Über Katzen und Krähen von Ur (Oneshot-Sammlung) ================================================================================ Kapitel 2: Von Schuluniformen, Erdbeerkuchen und Fakten ------------------------------------------------------- Es gab fünf Menschen, die Tsukishima Keis Handynummer besaßen. Seine Eltern, sein Bruder, Yamaguchi und Daichi-san, für den Fall, dass das Training ausfiel oder ein extra Training angesetzt wurde. Tsukishima hütete seine Nummer wie seinen Augapfel und es würde ihm im Traum nicht einfallen, sie irgendeinem unterbelichteten Armleuchter wie Kageyama oder Tanaka zu geben. Am allerwenigsten von allen Menschen – vielleicht sogar weniger als Kageyama, denn der konnte vermutlich ohnehin keine SMS schreiben – würde er seine Nummer Kuroo Tetsuro geben. Und trotz dieser unbestreitbaren Tatsache war eine Nachricht von Kuroo auf seinem Handy gelandet. Sie lautete: »Na? Immer noch schlecht im Blocken, Brille-kun?« Zuerst hatte Tsukishima keine Ahnung gehabt, von wem diese SMS stammte, da er die Nummer nicht kannte. Es musste irgendjemand sein, mit dem er Volleyball gespielt hatte oder immer noch spielte und jemand, der ihm einen derartig dummen Spitznamen aufdrücken würde. Dumpf erinnerte er sich daran, dass Fukurodanis Bokuto ihn so genannt hatte… »Wer ist da? Und woher hast du diese Nummer?« Eine Viertelstunde lang geschah nichts und Tsukishima drehte die Musik lauter, die er über Kopfhörer hörte, während er sich mit seinen Englisch-Hausaufgaben herumschlug. »Ich habe Daichi erpresst und mir von ihm deine Nummer geben lassen.« Bokuto wirkte nicht wie der Typ, der irgendjemanden erpressen würde. Womit auch? Daichi-san wirkte wie ein verlässlicher, bodenständiger Typ ohne schmutzige Geheimnisse. Allerdings hatte er wem-auch-immer diese Nummer gegeben, also musste der merkwürdige Schreiber etwas wissen, das wirklich für eine Erpressung geeignet war. Tsukishima lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Nein, Bokuto war wirklich nicht der Typ für eine Erpressung. Ein grinsendes Gesicht schob sich vor sein inneres Auge, wachsame Blicke und ein verschlagenes Funkeln… »Kuroo-san, wieso wolltest du meine Nummer von Daichi-san?« Wieder zwanzig Minuten keine Antwort. »Ich wusste schon, wieso ich dich unter meine Obhut genommen habe :-D Du bist schlauer als du aussiehst!« Tsukishima stöhnte und verdrehte die Augen, schob sein Handy beiseite und widmete sich wieder seinen Hausaufgaben. Er hatte keine Zeit für irgendwelche Späße und er würde sicherlich nicht Kuroos Zeitvertreib sein, nur weil sich Nekomas Captain langweilte oder jemanden zum Spielen brauchte. Nekoma hatte genügend Mitglieder, die Kuroo ärgern konnte. Tsukishima weigerte sich, auf diese albernen Spielchen einzugehen. Er war zu erwachsen für so etwas. * Leider Gottes war Kuroo nicht besonders empfänglich für eisernes Schweigen. Es wirkte ganz so, als würde sich Nekomas Captain kein bisschen davon stören lassen, dass Tsukishima auf keine seiner absolut unnötigen, nichtssagenden und ausgesprochen lächerlichen Nachrichten antwortete. »Wusstest du, dass Schildkröten durch ihren Hintern atmen können? Haha!« »Ich habe heute zehn von zehn Schmetterbällen von Bokuto geblockt und danach war er so niedergeschlagen, dass ich ihn zu einem Eis einladen musste. Weichei.« »Vielleicht sollte ich dich auch mal auf ein Eis einladen, damit du aufhörst zu schmollen?« »Heute schon jemanden geblockt?« »Wie nennt man einen Keks im Wald unter einem Baum? Ein schattiges Plätzchen! :-D« »Spielverderber!« Tsukishima hatte noch nie in seinem Leben so oft auf sein Handy geschaut und die Augen verdreht. Meistens, wenn er Nachrichten bekam, waren es Bitten seiner Eltern »Bring bitte Tempura mit, wir haben keins mehr!« oder irgendwelche Ankündigungen von Yamaguchi »Ich komm zehn Minuten später, ich hab die Metro verpasst! Sry!