Actio est reactio von Ur (von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung) ================================================================================ Kapitel 30: Schritt für Schritt ------------------------------- Ich bin heute beim Training ein bisschen weniger aufgeregt als beim ersten Mal. Trainer ist begeistert mich zu sehen und Julius sieht bei weitem nicht so feindselig aus wie beim letzten Mal, als ich beim Training dabei war, also habe ich mehr Gelegenheit, mich umzuschauen, während wir zum Aufwärmen ein paar Runden um den Platz laufen. Cem joggt munter neben mir her und hat es sich anscheinend zur Aufgabe gemacht, mir jeden Mitspieler beim Namen zu nennen und seltsame Details über sie zu erzählen - was tatsächlich ausgesprochen hilfreich ist, da ich mir all die Namen so viel besser merken kann. Einige der Namen kenne ich natürlich schon. Leute wie Lennard, Konstantin oder Basti sind mir schon hier und da negativ aufgefallen, weswegen ich sie so gut meide, wie es geht. Leute, die ununterbrochen das Wort »Schwuchtel« durch die Gegend schreien, gehören nicht zu dem Kreis Menschen, mit dem ich mich umgeben möchte. Zu meiner Überraschung hat Cem diesbezüglich auch gleich eine Anekdote parat, während wir nebeneinander her laufen. »Im Trainingscamp hab ich Konsti 'ne Ladung Kartoffelbrei ins Gesicht katapultiert, weil er dauernd Schwuchtel geblökt hat. Ich muss sagen, dass mir sein Gesicht nie besser gefallen hat.« Ich notiere mir dieses zufrieden stellende Wissen über Cem und kann mir ein amüsiertes Schnauben nicht verkneifen. Dadurch, dass ich dieses Mal weniger von meiner eigenen Panik abgelenkt bin, kann ich Julius ausgesprochen gut in seinem Element beobachten. Er ist beim Laufen damit beschäftigt, immer wieder neben anderen Mitgliedern seiner Mannschaft Schritt zu halten und sich mit ihnen zu unterhalten, sich über frühere Spiele auszutauschen und die kommenden Spiele zu besprechen. Als er neben Cem und mir herläuft, mustert er mich mit leuchtenden Augen und schafft ein schiefes Grinsen. »Alles gut?«, fragt er. Ich nicke. »Bei dir?«, will ich wissen. Ich denke, er weiß, was ich meine. »Ich arbeite dran«, verspricht er. Ich nicke erneut und lächele ein wenig gequält. Cem rempelt Julius von der Seite an. »Gute Arbeit, Kapitän!«, verkündet er überschwänglich und haut Julius so hart auf den Rücken, dass er ein wenig stolpert. »Wichser«, mault Julius. Cem lacht und streckt einen Daumen in die Höhe. »Arschloch«, erwidert er voller Zuneigung. Julius schnaubt grinsend, dann zieht er sein Tempo an und joggt etwas weiter vor, um mit Yousef und Adnan Schritt zu halten. »Ihr habt eine sehr spezielle Art, eure Freundschaft auszudrücken«, sage ich amüsiert. Cem lacht und zuckt mit den Schultern. Sein Atem geht schon etwas schwerer als noch vor wenigen Minuten, aber er läuft stur weiter neben mir her. Ich mustere seine erstaunlich langen Wimpern. Er ist schon ein ziemlich hübscher Bursche. »Wenn wir besoffen genug sind, umarmen wir uns auch mal«, versichert Cem mir bestens gelaunt und ich verdrehe die Augen. Wahrscheinlich erwähne ich es besser nicht, dass Julius durchaus glücklich über mehr Körperkontakt wäre. Die meisten Jungs sind was das angeht einfach komisch. Ich bin froh, dass Noah es nicht seltsam findet, wenn ich auf ihm drauf liege. Weil ich so konzentriert bin, mich nicht zum Deppen zu machen, bekomme ich kaum etwas vom Rest des Trainings mit abgesehen von der Tatsache, dass Julius seine Mittelfeldposition wahnsinnig gut drauf hat und ich