Last verse of dawn von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 15: 15 -------------- Unser Schweigen endet, bevor es noch unangenehmer werden könnte, denn Marie macht uns ausfindig. Nachdem Komui die Fakten erreichten, möchte er mit uns sprechen und es kommt mir gelegen, der Situation nicht weiter ausgeliefert zu sein. Nass, dreckig, müde und mit zerstiebenden Gedanken patsche ich durch all den Schlamm und zu Lavi, der neben dem angekoppelten Golem wartet. Auch er gibt sich mit der Bequemlichkeit des Gesteins zufrieden und macht mir etwas Platz, als ich mich zu ihm geselle. „Wir sind da“, melde ich mich, bewusst den Blick zu Kanda meidend und generell alles, das meine Konzentration aus der Gegenwart saugen könnte. Das erste, was sich in der Leitung erhebt, ist ein Ächzen. „Ich bin froh, dass ihr wohlauf seid“, ertönt dann Komuis Stimme und wie passend ist ihre Nüchternheit, auch treffend, wenn man unsere Lage bedenkt. „Im Augenblick sind wir leider gezwungen, uns den neuen Umständen anzupassen. Wir dürfen keine Risiken eingehen, solange die Pläne des Grafen im Dunkeln liegen. Vorerst wird keiner von euch alleine unterwegs sein. Jede Mission, und sei sie noch so simpel, wird zu zweit durchgeführt und im Beisein von mindestens zwei Findern.“ Kaum hörbar und im Hintergrund rascheln Unterlagen und bildlich habe ich vor Augen, wie Komui auf seinem überladenen Tisch nach etwas sucht. Er klingt müde nach all den Stunden, die er in seiner Distanz mit Bangen, Hoffen und jeder möglichen Organisation zubrachte. „Die Überreste des Jägers werden in spätestens zwei Tagen hier sein und die Untersuchungen höchste Priorität haben“, fährt er fort. „Ich werde euch über alles informieren, das euch eine Hilfe sein könnte. Bis dahin passt bitte auf euch auf. Auch wenn die Lage kompliziert ist, wir dürfen uns nicht stoppen lassen und sollten unsere Arbeit fortsetzen so gut es uns möglich ist.“ Neben mir verschränkt Lavi die Arme vor der Brust. Ich glaube, ein angedeutetes Nicken zu erkennen aber als ich zu ihm spähe, blickt er nur zu Boden. „Wie geht es jetzt weiter?“, seufzt Komui, als würde er sich die Frage selbst stellen. „Lavi, du warst auf dem Weg Nachhause. Marie musste seine Mission unterbrechen. Würdest du ihn begleiten und seine Mission wiederaufnehmen?“ „Klar“, erhält er sofort zur Antwort und unbewusst richte ich mich um ein Stück auf. „Allen“, wendet sich Komui da an mich. „Ich hörte, du bist verletzt und Kanda ist schon seit einer Weile unterwegs. Ihr beiden kommt besser erst einmal zurück und sammelt neue Kräfte.“ Etwas nähert sich. Meine Sinne melden sich, als hätten sie eine greifbare Gefahr gewittert und kaum suchen meine Augen nach Kanda, da meldet er sich zu Wort und bestätigt jede Befürchtung. „Ich muss keine Kräfte sammeln“, sagt er, während ich mich resigniert abwende. „Gib mir eine Mission. Ich ziehe weiter.“ Es ist so erbärmlich, dass ich Kanda nur problemlos einzuschätzen weiß, wenn es sich um Situationen handelt, die sich gegen mich richten. Ich presse die Lippen aufeinander, bin kurz davor, Komuis Zögern zu nutzen, aber bleibe letztendlich still. Natürlich könnte auch ich darauf beharren, mich gut genug zu fühlen, um ebenso weiterzumachen. ‚Weiterzumachen‘ im Sinne von ‚Kanda zu begleiten‘ aber ich weiß, dass er meine Verletzung zum Grund machen wird, es abzulehnen. Es wäre nicht das erste Mal. Unscheinbar bewege ich die Hände, balle sie kurz zu Fäusten und suche anschließend nach Entspannung. Es ist wie es ist, sage ich mir. Und nichts kann ich daran ändern. Er entzieht sich mir, geht einen Weg, auf dem ich ihm nicht folgen kann. Es passt ihm wahrscheinlich gut, nach unserem Gespräch. „Bist du sicher?