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Actio est reactio

von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung
von

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Neuanfänge

»hey großer, kommst du montag mit zum training? trainer hat nach dir gefragt, ich glaub sie weint nachts weil sie dich so dringend in der mannschaft haben will ;) ;) ;)«
 

Cem ist die körperliche Manifestation des zwinkernden Emojis, denke ich mir. Er hat den ganzen Sommer immer wieder mal geschrieben und ich kann nicht anders als zuzugeben, dass ich ihn wirklich gut leiden kann. Er hat auch das ein oder andere Bild von Julius geschickt – unter anderem eines, in dem Julius offenbar stockbesoffen in einen Hortensienbusch gefallen ist.
 

Zwei Selfies von sich selbst. Und ja, er ist definitiv hübsch. Gutaussehend. Was auch immer.
 

Ich habe alle Unterhaltungen mit Cem meinen Freunden vorgelesen und sie waren sich sehr einig, dass Cem arg mit mir flirtet. Der rationale Teil meines Gehirns war sich dessen irgendwie bewusst – ich meine, eine Nachricht über meine beeindruckenden Schenkel ist nicht besonders hetero oder platonisch – aber der angstgestörte Teil meines Gehirns möchte sich nicht zum Deppen machen und irgendwas falsch interpretieren, deswegen brauche ich immer noch mal die Bestätigung von außen, dass ich mir diese Dinge nicht einbilde.
 

Ob ich mit zum Training gehen soll, weiß ich nicht. Ich starre die Nachricht an und denke darüber nach, was für ein absolutes Desaster das letzte Mal war. Mein Herz fängt automatisch an wie verrückt zu hämmern, als ich mich daran erinnere, wie Julius‘ Stimme geklungen hat. Vielleicht will er mich immer noch nicht da haben. Ich meine, klar, er hat sich entschuldigt. Aber vielleicht haben seine Gefühle dich nicht geändert? Das könnte ja sein.
 

Jeder hat sein Päckchen zu tragen und Julius‘ Vater hat offensichtlich dafür gesorgt, dass Julius‘ Selbstbewusst nicht so groß ist, wie es von außen her scheint. Und ich will definitiv nicht dafür verantwortlich sein, dass es ihm schlecht geht und er in Minderwertigkeitskomplexen badet. Das hat er nicht verdient. So dringend muss ich auch kein Fußball spielen, auch wenn ich es wirklich, wirklich gern wieder mal tun würde.
 

Während ich auf mein Handy gucke und Cems Nachricht betrachte, liegt Julius neben mir im Bett und schläft tief und fest. Sein Kopf ruht auf meiner Schulter, während ich einen Arm um in geschlungen habe. Seine blonden Haare kitzeln mich ein bisschen am Hals und eins seiner Beine liegt auf meinen. Es ist ziemlich warm, weil Julius so eine Art Heizdecke ist. Die Tatsache, dass er sofort zu mir gekommen ist, weil ich danach gefragt habe und sich quasi in meine Arme geschmissen hat, hat mein Herz ziemlich zum Schmelzen gebracht.
 

Die einzige Möglichkeit, wie meine Sommerferien noch perfekter hätten sein können, wäre, wenn Julius auch da gewesen wäre. Natürlich weiß ich, dass das nicht geht – er hat schließlich seine eigenen Freunde und Fußballfreizeiten und Partys, auf die er gehen will und andere coole Dinge, die man macht, wenn man einen ganzen Jahrgang voll mit bewundernden Schulkameraden hat.
 

Aber ich hab ihn sehr vermisst.
 

Wer hätte gedacht, dass wir hier ankommen würden, nachdem wir beiden so dermaßen wenig Bock auf diese ganze Nachhilfe-Geschichte hatten. Ich habe ein leicht schlechtes Gewissen, weil ich über die Ferien schlichtweg vergessen habe, mich um Julius‘ Schulkram zu kümmern und ihn daran zu erinnern, dass er ab und an mal in seine Französisch-Vokabeln schauen soll.
 

Ich vergrabe meine Finge in den weichen, blonden Haaren und Julius gibt ein leises Seufzen von sich, während ich versuche, mit der anderen Hand Cems Nachricht zu beantworten.
 

»weiß nicht ob julius mich da haben will«, antworte ich wahrheitsgemäß. Die Antwort kommt sofort.
 

»frag ihn, ob’s ok is. aber er soll sich nich so einscheißen ;)«
 

Ich glaube, ich habe noch keine einzige Nachricht von Cem bekommen, in der am Ende kein zwinkernder Smily sitzt.
 

