Über Katzen und Krähen von Ur (Oneshot-Sammlung) ================================================================================ Kapitel 8: Cool ist Ansichtssache --------------------------------- Tsutomu ist sich nicht sicher, wie er mit der gegenwärtigen Situation umgehen soll. Für gewöhnlich ist es fast unmöglich, ihn von Volleyball abzulenken, aber aus ganz verschiedenen Gründen ist seine Konzentration seit ein paar Tagen nicht das, was sie einmal war. Der eine und wichtigste Grund dafür ist über 1,90m groß und dauerhaft am Grinsen, was erstaunlich beunruhigend ist dafür, dass Tsutomu mit Tendou in einer Mannschaft spielt, der von vielen Leuten als ausgesprochen beängstigend wahrgenommen wird—auch wenn Tsutomu das nie so richtig nachvollziehen konnte. Der andere Grund ist natürlich Tendou, dessen loses Mundwerk Tsutomu auf dumme Ideen gebracht hat. Tsutomu weiß nicht wirklich, woher genau das Selbstbewusstsein von Haiba kommt, wenn man bedenkt, dass er die einfachsten Techniken nicht beherrscht. Dem gesamten Team von Nekoma scheint das ebenfalls klar zu sein, denn sie verbessern ihn ständig, rügen ihn und meckern mit ihm, aber Tsutomu hat noch nicht ein einziges Mal feststellen können, dass Haibas Selbstbewusstsein in ihn selbst und seine Fähigkeiten irgendwie geflackert hätte. Tsutomu weiß nicht, ob er beeindruckt oder genervt sein soll. Das größte Problem an Haiba ist, dass er es auf Tsutomu abgesehen hat. Dauernd will Haiba mit ihm reden—»Ich werde auch bald das Ass meiner Mannschaft«—und bei ihm sitzen und mit ihm trainieren. Tsutomu fragt sich, ob seine Mannschaftskameraden sich auch so fühlen, wenn er sie zum achtundfünfzigsten Mal bittet, seinen Aufschlag anzunehmen. »Hey, wir sollten zusammen laufen gehen!« »Als zukünftige Asse—« »Glaubst du, dass du noch wächst, Goshiki?« »Dein Jump Floater Aufschlag ist cool, zeig mir wie das geht!« Tsutomu weiß, dass seine Mannschaftskameraden das alles ausgesprochen witzig finden—außer Shirabu, der nichts an Tsutomu witzig findet außer wenn er sich blamiert und Ushijima, der generell nichts witzig findet. Aber Tsutomu ist definitiv überfordert. »Wie mache ich, dass er aufhört?«, stöhnt er am sechsten Tag des Trainingscamps beim Frühstück, bevor Haiba den Raum betritt—wahrscheinlich, weil er schon wieder verschlafen hat. Seine Selbstdisziplin scheint sehr selektiv zu funktionieren und Tsutomu hat keine Ahnung, wie seine Mannschaftskameraden nicht schon längst die Nerven verloren haben. »Hast du ihm schon gesagt, dass er aufhören soll?«, will Shirabu mit hochgezogenen Augenbrauen von ihm wissen. Tsutomu hält inne, das Stück Ei auf dem Weg zu seinem Mund bleibt in der Luft hängen, während er seine Stirn runzelt und den Kopf schief legt. Shirabu schnaubt verächtlich und verdreht die Augen, ehe er sich wieder seinem eigene Frühstück zuwendet. »Tsu-to-mu«, ertönt Tendous Singsang von links, »benutz deine Worte! Oder bring ihn anders zum Schweigen. Hübsch genug ist er ja.« Tsutomu versteht nicht, was Tendou meint, bis Semi Tendou den Ellbogen in die Rippen haut und ihn ermahnt seine versauten Anmerkungen vor den Erstklässlern für sich zu behalten. Tendou schmollt, Shirabu schnaubt schon wieder und Tsutomus Gehirn ist eingefroren. Ist Haiba hübsch? Tsutomu hat keine Ahnung. Er interessiert sich nicht wirklich für Jungs. Oder Mädchen. Eigentlich interessiert er sich nur für Volleyball. Jemanden zum Schweigen bringen würde bedeuten, den Mund irgendwie anderweitig zu beschäftigen. Was Tsutomu zu der Erkenntnis bringt, dass Leute, die sich küssen, nicht gleichzeitig reden können. Was wiederum mit sehr großer Wahrscheinlichkeit genau das