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Actio est reactio

von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung
von

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Ein guter Tag zum Sterben

Tamino schläft wieder schlecht.
 

Als ich ihn am Montag auf dem Weg zum Klassenzimmer sehe, hat er Augenringe bis zu den Knien und seine Augen sind ziemlich rot. Außerdem zuckt er dauernd bei lauten Geräuschen zusammen und ich erinnere mich an das eine Mal in Bio, als er auf dem Tisch eingepennt ist und mir anschließend vor Schreck einen Kinnhaken verpasst hat. Oder zumindest sowas Ähnliches.
 

Anscheinend hat seine Grippe ihm alles an Schlaf abverlangt und jetzt hat er nichts mehr übrig. Nicht, dass ich ihn danach gefragt hätte, nein. Nach meiner Unterhaltung mit Mari am Samstag habe ich mich nicht noch mal getraut, Tamino zu schreiben. Vor allem, nachdem ich die Sprachnachricht entdeckt habe, die ich ihm besoffen geschickt habe, was unweigerlich zu einer schwammigen Erinnerung daran geführt hat, dass ich ihm eigentlich noch ganz andere Sprachnachrichten schicken wollte.
 

Meine Fresse.
 

Man sollte mir das Handy wegnehmen, wenn ich voll bin. Vielleicht bitte ich Cem nächstes Mal darum.
 

»Jo!«, kommt es von schräg hinten und Cem haut mir gönnerhaft auf den Rücken, ehe er sich im Klassenraum neben mich auf den Stuhl fallen lässt. »Wieder nüchtern?«
 

Ich schnaube.
 

»Arschloch«, sage ich. Er lacht zufrieden und wühlt in seinem Rucksack nach einer Flasche Eistee, die er prompt aufschraubt und ein paar große Schlucke zu sich nimmt. Ich bin sehr bemüht, nicht zu Tamino hinüber zu starren. Tamino, den Cem scharf findet.
 

Wer denkt, dass ich darüber noch nicht so wirklich hinweg gekommen bin, hat Recht.
 

Sobald der Gedanke wieder in meinem Kopf ist, fällt mir auf, dass Cem Tamino ansieht. Ich folge seinem Blick und sehe, dass Tamino mit dem Oberkörper auf der Tischplatte liegt, die Augen geschlossen und die Arme verschränkt, um seine Wange darauf abzulegen.
 

»Lass die Hose oben, Casanova«, sage ich und buffe Cem mit dem Ellbogen in die Seite. Cem lacht laut und nimmt mich in den Schwitzkasten, in dem ich immer noch feststecke, als Frau Lüske das Klassenzimmer betritt und mit dem üblichen dumpfen Klonk ihre tonnenschwere Ledertasche auf dem Lehrerpult abstellt.
 

Ich hatte total vergessen, dass wir die Deutschklausur heute zurück bekommen. Cem entlässt mich aus dem Schwitzkasten und ich muss meinen Pferdeschwanz neu binden, weil all meine Haare bei Cems Angriff daraus entwischt sind.
 

Taminos Kopf liegt immer noch auf der Tischplatte, als würde es ihn einen Scheißdreck interessieren, was Frau Lüske von ihm hält. Ich weiß, dass es nicht so ist, aber der Eindruck hinterlässt ein seltsames Kribbeln in meiner Magengegend.
 

»Guten Morgen!«, dröhnt Frau Lüske und reißt zuallererst alle Fenster weit auf. Dann schreitet sie zur Tafel und greift sich ein Stück Kreide. Zwei Sekunden später wird mir klar, dass sie gerade den Klassenspiegel anschreibt. Oh mein Gott. Was hab ich mir dabei gedacht, Deutsch als Leistungskurs zu wählen?
 

Als ich das nächste Mal zu Tamino hinüberschaue, blickt er mich direkt an. Ich blinzele ertappt und schaffe ein schiefes Grinsen. Er lächelt so matt und müde zurück, dass ich automatisch daran denke, ihm den Gefallen mit dem Zudecken zurückgeben zu wollen. Beinahe übersehe ich es, aber ich könnte schwören, dass er mir den schüchternsten nach oben gereckten Daumen zeigt, den ich je gesehen habe.
 

Ich brauche dringend einen Eimer kaltes Wasser. Mein Gehirn hat einen Hitzeschlag bekommen.
 

Meine Augen huschen zu dem Klassenspiegel und ich sehe mir einem sehr unguten Gefühl in der Bauchgegend, dass es vier Vieren und eine Fünf gibt. Frau Lüske knallt den Stapel Klausuren auf den Tisch, reibt kurz ihre Hände aneinander und fängt dann an, uns einzeln nach vorne zu rufen, um die Klausuren und unsere Zeugnisnoten mit uns zu besprechen. Mir wird schlecht.
 

