Actio est reactio von Ur (von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung) ================================================================================ Kapitel 21: the kids aren't alright ----------------------------------- Ich hab ja schon geahnt, dass das passieren würde, aber nach einem emotionalen Hoch kommt meistens ein Tief. Und diesmal geht es sehr tief runter. Nachdem Noah, Lotta und Anni im Zug sitzen, bleibe ich eine Viertelstunde am Bahnsteig stehen und starre dem Zug nach, als könnte ich ihn mit der Kraft meiner Gedanken anhalten, aber selbstverständlich kommt der Zug nicht zurück. Sobald ich zu Hause bin, lege ich mich ins Bett und mache mir nicht die Mühe einen Wecker zu stellen. Natürlich kann ich nicht schlafen. Also liege ich einfach im Bett und starre an die Decke. Es wird dunkel draußen. Und dann wird es wieder hell und ich bleibe liegen. Ich kriege es weder gebacken, duschen zu gehen oder zu frühstücken, noch auf die WhatsApp-Nachrichten zu antworten, die mir seit Sonntagabend auf dem Handy angezeigt werden. Ich bin so beschäftigt mit der Abwesenheit meiner Freunde, dass ich mich kein Stück mehr dafür interessiere, dass Julius nach dem Spiel zu beschäftigt war, um mit mir zu sprechen. Ich hab ihm nicht mal mehr per WhatsApp zum Sieg gratuliert. Der Weg zum Bad scheint besonders lang zu sein. Noch zwei Wochen bis zu den Sommerferien. Vielleicht kann ich einfach zwei Wochen im Bett bleiben. Es würde sowieso niemandem auffallen. Ich bin gar nicht so sicher, wie viele Tage ich im Bett liege, aber ich habe definitiv viel zu lange nichts gegessen. Wahrscheinlich habe ich Bauchschmerzen, aber es fühlt sich alles ziemlich stumpf und taub an. Als ich irgendwann vormittags – vielleicht ist es Mittwoch? – auf mein Handy schaue, habe ich 47 ungelesene Nachrichten. Die Zahl überfordert mich dermaßen, dass ich sie nicht öffne, das Handy einfach wieder unters Kissen stecke und mir die Decke übers Gesicht ziehe. Mir geht seit ungefähr drei Stunden »Mad World« von Gary Jules durch den Kopf und es ist nicht das beste Lied, um in einer depressiven Episode darauf konzentriert zu sein. Aber mein Gehirn macht selten, was ich von ihm will. Also dreht sich der Text im Kreis und ich wünsche mir, dass es mir so geht wie anderen depressiven Leuten, die den ganzen Tag schlafen können. Nicht, dass das wirklich besser wäre, aber im Moment würde ich es sehr begrüßen, einfach weg zu dämmern. Irgendwann klingelt es und ich hoffe inständig, dass es nur ein Paketbote ist, der meinem Vater irgendwelche Krawatten liefert. Ich denke darüber nach, wann ich das letzte Mal ein so krasses depressives Tief hatte und kann mich nicht so richtig daran erinnern. Wahrscheinlich nach meinem Austritt aus der Fußballmannschaft. Natürlich ist es kein Paketbote, sondern Julius. Da ich komplett unter meiner Bettdecke verborgen liege, höre ich sehr gedämpft, wie meine Zimmertür aufgeht. Ich habe meine Jalousie unten, das heißt Julius sieht vermutlich nicht wirklich viel. Und mich sieht er gar nicht. Ich fühle mich zu taub, um Panik zu kriegen, weil ich seit Sonntagmorgen nicht geduscht habe und Julius mich so kläglich hier herumliegen sieht. Nur anhand der Geräusche stelle ich fest, dass die Jalousie nach oben gezogen und das Fenster geöffnet wird. Julius spricht nicht und ich höre ihn in meinem Zimmer herum wuseln, das Zimmer verlassen, zurückkommen und Dinge aus