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Now You See Me

Thor & Loki
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Sam ist bi und niemand kann mich vom Gegenteil überzeugen. <3 Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Das Gedicht, das Steve rezitiert, heißt "The New Colossus" und wurde von der US-amerikanischen Dichterin Emma Lazarus verfasst. Es ist in dem Museum im Podest der Freiheitsstatue ausgestellt. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hab das Update gestern komplett vergessen, sorry!
Dafür geht's jetzt weiter. :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Der Vorfall, über den sich die Avengers hier am Anfang unterhalten, spielt auf eine meiner alten Avengers-FFs an. Ich konnte nicht widerstehen, ihn noch mal aufzugreifen. :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ein Wort zu meiner Verteidigung bezüglich dieses Kapitels:
Ich habe das Kapitel geschrieben, bevor "Captain Marvel" im Kino kam. Dementsprechend ist auch meine Darstellung der Skrulls geraten, die hier mehr auf ihrer Comic-Vorlage basiert, wo sie oft die Gegner der Avengers sind.
Man möge mir verzeihen. xD Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich vergesse am Mittwoch irgendwie immer das Update. Tut mir leid! D: Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Und damit wären wir durch. Vielen Dank fürs Lesen! :) Komplett anzeigen

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„Bist du dir sicher, dass du das tun willst, Bruder?“

„Sicher? Nein.“ Lokis Gesicht war blass, doch der Ausdruck darauf zeugte von Entschlossenheit. „Aber wenn es hilft, ihre Zweifel zu beseitigen, dann führt kein Weg daran vorbei.“

„Loki.“ Ein Gefühl von Wärme und Zuneigung erfüllte Thor, als er seinen Bruder ansah. Loki war so weit über sich und seine Ängste hinausgewachsen, seitdem sie das letzte Mal hier gewesen waren, dass es sein Herz vor Stolz anschwellen ließ. „Wenn du es nicht tun willst, dann gehen wir wieder. Ich bin mir sicher, sie werden es verstehen, wenn ich es ihnen erkläre...“

Doch Loki schüttelte nur den Kopf.

„Du hast schon genug für mich getan, Bruder“, erwiderte er. „Jetzt ist es an mir, etwas zu tun.“

Und mit diesen Worten hob er die Hand und klopfte an die Tür.

Beim dritten Schlag machte die Welt plötzlich einen Sprung, und sie standen im Zentrum der großen Eingangshalle. Thor hatte ein flaues Gefühl im Bauch, ähnlich wie beim letzten Mal, und ein Blick in Lokis Richtung bestätigte, dass auch sein Bruder die plötzliche Teleportation als unangenehm empfand.

„Thor“, begrüßte sie eine tiefe Stimme vom obersten Treppenabsatz. „Willkommen zurück in meinem bescheidenen Heim.“

Strange schritt langsam die Treppe hinunter. „Und Ihr habt Euren Bruder mitgebracht, wie ich sehe.“

„Das war die Abmachung“, entgegnete Loki kühl. „Tut, was Ihr tun müsst, damit wir diesen Ort wieder verlassen können.“

Strange hob als Antwort nur vielsagend eine Augenbraue, doch als er zu Thor hinübersah, zuckte dieser hilflos mit den Schultern.

„Er ist wirklich nicht gerne hier“, murmelte Thor. Es hatte ihn viel Geduld gekostet, seinen Bruder zu diesem Besuch zu überreden.

„Ich verstehe“, erwiderte Strange und rieb sich den Bart. „Dann kann ich mir die Gastfreundschaft dieses Mal wohl sparen.“

„Gastfreundschaft?“, fragte Loki spöttisch. „Es ist mir neu, dass es zur Gastfreundschaft gehört, seine Besucher eine halbe Ewigkeit durch absolute Leere fallen zu lassen.“

„Das waren andere Umstände“, entgegnete Strange ungerührt. „Dieses Mal habe ich sogar Plätzchen gebacken.“

„... was?“ Die Bemerkung schien Loki für einen Moment aus dem Konzept zu bringen, und auch Thor starrte den Zauberer überrascht an.

„Aber wie dem auch sei“, fuhr Strange fort, bevor er die letzte Stufe hinabstieg und auf Loki zutrat. „Dann machen wir es eben kurz.“

Er streckte die rechte Hand aus und legte Zeige- und Mittelfinger an Lokis Stirn.

Dieser zuckte bei dem Kontakt kurz zusammen, doch er beruhigte sich, als Thor nach seiner Hand griff und sie drückte.

Ich bin hier Bruder. Ich werde immer hier sein.

„Hmm...“, machte Strange nach einer Weile. Seine Augen waren geschlossen. „Ihr verfügt über großes, magisches Potential... aber es ist ungezähmt und ohne feste Struktur. Nur pures, reines... Chaos?“

Er öffnete die Augen und sah Loki abschätzend an.

„Seid Ihr sicher, dass Ihr Eure Magie zu jedem Zeitpunkt völlig unter Kontrolle habt?“

Loki starrte ihn an, als würde er an seinem Verstand zweifeln.

„Ich praktiziere seit 1500 Jahren Magie, natürlich kann ich sie kontrollieren!“, zischte er.

Die Luft um ihn herum begann gefährlich zu knistern, weshalb sich Thor schnell zwischen sie stellte.

„Ich bin mir sicher, es war nicht als Beleidigung an deinem Können gedacht, Bruder“, sagte er besänftigend und legte Loki eine Hand auf die Schulter.

Strange wandte sich ab.

„Mir scheint, die Stärke Eurer Magie ist an die Stärke Eurer Gefühle gekoppelt“, sagte er, dann machte die Welt erneut einen Sprung und sie standen plötzlich eine Etage höher vor einer antiken Kommode. „Solange Ihr Euer Gemüt nicht besser unter Kontrolle habt, wird Eure Magie immer eine Gefahr für Euch und Eure Umgebung darstellen.“

Er öffnete die oberste Schublade der Kommode und begann, darin herumzuwühlen.

„Das ist eine absolut unverschämte Unterstellung, wie könnt Ihr–!“, brauste Loki auf, bevor er von seinem Bruder unterbrochen wurde.

„Er hat nicht Unrecht“, sagte Thor und räusperte sich. „Die Sache mit Visions Bademantel letztens...“

„... war reiner Zufall!“, verteidigte sich Loki. „Was kann ich dafür, dass er so dicht am Kamin stand!“

„Und dann wären da noch Banners Sammeltassen...“

„Hat der Wind vom Tresen gefegt. Was kein Wunder war, das Fenster stand weit offen!“

„Das Schimpfwortglas voller Münzen?“

„Stand zu nah am Herd und hat sich erwärmt, früher oder später musste es ja zerspringen“, grummelte Loki.

„Und was ist mit der Mikrowelle, die jedes Mal ‚Last Christmas‘ spielt, wenn man sie öffnet, und das nachdem Stark mehrfach erwähnt hat, dass er sich aus dem nächsten Fenster stürzen wird, wenn er das Lied noch ein einziges Mal hören muss...?“

Loki verstummte plötzlich.

Ein kleines Lächeln trat auf seine Lippen, das jedoch sofort wieder verschwand.

„Okay, ja, das war ich“, gestand er zerknirscht.

Strange starrte abwechselnd vom einen zum anderen.

„Ja... absolut unter Kontrolle“, stellte er trocken fest.

Dann trat er plötzlich an Loki heran und ein leises Schnappen war zu hören.

„Was zum–!“, machte Loki und Thor machte besorgt einen Schritt auf ihn zu.

Wortlos hob sein Bruder den Arm. Um sein Handgelenk hatte sich ein kunstvoll verziertes, goldenes Armband geschlossen.

„Was. Bei den Nornen. Ist das.“ Lokis Blick bohrte sich in den von Strange.

„Ein magisches Artefakt, das Eure Magie im Zaum halten wird“, erklärte Strange.

„Bitte was?“ Loki zog ungeduldig an dem Armband, um es wieder aufzubiegen, doch ohne Erfolg. „Nehmt es mir wieder ab!“

„Ich befürchte, das ist nicht möglich“, erwiderte Strange gelassen.

Dann malte er ein kompliziertes Muster aus feurigen Linien in die Luft und berührte anschließend Thors Schulter. Die Linien schlängelten sich um Thors Arm zu seinem Handgelenk hinab, dann leuchteten sie auf einmal grell auf und waren verschwunden. Misstrauisch hob Thor seine Hand und inspizierte sie eingehend. Seine Haut prickelte immer noch von der Magie.

„Euer Bruder ist nun der einzige, der Euch das Armband wieder abnehmen kann“, fuhr Strange fort. „Ihr werdet es so lange tragen, bis er der Überzeugung ist, dass ihr keine Gefahr mehr für Eure Umgebung darstellt.“

Er wandte sich ab. „Bis dahin habt Ihr hoffentlich die eine oder andere Lektion in Selbstkontrolle gelernt. Und in Demut.“

„Wartet!“, rief Loki ihm nach, der nun offenbar begriff, dass er keine Wahl in dieser Sache hatte. „Heißt das, das Band unterdrückt sämtliche Magie, die ich wirke?“

„Ja.“

Loki zögerte einen Moment, und plötzlich trat ein angstvoller Ausdruck in seine Augen, den Thor nicht gleich zu deuten wusste.

„Und was ist mit Magie, die auf mir liegt, die jedoch ein anderer gewirkt hat...?“

Strange drehte sich stirnrunzelnd zu ihm herum.

„Wieso fragt Ihr?“

„Loki...“ Thors Stimme war leise, als er an ihn herantrat. „Bruder, was hast du...?“

Doch seine Frage wurde einen Moment später beantwortet, als Lokis blasse Haut plötzlich immer grauer wurde, bevor ihr Ton in ein dunkles Blau überging. Währenddessen wich das Grün seiner Augen einem blutigen Rot.

„Oh nein“, flüsterte er.

„Mach es ab.“

„Loki...“

„Ich meine es ernst, Thor, mach es ab!“

„Das kann ich nicht.“

„Kannst du es nicht oder willst du es nicht?“

„Du weiß, was ich meine, Loki...!“

Thor senkte seine Stimme, als sich ein paar Passanten verwundert nach ihnen umsahen.

Sein Bruder hatte den Kragen seines Wintermantels hochgeschlagen und seinen Schal fast bis zur Nase hochgeschoben, um sein blaues Gesicht zu verbergen, doch jeder, der mehr als einen flüchtigen Blick in seine Richtung warf, machte auf dem Absatz kehrt und suchte schleunigst das Weite.

„Das ist erniedrigend!“, sagte Loki zerknirscht. „Du weißt genau, dass ich diese Gestalt hasse! Wieso tust du mir das an? Macht es dich glücklich zu wissen, dass ich darunter leide?“

Thor wusste genau, dass Loki ihn nur zu manipulieren versuchte, und doch versetzte ihm die Bemerkung einen Stich.

„Dein Schmerz macht mich nicht glücklich, Bruder“, erwiderte er leise. „Das hat er noch nie getan.“

„Dann befreie mich von diesem Ding! Ich verspreche auch, dass ich mich nicht an dem Zauberer dafür rächen werde.“

Thor seufzte.

Er wusste, dass Loki keinen Moment lang locker lassen würde, bis er bekam, was er wollte. Und es war nicht so, als könnte Thor seinen Bruder nicht verstehen. Seine Magie nicht nutzen zu können, war für ihn schon schlimm genug, aber in der Gestalt einer der Alptraumfiguren ihrer Kindheit gefangen zu sein, war einfach nur unnötig grausam.

Und trotz der vielen kleineren und größeren Vorfälle, die es gegeben hatte, seitdem sein Bruder im Hauptquartier eingezogen war, empfand Thor Stranges Maßnahme als zu harsch.

Seufzend packte er seinen Bruder am Oberarm und bog mit ihm in die nächste Seitenstraße ein.

„Gib mir dein Handgelenk“, sagte er.

Offensichtlich erleichtert, dass Thor endlich ein Einsehen hatte, schob Loki den Stoff seines Ärmels zum Ellenbogen hoch und streckte die Hand aus.

Thor griff behutsam nach seinem Arm, um das goldene Band wieder zu lösen – und zog augenblicklich die Hand weg, als ein beißender Schmerz durch seine Finger fuhr, fast so, als hätte er sie verbrannt.

„Was zum–!“, stieß er hervor, während er seinen Bruder ansah, und schob die Hand unter seine Achsel, um sie zu wärmen. „Was war das?“

Loki starrte derweil auf seine Finger herab.

„Das war ich“, murmelte er und ballte die Hand zur Faust. Dann hob er den Blick und sag Thor an.

Ich habe dir wehgetan.“

Und in den vielen Jahrhunderten, die Thor ihn schon kannte, hatte er seinen Bruder noch nie so betroffen erlebt.

 

Das Armband ließ sich nicht lösen.

Nachdem der erste Versuch missglückt war, versuchte Thor es erneut, wobei er dieses Mal sorgfältig darauf achtete, nur den Armreif zu berühren. Doch egal, wie sehr er am Verschluss rüttelte, er schaffte es nicht, ihn zu öffnen.

„Ich verstehe nicht“, sagte er schließlich frustriert. „Strange sagte, nur ich wäre in der Lage, es zu öffnen.“

Loki, der seinen Versuchen mit steigender Resignation zugesehen hatte, war für eine Weile still. Dann lachte er auf einmal leise auf.

„Oh, Strange ist ein gerissener Mistkerl...“, meinte er kopfschüttelnd.

Thor warf ihm einen fragenden Blick zu.

„Er sagte nicht, dass du es einfach so öffnen kannst“, erklärte Loki. „Er sagte, dass du es erst dann öffnen wirst, sobald du der Meinung bist, dass ich keine Gefahr mehr darstelle.“

Seine roten Augen richteten sich auf Thor.

„Und du hältst mich offenbar noch immer für eine Bedrohung, Bruder.“

„Loki, nein, das ist nicht wahr...!“, protestierte Thor.

Doch er konnte nicht leugnen, dass an seinen Worten etwas dran war. Von dem Tag an, an dem Wanda und er Loki zurückgeholt hatten, gab es Reibereien zwischen seinem Bruder und den Avengers. Loki hatte mehrfach klargestellt, dass er nur blieb, weil Thor da war, und er nicht wusste, wohin er sonst gehen sollte. Ernsthafte Annäherungsversuche von seiner Seite aus hatte es bisher jedoch nicht gegeben. Nicht wirklich. Und wann immer ihm jemand näher kam, als ihm lieb war, setzte er sich zur Wehr. Dies äußerte sich dann entweder durch kleine „Unfälle“ und magische Streiche oder durch Lokis scharfzüngige Kommentare.

Sein Bruder mochte keine Gefahr mehr für diese Welt darstellen, aber er war definitiv eine Gefahr für jeden, der ihn für längere Zeit ertragen musste.

Während sie ihren Weg schweigend die 5th Avenue hinunter fortsetzten, begannen große, dicke Schneeflocken vom Himmel zu fallen.

Loki blieb nach einer Weile stehen und schloss die Augen, während er das Gesicht seufzend dem kalten Wind zuwandte, als wäre es eine kühlende Sommerbrise. Der Schnee verfing sich in seinen Haaren und Wimpern und bedeckte sie mit einem weißen Schleier. Erstaunt bemerkte Thor, dass die Schneeflocken auch auf Lokis Haut nicht schmolzen, sondern sich an seinen Wangenknochen, seiner Nasenspitze und seiner Oberlippe sammelten. Schließlich öffnete Loki wieder die Augen und wischte sich mit der Hand irritiert den Schnee vom Gesicht, bevor er Thor einen Blick zuwarf, als würde er ihn persönlich dafür verantwortlich machen.

„Lass uns gehen“, grummelte er und stapfte weiter, und Thor folgte ihm eilig.

 

Als sie das Hauptquartier schließlich erreicht hatten, entledigte sich Loki seiner Kleidung, bis er nur noch in Shorts und einem dünnen Shirt auf der Couch saß. Er sah elendig aus und hatte sich auf dem Rückweg mehrfach über die Hitze beklagt, trotz des Schneesturms, der mittlerweile draußen tobte. Sein Körper schien sich immer mehr auf die Bedürfnisse eines Eisriesen einzupegeln, und Thor, der nicht wusste, wie er seinen Bruder dabei unterstützen sollte, war einigermaßen hilflos.

Gefrorene Dinge schienen Lokis Hitzewallungen jedoch zu lindern, und als schließlich die anderen Mitglieder des Teams nach und nach im Hauptquartier eintrafen, verschlang er bereits seine vierte Portion Eiswürfel, so wie andere Menschen Popcorn aßen.