»Alter, du siehst n bisschen grün aus«, zischelt Cem mir zu, während Anna-Lina nach vorne geht und sich zu Frau Lüske ans Pult setzt.
 

»Ich fühl mich auch n bisschen grün«, gebe ich zu. Cem bietet mir Eistee an, als würde mir das dabei helfen, keine Vier oder Fünf in Deutsch geschrieben zu haben.
 

Dummerweise steht der Name Timmermann ziemlich weit unten auf der Liste und ich mache mich geistig bereit dafür, hier vor Nervosität zu sterben, als Frau Lüske verkündet, dass sie abwechselnd von oben und unten Namen nehmen will.
 

Was bedeutet, dass Tamino direkt als nächstes dran ist, da er mit Wilke ganz unten auf der Liste steht. Das heißt, ich bin an sechster Stelle dran.
 

Fuck, fuck, fuck.
 

»Tamino, ich glaube, ich muss gar nichts mehr groß kommentieren«, höre ich Frau Lüske gedämpft zu Tamino sagen und sehe, wie sie ihm seine Klausur aushändigt.
 

»Ihre Aufsätze waren durch die Bank weg ausgezeichnet, Ihre mündliche Beteiligung trägt den Unterricht und das alles, nachdem Sie von einer anderen Schule hierhergekommen sind. Ich bin wirklich beeindruckt. Und dann stemmen Sie zusätzlich noch das Nachhilfeprojekt, das ich Ihnen aufgedrückt habe…«
 

Tamino sitzt stocksteif auf dem Stuhl vor Frau Lüskes Pult und friemelt an der unteren Papierkante seines Aufsatzes herum.
 

»Wissen Sie schon, was Sie nach dem Abitur mit einem Schnitt von 0,9 anfangen wollen?«
 

Ich hab keine Ahnung, ob es daran liegt, dass ich Tamino jetzt schon ein Weilchen beobachte, oder ob es für jeden so offensichtlich ist – Taminos Schultern versteifen sich noch mehr, wenn das überhaupt möglich ist. Er schüttelt kaum merklich den Kopf und ich sehe, wie Frau Lüskes begeisterter Gesichtsausdruck zu etwas Weicherem wird, das ich bei ihr noch nicht gesehen habe.
 

Wahrscheinlich ist sie insgeheim die Vorsitzende des Tamino-Fanclubs im Lehrerzimmer.
 

»Sie haben jedenfalls ausgezeichnete Arbeit geleistet«, sagt sie abschließend, bevor Tamino zurück zu seinem Platz geht und sich dort mit seinem Aufsatz niederlässt, um ihn in Ruhe durchzusehen. Ich frage mich, was es da durchzugehen gibt, wenn man immer 15 Punkte schreibt. Schnitt von 0,9.
 

Das ist doch nicht von dieser Welt.
 

Es geht weiter mit Lennard, dann Merle, dann Adnan und dann…
 

»Julius!«
 

Cem haut mir schon wieder auf den Rücken und ich zeige ihm meinen rechten Mittelfinger, ehe ich nach vorne schlurfe und mich auf dem Stuhl niederlasse, der vor Frau Lüskes Pult steht. Frau Lüske lächelt mich aufmunternd an und hält mir die Klausur entgegen.
 

Ich blättere mit bebenden Fingern bis zur letzten Seite und versuche dabei so gleichgültig wie möglich auszusehen, was mir vermutlich grandios misslingt. Und dann sehe ich die große, rote Zahl am Ende des Aufsatzes.
 

Es ist eine 10.
 

Ich starre die Zahl an, dann hebe ich den Blick und schaue Frau Lüske mit leicht geöffnetem Mund an.
 

»Das hievt Sie zusammen mit Ihrer mündlichen Beteiligung in den letzten Wochen und mit dem Referat nach Ostern auf insgesamt sieben Punkte. Sie und Ihr Nachhilfelehrer haben wirklich hervorragende Arbeit geleistet!«
 

Sieben Punkte auf dem Zeugnis. Ich kann es kaum fassen.
 

Ich drehe mich zu Tamino um, der den Kopf zwar wieder auf den Tisch gelegt hat, mich aber beobachtet. Ich halte beide Hände mit zehn ausgetreckten Fingern nach oben und wedele in Richtung Aufsatz und sein Gesicht hellt sich auf. Ich schmelze nur ein ganz kleines bisschen angesichts der Tatsache, dass er sich so offenkundig für mich freut.
 