ihm liebend gerne stundenlang dabei zusehen würde, wie er seine Mannschaft übers Feld kommandiert. Dieses Mal üben wir kein Elfmeterschießen, wofür ich dankbar bin, weil es letztes Mal im Desaster geendet hat und ich darauf keine Lust habe. Außerdem habe ich die Gelegenheit mit Julius zusammen in einer Mannschaft zu spielen, als wir ein kleines Trainingsspiel starten, das heißt, ich muss auch nicht darüber nachgrübeln, ob ich ihn eventuell ausboote. Wenn ich irgendetwas nicht in meinem Leben will, dann ist es Rampenlicht, also halte ich mich so gut es geht zurück ohne wie ein kompletter Loser da zu stehen. Es macht mich zufrieden, von Julius Anordnungen zu bekommen und sie dann so gut ich kann auszuführen, zu sehen, wie ich damit Erfolg habe und dann Julius anzuschauen und festzustellen, dass er sich gut damit fühlt, eine sinnvolle Ansage gemacht zu haben. Angeben liegt nicht in meiner Natur, aber Oli, der andere Stürmer, ist nicht besonders beeindruckend. Er ist auch nicht miserabel, aber ich habe das Gefühl, dass er in der Defensive besser aufgehoben wäre. Da er in diesem Trainingsspiel für die andere Mannschaft spielt, komme ich an mehreren Stellen dazu, gegen ihn zu laufen und… Es ist ein bisschen wie mit Harrys Feuerblitz im Kampf gegen den nicht üblen aber auch nicht vergleichbaren Sauberwisch Sieben. Trainer dreht insgesamt fünf Pirouetten und haut mir nach dem Training so heftig auf den Rücken, dass ich einen Hustenanfall bekomme. Dann bittet sie mich, der Mannschaft beizutreten, damit sie »den arroganten Saftsäcken aus Nordrhein-Westfahlen zeigen kann, wo der Hammer hängt«. Nichts gegen Nordrhein-Westfahlen, da komme ich ursprünglich her. Aber ich kann auch nicht sagen, dass der Großteil meiner ehemaligen Mannschaftskameraden besonders bescheiden gewesen ist. Was mit den Mannschaften aus anderen Städten los ist, kann ich schlecht beurteilen. Meistens war ich bei wichtigen Spielen zu aufgeregt, um groß darauf zu achten, wie die anderen Mitspieler sich verhalten – und meinem Urteil ist bei solchen Dingen auch nur schlecht zu trauen. »Ich, ah… denk drüber nach«, sage ich mit heftig klopfendem Herzen und immer noch leicht hüstelnd. Oli wirft mir im Vorbeigehen einen säuerlichen Blick zu und ich schrumpfe ein bisschen in mir zusammen. »Trainer, seh ich da ein paar Tränen in deinen Augenwinkeln?«, fragt Cem amüsiert, als er zu mir aufschließt. Er ignoriert Oli vollkommen, wirft mir einen Arm um die Schultern – so gut es eben geht, wenn man so viel kleiner ist als ich – und grinst seine Trainerin breit an. Sie schnaubt und schnipst ihm gegen die Nase. »Geh duschen, Frechdachs«, entgegnet sie, zwinkert mir zu und macht sich dann auf den Weg zu ihrer eigenen Umkleide. Ich kann sie gut leiden. Eine Frau, die kaum einen Meter sechzig groß ist und es schafft mit einer Gruppe von pubertierenden Halbstarken zusammenzuarbeiten und sie zum Spuren zu bringen, verdient jede Menge Respekt. Ich bin jedenfalls sehr beeindruckt. In der Umkleide beobachte ich, wie Julius und drei andere der Jungs sich mit ihren getragenen Socken bewerfen und schüttele schnaubend den Kopf darüber. Ich höre zu, wie er sich mit Cem, Daniel und Yousef zum Döneressen verabredet und verabschiede mich leise, bevor ich aus der Umkleide husche. * Tamino ich hab mich immer noch nicht getraut julius das geschenk zu geben………………… Lotta WHAT Lotta ABER ER WIRD ES LIEBEM!!!! Lotta *LIEBEN Anni definitiv. you can do it! Noah auf der feier willst du es ihm ja wahrscheinlich lieber nicht geben, wenn alle anderen