„Okay“, sagte Tony, nachdem er Loki geschlagene zehn Sekunden lang angestarrt hatte. „Was ist das und was tut es auf meinem Sofa?“

Loki griff wortlos nach der Fernbedienung, die neben ihm auf dem Polster lag, und warf sie nach dem anderen Mann.

„Hey, autsch!“, rief Tony und rieb sich den Arm.

„Ich bitte um Nachsehen, Stark, mein Bruder hatte einen schweren Tag und ist gerade nicht der besten Laune“, sagte Thor entschuldigend.

„Dein Bru– ... Moment, soll das heißen, das ist Loki?“, fragte Tony und musterte den anderen Mann noch einmal genauer. „Aber er ist blau!“

„Ich habe immer noch zwei Hausschuhe, die ich nach dir werfen kann, Stark“, warnte Loki ihn vom Sofa aus.

„Hi Thor“, ertönte in diesem Moment die Stimme von Natasha, die gemeinsam mit Bruce und Rhodey in das Wohnzimmer trat. „Wie war der Besuch bei Strange?“

„Bezaubernd“, sagte Loki trocken, dem die Situation langsam zu viel wurde, wie Thor besorgt erkannte, dem die wachsende Anspannung seines Bruders nicht entging.

„Loki?“, fragte Bruce verwundert, als er die Stimme erkannte, während Natasha beim Anblick der blauen Gestalt einen leisen Fluch auf Russisch ausstieß. „Bist du das?“

Er runzelte die Stirn.

„Warum hast du so wenig an?“

„Vorsichtig“, warnte Tony. „Er hat Hausschuhe und wird nicht zögern, sie gegen uns zu verwenden.“

Das schien das Fass endgültig zum Überlaufen zu bringen. Loki erhob sich ruckartig vom Sofa.

„Entschuldigt mich bitte“, sagte er mit eisiger Stimme, bevor er sich abwandte und den Raum verließ.

Thor sah ihm betrübt nach.

„Was ist sein Problem?“, fragte Rhodey und verschränkte die Arme vor der Brust.

Tony zuckte mit den Schultern. „Ich nehme an, er ist nicht so begeistert davon, dass Strange ihn in einen Schlumpf verwandelt hat.“

„Vermutlich.“ Bruce warf Thor einen fragenden Blick zu. „Was hat es damit auf sich?“

Thor sah sie nacheinander an, dann ließ er sich schwerfällig in einen der Sessel sinken und stieß ein Seufzen aus. Es war an der Zeit, ihnen die Wahrheit zu sagen.

„Erinnert ihr euch noch daran, wie ich einst erwähnte, mein Bruder wäre adoptiert...?“, begann er.

„Mein Vater hat Loki und mich von Anfang an immer gleich behandelt“, erzählte Thor, nachdem sie sich alle um den Wohnzimmertisch herum niedergelassen hatten. Mittlerweile hatten sich auch Steve und Sam dazugesellt und verfolgten ebenfalls aufmerksam seine Geschichte.

„Wir wuchsen als Brüder auf, in dem sicheren Wissen, dass einer von uns eines Tages auf dem Thron sitzen würde“, fuhr Thor fort. „Oft haben wir ganze Nächte lang wachgelegen und darüber gerätselt, wer von uns wohl das Erbe des Allvaters antreten würde. Doch was keiner von uns beiden damals ahnte, war, dass Odin zu keinem Zeitpunkt jemals vorhatte, Loki zum König zu machen.“

„Warum?“, fragte Bruce. „Wenn ihr doch beide gleichermaßen dafür qualifiziert wart?“

„Weil mein Bruder kein gebürtiger Ase ist, sondern ein Frostriese“, entgegnete Thor.

„Ein was?“, fragte Tony.

„Ein Frostriese“, wiederholte Thor geduldig. „Ein Angehöriger der dominanten Spezies von Jotunheim, eine der neun Welten, die Asgard geschworen hatte zu beschützen – und eine Welt, gegen die mein Vater lange Krieg geführt hatte. Loki wurde als Sohn des Königs der Frostriesen geboren, doch seine Familie setzte ihn kurz nach seiner Geburt aus und überließ ihn dem sicheren Tod. Mein Vater fand ihn wenig später und hatte Mitleid mit ihm, weshalb er das Baby mit nach Asgard nahm. Dabei legte er einen Zauber auf Loki, der bis zum heutigen Tag auf ihm ruht und ihn wie einen der unseren erscheinen lässt.“

Er hielt inne. „Oder vielmehr ließ, bis Strange versehentlich den Zauber deaktivierte, wodurch mein Bruder in seine Frostriesengestalt zurückverwandelt wurde.“

„In der er offenbar feststeckt“, stellte Tony fest.

Thor nickte.

„Mein Bruder hasst seine wahre Gestalt; sie erinnert ihn an all die Schauermärchen über die Frostriesen, mit denen wir als Kinder aufgewachsen sind. In ihr gefangen zu sein, bereitet ihm unerträgliche Pein.“

„Ist dein Vater denn nie auf die Idee gekommen, Loki zu sagen, wer er wirklich ist?“, fragte Natasha.

„Nein“, sagte Thor leise. „Und bis zu seinem Tode war dies eines der Dinge, die er am meisten bedauert hat. Er hätte Loki – und Asgard – viel Leid ersparen können, wäre er ehrlich zu ihm gewesen. Doch seine Einsicht kam leider zu spät; zu diesem Zeitpunkt war mein Bruder längst verloren.“

Für eine Weile herrschte Stille, als die Anwesenden diese neuen Informationen verarbeiteten.

Schließlich war es Tony, der das Schweigen durchbrach.

„Okay, also wenn ich das richtig verstanden habe, stammt Loki aus einer Art von Eiswelt.“

Thor nickte.

Tony warf Bruce einen fragenden Blick zu. Dieser runzelte erst nachdenklich die Stirn, doch dann erhellte sich sein Blick und er nickte.

„Okay“, sagte Steve, dem ihr Blickwechsel nicht entgangen war. „Spuckt es aus. Was habt ihr vor?“

Tony erhob sich. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass er es nicht verdient hat, aber ich denke, Bruce und ich können etwas tun, um Lokis... Zustand erträglicher zu machen. Was ihn dann wiederum für uns erträglicher macht.“

Thor sah überrascht vom einen zum anderen.

„Das würdet ihr tatsächlich tun?“

„Wenn es deinen Bruder in Zukunft davon abhält, meine Frühstücksflocken in Maden zu verwandeln, dann gerne“, erwiderte Bruce mit schiefem Grinsen und erhob sich ebenfalls, um Tony ins Labor zu folgen.

Ah, stimmt. Da war noch etwas...

Thor hatte ihnen bislang verschwiegen, dass Loki nicht länger seine Magie wirken konnte. Doch er hielt es für das Beste, dieses Detail vorerst für sich zu behalten.

„Vielen Dank, meine Freunde“, rief er stattdessen den beiden Männern nach, als sie den Raum verließen.

Während sich die Runde wieder auflöste und Natasha und Sam sich daran machten, das Abendessen zu kochen, trat Steve auf Thor zu.

„Danke, dass du diese Geschichte mit uns geteilt hast“, sagte er. „Sie entschuldigt nichts von dem, was dein Bruder getan hat, doch ich glaube, ich verstehe ihn nun etwas besser, als zuvor.“

Thor nickte kurz; es bedeutete ihm viel, diese Worte zu hören.

„Danke“, sagte er mit rauer Stimme.

Und plötzlich wusste er, dass sie diese Sache schon irgendwie überstehen würden.

 

Thor stand vor Lokis Zimmertür und haderte mehrere Minuten lang mit sich selbst, bevor er schließlich den Mut fand, einzutreten.

Kaum hatte er jedoch einen Fuß in den Raum gesetzt, stand er bis zu den Waden in Schnee.

Die Fenster waren weit geöffnet und eine eisige Brise drang in das Zimmer, die weitere Schneeflocken mit sich brachte. Der Großteil der Möbel war bereits unter einer dicken, weißen Decke begraben, darunter auch das Bett. Von Loki fehlte dabei jede Spur. Thor stieß besorgt die Tür zum Bad auf, doch auch dort fand er ihn nicht vor.

Verzweifelt sah sich Thor im Raum um, in der Hoffnung, einen Hinweis auf den Verbleib seines Bruders zu finden... bis ihm der seltsam unregelmäßig geformte Schneehügel auf dem Bett auffiel.

Für einen Moment schien sein Herz stillzustehen.

„Loki!“

Thor trat mit schnell Schritten auf das Bett zu und begann, mit seinen Händen den Schnee wegzuschaufeln. Schon nach wenigen Momenten kam der dunkle, mit verschlungenen Linien bedeckte Körper seines Bruders zum Vorschein.

Thor holte ein Handtuch aus dem Bad, um nicht versehentlich in Kontakt mit der eiskalten Haut zu geraten, während er den restlichen Schnee von Loki entfernte. Als er schließlich sein Gesicht freilegte, stellte er zu seiner großen Erleichterung fest, dass sein Bruder tief und fest schlief, ohne sich dabei an der eisigen Kälte im Zimmer zu stören. Bis auf seine Shorts war er völlig nackt, und auch seine Decke lag vergessen neben dem Bett.

„Oh, Loki...“, sagte Thor leise.

Er ging zum Fenster hinüber, um es zu schließen, bevor er sich neben seinem Bruder auf die schneebedeckte Matratze setzte und ihn sacht an der Schulter rüttelte.

Es dauerte einen Moment, doch schließlich öffnete Loki langsam die Augen.

„Was ist los?“, fragte er gähnend. „Ich habe das erste Mal seit Monaten wieder gut geschlafen...“

Thor machte wortlos eine Geste, die das ganze Zimmer einschloss, und Loki stemmte sich hoch, um sich umzusehen.

„... oh“, machte er dann, sichtlich überrascht von der Menge an Schnee. „Ich hatte keine Ahnung... Ich wollte nur kurz lüften, weil ich die Hitze hier drin nicht mehr ausgehalten habe.“

„Ich verstehe“, sagte Thor, und auf gewisse Weise tat er das tatsächlich. „Aber ich musste dich wecken. Wir wissen so gut wie nichts über Frostriesen und ich möchte nicht austesten, ob dein Körper es verkraftet, unter einem Meter Schnee zu schlafen, ohne dabei zu ersticken.“

„Warum nicht?“, fragte Loki und stieß ein bitteres Lachen aus. „Was habe ich schon noch zu verlieren...?“

Die Bemerkung traf Thor schwerer, als er gedacht hätte, und er hielt einen Moment inne, um sich wieder zu sammeln.

„Vielleicht hast du nicht viel zu verlieren“, erwiderte er dann mit rauer Stimme. „Aber ich schon. Eine Menge sogar.“

Ich weiß nicht, ob ich deinen Verlust ein weiteres Mal ertragen könnte, Bruder.

„... Thor.“ Loki senkte den Blick, als wurde ihm jetzt erst klar, was er gesagt hatte. „Ich... Ich wollte nicht...“

„Ich weiß, Loki“, sagte Thor leise. Er fühlte sich mit einem Mal sehr müde. „Ich weiß.“

Schwerfällig stand er auf und sah sich im Raum um.

„Der Schnee wird bis zum Morgen geschmolzen sein“, meinte er dann. „Vielleicht wäre es besser, wenn du in der Badewanne schläfst. Wenn du das Wasser zu Eis gefrierst, bleibst du weiterhin kalt und gerätst außerdem nicht in Gefahr, zu ertrinken.“

„Hmm.“ Loki dachte über diesen Vorschlag nach. „Das ist gar keine schlechte Idee.“

Thor lächelte schwach. „Manchmal habe selbst ich gute Ideen.“

„Bisweilen, ja“, erwiderte Loki spöttisch, doch es war keine Schärfe in seiner Stimme.

Thor wandte sich zum Gehen.

„Wenn du sonst noch etwas brauchst, lass es mich wissen, Bruder“, sagte er. „Ich kann leider nichts an deinem Zustand ändern, aber ich will versuchen, dein Leiden zu lindern, wo ich kann.“

Loki nickte.

„Danke“, entgegnete er so leise, dass Thor es fast nicht gehört hätte.

Und es kam so selten vor, dass Loki sich bei ihm bedankte und es ehrlich meinte, dass Thor für einen Moment überrascht innehielt.

Doch bevor er etwas sagen konnte, war sein Bruder bereits aufgestanden und hatte sich ins Bad zurückgezogen.

Thor sah ihm einen Augenblick lang nach, dann wandte er sich ab und ging.

In den nächsten Tagen machte sich Loki sichtlich eine Freude daraus, die Avengers mit seiner neuen Gestalt und seiner Nacktheit zu schockieren. Zu mehr als einer kurzen Hose und Flip-Flops konnte Thor ihn nicht überreden, und wann immer einer von den anderen Teammitgliedern Loki erblickte, wandte er peinlich berührt die Augen ab.

Die einzigen, die sich davon nicht beeindrucken ließen, waren Steve und Natasha, die Loki nicht anders behandelten als sonst, sowie Sam, dessen Augen jedes Mal an seinem Bruder klebten, wann immer er ihm begegnete.

„Was?“, fragte Sam und zuckte mit den Schultern, als Thor ihn einmal mehr beim Starren erwischte. „Er ist ein attraktiver Mann.“

Thor war so fassungslos, dass ihm für einen Moment keine Antwort einfiel.

Loki war sein Bruder, er wäre deshalb nie auf die Idee gekommen, ihn als Person mit sexuellen Interessen und Neigungen zu betrachten, geschweige denn als jemanden, der auf andere attraktiv wirkte.

„Loki ist ein Prinz von Asgard...!“, erwiderte er lahm. „Es geziemt sich nicht, so über ihn zu sprechen.“

„Mag sein“, meinte Sam und zuckte mit den Schultern. „Würde mich trotzdem interessieren, ob er Single ist.“

Loki, der lang ausgestreckt auf dem Sofa lag und ein Buch las, hob derweil amüsiert eine Augenbraue, und Thor wurde plötzlich klar, dass er sie gehört haben musste.

„Wenn du nicht willst, dass dein bestes Stück erfriert und abfällt, dann solltest du nicht mal im Traum daran denken“, sagte Loki süffisant.

Doch Sam ließ sich davon nicht einschüchtern, sondern nahm es mit Humor und lachte nur. „Schade. Aber einen Versuch war es wert.“

Dann ging er wieder und ließ Thor mit Antworten auf Fragen zurück, die er nie, niemals hatte hören wollen.

 

Essen wurde zu einem weiteren Problem.

Die Geschmackswahrnehmung eines Frostriesen schien sich grundlegend von der anderer Spezies zu unterscheiden, und egal, was ihm auch für Gerichte angeboten wurden, Loki lehnte alles davon ab.

„Es schmeckt wie Asche in meinem Mund“, beklagte er sich bei Thor und hielt sich den knurrenden Bauch. „Wenn ich nicht bald etwas esse, verhungere ich noch!“

„Hast du es mit gefrorenem Essen versucht?“, fragte Bruce, bevor er die Kühltruhe öffnete und einen Beutel mit Shrimps herausholte. „Es ist vermutlich nichts im Vergleich zu dem, was Frostriesen normalerweise essen, aber es ist immer noch besser als gar nichts.“

Loki warf ihm einen skeptischen Blick zu, doch dann griff er nach der Tüte und riss sie auf.

„Wie tief ich doch gesunken bin“, murmelte er, als er eine der gefrorenen Garnelen nahm und sie misstrauisch inspizierte, bevor er hineinbiss.

Thor sah seinen Bruder gespannt an, während dieser mit skeptischer Miene kaute. Doch je länger er kaute, desto mehr erhellte sich Lokis Blick.

„Es... ist nicht völlig furchtbar“, gestand er nach einer Weile und schluckte das letzte Stück hinunter, bevor er die nächste Garnele nahm. Während er hineinbiss, warf er einen beiläufigen Blick in die Kühltruhe. „Habt ihr auch rohen Fisch?“

 

„Irgendwie seltsam, ihn so zu sehen“, murmelte Peter. Er saß neben Thor auf der Couch und sah dabei zu Loki hinüber, der am anderen Ende des Raumes neben einem offenen Fenster an der Wand lehnte und jedem, der ihm zu nahe kam, einen giftigen Blick zuwarf.

Sie feierten Banners fünfzigsten Geburtstag – „Was soll das heißen, du hattest noch nie eine Geburtstagsparty?“, hatte Tony mit entsetzter Miene gefragt und die Vorbereitungen anschließend persönlich beaufsichtigt – und das Hauptquartier hatte sich an diesem Abend mit zahlreichen kunterbunten Gestalten gefüllt.

