich muss mir ein Lachen verkneifen. Dann wandern meine Gedanken zu einem Bild, wie Julius und Cem miteinander rummachen.
 

Oh.
 

»Ok. Ok, ja. Also. Ich. Äh. Ich steh auch auf Jungs«, sage ich.
 

Julius lacht und lässt sich wieder auf mich fallen, was mir ein »Uff« entlockt. Er lacht und lacht, als wäre das alles das Witzigste, was ihm jemals passiert sei. Mein Gehirn dreht sich um die Tatsache, dass Julius irgendwie dachte, dass ich mit Lotta zusammen bin. Weiß der Geier, wie er darauf gekommen ist. Vielleicht, weil er mich beim Singen erwischt hat?
 

Und dann lande ich wieder dabei, dass Cem und Julius geknutscht haben und ich muss mich sehr zusammenreißen, an diesen Gedanken nicht allzu sehr hängen zu bleiben. Nicht, wenn Julius auf mir draufliegt und.
 

Ähm. Ja.
 

Es ist keine gesunde Richtung, über einen Freund so nachzudenken.
 

Mit einem Ruck drehe ich uns, sodass wir jetzt nebeneinander liegen. Nur für den Fall, dass mein Körper auf irgendwas reagiert. Nicht, dass ich mich heute doch noch vor Scham in der Badewanne ertränken muss. Ich hab das Gefühl, es wäre ein arger Vertrauensbruch, wenn Julius mir davon erzählt, dass er Jungs mag und ich just in diesem Augenblick unter ihm ein Rohr kriege. Wie der letzte Creep.
 

Nein, danke.
 

»Ich check nicht, wie das geht«, murmelt Julius und er klingt sehr müde und sehr angetrunken.
 

»Wie was geht?«, frage ich. Seine Finger streichen immer noch durch mein Haar und ich kann mir ein wohliges Seufzen nicht verkneifen.
 

»Ich mag Jungs. Du magst Jungs. Cem mag alles. Wie sind wir alle auf einem Haufen gelandet«, nuschelt Julius.
 

»Wir finden uns immer irgendwie. Ist ein ungeschriebenes Gesetz. Motten zum Licht, oder so.«
 

Julius fängt erneut an zu glucksen. Seine Augen sind geschlossen und die Bewegungen seiner Finger werden fahrig.
 

»Ich bin bis hierher gerannt, um dir zu sagen, dass ich auf Jungs stehe. Voll dämlich.«
 

Ich schnaube.
 

»Ich bin ziemlich dankbar. Ich dachte, du bist sauer auf mich«, flüstere ich.
 

»Bin nie sauer auf dich.«
 

»Sag das meiner Angststörung.«
 

»Deine Angststörung is’n Arschloch.«
 

»Das stimmt.«
 

Eine ganze Weile lang schweigen wir und ich denke, dass Julius vielleicht eingeschlafen ist. Aber dann öffnet er doch noch einmal den Mund, während seine Finger in meinem Nacken liegen bleiben. Fast ein bisschen, als würde er mich zu sich ziehen und küssen wollen.
 

Was für ein dummer Gedanke.
 

»Warum hast du mir nicht verraten, dass du Jungs magst?«
 

Ich halte die Luft an und mein Herz macht einen heftigen Ruck.
 

»Kann ich... kann ich dir das morgen erzählen... wenn du nüchtern bist?«, krächze ich und bereue es fast ein wenig, denn das alles wäre viel leichter, wenn wir beide voll dabei wären. Aber ich habe das dumpfe Gefühl, dass Julius und ich nicht immer für jede wichtige Unterhaltung betrunken sein sollten.
 

Jetzt, wo ich weiß, dass Julius auch Jungs mag, bin ich sicher. Es ist alles nicht mehr schlimm und gruselig. Oder zumindest nicht mehr so doll wie vorher.
 