auch da sind, oder? Tamino nee wirklich nicht… vielleicht den freitag davor? Wann kommt ihr nochmal an? Anni kurz nach acht, gleis vier Lotta gib ihm das geschenk! ES IST PERFEKT! Tamino ich sag euch bescheid ob ichs freitag geschafft hab >___< Noah wir denken an dich! Lotta * Während ich normalerweise an jeder Ecke damit rechne, dass Menschen mich hassen, war ich irgendwo so abgelenkt von meinen Gedanken an Julius‘ Geburtstagsgeschenk, den Vorfall mit Feli, das nächste Training und die bald wieder startende Nachhilfe mit Julius, dass ich irgendwie aus den Augen verloren habe, dass Oli wegen mir jetzt plötzlich zum Loser Nummer eins in seiner Mannschaft auserkoren wurde. Nicht, dass ich das beabsichtigt hätte und mich jetzt alle als Helden feiern. Aber sie waren schon recht beeindruckt und mussten feststellen, dass Oli als Stürmer nichts taugt. Das heißt, dass Oli mir jetzt offiziell die Schuld daran gibt, dass ein Teil seiner weniger netten Mannschaftskameraden ihn als Schnecke bezeichnen und ihn zu Wettrennen auffordern, bei denen sie dann gegen ihn wetten. Mit Geld oder Bier, je nachdem in welcher Stimmung sie sind. Julius und Cem beteiligen sich dankenswerterweise nicht an diesem dämlichen Unfug, aber – und das überrascht mich nicht – Konstantin und Lennard sind ganz vorne mit dabei und haben Oli damit schon mehr als einmal auf die Palme getrieben. Dummerweise richtet sich Olis Wut nicht hauptsächlich gegen Konstantin und Lennard, die offenkundig bekloppt sind und sich ein neues Hobby suchen sollten, sondern gegen mich. Ich merke es erst am Mittwoch daran, wie er mich in Politik feindselig anstarrt und dann am Donnerstag beschließt, dass seine Misere nur dadurch gemildert werden kann, dass er mich kräftig im Gang anrempelt, während ich für Frau Lüske einen Stapel Bücher durch die Gegend trage. Das führt dazu, dass ich gegen die Wand zu meiner Rechten und die Bücher mit einem lauten Klatschen auf den Boden krachen. Abgesehen davon, dass ich mich heftig erschrecke, fängt mein Herz unweigerlich an zu rasen, weil die Augen aller Anwesenden sich auf mich richten. Na toll. Meine Kehle wird trocken und ich möchte mich eigentlich gerne hinknien, um die Bücher aufzuheben, aber die Blicke der Leute und das verhaltene tuscheln und glucksen nagelt mich an der Wand fest. Bis eine Stimme mich aus meiner Starre reißt. »Alter, Oli! Was soll der Scheiß?« Mein erster Gedanke wandert automatisch zu Cem und Julius. Aber die Person, die sich vor mir aufbaut und die Hände in die Hüften stemmt, ist winzig, zierlich und hat einen sehr langen, braunen Pferdeschwanz, der beinahe bis zu ihrem Hintern reicht. Während Oli so tut, als würde es ihm nichts ausmachen, dass eines der begehrtesten Mädchen aus dem Jahrgang ihn angepflaumt hat, kniet Feli sich mitten in den Gang und fängt an, die Bücher zusammenzusammeln. Ich folge ihr hastig auf den Boden. »Danke«, nuschele ich. Feli wirft Oliver einen empörten Blick über die Schulter zu und ich sehe aus dem Augenwinkel, wie er sich aus dem Staub macht. Feli pustet sich ein paar lose Strähnen aus dem Gesicht und stapelt die restlichen Bücher in meinen Arm. »Ich kann dir die Hälfte abnehmen«, meint sie und mustert den riesigen Stapel, der leicht in meinen Armen wankt, während ich aufstehe. »Ähm«, sage ich geistreich, da mein Herz immer noch im Sprintmodus ist und so verhindert, dass ich kohärente Gedanken oder Worte formen kann. Feli nimmt meine Antwort als Zustimmung und greift sich die obersten Bücher. »Bibliothek?