Peter gehörte zu der Handvoll, die Thor vertraut waren, und als der Teenager nervös fragte, ob er sich neben ihn setzen konnte, hieß Thor ihn mit einem warmen Lächeln willkommen.

„Inwiefern seltsam?“, fragte Thor nun und nahm einen Schluck aus seinem Bierglas.

Peter zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß nicht“, entgegnete er. „Er ist... nur ein Mann? Es ist einfach schwer vorstellbar, dass er derjenige ist, der damals all das Chaos in New York angerichtet hat.“

„Mmh“, machte Thor nur. Es war ein Thema, über das er nur ungern sprach, und dass Peter es ausgerechnet an diesem Abend erwähnen musste, verpasste seiner guten Laune einen Dämpfer.

Doch dann fiel ihm plötzlich ein, dass Peter gute Gründe dafür hatte und dass seine letzte Berührung mit Loki die Schlacht in New York vor sieben Jahren gewesen sein musste, die er damals als Kind vermutlich hautnah miterlebt hatte, und Thor bekam für einen Moment ein schlechtes Gewissen.

Er stellte sein Bierglas beiseite und wandte sich dann Peter zu.

„Ich verstehe, dass es dir nicht leicht fällt, ihn anzusehen, aber mein Bruder ist nicht mehr dieselbe Person wie damals“, versicherte er dem jungen Mann. „Dieses Mal hat er mich... und ich werde dafür sorgen, dass ihn die Dunkelheit nicht erneut übermannt. Du hast mein Wort.“

Peter starrte ihn an.

„Oh... okay“, sagte er vorsichtig und Thor klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.

Dann stand er auf, um sich zu Loki zu gesellen.

„Du siehst gelangweilt aus, Bruder“, sagte er und lächelte. „Sind die Feierlichkeiten nicht nach deinem Geschmack?“

„Dieses ganze Fest ist eine einzige Farce“, gab Loki genervt zurück. „Ich frage mich, was ich hier soll.“

Und Thor konnte es ihm nicht einmal verübeln. Er sah sich um. Peter war aufgestanden, um sich nach einem neuen Gesprächspartner umzusehen, und im Moment schenkte ihnen niemand weiter Beachtung.

„Lass uns gehen“, schlug er vor, einem plötzlichen Impuls folgend.

„Was?“ Loki sah ihn überrascht an. „Ich dachte, du wolltest mit deinen Freunden feiern.“

Er spuckte das Wort aus, als wäre es eine Beleidigung für seinen Gaumen.

„Dafür ist auch ein andermal noch Gelegenheit“, winkte Thor ab.

„Sag nicht, du tust es aus Mitleid mit mir“, warnte ihn Loki, während sie auf den Ausgang zusteuerten.

„Das würde mir im Traum nicht einfallen“, sagte Thor heiter und hielt seinem Bruder die Tür auf.

Loki warf ihm einen langen und prüfenden Blick zu, doch schließlich akzeptierte er die Einladung und ging voran.

Sie verbrachten den Rest des Abends in Lokis Zimmer, wo sie sich bei offenem Fenster und im silbernen Licht des Vollmondes über die gemeinsamen Abenteuer ihrer Jugend unterhielten, und als Thor sah, wie Lokis Schultern sich nach und nach wieder entspannten und das Funkeln in seine Augen zurückkehrte, wusste er, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.

 

„Wie geht es deinem Bruder?“, fragte Wanda ein paar Tage später, als Thor sie in der Küche traf, wo sie sich gerade eine heiße Schokolade machte.

Es war ein klarer, sonniger Wintermorgen und das Thermometer zeigte minus elf Grad an.

Für Loki also das perfekte Wetter, um sich mit einer Sonnenbrille auf die Terrasse zu legen und zu schlafen.

Thor warf seinem Bruder aus dem Fenster einen Blick zu.

„Loki... passt sich allmählich an“, sagte er. Anders konnte man es nicht bezeichnen.

Wanda nickte verstehend.

„Aber er ist nicht glücklich hier“, stellte sie fest.

Die Bemerkung entlockte Thor ein spontanes Lachen. Wie oft hatte er in den letzten Wochen dasselbe gedacht.

„Verzeih“, entgegnete er. „Es ist nur lange her, dass Loki an irgendeinem Ort glücklich war. Ich glaube, er hat vergessen, wie es sich anfühlt.“

Wanda nahm ihre Tasse in die Hände und trank einen kleinen Schluck daraus, während sie nachdenklich aus dem Fenster sah.

„Ich glaube, sobald er erst einmal wirklich bei uns angekommen ist, wird er es wieder lernen“, sagte sie. „Dein Bruder hat viel durchgemacht. Er braucht einfach Zeit.“

Thor hoffte, dass sie Recht hatte.

 

Zeit war die eine Sache. Was Loki außerdem brauchte, war eine Aufgabe.

Bisher hatte er seine Zeit vor allem damit zugebracht, die Bibliothek zu plündern oder in der Abwesenheit der restlichen Avengers das Servicepersonal heimzusuchen, wie ein rachsüchtiger Hausgeist.

Was ihm jedoch fehlte, war eine sinnvolle Beschäftigung.

„Wir können ihn nicht einfach mitnehmen“, sagte Tony und verschränkte die Arme vor der Brust, als Thor ihm und Steve den Vorschlag unterbreitete, seinen Bruder bei der nächsten Mission mit einzubeziehen. „Es ist schwer genug, der Öffentlichkeit zu verheimlichen, dass Loki hier ist. Ich musste dem neuen Außenminister praktisch beide Arme und eine Niere versprechen, damit er seine Anwesenheit genehmigt.“

„Ich bezweifle, dass irgendjemand meinen Bruder in seiner jetzigen Gestalt erkennen wird“, wandte Thor ein. „Wir könnten ihn den Bewohnern Midgards als neues Mitglied der Avengers vorstellen.“

„Hah!“ Tony lachte auf. „Nur über meine Leiche.“

„Tony.“ Zur Thors Überraschung und Dankbarkeit war es Steve, der dem anderen ins Gewissen redete. „Thor hat Recht. Du beklagst dich seit Wochen darüber, wie viele Nerven es dich kostet, Loki hier zu haben, aber auf der anderen Seite bieten wir ihm auch keinen Raum, der es ihm ermöglicht, seinen Platz bei uns zu finden.“

Tony seufzte. „Steve...“

„Wir wussten, dass dies ein Problem sein würde, als wir ihn zurückgebracht haben“, fuhr der andere Mann ruhig fort. „Wir wussten es und haben nichts getan. Stattdessen haben wir Thor viel zu lange damit allein gelassen. Es wird Zeit, dass sich das ändert.“

Er richtete den Blick auf Thor.

„Und ich glaube, ich weiß auch schon, wo wir anfangen.“

„Was ist das?“

Loki sah misstrauisch auf das in braunem Papier eingewickelte Päckchen herab, das Banner ihm hinhielt.

„Ein Geschenk“, erklärte der andere Mann und drückte es ihm in die Hände. „Von Tony und mir.“

„Ein Geschenk“, wiederholte Loki und hob eine Augenbraue. „Für mich?“

Banner kratzte sich im Nacken. „Ein Friedensangebot, könnte man sagen. Als Entschuldigung für die Dinge, die wir in letzter Zeit zu dir gesagt haben.“

„Ist das so.“

Lokis Misstrauen blieb bestehen, aber Banners Worte besänftigten ihn etwas. Dass selbst Stark seinen Stolz hinuntergeschluckt hatte, um einen Schritt auf ihn zuzumachen, war seltsam befriedigend.

Er ließ sich mit untergeschlagenen Beinen auf einem Sessel nieder und riss das Papier auf. Darunter kam silbergrauer Stoff zum Vorschein.

„Ein neues Gewand?“, fragte er trocken. „Meine Freude ist grenzenlos.“

Er hielt es in die Höhe. Dabei fiel ein Paar Handschuhe aus demselben Material in seinen Schoß.

„Es ist ein Overall“, erklärte Banner und rückte seine Brille zurecht. „Wir haben ihn speziell für dich angefertigt. Er erhält deine Körpertemperatur aufrecht und sorgt dafür, dass keine Umgebungswärme zu dir durchdringt. Gleichzeitig sorgen die Nanokristalle im Anzug dafür, dass der Stoff selbst bei sehr kalten Temperaturen flexibel bleibt und nicht bricht.“

Loki runzelte die Stirn, während er den Schilderungen folgte.

„Also ist es eine Art... Schutzhülle“, stellte er fest.

„Sozusagen“, erwiderte Banner. „Und das Beste daran ist: du kannst darüber auch wieder normale Kleidung tragen, ohne dass sie dich zusätzlich aufheizt.“

„Ich verstehe.“ Loki ließ den Stoff wieder sinken. „Das ist... unerwartet aufmerksam von euch.“

Sein Blick durchbohrte Banner. „Wo ist der Haken?“

Der andere Mann kämmte sich seufzend mit den Fingern durch die Haare.

„Es gibt keinen Haken, Loki“, entgegnete er. „Hör zu, seit deiner Rückkehr ist einiges schief gelaufen, das ist uns nun klar geworden. Wir hatten einen holprigen Start und hoffen, dass du uns noch eine zweite Chance gibst. Das ist alles.“

Und plötzlich überraschte es Loki nicht mehr, dass Banner allein gekommen war und nicht in Begleitung von Stark. Stark wäre nie in der Lage gewesen, sich zu diesen Worten herabzulassen.

Eine entsprechende Erwiderung lag ihm auf der Zunge, doch als er Banners hoffnungsvollen Blick sah, schluckte er sie wieder hinunter. Vielleicht lag es an Thors unermüdlichen Predigten oder daran, dass er zu viel Zeit eingepfercht mit diesen Leuten verbracht hatte, aber ihm fehlte plötzlich die Energie, sich wegen dieser Sache mit Banner anzulegen.

„In Ordnung“, entgegnete er und nickte dem anderen Mann knapp zu. „Ihr bekommt eure Chance.  – Nutzt sie gut.“

Banner machte ein erleichtertes Gesicht.

„Das ist schon mehr, als wir gehofft hatten“, sagte er. „Danke!“

Er wandte sich ab.

„Wenn du fertig bist, erwartet dich Steve in der Eingangshalle“, teilte er Loki beiläufig mit. „Er wird dir alles Weitere erklären.“

Loki starrte ihn an.

„... was?“

Doch Banner war schon gegangen und Loki verfluchte alle ihm bekannten Götter dafür, dass er an diesem Tag einen Fuß vor die Tür seines Zimmers gesetzt hatte.

 

Loki hatte es mehr vermisst, wieder normale Kleidung tragen zu können, als er gedacht hätte.

Der Overall und die Handschuhe, die Stark und Banner entwickelt hatten, passten wie angegossen, und mit jedem Kleidungsstück, das er darüber anzog, fühlte Loki sein Selbstwertgefühl zurückkehren, als würde er eine Rüstung anlegen, die ihn vor der Außenwelt schützte.

Er entschied sich für einen dreiteiligen, schwarzen Anzug mit hohem Kragen, der zwar nicht von der Farbe seiner Haut ablenken würde, aber ihn zumindest nicht mehr wie ein barbarisches Monster aussehen ließ. Seltsam, wie ihm etwas so simples wie Kleidung in den letzten Wochen gefehlt hatte.

Als er schließlich fertig war, begab er sich in die Eingangshalle, wenn auch weniger aus Pflichtgefühl – ihm konnte nicht egaler sein, was der Captain vorhatte – als aus Neugier.

Und wie Banner versprochen hatte, wartete Rogers dort auf ihn.

Er war gerade in ein Gespräch mit einer rothaarigen Frau vertieft, die Loki schon öfters gesehen hatte, deren Name ihm jedoch nicht bekannt war, hauptsächlich, weil er sich nicht wirklich dafür interessierte. Als sie Loki erblickte, legte sich ein resignierter Ausdruck auf ihr Gesicht, als wäre er nur eines von vielen Problemen auf einer unendlich langen Liste von Problemen, die ihr Kopfschmerzen bereiteten.

Sie verabschiedete sich von Rogers, bevor sie sich abwandte und in die entgegengesetzte Richtung verschwand.

„Ah, Loki“, sagte Rogers, als er ihn erblickte. „Du bist gekommen.“

„Ich hatte nicht viel Besseres zu tun“, erwiderte Loki kühl und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was willst du von mir?“

Rogers nickte nur, als hätte er mit dieser Frage gerechnet.

„Komm mit“, sagte er. „Ich möchte dir etwas zeigen.“

Loki stieß ein leises Schnauben aus. Doch seine Neugier war stärker und so folgte er Rogers in Richtung Ausgang. Der Mann hatte etwas an sich, das es unmöglich machte, ihm zu misstrauen. Er war so gutherzig und unvoreingenommen, dass jeder, der Rat oder Hilfe suchte, sich instinktiv an ihn wandte. Es war eine Qualität, um die Loki ihn zweifellos beneidet hätte, hätte er noch immer Ambitionen, zu herrschen. Doch seit der Zerstörung Asgards war von diesem Bedürfnis nicht mehr viel geblieben. Regieren war eine anstrengende, undankbare und langweilige Angelegenheit, soviel hatte er in der Zeit gelernt, in der er Odins Platz eingenommen hatte. Sollten sich doch andere an seiner statt damit rumplagen.

Sie traten in den kalten Wintermorgen hinaus und gingen zum Landeplatz, wo sie an Bord des privaten Jets der Avengers stiegen.

Während sie Kurs auf New York nahmen, breitete sich ein Gefühl des Unbehagens in Loki aus. Es war das erste Mal seit Monaten, dass er wieder ohne Thor unterwegs war, und obwohl er es niemals offen zugegeben hätte, fehlte ihm plötzlich die Sicherheit seines Bruders an seiner Seite. Doch er hatte Thor den ganzen Morgen über noch kein einziges Mal gesehen, und als er sich schließlich auf die Suche nach ihm begeben hatte, war er Banner über den Weg gelaufen.

Als würde er seine innere Anspannung spüren, warf Rogers ihm ein beruhigendes Lächeln zu.

„Keine Sorge, wir sind bald da“, sagte er, und Loki hasste ihn ein wenig dafür.

Einige Zeit später landeten sie auf einer der Inseln im Hafen von New York City. Über ihnen erhob sich die gigantische Statue einer Frau, die eine Fackel in ihrer ausgestreckten Hand hielt, und die Loki bisher nur aus der Ferne gesehen hatte.

Es war früh genug, dass die Insel noch für Besucher geschlossen war, ein Umstand, den er sehr begrüßte, musste er dadurch keine neugierigen Blicke ertragen. Dennoch versetzte es ihm einen Stich, als er merkte, dass ihm selbst das Wachpersonal der Insel irritiert und misstrauisch nachsah.

Rogers warf ihm einen Blick von der Seite zu.

„Mir ist klar, dass du an deiner momentanen Gestalt nichts ändern kannst“, sagte er leise. „Aber ich sehe, wie sehr dich ihre Blicke verletzten. Wäre es keine Möglichkeit, übergangsweise eine neue Illusion zu erschaffen?“

Loki hätte fast aufgelacht. Als wäre das nicht das erste gewesen, was er getan hätte, wenn er es gekonnt hätte...!

Sein Gesichtsausdruck schien jedoch mehr zu verraten, als ihm lieb war, denn die Schritte des anderen Mannes verlangsamten sich plötzlich und er blieb stehen.

„... du kannst es nicht“, stellte Rogers fest. Sein Tonfall war unerträglich behutsam und verständnisvoll. „Strange hat mehr getan, als dich in deine wahre Gestalt zu zwingen – er hat dir auch deine Kräfte genommen. Ist es nicht so?“

Loki musste mit aller Macht den Impuls unterdrücken, auf ihn zuzutreten und die Hand um seine Kehle zu schließen.

„Ich schwöre dir, wenn du irgendwem davon erzählst...!“, zischte er.

„Dein Geheimnis ist bei mir sicher, du hast mein Wort“, versprach Rogers mit fester Stimme, und seltsamerweise glaubte Loki ihm sofort.

Sie setzten sich wieder in Bewegung.

„Ich nehme an, Thor ist der einzige außer mir, der davon weiß“, sagte Rogers, als sie das Museum am Fuße der Statue erreichten und eintraten.

„Das darf auch gerne so bleiben“, erwiderte Loki kühl und der andere Mann nickte.