“, höre ich Komui fragen und natürlich ist Kanda das. Wieder rauscht ein Seufzen in der Leitung. „Es tut mir leid, aber ich kann dich wirklich nicht alleine gehen lassen und derzeit ist niemand in der Nähe, der dich begleiten könnte.“ „Meine Verletzung ist nicht so schlimm, dass ich zurückkommen muss“, ergreife ich das Wort. „Es reicht, wenn ich kurz in einem Krankenhaus vorbeischaue. Ich bin einsatzbereit.“ „Mm.“ Komui scheint nachzudenken. Wieder rascheln Unterlagen. Neben mir ist Lavi damit beschäftigt, sich Schlamm aus den Haaren zu ziehen. „Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte“, meldet sich plötzlich Marie. „Meine Mission war überschaubar. Vermutlich wird es nicht einmal zu Kämpfen kommen. Allen und Lavi könnten sie übernehmen und ich begleite Kanda.“ Es ist nicht die perfekte Lösung aber alles, was ich gerade erwarten kann. Natürlich hat Kanda kein Problem mit diesem Vorschlag. Auch Lavi ist zufrieden und ich murmle etwas, das sich zumindest danach anhört. Im Grunde tat Marie nichts anderes, als nachzugeben, da er mit den Umständen zumindest etwas vertraut ist. Also verhindern wir das Abdriften in tiefere Stimmungsgefilde und letztendlich, schätze ich, hat es auch etwas Gutes, vorerst Abstand zu gewinnen. Ich höre kaum zu, während Komui Kanda mit einer Mission vertraut macht. Nur eines fange ich auf: Kanda und Marie zieht es nach Island. Wenn das mal kein Abstand ist. Nachdem die Verbindung erlischt, bleibt Kanda sich treu. Der Aufbruch lässt nicht lange auf sich warten und aufmerksam habe ich dafür zu sorgen, Marie in einem unbemerkten Moment zur Seite zu nehmen. Kanda wechselt wenige Worte mit einem der zugeteilten Finder und Lavi kämpft immer noch mit dem Schlamm, also bleiben wir unter uns. Das erste, was ich ihm biete, ist ein ehrliches, frustriertes Ächzen, das er mit einem Schmunzeln beantwortet, als wüsste er längst, in welche Richtung wir uns hier bewegen. „Ich begreife es nicht“, flüstere ich ihm anschließend zu. „Wie soll man so einen sturen Idioten schützen? Verrate es mir.“ „Darauf weiß ich auch keine Antwort.“ Die Hände im Nacken, spähe ich an ihm vorbei, längst wieder auf der Suche nach der heiligen Lösung für alles. „Alle Menschen in Bingen sind tot, Marie. Unser Handeln hat dazu geführt und natürlich hat er davon erfahren.“ Und auch das war im Grunde zu erwarten, doch ich ließ mich so von meinen Sorgen benebeln, dass ich der Gegenwart wohl zu wenig Beachtung schenkte. Die Herausforderung, vor die er mich stellt, scheint vorauszusetzen, gleichzeitig in alle Richtungen zu schauen. Ich bin müde, voller Schlamm und genervt und kurz lauscht Marie nur meinen Flüchen, bevor seine Hand meine Schulter erreicht. „Das hättest du nicht verhindern können“, sagt er. „Mach dir nicht zu viele Sorgen und vergiss nicht, auf dich selbst zu achten. Wir müssen vorsichtig sein in diesen Zeiten, also konzentrier dich auf das, was in deiner Macht liegt.“ Er sendet mir ein Lächeln und ich weiß es würdigen, auch wenn es für mich nicht mehr bedeutet, als dass ich es zumindest versucht habe. Man kann nicht jeden Kampf gewinnen, das wissen wir am besten aber ein wirklicher Sieg ist bis jetzt ebenso wenig zu verbuchen. Kurz darauf verabschieden wir uns voneinander. Kanda will aufbrechen, Marie richtet sich wie gewöhnlich nach ihm und lange sehe ich ihnen nach, als sie sich über die Ebene entfernen. Ich hätte es nicht verhindern können. Lavi sagte dasselbe. Herausfinden würde er es so oder so. Die Herausforderung wäre eine andere und natürlich hatte er Recht. Er aus seiner Distanz sah die Dinge wohl klarer. Als es Lavi und mich in die entgegengesetzte Richtung