Während ich Julius‘ Haare kraule, presst er sich dichter an mich und dann, ganz plötzlich, sitzt er senkrecht im Bett und verpasst mir mit seinem Kopf beinahe einen Kinnhaken. Ich lasse mein Handy vor lauter Schreck auf die Matratze fallen und setze mich ebenfalls hastig auf.
 

»Is‘ schon Montag?«, fragt er vollkommen verschlafen. Seine Haare stehen ab und sind vollkommen zerzaust. Nach dem ersten Schreck muss ich mir ein Lachen verkneifen und beiße mir amüsiert auf die Unterlippe.
 

»Nein. Es ist Sonntagmorgen«, informiere ich ihn. Er dreht den Kopf und schaut mich an.
 

»Oh«, sagt er und klingt ein bisschen, als wäre er besoffen. Ich glaube, er ist wirklich kaum wach.
 

»Du bist wieder da«, stellt er dann fest. Ich gluckse leise. Julius reibt sich Schlaf aus den Augen und gähnt ausgiebig, dann lässt er sich wieder neben mich ins Bett fallen und vergräbt sein Gesicht im Kissen.
 

»Ist deine Batterie wieder aufgeladen?«, frage ich schmunzelnd. Julius hebt den Kopf aus dem Kissen, schaut mich missmutig an und streckt mir die Zunge heraus.
 

»Das ist alles deine Schuld«, nuschelt er ungnädig. Ich muss lachen.
 

»Ist doch nicht so schlimm. Ich steh dir zur Verfügung«, sage ich und breite die Arme ein bisschen aus, um ihm deutlich zu machen, dass er mich gerne jederzeit als Kuschelkissen missbrauchen kann. Julius blinzelt, dann wird sein Gesicht rot und er verschwindet wieder in seinem Kissen.
 

Huh.
 

Wahrscheinlich ist ihm diese ganze Kuschelschiene immer noch ziemlich peinlich. Gestern war das erste Mal, dass wir ohne Alkohol miteinander gekuschelt haben. Ich hoffe, dass er sich das jetzt nicht wieder anders überlegt, es ist nämlich ganz wunderbar. Und dafür, dass Julius vorher kein Typ fürs Kuscheln war, scheint er sich jetzt geradezu in ein Kuschelmonster verwandelt zu haben.
 

Es ist ein bisschen so, als würde er in mich hineinkrabbeln wollen, wenn er sich so an mich drückt wie gestern.
 

»Müssen wir schon aufstehen?«, murmelt Julius ins Kissen. Ich verstehe ihn kaum, weil seine Stimme so gedämpft ist.
 

»Nein, es ist erst halb sieben.«
 

Julius hebt den Kopf erneut und starrt mich an.
 

»Warum bist du wach?«, fragt er vorwurfsvoll. Ich zucke mit den Schultern.
 

»Denke nach«, sage ich. Er runzelt die Stirn.
 

»Worüber?«
 

Ich zögere.
 

»Cem fragt, ob ich noch mal zum Training kommen will«, sage ich leise und mein Herz stürzt sich sofort in einen heftigen Sprint. Julius blinzelt, dann breitet sich auf seinem Gesicht etwas aus, das gleichzeitig Scham und ein sehr schlechtes Gewissen zu sein scheint.
 

»Ah, fuck«, nuschelt er und dreht sich auf den Rücken.
 

»Ich will nicht, wenn’s dir damit schlecht geht«, sage ich leise. Meine Stimme ist eindeutig heiser, während die altbekannte Panik sich in mir breit macht. Es herrscht eine Weile lang Stille und ich spiele nervös mit meinem Handy herum, während Julius an die Decke starrt. Dann richtet er sich halb auf, stützt sich auf seinen Ellbogen und sein Kinn in die Hand und schaut mich an. Ich wage einen Blick zur Seite.
 

»Du musst nicht vom Training wegbleiben, weil ich ein Arschloch bin«, krächzt er. Ich drehe mich auf die Seite, überlege kurz und nehme dann Julius‘ Gesicht in beide Hände. Seine Augen werden riesig, als wäre er sich nicht sicher, was als nächstes passiert und eine Sekunde lang habe ich den wahnwitzigen Gedanken, dass ich sein Gesicht genauso halten würde, wenn ich ihn küssen wollen würde.
 

»Du bist kein Arschloch, dein Vater ist ein Arschloch«, sage ich.
 

Julius schluckt und ich ziehe meine Hände zurück.
 

»Ich hätte definitiv Bock. Aber ich hab auch Schiss. Naja, nichts Neues… aber jedenfalls… will ich nicht gehen, wenn du dich damit schlecht fühlst«, murmele ich und schaue nun meinerseits an die Decke.
 