„Einverstanden“, sagte er. „Es ändert die Ausgangsbedingungen etwas, aber ich denke, wir werden einen Weg finden, damit umzugehen.“

Bevor Loki ihn jedoch fragen konnte, was er mit dieser Bemerkung meinte, blieb Rogers vor einer großen Bronzetafel stehen, die an einer Wand des Museums ausgestellt war.

„Was weißt du über die Geschichte dieses Landes...?“, fragte er, während Loki näher trat, um die Tafel genauer zu inspizieren.

„Nicht viel“, entgegnete er abwesend. „Eure Welt interessiert mich nicht.“

„Ja“, sagte Rogers leise. „Und genau da liegt das Problem. Denn das sollte sie.“

Loki warf ihm einen scharfen Blick zu, doch der andere Mann ließ sich davon nicht einschüchtern, sondern begann die Worte auf der Bronzetafel vorzulesen.

„‚Gebt mir eure Müden, eure Armen‘“, las er. „,Eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren, den elenden Unrat eurer gedrängten Küsten; schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen‘ ...“

Loki verdrehte die Augen. „Willst du mich mit Lyrik zu Tode langweilen?“

Doch Rogers ignorierte seine spitze Bemerkung.

„Dies war einst ein Ort der Ankunft“, sagte er. „Das Gedicht spricht von all jenen, die kamen, weil sie verfolgt wurden oder nichts anderes mehr hatten. Doch es ist heute noch so aktuell wie damals, und es spricht nicht nur von all den Menschen, die es im Laufe der Jahrhunderte hierher verschlagen hat, sondern auch von deinem Bruder – und von dir, Loki.“

Er hob den Blick und sah Loki ruhig an.

„Ob freiwillig oder nicht, du bist nun hier, und die Frage ist jetzt: was wirst du tun? Was ist es, was du mit deinem neuen Leben, deiner neuen Freiheit anfangen willst?“

„Ich...“

Zu viel. Es war zu viel auf einmal.

Zu viele Fragen, die Loki bisher hartnäckig ignoriert hatte, zu viele Tatsachen, die er bisher verdrängt hatte.

Er wandte sich wortlos ab und trat auf eines der Fenster des Museums zu, um auf die Bucht hinauszuschauen. In der Ferne erhoben sich die Türme von New York City, einer Stadt, die seinen Angriff damals überlebt hatte, wie sie auch andere Dinge schon überlebt hatte, und deren Millionen von Bewohnern ihrem täglichen Leben nachgingen, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an ihn zu verschwenden.

Und zum ersten Mal, seitdem er diese Welt betreten hatte, wurde Loki bewusst, wie unwichtig, wie unbedeutend seine Existenz darin war. Und das machte ihm mehr zu schaffen, als er gedacht hätte.

„Wenn du es nicht in dir hast, dich für diese Welt und ihre Probleme zu interessieren, dann wird dich niemand von uns daran hindern, zu gehen“, sagte Rogers leise. „Tony wird dich mit den finanziellen Mitteln ausstatten, um dauerhaft unterzutauchen; wenn es also dein Wunsch ist, dich aus allem rauszuhalten und dein Leben nach deinen Vorstellungen fernab von den Konflikten der Avengers zu leben, dann respektieren wir das.“

Loki gab keine Antwort.

„Aber wenn du deine Zeit bei uns sinnvoll nutzen willst“, fuhr Rogers fort, „auf eine Art, an die sich die Menschheit noch lange erinnern wird... dann schließ dich uns an.“

Der Vorschlag kam so unerwartet und war so absurd, dass Loki fast gelacht hätte. Er drehte sich zu Rogers herum.

„Das kann nicht euer Ernst sein“, sagte er. „Ihr wisst, was ich getan habe – und wozu ich in der Lage bin.“

Zu seiner Überraschung begann der andere Mann jedoch zu lächeln.

„Oh ja, das wissen wir“, erwiderte er. „Und es ist genau das, worauf wir zählen.“

Loki starrte ihn an.

„Ihr seid wahnsinnig.“

„Möglich.“ Rogers zuckte mit den Schultern.

Dann hielt er Loki seine Hand hin.

„Also“, sagte er, „wie lautet deine Antwort?“

Was hatte er schon zu verlieren? Abgesehen von seinem Stolz, seiner Würde und seiner Selbstbestimmung natürlich.

Loki lächelte.

„Niemals.“

„Und du bist dir sicher, dass dich nichts umstimmen kann?“

„Thor.“ Loki sah seinen Bruder seufzend an. „Du weißt, dass ich nicht hierher passe. Nicht wirklich. Und in diesem Körper noch weniger, als zuvor.“

„Das stimmt nicht“, widersprach Thor vehement. „Ich bin mir sicher, wir können einen Weg finden. Es wird funktionieren, wenn du dem Ganzen nur eine Chance gibst!“

„Habe ich das nicht schon getan?“, erwiderte Loki. „Wie oft müssen wir dieses Spiel noch spielen, bis du erkennst, dass sich nie etwas ändern wird?“

Thor sah ihn betrübt an. „Du versuchst es nicht einmal.“

Was vielleicht sogar stimmte. Aber Loki hatte sich noch nie für etwas gerechtfertigt, und er würde jetzt bestimmt nicht damit anfangen.

„Thor?“, rief Tony Stark, als er in der Eingangshalle auf die Brüder zutrat. Seine Stimme kühlte um mindestens zwanzig Grad ab, bevor er hinzufügte: „Loki.“

„Stark“, erwiderte Loki nicht minder eisig und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie... erfreulich, dich zu sehen.“

„Daran zweifle ich nicht“, sagte Stark trocken. Dann fiel sein Blick auf die Reisetasche, die neben Loki stand und in die er seine wenigen Habseligkeiten gepackt hatte.

„Du verlässt uns also wirklich“, stellte er fest.

„Nur keine Tränen, Stark“, entgegnete Loki spöttisch.

„Keine Sorge, so wichtig bist du mir nicht“, konterte der andere Mann.

Thor, der zwischen ihnen stand, schüttelte nur wortlos den Kopf.

„Hat Steve dich über unsere Absprache informiert?“, fuhr Stark fort.

Loki nickte kurz.

„Wenn du es dir noch mal anders überlegen solltest – du weißt, wo du uns findest. Bis dahin...“

Stark hielt ihm eine kleine, schwarze Plastikkarte hin. Loki starrte sie für einen Moment ausdruckslos an, bevor er sie zögernd entgegennahm.

„Das ist deine Kreditkarte“, erklärte Stark. „Ich nehme an, du weißt, wie man damit umgeht?“

„Selbstverständlich“, entgegnete Loki würdevoll und nahm sich vor, den ersten Bankangestellten, dem er begegnete, so lange zu verhören, bis er es ihm erklärt hatte.

„Gut.“ Stark nickte. „Damit solltest du für eine ganze Weile über die Runden kommen... also wenn du nicht gerade vorhast, eine Insel oder so zu kaufen. Gib am besten einfach nicht alles auf einmal aus. Ich glaube nämlich irgendwie nicht, dass Arbeiten dein Ding ist.“

Loki setzte zu einer scharfen Erwiderung an, doch dann spürte er, wie Thor nach seiner Hand griff und kurz seine Finger drückte, und er schluckte seine Wut hinunter.

Stattdessen ließ er die Karte in die Tasche seines Mantels gleiten und nickte Stark knapp zu.

„Gut, dann wäre das wohl geklärt“, sagte der andere Mann brüsk und wandte sich ab. „Dann viel Glück, nehme ich an – und sei so gut und versuche, nicht die Welt in Brand zu setzen. Wir haben weiß Gott Besseres zu tun, als dich rund um die Uhr zu überwachen.“

Und mit diesen Worten ging er.

Damit war Loki offiziell nicht mehr Verantwortung der Avengers.

Irgendwie nagte die Tatsache, dass sie ihn einfach so gehen ließen, mehr an ihm, als er gedacht hätte.

„Stark!“, rief er Tony nach. Der andere Mann blieb stehen und sah sich zu ihm um.

Loki räusperte sich. „... danke für den Anzug.“

Es war seltsam, wie leicht ihm diese Worte über die Lippen kamen. Doch der kurzzeitige Ausdruck von Überraschung auf Starks Gesicht war die Demütigung fast schon wert.

Nachdem Stark endgültig veschwunden war, wandte sich Loki an seinen Bruder.

„Lass uns gehen, Thor“, sagte er mit leiser Stimme.

„Uns?“ Thor machte eine verwirrte Miene.

Dann schien er zu begreifen – und schüttelte den Kopf. „Bruder, es gibt kein ‚uns‘.“

Loki starrte ihn an. „Was willst du damit sagen?“

Ein ungutes Gefühl breitete sich plötzlich in ihm aus. Er hatte fest damit gerechnet, dass Thor ihn nach allem, was passiert war, nicht wieder verlassen würde. Dass er ihn unterstützen würde, wenigstens am Anfang – wenigstens solange, bis er eine neue Unterkunft gefunden hatte. Doch nun wurde ihm klar, wie naiv er gewesen war.

„Loki...“ Thor wandte sich seinem Bruder zu und legte die Hände auf seine Schultern. „Es ging bei dieser Sache nie um uns, sondern ganz allein um dich und das, was du möchtest.“

„Ich verstehe“, sagte Loki tonlos. „Das heißt also, du lässt mich im Stich.“

Es war eine grausame Bemerkung, das sah er an dem verletzten Ausdruck auf Thors Gesicht. Doch es kümmerte Loki nicht.

„... das ist nicht wahr“, entgegnete Thor mit rauer Stimme. „Bruder, du weißt, dass ich dich liebe, und dass ich dir bis ans Ende der Welt folgen würde. Aber die Avengers...? Sie sind mir ebenso wichtig. Und ich bin zuversichtlich... nein, ich weiß, dass du auch ohne meine Hilfe deinen Weg finden wirst. Das hast du schon immer getan.“

Nein, dachte Loki. Das ist nicht wahr. Ohne dich habe ich ihn jedes Mal verloren.

Aber das sprach er nicht aus.

Stattdessen griff er nach seiner Tasche und wandte sich zum Gehen.

„Nun denn“, sagte er, ohne Thor in die Augen zu sehen. „Leb wohl, Bruder.“

Dass der andere Mann nicht versuchte, ihn aufzuhalten, sagte eine Menge darüber aus, wie viel sich in den letzten Jahren zwischen ihnen verändert hatte.

Und die Erkenntnis schmerzte.

„Leb wohl“, hörte er Thors leise Antwort.

Loki sah kein einziges Mal zurück, als er das Gebäude verließ.

Der Junge starrte ihn schon seit fast zehn Minuten mit großen Augen an.

Es begann langsam aber sicher, ihm auf die Nerven zu gehen. Nicht, dass Loki die Blicke nicht gewohnt wäre – es war unmöglich, sich durch die Welt zu bewegen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, wenn man so aussah, wie er. Wenn er einen Dollar für jede Person bekommen würde, die ihn für einen der X-Men hielt, dann wäre er mittlerweile vermutlich reicher als Stark.

Dennoch gab sein Aussehen ihnen nicht das Recht, ihn anzustarren, als wäre er ein exotisches Tier im Zoo. Brachte in dieser Welt denn niemand mehr seinen Gören Respekt bei?

„Mama“, sagte der Junge laut genug, dass jeder in der Schlange am Check-In-Schalter ihn hören konnte. „Mama, der Mann ist blau.“

Die Mutter des Jungen, der kaum älter als fünf Jahre sein konnte, drehte sich um und zuckte sichtlich zusammen, als sie Lokis raubtierhaftes Lächeln sah.

„Ver- Verzeihung...“, murmelte sie und packte die Hand ihres Sohnes fester.

„Billy, starr nicht so!“, wies sie den Jungen dann mit leiser, aber scharfer Stimme zurecht. „Das ist unhöflich.“

Ja, Billy, dachte Loki. Hör auf deine Mutter.

Es waren Momente wie diese, in denen er sich so sehr nach seiner Magie sehnte, dass es fast körperlich schmerzte. Allein schon für die unüberlegte Bemerkung hätte er den kleinen Scheißer am liebsten in eine Kröte verwandelt.

„Aber Mama...!“, protestierte der Junge.

Andererseits...

Eine Waffe blieb ihm noch. Loki zog langsam den Handschuh von seiner rechten Hand.

„Der nächste bitte!“, rief in diesem Moment jedoch die Dame, die am Schalter saß. Alle Umstehenden atmeten hörbar auf, als die Frau mit ihrem Sohn vortrat, um ihr Gepäck aufzugeben.

„Tss“, machte Loki, bevor er den Handschuh wieder anzog. Zu früh gefreut.

Nicht, dass er den Jungen gleich in eine Eisstatue verwandelt hätte. Seit dem Beginn seiner Reise vor einem halben Jahr hatte er dies erst zweimal getan, und in beiden Fällen hatte es sich um Individuen gehandelt, die ihn ausrauben oder ihm gar Schlimmeres hatten antun wollen, und die kein Mensch je vermissen würde.

Der Verlust eines Fingers hingegen... nun, er hatte noch niemandem groß geschadet.

Bevor er sich jedoch in Fantasien über weitere mögliche Strafen verlieren konnte, wurde ein Schalter frei.

„Der nächste bitte!“

Loki trat vor. Es sprach sehr für die Professionalität der jungen Frau, dass sie bei seinem Anblick nicht mal mit der Wimper zuckte.

„Ihren Reisepass bitte“, sagte sie nur und Loki händigte ihr alle notwendigen Unterlagen aus.

Der Pass war neben der Kreditkarte eines der Dinge gewesen, die er vor seiner Abreise von den Avengers erhalten hatte. Laut dem Dokument hieß er Loki Odinson und war US-amerikanischer Staatsbürger, was den meisten Leuten zu genügen schien, ihn trotz seiner Hautfarbe keines zweiten Blickes zu würdigen. Loki konnte das allerdings nur recht sein. Je weniger Beachtung sie ihm schenkten, umso besser.

„Ich brauche noch Ihre Genehmigung, Sir“, sprach die junge Frau plötzlich und riss Loki aus seinen Gedanken.

Loki runzelte die Stirn. „Welche Genehmigung?“

„Für diesen Flug“, erwiderte sie. „Die Airline besteht darauf, dass Individuen mit außergewöhnlichen Kräften vor Antritt der Reise eine Sondergenehmigung beantragen müssen, sonst werden Sie vom Boardingprozess ausgeschlossen.“

„Bitte was?“, fragte Loki. Das war das erste Mal, dass er davon hörte. „Warum das?“

Sie wich seinem Blick aus. „Sicherheitsvorkehrungen, Sir. Sie zählen zu den lebenden Waffen. Und wir sind es unseren Passagieren schuldig, für die Sicherheit von allen an Bord zu sorgen.“

Loki starrte sie an.

„Das ist Diskriminierung“, erwiderte er. „Sie gehen aufgrund meines Aussehens davon aus, dass ich nicht nur Kräfte habe, sondern diese auch noch zum Schaden anderer einsetzen könnte!“

Die Versuchung, seine Handschuhe auszuziehen und die Frau an Ort und Stelle einzufrieren, wurde von Sekunde zu Sekunde immer größer... aber damit würde er ihre Aussage nur unterstreichen.

„Es tut mir sehr leid, Sir“, sagte sie mit gequältem Lächeln. „Ich halte mich nur an die Unternehmensrichtlinien.“

Loki schüttelte den Kopf.

„Ich fasse es nicht...!“, murmelte er. Er hatte immer geglaubt, zu wissen, was Sadismus war – bis er die irdische Bürokratie kennengelernt hatte. Menschen...! „Das war dann wohl das letzte Mal, dass ich mit dieser Airline fliege.“

Er griff nach seinem Pass und seiner Tasche und wandte sich ab, ohne die Frau noch eines weiteren Blickes zu würdigen.

 

Da der nächste Transatlantikflug erst wieder am Morgen starten würde, saß er nun für eine Nacht in Prag fest. Wundervoll.

Loki spielte kurz mit dem Gedanken, die nächsten zwölf Stunden am Flughafen zu verbringen, aber die Vorstellung reizte ihn nicht besonders. Stark hatte ihn außerdem mit beinahe unbegrenzten, finanziellen Mitteln ausgestattet; es gab keinen Grund, sie nicht zu nutzen.

Er fuhr mit einem Taxi zurück in die Innenstadt und nahm sich ein Zimmer in einem kleinen Hotel direkt an der Moldau.