zieht, versuche ich nicht allzu schweigsam zu sein, dabei ist die Wolke über mir dicht und finster und letztendlich wird er ohnehin längst wissen, dass etwas in mir wuchert. Während ich mir eine unglaubwürdige Maske aufsetze, scheint er nur zu warten, bis ich ihn einweihe aber noch kann ich es nicht aussprechen, nicht ordnen, was als Chaos meinen Kopf beherrscht. Wir sind nicht lange unterwegs, bis wir eine Haltestelle erreichen und haben auch nicht lange zu warten, bis sich ratternd und qualmend ein Zug nähert und uns in die nächste Stadt bringt. Wir haben es nicht eilig, genug Zeit für eine Dusche, eine Mahlzeit und die Reinigung unserer Uniformen. Der Schlamm trocknet und bröckelt, während unsere Mägen knurren und als ich durch das Fenster des Abteils die hohen Gebäude der nächsten Zivilisation näherkommen sehe, bin ich beinahe erleichtert, mit Lavi unterwegs zu sein. Wenn er keinen Grund hat, sich zu beeilen, dann sucht er auch nicht nach einem. Vermutlich werden die nächsten Tage ruhig. Ruhig genug, um mich ordentlich in meinen Gedanken schmoren zu lassen. Nachdem das Quietschen der Bremsen ertönte, treten wir hinaus auf den Bahnsteig in ziehen durch den weißen Rauch, der, von den Kurbeln ausgestoßen, über den steinernen Boden kriecht. Wie im Zug erreichen uns auch hier Blicke. Menschen halten inne, bis sie uns unter all dem Schlamm als menschliche Wesen erkennen. Auch ausweichen tun sie gern. Ein weiteres Mal fahre ich mit den Händen über die Uniform und wische Dreck zu Boden. Von außen sehen wir nicht mehr ganz so katastrophal aus, denn der meiste Schlamm lässt sich nicht sehen, dafür jedoch umso besser spüren. Ich spüre ihn auf meiner Haut, winde mich in der unangenehmen Hülle und folge Lavi planlos durch die Menschenmengen. Er scheint ein Ziel vor Augen zu haben, während ich mit mir selbst beschäftigt bin und dass er abrupt stehenbleibt, bemerke ich erst, als ich gegen ihn stoße. Er späht in die Masse aus Menschen, die sich vor uns bewegt und nur kurz habe ich seinem Blick zu folgen, bis ich im Treiben jemanden erspähe. Stockend löse ich die Hände von meiner Uniform und schöpfe unbewusst tiefen Atem. Es ist ein unerwarteter Anblick, ein unerwartetes Aufeinandertreffen aber irgendetwas in mir scheint sich sofort zu entspannen. Ich richte mich auf, spüre ein Lächeln auf meinen Lippen. „Die Welt ist klein“, seufzt Lavi neben mir und sofort ziehe ich an ihm vorbei. „Lass uns fragen, ob er Zeit hat.“ Seufzend lehnt sich Tiedoll zurück. Der Tee scheint zu schmecken und auch sonst macht er den Eindruck, sich wohlzufühlen in der Ecke des Gasthauses, in der wir es uns gemütlich gemacht haben. Die Freude war groß und ich es ist immer noch und auch wenn Tiedoll keine Zeit hätte, er nimmt sie sich. Es ist lange her, dass wir uns zu Gesicht bekamen und unweigerlich erinnere ich mich an diesen Zeitpunkt. Mittlerweile ist es mehr als ein Jahr her, dass wir uns in China trafen und inmitten meines seelischen Umbruchs. Kanda und ich betraten das Land von Japan aus. Wir hatten damals nicht viele Worte füreinander übrig, doch meine Sinne für ihn waren längst erwacht und das Gespräch, das mich nachts in jenem Wirtshaus erreichte, verkomplizierte die Dinge zusätzlich. Ich hörte Kandas Stimme, hörte Ehrlichkeit und Ausdrücke, die so gar nicht zu ihm zu passen schienen. ‚Bleib auf dem Weg‘, schienen sie mir zu sagen, auch wenn dieser aus nicht mehr bestand als selbstsüchtigem Drang. Ich fiel schon damals und verfiel kurz darauf komplett. Das Band zwischen Kanda und seinem Meister war heilig und faszinierend und im Nachhinein wunderte ich mich wenig, denn Marshall Tiedoll gehört wohl zu den Menschen, denen man leichtfertig