»Alter, ich brauch einen ordentlichen Tritt in den Hintern, ok? Gib mir die volle Breitseite. Heilung durch Desensibilisierung oder wie das heißt«, sagt Julius, während ich nervös auf meiner Unterlippe herum kaue.
 

»Aber was, wenn du mich wieder richtig scheiße findest?«, platzt es aus mir raus. Ich weiß noch genau, wie Julius‘ Gesicht ausgesehen hat. Und wie seine Stimme ganz anders geklungen hat als sonst. Das war dermaßen scheiße, ich glaube ich würde einfach in mich zusammensacken wie ein halbfertiges Gebäude aus brüchigem Sandstein.
 

»Ich finde dich nie scheiße«, protestiert Julius und er klingt so empört und beherzt, dass sich eine sehr angenehme Wärme in meinem Brustkorb ausbreitet und durch den Rest meines Körpers flutet. Ich drehe den Kopf und schaue ihn an. Sein Haar ist immer noch dermaßen zerzaust, dass ich ihn eigentlich kaum ernstnehmen kann, aber sein Gesichtsausdruck ist so…
 

Huh.
 

»Komm mit zum Training«, sagt Julius. Vollkommen verpennt und trotzdem so entschlossen. Mein Herz stolpert.
 

»Ok«, sage ich leise und versuche mich an einem Lächeln. Julius grinst mir breit entgegen und lässt sich dann mit einem Seufzen zurück auf die Matratze sinken.
 

»Es ist zu früh«, stöhnt er dann und ich lache leise. Meine Finger finden ihren Weg in sein ohnehin schon zerzaustes Haar und ich sehe interessiert zu, wie seine Augen sich flatternd schließen und er ein Seufzen ausstößt. Ich frage mich dumpf, wieso er keine Freundin hat. Ich weiß natürlich nicht, was er so auf all diesen Partys treibt, auf die er immer geht, aber ich habe noch nichts gehört, dass irgendwie den Eindruck vermittelt, dass er jedes Wochenende eine andere abschleppt.
 

Er sieht gut aus, ist sportlich, nett, witzig…
 

Stehen viele Mädchen nicht normalerweise auf sowas? Findet er keine von denen gut? Aber es gibt viele hübsche Mädchen in unserem Jahrgang und ich bin sicher, dass einige davon auch nett sind – auch wenn ich sie nicht näher kenne.
 

Statt bei einer potentiellen Freundin im Bett zu liegen, liegt er an einem Sonntagmorgen in meinem Bett und seufzt leise, weil ich seine Haare kraule. Das scheint mir nicht zu seinem bisherigen Lebensstil zu passen.
 

»Ich glaub meine Batterie hat ein Leck«, nuschelt Julius und drückt sich gegen meine Hand. Mein Herz stolpert noch mal.
 

»Was meinst du?«, frage ich und widerstehe dem Drang, seine Augenbrauen mit meinem Finger nachzuziehen.
 

»Wird nicht voll«, murmelt Julius und ich glaube, er ist schon wieder halb weggedöst. Ororo springt am Fußende aufs Bett und stakst vorsichtig über die Matratze, bis sie bei meinem Kopfkissen angekommen ist. Dann ringelt sie sich direkt über Julius‘ Haar ein und gähnt.
 

Ich beobachte die beiden einen ziemlich langen Moment, während Julius‘ Atmung sich beruhigt und er wieder einschläft. Dann mache ich ein Foto von den beiden und schicke es meinen Leuten, ehe ich das Handy wieder unter das Kopfkissen stecke und mich vorsichtig an Julius heran kuschele.
 

Mit Julius und Ororo und Fußballtraining schaffe ich dieses letzte Schuljahr vielleicht doch noch mit weniger Anstrengung, als ich ursprünglich gedacht hatte.
 

*
 

Obwohl ich weiß, dass Schule mit Julius‘ Freundschaft weniger schlimm ist als vorher, geht es mir Montagmorgen so schlecht, dass ich mich fast übergeben muss. Sechs Wochen lang habe ich in einer abgeschirmten, glücklichen Blubberblase gelebt, in der meine Angst derart reduziert wurde, dass meine Toleranzgrenze sich anscheinend herunter geschraubt hat.
 

Dank des neuen Stundenplans und der neuen Raumverteilung hätte ich theoretisch die Möglichkeit, mich in dem einen oder anderen Fach neben Julius zu setzen, aber es gibt so viele Leute, die neben Julius sitzen wollen, dass meine Chancen eher gering stehen. Und aufdrängen will ich mich schließlich auch nicht.
 