Während er sich ein kaltes Bad einließ, schälte er sich langsam aus seinen Sachen, bis er nur noch den Anzug trug, den er von Stark und Banner bekommen hatte. Das tägliche Tragen hatte deutliche Spuren hinterlassen; er war schon mehrfach geflickt und besonders an den Knien und Ellenbogen leicht zerschlissen. Loki hätte Banner um ein Ersatzexemplar bitten sollen – oder besser gleich drei.

Aber wie an so vieles andere auch hatte er daran erst im Nachhinein gedacht.

Gähnend ließ er sich aufs Bett fallen und zog ohne große Hoffnung das Smartphone aus seiner Reisetasche. Keine neuen Anrufe oder Nachrichten. Genau wie in den letzten 190 Tagen.

Nun, es war nicht so, als ob Loki ernsthaft damit gerechnet hätte, dass sie ihn vermissen würden, ganz sicher nicht. Doch die komplette Funkstille gab ihm fast das Gefühl, als hätte er nie für sie existiert, und das kratzte doch sehr an seinem Selbstwertgefühl.

Nicht einmal Thor hatte versucht, ihn zu kontaktieren. Das mochte zwar hauptsächlich an der generellen Unfähigkeit seines Bruders beim Umgang mit der irdischen Technologie liegen, aber auch das war keine wirkliche Entschuldigung. Es war einfach nicht fair. Es war nicht fair, dass Thor ihn nicht zu vermissen schien, während Loki seinen Bruder seinerseits mit jedem Tag, der verging, mehr vermisste, und sich wünschte, sein idiotisches Lächeln wenigstens noch einmal sehen zu können.

Seltsam, wie sehr etwas, das einem immer so selbstverständlich vorgekommen war, dass man ihm keine größere Beachtung mehr geschenkt hatte, einem plötzlich so fehlen konnte...

Hör auf.

Loki legte ruckartig das Smartphone beiseite. Nein, er würde sich nicht dem Selbstmitleid hingeben. Er konnte das auch allein schaffen. Er würde das auch allein schaffen...! Er hatte schließlich schon ganz andere Dinge überstanden.

Loki zog sich aus und ließ den Anzug und die Handschuhe achtlos auf den Teppichboden fallen, bevor er sich der wundervollen Kälte des Bades hingab.

Nachdem er den Kopf nach hinten gegen den Rand der Badewanne gelehnt und die Augen geschlossen hatte, gingen seine Gedanken erneut auf Wanderschaft.

In den letzten sechs Monaten hatte er vier Kontinente bereist. Doch obwohl ihm manche Orte besser gefallen hatten, als andere, hatte er sich bisher noch nirgendwo heimisch gefühlt.

Dabei hatte seine Reise so vielversprechend begonnen. Die ersten fünf Wochen hatte er auf einer kleinen Insel im Südpazifik verbracht und sich als mythische Meeresgottheit anbeten lassen. Den ganzen Tag lang hatte er keinen einzigen Finger rühren müssen und ein Blick war genug gewesen, um ihm alle Wünsche zu erfüllen. Und wenn doch mal jemand an seiner Göttlichkeit gezweifelt hatte, dann hatte er ihn einfach berührt – mal mit kleineren, mal mit größeren gesundheitlichen Folgen für den Ungläubigen.

Es hätte alles so perfekt sein können, wäre auf Dauer nicht die gähnende Langeweile gewesen. Und der schlechte WLAN-Empfang.

Und so hatte eines zum anderen geführt und eher er sich versah, hatte er im nächsten Flugzeug gesessen.

Seitdem zog er von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent. Er folgte keinem bestimmten Plan, sondern ging dorthin, wo es ihn als nächstes hinzog. Manchmal blieb er dabei Wochen am gleichen Ort, manchmal nicht länger als einen Tag. Das machte Loki immer davon abhängig, wie sehr der jeweilige Ort sein Interesse weckte – und wie er dort empfangen wurde.

In den meisten Ländern begegnete man ihm mit unverhohlenem Misstrauen; Offenheit oder gar Neugierde erlebte er nur selten. Zweimal war er sogar in ein totalitäres Regime hineingestolpert, wo man ihn entweder für den Geheimdienst zu rekrutieren versuchte oder ihn sofort hinter Gitter sperrte, um an ihm zu experimentieren.

Bisher hatte sich Loki mit seiner Silberzunge und seinen eisigen Berührungen stets erfolgreich aus jeder misslichen Lage hinauswinden können, doch einmal war er nur mit sehr viel Glück entkommen und hatte später in seiner Unterkunft eine Kugel aus seinem Oberarm entfernen müssen.

Seitdem war er sehr viel vorsichtiger geworden und erkundigte sich erst nach den politischen Zuständen in einem Land, bevor er den Fuß hineinsetzte. Das erwies sich als kluge Taktik, hatte seitdem doch zumindest niemand mehr auf ihn geschossen.

Loki war es nicht gewohnt, so... verletzbar zu sein. Bisher hatte es Individuen mit nahezu gottgleichen Kräften gebraucht, um ihn zu Fall zu bringen, doch jetzt musste er vor allem und jedem auf der Hut sein. Er hatte keine Magie mehr, die ihn beschützte und die den gröbsten Schaden abwenden konnte. Und auch die Kälte war mehr ein letztes Mittel der Verzweiflung, als eine wirkliche Hilfe.

Seinen Tiefpunkt hatte er jedoch an dem Abend erreicht, an dem er die Kugel aus seinem blutenden Arm gezogen hatte und ihm bewusst geworden war, dass er allein war, und dass niemand ihn retten oder nach ihm suchen würde, wenn ihm etwas passierte.

Dass Thor niemals erfahren würde, wohin er verschwunden war.

Der Gedanke machte ihm so zu schaffen, dass er den erstbesten Flug zurück nach Europa nahm, mit der Absicht, von dort aus weiter den Atlantik zu überqueren. Was er tun würde, wenn er wieder zurück in den Staaten war, wusste er noch nicht. Aber er musste zurück. Wenigstens für einige Zeit. Wenigstens, bis er sich entschieden hatte, wo er als nächstes hinwollte.

Und es hatte ganz sicher nichts damit zu tun, dass er seinen Bruder mehr vermisste, als er in Worte hätte fassen können.

Am schlimmsten war das Nichtwissen.

Nicht zu wissen, wo Loki war, mit was für Leuten er sich umgab oder in was für Gefahren er sich auf seiner Reise brachte, war für Thor auf Dauer kaum zu ertragen.

In der ersten Zeit, nachdem sein Bruder sie verlassen hatte, ging er darum mehrmals täglich zu Stark, damit er seine technischen Anlagen dazu brachte ihm zu verraten, wo Loki gerade war.

„Kalifornien“, sagte Stark am ersten Tag.

„Hawaii“, teilte er Thor am zweiten Tag mit.

„Manila“, sagte er am dritten Tag und Thor nickte, während er ruhelos im Raum auf- und ablief.

„Tut mir leid, ich habe keine Ahnung“, entgegnete Tony schließlich am fünften Tag und Thor starrte ihn verständnislos an. „Ich weiß nicht, wie er es gemacht hat, aber er hat das GPS auf seinem Smartphone deaktiviert.“

Und als Thor ihn weiterhin wortlos ansah, fügte Tony seufzend hinzu:

„Er hat das Element auf seinem Kommunikationsgerät ausgeschaltet, das es mir ermöglicht, seine genaue Position zu erfahren.“

Thor nickte. Er konnte nicht behaupten, dass ihn diese Nachricht überraschte. Sein Bruder hatte es noch nie leiden können, wenn man ihm nachspionierte.

„Gibt es eine Möglichkeit, ihn auf anderem Weg wiederzufinden?“, fragte er, während er den Drang unterdrücken musste, mit Sturmbrecher den Bifröst zu öffnen, um selbst nach Loki zu suchen.

Tony nickte kurz. „Seine Kreditkartenabrechnungen sollten ausreichend Aufschluss über seinen Aufenthaltsort geben. Wann immer er mit seiner Karte bezahlt oder Geld abhebt, wissen wir, wo er ist – oder zumindest, wo er es zu diesem Zeitpunkt war.“

Er legte beruhigend eine Hand auf Thors Oberarm.

„Keine Sorge, Kumpel, so schnell verlieren wir ihn nicht aus den Augen. Und wie ich deinen Bruder kenne, kann er auch gut auf sich selbst aufpassen.“

Und Thor wusste, dass Tony Recht hatte – er wusste, dass Loki verärgert wäre, würde er ihm folgen und einmal mehr seine Freiheit einschränken – und dennoch wurde er das unbestimmte Gefühl nicht los, dass sein Bruder ihn brauchte.

 

„Ich bin mir sicher, es geht ihm gut, Thor“, sagte Steve ein paar Tage später, als sie beim Training eine Pause einlegten.

Ihm war nicht entgangen, dass Thor mit den Gedanken woanders war, während sie im Nahkampf gegeneinander antraten. Steve war zwar gut, aber nicht so gut, dass er den anderen Mann sechs Runden nacheinander ohne Schwierigkeiten besiegen konnte. Jedenfalls nicht, wenn Thor mit Konzentration dabei war.

„Ich weiß“, entgegnete Thor niedergeschlagen und ließ sich schwerfällig auf eine der Matten sinken. „Es ist nur, dass Loki... Mein Bruder kann nicht länger... Er ist...“

Er klappte den Mund wieder zu, bevor er zu viel verraten konnte.

„Du machst dir Sorgen, dass ihm etwas zustoßen könnte, jetzt, da er seine Magie nicht mehr hat“, sagte Steve sanft.

Thor wandte den Kopf und sah ihn überrascht an.

„Woher weißt du das?“

Steve rieb sich den Nacken.

„Sagen wir es so: ich habe einen Verdacht geäußert, den dein Bruder nicht sofort geleugnet hat“, erwiderte er.

„... ich verstehe“, sagte Thor. Auf seine ganz eigene Art war Steve aufmerksamer als jeder andere der Avengers. Dass er Lokis missliche Lage bemerkt hatte, hätte Thor darum nicht überraschen sollen. Gewissermaßen war er sogar ganz froh darüber, dass er Lokis Geheimnis mit ihm teilen konnte. Bei jedem anderen hätte er sich Sorgen gemacht, doch er wusste, dass Steve dieses Wissen für sich behalten und es nicht gegen seinen Bruder verwenden würde.

„Hab Vertrauen, Thor“, sagte Steve und schenkte ihm ein kleines Lächeln. „Manchmal muss man die Dinge, die man liebt, loslassen, um sie nicht zu verlieren. Gibt ihm den Freiraum, den er braucht, und er wird zu dir zurückkehren, davon bin ich überzeugt.“

Thor wischte sich schnell mit dem Handrücken über die Augen und nickte dann. Erst jetzt wurde ihm klar, wie sehr er es gebraucht hatte, diese Worte zu hören.

Sie schwiegen für lange Zeit, während sie Schulter an Schulter nebeneinandersaßen und ihren eigenen Gedanken nachhingen.

Doch als sie sich schließlich wieder erhoben, war Thor etwas leichter ums Herz, und mit neuem Elan stürzte er sich ins Kampftraining.

 

Lokis Kaufverhalten sprach eine ganz eigene Sprache.

„Weißt du, wenn ich nicht wüsste, dass er ein Frostriese ist, würde ich mir bei der schieren Menge an Sushi und rohem Fisch, die er kauft, Sorgen machen“, sagte Tony zwei Monate später, während er ein zehn Seiten langes Dokument der Dinge überflog, die Loki sich seit Beginn seiner Reise geleistet hatte.

„Und natürlich musste er sich im teuersten Hotel in Singapur ein Zimmer nehmen“, fuhr er kopfschüttelnd fort. „Wie konnte ich nur etwas anderes erwarten.“

Thor konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Loki hatte es schon immer geliebt, sich unter den Reichen und Mächtigen zu bewegen. Das teuerste Essen und der beste Service waren immer nur gerade gut genug für seine Ansprüche.

„Wo ist er jetzt?“, fragte er, doch Tony war so versunken in das Dokument, dass er ihn nicht hörte.

„Eine Yacht?“, rief er vier Seiten weiter plötzlich aus. „Er hat sich eine verdammte Yacht gekauft?“

Tony öffnete eine Reihe von Hologrammen vor sich in der Luft und Thor sah, wie seine Finger über die virtuelle Tastatur flogen, als er nach weiteren Informationen zu dem Schiff suchte. Schließlich erschien eine Abbildung der Yacht auf dem Bildschirm.

„Die ‚Deliverance‘... was für ein passender Name“, sagte Tony trocken, als er den Namen auf der Bordwand des Schiffes sah. Dann runzelte er die Stirn. „Offenbar befindet sie sich momentan im Besitz eines hochrangigen Mitglieds des nordkoreanischen Militärs...? – Moment, das kann nicht sein...“

Wieder begann er mit atemberaubender Geschwindigkeit zu tippen.

„Komm schon...“, murmelte er dabei. „Ich weiß, dass ihr überall Sicherheitskameras habt, es muss doch möglich sein, sich einen Zugang zum System zu–... Ah-ha!“

Er stieß einen triumphierenden Laut aus.

Plötzlich erschienen Videoaufnahmen auf dem Holo-Bildschirm, die Loki zusammen mit einer Gruppe asiatisch aussehender Männer in Uniformen zeigten.

Thor hielt den Atem an. Das Video war leicht unscharf und er konnte nicht hören, was gesagt wurde, doch es war offensichtlich, dass sein Bruder gerade dabei war, die Männer mit seinem Charme um den kleinen Finger zu wickeln.

Auch Tony starrte ungläubig auf den Bildschirm.

„Tatsache“, stieß er fassungslos hervor. „Er hat eine Yacht gekauft und sie einem nordkoreanischen General geschenkt, um sich Zugang zum Land und zu den höheren Kreisen der Gesellschaft zu verschaffen. Ist dein Bruder wahnsinnig? Oder umgibt er sich nur gern mit Diktatoren...?“

Thor sah ihn nicht an. Loki nach all den Wochen ausgerechnet in einer solchen Situation wiederzusehen war nicht nur beunruhigend, sondern auch zutiefst verstörend.

„Loki liebt das Spiel mit dem Feuer“, erwiderte er schließlich. „Das hat er schon immer getan.“

„Das mag sein“, sagte Tony, „aber das hier? Das ist kein Spiel mehr. Diese Leute sind höchst gefährlich; selbst die Regierungen der Welt fassen sie nur mit Samthandschuhen an, denn eine falsche Bemerkung könnte sofort einen Krieg auslösen. Ist Loki nicht klar, was für ein Risiko er eingeht, wenn er sich mit ihnen abgibt?“

Es war eine berechtigte Frage, und eine, die sich Thor im Laufe der Jahrhunderte oft genug selbst gestellt hatte.

„Mein Bruder ist die Gottheit, die das Chaos repräsentiert“, entgegnete er resigniert. „Ich habe es schon vor langer Zeit aufgegeben, seine Beweggründe zu verstehen. Ich kann ihn nicht ändern; Loki ist, was er ist. Doch ich liebe ihn trotz seiner Fehler.“

Tony lachte auf,

„Der Gott des Chaos, sagst du?“ Er schüttelte den Kopf. „Das erklärt so vieles...“

Er griff wieder nach dem Dokument, das er zuvor achtlos auf das Sofa hatte fallen lassen und blätterte zur letzten Seite.

„Es sieht zumindest aus, als hätte er sein Abenteuer in Korea überstanden“, sagte er dann. „Die letzten Zahlungen stammen aus Wladiwostok und sind von vorgestern. Es sieht so aus, als würde er sich jetzt in Richtung Norden bewegen. Hoffen wir nur, dass er nicht vom Regen in die Traufe gekommen ist.“

„Ja“, sagte Thor leise, während sein Blick auf dem lächelnden Gesicht seines Bruders in den Videoaufnahmen lag. „Das hoffe ich auch.“

Die Monate vergingen.

Thor erkundigte sich weiterhin regelmäßig nach seinem Bruder, doch die Informationen, die Tony ihm geben konnte, wurden immer spärlicher und unregelmäßiger.

Anscheinend hatte Loki gemerkt, dass man seinen Aufenthaltsort über seine Kreditkartenabrechnungen zurückverfolgen konnte, weshalb er dazu übergegangen war, alle paar Wochen größere Geldbeträge abzuheben, um dann für eine Weile unterzutauchen und alles Notwendige mit Bargeld zu bezahlen.

Thor erwischte sich mehrfach dabei, wie er nach dem Telefon griff, um die Nummer seines Bruders zu wählen, damit er wenigstens seine Stimme hören konnte; damit er hören konnte, dass es ihm gut ging. Doch er zögerte jedes Mal, auf „Verbinden“ zu drücken.