«. Tsukishima antwortete beinahe niemals auf SMS, weil die meisten, die er bekam, keine Fragen oder Inhalte enthielten, auf die man antworten musste. Er kaufte Tempura wenn seine Eltern ihn darum baten und er wartete zehn Minuten länger in seinem Zimmer auf Yamaguchi, wenn dieser sich verspätete. Tsukishima war nicht der Typ für belanglose Kurznachrichtengespräche, in denen sich Menschen berichteten, dass sie gerade besonders leckeres Teriyaki gegessen oder neues Katzenfutter gekauft hatten. Wieso sollte er seine Zeit mit solchen Dingen vergeuden? Und wen interessierten solche Sachen? Manchmal, wenn er nach der Schule und den Clubaktivitäten nach Hause kam, hatte er jetzt auf einmal sieben neue Textnachrichten, allesamt von Kuroo. Hatte der Kerl kein Leben? »Habe gerade Kenma bei Mario Kart geschlagen, ich glaube, er will mir die Freundschaft kündigen.« »Yamamoto wurde heute von einem Mädchen angesprochen und ist fast ohnmächtig geworden.« »Immer noch eifersüchtig auf euren Chibi-kun?« »Was fliegt durch die Luft und mach Mus Mus? Eine Biene im Rückwärtsgang!« Zwei Wochen nachdem Kuroo nicht die geringsten Anstalten gemacht hatte, mit diesen Lächerlichkeiten aufzuhören, beschloss Tsukishima dass die Taktik der kalten Schulter offenbar keine Wirkung zeigte. »Man muss fast Mitleid mit dir haben, Kuroo-san. Offensichtlich hast du weder Freunde noch ein Privatleben, sonst wüsstest du dich anders zu beschäftigen als mir mit deinen Nachrichten auf den Geist zu gehen.« Kuroo ließ sich von Tsukishimas Gehässigkeit kein bisschen abschrecken. In der Tat ging er kein bisschen darauf ein. »Aha! Du willst dich also doch mit mir unterhalten!« Tsukishima verstand wirklich nicht, wie man seine Worte so verdrehen konnte. Kuroo hatte nicht unbedingt wie der dümmste Mensch gewirkt, dem Tsukishima jemals begegnet war, aber vielleicht musste er seine Meinung revidieren und beizeiten Hinata gratulieren, dass er seinen ersten Platz auf dieser Liste nun für Kuroo räumen durfte. Was antwortete man auf so einen unverhohlenen Blödsinn? »Ja, du hast absolut Recht, Kuroo-san. Bitte erzähl mir alles über dich! Ich kann es kaum erwarten, nähere Informationen über dein Leben zu erhalten.« Daraufhin kam erst einmal eine ganze Weile lang gar nichts, was Tsukishima beinahe in der Hoffnung ließ, dass er Kuroo nun abgewimmelt hatte. Natürlich war dem nicht so und nach einer halben Stunde flutete eine riesige Welle an Nachrichten Tsukishimas Handy, sodass er einen Augenblick lang versucht war, das verfluchte Ding einfach aus dem Fenster oder in sein Wasserglas zu schmeißen. Er war gerade damit beschäftigt, sich einige Lieder einer neuen und vielversprechenden Band auf Youtube anzuschauen, als das wahnwitzige Dauervibrieren auf seinem Schreibtisch losging. Er fluchte so laut, dass seine Mutter den Kopf in sein Zimmer steckte und ihn fragte, ob alles in Ordnung sei. Meistens war Tsukishima nicht der Typ für laute Ausfälligkeiten, aber Kuroo brachte ihn dermaßen auf die Palme, dass er im Moment nicht einmal hätte sagen können, ob er schlimmer als der elende König und sein Flummi war. »Ich bin sehr froh, dass du gefragt hast, Brille-kun. Nicht, dass ich nicht schon vorher gewusst hätte, dass du mich wahnsinnig spannend findest, aber dass du schüchterner, einsamer Wolf dich traust es auszusprechen, grenzt ja fast an ein Wunder!« Schüchtern? Über den einsamen Wolf konnten sie ja vielleicht noch reden, aber schüchtern fühlte Tsukishima sich wirklich nicht. Er würde Daichi-san beim nächsten Training zur Rede stellen und anschließend seine Handynummer wechseln. Tsukishima hätte die Lawine aus SMS einfach löschen können. Aber er tat es aus ihm selbst unerfindlichen Gründen nicht, sondern las alle 17 – und er konnte es nicht fassen, dass es wirklich so viele waren – Nachrichten von Kuroo Tetsuro, die dieser über sich selbst verfasst hatte. »Ich habe am 17. November Geburtstag (Sternzeichen Skorpion, Blutgruppe A positiv). Leider bin ich Einzelkind geblieben, ich hätte einen ziemlich guten großen Bruder abgegeben…« »Mein Lieblingsessen ist gegrillte Makrele, aber ich sage auch zu einer guten Portion Akashiyaki nicht nein.