Da ich aus lauter Panik zu spät zu kommen viel zu früh da bin, setze ich mich in die letzte Reihe, als noch alle Plätze frei sind und nach und nach kommen die anderen herein geschneit. Ich versuche tief durchzuatmen und so zu tun, als wäre ich nicht einer kleinen Panikattacke nahe, weil ich nicht weiß, wer neben mir sitzen wird – oder vielleicht noch schlimmer, ob direkt neben mir zwei Plätze frei bleiben werden, als hätte ich eine ansteckende Krankheit.
 

Noch während meine Gedanken eine Spirale fahren und mich in Schweiß ausbrechen lassen, lässt jemand sich auf meiner rechten Seite auf einen Stuhl fallen und haut mir auf die Schulter.
 

»Jo«, sagt Cem bestens gelaunt.
 

»Hallo«, sage ich mit schwacher Stimme und hämmerndem Herzen.
 

»Was geht, Speedy?«, meint Cem und gähnt ausgiebig.
 

»Nicht so viel. Keine Lust auf Politik«, gebe ich zurück. In diesem Moment kommt Julius herein. Er sieht wie immer vollkommen verpennt aus, grüßt ungefähr sieben Leute mit Handschlag oder Umarmung und kommt dann zu mir und Cem. Zu meiner grenzenlosen Verwirrung setzt er sich auf meine andere Seite, sodass ich nun zwischen Cem und Julius sitze.
 

»Morgen«, nuschelt er und klopft mir auf den Rücken. Cem bekommt über mich hinweg ebenfalls einen Handschlag.
 

Wie ich nach einem raschen Blick in die Klasse feststelle, bin ich nicht der einzige, der über Julius‘ Platzwahl verwundert ist. Ich glaube, die meisten wissen kaum, dass ich existiere – die Tatsache, dass ich jetzt plötzlich zwischen zwei der beliebtesten Jungs im Jahrgang hocke, ist vermutlich ein seltsames Bild.
 

Ich bin sehr dankbar, dass ich mir darüber keine weiteren Gedanken machen muss, weil der Unterricht startet und ich ganz für mich alleine Panik über diese ungeahnte Aufmerksamkeit schieben kann.
 

Julius hat bisher erst einmal neben mir gesessen und das war in der schicksalsträchtigen Französischstunde, als ich sein Abitur gerettet habe. Und plötzlich gucken alle immer wieder zu uns herüber, vor allem, als Julius geistesabwesend anfängt, ein paar Katzenhaare von meinem Shirt zu zupfen.
 

Kati und Merle starren ganz offensichtlich zu uns herüber und ich stehe sehr abrupt auf. Julius blinzelt verwirrt und zieht seine Hand zurück, während ich aus dem Klassenraum flüchte. Die nächsten Toiletten sind mir zu weit entfernt, also reiße ich die nächstbeste Tür auf, hinter der sich keine Leute verbergen dürften – in diesem Fall der alte Computerraum, der größtenteils für Gerümpel genutzt wird.
 

Mein Herz hämmert und ich komme mir total bescheuert vor. All die Zeit wollte ich dringend, dass Julius mir Aufmerksamkeit schenkt und wir auch in der Schule befreundet sein können. Und jetzt, im letzten Schuljahr, als Julius sich neben mich setzt und mich tatsächlich so behandelt, wie er mich privat auch behandeln würde, kriege ich eine halbe Panikattacke, weil Leute uns dabei beobachten.
 

Ich kann einfach nicht gut damit umgehen, wenn Leute mich ansehen.
 

Ugh. Was für eine Scheiße.
 

Ich schließe die Tür hastig hinter mir, lehne mich dagegen und… starre direkt in ein hübsches und eindeutig verweintes Gesicht.
 

»Oh. Ah, entschuldige, ich–«, fange ich an zu plappern. Ich krame hastig in meinem Gedächtnis nach dem Namen. Ich glaube, dass das Feli ist. Feli aus meinem Französisch- und Deutschkurs.
 

Meine Augen vermeiden den Blickkontakt mit ihr automatisch und fallen in ihren Schoß. Oh.
 

Feli merkt sofort, wo ich hinsehe und sie gibt ein ersticktes Geräusch von sich und verschränkt hastig ihre Arme über ihrem Schritt.
 

»Shit«, sage ich voller Mitgefühl.
 

Sie lässt den Kopf hängen. Ich vergesse augenblicklich meine eigene Panik im Angesicht der Tatsache, dass Feli sich hier drin versteckt, weil sie offenbar unbemerkt ihre Tage bekommen hat und jetzt ein unheimlich sichtbarer Blutfleck ihre hellblaue Hose ziert. Sie trägt nichts, mit dem sie ihn verdecken könnte – nur ein schulterfreies Oberteil mit Blumenmuster.
 