Vertrauen schenkt und sicher nicht enttäuscht wird. Seine Gegenwart ist angenehm, alles an unseren gemeinsamen Momenten, die wir endlich in sauberer Kleidung genießen, während unsere Uniformen gereinigt werden. Kein Schlamm mehr in den Haaren, kein Geruch nach Dreck und Morast. Selbst den Mägen geht es besser und die letzte Last bröckelt von mir, als ich die Beine unter den Tisch strecke und mich anlehne. Es ist ruhig um uns herum. Das Haus ist nicht sonderlich gut besucht und so bleibt uns jede Gelegenheit für Gespräche. Nachdem der gröbste Hunger gestillt war, begannen die Worte zu fließen und selbstverständlich wurde Tiedoll in erster Linie auf den neuesten Stand gebracht. Wir erzählen, wie es uns geht, wie wir Chaoji erleben, informieren ihn über wichtiges sowie belangloses aus dem Hauptquartier und sehen ihn staunen, hören ihn lachen und nachfragen. Wie immer ist er interessiert an der Welt, an der er mitunter nur aus großer Distanz Teil hat. Dass er im Hauptquartier war, liegt lange zurück. Seit Monaten traf er nur auf Finder, also brauchte es wenig Überzeugungsarbeit, um ihn kurz innehalten zu lassen. Zu Beginn sind die Gespräche wirklich leicht und heiter, als würden wir die Gelegenheit nutzen, uns kurz abzuwenden vom Ernst unserer derzeitigen Lage. Das Auftauchen des Jägers liegt noch nicht lange zurück und seitdem waren wir alle in Bewegung, weshalb Tiedoll unter jenen ist, die noch nichts von ihm erfuhren. Während wir ihm auch davon berichten, lehnt er sich uns Stück für Stück entgegen, konzentriert und offenbar längst eigene Gedankengänge verfolgend. Wir erzählen von dem ersten Kontakt und seinen Folgen, der Art des Jägers und seinen vermeintlichen Absichten. Er stellte wirklich eine Bedrohung dar und ich zweifle daran, ob die Tatsache, uns dessen nun bewusst zu sein, etwas daran verändern wird. Als es nach endlosen Worten vorübergehend still an unserem Tisch wird, sinkt Tiedoll stockend zurück gegen die Lehne. Seine Augen durchdriften ziellos das Umfeld, während er sich den Bart kratzt. „Mm“, macht er vorerst nur, als wären seine Gedankengänge noch nicht abgeschlossen und er braucht seine Momente, bevor eine knappe Regung durch sein Gesicht zieht. „Das gefällt mir nicht“, murmelt er letztendlich und schüttelt andeutungsweise den Kopf. „Ganz und gar nicht.“ „Worüber ich schon länger nachdenke, ist der Fall in Bangkok“, melde ich mich zu Wort und spähe zu Lavi. „Auch dort wurden zwei unserer Kameraden entführt, lebendig, um Versuche an ihnen vorzunehmen. Was ist, wenn auch damals schon ein Jäger beteiligt war? Die genauen Umstände der Entführungen sind bis heute nicht komplett geklärt.“ Ein Gebäck zwischen den Fingern bewegend, antwortet Lavi vorerst nicht. Tiedoll mustert mich über den Tisch hinweg. „Genügen die Akuma dem Grafen nicht mehr als Waffe?“, fahre ich fort. „Sucht er nach neuen Mitteln, um gegen uns vorzugehen?“ „Wovon ich fast überzeugt bin, ist, dass es sich nicht um Informationsbeschaffung handelt“, murmelt Lavi. „In diesem Fall wären Finder die leichtere Beute. Sie sind nicht in dem Grad eingeweiht wie wir aber hätten sicher einiges zu erzählen, wenn man den Hebel richtig ansetzt.“ Auch wenn ich sofortigen Widerstand in mir spüre, versuche ich mich an jene Laboratorien Bangkok zu erinnern. An jene Räume, in denen unsere Kameraden ihr Leben ließen. Neben kalten Behandlungsliegen gab es zahllose Geräte und Maschinen und nicht zuletzt erinnere ich mich auch an eine alte Tafel, die an der Wand angebracht war. Sie offenbarte eilige Notizen und zeugte davon, dass die Exorzisten dort nicht nur einmal starben. Die medizinische Ausstattung legte nahe, dass sie mehrfach wiederbelebt wurden, bevor ihre Körper kapitulierten. Man wollte sie am Leben erhalten, unter allen Umständen Zeit und Raum schaffen, um ein Ziel zu erreichen, das wir nicht klar sehen. „Und ihr sagt, der Jäger ist bisher nur einmal wirklich in Erscheinung getreten?