Manchmal muss man die Dinge, die man liebt, loslassen, um sie nicht zu verlieren.

Seit ihrem Gespräch waren ihm Steves Worte nicht aus dem Kopf gegangen – und sie waren es auch, die ihn den Hörer letztendlich immer wieder beiseitelegen ließen.

Die letzten Jahre hatten ihn Geduld mit der Welt und mit den Menschen gelehrt, nun musste er nur noch lernen, auch Loki gegenüber geduldig zu sein.

Und Thor wartete.

 

Als er seinen Bruder schließlich wiedersah, war es unter Umständen, mit denen Thor nicht gerechnet hatte.

Einer von Spider-Mans Gegnern hatte einen Elementar zum Leben erweckt, einen Golem von titanischen Ausmaßen, dessen dicke, steinerne Haut weder Tonys Blaster noch Thors Hammer durchdringen konnten.

„Was ist es nur mit diesen Leuten und ihren Puppen?“, hörte Thor Tonys Stimme über das Kommunikationsgerät in seinem Ohr. „Können sie ihre Drecksarbeit nicht mal selbst machen?“

„Aber dann müssten sie erst mal wieder ein paar originelle Ideen haben“, gab Spider-Man fröhlich zurück, der sich neben Thor knapp außerhalb seines Blickfeldes durch die Straßen von Manhattan schwang, während sie der Spur der Zerstörung folgten.

„Tentakelmonster!“, schlug Clint vor. „Wir hatten schon lange keinen guten Tentakelmonsterangriff mehr.“

„Oh, bitte nicht.“ Tony stöhnte auf. „Ich erinnere mich noch zu gut an das Desaster beim letzten Mal...“

„Wir auch, Tony“, gab Steve trocken zurück. „Wir auch.“

„Ich habe das Zeug wochenlang nicht aus meinen Haaren rausbekommen“, meinte Natasha wenig begeistert.

„Okay... will ich wissen, was damals passiert ist?“, fragte Sam.

„Nein!“, erwiderte der Rest wie aus einem Munde.

Thor lachte nur.

Er lebte für diese Momente. Er liebte die Kameradschaft; liebte es, dem freundschaftlichen Gezanke der Avengers zu lauschen, bevor sie sich gemeinsam in die nächste Schlacht stürzten.

Es erinnerte ihn an die Abenteuer mit den Freunden aus seiner Jugendzeit, damals, als Asgard noch ein strahlendes Juwel zwischen den Sternen gewesen war und Hela und Thanos sein Volk noch nicht ausgelöscht hatten. Als die Sommer noch ewig währten und sein Bruder sich noch nicht von ihm abgewandt hatte.

Der Schmerz über den Verlust seiner Heimat und die Sehnsucht nach jener Zeit würden nie ganz vergehen, aber sie brannten nicht mehr ganz so stark, wie zu Beginn, und waren an den meisten Tagen kaum mehr als ein dumpfes Pochen im Hintergrund, das er, wenn er es schon nicht ignorieren, doch zumindest ertragen konnte.

Und er hatte noch immer Loki.

Was auch zwischen ihnen vorgefallen war, das Schicksal hatte sie immer wieder zueinander geführt, und mit der Zeit hatten sie einander besser kennengelernt, als sie es in jener lange zurückliegenden Zeit getan hatten.

Gewiss, ihr Verhältnis zueinander mochte komplizierter geworden sein, doch zugleich waren sie auch ehrlicher mit ihren Gefühlen geworden und begegneten einander nun auf Augenhöhe, wo sie es zuvor noch nicht getan hatten, nicht wirklich.

Und das war etwas, was Thor nie wieder freiwillig hergegeben hätte.

„Okay, Leute. Ideen?“, rief Tony in diesem Moment, als sie über den Times Square hinwegflogen und den gigantischen Fußspuren folgten.

In nicht allzu weiter Entfernung waren bereits Schreie und das Bersten von Glas und Beton zu hören.

„Kollateralschäden vermeiden und das Kampfgebiet eingrenzen“, entgegnete Steve. „Ihr kennt den Drill, Leute, ihr wisst, was zu tun ist.“

„Yes, Sir!“ Clint manövrierte den Quinjet gekonnt zwischen den Hochhäusern hindurch und setzte zur Landung am Rande des Central Parks an.

Thor empfand für einen Moment Mitleid mit der Vegetation.

Der Park hatte sich immer noch nicht ganz von ihrem letzten großen Gefecht erholt, und nun würden sie die Erde erneut aufreißen und die jahrhundertealten Bäume beschädigen. Trotz diverser Wiederaufbauprogramme, die Tony vor einigen Jahren ins Leben gerufen hatte, ging die Regeneration doch nur langsam vonstatten, und die Umweltschützer stiegen zu Recht jedes Mal auf die Barrikaden, wenn der Park Schäden erlitt.

Doch der Schutz der Bevölkerung hatte Vorrang, und so trieb das Team den Elementar die Straße entlang auf den Park zu.

„So weit, so gut“, meinte Tony, während sie einen Ring um den Titanen bildeten und versuchten, ihn am Ausbrechen zu hindern. „Jetzt wären ein paar konkrete Ideen nicht schlecht.“

„Tony hat Recht“, sagte Steve. „Kommt schon, Leute! Unter euch sind ein paar der cleversten Köpfe, die mir je begegnet sind, ich bin mir sicher, ihr findet eine Lösung.“

Es war Wanda, die schließlich antwortete:

„Wenn ich das richtig sehe, besteht der Körper des Elementars aus einer Art Ton“, stellte sie fest. „Sollte Ton nicht springen, wenn er zu schnell erhitzt wird?“

„Oh, oh!“, rief Peter aufgeregt. „Das ist Ned und mir letztens im Unterricht passiert! Eigentlich sollten wir nur etwas töpfern und dann – witzige Story – haben wir versehentlich den Ofen mit unseren-“

„Fantastische Idee, danke, Wanda“, würgte Tony den Redefluss des Teenagers ab und streckte die Hände aus, an denen die Blaster zu summen begannen. „Okay, Avengers, ihr habt sie gehört. Wer über Hitze- oder Explosionsangriffe verfügt, der möge bitte angreifen in drei... zwei... eins...!“

 

Thor krachte mit der Wucht einer Kanonenkugel in ein parkendes Auto und rollte mehrere Meter über den Gehweg.

Für einen Moment kämpfte er mit der Ohnmacht, bevor er  sich mit einem Ächzen wieder hochstemmte und sich mit einer Hand durch die Haare fuhr, um die Glassplitter herauszufischen.

Möglicherweise waren sie doch etwas voreilig gewesen, als sie den Elementar so offen angegriffen hatten, denn die Attacke hatte ihn nur noch wütender gemacht und wild um sich schlagen lassen.

Er wollte gerade nach Sturmbrecher greifen, als ihn eine Stimme hinter ihm erstarren ließ.

„Hallo Thor“, sagte Loki. „Was für eine Überraschung.“

Thor wirbelte herum und riss die Augen auf, als er seinen Bruder erblickte.

Loki trug ein langärmeliges Shirt und dunkle Jeans, die trotz der sommerlichen Hitze bis zu seinen Knöcheln reichten, während seine blutroten Augen sich hinter einer Sonnenbrille verbargen. In der Hand hielt er einen Becher mit dem Logo der Kette, die die Sterblichen als Starbucks bezeichneten.

„Uhm“, machte Thor. „Hi.“

Und dann, weil ihm nichts besseres einfiel: „Ich dachte, der Geschmack von Kaffee sagt dir nicht länger zu?“

„Es geht“, erwiderte Loki gelassen und nahm einen Schluck von dem Getränk. „Wenn ich danach noch Salzwasser dazugieße, wird er ganz erträglich.“

„Ah“, erwiderte Thor und nickte.

Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte, zu unerwartet war der Anblick seines Bruders in diesem Moment. Alles, woran er denken konnte, war LokiLokiLoki und Ich bin so froh, dass es dir gut geht und Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich vermisst habe. Und Thor war sich nicht sicher, ob Loki auch nur eines dieser Dinge hören wollte.

Sein Bruder hob den Kopf und sah zu dem Elementar im Central Park hinüber, gegen den die Avengers wie Fliegen wirkten, die ihn umschwirrten.

„Sieht aus, als könnten deine Freunde Hilfe gebrauchen“, meinte er nachdenklich.

Thor nickte. „Wanda hat den Vorschlag gemacht, die Kreatur mit Feuer anzugreifen, um sie zum Platzen zu bringen.“

„Bei dieser Hitze?“ Loki runzelte die Stirn. „Ich meine, an sich ist die Idee nicht schlecht, aber die Temperaturdifferenz reicht bei weitem nicht aus, um ihn zu zerstören. Aber das ließe sich ja leicht ändern...“

Thor sah ihn aufmerksam an. Lokis Tonfall sagte ihm, dass sein Bruder einen Plan hatte.

„Ziehst du etwa in Betracht, uns deine Hilfe anzubieten?“, fragte er mehr scherzhaft, als mit wirklicher Hoffnung.

Umso überraschter war er, als Loki die Lippen zu einem schmalen Lächeln verzog.

„Nur, wenn du bitte sagst.“

Thor lachte auf. Nichts leichter als das.

„Bitte, Loki“, entgegnete er und noch nie waren ihm diese Worte so leicht und mit so viel Ehrlichkeit über die Lippen gekommen. „Bitte hilf uns.“

„Mmh.“ Loki trank den Rest seines Kaffees aus und ließ den leeren Becher dann achtlos zu Boden fallen, nur um ihn mit dem Absatz seines Schuhs zu zertreten. „Wenn du schon so fragst...“

Als Thor einen Arm um ihn legte, um mit ihm näher an das Kampfgebiet heranzufliegen, war Loki weitaus nervöser, als er es offen zugegeben hätte. Er hatte nur die vage Idee eines Plans und keine Ahnung, ob er sich so umsetzen ließ, wie er sich das vorstellte.

Doch er hatte sich entschieden und es war nun zu spät, einen Rückzieher zu machen, wollte er nicht sein Gesicht verlieren. Also würde er einfach tun, was er in Momenten wie diesen immer tat: improvisieren und auf das Beste hoffen.

„Mein Bruder hat eine Idee!“, rief Thor über das Brüllen des Elementars hinweg. Loki hatte keine Ahnung, mit wem er sprach, bis ihm bewusst wurde, dass die Mitglieder der Avengers vermutlich untereinander alle mit Hilfe ihrer elektronischen Gerätschaften in Kontakt standen.

„Ja, er ist hier“, fuhr Thor nach kurzer Pause fort. „Wir sind uns zufällig begegnet.“

Oder so zufällig, wie man sich in einer Millionenstadt wie New York City eben begegnete. Loki musste zugeben, dass es die Kampfgeräusche gewesen waren, die ihn angelockt hatten. Dass sein Bruder allerdings direkt vor seinen Füßen landen würde, damit hatte er nicht gerechnet.

Thor wandte ihm das Gesicht zu.

„Captain Rogers lässt fragen, was du benötigst“, sagte er.

Loki überlegte kurz.

„Ich brauche Stark“, erwiderte er dann. „Und die Hexe.“

„Ihr Name ist Wanda“, meinte Thor mit leisem Vorwurf.

„Mir egal“, sagte Loki ungerührt. „Sag ihnen, sie sollen sich bereithalten.“

Er ließ den Blick über den Park schweifen, auf der Suche nach einem geeigneten Landeort.

„Dort!“, rief er schließlich und deutete auf einen langgestreckten See, der nicht weit von der Stelle des Kampfes entfernt lag. „Setz mich dort ab.“

Thor nickte, und einen Moment später landeten sie am Ufer des Sees.

Loki kniete sich hin und zog seine Handschuhe aus. Behutsam tauchte er eine Hand ins Wasser und sah mit an, wie sich sogleich die ersten Eiskristalle um seine Fingerspitzen herum zu bilden begannen.

Thor warf ihm einen fragenden Blick zu.

„Loki, was hast du–?“

„Shhh“, unterbrach ihn sein Bruder. „Ich muss mich konzentrieren.“

Versuchsweise streckte er seine geistigen Fühler zum anderen Ufer hin aus. Im nächsten Moment ging eine Bewegung über die Wasseroberfläche, die alles Wasser auf ihrem Weg gefrieren ließ.

Loki lächelte. Wenigstens dieser Teil funktionierte schon mal. Sehr gut.

Es war nicht das erste Mal, dass er mit seinen Frostriesenkräften experimentierte, aber es war das erste Mal, dass er es in dieser Größenordnung tat. Er konnte nur hoffen, dass seine Energie ausreichte für das, was er vorhatte.

Er wandte sich an Thor.

„Stark und die Hexe“, wiederholte er. „Ich brauche sie jetzt. Und sag dem Rest, dass sie damit anfangen sollen, den Elementar in unsere Richtung zu treiben.“

Thor nickte knapp, bevor er Lokis Anweisungen weitergab und sich anschließend wieder in die Lüfte erhob, um seine Freunde beim Kampf zu unterstützen.

Kaum war sein Bruder verschwunden, da hörte Loki auch schon das vertraute Summen von Starks Rüstung, und kurz darauf landeten die beiden Avengers neben ihm am Ufer.

„Ich fasse es nicht“, murmelte Stark. „Du bist es wirklich. Für einen Moment habe ich mich gefragt, ob Thor anfängt, Geister zu sehen.“

„Du klingst überrascht, mich zu sehen“, sagte Loki kühl.

„Überrascht? – Nein.“ Stark deutete ein Schulterzucken an. „Misstrauisch? – Definitiv.“

„Warum das?“ Loki runzelte die Stirn.

„Weil du zufällig genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort bist, um uns zu helfen“, erwiderte Stark. „Hattest du etwas damit zu tun, dass der Elementar auf New York losgelassen wurde?“

Loki starrte ihn an. Für einen Moment wusste er nicht, ob er empört darüber sein sollte, dass der andere Mann ihm einen solch niederträchtigen Plan zutraute... andererseits war es ein Plan, der ihm ähnlich gesehen hätte, weshalb Loki sich fast schon wieder geehrt fühlte, dass Stark ihn für so durchtrieben hielt.

„Es mag dich überraschen, das zu hören“, sagte er schließlich, „aber mich trifft kein Schuld an dieser Sache.“

„Und du erwartest, dass ich dir einfach so glaube?“

„Es ist die Wahrheit“, entgegnete Loki gleichgültig. „Was du damit anfängst, ist mir scheißeg–“

„Ich hoffe, ihr seht es mir nach, wenn ich euch an dieser Stelle unterbreche“, mischte sich die Hexe – Wanda, wenn Loki sich recht erinnerte – plötzlich ein. „Aber wir kriegen gleich Besuch und ich weiß immer noch nicht, wie der Plan lautet.“

Die Bemerkung brachte ihn dazu, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Loki zwang sich, Stark zu ignorieren, und seinen Blick stattdessen auf den Titanen zu richten, der sich ihnen mit langsamen Schritten näherte.

„Na schön“, sagte er und deutete auf Wanda. „Du kannst mit deinen Kräften Materie transportieren, richtig?“

Sie nickte.

„Gut. Überleg dir, wie du möglichst viel Wasser in möglichst kurzer Zeit in die Luft bringen kannst. Ich vermute, du weißt, was damit zu tun ist, sobald ich dir das Zeichen gebe?“

Sie nickte erneut.

„Fantastisch.“

Eine schnelle Auffassungsgabe und kein Drang, jedes Detail bis zum Erbrechen zu diskutieren – Loki wusste plötzlich wieder, wieso er sie immer weniger gehasst hatte, als den Rest.

„Und was ist mit mir?“, fragte Tony.

„Du wirst warten und nichts tun“, entgegnete Loki, „und erst eingreifen, wenn ich es dir sage.“

„... oh, wow“, meinte Tony.

Er wollte gerade zu einer zweifellos sarkastischen Bemerkung ansetzen, als der Elementar plötzlich die Bäume am jenseitigen Ufer des Sees zum Schwanken brachte, und im nächsten Augenblick zwischen ihren Wipfeln hervorrat.

Stark stieß einen leisen Fluch aus, und auch Loki stockte für einen Moment der Atem.

Aus der Entfernung hatte die Kreatur nicht allzu bedrohlich gewirkt, doch nun wurde ihm klar, wie sehr er sich verschätzt hatte. Ihre tonnenschweren Füße ließen den Boden erbeben, und ihre Hände waren so groß wie die der Statue, die ihre Fackel hoch über dem Hafen von New York erhoben hatte.