»Ok, ok«, murmele, pelle mich aus meiner Kapuzenjacke und halte sie ihr hin. »Gib mir zwei Minuten, ich besorg dir… ich bin gleich wieder da.«
 

Sie sieht vollkommen perplex aus, greift aber nach meiner Jacke und gibt einen kleinen Hicks von sich. Der Trick, seine eigene Panik zu überwinden ist, anderen Leuten zu helfen, die auch Panik haben. Bei mir funktioniert das immer.
 

Ich husche wieder ins Klassenzimmer, ignoriere Cems und Julius‘ fragende Blicke und fange an, in meinem Rucksack herumzuwühlen. Im kleinen Fach sind immer Tampons. Weil zwei meiner besten Freunde mitten in der Schule zum ersten Mal ihre Tage bekommen haben, hab ich mir angewöhnt, immer sowas mit mir herumzuschleppen.
 

Ich stopfe zwei der Tampons in meine Hosentasche und gehe wieder. Ich spüre, wie die Blicke mir folgen, aber jetzt habe ich die Panik eines anderen Menschen als Schild dabei. Ein Hoch auf Schlupflöcher in meinem eigenen Gehirn.
 

Feli hat sich meinen Kapuzenpulli um die Hüfte geschlungen, als ich den Abstellraum wieder betrete. Sie zuckt merklich zusammen, als ich eintrete. Auf meiner ausgestreckten, offenen Hand zeige ich ihr die Tampons. Sie guckt mich an, als wäre ich ein Geist.
 

»Ich hab zwei beste Freundinnen?«, sage ich unsicher. Es ist mir irgendwie klar, dass die meisten Jungs eher allergisch auf das Thema Periode reagieren, aber die meisten Jungs sind auch scheiße. Sie greift zögerlich danach und schnieft herzzerreißend.
 

»Danke«, sagt sie. »Das ist… es ist super peinlich.«
 

Ich mache einen Schritt zurück und mustere ihre Konstruktion mit meinem Kapuzenpulli.
 

»Man sieht nichts mehr«, versichere ich ihr. Sie hat den Knoten seitlich gebunden, sodass mein Pulli wie ein halber Rock ihren Schritt verdeckt. Feli dreht sich um und ich schaue, ob man von hinten noch irgendwas sehen kann.
 

»Hinten ist auch alles ok«, sage ich.
 

Sie seufzt schwer und nickt.
 

»Ok. Danke.«
 

Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Fiepsen. Dann wischt sie sich über die Augen und atmet ein paar Mal tief durch, bevor sie die Tampons in ihre Hosentasche gleiten lässt.
 

»Tamino… richtig?«, fragt sie dann. Ich nicke. Feli bringt ein Lächeln zustande und zieht die Schultern hoch, ehe sie Richtung Tür geht, um sich zur Toilette aufzumachen.
 

»Ich bring dir den Pulli irgendwann die Woche gewaschen mit«, verspricht sie peinlich berührt.
 

»Kein Stress«, sage ich mit einem halbem Lächeln und schiebe mir die Brille auf der Nase nach oben. Dann huscht Feli aus dem Raum und ich habe die Gelegenheit, ein wenig durchzuatmen.
 

Das ist eindeutig der seltsamste Schultag, den ich seit langem hatte.
 

Wie es sich herausstellt, wird es noch seltsamer. Leute bemerken natürlich, dass Feli diesen mysteriösen Kapuzenpulli mit sich herumträgt. Sobald Französisch losgeht und Herr Rosenheim die Anwesenheit überprüft, merke ich, dass die Mädchen tuscheln. Feli sieht verlegen aus, Julius verwirrt.
 

Er hat sich wieder neben mich gesetzt und ist jetzt damit beschäftigt, meine nackten Unterarme zu betrachten, als würde er darüber nachdenken, ob da vorher lange Ärmel drüber waren oder nicht. Allerdings bin ich recht sicher, dass er zu der richtigen Erkenntnis kommt, als Feli den Kapuzenpulli komplett überzieht. Weil ich so groß bin, ist der Pulli quasi ein Kleid für sie und man kann den Fleck auch weiterhin nicht sehen.
 

Aber dafür erkennt man jetzt auch eindeutig, dass dieser Kapuzenpulli mit großer Wahrscheinlich nicht ihr gehört.
 

»Sag mal, ist das nicht dein Pulli?«, fragt Julius verwirrt, während Herr Rosenheim in seiner Mappe nach irgendwelchen Folien und Ausdrucken kramt.
 

»Hmhm«, sage ich. Julius starrt mich an.
 

»Seit wann kennst du Feli?«, fragt er verwirrt.
 

»Seit ich hier zur Schule gehe?«, gebe ich unsicher zurück. Ich meine, es ist nicht wirklich gelogen. Julius schaut mich vollkommen verdattert an.
 