»Ja. Ja, ok.«
 

Julius bleibt genau dort liegen, wo er ist, und sein Atem wird gleichmäßig. Ich beobachte ihn eine Weile lang mit hämmerndem Herzen und versuche mir auszumalen, wie ich morgen die richtigen Worte finden kann.
 

Ich bewege mich vorsichtig und drehe mich auf den Rücken, angele nach meinem Handy und schreibe Mari eine Nachricht, dass Julius bei mir eingeschlafen ist und sie sich keine Sorgen machen muss. Ororo krabbelt nach wenigen Minuten zu uns aufs Bett und rollt sich über meinem Kopf auf dem Kopfkissen ein, wo sie leise vor sich hin schnurrt.
 

Meine Gedanken sind zu aufgewühlt, um zu schlafen.
 

Julius mag Jungs.
 

Julius hat mit Cem geknutscht.
 

Julius möchte wissen, wieso ich ihm nicht erzählt habe, dass ich Jungs mag.
 

Ich konzentriere mich sehr auf meine Atmung und starre hoch an die Decke, während Julius im Schlaf näher an mich heranrutscht und sein Gesicht in meiner Halsbeuge vergräbt. Sein Arm liegt locker über meinem Brustkorb und sein Atem kitzelt mich ein wenig am Hals.
 

Wann hab ich mich daran gewöhnt?
 

Ich schlucke.
 

Morgen, denke ich. Morgen erzähle ich Julius von Moritz.
 

*
 

Ich wache auf mit einem Arm voller Julius. Er hat offenbar im Schlaf beschlossen, dass es eine gute Idee ist, mich als Matratze zu benutzen, denn er liegt halb auf mir und hat mir schon wieder auf die Schulter gesabbert. Ich hab ein bisschen das Gefühl, dass er versucht in mich reinzukriechen und ich muss unweigerlich schmunzeln, wenn ich daran denke, wie er noch vor einigen Monaten der Typ fürs Schulterklopfen war.
 

Aber definitiv nicht fürs Kuscheln.
 

Leider Gottes meldet sich mein Körper mit einer sehr peinlichen Morgenlatte bei mir und ich bin nicht sicher, wie ich mich unter Julius herausfädeln kann, ohne ihn aufzuwecken und mich in eine fürchterliche Situation zu bringen, in der ich erklären muss, wieso—
 

»Ich bin wach. Und nüchtern«, nuschelt es in diesem Moment gegen meine Schulter und ich friere in meiner kaum merklichen Bewegung ein. Wenn Julius merkt, was los ist, dann lässt er sich jedenfalls nichts anmerken als er sich mit einem Ächzen von mir herunterrollt und sich die müden Augen reibt, während ich mich hastig aufsetze und die Bettdecke über mein Problem zerre.
 

»Das ist gut?«, sage ich etwas verwirrt darüber, wieso das seine ersten Worte sind, nachdem er aufgewacht ist. Sein Haar sieht aus wie ein geplatztes Kissen und ich kann nicht umhin zu lächeln, als ich ihn mir so verpennt entgegenblinzeln sehe.
 

»Ich mein nur. Wegen gestern. Du hast gesagt wir reden nüchtern«, erklärt er. Seine Stimme klingt immer noch betrunken, aber das liegt vermutlich daran, wie müde er eigentlich noch ist.
 

Julius‘ Worte jagen mir sofort einen kalten Schauer über den Rücken und ich schlucke schwer.
 

»Ähm. Ja. Ok. Ich... äh. Ich würd nur erst... ich geh erst duschen. Und dann... vielleicht Frühstück?«, stammele ich und Julius blinzelt noch ein paar Mal langsam, was mich unweigerlich an Ororo erinnert. Dann nickt er, gähnt und dreht sich einfach auf die Seite, wahrscheinlich, um noch ein wenig vor sich hin zu dösen.
 

Die Tatsache, dass er direkt nach dem Aufwachen daran denkt, was ich ihm gestern versprochen habe, ist eigentlich niedlich, wenn das Thema, um das es dabei geht, nur nicht so scheiße wäre.
 