« Ich nicke. Wir machen uns auf den Weg Richtung Bibliothek und ich denke darüber nach, ob ich das Fußballtraining nicht lieber schmeißen soll, damit Oli mich in Ruhe lässt. »Ich hab deinen Pulli dabei«, sagt Feli mit einem verlegenen Lächeln. Wenn sie lächelt hat sie Grübchen in den Wangen. Ihre Augen sind wirklich riesig. Ich verstehe, wieso so viele Jungs aus dem Jahrgang hinter ihr her sind und das ganz abgesehen davon, dass sie eine Oberweite hat, die ihr vermutlich jetzt schon manchmal Rückenschmerzen beschert. »Danke«, sage ich. Dann räuspere ich mich. »Auch für eben.« Feli zieht die Schultern hoch und nickt. »Kein Ding. Oli war total daneben«, gibt sie zurück und wir steigen die Wendeltreppe zur Bibliothek hoch. »Verletzter Fußballerstolz«, erkläre ich etwas heiser und sie verdreht die Augen. »Super dumm.« »Ich glaube, er hatte Angst vor dir«, meine ich und Feli kichert. »Ich glaube nicht. Er hatte eher Angst, dass er nie bei mir landen wird. Und das hätte sowieso nicht geklappt«, erwidert sie ungerührt und greift ihre Bücherladung nun mit einem Arm, um mit einer Hand an die Tür der Bibliothek zu klopfen und sie dann zu öffnen. Wir nennen es Bibliothek, aber es ist eigentlich nur ein etwas größerer Klassenraum mit engen, unordentlichen Regalreihen, die mit Büchern vollgestopft sind und von einer sehr alten, ehrenamtlich arbeitenden Dame betreut werden, die oftmals vergisst ihr Hörgerät einzuschalten. Wir laden unsere Ladung Bücher bei ihr ab und sehen dabei zu, wie sie sie in ihrem handschriftlichen Ausleihregister einträgt, bevor sie uns entlässt. »Wenn du kurz wartest, hol ich eben deinen Pulli. Wir sind jetzt in Raum 42«, sagt Feli, nachdem wir die Tür hinter uns geschlossen haben. »Ok«, sage ich und folge ihr die Treppe hinunter und bis zu ihrem Klassenzimmer. Ich glaube, das könnte der Mathe-LK sein, wenn ich mir die Zusammensetzung der Leute anschaue. Alle sind irritiert, als sie mich im Türrahmen stehen sehen und als Feli den Pulli aus einer Tüte holt und zu mir geht, um ihn zurückzugeben, sind alle noch irritierter. Ich flüchte mit einem hastigen »Danke«, bevor ich noch länger angestarrt werde und den Schultag vorzeitig abbrechen muss. Während ich in Englisch sitze, schreibe ich Julius eine WhatsApp-Nachricht. »Hey, meinst du, Feli kann am Samstag auch kommen?« »Klar. Ich kann sie einladen ;)« Ich lächele und kaue nervös auf meiner Unterlippe herum. »Cool!« * Die Tatsache, dass meine Freunde auf Julius‘ Feier eingeladen sind – seine zweite Feier, die er extra deswegen ausrichtet, damit ich mitfeiern kann, weil er weiß, dass ich große Feiern nicht mag – mildert meine Angst vor dem Anlass ein wenig. Immerhin kommen Cem und Feli, zwei Leute, die zwar sehr nett sind, die ich aber nicht besonders gut kenne und die normalerweise eher zu der Sorte Leute gehören, von denen ich einen Sicherheitsabstand halten würde. Zu allem Überfluss kommt auch noch Julius‘ Geschenk hinzu, das ich ihm am Donnerstag immer noch nicht gegeben habe, obwohl Samstag die Feier ist und ich es ihm nicht vor allen anderen geben will. Seitdem ich es gemacht habe, debattiere ich ununterbrochen mit mir selber, ob ich nicht lieber alles über den Haufen werfen und einen Kinogutschein und eine Kiste Bier kaufen soll, weil das womöglich eher den Geschenken entspricht, die Julius sich vorstellt. Aber ich glaube, meine Freunde würden mich sehr streng ansehen, wenn ich das nicht durchziehe, immerhin haben sie alle tatkräftig mitgeholfen. Deswegen stehe ich am Freitagabend vor Julius‘ Haustür, nachdem ich ihn gefragt