“, erkundigt sich Tiedoll. „Kanda und ich wurden zuerst angegriffen“, antworte ich. „Nachdem wir entkommen sind, blieb er in der Nähe, um es erneut zu versuchen.“ „Und als Lavi und Marie dabei waren, wirkten die Angriffe des Jägers wahllos?“, möchte Tiedoll weiter wissen, doch darauf fällt die Antwort nicht leicht. Nachdenklich versenkt Lavi das Gebäck im Mund, während sich Tiedoll Tee nachschenkt. Bei dem ersten Hinterhalt, erinnere ich mich, setzte der Jäger zuerst mich außer Gefecht, um anschließend Kanda anzugreifen. Auf ihn fixierte er sich auch bei unserem zweiten Aufeinandertreffen. „Vielleicht geht der Jäger nicht überlegt vor“, sagt Lavi dazu. „Aber auch wenn er nur instinktiv agieren würde, würde er den leichtesten Weg wählen. Marie war auf dem Tagebau nicht leicht auszumachen und Allen war in meiner Nähe. Nur Yu bewegte sich etwas außerhalb, was sicher ziemlich einladend war.“ „Natürlich kann man nach zwei Angriffen keine Vermutungen aufstellen“, erwidert Tiedoll. „Aber gerade bei einem unbekannten Widersacher muss man auf alles achten, selbst wenn es irrelevant wirkt.“ „Bleibt abzuwarten, was Komui bei der Untersuchung herausfindet.“ Lavi wischt sich die letzten Krümel von den Händen. „Zuviel in das hineinzuinterpretieren, was wir bisher wissen, ist gefährlich. Wir brauchen mehr, damit aus Vermutungen Tatsachen werden, sonst könnten wir uns verrennen. Ist eine miese Lage, wie wir es auch drehen und wenden.“ „Es beruhigt mich, dass Komui euch vorerst nicht alleine ziehen lässt.“ Von Lavi blickt Tiedoll zu mir und deutet ein Lächeln an. „Ich schätze, das ist bisher die beste Maßnahme, die zu eurer Sicherheit getroffen werden kann.“ Das geringste Übel, denke ich mir. Wir neigen nicht dazu, uns zu verstecken oder defensiv zu agieren, wenn wir einer Bedrohung gegenüberstehen. Meistens tun wir, was nötig ist, doch wie gegen einen Feind vorgehen, der mit bloßem Auge nicht sichtbar ist? Es fühlt sich tatsächlich an, als würden wir warten und uns im Ernstfall lediglich verteidigen. Tatsächlich eine miese Lage, milde ausgedrückt. Mir passt nichts an der Situation aber damit bin ich in der Runde nicht alleine. „Wir haben schon anderes überstanden“, fasst Tiedoll es zusammen und wendet sich wieder seinem Tee zu. „Seit langem stehen wir bekannten Feinden gegenüber. Wenn sie uns das Leben auch schwer machen, wir können sie einschätzen. Ein solcher Fall macht uns wach und sobald wir die Hintergründe begreifen, werden wir auch dieser Bedrohung gewachsen sein.“ Ich schätze, damit hat er Recht und wir nicken und ich hoffe, die Thematik ist damit beendet, denn sie gehört zu jenen, die die Stimmung senken und zu nichts führen, so sehr man auch diskutiert. Es erleichtert mich, dass sich Tiedoll kurz darauf einem anderen Thema zuwendet und ich bemerke nicht sofort, wie ich gedanklich abschweife, nur noch körperlich anwesend einer anderen Begebenheit folge. Unauffällig finden meine Augen irgendwann zu Tiedoll. In letzter Zeit hatten Marie und ich ein gemeinsames Thema. Ein weiteres der Sorte, die in einer Sackgasse enden. Wir sprachen über Kanda und ein kurzer Abschnitt des Weges fühlte sich an, als läge ein Erfolg nicht im Bereich des Unmöglichen. Maries Worte in jenem Paradies, das ich mit Übelkeit und Hunger genoss, erfüllten mich mit Wärme und ließen mich für einen Moment glauben, zu schaffen, was wir uns vornahmen. Ein paar Schritte ging ich in Hand in Hand