Ich nehme mein Handy mit ins Bad und tippe eine hastige Nachricht darüber, dass ich gleich mit Julius über Moritz reden werde, in den Gruppenchat. Dann steige ich unter die Dusche und lasse mir so lange Wasser über den Körper laufen, bis meine Finger schrumpelig geworden sind.
 

Hinauszögerungstaktik?
 

Absolut.
 

Ich putze meine Zähne besonders langsam, rasiere mich so gründlich wie sonst selten und nachdem ich Deo benutzt und mein Gesicht eingecremt habe, sehe ich ein, dass ich nicht länger so tun kann, als könnte ich für immer in diesem Badezimmer bleiben.
 

Also wandere ich in meinem Tanktop und meiner Jogginghose zurück in mein Zimmer und stelle fest, dass Julius mittlerweile aufgestanden ist und uns schlichtweg zwei Schalen Müsli und einen Milchkarton besorgt hat.
 

Ok.
 

Er lächelt mich verschlafen an und hat seine Haare in einen zerwurschtelten Knoten verbannt. Als ich mich neben ihn setze huschen seine Augen kurz über meine Arme. Ich prüfe, ob ich irgendwo einen komischen Fleck habe, aber es sieht eigentlich alles in Ordnung aus.
 

Julius ist definitiv rot im Gesicht.
 

»Alles in Ordnung?«, frage ich verunsichert und werfe einen Blick auf mein Handy.
 

Anni

ich hoffe dass alles gut geht!!!
 

Noah

sag ihm, dass dasn sensibles thema ist
 

Lotta

DU BIST SO MUTIG! YOU CAN DO IT!
 

Ich schlucke und lege das Handy beiseite, dann nehme ich eine Schale Müsli von Julius entgegen und lasse ihn Milch darüber kippen.
 

»Oh Gott«, sagt er nach seinem ersten Löffel Müsli.
 

»Hm?«
 

»Ich hab Cem geknutscht.«
 

Ich muss lachen und verschlucke mich fast an meinem Müsli. Nachdem ich ausgekaut habe, schaue ich ihn spitzbübisch an.
 

»Cem sieht ziemlich gut aus«, sage ich. Julius wird noch röter als er ohnehin schon war.
 

»Ich mein. Ja? Ok, geschenkt. Er sieht gut aus. Aber. Es ist Cem
 

»Du bist hier an der falschen Adresse, ich hab ihn auch schon geknutscht«, sage ich und es ist. So befreiend. Da mit Julius drüber zu reden. Ich möchte eigentlich gerne anfangen zu weinen, weil plötzlich alles so viel einfacher und noch wunderbarer geworden ist, als es vorher schon der Fall war.
 

Mein Gott.
 

Julius mag Jungs.
 

Wie um alles in der Welt konnte sich diese schreckliche Nachhilfesituation in das hier verwandeln? In Müsli essen auf meinem Bett, nach einer durchkuschelten Nacht und gemurmelten Bekenntnissen darüber, dass wir beide auf Männer stehen?
 

Wie ist das alles passiert?
 

Ich bin einen Augenblick lang so durchflutet von Glück, dass ich beinahe vergesse, worüber wir eigentlich reden wollen.
 

Julius schnaubt und grinst über meinen Kommentar und ich bin so erleichtert. So erleichtert, dass es für ihn in Ordnung ist, dass ich Cem geknutscht habe.
 

Wow.
 

»Wahrscheinlich fühlt er sich wie der größte Hengst«, sagt Julius gespielt theatralisch und ich muss lachen.
 

»Ich glaube nicht«, sage ich beschwichtigend. Julius sieht mich an und sein Gesichtsausdruck wird weich.
 

»Nein. Nein, wahrscheinlich nicht.«
 

Wir essen ein paar schweigende Löffel Müsli und Ororo kommt zu uns aufs Bett, um zu prüfen, was wir essen. Als ich ihr mein Müsli verweigere, maunzt sie kläglich und verschwindet empört in den Flur.
 