Ich schnappe mir meinen Aufsatz, stehe auf und kann nicht umhin, breit zu Frau Lüske hinunter zu grinsen. Sie schmunzelt zufrieden zurück und ruft dann den nächsten Namen auf. Ich habe eigentlich das dringende Bedürfnis Cem zu Boden zu tackeln oder zumindest eine Siegerpose einzunehmen, aber sowas kann man im Unterricht schlecht bringen – am Ende kriege ich doch noch eine Note schlechter.
 

Das heißt, ich habe eine von drei Klausuren geschafft. Vor Bio muss ich nicht ganz so viel Angst haben. Es würden theoretisch sechs Punkte reichen, damit ich keinen Unterkurs kassiere und ich denke, das habe ich wohl geschafft. Und dann ist da noch Französisch. Ich habe noch nie mehr als vier Punkte in Französisch geschrieben. Das heißt, ich brauche sieben Punkte in der dritten Klausur. Und sieben Punkte in Französisch sind für mich ein Ding der Unmöglichkeit. Es war auch etwas viel von Tamino verlangt, sechs Jahre vernachlässigten Französischunterricht innerhalb von fünf Wochen aufzuholen.
 

Meine Freude angesichts der Deutschnote verfliegen beinahe sofort und ich stecke den Aufsatz in meinen Rucksack, ohne ihn noch einmal genauer anzuschauen.
 

Scheiße.
 

Die Zeit vergeht in großen Brocken. Ich kriege vom Rest der Deutschstunde kaum etwas anderes mit, als die Tatsache, dass Tamino so müde aussieht, als würde er jeden Augenblick durch seine Tischplatte schmelzen. Politik zieht komplett an mir vorbei und ich denke darüber nach, ob ich den Sportunterricht in der siebten und achten Stunde nicht vielleicht schwänzen will.
 

Mir ist schlecht, wenn ich an Französisch denke.
 

Letztendlich erwische ich Tamino nach der sechsten Stunde, als er schon auf dem Weg nach draußen ist. Er hat ja keinen Sportunterricht. Dumpf frage ich mich, wieso er vom Sportunterricht befreit ist. Vielleicht hat er ja Asthma.
 

»Gute Arbeit in Deutsch«, sagt Tamino und lächelt mich an. Er ist fast zehn Zentimeter größer als ich und manchmal vergesse ich das, weil er immer so ruhig und schüchtern ist.
 

»Danke«, sage ich. Ein kurzes Schweigen tritt ein und ich versuche nicht allzu sehr auf Taminos Augenringe und das rot unterlaufene Weiß seiner Augen zu achten. Hoffentlich legt er sich zu Hause noch mal aufs Ohr.
 

»Und… danke«, füge ich dümmlich hinzu. Tamino gluckst leise.
 

»Doppelt danke?«
 

»Naja. Danke fürs Gratulieren. Und danke für die Nachhilfe«, sage ich abwehrend und merke, wie mir heiß wird, weil ich mich zum Deppen gemacht habe.
 

»Kein Ding. Bio muss auch geklappt haben. Ich hab vorhin gehört, dass es keine Vieren und Fünfen in der Klausur gab. Also bist du da auch schon durch.«
 

»Oh. Cool. Danke«, sage ich noch mal und werde prompt rot im Gesicht. Scheiß helle Haut. Dann denke ich automatisch daran, dass Tamino trotz seiner braunen Haut auch manchmal rot wird.
 

Er lacht leise. Ich starre ihn an und könnte schwören, dass er gleich ein bisschen weniger müde aussieht. Tamino hat verflucht weiße Zähne.
 

»Ich glaube, ich schwänze Sport«, sage ich mit einem angestrengten Stöhnen und Tamino schnaubt. Dann zuckt er mit den Schultern. Zögert.
 

»Wir können ein Stück…«, beginnt er sehr leise, dann bricht er ab und sieht aus, als würde er sich am liebsten die Zunge abbeißen.
 

»Klar. Dann lass uns verschwinden, bevor Frau Heise mich im Vorbeischleichen erwischt«, gebe ich zurück und tue so, als wäre alles ganz normal. Tamino sieht sehr erleichtert darüber aus und ich hab das Gefühl, irgendwas richtig gemacht zu haben.
 

Als wir das Schulgebäude verlassen haben, atme ich auf. Am liebsten würde ich den Rest der Woche schlafen und nicht darüber nachdenken, was mit der beschissenen Französischklausur ist. Vielleicht habe ich noch die Möglichkeit, bei Herrn Rosenheim einzubrechen und Tamino ein paar Fehler korrigieren zu lassen, damit ich es auf sieben Punkte schaffe.
 