war, was Tendou gemeint hat. »Dein Ei wird kalt«, schnurrt Tendou breit grinsend neben ihm. Tsutomu hat vergessen, dass er eigentlich gerade am Essen ist, weil sein Gehirn sich immer nur auf eine Sache gleichzeitig konzentrieren kann. Und gerade ist es dabei, eine ganze Flut aus Bildern bereitzustellen, die eine Collage aus Haiba erstellt. Tsutomu lässt sein Ei sinken. »Ich glaube, du hast ihn kaputt gemacht«, sagt Semi missbilligend. Natürlich wählt Haiba genau diesen Moment, zum Frühstück zu erscheinen. Sein Haar steht in alle Himmelsrichtung ab und er reibt sich die Augen, aber sobald er Tsutomu sieht, hellt sich sein verschlafenes Gesicht auf und er marschiert prompt zu ihrem Tisch herüber. »Goshiki! Lass uns nachher zusammen lauf—« »Halt die Klappe!«, platzt es panisch und etwas höher, als seine Stimme eigentlich ist, aus ihm heraus und Haiba blinzelt, bricht den Satz ab und Tsutomu sieht, dass seine Schultern etwas in sich zusammensacken. »Oh. Ok«, sagt Haiba, fährt sich mit einer Hand durch sein zerstruwweltes Haar am Hinterkopf und trottet von dannen. Tsutomu starrt ihm nach und hat irgendwie das Gefühl, dass jemand gerade die Beine seines Stuhls unter ihm weggekickt hat. »Effizient. Nicht ganz so höflich, wie ich es erwartet hätte«, meint Tendou gut gelaunt und stiehlt Tsutomu den Rest Ei aus seiner Schale. »Jetzt hast du wenigstens deine Ruhe«, meint Kawanishi. Er klingt gleichzeitig gelangweilt und ein bisschen amüsiert. Tsutomu muss sich sehr zusammenreißen, um sich nicht umzudrehen und zu schauen, wo Haiba jetzt steckt. Normalerweise hört man ihn meilenweit. In der Tat ist es in den folgenden Stunden ruhiger als vorher. Tsutomu geht alleine laufen. Er übt zusammen mit Semi und einigen der Ubugawa-Mitglieder seinen Aufschlag. Auf einem der Felder zu seiner Linken wird Haiba von Nekomas Libero im Annehmen gedrillt. »Du hast so lange Arme! Wozu sind sie gut, wenn du sie nicht anständig benutzt, huh? Mehr in die Knie! Die Knie! Oh mein Gott, du siehst aus wie ein Flamingo mit Verdauungsproblemen!« »Yaku-senpai, sei nicht gemein«, klagt Haiba und versucht angestrengt die Körperhaltung des viel kleineren Jungen zu imitieren. Er scheitert kläglich. »Hey, hey, hey, Yaku, du solltest es mal mit positiver Bestärkung versuchen! Ich verbessere mich viel schneller, wenn Akaashi mir Komplimente macht!« »Bokuto-san, es gibt nichts, wofür ich Komplimente machen könnte.« »Ow, Yaku, so gnadenlos!« Tsutomu ist so fixiert auf Haibas unzufriedenes Gesicht, dass er prompt einen Ball gegen den Kopf bekommt und hinten über fällt. »Oh! Oh, scheiße, alles ok bei dir?«, ruft eine unbekannte Stimme ihm zu, während Tsutomu am Boden liegt und seine Lebensentscheidungen in Zweifel zieht, die ihn hierher geführt haben. Ein absolut aufdringlicher, überheblicher, anstrengender Kerl hat ihn traurig angesehen, weil Tsutomu ihm gesagt hat, er solle die Klappe halten und plötzlich liegt er am Boden und fühlt sich benommen, weil er vor lauter Verwirrung darüber seine Konzentration eingebüßt hat. Er hört Schritte auf dem Linoleumboden quietschen und einige Leute beugen sich über ihn, unter anderen der Kapitän von Ubugawa, der Libero von Fukurodani und— »Goshiki, ist alles in Ordnung?« Tsutomu möchte gerne »Ja« sagen, sich aufrichten und so tun, als würde Haibas Gesicht so dicht über seinem keinen Herzinfarkt in ihm auslösen. Aber vielleicht ist Tendou doch genauso gruselig, wie alle immer sagen, denn in diesem Moment kommen ihm die Worte vom Frühstück wieder in den Sinn und er merkt, wie sein Gesicht knallrot anläuft. »Sieht aus, als wäre er ‘n bisschen desorientiert. Ich glaube, er sollte sich besser ‘n Moment hinlegen.