mit dieser Denkweise, bevor sich unerwartet die Sackgasse vor mir erhob und Kanda mir vor Augen führte, dass er jede Barriere, die ich fürsorglich um ihn zog, mühelos durchbrach. Vor kurzem stellte ich Marie eine Frage, die er nicht beantworten konnte. Wie war man in der Lage, jemanden zu schützen, der es nicht zuließ? Die letzte Zeit erfüllte mich mit Bitterkeit und Frust. Es blieb nicht nur bei der Wirkung, die Bingen auf mich selbst hatte. Hinzu kamen meine offenbar zum Scheitern verurteilten Absichten mit endloser Ungewissheit und keiner Erklärung. Es spielt keine Rolle, welcher Weg der richtige ist, denn mehrere stehen mir wahrscheinlich nicht zur Verfügung. Nur ein einziger, der schwer zu bewältigen ist. Ich kenne solche Wege, beschritt selten andere, doch stets konnte ich selbst entscheiden, wann ich einen Schritt nach vorne setzte und wieviel ich bereit war, dafür zu opfern. Als ich bemerke, wie lange ich Tiedoll schon beobachte, betrachte ich mir eine der Servietten. Der Mann, der mir gegenübersitzt, könnte eine Antwort haben, denke ich und spüre, wie sich meine Lippen aufeinanderpressen, als würden sie mir zwar den Gedanken verzeihen aber die Umsetzung verbieten. Es ist wohl tatsächlich etwas lächerlich und letztendlich würde mit Tiedoll zu sprechen, nicht nur bedeuten, eine mögliche Antwort zu erhalten, sondern eine Befürchtung zu teilen, die Kanda betrifft. Tiedoll würde viel erfahren. Ich selbst könnte damit leben, mich ihm um einen Deut zu offenbaren, wenn dieser Zweck das Mittel heiligt, doch ich gehe nicht davon aus, dass Kanda diese Einstellung teilt. Schon jetzt sucht er Distanz und ich schätze, er wird sich nicht in meine Nähe zurückgezogen fühlen, wenn ich diese Möglichkeit nutze, die mir verdächtig passend erscheint und er letzten Endes selbstverständlich davon erfährt. So kämpfen Für und Wider, bis ich begreife, dass sie einander ebenbürtig sind. Eine Dummheit zu begehen, ist leichter, wenn man es selbstlos für jemand anderen tut und bereit ist, die Konsequenzen zu tragen. Trotzdem muss ich es bei einer kleinen Dummheit belassen, also suche ich nach einem Mittelweg, hoch genug dosiert, um zu wirken, mich jedoch nicht umzubringen. Tu es, scheint das Schicksal mir zuzuflüstern, als Lavi auf die Beine kommt. Nachdem wir aßen und sprachen, ist sein Kopf offenbar frei genug, sich mit der Mission zu befassen, also sucht er bei den Gastwirten nach einem Ansprechpartner und schenkt uns einen Moment, dem ich mich unentschlossen und argwöhnisch stelle. Tiedoll leert die Kanne, leert auch die Zuckerdose und scheint außer dem wunderbaren Geschmack nichts mehr zu erwarten. „Haben Sie in letzter Zeit bis auf uns noch andere getroffen?“, setze ich vorsichtig den Fuß in das bedrohliche Gebiet, doch sehe nach einem flüchtigen Grübeln schon ein Kopfschütteln. „Ihr seid seit zwei Monaten die ersten“, bekomme ich zu hören. „Davor traf ich Crowley. Wir hatten denselben Weg, also hat er mich begleitet. Es war sehr angenehm. Und davor?“ Er seufzt. „In solchen Fällen scheint die Welt doch sehr groß zu sein. Ich denke, ich sollte in nächster Zeit einmal das Hauptquartier besuchen.“ Nickend taste ich nach Tim, der neben mir Lavis Platz für sich einnahm. Natürlich wird es mir nicht leicht gemacht und natürlich stehe ich auch hier in einer Sackgasse, die ich nur mit deutlicheren Fragen überwinden kann. Wie hätte es mich beruhigt, wenn Tiedoll Kanda erst vor kurzem begegnet wäre. Er hätte ihn gesehen, ihn erlebt, sich mit ihm unterhalten und ich bin sicher, auch die richtigen Worte gefunden, hätte er gefühlt, dass etwas nicht stimmte. Hier jedoch bewegen sie sich in so enormem Abstand, dass niemand in den Bereich des anderen hineinreicht und ich pendle zwischen ihnen wie ein Fragment, das zwar seinen Nutzen kennt, doch nicht die Art, ihn zu erfüllen. Mir gegenüber nippt er an seiner Tasse, schmeckt den Tee und genießt ihn. Er lässt sich nicht stören, hat es bequem und nur kurz sitze ich ihm schweigend gegenüber, ehe mich sein Blick trifft. Flüchtig und doch geradlinig, bevor seine schmunzelnden Lippen erneut hinter der Tasse verschwinden. „Gibt es noch etwas, das ich wissen sollte?