»Aber ich meine… seit wann kennst du sie so gut, dass du ihr deine Klamotten gibst?«
 

»Seit…vorhin«, erwidere ich ausweichend. Ich will Felis Problem nicht an die große Glocke hängen. Aber es starren mich schon wieder so viele Leute an – diesmal, weil Feli meinen Pullover hat. Was hab ich mir dabei gedacht, mich mit drei der beliebtesten Menschen im ganzen Jahrgang einzulassen? Ich muss vollkommen wahnsinnig sein.
 

Julius sieht offensichtlich ein, dass ich nicht auskunftsbereit bin und lässt das Thema fallen. Dafür schneidet er etwas anderes an, das mich direkt wieder in Aufregung stürzt.
 

»Kommst du nachher mit zum Training?«, will er wissen. Herr Rosenheim teilt einen Stapel Kopien aus und ich notiere geflissentlich das Datum oben rechts in der Ecke.
 

»Ich denke schon. Aber ich bin schon den ganzen Tag nah dran, eine Angstattacke zu kriegen, also gucke ich mal, wie es mir nachher geht«, gebe ich offen zu. Es ist befreiend, mit Julius über diese Dinge reden zu können. Er sieht sofort alarmiert aus und ignoriert die Kopien vor sich auf dem Tisch.
 

»Kann ich helfen?«, will er wissen.
 

Ich lächele schief.
 

»Nee«, antworte ich. Ich werde einen Teufel tun und ihm sagen, dass er bitte wieder Abstand halten soll, damit Leute aufhören mich anzuschauen. Das ist mein Problem und ich werde mich daran gewöhnen. »Aber danke.«
 

Ich hab ein Jahr ohne Freunde in diesem Höllenloch geschafft, dann schaffe ich auch ein Jahr mit Freunden.



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Kommentare zu diesem Kapitel (10)

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Von: abgemeldet
2018-05-31T14:23:41+00:00 31.05.2018 16:23
Ist ja echt chilling, dass Tamino so gelassen mit Felis Problem umzugehen weiß. Ja, es ist vielleicht aber auch nicht das Normalste der Welt, als Junge Tampons dabei zu haben :D das macht ihn mir nur noch sympathischer ;)
Tja, aber jetzt hat er sich gesellschaftlich echt einiges an Problemen eingebrockt... Aber das schafft er, ich glaube fest an Tamino ;)
Von:  EmilieJasminR
2018-04-20T21:35:54+00:00 20.04.2018 23:35
Hey Hey, also ich merke, dass ich immer wieder darüberstolpere, dass Julius Geburtstagsfeier so gar keinen Platz gefunden hat. Ich mein, das ist ja schon ein größeres Ereignis in seinem Leben und das sein Leben ohne Tamino so ganz unter den Tisch fällt macht ihn als Charakter irgendwie flach... Das finde ich schade!
seine ganze "Sport Stipendium"s Geschichte ist ja auch wieder ganz verschwunden...?

Ansonsten war es natürlich wie immer ein cooles Kapitel. Die Morgenszene war super süß. Tamino zwischen Cem und Julius auch ein cooles Bild, was durch seine Angst dann sofort Komplexität gewonnen hat... Die Pullovergeschichte... Ich bin gespannt was daraus folgt! Ganz witzig, das Tamino jetzt auch mit anderen in Kontakt kommt, gefällt mir!

Ich mag Julius Morgenmuffeligkeit und die winzigen Verliebtheitsanzeichen von Tamino :)
Hoffe es geht bald weiter!!
Antwort von:  Ur
21.04.2018 09:04
Julius' 1. Geburtstagsfeier ist vorbei, die wollte ich auch nicht einbringen, weil es diesbezüglich nichts zu erzählen gab ;) Und die 2. steht im nächsten Kapitel an - da kann ich dich also beruhigen. Und das mit dem Stipendium hat in den Sommerferien ja auch erstmal keine Relevanz? Es geht jetzt wieder los, wenn die Schule weitergeht, weil Julius weiter Nachhilfe braucht.