seinem Rucksack kramen. Dann setzt er sich zu mir aufs Bett. »Hey«, sagt er und seine Stimme klingt sehr zögerlich, dafür, dass er hier so hereinspaziert ist, als wäre nichts dabei und als wäre ich kein Wrack. Ich antworte nicht. Natürlich tut er mir nicht den Gefallen, einfach wieder zu gehen, sondern zieht bedächtig das Kissen von meinem Kopf und die Decke ein Stück zurück. Ich halte beharrlich die Augen geschlossen und den Kopf Richtung Wand gedreht. »Ich hab die Hausaufgaben auf den Schreibtisch gelegt«, informiert er mich. Es riecht nach frischer Luft und ich höre draußen jede Menge Vogelgezwitscher. Die Vögel klingen so heiter, dass ich am liebsten kotzen würde. Als ich weiterhin nichts sage, schweigt auch Julius eine ganze Weile. Wahrscheinlich muss er ansonsten nicht mit depressiven Freunden rumschlagen, die alle einfach stinknormal sind und deren größtes Problem ist, dass sie in Physik eine Fünf geschrieben haben. Man, würde ich gerne eine Fünf in Physik schreiben, wenn ich dafür diese Scheiße los wäre. »Wann hast du das letzte Mal was gegessen?« Mein schmerzender Bauch schreit mich an. Ich hole tief Luft und beschließe, dass es keinen Sinn macht, Julius zu ignorieren, also drehe ich den Kopf, öffne die Augen und halte mir sofort die Hand vor die Augen. Ugh. Es ist viel zu hell. »Sonntag«, sage ich heiser. Meine Stimme wurde seit Tagen nicht benutzt und man hört es. Julius sieht nervös aus. Kein Wunder. Ich sehe, das er sein Handy in der Hand hat und ruhelos damit herumspielt. »Es ist Mittwoch«, sagt er und klingt ernsthaft schockiert. Hey, ich hab den Tag richtig geraten. Ich zucke mit den Schultern. »Ok, ich besorge was zu essen«, sagt er. »Ich will nichts essen.« »Tja«, sagt Julius ungehalten, steht auf und macht sich auf den Weg. Bald kennt er sich in unserer Küche besser aus als ich selbst. Ich frage mich, ob ich die 47 Nachrichten auf meinem Handy lesen will, aber ich verwerfe den Gedanken wieder und sehe, dass Julius mir eine Flasche Wasser auf den Nachtschrank gestellt hat. Die letzten Tage habe ich eigentlich nur getrunken, wenn ich sowieso auf Klo musste und dann auch nur aus dem Wasserhahn. Also setze ich mich mühselig auf und greife nach der Flasche. Meine Hände zittern dermaßen, dass ich fast eine halbe Minute brauche, um überhaupt die Flasche aufzudrehen. Kein Wunder, wenn man drei Tage am Stück nichts isst. Ich trinke fast die halbe Flasche Wasser aus und frage mich, wie beschissen ich wohl aussehe. Julius kommt mit einer Schale Müsli zurück und hält sie mir kommentarlos hin. Ich schaue ihn an und denke darüber nach, ihm die Schale aus der Hand zu schlagen und zu sehen, wie er reagiert. Dann seufze ich, greife nach der Schale und nehme mit zittrigen Fingern den Löffel in die Hand und rühre lustlos in dem Müsli herum. Julius tippt irgendwas auf seinem Handy und kaut auf seiner Unterlippe herum. Ich beobachte ihn, statt mein Müsli zu essen, aber als er aufschaut und feststellt, dass ich noch nichts gegessen habe, stemmt er tatsächlich die Hände in die Hüfte und sieht mich streng an. Nicht, dass ich das besonders beeindruckend finde, aber es ist wahrscheinlich besser, wenn ich es hinter mich bringe. Also zwinge ich mir ein paar Löffel Müsli rein. Jeder Bissen scheint in meinem Mund mehr zu werden und ich würde am liebsten alles wieder ausspucken. Aber ich esse die Schale auf, stelle sie beiseite und lege mich wieder hin. Julius tritt nervös von einem Bein aufs andere. »Ich weiß nicht so richtig, was ich machen soll«, gibt er letztendlich zu. »Gar nichts«, murmele ich in mein Kissen. »Aber ich hab eine Liste bekommen«, sagt er dann. »Liste?