« »Traurigerweise haben Katzen Angst vor mir. Ich versteh überhaupt nicht warum.« »Ich hab ein Problem mit Laktose und Wespenstichen.« »Ich schlafe immer auf dem Bauch mit zwei Kissen auf dem Kopf, was zu meiner immer perfekt sitzenden Frisur führt!« Und so ging es für noch zwölf weitere Nachrichten weiter. Tsukishima nahm sich vor, alles wieder zu vergessen, was er in den SMS gelesen hatte und löschte sie allesamt. Bis auf eine. »Ich steh auf Jungs und Mädchen und fahre total auf Brillen und schöne Hände und kurze Röcke ab.« * »Daichi-san, kann ich kurz mit dir sprechen?« »Aber klar, Tsukishima. Was gibt’s?« »Wieso hast du Kuroo-san meine Handynummer gegeben?« »…« »Daichi-san?« »Tja, Tsukishima… es ist folgendermaßen…« »SAWAMURA! TSUKISHIMA! SCHWINGT EURE HINTERN HIER RÜBER, WIR WOLLEN ANNAHMEN ÜBEN!« »Jawohl, Coach!« »Ähm, Daichi-san…?« * Tsukishima antwortete ganze fünf Tage nicht mehr auf Kuroos Nachrichten, auch wenn Kuroo weiterhin so hartnäckig wie eh und je Nachrichten an ihn schickte. Tsukishima kannte mittlerweile so viele dumme Witze, dass er sich wünschte, er könnte einen Tafelschwamm für sein Gehirn haben. Dauernd in der Schule oder beim Training fielen ihm diese blöden Witze oder sinnlosen Fakten ein. »Tsukki, du schaust in letzter Zeit echt oft auf dein Handy.« »Sei ruhig, Yamaguchi.« »Ok! Sorry, Tsukki!« Er hatte seine Handynummer immer noch nicht gewechselt oder Kuroos Nummer geblockt. Tsukishima hatte keine Ahnung, wieso eigentlich und es ärgerte ihn über alle Maßen. Und dass Kuroo nach fünf Tagen Schweigen von Tsukishimas Seite immer noch nicht aufgab, löste in Tsukishima ein merkwürdiges Ziehen in der Magengegend aus, über das er sich lieber keine Gedanken machen wollte. »Hey, Brille-kun! Schau mal aus dem Fenster!« Tsukishima weigerte sich zehn Minuten lang von seinem Bett aufzustehen, dann tat er es doch. Von seinem Fenster aus konnte er eine sternklare Nacht sehen und mitten im dunklen Himmel thronte ein weißer, schimmernder Vollmond. Tsukishima weigerte sich, das Stolpern seines Herzens anzuerkennen. »Du weißt schon, dass ich nicht Brille-kun heiße, oder?« »Ach nein? Wie soll ich dich denn sonst nennen, Brille-kun?« »Tsukishima wäre angemessen.« »Ok, Tsukishima. Schlaf gut!« * »Oi, Tsukishima! Was ist dein Lieblingsessen?« »Mir ist Essen ziemlich egal… Aber ich mag Erdbeerkuchen.« »Ist dir irgendwas nicht egal? :-D« Tsukishima antwortete nicht. * Drei Tage nach diesem kurzen Austausch über Erdbeerkuchen rief Tsukishimas Mutter ihn nach unten. »Es hat jemand ein Päckchen für dich abgegeben«, erklärte seine Mutter und reichte ihm eine kleine Pappschachtel in hellgrün, die Tsukishima verwirrt entgegen nahm. »Wer denn?«, wollte er wissen und musterte das Päckchen von allen Seiten, als könnte er so einen Hinweis auf den Absender bekommen. Es stand nichts außer seinem eigenen Namen auf der Schachtel und es war keine Karte beigelegt. »Weiß ich nicht. Das Päckchen stand vor unserer Tür, als ich gerade die Post holen wollte.« Tsukishima dachte kurz darüber nach, ob er das Päckchen nicht vielleicht lieber mit auf sein Zimmer nehmen sollte, falls es irgendetwas Peinliches war, aber dann entschied er sich dagegen und hob den Deckel. Darin war ein ziemlich lecker aussehender, kleiner Erdbeerkuchen. »Oh! Das ist ja entzückend! Wer hat dir den denn vorbei gebracht? Hast du etwa eine heimliche Verehrerin, Kei?