« »Alter, ich würd nicht gern einen von deinen Aufschlägen gegen die Birne kriegen!« »Hey! Es war ja nicht mit Absicht!« »Lev, wir sind so weit durch mit Annahmen, wieso bringst du Goshiki nicht ins Erste-Hilfe-Zimmer?«, ertönt Kuroos Stimme irgendwo weiter hinten. Der Klang von Kuroos Stimme erzeugt aus unerfindlichen Gründen eine Gänsehaut auf Tsutomus Unterarmen. Der Kapitän von Nekoma beunruhigt ihn. Diese Augen sehen aus, als könnten sie einem direkt in die Seele schauen. »Ok, Kuroo-san«, sagt Haiba und Tsutomu spürt, wie er von einer fast zwei Meter großen Bohnenstange auf die Beine gehievt wird. Haiba spricht kein einziges Wort, während er Tsutomu halb stützt, halb trägt und Richtung Umkleiden bugsiert, wo sich anscheinend das Erste-Hilfe-Zimmer befindet. Tsutomu kann Tendous Stimme in Dauerschleife in seinem Kopf hören. »Hübsch genug ist er ja.« Während Haiba Tsutomu auf die Liege bugsiert, betrachtet Tsutomu so unauffällig wie möglich Haibas Gesicht. Wahrscheinlich hat Tendou recht. Die schmalen, grünen Augen und das helle Haar, die scharfen Gesichtszüge und die unbestreitbar beeindruckende Körpergröße lassen Haiba vermutlich in die Kategorie »hübsch« fallen. Nicht, dass Tsutomu wirklich je darüber nachdenkt, wer hübsch ist. Alle Leute in seinem Jahrgang sind besessen davon darüber zu reden, welches Mädchen hübsch ist und welcher Junge gut aussieht. Alles, was Tsutomu im Kopf hat, ist Volleyball. Vielleicht ist das der Grund, wieso er eigentlich keine Freunde in seinem Jahrgang hat. Alle finden ihn komisch. Und sie lachen über seine Haare. Haiba hat nicht ein einziges Mal über Tsutomus Haare gelacht. Oder darüber, dass er nur an Volleyball denkt—weil Haiba nämlich selber an nichts anderes denkt, als an Volleyball. Während seine Gedanken kreiseln, kramt Haiba in einem der Schränke herum und ehe Tsutomu es sich versieht, hat er ein in ein Handtuch gewickeltes Kühlpack auf der Stirn, wo sicher beizeiten eine Beule erscheinen wird. »Danke«, nuschelt er. Haiba lächelt schief. »Keine Ursache.« Tsutomo denkt darüber nach, wie Haiba beim Frühstück in sich zusammengesackt ist und schluckt. »Ähm. Wegen heute Morgen beim—beim Frühstück«, fängt er an und grüne Katzenaugen richten sich direkt auf sein Gesicht. Tsutomu schluckt erneut und starrt an die Decke. Warum haben alle Mitglieder von Nekoma dieses intensive Starren drauf? »Tut mir Leid.« Haiba legt den Kopf schief und lässt sich auf einen der Hocker sinken, die zwischen den drei Liegen verteilt stehen. »Schon in Ordnung. Yaku-senpai sagt immer, dass ich nie weiß, wann genug ist«, meint Haiba mit einem reumütigen Lächeln. Es scheint ihn nicht zu stören, so dermaßen von seinem älteren Mitschüler in die Mangel genommen zu werden. Tsutomu kaut auf seiner Unterlippe herum und denkt darüber nach, was er noch sagen könnte. Er weiß, dass er überhaupt keine Sozialkompetenz hat—er versteht keinen Sarkasmus oder zweideutige Witze, kann keinen Small Talk führen und über nichts anderes sprechen als über Volleyball. Und er ist meistens viel zu laut. Aus irgendwelchen Gründen scheint Haiba sich an all diesen Dingen nicht gestört zu haben. Das Kühlpack auf seiner Stirn hilft kein bisschen dabei sein Gesicht davon abzuhalten, langsam aber sicher rot anzulaufen. »Warum?«, platzt es schließlich aus ihm heraus. Haiba dreht den Kopf und schaut Tsutomu fragend an, den Kopf schief gelegt und ein aufmerksamer Blick in den stechend grünen Augen. »Warum was?«, fragt er. Tsutomu fragt sich, ob er aussieht wie Tendous Haar. »Warum—warum willst du so viel Zeit... mit mir...