»Es... äh. Es kann sein, dass ich ‘ne Panikattacke kriege. Wenn ich darüber rede«, sage ich schließlich ohne feierliche Einleitung und schaue Julius an. Ich sehe ihn ein bisschen verschwommener als sonst, weil ich meine Brille noch nicht aufgesetzt habe. Aber ich kann erkennen, dass seine Augen groß werden und er seine Schale sinken lässt.
 

»Oh«, sagt er.
 

Ich schrumpfe ein bisschen in mich zusammen und nehme noch einen Löffel Müsli. Eigentlich hab ich keinen Hunger mehr und so reiche ich Julius wortlos meine Schale, nachdem er seine aufgegessen hat und schaue dabei zu, wie er meine auch noch aufisst.
 

»Ähm, ok. Also. Warum ich dir nicht vorher erzählt hab, wieso ich... äh... Jungs mag. Ist. Moritz.«
 

Julius stellt meine jetzt leere Müslischale auf meinen Nachtschrank und ich angele blindlings nach meiner Brille, damit ich keine Regung in seinem Gesicht verpasse, während ich über diese ganze Sache rede. Mein Herz fühlt sich jetzt schon an, als würde es gleich meinen Brustkorb sprengen und ich hab bisher nichts gesagt. Außer Moritz‘ Namen.
 

»Ich... äh. Wir haben Fußball zusammen gespielt und. Er... er war der Kapitän.«
 

Julius macht ein leises »Oh«-Geräusch und ich fühle mich sehr schlecht, weil ich das Gefühl habe, Julius und Moritz in einen Topf zu schmeißen. Was absoluter Unsinn ist.
 

Ich denke an Moritz‘ Grübchen im Kinn und seine kurzen braunen Haare und das laute Lachen und eine Stupsnase ganz ohne Sommersprossen...
 

»Und. Ähm... ich. Ich war. Ich war zum ersten Mal verknallt? Und es gab sonst niemanden, der geoutet war im Jahrgang und. Ähm. Ich... Moritz hat gemerkt, wie ich ihn immer angesehen hab. Und er. Wir haben nach dem Training...«
 

Ich hole ein paar Mal tief Luft und es fühlt sich an, als hätten meine Rippen sich zusammengezogen und das Atmen schwerer gemacht. Meine Kehle ist sehr trocken und obwohl ich eigentlich Julius‘ Gesicht beobachten wollte, schaffe ich es jetzt nicht, ihn anzuschauen.
 

Ohne es wirklich zu registrieren, hab ich schon wieder einen meiner Finger im Mund. Erst als Julius behutsam die Hand ausstreckt, mein Handgelenk greift und meine Hand vom Mund wegzieht, bemerke ich wirklich, dass mein Ringfinger blutet.
 

Oh.
 

»Wir müssen nicht—«, meint Julius, aber ich unterbreche ihn.
 

»Doch. Doch, es—ich muss ja irgendwann mal lernen, darüber zu reden«, krächze ich und stecke meine Hand zwischen meine Oberschenkel, um nicht wieder an meinen Fingern herumzubeißen.
 

Blöde Angewohnheit.
 

Ich wage einen Blick hinüber zu Julius und seine Augen sind rund wie Teller, obwohl er noch nicht wirklich den Knackpunkt der Geschichte gehört hat. Weiß der Geier, was gerade in ihm vorgeht. Aber ich muss erstmal kurz atmen.
 

Atmen.
 

Einatmen. Ausatmen. Einatmen...
 

»Ausatmen.«
 

Julius hat die Hände nach mir ausgestreckt und bugsiert mich auf dem Bett herum, bis er gegen meine Wand lehnt und mich zwischen seinen Beinen sitzen hat, so wie vor einigen Monaten, als wir zusammen Star Trek geschaut haben. Seine Arme schlingen sich um mich wie ein Anschnallgurt und ich lasse meinen Kopf nach hinten auf seine Schulter kippen, schließe die Augen und atme.
 