Wir gehen eine Weile schweigend nebeneinander her und ich versuche mich nicht allzu sehr in Französisch hineinzusteigern, was mir grandios misslingt. Also versuche ich es mit Reden, um mich abzulenken.
 

»Sorry für die besoffene Sprachnachricht«, blabbere ich drauf los. Tamino wirft mir einen amüsierten Blick zu.
 

»Kein Problem. Ich hatte das Gefühl, dass du vielleicht vom Knopf gerutscht bist?«
 

Ich hüstele peinlich berührt.
 

»Jap. Und ich musste zwischendurch kotzen«, gebe ich zu. Tamino schmunzelt.
 

»Dann hat es ja geklappt, die Klausur zu ertränken«, meint er. Ich nicke. Dann…
 

»Ich glaube, ich hab seit zwei Jahren nicht mehr von Alkohol gekotzt«, murmelt er. Ich blinzele.
 

»Du hast schon mal von Alkohol gekotzt?«, frage ich erstaunt. ‚Du trinkst Alkohol?‘ ist die Frage, die mir als nächstes auf der Zunge liegt, aber ich weiß nicht, ob es nicht vielleicht blöd ist, das zu fragen.
 

»Ziemlich oft«, gibt er zu und sieht verlegen aus.
 

»Oh«, sage ich und weiß nicht so richtig, wie ich diese Information in mein Tamino-Weltbild einarbeiten kann. Der Versuch scheitert.
 

»Mir war nicht klar, dass du ein Partyhengst bist«, sage ich breit grinsend und sehe gerade noch, wie er die Schultern hochzieht und die Hand zum Mund hebt. Er hat diese Angewohnheit, andauernd an seinen Fingernägeln oder der Haut drum herum zu knabbern. Ich hab jetzt schon vier Mal gesehen, wie es anfing zu bluten.
 

»Bin ich auch nicht so wirklich«, sagt er ausweichend und ich verfluche meinen blöden Kommentar und die Tatsache, dass wir an der Kreuzung angekommen sind, an der sich unsere Wege trennen. Taminos rechter Ringfinger hat angefangen zu bluten.
 

»Na dann… bis morgen«, sage ich und Tamino hebt die linke Hand zum Abschied, ehe er beide Hände in die Hosentaschen schiebt und dann rechts abbiegt. Ich sehe ihm einen Augenblick lang nach und frage mich, warum ich so mies in dieser Freundschaftsache bin, wenn ich mein Leben lang Freunde hatte.
 

Eine leise Stimme, die sehr nach Mari klingt, flüstert in meinem Hinterkopf: Weil Tamino anders ist, als deine anderen Freunde.
 

*
 

Der Dienstag vergeht in einem statischen Rauschen von Stress und Schiss davor, mein Abi nicht zu schaffen. Selbst wenn ich wie durch ein Wunder Französisch nicht unterpunkte, werde ich im nächsten Jahr mein komplettes Sozialleben auf Eis legen müssen, weil ich wie ein Bekloppter pauken muss. Und wenn meine Mutter darauf besteht, Tamino weiter für alles zu bezahlen, was er tut, dann sind wir wahrscheinlich bald pleite, weil ich für alles Hilfe brauche und nichts alleine geschissen kriege.
 

Warum bin ich damals nicht auf die Realschule gegangen?
 

Weil dein Vater ein Arschloch ist, der gesagt hat, dass du es auf dem Gymnasium eh nicht schaffen wirst, erinnert eine nüchterne Stimme in meinem Hinterkopf mich. Und weil deine Mutter ihn für dich rausgeworfen und gesagt hat, dass du das natürlich schaffst und er keine Ahnung hat, wozu ihr Sohn fähig ist.
 

Ugh.
 

Ich will zurück ins Bett.
 

Am Mittwochmorgen ist mir dermaßen schlecht, dass ich fast sicher bin, mich übergeben zu müssen. Ich habe nur drei Stunden geschlafen und frage mich zum wiederholten Male, wie Tamino durch seinen Tag kommt, wenn er selten gut und manchmal überhaupt nicht schläft. Ich frage mich, ob man das üben kann. Und dann frage ich mich, wie ich es meiner Mutter beibringen soll, wenn ich heute keine sieben Punkte zurückbekomme.
 

Ich erinnere mich an Taminos spaßhaften Vorschlag, Herrn Rosenheim mit seinen seltsamen Lesegewohnheiten zu erpressen und schaffe es mit diesem Gedanken bis zum Haupteingang. Ich bleibe wie ein Vollidiot dort stehen und starre die Türen an, als würden sie sich gleich auf mich stürzen und mich aufessen.
 