“, fragt er und trinkt, nicht auf mein Gesicht achtend oder auf meine Mimik, die ihm die Antwort präsentiert. Soviel zu den vorsichtigen Wegen und niedrigen Dosen. Ich reibe meine Wange, greife nach meinem Glas und für eine Weile drehe ich nur daran und suche nach den richtigen Worten. Selbst jetzt, denke ich, würde mir Tiedoll ein Ausweichen erlauben und daran glauben, dass ich derartige Entscheidungen selbst treffen kann. „Wann haben Sie Kanda das letzte Mal gesehen?“, fahre ich dennoch fort und bemerke, wie er die Tasse sinken lässt. Ein Wort lässt ihn sofort reagieren und innerlich schmunzle ich über die Krankheit, mit der Kanda ihn früh infizierte. Heilung ausgeschlossen. Seine Aufmerksamkeit erreicht neue Höhen, wenn es sich um diesen Menschen handelt. Er scheint nachzudenken, jedoch schnell zu kapitulieren und dann verfolge ich, wie er unter einem erneuten Seufzen an Körperspannung verliert. „Das liegt fast ein viertel Jahr zurück. Elf Wochen und neunzehn Tage, um genau zu sein.“ Meine Mimik kommentiert er mit einer verwerfenden Geste. „Und natürlich trafen wir uns nur durch Zufall. Gott bewahre, dass er aus seinem Raster fällt. Ich denke, es ist ihm wichtig, mein liebster Problemfall zu bleiben.“ Schmunzelnd betaste ich Tims Körper. Das Thema ist eröffnet und Tiedoll widmet sich ihm gern. „Aber so ist das mit uns.“ Er zuckt mit den Schultern. „Irgendwann bekomme ich ihn schon wieder zu fassen.“ „Mm.“ Ich ziehe an Tims Flügeln, kreuze die Beine unter dem Tisch und verfolge, wie sich der Golem spielerisch in meinem Finger verbeißt. Natürlich spüre ich Tiedolls Blick, spüre seine Erwartungen und das Feuer, das ich selbst gelegt habe, doch die nächsten Schritte sind nicht leicht. „Ich habe mich eines gefragt“, entscheide ich mich kurz darauf für eine Richtung, die ich für klug halte. „Wir erleben einiges und es ist nicht immer leicht.“ Mir gegenüber nickt Tiedoll und unter einem tiefen Durchatmen befeuchte ich die Lippen mit der Zunge. „Ich habe manchmal den Eindruck, all das würde ihm nichts ausmachen. Wie geht er damit um und wovon ist es abhängig? Einstellung? Sichtweise? Abhärtung?“ „Mm.“ Wieder tastet Tiedoll nach seinem Bart. Die Tasse vor ihm ist leer, während er zum ersten Mal seit langem aus dem Fenster blickt. Seine Reaktion ist nicht eindeutig, um Grunde sogar noch viel weniger als das. Er scheint nachdenklich und stört sich weder an meinem Starren noch an der Stille. Er lässt sich Zeit, bis ich ein Lächeln auf seinen Lippen erkenne und er meinen Blick annähernd verschmitzt erwidert. „Du hast ihn gern.“ Stöhnend verdrehe ich die Augen. „Wie könnte man das auch nicht?“ „Nicht wahr?“ Tiedoll scheint meinen Sarkasmus bewusst zu überhören. Sein nächstes Seufzen klingt nach Genuss. „Wie könnte man ihn nicht gern haben. Und dabei habe ich dir noch nicht einmal viel aus unserer Vergangenheit erzählt. Das waren Zeiten. Viel zu schnell vorbei.“ Die Erinnerungen scheinen ihm gut zu tun, doch ich habe das Gefühl, er würde vom Thema abweichen und hoffe, dass es sich hier nur um einen flüchtigen Umweg handelt. „Fakt ist“, fährt er fort und sofort löse ich mich von Tim, „ihr alle seid Menschen. Ihr seid jung. Und jeder von euch hatte einen anderen Weg, der euch hierher geführt hat.