« Wenn er eine hätte, dachte Tsukishima fassungslos, während er den Kuchen anstarrte, dann würde sie in Tokyo leben und hätte keine Möglichkeit, mir einfach so einen Kuchen vor die Tür zu stellen. Und außerdem ist sie ein er. Er teilte den Kuchen in zwei Hälften und ließ eine Hälfte für seine Eltern in der Küche stehen. Die andere Hälfte trug Tsukishima nach oben in sein Zimmer und verspeiste sie langsam und sehr nachdenklich über seinen Japanisch-Hausaufgaben, auf denen ein paar Krümel landeten. Dann kramte er sein Handy hervor. Es war das erste Mal, dass er Kuroo zuerst eine Nachricht schickte. »Wie hast du einen Erdbeerkuchen vor meine Haustür gebracht und woher weißt du, wo ich wohne?« »Für beides gilt: Ich habe Kontakte ;-)« Tsukishima hatte genau Kuroos Gesichtsausdruck vor sich, als er diesen beknackten Smiley sah. Er dachte an die Worte seiner Mutter darüber, ob er wohl eine geheime Verehrerin hatte. Tsukishima hatte keine Ahnung von geheimer Verehrung und generell waren ihm Romantik und romantische Gefühle auch eher egal. Wie die meisten Dinge. Aber es war nicht zu leugnen, dass dieser beknackte Erdbeerkuchen verteufelt gut geschmeckt hatte und dass Tsukishimas Magen dieses bescheuerte Fallgefühl überhaupt nicht mehr loslassen wollte, seit er den Kuchen gesehen hatte. Er tippte: »Erdbeerkuchen scheint mir nicht egal zu sein.« Aber er schickte die Nachricht nicht ab und stopfte sein Handy zurück in seine Hosentasche. * »Oi, Yamaguchi.« »Was gibt’s, Tsukki?« »Warst du schon mal verknallt?« »Eh…? Oh! Also… Yachi-san ist schon sehr niedlich.« »Niedlich?« »Naja, sie ist lieb und hilfsbereit und mutig und sie hat ein freundliches Lächeln und ist genauso ein nervöses Wrack wie ich.« »Also bist du in Yachi-san verknallt?« »V…vielleicht? Ich weiß es nicht. Aber… naja… mein Magen macht immer einen Salto, wenn ich sie sehe.« »Verstehe. Lass uns was essen gehen.« »Ok, Tsukki!« * Nach dem Sieg gegen Shiratorizawa fühlte Tsukishima sich so, wie er sich noch nie gefühlt hatte. So viel Enthusiasmus und Zufriedenheit und Triumph war noch nie auf einmal in ihm herum gewirbelt. Er neigte nicht zu Geschwätzigkeit, aber er wollte dringend allen Menschen, die er kannte, davon berichten, wie er es geschafft hatte Ushijima zu blocken. Tsukishima war stolz auf sich. Es fühlte sich sehr ungewohnt und ein wenig unangenehm an, so viel Begeisterung und Adrenalin durch seine Adern pumpen zu spüren, auch wenn er gleichzeitig vollkommen erschöpft von den Anstrengungen des Spiels war. Aber Ushijimas Gesicht war einfach königlich gewesen. Nicht, dass Tsukishima es wirklich zugeben wollte, aber es war genauso, wie Bokuto gesagt hatte. Es gibt diesen Moment, der dich so richtig für Volleyball begeistern kann. Der Augenblick, als er es zum ersten Mal geschafft hatte, Ushijima zu blocken, war offenbar dieser Moment für ihn gewesen. Wenn Bokuto das wüsste, würde er sich selbst garantiert mindestens drei Tage lang feiern und all seinen Teamkameraden damit auf den Keks gehen. Tsukishima dachte an ihr gemeinsames Trainingscamp und wie viel er gegen seinen Willen dort gelernt hatte. Bokuto und Kuroo hatten ihn – ob er es wollte oder nicht – unter ihre Fittiche genommen. Warum genau sie interessiert an ihm gewesen waren, war Tsukishima schleierhaft. Er war schließlich kein Genie wie Kageyama oder Hinata. Tsukishima saß nun im Garten seiner Familie, den Rücken an einen Baum gelehnt, seine Kopfhörer über seinen Ohren und sein Handy im Schoß, während er nach und nach ein paar Mochi mit grünem Tee verspeiste. Seine Finger spielten mit dem Handy. Akiteru hatte sich so sehr über Tsukishimas Erfolg gefreut und mit ihm gefeiert, dass es Tsukishima fast ein wenig übertrieben vorgekommen war. Dann wiederum war Akiteru schon immer eher derjenige von ihnen mit starken Emotionen gewesen. Tsukishima schob sich noch ein Mochi in den Mund und öffnete eine neue Nachricht. »Ich habe Ushijima geblockt. Mehrfach« Die Antwort kam so schnell, dass Tsukishima sich unweigerlich fragte, ob Kuroo sein Handy die ganze Zeit angestarrt und auf eine Nachricht von ihm gewartet hatte. »YES! Ich wusste doch, dass du es in dir hast :-P Das heißt, wir sehen uns bei den nationals ;-)« Tsukishimas Herz stotterte kurz und schlug dann doppelt so schnell weiter. »Also habt ihr auch gewonnen.