Die Avengers hatten sichtlich Mühe, die Bewegungen des Titanen zu kontrollieren und ihn in Lokis Richtung zu lenken, und selbst Thor schien mittlerweile am Ende seiner Kräfte zu sein.

„Ich hoffe, du weißt, was du tust“, sagte Stark leise.

„Das hoffe ich auch“, murmelte Loki.

Es kostete ihn all seine Selbstbeherrschung, stehen zu bleiben und nicht das Weite zu suchen, als der Elementar den ersten Schritt ins Wasser machte, und dann den zweiten und den dritten, und sich die Distanz zwischen ihnen immer drastischer verringerte.

Für einen Moment fühlte er sich an Surtur erinnert, der – hoch wie ein Berg – Asgard mit bloßen Händen zerstört hatte, während Loki nur hilflos hatte zusehen können, und er musste mit Macht dagegen ankämpfen, nicht in dieselbe Schockstarre von damals zu verfallen.

„Mach dich bereit!“, wies er stattdessen Wanda an, und während die Luft um sie herum vor Energie zu knistern begann, tauchte Loki beide Hände in das Wasser... und ließ los.

Für einen Moment war es beinahe, als hätte er seine Magie wiedererlangt, und es erfüllte Loki mit einem solchen Hochgefühl, dass er fast aufgelacht hätte. Der See gefror von seinen Fingern ausgehend in einer langsamen, aber unaufhaltsamen wellenförmigen Bewegung zu einer arktischen Landschaft voller geborstener, scharfkantiger Eisschollen.

Die Bewegungen des Elementars, der mittlerweile den tiefsten Punkt des Sees erreicht hatte, wurden immer langsamer, gehemmt durch das Eis, auch wenn er nicht gänzlich zum Stillstand kam. Aber das war auch nie Lokis Plan gewesen.

„Wanda, jetzt!“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, und die junge Frau begann mit ihren Händen einen Wirbelsturm zu formen, der das Wasser aus dem See aufsaugte und immer weiter in die Höhe pumpte, bis es sich schließlich in einem gigantischen Schwall über dem Elementar ergoss. Sämtliche Poren und Falten seiner steinernen Haut füllten sich für einen kurzen Augenblick mit Wasser – und mehr als einen Augenblick brauchte Loki auch nicht.

Die Kälte hatte mittlerweile die Beine des Elementars erreicht und stieg in atemberaubender Geschwindigkeit an ihm empor, wobei sie jeden noch so kleinen Tropfen Wasser auf ihrem Weg gefrieren ließ. Binnen Sekunden hatte sich die Haut des Giganten von den Knien bis zum Scheitel mit einer dünnen Frostschicht überzogen und seine Bewegungen kamen nun endgültig zum Erliegen.

Loki nahm langsam wieder die Hände von der eisbedeckten Oberfläche des Sees. Vorsichtig stemmte er sich hoch und schwankte für einen Moment, bevor er wieder sicher auf beiden Beinen zu stehen kam.

Nachdem er mehrmals tief durchgeatmet hatte – der exzessive Einsatz seiner Fähigkeiten hatte ihn doch mehr Kraft gekostet, als er gedacht hätte –, drehte er sich zur Seite und wandte sich mit triumphierender Miene an Stark, der das Spektakel mit hochgeklappter Maske und offenem Mund verfolgt hatte.

„... okay“, sagte Loki. „Jetzt kannst du es noch mal mit deinen Blastern versuchen.“

Dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Loki fiel durch Raum und Zeit.

Sterne rasten an ihm vorbei, Kometen gleich, manche hell und strahlend, andere rotglühend und bedrohlich. Galaxien drehten sich langsam in der Ferne, während er durch Nebel fiel, die sich über Lichtjahre hinweg erstreckten und in denen neue Sterne und Planetensysteme geboren wurden. Er wurde in schwarze Löcher gezogen, in seine Atome zersetzt und neu wieder zusammengefügt, er flog durch Asteroidenfelder, die aus den zermahlenen Überresten längst untergegangener Welten bestanden, und er fiel in die dunkelsten Tiefen des Universums, die seit Äonen kein Lichtstrahl durchdrungen hatte, und in der gespenstische, kalte Dinge lebten.

Als Loki schließlich landete, war es hart und schmerzvoll, und für einen Augenblick sehnte er sich wieder nach dem freien Fall und der Kälte und Gleichgültigkeit des Universums zurück.

Doch dann ertönte eine tiefe Stimme in der Dunkelheit.

„Sieh an“, sagte Thanos und Lokis Herzschlag schien für einen Moment auszusetzen. „Und wer magst du wohl sein, kleiner Mann...?“

 

Loki erwachte.

Sein Puls raste und eisiger Schweiß stand ihm auf der Stirn, während sich der Traum – nein, die Erinnerung, korrigierte er sich – von dem Tag, an dem er dem Titanen das erste Mal begegnet war, allmählich wieder verflüchtigte.

Es lag Jahre zurück, seitdem er seinen Vater und Bruder abgelehnt hatte und von dem geborstenen Ende der Regenbogenbrücke gefallen war, und doch entsann er sich noch gut an den Schmerz in Thors Augen und an seinen eigenen, endlosen Sturz durch das Universum – sowie an denjenigen, der ihn schließlich gefunden und zum Werkzeug seines Krieges gemacht hatte.

Seit der Schlacht von New York hatte es kaum eine Nacht gegeben, in der er nicht in irgendeiner Form von Thanos geträumt hatte und schweißgebadet aus dem Schlaf hochgeschreckt war. Seine Träume waren jedoch seltener geworden, seitdem Thor ihn zurückgebracht hatte, und bevor er die Avengers verlassen und seine Weltreise begonnen hatte, hatte es oft über Wochen hinweg keine Vorfälle dieser Art mehr gegeben.

Das mochte zum einen daran liegen, dass Thanos nun endgültig besiegt war und sich dieses Wissen auch auf seine Träume auswirkte, und zum anderen daran, dass Loki zum ersten Mal seit langem wieder eine Beziehung zu seinem Bruder pflegte, die nicht auf Missgunst oder Verachtung basierte, und die Nähe zu Thor ihm eine Sicherheit und Geborgenheit gab, die er seit seiner Kindheit nicht mehr gespürt hatte.

Doch seitdem waren die Träume wieder häufiger geworden, und jedes Mal reagierte Lokis Körper instinktiv auf die Gefahr.

Als er seine Magie noch besessen hatte, hatte er häufig Gegenstände in seiner unmittelbaren Umgebung in Brand gesetzt oder zum Zerspringen gebracht. Seitdem er in seinem Frostriesenkörper gefangen war, war es hingegen die Kälte, die alles und jeden um ihn herum bedrohte, und als Loki sich umsah, war er nicht überrascht, sämtliche Oberflächen in seinem Zimmer mit Frost überzogen vorzufinden.

... Moment. – Sein Zimmer?

Loki verzog das Gesicht. Die Avengers hatten ihn offenbar wieder zurück in ihr Hauptquartier gebracht, während er bewusstlos gewesen war. Er hatte nicht vorgehabt, an diesen Ort zurückzukehren, nicht jetzt, und ganz gewiss nicht unter diesen Umständen. Es war jedoch auch nicht seine Absicht gewesen, sich bei dem Kampf so zu verausgaben, dass er keiner eigenen Entscheidung mehr fähig sein würde.

Umso mehr überraschte es ihn, dass Thor zugelassen hatte, dass man ihn ausgerechnet hierher zurückbrachte. Er hatte gehofft, dass wenigstens sein Bruder seinen Wunsch nach Autonomie respektieren würde, und es traf Loki unerwartet hart, dass seine Bedürfnisse so ignoriert worden waren.

Mit Mühe schwang er die Beine aus dem Bett und stand auf. Er war barfuß und trug abgesehen von seinem Anzug keine weitere Kleidung.

Lokis Knie zitterten leicht, und er stellte plötzlich fest, wie kraftlos er sich fühlte und wie sehr sein Magen vor Hunger knurrte. Wie lange hatte er bloß geschlafen...?

Er hatte kaum ein paar Schritte getan, als es an der Tür klopfte.

Erschöpft lehnte er sich gegen ein Regal.

„Herein!“, rief er mit heiserer Stimme.

Die Tür öffnete sich und Thor trat ein. Und blieb sofort wieder stehen.

Für einen Moment tat er nichts anderes, als Loki ungläubig anzustarren.

Doch dann schüttelte er seine Benommenheit wieder ab und ging auf ihn zu und–

„Thor, nicht!“, warnte Loki, aber sein Bruder ignorierte ihn nur, wie er es immer tat, und schloss ihn in seine Arme.

„Ich fürchte weder dich noch deine Kälte, Loki, das sollte dir mittlerweile bewusst sein“, entgegnete er und lachte leise, bevor er sich wieder von ihm löste. „Es tut gut zu sehen, dass du wohlauf bist.“

Loki musterte ihn aufmerksam. „Wie lange bin ich schon hier?“

„Zwei Tage“, sagte Thor. „Stark und Banner haben bereits angefangen, nach einem Weg zu suchen, deinen Körper zu ernähren, falls du noch länger bewusstlos bleibst.“

Loki runzelte die Stirn. „Ist das so.“

Thor lächelte schwach. „Es mag dich überraschen, dies zu hören, aber ich bin nicht der einzige hier, der an deinem Wohlergehen interessiert ist.“

„Das wäre in der Tat eine Überraschung“, erwiderte Loki trocken, bevor er seinen Weg zur Tür fortsetzte. Doch nach ein paar Schritten verließ ihn erneut seine Kraft, und er musste sich an der Türklinke festhalten, um nicht umzufallen. Sofort war Thor bei ihm und schloss eine Hand um seinen Unterarm, um ihn zu stützen.

„Du kannst es langsam angehen lassen, Bruder“, sagte er sanft. „Du bist in Sicherheit.“

Und für einen kurzen, gefährlichen Moment zögerte Loki.

Er war der Einsamkeit überdrüssig und wollte mehr als alles andere bei seinem Bruder bleiben.

Doch er konnte nicht bleiben.

Thor hatte deutlich gemacht, dass er sich für die Avengers entschieden hatte und ihm nicht länger nachlaufen würde. Und auf gewisse Weise konnte Loki diese Entscheidung respektieren.

Doch sich ihm zuliebe täglich mit Leuten abzugeben, die keinen Wert auf seine Anwesenheit oder gar auf seine Person legten, war auf Dauer zu ermüdend.

Loki hob seine Hand und löste langsam Thors Griff.

„Du weißt, dass dies kein Ort für mich ist“, entgegnete er leise.

„Ja“, stimmte sein Bruder ihm zu seiner Überraschung zu. Dann fügte er hinzu: „Doch er könnte einer werden.“

Loki stieß ein Seufzen aus. „Thor, falls du tatsächlich glaubst, dass ich–“

Doch sein Bruder unterbrach ihn nur.

„Loki, versteh mich nicht falsch“, sagte er, „ich habe nicht vor, deine Meinung zu ändern. Wenn du gehen musst, dann werde ich dich nicht aufhalten. Doch wenn du nach einem Ort suchst, an dem du bleiben kannst, und ernsthaft daran interessiert bist, deinen Frieden mit den Avengers zu schließen... dann weißt du, wo du uns findest.“

Loki starrte ihn noch immer sprachlos an, als Thor erneut nach seinem Unterarm griff und behutsam die Finger um den Verschluss des goldenen Armreifs schloss und...

... ihn öffnete.

Und während das Band zwischen ihnen klappernd zu Boden fiel und Lokis Magie mit Macht zu ihm zurückkehrte und seine Haut wieder ihre vertraute, blasse Farbe annahm, schenkte Thor ihm ein warmes Lächeln und sagte:

„Wohin auch immer dein Weg dich führen wird, Bruder... ich wünsche dir alles Gute.“

Dann ging er und ließ Loki allein in seinem Zimmer zurück.

Loki zog sich an.

Nach all den Monaten in seinem Frostriesenkörper fühlte sich der Baumwollstoff seiner Kleidung ungewohnt leicht und luftig auf seiner Haut an, nicht so wie das schwere Material des Anzugs, den er stets hatte tragen müssen, um nicht vor Hitze zu vergehen.

Mit jedem neuen Kleidungsstück, das er anlegte, ließ das Gefühl der Fremdheit ein kleines bisschen mehr nach, und als er schließlich den letzten Knopf geschlossen und den Stoff seines Jacketts glattgestrichen hatte, war er wieder Loki Odinson, Prinz von Asgard, Gott der List und des Chaos.

Loki schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch.

Als er sie wieder öffnete, richtete er seine Aufmerksamkeit nach innen und rief den Frost.

Sofort nahm seine Hand eine graublaue Färbung an und überzog sich einmal mehr mit den ihm mittlerweile so vertrauten, verschlungenen Linien seines Volkes. Loki hatte in den letzten Monaten oft gerätselt, was die Linien zu bedeuten hatte – ob sie bei jedem Frostriesen individuell waren oder ob sie die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stamm symbolisierten. Doch es war niemand mehr da, den er hätte fragen können, und so würde auch dieser Teil seines Wesens ewig ein Rätsel für ihn bleiben.

Er schloss erneut die Augen und zwang den Frost zurück, und wenig später hatten seine Finger wieder ihre ursprüngliche Farbe angenommen.

Dann ballte er seine Hand zur Faust und konzentrierte sich auf die Magie in seinem Inneren. Lange musste er dieses Mal nicht danach suchen. Wo vorher eine große Leere gewesen war, war nun ein endloser Ozean, und als er seine Faust langsam wieder öffnete, tanzte eine Flamme über seinem Handteller.

Loki lächelte, während er den kleinen Feuerball zwischen seinen gespreizten Fingern hindurchtanzen ließ und ihn von einer Hand zur anderen und wieder zurück warf.

Er hatte sich lange nicht mehr so lebendig, so energiegeladen gefühlt.

Plötzlich war es ihm absolut unerklärlich, wie er es so lange ohne seine Magie hatte aushalten können. Sie war ein ebenso elementarer Teil seiner selbst, wie sein Herzschlag oder seine Liebe zu Thor.

Wie der Frost, dachte er für einen Moment, bevor er den Gedanken schnell wieder von sich schob.

Nein. Er sollte es nicht einmal in Betracht ziehen, diesen Teil seines Wesens als selbstverständlich zu akzeptieren.

„Ich bin kein Monster“, sagte er leise. „Ich bin kein Monster...!“

Loki sah den Feuerball in seiner Hand für einen Moment schweigend an.

Dann warf er die Flamme in die Luft – und blies sie aus.

 

„Sieh an!“, kommentierte Stark, als Loki in den Gemeinschaftsraum trat. „Der Held der Woche ist aus seinem Dornröschenschlaf erwacht.“

Loki machte im Vorbeigehen eine rüde Geste in seine Richtung, die den anderen Mann jedoch nur unbeeindruckt mit den Schultern zucken ließ. „Und er ist ganz der Alte, wie es aussieht.“

„Du hast dich zurückverwandelt“, stellte Rogers fest, der neben Stark auf der Couch saß. Um sie herum lagen zahlreiche Hefter mit Dokumente, die sie offenbar gemeinsam durchgegangen waren. „Ist alles in Ordnung?“

Loki, der ihn mittlerweile gut genug kannte, um zu wissen, dass es keine rhetorische Frage war, sondern dass der andere Mann tatsächlich an seinem Wohlergehen interessiert war, verdrehte nur die Augen.

„Es geht mir gut“, entgegnete er knapp, bevor er zur Küchenzeile hinüberging, um den Kühlschrank zu öffnen und darin herumzukramen.

Nach seiner speziellen Frostriesendiät in den letzten Monaten hatte er auf einmal einen enormen Appetit auf alles, was süß war, und Stark starrte ihn halb misstrauisch, halb entsetzt an, als Loki das Essen auf einem großen Teller übereinanderstapelte und sich damit an den Tisch setzte.

„Hey“, protestierte er, als Loki sich nach einer halben Schüssel Obstsalat und mehreren Joghurtbechern einem Plastikbehälter mit Schokoladenkuchen zuwandte. „Der war für Pepper reserviert...!“

„Faszinierend“, entgegnete Loki ungerührt, bevor er sich über den Kuchen hermachte.

Die beiden Männer auf der Couch tauschten wortlos einen Blick.

Dann warf Stark ergeben die Hände in die Luft. „Ernsthaft?“

Rogers musste hingegen leise lachen.

„Lass ihn“, meinte er. „Ich denke, er hat es sich  verdient.“

„Oh?“, machte Loki, dem die Bemerkung nicht entgangen war. „Höre ich da etwa ein Lob?“

Stark stieß ein Schnauben aus.