»Hey«, ertönt eine leise Stimme neben mir. Ich drehe den Kopf und sehe Tamino neben mir stehen.
 

»Hey«, krächze ich. Wir haben Französisch direkt in der ersten Stunde. Warum habe ich nicht schon vorher angefangen, mir für die Schule Mühe zu geben? Ich erinnere mich an das begeisterte Strahlen meiner Mutter, als ich ihr die zehn Punkte in Deutsch gezeigt habe. Der Drang, direkt vor der Schule auf den Rasen zu kotzen ist ziemlich überwältigend.
 

»Schlimm?«, fragt Tamino und ich erkundige mich nicht mal danach, was er meint. Ich weiß, was er meint. Und nicke.
 

»Einatmen«, meint er. Er steht direkt neben mir. Ich atme ein.
 

»Ausatmen.«
 

Ich atme aus. Einen Moment lang herrscht Stille.
 

»Heghlu’meH QaQ jajvam«, sagt er. Es klingt sehr merkwürdig und ich blinzele verwirrt.
 

»Das ist Klingonisch. ‚Heute ist ein guter Tag zum Sterben‘«, informiert Tamino mich. Ich erinnere mich daran, wie er auf keinen Fall Klingonisch vor mir sprechen wollte. Wenn ich Französisch gegen eine Klingonisch-Stunde bei Tamino eintauschen könnte, würde ich es sofort tun. Die Übersetzung entringt mir ein verzweifeltes Schnauben, das auch ein Lachen sein könnte.
 

»Ich fühle mich den Klingonen sehr verbunden«, sage ich trocken. Tamino lächelt ein kleines bisschen, dann zupft eine Hand sehr zaghaft an meinem Ärmel und mir wird klar, dass das Tamino war, als er sich langsam in Bewegung setzt. Ich folge ihm und wir schieben uns gemeinsam durch die Schülermengen hin zum Klassenzimmer.
 

Es ist mir egal, was alle anderen sagen und es ist mir auch egal, ob Herr Rosenheim das in Ordnung findet – ich setze mich auf den Platz neben Tamino und ignoriere Feli, die sonst auf diesem Platz sitzt und sich bei mir beschwert, weil ich ihren Stuhl geklaut habe. Tamino sieht erstaunt aus, sagt aber nichts und packt ruhig und bedächtig seine Sachen aus.
 

Vielleicht gibt Herr Rosenheim mir aus Mitleid sieben Punkte, wenn ich jetzt auf den Tisch kotze?
 

Als er hereinkommt und die Klausuren aus einer Mappe fischt, habe ich meine Hände in meinen Hosentaschen zu Fäusten geballt. Warum habe ich Französisch nicht abgewählt. Warum habe ich nicht Geschichte und Politik LK gewählt. Warum bin ich so dämlich?
 

Herr Rosenheim wechselt wie immer ein paar Worte mit Tamino und ich konzentriere mich auf Taminos Stimme, die es irgendwie schafft, dass Französisch nicht so schlimm klingt wie sonst. Dann fängt Herr Rosenheim an die Klausuren auszuteilen. Ich kaue so heftig auf meiner Unterlippe herum, dass es mich nicht wundern würde, wenn sie anfängt zu bluten.
 

Die große rote fünfzehn auf Taminos Klausur lässt mich schlucken. Vielleicht können wir auch einfach nicht befreundet sein, weil Tamino ein Genie ist und ich den IQ eines Regenwurms habe.
 

Meine Klausur landet vor mir auf der Tischplatte. Die Note steht oben rechts in der Ecke und ich schließe die Augen, als ich die höhnischen Rundungen der Zahl sechs entdecke.
 

Ein Punkt.
 

Es ist ein Punkt zu wenig.
 

Zwei Punkte mehr als sonst, aber immer noch zu wenig.
 

Ich muss Tamino nicht ansehen, um zu wissen, dass er die Note auf meiner Klausur gelesen hat. Ein Rascheln lässt mich die Augen öffnen und ich sehe, wie Tamino meine Klausur aufgeschlagen hat. Herr Rosenheim fängt an, irgendetwas auf Französisch zu reden, aber ich höre ihm nicht zu. Taminos Stirn ist leicht gerunzelt, mit den Fingern der linken Hand friemelt er an seiner Unterlippe herum und ich beobachte, wie seine Augen sich bewegen, während er meinen Text liest und sich wahrscheinlich darüber aufregt, wie ich seine zweite Muttersprache abgeschlachtet habe.
 