« »Scharf kombiniert, Kei-chan.« Tsukishima prustete beinahe den Rest seines Mochis quer über den Rasen, weil er so empört und überrascht war. »Ich dachte, wir hatten uns auf Tsukishima geeinigt.« »Tja, da sind durch den Siegesrausch wohl die Pferde mit mir durchgegangen. Ah, ich hätte gern Ushiwakas Gesicht gesehen, als du seinen Ball geblockt hast.« »Er sah aus, als würde er mich gern erwürgen.« »Wollte er wahrscheinlich wirklich. Aber es tut ihm auch mal ganz gut, ein wenig Bescheidenheit zu lernen.« »Das sagt ja der Richtige…« »Hey! Ich kann bescheiden sein!« Tsukishima schnaubte verächtlich und legte sein Handy beiseite. Dann dachte er daran, dass Karasuno bei den Nationals gegen Nekoma spielen würde. Er hätte nicht ungern seinen Kopf so lange gegen den Baum hinter ihn geschlagen, bis sein Herz aufhörte einen Trommelwirbel nach dem nächsten zu vollführen. Wann genau war das passiert? Zwischen all den beknackten und ausgesprochen dummen Witzen und den dämlichen Anekdoten hatte Tsukishimas Gehirn offenbar beschlossen eine Sicherung durchbrennen zu lassen, die ihn jetzt zu einem kompletten Vollidioten reduzierte. Seine erste Reaktion auf die SMS mit der Information darüber, worauf Kuroo stand, war gewesen kurz zu überlegen, ob er jemals in Erwägung ziehen würde, einen kurzen Rock anzuziehen. Da hätte er schon ahnen müssen, dass es mit ihm bergab ging. In seinem momentanen Zustand hätte es ihn nicht gewundert, wenn er kaum noch genervt von Hinata und seinem König gewesen wäre, aber Tsukishima stellte beim nächsten Training erleichtert fest, dass er soweit dann doch noch nicht gesunken war. Gefühle waren was für Leute wie Tanaka und Hinata. Tsukishima hatte damit eindeutig nichts am Hut. Er würde also einfach warten, bis dieser bedauerliche Zustand sich wieder gelegt hatte. Hoffentlich passierte es noch, bevor sie Nekoma bei den Nationals gegenüber traten. * Die Erleuchtung darüber, wer ihm den Erdbeerkuchen vor die Tür gestellt hatte, kam ihm, als er Hinata lautstark über Kenma reden hörte. Tsukishima passte Hinata ab, bevor dieser aus der Umkleidekabine direkt in ein Wettrennen mit Kageyama verfallen konnte und starrte abfällig auf den Gartenzwerg hinunter. Hinata sah sichtlich nervös aus. »Hast du einen Erdbeerkuchen vor meine Tür gestellt?«, fragte er. Wenn er falsch lag, wäre dies eine ausgesprochen bescheuerte Frage. Aber Hinata wurde prompt knallrot und es fehlte nur noch, dass ihm Rauchwölkchen aus den Ohren stoben. »W…wie kommst du denn darauf?« »Beantworte meine Frage!« »Selbst wenn, ist es jawohl nicht illegal!« Und mit einer seiner freakig-schnellen Bewegungen entwand sich Hinata dem Verhör und raste den Korridor entlang dem Ausgang entgegen. Tsukishima starrte ihm einen Augenblick lang nach und fragte sich, wie Menschen mit derartig hohem Adrenalinlevel zu jeder Tages- und Nachtzeit überhaupt älter als dreißig Jahre wurden. * »Weißt du noch, als ich dir erzählt hab, worauf ich stehe?« »Nein.« »Ach komm, du lügst doch, Kei-chan!« »Tsukishima!« »Ich nenn dich weiter Kei-chan, wenn du nicht zugibst, dass du dich daran erinnerst ;-)« Tsukishima brummte leise und starrte sein Display in der Dunkelheit seines Zimmers an. Er hatte schon vor einer halben Stunde das Licht ausgemacht, aber konnte nicht schlafen und Kuroos bescheuerte SMS halfen ihm nicht unbedingt dabei. Dummerweise hatte Tsukishima ein ziemlich gutes Gedächtnis. Er erinnerte sich an sehr viele Dinge und unnötig viele Details, die er eigentlich lieber vergessen würde. Wenn es nach ihm ginge, würde er viel häufiger Erlebnisse verdrängen, dann müsste er sich nicht vorm Schlafengehen damit in seinem Kopf herumschlagen. Tsukishima wog ab, was schlimmer war. Kei-chan von jemandem genannt zu werden, dem er eigentlich am liebsten den Kopf abreißen würde, oder aber zugeben zu müssen, dass er sehr wohl wusste, was Kuroo ihm einige Wochen zuvor per SMS geschickt hatte. Er drehte sich auf den Bauch und drückte sein Gesicht ins Kissen. Er dachte daran, wie er »Erdbeerkuchen scheint mir nicht egal zu sein.