“ Nachdem sein Gesicht erstrahlte, macht es mit einem Mal einen wehmütigen Eindruck. Kurz sieht er mich nur an, bevor er matt lächelt. „Wer von euch hat sich dieses Leben ausgesucht? Wer war dafür gemacht? Keiner von euch gleicht dem anderen und auch dieses Dasein führt ihr auf unterschiedliche Weise. Jeder so, wie er es braucht, bestenfalls möchte. Und das ist gut und natürlich. Aber eines habt ihr alle gemeinsam.“ Er erwidert meinen Blick eindringlich. „Ihr fühlt. Aber wenn es darum geht, wie ihr diese Gefühle verarbeitet oder wie sie nach außen dringen, entfernt ihr euch sofort wieder voneinander. Kandas Art ist nicht deine Art.“ „Das heißt, er hat eine gute Art gefunden?“, erwidere ich. „Eine Möglichkeit, mit den Dingen zurechtzukommen, ohne größeren Schaden zu nehmen?“ Mir gegenüber runzelt Tiedoll die Stirn, als würde er erst jetzt bewusst auf das Offensichtliche eingehen. Bisher befasste er sich überwiegend mit mir, doch der Mittelpunkt ist ein anderer. Noch immer sieht er mich an, braucht die Frage nicht zu stellen, ich aber einen Moment, um sie zu beantworten. „Ich war oft mit ihm unterwegs“, überwinde ich mich. „Wir haben schlimmes gesehen und schwere Entscheidungen getroffen. Wenn man sich bereit erklärt, die Konsequenzen für etwas zu tragen, sollte man diese Konsequenzen davor kennen. Und wie oft tut man das wirklich?“ Ein schwaches Lächeln zieht an meinen Lippen, während ich auf den Tisch starre. „In diesem Fall hast du dasselbe gesehen und dieselben Entscheidungen getroffen“, antwortet Tiedoll. „Solltest du dich nicht auch um dich selbst sorgen?“ „Das tue ich. Und ich weiß, dass es mir so gut geht, wie es mir möglich ist.“ „Warum denkst du, es wäre bei ihm anders?“, folgt sofort die nächste Frage und erst jetzt begreife ich wirklich, wie tief ich mich in einem Netz verfing, das ich im Grunde meiden wollte. Eine der Wahrheiten habe ich zu offenbaren, um etwas zu erhalten, das mir hilft und somit auch Kanda. Ich atme tief ein, tief aus, reibe meinen Hals und lasse Tiedoll warten. Vielleicht hoffe ich darauf, dass Lavi zurückkehrt und diese Frage ohne Antwort versickert, doch wir bleiben ungestört und nur kurz habe ich mich an die letzten Tage mit Kanda zu erinnern, um den letzten Antrieb zu erhalten. Selbst meine Schulter entsendet ein Stechen, als wolle es mich zurückführen zu jenen Stunden, in denen er viel zu oft schwieg. „Wir alle sehen und erleben unterschiedliches“, sage ich letztendlich. „Einige erzählen davon, andere werden emotional. Alles, was hilft und jeder auf seine Weise. Manchmal hat man sogar das Gefühl, einem Kameraden helfen zu können. Und kann man es nicht, dann ist man zumindest in der Lage, den anderen einzuschätzen. Bei ihm ist es anders. Und die letzte Zeit war schwer.“ Somit nicke ich, abschließend, denn mehr kann ich nicht sagen und hoffe darauf, dass Tiedoll in den Bruchstücken einen Sinn findet. Er mustert mich noch kurz, ehe er flüchtig schmunzelt und wieder aus dem Fenster blickt. „Ich verstehe.“ Sicher tut er das. Ich bin jemand, der sich Gedanken um einen Kameraden macht und das ist gut und im Rahmen der Normalität, weder übertrieben noch auffällig. Um diesen Rahmen nicht zu überschreiten, habe ich es in Kauf zu nehmen, keine Antwort zu erhalten, die mich wirklich zufrieden stellt und die Dinge erleichtert. Im Grunde tat ich nicht viel mehr, als einen Teil der Verantwortung abzugeben und Tiedolls Blick in eine Richtung zu lenken. Ich weiß nicht, wozu es führen wird, doch die Ungewissheit der Zukunft ist eine Begebenheit, mit der ich lebe. -tbc- Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)