»Besser?«, nuschelt er gegen mein Haar. Die Finger seiner linken Hand tänzeln über meinen nackten Arm.
 

»Wir waren alleine in der Umkleide. Und. Er ähm. Ich glaube, er war wohl neugierig. Und er... er hat mich angesprochen. Darauf, dass ich... ihn immer so angucke.«
 

Ich lausche Julius‘ Atem, der jetzt kurz aussetzt. Ich schlucke.
 

»Er war genauso groß wie ich«, murmele ich, was überhaupt nichts mit dem Thema zu tun hat. »Und. Er hat gefragt, ob ich ihm...«
 

Ich räuspere mich mehrmals.
 

»Ob ich ihm einen runterholen will.«
 

Julius zieht zischend die Luft ein und ich kann nicht mal richtig sagen, ob es eher empört oder geschockt klingt.
 

»Wir haben nie wirklich geknutscht oder so. Es war... alles immer. Ähm. Sehr... zielstrebig? Und meistens einseitig. Aber mir war das zu der Zeit ziemlich egal. Er hat mich nach dem Training abgepasst und... ähm. Und wir sind ins Trainerbüro verschwunden, oder einfach in der leeren Umkleide geblieben. Und. Ja.«
 

Ein kleiner Teil von mir will unbedingt wissen, was in Julius vor sich geht. Sein Atem geht unregelmäßig, das merke ich, weil mein Rücken direkt an seinem Brustkorb lehnt. Ich öffne die Augen, drehe den Kopf ein wenig und versuche einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen.
 

Er ist knallrot. Und sieht... ich weiß nicht. Entsetzt aus? Ich kann es schlecht einordnen. Julius merkt, dass ich ihn ansehe und seine Hand auf meinem Bauch, die, die nicht meinen Arm streichelt, drückt etwas fester zu.
 

»Er hat dich ausgenutzt«, platzt es schließlich aus ihm heraus.
 

Ich blinzele erstaunt und muss beinahe lachen, aber es kommt mehr als verzweifeltes Schnauben heraus.
 

»Aber ich wollte. Ich wollte, dass er... naja. Es war egal, dass er es nicht bei mir gemacht hat. Es war... es war natürlich eigentlich nicht egal, aber. In dem Moment war es egal. Und ich weiß, dass du das über mich vermutlich nicht denkst, aber ich bin... ähm. Ich bin letztendlich auch nur ein notgeiler Typ? Und ich war verknallt. Und er... manchmal dachte ich, dass er vielleicht... Manchmal haben wir noch geredet, hinterher. Über Fußball oder Schule oder irgendeinen dämlichen Film, den er gut fand. Meistens ist er direkt danach verschwunden.«
 

Julius Arm drückt mich noch ein bisschen fester. Er ist immer noch knallrot im Gesicht—und ich kann nur vermuten, dass es daran liegt, dass diese ganze Sex-mit-Typen-Thematik irgendwie sehr neu für ihn ist—und sein Atem geht ziemlich schnell.
 

»Ein halbes Jahr bevor wir hierher gezogen sind, ist dann alles ziemlich den Bach runtergegangen. Ich glaube, zu dem Zeitpunkt war ich eigentlich schon gar nicht mehr verknallt. Aber ich... ähm. Naja. Er sah... sieht. Halt ziemlich gut aus. Und ich bin. Bist du sicher, dass du mich nicht abscheulich findest?«, krächze ich hilflos. Julius schlingt auch den anderen Arm wieder um mich und vergräbt sein Gesicht in meinen Haaren.
 

»Er ist definitiv abscheulich. Du bist sehr definitiv nicht abscheulich«, murmelt er. Wenn er Moritz jetzt schon abscheulich findet, freut er sich bestimmt über das, was als nächstes kommt.
 

Ich hole noch ein paar Mal tief Luft.
 

»Die Jungs haben uns erwischt. In der Umkleide.«
 

Julius hält die Luft an.
 