« getippt und nie abgeschickt hatte und daran, wie Yamaguchi aussah, wenn er an Yachi dachte. »Ugh.« Er drehte sich wieder auf den Rücken, griff nach seinem Handy und schrieb: »Ich werde auf keine SMS antworten, in der du mich Kei-chan nennst.« »Also gibst du zu, dass du dich daran erinnerst!« »Nein.« »Kei-chan, sei nicht albern! Wir wissen beide, dass du im Rock meinem absoluten Idealbild entsprichst ;-)« Tsukishima starrte die Nachricht an. Es vibrierte erneut. »Abgesehen davon, dass du ein bisschen kleiner sein könntest. Ich mag es, wenn Leute zu mir aufsehen müssen.« Tsukishima versuchte krampfhaft seine inneren Organe zu beruhigen, die einen wahnwitzigen Tango aufführten. »Bist du noch da?« »Hey, Kei-chan! Das ist der Moment in dem du zugibst, dass du mich auch unwiderstehlich heiß findest!« »Sei kein Spielverderber!« …dass du mich auch unwiderstehlich findest… Tsukishima presste auf den Aus-Knopf, warf das Handy quer durchs Zimmer und hörte, wie es mit einem dumpfen Wummern gegen seinen Schreibtischstuhl krachte und dann zu Boden fiel. Es dauerte noch anderthalb Stunden, bis er endlich eingeschlafen war. * Wer hätte je gedacht, dass das kleine Wort »auch« ihn jemals so aus der Fassung bringen würde. »Tsukki, ist alles in Ordnung? Du siehst ein bisschen blass aus.« »Halt die Klappe, Yamaguchi.« »Ok, sorry, Tsukki!« * Tsukishima war beinahe dankbar für das emotionale Chaos in seinem Innern, da es ihm gestattete, Kuroos SMS ganze vier Tage, neunzehn Stunden und siebenundzwanzig Minuten zu ignorieren. Nicht, dass das Kuroo davon abhalten würde, ihm weiterhin Nachrichten zu schreiben, aber Tsukishima konnte immerhin so tun, als wäre er wirklich erhaben über dieses beknackte Spiel, das Kuroo für einigen Wochen begonnen hatte. Die Nachrichten, die er geschickt bekam, waren wie üblich ein Mischmasch verschiedenster Dinge. »Yaku hat Lev gerade im Schwitzkasten und wenn du weißt, dass Yaku ungefähr halb so groß ist wie Lev, kannst du dir vorstellen, wie ulkig das aussieht.« Ein Foto wurde direkt hinterher geschickt. »Mir ist langweilig. Geschichte ist das schlimmste Fach der Welt.« »Glaubst du, Ushiwaka weint manchmal nachts in sein Kissen, weil er verloren hat?« »Wenn ich drei Wünsche frei hätte, würde ich mir dich in Schulmädchenuniform wünschen.« »Und vielleicht einige Millionen Yen.« »Aber vor allem die Uniform. An dir.« »Es ist noch ewig hin bis zu den Nationals, Brille-kun.« Tsukishima war sich nicht sicher, was er davon halten sollte, nun doch wieder Brille-kun von Kuroo genannt zu werden. Er hockte draußen im Garten und hörte Musik, als seine Mutter den Kopf aus dem Haus steckte und ihm winkend bedeutete, dass er seine Kopfhörer abnehmen sollte. »Du hast Besuch, Kei! Ich hab ihn schon mal nach oben geschickt. Wenn du willst, bringe ich euch was zu trinken nach oben!« Tsukishima starrte seiner zufrieden lächelnden Mutter nach. Erstens stimmte es ihn ungnädig, dass seine Mutter jedes Mal vor Begeisterung beinahe hyperventilierte, wenn er soziale Kontakte hegte. Zweitens hatte er keine Ahnung, wer ihn besuchen würde. Wenn es Yamaguchi wäre, hätte seine Mutter gesagt »Tadashi-kun ist da, Kei« und sie hätte Yamaguchi einfach die Getränke in die Hand gedrückt. »Wer…?