Das nächste Kapitel ist in Arbeit! :) Danke fürs Feedback <3
Antwort von:  EmilieJasminR
23.04.2018 01:06
Ja, also ich meinte nur die 1. Feier, das die zweite noch kommt dachte ich mir ;)
Finde es eben schade, dass Julius so wenig eigene Geschichte, eigene Gedanken, Lebenswelt, unabhängig von Tamino hat. Er übernimmt ja auch immer mehr den Lebensstil von Tamino, (kuscheln, lesen, über Gefühle reden usw.), so dass er als Charakter inzwischen ziemlich verwaschen ist.
Während es bei Tamino ja doch auch die Geschichtchen ohne Julius gibt, schon alleine wegen seiner Freunde, seiner schwierigen Familiensituation, seiner Katze... Er ist halt irgendwie viel komplexer und ich verstehe, dass es dann einfacher ist eine Vielfalt an Lebenssituationen zu beschreiben. Das fehlt mir bei Julius, der so ein klitzekleines bisschen was Tamino-Klon-mässiges bekommt ;)
Da die meisten hier das nicht so wahrzunehmen scheinen, ist es ja auch offensichtlich gut so, wie du es schreibst, ich wollte trotzdem nochmal anmerken, dass ich es noch einen Ticken besser fände, wenn es Julius auch noch ohne Tamino gäbe ;)
Von:  brandzess
2018-04-20T14:45:32+00:00 20.04.2018 16:45
Das ist mal ein Freund. Tamino ist echt ein Unika, hat doch tatsächlich Tampons dabei, Retter in der Not. Ich denke fast jedes Mädchen war schon mal in der Situation sich bei irgendwem Tampons (oder Vergleichbares) leihen zu müssen.
Das Gefühl nach Ferien/Urlaub wieder zur Schule zu müssen kenn ich nur zu gut >.< nicht schön. Zu viele unvorhersehbare Dinge und unerwartetes.
Es ist schön, das Julius jetzt ganz selbstverständlich bei Tamino ist, auch wenn es nicht so toll, dass es Tamino gerade ein wenig überfordert.

Antwort von:  Ur
20.04.2018 20:24
Tamino wird sich schon noch dran gewöhnen
Antwort von:  Ur
20.04.2018 20:25
Zu früh abgeschickt D: cont.: vor allem, wenn er jetzt auch Teil der Fußballmannschaft wird - da wird er mehr Aufmerksamkeit bekommen ^^ Danke fürs liebe Feedback <3
Von: abgemeldet
2018-04-17T14:13:58+00:00 17.04.2018 16:13
Sehr schönes Kapitel! Neben dem vielen Zucker (Kuscheln am Sonntagmorgen, Taminos Gedanken rund um Cems Flirtversuche) gab es auch ordentlich Spannung. Ich kann mir nur vorstellen wie es für Tamino sein muss aus seiner Komfort-Zone wieder heraus und wieder in die Schule gehen zu müssen. Da hilft auch die neue Nähe zu Tamino und Cem nichts, die innere Zerrissenheit von Tamino kann ich da total gut nachempfinden. Das er dann seiner Angststörung zum Trotz so cool auf Felis besondere Situation reagiert ist ziemlich stark.

Ich bin nun echt gespannt, ob Tamino sich doch noch zum Training mitschleifen lässt ... und natürlich, wie sich die Gefühle in diesem Dreiergespann nun entwickeln. Bemerkt er Julius Gefühle? Ist ja alles nicht so einfach, nech? *Jumino-Fahne schwenk* ... *hust* ... ;)

Ganz viel Liebe für dich und die Jungs und so :3
Antwort von:  Ur
17.04.2018 19:30
Hach, was freu ich mich auf die Reaktionen zum nächsten Kapitel :'D Danke fürs liebe Feedback, ich freu mich wie immer sehr <3
Von:  MaiRaike
2018-04-16T08:50:02+00:00 16.04.2018 10:50
Die arme Feli. Das ist mein Albtraum. Ich glaub ich wär direkt nach Hause marschiert und hätt mich am nächsten Tag kaum aus dem Haus getraut. Einer der Gründe warum ich ausschließlich dunkle Hosen trage. Immer.

Tamino ist ein wunderbarer Retter der verlorenen Schäfchen. Es ist aber auch immer leichter die Probleme von anderen Leuten zu lösen als die eigenen... (und fremde Küchen räume ich auch lieber auf als meine eigene. Zum Glück geht es meinen Freunden genauso :D)

Bin gespannt ob es noch zum Eifesuchts Showdown zwischen Juls und Cem kommt. Tamino steht ja offensichtlich was Juls angeht sowas von auf dem Schlauch (wobei er sich jetzt endlich mal über die Persönlichkeitswandlung und die mangelnden Freundinninen von Juls gewundert hat). Er scheint aber nicht uninteressiert an Cem zu sein. Ich finde Cem absolut großartig und wünsche ihm alles Gute. ABER NICHT MIT TAMINO! Ich hoffe Juls hilft entweder Tamino oder Cem, oder Beiden auf die Sprünge was seine eigenen Gefühle angeht. Ich bin mir sicher Cem würde Tamino nicht so anflirten, wenn er auch nur den Hauch einer Ahnung hätte wie Julius sich fühlt.