»Er saß auf der Bank und ich hab vor ihm gekniet und wollte seine Hose aufmachen und... vier von den Jungs kamen rein. Und... ähm.«
 

Verflucht seien meine brennenden Augenwinkel und das Zittern, das jetzt definitiv durch meinen Körper geistert. Julius greift blindlings nach der Bettdecke und macht aus uns einen halben Kokon, als wüsste er nicht, dass mir eigentlich nicht kalt ist, sondern dass mein Gehirn mit allen Mitteln versucht mir das Leben schwer zu machen.
 

Bilder prasseln gegen mein inneres Auge wie strömender Regen, während ich versuche mich nicht in die Gefühle von vor über einem Jahr hineinzusteigern, aber es ist alles wieder da. Der Geruch der Umkleide, Moritz‘ Finger in meinem Haar, das Geräusch der Tür, die Stimmen von Leo, Jonas, Philipp und Till...
 

»Ich weiß nicht mal mehr wirklich, was alles genau gesagt wurde«, flüstere ich. »Aber es war nicht sehr... freundlich. Sobald die Vier reinkamen, hat Moritz mich von sich weggeschubst. Und er hat... ähm. Er hat so getan, als hätte ich mich an ihn rangemacht. Und. Zack, war ich geoutet. Und die Jungs waren natürlich alle schwer besorgt, dass ich mich an einen von ihnen ranmache. Und...«
 

Ich glaube, ich weine. Aber es ist sehr schwer festzustellen, weil mein ganzer Körper sich taub anfühlt. Julius hat sich in einen Klammeraffen verwandelt, der mich jetzt mit Armen, Beinen und Bettdecke einwickelt, als könnte er so verhindern, dass die Gedanken in meinem Kopf sich wie tausend heiße Nadeln in mein Inneres bohren.
 

»Ich bin aus der Mannschaft ausgetreten. Und hab aufgehört zu spielen«, krächze ich. Ich versuche mich auf Julius‘ Arme zu konzentrieren, die mich so fest halten, als hätte er Angst, ich würde gleich aufspringen und davonlaufen.
 

Ich glaube nicht, dass ich wirklich aufstehen könnte, selbst wenn ich wollte.
 

»Ich hab von meiner Ärztin eine Krankschreibung für den Sportunterricht bekommen. Weil ich... weil ich solche Panikattacken gekriegt hab. Wann immer ich in die Umkleide sollte. Und. Ähm. Ich glaube... ich glaube nicht, dass die meisten aus deiner Mannschaft besonders anders wären. Wenn sie wüssten...«
 

Ich breche ab.
 

Julius‘ Finger wischen vorsichtig über meine Wangen und wir bleiben eine ganze Weile schweigend so sitzen, bis ich nicht mehr weine und meine Atmung sich beruhigt hat.
 

»Wie gut war eure Mannschaft?«, fragt er schließlich aus heiterem Himmel.
 

Ich muss nicht fragen, wie er darauf kommt.
 

»Ziemlich gut. Gut genug für... für die Meisterschaft.«
 

Ein Moment der Stille.
 

»Das heißt. Wenn wir uns qualifizieren. Dann spielen wir gegen diesen Hurensohn?«
 

Ich hab Julius noch nie das Wort Hurensohn benutzen hören.
 

»Ja. Ja, wahrscheinlich.«
 

Julius holt tief Luft.
 

»Ok, das heißt. Wir zocken ihn erst ab. Und dann, wenn er schon ganz klein mit Hut ist. Dann polier ich ihm die Fresse.«
 

Ich schnaube und muss lachen und drehe mich halb auf die Seite, fädele meine Beine über Julius‘ Bein und platziere mein Ohr auf seinem Brustkorb. Sein Herz schlägt wie verrückt.
 

Meine Güte.
 

»Sie haben jetzt einen recht schnellen Stürmer weniger«, sage ich matt.
 

»Unser Glück.«
 

Ich frage mich, ob Julius sich gerade vorstellt, wie es gewesen wäre, gegen mich im Fußball anzutreten. Es hätte passieren können.
 