«, fing er an, aber seine Mutter hörte ihn schon nicht mehr. Er schaltete seinen MP3-Player aus und rappelte sich auf. Während er die Treppen nach oben stieg, ging er im Kopf alle seine Mannschaftskameraden vom Volleyball und sämtliche Klassenkameraden durch, die ihn spontan besuchen würden, aber ihm fiel beim besten Willen niemand ein. Einen Augenblick lang dachte er, dass Hinata womöglich mit einem anderen Erdbeerkuchen vorbei gekommen war – ein absurder Gedanke, der allerdings sein Herz zum Stolpern brachte – aber wie es sich heraus stellte, war der Gast in seinem Zimmer weder Hinata, noch sonst jemand aus der Schule. Kuroo drehte sich zu ihm herum, als Tsukishima die Zimmertür hinter sich schloss. Er stopfte seine Hände in die Hosentaschen und starrte Kuroo an, dessen schwarzes Haar noch unordentlicher aussah, als Tsukishima es in Erinnerung hatte. Ein schiefes Grinsen breitete sich auf Kuroos Gesicht aus und Tsukishima ignorierte die Hitzewelle, die in ihm aufstieg. »Meine Güte, Kuroo-san«, sagte er mit einem höhnischen Schmunzeln und hob das Kinn, sodass er trotz des geringen Größenunterschieds auf Kuroo herab blicken konnte. »Mir war nicht klar, dass dein Sozialleben so erbärmlich ist, dass du den ganzen Weg aus Tokyo hier her kommst, um mit jemandem zu reden, der dich nicht leiden kann.« »Immerhin habe ich ein Sozialleben«, sagte Kuroo zwinkernd und schien sich kein bisschen an Tsukishimas Unfreundlichkeit zu stören. Tsukishima hasste es, wenn Leute sich kein bisschen von ihm provozieren ließen. Hinata und Tanaka und Kageyama waren sehr berechenbar. Kuroo hingegen musterte ihn nur von oben bis unten wie ein besonders spannendes Ausstellungsstück und Tsukishima schluckte. Nicht, dass er es jemals in seinem Leben zugeben würde, aber wenn er jemals verstanden hatte, was manche Menschen unter einem hormongesteuerten Teenager verstanden, dann war es in diesem Moment. Verfluchter Dreck. »Du hast nicht zufällig irgendwo die Schuluniform hier rumliegen, die ich bestellt habe, oder?«, erkundigte Kuroo sich interessiert und ließ tatsächlich neugierig seinen Blick durchs Zimmer schweifen, als hätte Tsukishima nichts Besseres in seinem Leben zu tun, als sich nach Kuroos Fetischen zu richten. In seiner Körpermitte kribbelte es. »Wieso sollte ich? Ich bin der letzte Mensch, der für deine krankhaften Neigungen zuständig ist«, sagte Tsukishima so herablassend wie möglich und stellte zufrieden fest, dass seine Stimme noch funktionierte. Kuroo lachte leise. »Ich bin beeindruckt. Wenn du dir das lange genug einredest, glaubst du’s vielleicht sogar«, entgegnete er mit einem breiten Grinsen und machte ein paar Schritte auf Tsukishima zu. Er würde nicht zurück weichen. Er würde jetzt auch definitiv nicht rot werden. Er würde nicht an kurze Röcke und Kuroos breite Schultern und das schiefe Grinsen denken und daran, dass Kuroo ihm einen verdammten Erdbeerkuchen vor die Tür hatte stellen lassen. Definitiv nicht. Warme, raue Finger schoben sich in Tsukishimas Nacken und ein diabolisches Schmunzeln machte sich auf Kuroos Gesicht breit, als Tsukishima zischend die Luft einsog und sich versteifte. Er schubste Kuroo nicht weg und er protestierte nicht, als ihre Gesichter sich gefährlich nahe kamen. So nah, dass Tsukishima Kuroos Atem auf seiner Haut spüren konnte. Fakt: Kuroo hatte ihn unter seine Fittiche genommen und indirekt eine bislang unbekannte Begeisterung für Volleyball in ihm geweckt. Fakt: Kuroo hatte sich unter erschwerten Bedingungen Tsukishimas Handynummer besorgt, um mit ihm Kontakt aufzunehmen. Fakt: Kuroo hatte Tsukishima deutlich gesagt, dass er auf ihn stand. Fakt: Kuroo hatte ihm einen Erdbeerkuchen geschenkt und er hatte nach mehreren Tagen Funkstille den sehr langen Weg von Tokyo hierher auf sich genommen, um mit Tsukishima zu reden. Lässiges Verhalten hin oder her, unter dem lauten Rauschen in Tsukishimas Gehirn wurde ihm nach der Betrachtung all dieser Fakten klar, dass