Er ignoriert Herrn Rosenheims Versuche, mit ihm zu sprechen und blättert langsam um. Ich könnte schwören, dass sich seine Augen in jedes bisschen rote Tinte brennen, als könnte er sie ein paar der Fehler ausmerzen, die ich gemacht habe. Dann hebt er den Kopf, wirft mir einen Blick zu und atmet einmal tief ein. Ich blinzele verwirrt, als ich sehe, wie Tamino die Hand in die Luft streckt. Man kann deutlich sehen, dass seine Finger zittern und ich frage mich, was um alles in der Welt er vorhat, als Herr Rosenheim ihn aufruft und Tamino meine Klausur hebt.
 

Mein Gehirn hat Französisch offenbar komplett abgeschaltet, denn ich verstehe nicht, was Tamino sagt, ehe er aufsteht und zu Herrn Rosenheim ans Pult tritt. Ich könnte schwören, dass er so schnell redet, dass selbst Herr Rosenheim Schwierigkeiten hat, ihn zu verstehen. Tamino kniet sich neben das Pult und deutete auf verschiedene Stellen in meinem gekrakelten Text.
 

Herr Rosenheim sieht aus, als wäre er gleichermaßen genervt und verlegen, während Tamino auf Französisch auf ihn einredet, als würde sein Leben davon abhängen. Oder, naja. Mein Abitur.
 

Dann zückt er einen Rotstift und fängt an, in der Klausur herum zu malen.
 

Ich halte die Luft an.
 

Tamino scheint noch nicht fertig zu sein, denn er ist immer noch am Sprechen, während Herr Rosenheim auf drei Seiten Änderungen vorgenommen hat. Ich habe meinen Französischlehrer noch nie so rot im Gesicht gesehen und ich frage mich, ob Tamino gerade seinen guten Stand bei ihm in die Tonne tritt.
 

Heilige Scheiße.
 

Als Tamino sich wieder aufrichtet, streckt er die Hand nach der Klausur aus, als wäre es kein großes Ding, dass er unseren Lehrer offensichtlich geröstet hat. Mein Magen zieht sich mit etwas zusammen, das nichts mit Übelkeit zu tun hat. Herr Rosenheim händigt Tamino die Klausur aus, dann geht er an die Tafel und fängt an, den Notenschnitt anzuschreiben.
 

Tamino kommt zurück, legt die Klausur behutsam vor mir auf den Tisch und ich schaue darauf.
 

Aus der sechs ist eine krumpelige acht geworden.



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Kommentare zu diesem Kapitel (14)
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Von: abgemeldet
2018-05-30T13:39:28+00:00 30.05.2018 15:39
Boah, dieses Kapitel hat mir irgendwie die Nerven aufgerieben mit den ganzen Noten... Und dann vor allem die Korrektur am Ende. Tamino hat's halt drauf! Echt krass, wie er sich für Julius einsetzt - am Ende kriegen die Beiden ihn noch durchs Abi ;)
Von: abgemeldet
2017-10-25T08:04:55+00:00 25.10.2017 10:04
Ich bin einfach so hart gehyped wenn ein neues Kapitel kommt! Juls is einfach mein Spiritanimal *lach*. Er klingt einfach wie als wäre er mein verloren gegangener Bruder xD.

Aber mal ehrlich, wie süß ist Tamino bitte? Ich kann mir so gut vorstellen, wie er sich innerlich gefühlt hat ToT

Ich les mir die neuen Kapitel ja immer vorm Schlafen durch, einfach weil man sich dann so fluffig warm fühlt und echt gut schlafen kann *0* ♡