« »Von… von Lotta, Anni und Noah.« Ich seufze und drehe mich im Bett um und schaue ihn von unten herauf an. Ich will mir lieber nicht vorstellen, wie diese Unterhaltung ausgesehen haben mag. Hilfe, Tamino ist nicht in der Schule und er antwortet nicht auf meine Nachrichten, weiß irgendwer was? Oh, das liegt daran, dass er psychisch krank ist, wahrscheinlich liegt er seit Tagen ungeduscht im Bett und kriegt es nicht mal gebacken eine Banane zu essen. Ugh. Ich hasse mich. »Und?« Julius zögert einen Moment, dann hält er mir sein Handy hin. Ich greife danach. TaminoFanclubII Für Gruppeninfo hier tippen Julius ich kann ihn ja schlecht zum essen zwingen? Lotta du musst. Anni es kann gut sein dass er seit tagen einfach nur im bett liegt und es wär super wenn du ihn vielleicht dazu kriegen kannst unter die dusche zu gehen Lotta depressionen sind ein arschloch. wenn wir da wären könnte wir dir helfen D: Noah er ist wahrscheinlich abgesackt, weil wir da waren. sry juls. er hat auf unsere nachrichten auch ewig nicht geantwortet Anni wenns nach mir ginge würden wir einfach gleich wieder zurück fahren. fick die schule, es sind eh nur noch zwei wochen bis zu den ferien Julius Vielleicht will er mich überhaupt nich sehen Noah will er ziemlich sicher nicht, liegt aber nich an dir, alter Noah lass dich nich rausschmeißen. er muss was essen, trinken und soll duschen. und wenn du ihn dann noch dazu kriegst n frisches shirt anzuziehen wär das bombe Lotta boah ich fass es nich dass wir nich da sind. aber ja!!! neues shirt! vor allem essen und trinken!!!! Julius man ich bin so mies in diesem ganzen freundschaftsding Anni naja………… sagen wir mal du brauchst noch n bisschen übung (ihn sonntag nachm spiel ignorieren war nich cool, mein lieber. und in der schule auch!) Lotta aber du hast schon die richtigen ansätze! wenn du willst bastele ich dir eine powerpointpräsentation :D :D :D Julius ich hab ihm müsli gegeben und das fenster aufgemacht und wasser hingestellt? soll ich noch mehr essen besorgen? Lotta nee. kriegt er wahrscheinlich eh nich runter. müsli ist super, danke juls! das war das wichtigste Ich lasse das Handy neben mich aufs Bett plumpsen und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Es ist alles so peinlich. Ich bin schlimmer als ein kleines Kind. Julius setzt sich zurück zu mir aufs Bett. »Tut mir Leid wegen Sonntag. Und wegen der Schule«, sagt er leise. Mir ist sehr nach heulen zumute. Ich seufze gegen meine Hände und schlucke ein paar Mal, um die Tränen zu unterdrücken. »Das hier ist… nicht deswegen«, krächze ich. »Ich weiß. Aber trotzdem. Sorry.« »Ich bin abgefuckt.« »Bist du nicht.« »Siehst du doch.« Finger berühren meine Hände und ich zucke heftig zusammen. Julius zieht mir behutsam die Hände vom Gesicht und schaut mich an. »Schaffst du es unter die Dusche?