Ich liebe übrigens die Szene wo die Beiden sich links und rechts neben Tamino gesetzt haben. Ich hätte mir gewünscht, dass er das als Stütze empfinden kann - und nicht als zusätzliche Belastung wegen der Aufmerksamkeit. Aber vielleicht kommt das ja noch!

Ich warte wie immer ungeduldig auf das nächste Kapitel, bis dann!
Antwort von:  Ur
16.04.2018 18:39
Ich wäre auch direkt nach Hause gegangen, aber das hat sie sich vermutlich auch nicht getraut. Mein armes Schnuff :O Hach, ich freu mich schon auf die Reaktionen nach dem nächsten Kapitel, von wegen Eifersuchtsshowdown. Njahahaha! Vielen Dank fürs liebe Feedback, ich freu mich, dass es dir gefällt <3
Von:  Deedochan
2018-04-15T18:41:13+00:00 15.04.2018 20:41
Ui ^^ So ein aufregender Tag. Armer Tamino.

Das Problem von Feli kenne ich nur zu gut -.-" Ist mir in meiner Schulzeit super oft passiert ... + Nasenbluten. Das war auch schrecklich ...

Viel Liebe! <3
Bis bald,
Deedo
Antwort von:  Ur
16.04.2018 06:04
Ja, es ist echt fürchterlich D: Darauf könnte ich auch gut verzichten ;) Aber Feli hat ja jetzt einen Ritter in strahlender Rüstung :P Danke fürs Feedback! <3
Von:  SessyFuchs
2018-04-15T16:53:01+00:00 15.04.2018 18:53
Nur mal so dahin gesagt... ich würde mich auch glatt in Tamino verlieben. Und ich bin lesbish.
Antwort von:  Ur
15.04.2018 20:03
Das freut mich sehr zu hören :'D Ich grinse gerade sehr breit. Das hat mir sehr den Abend versüßt, danke <3
Von:  Schnullerkai
2018-04-14T21:57:51+00:00 14.04.2018 23:57
Oh mein Gott, ich bin so fertig mit den Nerven.
Hab das hier gerade (okay, es ist ein paar Stunden her) über die Schreifalter gefunden und kann mich nicht erinnern, jemals eine Bildschirm-Geschichte dieses Umfangs am Stück durchgelesen und am Ende des bisher letzten Kapitels unbefriedigt auf den Pfeil nach rechts gehämmert zu haben, weil es nicht weiterging.
(War auch noch nie so angepisst von meinem "Waschmaschine ist fertig"-Wecker... Oh, müsste die zweite Fuhre mal aufhängen...)
Ich hatte zwischendurch feuchte Augen, Herzklopfen, Kribbeln vom linken kleinen Zeh bis untern Schopf und rasch erstickte Ansätze von Schreikrämpfen, selten finde ich mich so in Charakteren wieder und tauche derartig ab, es ist einfach großartig.
Dazu sei erwähnt, dass ich Teenager-Romanzen auf'n Tod nicht (mehr) ausstehen kann, jetzt hab ich mich in eine verliebt. Aber, um fair zu bleiben, es ist auch viel, viel mehr als eine Teenager-Romanze.

Grußviech,
Schnullerkai
Antwort von:  Ur
15.04.2018 08:37
Der Waschmaschinenwecker klingelt doch immer im unpassendsten Augenblick D: Vielen, vielen Dank für deinen lieben Kommentar, er hat mich gerade gleich mit einem breiten Grinsen in den Sonntag starten lassen! Ich freu mich, dass es dir gefällt, obwohl du kein Fan von Teenager-Romanzen bist :D
Von:  Yamasha
2018-04-14T17:54:23+00:00 14.04.2018 19:54
Zuckerschock! Und zwar einen ganz großen! Nach einer so langen Pause geht das einfach nicht anders... Und weil die beiden einfach zu süß sind <3 ich meine, die Kuschelnummer am Anfang? Und ich sehe allmählich deutliche Anzeichen, dass Tamino sich auch in Juls verliebt :D <3
Und ich freue mich auf die Entwicklung mit Feli. Das wird bestimmt noch interessant. (wobei ich mir frage, wie man im Abijahr als Mädchen so doof sein kann und nichts für seine Tage dabei hat... Aber eigentlich sollte ich froh sein. Das gibt der Geschichte noch mehr Spannung ;D)
Antwort von:  Ur
14.04.2018 19:56
Also ich kenn einige, denen das mal passiert xD Da hat man ausnahmsweise mal ne andere Tasche dabei oder vergisst sich morgens neue Sachen einzupacken, nachdem man letztes Mal alles aufgebraucht hat und so... Ein Elend :'D Ich freu mich, dass es dir gefallen hat! Zuckerschocks für alle! Danke fürs Feedback <3


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