Antwort von:  Ur
25.10.2017 10:06
Ich freu mich, dass meine Kapitel dich so flauschig machen, dass du gut schlafen kannst :D Nicht, dass sie dich so hypen, dass du dann gar nicht mehr schlafen kannst xD Danke fürs Feedback <3
Antwort von: abgemeldet
25.10.2017 10:15
Never xD. Mit meinem Meeresrauschsound im HG is das gar kein Problem ♡
Wenn es doch irgendwann so weit ist, dann wärs auch nicht schlimm, wenns die beiden sind. XDD
Is fast wie mit meinen eigenen Charakteren. Die muss man einfach lieb haben! XD
Antwort von:  Ur
25.10.2017 10:17
Dann ist es ja gut :D Sonst würde ich mich sehr schuldig fühlen ;)
Von:  brandzess
2017-10-22T18:12:49+00:00 22.10.2017 20:12
Yes, Tamino! So genial. Ich freu mir gerade ein Loch in den Bauch, wegen Juls acht Punkten. Das ist so toll.
Irgendwann gibt's zwischen den Beiden mal dirty talk auf französische xD Das musste ich auch die ganze Zeit denken. Jedes mal wenn Juls gesagt hat das die Sprache bei Tamino nicht so schrecklich und beängstigend ist wie sonst.
Antwort von:  Ur
22.10.2017 20:14
Wer weiß, was Juls da noch für Vorlieben entdeckt :'D Aber daran musste ich tatsächlich auch schon denken ;)
Von:  Talercode
2017-10-22T10:58:53+00:00 22.10.2017 12:58
Oh mein Gott, Tamino du bist ein Held ! Wahnsinn....klasse, da bekommt man Gänsehaut <3 super Aktion von ihm ,dass er da auch so seine Ängste überwunden hat....
Und Julius Mensch, schnallst du nicht, dass du dich ein wenig in Tamino verknallt hast xD
Antwort von:  Ur
22.10.2017 13:18
Ohh, Gänsehaut! Was für ein gutes Kompliment :D Danke für den lieben Kommentar ^-^ Und die Antwort auf deine Frage lautet natürlich: Nope, Julius weiß von nichts :P
Von:  Ka-Sei
2017-10-20T22:45:59+00:00 21.10.2017 00:45
Super-Tamino :D
Hoffentlich wird das keine bösen Konsequenzen für den 'kleinen' Tamino geben O_O
Antwort von:  Ur
21.10.2017 09:00
Ja, Tamino ist ein undercover Superheld :D Danke für den Kommentar :)
Von:  Riccaa
2017-10-20T19:02:19+00:00 20.10.2017 21:02
Oh mein Gott das hat er nicht getan oder?????!!!!!! Oh mein Gott wie ich Tamino einfach nur liebe, wirklich <3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3

Aber hey erstmal,
das Kapitel ist einfach nur wundervoll geworden. Ich bin gerade ein wenig sprachlos muss ich sagen.
Alsoooooo...... Echt süß, dass Julius Tamino die ganze Zeit beobachtet und sich Sorgen macht. Ich shippe sie mitlerweile bis zum geht nicht mehr <3 Und das ständige Kribbeln was er verspürt. Haccchhhhhhh jaaaaaa...... Julius liebe ich auch <3<3
Schön, dass Tamino langsam etwas wärmer mit Julius wird und mit ihm so reden kann. Nicht wie am Anfang. Die Seite an Tamino die man heute gesehen hat, hat mich etwas schockiert. Tamino und Trinken bis zum Kotzen? Das hätte ich ehrlich gesagt nicht gedacht. Aber wer weiß? Vielleicht bekommen wir diese Seite ja noch zu sehen ^^
Der Vater von Julius bekommt ja auch nicht gerade den Preis für den fürsorglichsten Vater der Welt. Genau so beschissen wie der von Tamino. Obwohl, ich glaube selbst der von Tamino ist etwas besser. Was für ein Arsch. Also Julius' Vater.
Da macht er doch tatsächlich seinen eigenen Lehrer zur Sau :DDDDD Finde ich gut ;) Hat er aber auch verdient, wenn er so unfähig ist und ihm zwei Punkte zu wenig gibt. Belehrt er seinen eigenen Lehrer, ohne Witz :)) Ja, das bringt ganz endeutig noch mehr Sympathiepunkte ein, als er sowieso schon hat, egal. Extra für Julius damit er dich noch auf die bessere Punktzahl kommt. Wie toll ist das denn einfach bitte????? <3<3<3<3<3 Und Julius bekommt schon wieder Magenkribbeln!!! Da bahnt sich wirklich was an zwischen ihnen, hoffe ich doch!!!! Oh man habe gerade echt Herzklopfen.

Ich liebe diese Geschichte mitlerweile echt abgöttig!!! <3<3<3 Du schreibst echt toll und von meinem Lieblingsnerd und meinem Lieblingskapitän bekomme ich ohne hin nicht genug. <3<3

Super schönes Kapitel!! Ersehne mich schon nach dem nächsten Kapitel. Mach unbedingt weiter so!!!! <3<3<3<3
Antwort von:  Ur
21.10.2017 08:22
Awww, vielen Dank für den flauschigen Kommentar :D Ich freu mich sehr, dass dir die Geschichte auch weiterhin so gut gefällt und hoffe natürlich, dass es dabei bleibt ^-^
Von: Karma
2017-10-20T18:35:45+00:00 20.10.2017 20:35
Tamino ist mein Held!
*___*
Ich meine, das war er ja vorher schon, aber die Aktion mit der Klausur war einfach nur herrlich!
:)
Jetzt fühl ich mich ganz warm und flauschig.
XD

Wobei ich gestehen muss, dass ich an anderer Stelle bereits gequiekt habe. Und zwar hier:

Ich brauche dringend einen Eimer kaltes Wasser. Mein Gehirn hat einen Hitzeschlag bekommen.