habe, ob ich kurz vorbeikommen kann, um ihm sein Geschenk zu bringen. Jetzt habe ich Herzrasen und schwitzige Hände, während ich das kleine Paket mit der linken Hand umklammere und mit der rechten auf den Klingelknopf drücke. Die Karte, die ich für Julius geschrieben habe, ist so dicht bekritzelt, dass ich mich frage, ob er es überhaupt lesen kann. Aber ich hatte erstaunlich viel darüber zu sagen, wie dankbar ich ihm bin, weil er das Leben hier erträglicher für mich gemacht hat und ein grandioser Freund ist. Als die Tür summt, um mich einzulassen, zucke ich so heftig zusammen, dass ich beinahe das Geschenk fallen lasse. Mari ist diejenige, die oben wartet. »Juls ist noch duschen, um sich für die Party nachher fein zu machen«, sagt sie grinsend zur Begrüßung. »Wir haben Muffins, falls du dich beim Warten stärken möchtest.« Ich folge Mari in die Küche, wo auch Linda sitzt, der Mund voller Krümel und mit einem zufrieden verträumten Lächeln auf dem Gesicht. »Hey Tamino«, sagt sie, nachdem sie ihren Bissen geschluckt hat und bevor sie sich einen weiteren Muffin greift. Eigentlich bin ich zu aufgeregt, um irgendwas zu essen, aber ich will aus Höflichkeit nicht ablehnen, also nehme ich einen Muffin und knabbere nervös daran herum. »Bei wem feiert er denn heute Abend?«, frage ich abwesend und breche ein kleines Stück Muffin ab, ehe ich es mir in den Mund stecke. »Ich glaube bei Marcel. Er hat auch hoch und heilig versprochen nicht so viel zu saufen, damit er morgen Abend wieder fit ist«, meint Mari und gibt Linda einen Kuss auf die Stirn. Wenn ich irgendwann mal einen Freund haben sollte, dann möchte ich auch so ein Pärchen werden wie die beiden. Ich schnaube. »Ich glaube nicht, dass das klappt«, sage ich und schaffe ein halbes Lächeln. Mari gluckst. »Ich auch nicht. Wenn er mit Cem unterwegs ist, dann ist keine Flasche Bier sicher.« »Lästert ihr über mich?«, ertönt Juls Stimme vom Türrahmen her und da steht er mit klatschnassen Haaren und lediglich einer Jeans bekleidet. Ich muss ein paar Mal tief durchatmen, weil ich eben doch auch nur ein schwuler Typ bin, der hübsche Männer zu schätzen weiß. Und Julius ist definitiv hübsch. »Ja. Jeden Tag mindestens dreimal«, sagt Mari ernst. Julius schnaubt und wirft mit dem Hand nach ihr, das er gerade verwenden wollte, um sich die Haare zu trocknen. »Wir haben nur festgestellt, dass du wahrscheinlich nicht nüchtern nach Hause kommen wirst«, erkläre ich wahrheitsgemäß. Das Päckchen in meiner Hand wiegt fünfhundert Tonnen, während Julius mir die Zunge heraus streckt. Dann fliegt das Handtuch zurück und landet in seinem Gesicht. Mari lacht, Linda kichert und ich schnaube amüsiert, während Julius sich daraus befreit und dann in sein Zimmer verschwindet. Ich winke Linda und Mari und folge ihm. »Wer ist Marcel?«, will ich wissen, während ich mich auf Julius‘ Bett werfe und ihn dabei beobachte, wie er seine Haare trocknet und das Handtuch dann in die nächstbeste Ecke wirft. Er sieht jetzt aus wie ein Besen. Ein hübscher Besen. »War früher in meiner Klasse, bevor er sitzen geblieben ist«, erklärt Julius und steckt seinen Kopf in den Kleiderschrank, um sich ein Oberteil auszusuchen. Ich versuche unterdessen, nicht allzu sehr seine Rückenmuskeln zu betrachten. Freunde sollten sich wenn möglichst nicht begeiern. Ich seufze und starre stattdessen auf das Päckchen. »Bevor ich eine Panikattacke kriege, muss ich dir dieses Paket geben«, platzt es aus mir heraus und Julius zieht seinen Kopf aus dem Schrank, ein kariertes, kurzärmeliges Hemd in den Händen und mit einem alarmierten Gesichtsausdruck. »Meine Fresse«, sagt er und wirft das Hemd zur Seite, kommt zum Bett und entwindet mir das Paket. »Tief durchatmen!