«, fragt er leise. Ich zucke mit den Schultern. Keine Ahnung was passiert, wenn ich aufstehe. »Vielleicht geht’s ja im Sitzen«, schlägt er vor. Ich hole tief auf und setze mich erneut auf. Nichts motiviert einen so sehr wie die Scham vor jemandem, der mit den besten Freunden eine Diskussion darüber hatte, was für ein Häufchen Elend man ist. Ich versuche, langsam aufzustehen, aber wie erwartet macht mein Kreislauf schlapp und Julius hat Schwierigkeiten mein Gewicht zu halten, weil ich größer bin als er. Nach drei Versuchen stehe ich wohl oder übel aufrecht und mein Zimmer verschwimmt immer wieder vor meinen Augen, aber ich angele mich bis zum Türrahmen und schaffe es ins Bad. Scheißdreck. Es dauert gefühlte hundert Jahre sich aus den Klamotten zu schälen und mich in die Dusche zu setzen. »Nicht abschließen!«, ruft Julius aus dem Flur. Ich schalte das Wasser an, das eigentlich viel zu heiß eingestellt ist, aber es ist mir egal. Ich weiß nicht, wie lange ich unter der Dusche sitze, aber irgendwann geht die Badezimmertür auf. »Alles ok?« »Wie man‘s nimmt.« »Ah. Aber du bist nicht abgeklappt.« »Wenn ich weiter so heiß dusche, kommt das gleich noch«, gebe ich gleichgültig zu. Julius schweigt einen Moment. Ich kann mir in etwa vorstellen, was in ihm vor sich geht, aber schließlich kommt er tatsächlich ins Bad und öffnet kurzerhand die Duschkabine. Als er unters Wasser greift, um den Regler herunter zu drehen, flucht er lautstark. Ich sehe, dass er die Augen geschlossen hat und muss beinahe lachen. Dann reißt er das Fenster im Bad auf. »Genug geduscht«, meint er mit seiner pseudostrengen Stimme. Ich greife blindlings nach Shampoo oder Duschgel oder was auch immer ich als erstes zu fassen kriege und fange an, mich mehr schlecht als recht zu waschen, während Julius wieder aus dem Bad verschwindet. Ich muss förmlich aus der Dusche kriechen, weil mir vom heißen Duschen und mangelnden Essen so schwindelig ist und ich schaffe es, mich halbwegs trocken zu bekommen. Gerade, als ich darüber nachdenke, ob ich im Handtuch zurück in mein Zimmer schwanken soll, taucht Julius wieder auf und legt mir einen Stapel frischer Wäsche hin. Meine Haare triefen, als ich mich mühselig anziehe und dann zurück ins Zimmer gehe. Julius hat mein Bett frisch bezogen und verschwindet jetzt, um meine Wäsche aus dem Bad einzusammeln. Er kommt mit einem Handtuch zurück und trocknet meine Haare. Ich protestiere halbherzig und fühle mich miserabel, weil ich schlimmer bin als ein kleines Kind. Das Fenster ist mittlerweile wieder geschlossen, aber Julius hat die Jalousie offen gelassen, sodass immer noch jede Menge Sonnenlicht in mein Zimmer scheint. Julius schubst mich vorsichtig nach hinten und dann krabbelt er ungefragt zu mir ins Bett und lässt sich halb neben mich und halb auf mich fallen. Sein Atem streift meinen Hals, ein Arm liegt auf meinem Oberkörper und eins seiner Beine hat er über meine geschoben. Ich will wirklich nicht anfangen zu heulen, aber es kann auch nichts dagegen machen, als mir Tränen über die Wangen laufen. Es ist kein Wunder, dass er mich in der Schule ignoriert. Ich bin total lächerlich. »Willst du die Geschichte hören, wie ich mit acht aus Versehen unseren Weihnachtsbaum in Brand gesteckt habe?« Ich gebe ein ersticktes Hicksen von mir, das alles bedeuten kann, aber Julius beschließt offensichtlich, dass es »Ja« bedeutet, denn er fängt an zu erzählen, während ich heulend aber immerhin frisch geduscht auf dem Bett liege. »Also, meine Mutter hat diesen Kerzenleuchter, den sie hütet, wie ihren Augapfel…« * Ich schlafe nach einer Stunde anhaltendem Heulen tatsächlich ein und als ich wieder aufwache, ist es draußen fast dunkel und Julius liegt immer noch neben mir. Er scheint auch eingeschlafen zu sein, denn er atmet ziemlich gleichmäßig