« Er bricht ab und starrt wieder an die Decke. Genau deswegen redet er besser über nichts anderes als über Volleyball, weil sonst nur so ein gestammelter Unsinn aus ihm herauskommt. Er mag ein Ass im Volleyball sein, aber es wäre gelogen zu behaupten, dass Tsutomu sonderlich viele andere Talente hat. »Huh?«, sagt Haiba und er klingt vollkommen verwirrt. »Weil du cool bist. Und weil wir beide Asse unserer Mannschaft sind.« Ein Moment des Schweigens. »Und ich mag dein Haar.« Tsutomu friert auf der Liege ein und starrt Haiba an, um zu sehen, ob das ein Witz sein soll. Aber Haiba sieht einfach nur verwirrt darüber aus, wieso Tsutomu so eine Frage überhaupt stellen würde und er spürt einen heftigen Ruck in seinem Brustkorb, bevor sein Herz anfängt wie bescheuert zu hämmern. »Oh«, sagt er schwach. »Weil du cool bist. Und ich mag dein Haar.« »Ich—äh. N—niemand mag mein Haar«, protestiert er, weil er nicht weiß, was er sonst sagen soll. Zu seinem grenzenlosen Entsetzen streckt Haiba seinen sehr langen Arm nach ihm aus und streicht ihm seinen Pony aus der Stirn. Tsutomu denkt, dass er jeden Augenblick explodiert. So sehr hämmert sein Herz nicht mal, wenn er nach anderthalb Stunden Joggen zurück nach Hause kommt. Was ist eigentlich los? »Weich«, murmelt Haiba mehr zu sich selbst als zu Tsutomu und dann zuckt er mit den Schultern. »Ich schon.« Tsutomu ballt die Hände zu Fäusten und richtet den Blick wieder an die Decke. Es ist eine ausgesprochen hässliche Decke, aber es ist eindeutig besser dorthin zu gucken, als Haibas durchdringendes Starren zu erwidern. »W—wollen wir morgen früh wieder laufen gehen?«, fragt er schließlich. Seine Stimme ist wie immer viel zu laut. Er wagt es, einen schnellen Blick auf Haibas Gesicht zu werfen und wird geblendet von einem geradezu atomar strahlenden Lächeln. Wow. »Ich hol dich um sechs ab! Verschlaf nicht!« »Ver—hallo? Du bist derjenige, der jeden Morgen dreimal geweckt werden muss!« »Nicht, wenn wir zum Laufen verabredet sind«, meint Haiba ohne zu zögern und Tsutomu spürt sein Herz stolpern. Er hat keine Ahnung, was mit ihm passiert, aber er hat die vage Vermutung, dass Tendou sehr zufrieden damit wäre, wenn er es wüsste. »Sollen wir wieder zurückgehen, oder musst du noch liegen bleiben?«, fragt Haiba und beugt sich vor, um einen Blick unter das Kühlpack zu werfen. Sein Gesicht ist viel zu nah und Tsutomu kann die gerade Linie seiner Nase aus nächster Nähe bewundern. Und die gelben Sprenkel in den grünen Augen. Und er spürt sehr definitiv Atem auf seiner Stirn. »Zurück!«, platzt es aus ihm heraus und er rutscht hastig von Haiba weg und setzt sich auf. Das Kühlpack fällt ihm in den Schoß. Das eilige Aufsetzen war keine gute Idee. Ihm wird prompt schwindelig und er sackt wieder in sich zusammen. Haiba drückt ihn zurück in eine liegende Position und legt das Kühlkissen zurück auf Tsutomus Stirn. »Bleib liegen. Ich hol ein bisschen Wasser. Hey, vielleicht können wir dann über Spieltheorie reden, Yaku-senpai sagt immer, ich soll mich mehr informieren und nicht einfach drauflosspringen.« »Du musst mir keine Gesellschaft leisten«, brummt Tsutomu. Haiba will mit ihm über Volleyball reden. Das einzige Thema, bei dem Tsutomu sich auskennt. Und es macht Haiba überhaupt nichts aus, dass Tsutomu keinen Small Talk führen kann. »Aber ich will. Bleib schön liegen, ich bin gleich wieder da!« Und mit diesen Worten verschwindet Haiba mit seinen lächerlich langen Gliedmaßen aus dem Erste-Hilfe-Raum und lässt Tsutomu mit seinen kreiselnden Gedanken und seinem heftig pochenden Herzen zurück. Es scheint ihm so, als hätte er herausgefunden, worüber alle Leute in seinem Jahrgang immerzu reden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)