»Tut mir leid«, sage ich nach einer Weile des Schweigens.
 

»Was? Wieso tut dir was leid?«
 

Seine Stimme klingt sehr empört.
 

Ich schlucke.
 

»Weil ich dich... weil ich dich in einen Topf geschmissen hab. Mit...«
 

»Das macht doch nichts. Ist doch kein Wunder.«
 

Ich hebe den Kopf und sehe ihn hitzig an.
 

»Aber du bist wunderbar!«, sage ich empört und Julius blinzelt, dann wird er wieder genauso dunkelrot wie vorhin, als ich über Handjobs und Blowjobs geredet habe.
 

»Danke«, krächzt er und versucht ein schiefes Grinsen.
 

»Ich glaub nicht, dass ich mit euch spielen kann, wenn ihr... wenn ihr gegen meine alte Mannschaft spielt«, murmele ich betreten.
 

»Das ist ok. Du kannst zuschauen, wie ich ihm ins Gesicht grätsche«, sagt Julius grimmig.
 

»Aber dann kriegst du rot und niemand hat was davon!«
 

»Oh, das würde ich nicht sagen. Ich hätte schon ziemlich viel davon, ehrlich gesagt.«
 

»Julius...«
 

»Ja, ok. Vielleicht nicht ins Gesicht. Aber wenn ich die Gelegenheit habe, kannst du es mir nicht übel nehmen!«
 

Ich muss lachen und vergrabe mein Gesicht in den Händen.
 

»Danke.«
 

»Danke fürs Erzählen«, murmelt er und obwohl es schrecklich ist, darüber zu reden und ich mich fühle, als wäre ich fünfmal hintereinander fast ertrunken, bin ich doch sehr erleichtert, es endlich gesagt zu haben.  



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Deedochan
2019-04-06T13:33:59+00:00 06.04.2019 15:33
<3

und: schön, dass du wieder da bist.

Deedo
Von: abgemeldet
2019-04-05T19:01:13+00:00 05.04.2019 21:01
So ist das also :O ... hätte man sich denken können, aber nu ist es ganz offiziell raus und Julius ist in seiner Überforderung trotzdem ganz wunderbar und tut was er kann, damit Tamino nicht jämmerlich abkratzt. Die Unbeholfenheit der beiden, jetzt da sie wissen wie der andere tickt, macht's noch besser. Einfach wunderbar zu lesen, herzerwärmend und toll. Der Zuckergehalt der Story ist mir jede Metformin-Tablette extra wert. x3
Von:  Yamasha
2019-04-03T15:06:32+00:00 03.04.2019 17:06
Omg wie süß! <3 ich bin so unheimlich froh, dass die Sache zwischen den beiden jetzt endlich geklärt ist! Und dann auch noch auf eine so süße Art und Weise. Dass sie jetzt voneinander wissen, dass beide auf Männer stehen. Und das Julius das jetzt mit Moritz weiß. Das sind solche tollen Vertrauensbeweise!!! Und wie die beiden sich dabei verhalten ist ja sowieso obersüß!
Aber das mit Moritz ist ne voll krasse Geschichte. Ich hab ein unfreiwilliges Outing oder ein fertig machen aufgrund Tamino sexueller Orientierung vermutet, aber dass Moritz dabei so eine bescheuerte Rolle gespielt hat, ist echt unglaublich!!! Was ein verfluchtes Arschloch! Und vielen Dank an Julius, dass er ihn so verurteilt und fertig machen will! Ja, es ist gemein, aber er hat es nicht anders verdient. Zuerst ausnutzen, dann das Leben noch schlimmer machen als sowieso schon. Da kann er mir sonst was erzählen, das kann er nicht wieder gut machen!
Vielen lieben Dank für das Kapitel! Ich freu mich schon auf das nächste. Denn eigentlich fehlt noch dass Julius Tamino sagt, dass er auf ihn steht! :D


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