und ich glaube, er hat auf meine Schulter gesabbert. Es geht mir tatsächlich besser. Vielleicht hat die hohe Dosis Körperkontakt geholfen, oder die generelle Gesellschaft. Und ich fühle mich nach dem Duschen definitiv mehr wie ein Mensch als vorher. Mein Magen gibt ein sehr lautes Grummeln von sich und ich stelle fest, dass mein Arm eingeschlafen ist. Julius wacht auf, rutscht ein Stück von mir weg und wischt sich über den Mund. »Ach, scheiße«, nuschelt er. Ich kann nicht umhin matt zu glucksen. »Auf meine Schulter«, murmele ich. Julius gibt ein peinlich berührtes Stöhnen von sich und legt sich eins meiner kleineren Kissen aufs Gesicht. »Wie kommt‘s, dass ich dir schon auf die Schulter gesabbert habe, aber nicht mal weiß, was deine Lieblingsfarbe ist?«, will er gedämpft unter dem Kissen hervor wissen. »Keine Ahnung. Aber es ist rot«, informiere ich ihn. »Du hast mich auch schon zweimal wie einen Zombie im Bett erlebt und du hast mit einer halben Panikattacke bei mir angerufen.« »Fangen all deine Freundschaften so an?«, will er wissen, ohne das Kissen von seinem Gesicht zu nehmen. »Ich hatte seit der fünften Klasse immer dieselben drei Freunde und die haben alle anders angefangen. Aber irgendwann ist wahrscheinlich immer das erste Mal.« »Nur damit du’s weißt, ich muss unter diesem Kissen bleiben, weil ich dich angesabbert habe«, erklärt Julius ernst und ich muss lachen. Lachen tut im Bauch weh, weil ich solchen Hunger habe – was wahrscheinlich ein gutes Zeichen ist. Mein Magen knurrt erneut und ich grummele ihn ungnädig an. Julius sitzt kerzengerade im Bett und das Kissen fällt von seinem Gesicht. Sein Haar hat sich aus dem üblichen Zopf gelöst und steht in alle Himmelsrichtungen ab. Er hat ein bisschen Schlaf im Augenwinkel. »Soll ich dir noch was zu essen besorgen?«, fragt er unsicher. Ich betrachte sein zerknautschtes Gesicht und stelle fest, dass er wirklich sehr hübsch ist. Kein Wunder, dass alle Mädchen ihm hinterherlaufen. Und nett ist er auch. »Du musst nicht–« »Ok! Essen!«, sagt er, krabbelt über mich drüber und verfängt sich fast in der Bettdecke, was dazu führt, dass er mehr schlecht als Recht auf dem Boden landet und kurz wankt. »Deswegen bin ich Fußballkapitän«, erklärt er mir mit sehr ernster Miene und ich muss lachen. Lachen tut wirklich weh. Er dreht sich um und geht Richtung Tür. »Was ist deine Lieblingsfarbe?«, will ich wissen. Er schaut über die Schulter und grinst. »Grün.« Während Julius in der Küche verschwunden ist, greife ich zum dritten Mal nach meinem Handy und öffne WhatsApp. Mir fällt auf, dass ich Julius immer noch nicht unter seinem Namen eingespeichert habe, sondern er bei mir nach all der Zeit noch Blondie McSurferboy heißt. Ich ändere seinen Namen in meinen Kontakten und mustere kurz Julius‘ Profilbild, das ihn mit Cem zeigt. Beide tragen dieselbe scheußliche, vergitterte Sonnenbrille und grinsen in die Kamera. Ich schnaube leise und öffne die Nachrichten von Julius, überfliege sie aber nur. Wahrscheinlich sind sie alle in etwa im Ton von »Alles ok bei dir?« und »Wo bist du?