Juls ist sooo unglaublich niedlich, ich fall bald einfach nur noch mit Zuckerschock um. Die Zwei sind ja so süß.
<3
Oh, und dass Juls jetzt neben Tamino sitzt in Französisch, find ich richtig knuffig.
^^°
Sorry für die vielen Verniedlichungen, aber bei dem da
*aufs Kapitel deut*
kannst du von mir nichts anderes erwarten.
;)
Antwort von:  Ur
20.10.2017 20:40
Ich verstehe das, ich hab auch regelmäßig Herzinfarkte, weil sie so schmausig sind :'D Ich freu mich, dass es dir gefallen hat und dass du dich flauschig fühlst ^-^
Von:  Yamasha
2017-10-20T14:20:20+00:00 20.10.2017 16:20
*kreisch* OMG!!! wie geil ist das denn?!? Juls Abi ist gerettet, Tamino ist über seinen eigenen Schatten gesprungen um ihm zu helfen und... Es ist einfach nur toll!!! Ich hab nen Zuckerschock! (was mir hilft meinen chronischen Süßigkeitenmangel auszugleichen) und gleichzeitig Angst vor Diabetes weil die beiden mir einfach viel zu häufig einen Zuckerschock verpassen...
Antwort von:  Ur
20.10.2017 19:49
Bitte stirb nicht an einem Zuckerschock :O Aber ich freu mich natürlich, dass dir das Kapitel gefallen hat :D Ich hoffe, dass das auch weiterhin so bleiben wird ^-^
Von:  helenar
2017-10-20T09:23:04+00:00 20.10.2017 11:23
Hey,
ich habe immer noch Herzklopfen, dabei habe ich das Kapitel nun schon zum zweiten Mal gelesen!
Beim letzten Kapitel habe ich mich ja insgeheim etwas geärgert, dass es aus Julius Sicht geschrieben war, weil ich unbedingt wissen wollte wie Tamino auf Julius: "Mari meint, dass Cem und du meine einzigen anständingen Freunde seid" aus dem Kapitel davor und dann natürlich auf Julius verunglückte Sprachnachricht reagiert und was er darüber denkt, aber jetzt denke ich, dass sich Tamino die Nächte um die Ohren schlägt mit dem Gedanken, wie er mit Julius Freundschaft schließen kann.
Es ist also nicht verkehrt den Lesern nicht immer zu geben was sie erwarten, dann müssen sie sich nämlich ihre eigenen Gedanken machen ;-)
Mich hat die Sache mit Julius Vater echt mitgenommen. Da scheinen die beiden Jungs am Anfang so unterschiedlich und haben doch mehr gemeinsam als sie selbst glauben. Ihre Herangehensweise und ihre Weltsicht sind nur sehr unterschiedlich, aber ich glaube sie können viel von einander lernen und tun es bereits.
Wer oder was auch immer dafür verantwortlich ist, dass du soviel Zeit und Muse für diese Geschichte hast, sag bitte dankeschön, ich freue mich über jedes neue Kapitel von dir.

Antwort von:  Ur
20.10.2017 19:48
Vielen Dank für den lieben Kommentar ^-^ Ich bin sehr stolz, dass ich dir mit meinem Geschreibsel Herzklopfen machen konnte! Wir werden wieder zu Taminos Sicht zurückkommen, aber ein wenig Zeit hat Julius noch ;) Ich freu mich sehr, dass dir die Geschichte gefällt <3
Von:  MaiRaike
2017-10-20T08:53:15+00:00 20.10.2017 10:53
Oh, wie find ich das toll.

Ich hab mich in der Schule immer tiertisch geärgert, dass die die sich getraut haben zu meckern häufig einen Punkt mehr bekommen haben, obwohl ihre Arbeit nicht besser, sondern eher schlechter war als meine. Wo ist Taminos Angststörung, wenn er sich für andere einsetzt? Ich bin stolz auf ihn!

Ich lese sehr gerne aus Julius sicht!

Bis zum nächsten!
Antwort von:  Ur
20.10.2017 19:46
Tamino hat dieses loophole eingebaut, die seine Angststörung aushebelt, wenn es darum geht, anderen Leuten zu helfen :D Amazing how that works, es klappt bei mir und drei meiner Freundinnen auch xDD Ich freu mich, dass dir Julius' Sicht gefällt! Danke fürs Feedback <3


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