Kuroo womöglich – so unwahrscheinlich und abgefahren es auch war – tatsächlich Interesse an ihm hatte. Tsukishima schluckte. Fakt: Kuroo Tetsuro küsste ihn auf den Mund. Sein Gehirn stolperte über all seine Gedanken und verknotete sich nutzlos, sodass es ihm vollkommen unmöglich war zu denken. Er gab ein Geräusch von sich, dass durchaus auch von einem sterbenden Vogel hätte stammen können und eine Gänsehaut kroch seine Unterarme und seinen Nacken hinauf, als Kuroo leicht gegen seine Lippen lachte. Finger vergruben sich in Tsukishimas Haar, eine Hand legte sich beinahe behutsam auf seine Hüfte und nachdem er einen Schritt rückwärts gemacht hatte, stieß er gegen die geschlossene Tür. Sein Körper fühlte sich an, als hätte man ihn unter Strom gesetzt. Fakt: Dies war Tsukishima Keis erster Kuss. Als Kuroo sich von ihm zurück zog, war Tsukishima sich nicht sicher, wie er am besten reagieren sollte. Ein Teil von ihm wollte einen gehässigen Kommentar über Kuroos Kussfertigkeiten machen, um sich davor zu bewahren zugeben zu müssen, dass es ihm gefallen hatte und er nichts gegen eine Wiederholung hatte. Aber seine Stimmbänder versagten ihm ihren Dienst und er räusperte sich lediglich, was selbst in seinen eigenen Ohren erbärmlich klang. Kuroo musterte ihn interessiert aus der Nähe und Tsukishima konnte förmlich sehen, wie er sich die beste Taktik für den weiteren Umgang mit Tsukishima überlegte. Tsukishima war beinahe gespannt darauf, zu welchem Ergebnis er kommen würde. Kuroo steckte seine Hände in die Hosentaschen und trat einen Schritt zurück, sodass Tsukishima wieder atmen konnte. Zu Tsukishimas Ärger sah Kuroo kein bisschen rot im Gesicht oder auch nur einen Hauch atemlos aus, wohingegen er vermutlich dieselbe Farbe angenommen hatte wie eine reife Tomate. »Ich hab noch drei Stunden Zeit bevor mein Zug zurück geht«, erklärte Kuroo mit schief gelegtem Kopf und einem halben Lächeln. Dann streckte er die Hand aus, pflückte Tsukishimas Kopfhörer von seinem Nacken und wedelte damit vor seinem Gesicht herum. »Ich hab gehört, dass man dich kaum jemals ohne diese Dinger sieht«, sagte er schmunzelnd. »Von wem hast du das gehört?« »Du weißt doch, ich hab meine Quellen«, sagte Kuroo geringschätzig und drückte Tsukishima die Kopfhörer in die Hand. Tsukishimas Gehirn hatte sich noch nicht wieder vollständig entknotet. »Aber es wäre zum Beispiel ideal, wenn ich aus erster Hand erfahren würde, was für Musik dauernd mit diesen Dingern gehört wird«, fuhr Kuroo fort und Tsukishima stand einen Augenblick da wie angewurzelt, während Kuroo sich beschwingt auf sein Bett fallen ließ und mit einem breiten Grinsen neben sich aufs Bett klopfte. »Tsk.« Tsukishima ging zum Bett hinüber, setzte sich neben Kuroo und kramte seinen MP3-Player hervor, um ihn einzuschalten. »Du bist für drei Stunden hergekommen, um dir meine Musik anzuhören?«, murmelte Tsukishima und reichte Kuroo die Kopfhörer. Nicht mal Yamaguchi hatte seine Kopfhörer jemals aufgesetzt. Kuroo lachte leise. »Nicht nur«, sagte er vage und Tsukishima ärgerte sich über sich selbst, weil er Neugier darüber verspürte, was in Kuroos Kopf vor sich ging. Aber dann setzte Kuroo seine Kopfhörer auf und Tsukishima hatte keine Gelegenheit mehr nachzufragen. Er startete das erste Lied und musterte Kuroo von der Seite, der mit geschlossenen Augen und diesem ätzenden halben Schmunzeln der Musik lauschte, die Tsukishima Tag ein und Tag aus hörte. Kuroo ließ sich nach hinten sinken und da Tsukishima den MP3-Player hielt und Kuroo die Kopfhörer trug, war er gezwungen es ihm nachzutun, damit das Kabel sich nicht löste. Seine Innereien veranstalteten schon wieder hektische Purzelbäume. Kuroo drehte den Kopf zur Seite und schaute ihn an. Fakt: Drei Stunden waren zu kurz und Tokyo war eindeutig zu weit entfernt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)