«. Dreizehn der 47 Nachrichten waren von Julius, die anderen sind in der Gruppe, die Anni jetzt endlich wieder in GoldenQuartet umbenannt hat. Auch diesen Chat öffne ich nur einmal kurz, scrolle nach unten und schließe ihn wieder. Jetzt werden mir auf dem Handy wenigstens keine 47 ungelesenen Nachrichten mehr angezeigt. Julius kommt ein paar Minuten später mit einer Eieruhr zurück. »Ich habe Nudeln und Glas Tomatensoße gefunden«, sagt er und platziert die Eieruhr auf meinem Schreibtisch. »Meine Mutter hat mich heute zum ungefähr dreihundertsten Mal daran erinnert, dass ich dich fragen soll, wie viele Stunden du seit deiner Grippe auf mich verwendet hast, damit sie dir das bezahlen kann«, meint Julius und lässt sich neben mich aufs Bett fallen. Ich blinzele verwirrt. »Mit Sprachnachrichten und so«, fügt Julius hinzu. Ich schüttele den Kopf. »Ich will das Geld gar nicht mehr«, sage ich und ziehe die Schultern nach oben. »Ich meine… wenn wir ja jetzt…« Ich sacke ein bisschen in mich zusammen und verkrieche mich weiter auf mein Bett. Ugh. Tamino. Reiß dich zusammen. »Wenn wir jetzt doch sowieso Freunde sind«, nuschele ich kaum hörbar. Julius antwortet eine ganze Weile lang nicht und ich beobachte, wie er wieder auf seinem Handy herum tippt. »Ich hab noch ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk für dich«, sagt er dann undrutscht ein Stück auf dem Bett nach hinten. »Aber ich kann es dir erst am Wochenende bringen. Und Mari und meine Mutter haben sich auch dran beteiligt. Und ich hab ein Foto, das ich dir jetzt schon mal zeigen kann, damit du im Zweifelsfall sagen kannst, dass du es nicht haben willst.« Ich lege den Kopf schief und mustere ihn gespannt. Natürlich habe ich überhaupt nicht erwartet, dass er mir irgendwas schenkt und jetzt beobachte Julius, wie er im Schneidersitz vor mir auf dem Bett hockt und dann das besagte Bild auf seinem Handy sucht. Dann holt er tief Luft und hält mir sein Handy hin. Ich starre auf den Bildschirm, dann auf Julius‘ Gesicht und dann wieder aufs Handy. »Ich hab mit den anderen geredet«, sagt Julius hastig und ich denke, dass er mit ‚den anderen‘ wohl Lotta, Noah und Anni meint, »ob es überhaupt eine gute Idee ist. Aber sie haben gesagt, es sei–« Ich schnappe ihm das Handy aus der Hand und starre auf den Bildschirm. Mir schaut eine kleine, bunte Katze entgegen, der ein Ohr fehlt. Sie hängt auf Julius‘ Arm – man erkennt seinen Pferdeschwanz von hinten – und maunzt offenbar gerade, als das Foto aufgenommen wurde. »Meine Tante hat uns gefragt, ob wir jemanden kennen, der eine haben möchte und meine Mutter ist allergisch und meine Tante meinte, dass niemand sie haben wollte, weil ihr ein Ohr fehlt, aber sie ist–« Ich werfe das Handy beiseite und tackele Julius just in dem Moment nach hinten, als die Eieruhr klingelt. Julius gibt ein erstauntes Japsen von sich, als er hinten über kippt und ich auf ihm lande. Gott sei Dank hab ich geduscht. Mein Magen knurrt schon wieder. »Oh mein Gott«, flüstere ich. Und ich kann nichts dagegen machen, aber ich muss schon wieder heulen. »Heißt das, du nimmst sie?«, fragt Julius erstickt. Ich nicke gegen seinen Hals und ignoriere die Tatsache, dass unsere Position etwas prekär aussehen könnte, wenn irgendwer reinkäme, weil ich zwischen seinen Beinen gelandet bin. Wen interessiert das schon? Ich bekomme eine Katze. »Danke.« Julius legt seine Arme vorsichtig um mich. »Wenn du willst, bleib ich über Nacht.« »Weißt du… es ist eigentlich voll egal, ob du mich in der Schule ignorierst. Du hast diese Freundschaftssache voll drauf.« Julius schnaubt und drückt mich ein bisschen fester. »Heißt das, du willst?« »Hm.« »Ok. Und jetzt lass mich zu den Nudeln. Du musst was essen!« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)