«, sagt er, legt die Karte beiseite und reißt so schnell das Papier auf, dass ich überhaupt keine Zeit habe, noch nervöser zu werden. Seine Augen werden rund wie Teller, als er die CD betrachtet, die er in den Händen hält. »Also, eigentlich ist das alles Lottas Schuld«, versuche ich zu erklären, während er die CD umdreht und die Titelliste betrachtet, die dort zu finden ist. Mixtapes sind eine Sache aus den Neunzigern, wie ich versucht habe einzuwenden, aber Lotta hat darauf bestanden, dass Julius dringend etwas Persönliches geschenkt kriegen sollte – und was gibt es persönlicheres, als fünfzehn Lieder für jemanden zu singen und dann auf CD zu brennen? »Ich, ah… es… also, eine Katze ist wirklich kaum zu toppen«, krächze ich mit immer noch hämmerndem Herzen, während Julius die CD beiseitelegt und jetzt nach der Karte greift, das Star Trek Motiv auf der Vorderseite mit einem Schmunzeln bedenkt und dann umdreht, um zu lesen. Ich beobachte seine Mimik sehr genau und wische so unauffällig wie möglich meine Hände an meiner Shorts ab. Julius‘ Ohren und Wangen werden sehr rot und ich sehe wie er im Laufe des Textes anfängt, auf seiner Unterlippe herum zu kauen. Mein Herz fühlt sich gleichzeitig sehr groß und sehr leicht. »Alter, ich kann da jetzt nicht mal reinhören, weil ich gleich los muss«, sagt er vorwurfsvoll und mit hochrotem Kopf, als er die Karte zur Seite legt und mich anstarrt. Ich fahre mir durch die Haare, die schon wieder recht lang geworden sind. Früher hat meine Mutter sich um meine Haare gekümmert, weil die meisten weißen Friseure mit Afros nichts anfangen können. »Ähm… sorry?«, krächze ich. Im nächsten Moment habe ich den Arm voller Julius und strauchele hinten über. Er landet auf mir und seine nassen Haare kitzeln mich im Gesicht. »Danke«, nuschelt er irgendwo in der Nähe meiner Wange und ich seufze erleichtert. Er findet es nicht total beknackt. Die Stimmen meiner Freunde in meinem Kopf sagen: Natürlich findet er es nicht beknackt, Tamino. »Bedank dich nicht zu früh. Lotta hat die Songauswahl getroffen und es ist jede Menge Pop dabei«, gebe ich mit zittriger Stimme zurück. »Ich komm klar. Kann ja nach jedem Lied ein bisschen Gangsta-Rap zur Beruhigung hören«, sagt Julius und ich höre das Grinsen in seiner Stimme. Ich bin nicht sicher, wo ich meine Hände hinpacken soll. Ja, ich hatte meine Finger schon unter Julius‘ Shirt. Aber jetzt kommt es mir irgendwie anders vor, während er so halbnackt auf mir drauf liegt. Julius nimmt mir die Entscheidung ab, indem er sich aufrappelt und nach der Karte und der CD greift, um sie fein säuberlich auf seinen sehr unordentlichen Schreibtisch zu legen. Ich werfe einen Blick auf das Chaos. »Nächste Woche geht’s mit Nachhilfe weiter. Bis dahin solltest du das alles schön sortiert haben«, sage ich und versuche streng zu klingen, aber Julius betrachtet immer noch sein Geschenk und seine Augen funkeln zufrieden und ich fühle mich sehr flauschig. Und mir ist warm. Julius grummelt leise und wirft die Hände in die Luft, ehe er nach seinem Hemd greift und anfängt, es zuzuknöpfen. »Nächste Woche ist nächste Woche. Das ist ein Problem für Sonntagsjulius«, sagt er. Dann merkt er, dass er falsch geknöpft hat und ich lache ihn aus, während er leise fluchend alles wieder öffnet und neu knöpft. Ich freue mich auf morgen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)