„Bist du wirklich verwundert darüber, nachdem du New York gerettet hast...?“

Er macht mit der Hand eine komplizierte Geste, und plötzlich öffnete sich vor ihm ein Holobildschirm in der Luft.

Das letzte Stück Schokokuchen verharrte auf halbem Wege zu Lokis Mund, als er innehielt, um die Ausschnitte aus den Nachrichtensendungen zu verfolgen, die Stark abspielte.

Das Bild war leicht verwackelt, aber man konnte gut den Kampf zwischen den Avengers und dem Elementar verfolgen, den jemand aus einem der Hochhäuser, die an den Central Park grenzten, gefilmt haben musste.

Erst durch die Distanz war zu sehen, wie weit sich Lokis Frost tatsächlich ausgebreitet hatte. Er hatte nicht nur den kompletten See eingefroren, sondern auch die Vegetation am Ufer dahinter, und die gesamte erste Reihe von Bäumen war mit einer dicken Frostschicht überzogen.

Kein Wunder, dass er danach zwei Tage geschlafen hatte.

„Bis jetzt ist noch nicht klar, um wen es sich bei dem unbekannten Retter handelt“, ertönte die Stimme eines Reporters, während die Bewegungen des Elementars im Hintergrund immer langsamer wurden. „Von Seiten der Avengers gab es noch keine weiteren Kommentare zu dem Vorfall oder dem mutmaßlichen, neuen Teammitglied. Eines steht jedoch fest: wer auch immer es sein mag, er scheint nicht von dieser Welt zu sein.“

„Das kannst du wohl laut sagen“, murmelte Stark.

Loki konnte sich bei dieser Bemerkung nicht zurückhalten. Er begann auf einmal zu lachen.

Rogers und Stark starrten ihn nur mit einigermaßen fassungslosen Mienen an, so als hätten sie nicht damit gerechnet, dass er zu einer solchen Gefühlsregung fähig war.

„Oh, ihr Menschen...!“, sprach Loki amüsiert, nachdem er sich wieder halbwegs beruhigt hatte. „Ihr seid wie Waschweiber, die sich das Maul über die Dinge zerreißen, die sie nicht verstehen.“

„Dann erklär es den Leuten doch.“ Starks Erwiderung war unerwartet nüchtern. „Sag ihnen, wer du bist und was dich bewogen hat, in den Kampf einzugreifen. Beantworte ihre Fragen und nimmt ihnen ihre Zweifel.“

„Und was genau ist es, was ich ihnen mitteilen soll?“, fragte Loki spöttisch. „Dass ich... was bin? Etwa ein Avenger?“

„Das ist ganz dir überlassen“, sagte Rogers leise. „In dem Moment, in dem du aus den Schatten getreten bist und beschlossen hast, uns zu helfen – in diesem Moment hast du die Welt auf dich aufmerksam gemacht und ihr Interesse an dir geweckt. Was du damit anfängst, das ist allein deine Entscheidung.“

Bei den Nornen, der Mann war fast so hartnäckig, wie sein dickköpfiger Bruder.

Loki – ein Avenger? Allein der Gedanke war schlichtweg lächerlich.

Er hätte niemals in den Kampf eingreifen sollen. Wäre Thor ihm doch bloß nicht direkt vor die Füße gefallen...

Loki schob seinen halbleeren Teller zurück und stand auf.

Ihm lag eine spöttische Erwiderung auf der Zunge, doch als er den Mund öffnete, um zu antworten, kam für einen Augenblick kein Wort heraus.

Schließlich entgegnete er:

„Überbringt meinem Bruder meine Grüße.“

Rogers schenkte ihm daraufhin ein Lächeln, doch Loki wandte sich nur wortlos ab und ging.

Was um alles in der Welt tat er da? Nur ein klares Nein wäre in diesem Fall eine akzeptable Antwort gewesen, und doch...

Und doch.

Thor war davon überzeugt gewesen, dass Loki keine Gefahr mehr für andere darstellte. Das hatte der goldene Reif, der sich nach all den Monaten endlich wieder geöffnet hatte, nur deutlich genug bewiesen.

Nun musste nur noch Loki selbst anfangen, daran zu glauben...

Als Thor seinen Bruder das nächste Mal wiedersah, war es an einem Ort, an dem er definitiv nicht mit ihm gerechnet hatte.

Es war ein kühler, aber sonniger Nachmittag im Spätherbst, und Thor hatte sich auf einen gemütlichen Spaziergang mit Jane durch die Innenstadt von San Francisco gefreut. Obwohl sie schon vor längerer Zeit in Freundschaft auseinandergegangen waren, hatten sie doch noch immer Kontakt zueinander, und als Jane, die mittlerweile an der Westküste arbeitete, ihn über das Wochenende zum Sightseeing eingeladen hatte, hatte er nicht nein gesagt. Loki war seit dem Kampf im Central Park verschollen und Thor sehnte sich nach Ablenkung. Als Janes Anruf gekommen war, hatte er darum nicht lange gezögert und sich unverzüglich auf den Weg gemacht.

Zwei Stunden nach seiner Ankunft in San Francisco bekam er einen Anruf aus dem Avengers-Hauptquartier.

„Uhm“, machte Steve, was nie ein gutes Zeichen war.

Thor seufzte. So viel zu dem Spaziergang. „Was ist es dieses Mal?“

„Es sieht aus, als hätte eine uns bislang unbekannte Alienspezies weite Teile der Menschheit unterwandert“, berichtete Steve. „Fury hielt es anscheinend für eine gute Idee, bis zum denkbar letzten Moment zu warten, um uns darüber in Kenntnis zu setzen, und heute ist der Tag, an dem der Feind kollektiv zuschlagen wird, insbesondere in den Großstädten. Ich habe den Rest des Teams so gut es geht über das Land verteilt, aber es wird knapp werden. Halte dich bereit und sei auf der Hut. Sie können aussehen wie jeder von uns.“

Thor starrte das Telefon noch für eine halbe Minute an, nachdem Steve sich schon längst verabschiedet hatte, bevor er es kopfschüttelnd wieder weglegte.

„Thor? Dein Gesichtsausdruck macht mir Sorgen“, sagte Jane, als er zu ihr ins Wohnzimmer zurückkehrte. „Womit haben wir es nun schon wieder zu tun?“

„Mit einer Kriegerrasse aus dem All, die die Menschheit infiltriert hat“, erwiderte Thor. „Offenbar nennen sie sich Skrull.“

„Okay“, sagte Jane und fuhr sich seufzend mit den Fingern durch die Haare. „Ich geh dann mal meine Stiefel anziehen und den Taser aus dem Schlafzimmer holen.“

Thor schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.

Plötzlich wusste er wieder, warum er sie geliebt hatte.

 

Unter anderen Umständen hätte die Golden Gate Bridge einen malerischen Hintergrund abgegeben, nicht jedoch, wenn sich San Francisco in ein Schlachtfeld verwandelt hatte.

Steve hatte nicht gelogen – sie konnten in der Tat wie jeder aussehen, und sie waren wahnsinnig stark. Die menschliche Bevölkerung hatte kaum eine Chance. Oder hätte kaum eine Chance gehabt, wäre die Anzahl von Skrulls im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung nicht so gering gewesen, dass sich die Kämpfe auf ein knappes Dutzend Schlachtfelder innerhalb der Stadt beschränkten. Doch trotz ihrer geringen Menge war der Schaden, den sie anrichteten, immer noch enorm, und Thor und Jane hatten alle Hände voll zu tun, ihn zu begrenzen.

„Geh nur!“, rief Jane ihm schließlich zu, in einer Hand ihren Taser, in der anderen eine Leuchtpistole. „Wenn wir uns aufteilen, schaffen wir mehr!“

„Bist du dir sicher?“, fragte Thor besorgt. „Der Feind könnte überall lauern.“

„Wir haben diesen Planeten schon beschützt, bevor du hier aufgetaucht bist“, entgegnete Jane sanft und legte eine Hand an seine Wange. „Wir werden schon zurechtkommen.“

Sie umarmte ihn kurz.

„Bis später!“, rief sie dann und lief los.

Thor sah ihr für einen Moment nach. Er wusste, dass sie Recht hatte, und dass sie kompetent genug war, sich zu verteidigen. Es war nicht länger seine Aufgabe, sie zu beschützen, sondern darauf zu vertrauen, dass sie es auch selbst tun konnte.

Thor traf seine Entscheidung. Dann wandte er sich ab und begab sich auf das nächste Schlachtfeld.

 

Er hatte gerade ein Dutzend halbwüchsiger Skrulls auf einem der öffentlichen Spielplätze außer Gefecht gesetzt und war zum nächsten Einsatzort unterwegs, als er einen kalten Hauch im Nacken spürte.

Thor konnte sich gerade rechtzeitig ducken, bevor ein Speer aus Eis über ihn hinwegflog, der ihn durchbohrt hätte, hätte er auch nur den Bruchteil einer Sekunde zu spät reagiert.

„Clever“, hörte er die vertraute Stimme seines Bruders. Eine Mischung aus Verachtung und kaum unterdrückter Wut schwang in ihr mit. „Das Aussehen eines Avengers anzunehmen, um das Vertrauen der Bevölkerung zu erringen...“

„Loki?!“ Thor fuhr herum – und tatsächlich. Sein Bruder stand vor ihm, die Arme vor der Brust verschränkt und wie immer tadellos in einen schwarzen Anzug gekleidet. „Was tust du hier?“

„Dasselbe könnte ich dich fragen, Skrull-Abschaum!“ Loki streckte die Hand aus und eine weitere Lanze aus Eis begann sich darin zu materialisieren. „Wie kannst du es wagen, dich für einen Prinzen von Asgard auszugeben?“

„Moment mal – Prinz?“ Trotz der drohenden Geste seines Bruders musste Thor plötzlich die Stirn runzeln. „Soweit ich weiß, bin ich immer noch König!“

„Wo kein Volk ist, da ist auch kein König“, erwiderte Loki kühl. Doch Thors Worte ließen ihn innehalten. Misstrauisch zog er die Augenbrauen zusammen. „Woher soll ich wissen, dass du die Wahrheit sagst? Welchen Grund hätte Thor, allein nach San Francisco zu kommen?“

„Auch Avengers machen Urlaub, Bruder“, sagte Thor und lächelte schief, froh darüber, dass Loki ihn zumindest für den Moment nicht länger umbringen wollte.

„Ist das so“, entgegnete Loki und richtete die Lanze auf seine Kehle. Eilig ließ Thor Sturmbrecher fallen und hob seine Hände. „Wenn du tatsächlich mein Bruder bist, und nicht nur ein Betrüger, der sein Gesicht trägt, dann erzähl mir etwas, was nur er wissen kann!“

Etwas, was nur Loki und ihm bekannt war...?

Thor konnte auf mehr als tausend Jahre zurückblicken, die sie Seite an Seite verbracht hatten. Er musste darum nicht lange überlegen, bis ihm etwas einfiel.

„Wir waren kaum vierhundert Jahre alt“, erzählte er und sah Loki ruhig in die Augen, „und spielten gemeinsam in dem wilden Garten vor den Toren der Stadt. Ich hatte über Wochen hinweg mehrere Gruben gegraben, um einen Eber zu fangen, obwohl es in dem Teil des Gartens keine wilden Tiere gab, wie du nicht müde wurdest zu betonen. Aber ich wollte nicht auf dich hören, und so hast du dir einen Spaß daraus gemacht, die Gruben mit Illusionen zu verbergen. Als wir uns auf den Heimweg machten, fiel ich in eine der Gruben, die du getarnt hattest, und brach mir den Arm. Du hast dich so erschrocken, dass du geweint hast, bevor du mich wieder herausgezogen und auf dem Rücken zurück zum Palast getragen hast.“

Loki sah ihn aus großen Augen an. Dann ließ er die Lanze langsam wieder sinken.

„Ich erinnere mich“, sagte er leise. „Ich hatte solche Angst vor der Reaktion unserer Eltern... doch Vater schüttelte nur den Kopf und Mutter nahm uns in die Arme, bevor sie dich zu den Heilern brachte. Ich habe mir lange Zeit nicht dafür verzeihen können, dass mein Streich dir Schmerzen bereitet hat.“

„Loki, du warst damals wie heute mein Bruder und mein bester Freund“, erwiderte Thor und lächelte. „Und damals wie heute habe ich dir nie Vorwürfe deswegen gemacht.“

Die Waffe in Lokis Hand begann zu schmelzen und er ließ ihre Überreste achtlos zu Boden fallen.

„... du bist es wirklich“, sagte Loki mit einem Anflug von Erstaunen.

Dann weiteten sich seine Augen mit einem Mal vor Entsetzen. „Und ich hätte dich fast durchbohrt...!“

Thor rieb sich verlegen den Nacken.

„Schon vergessen“, meinte er. „Außerdem wäre es nicht das erste Mal gewesen...“

Loki machte eine halb betroffene, halb vorwurfsvolle Miene bei diesen Worten, doch um seine Mundwinkel spielte ein Lächeln.

„Nun, was nicht ist, kann noch werden“, drohte er, doch sein spöttischer Tonfall machte Thor klar, dass er es nicht ernst meinte.

Stattdessen nickte er hinüber zu der geschmolzenen Lanze. „Du hast weiter mit deinen Kräften experimentiert, sehe ich.“

Loki zuckte betont gleichgültig mit den Schultern. „Ich dachte mir, wenn ich sie schon habe, sollte ich sie auch sinnvoll nutzen.“

Thor nickte. Dann verzog sich sein Mund zu einem Grinsen.

„Es wäre mir eine Ehre, Bruder, würdest du sie mir im Kampf demonstrieren“, sagte er und richtete den Blick auf eine Reihe von Feuern, die nur wenige Straßenzüge weiter brannten. Schreie und Schüsse machten deutlich, dass dort heftig gekämpft wurde.

Lokis Augen begannen zu funkeln, als sie seinem Blick folgten.

„Oh“, erwiderte er, „die Ehre wäre ganz meinerseits...“

Von einem Augenblick zum anderen war es, als wären sie nie getrennt gewesen.

Sie waren eine Einheit, perfekt auf den jeweils anderen abgestimmt, wie ein Uhrwerk, dessen Zahnräder lückenlos ineinandergriffen. Wie selbstverständlich ergänzten sie sich in ihren Attacken und der Defensive, und wo der eine bereits zum nächsten Angriff überging, hielt der andere ihm den Rücken frei.

Und Loki hatte es vermisst, verdammt, mehr als er es Thor gegenüber je zugeben würde.

Er hatte das beruhigende Gefühl vermisst, seinen Bruder an seiner Seite zu wissen, während sie sich gemeinsam mit einem unberechenbaren Gegner anlegten. Er hatte den Adrenalinrausch der Schlacht vermisst, den Moment, an dem er die Kontrolle vollständig an seinen Körper abgab, an dem er aufhörte zu denken, sondern nur noch fühlte, nur noch instinktiv handelte. Und er hatte das Kribbeln in seinen Fingern vermisst – oh, wie sehr er es vermisst hatte! – wann immer er auf die Magie in seinem Inneren und in der Welt um sich herum zugriff, um sie nach seinen Wünschen zu formen und im Kampf einzusetzen.

Und dieses Mal hatte er außerdem noch den ein oder anderen neuen Trick parat.

Während Thor Sturmbrecher rotieren ließ, um eine Salve von Laserattacken abzuwehren, breitete Loki die Arme aus und zog mit seiner Magie das Wasser aus der Luft, nur um es anschließend in Form von dutzenden, nadelspitzen Eisdolchen gefrieren zu lassen und auf ihre Gegner zu schleudern.

Die Skrull fielen dem Angriff zum Opfer, als hätte er sie mit einer Sense niedergemäht, und einen Augenblick später war keiner von ihnen mehr auf den Beinen.

Thor ließ seine Axt sinken.

„Nicht schlecht, Bruder“, sagte er anerkennend.

Loki schenkte ihm ein Lächeln – das erste echte seit langem.

„Du solltest mich erst mal über Wasser laufen sehen“, erwiderte er.

„... was?“, entfuhr es Thor, doch Loki hatte sich schon wieder abgewandt und war weitergegangen.

Er würde es nie müde werden, seinen Bruder auf Trab zu halten.

Doch er hatte kaum die nächste Straßenecke erreicht, als ihn eine plötzliche Lasersalve direkt gegen die Brust traf und ihn rückwärts taumeln ließ.

Loki!

Sofort war Thor bei ihm und zog ihn in die Sicherheit des nächsten Hauseinganges.

Große, aber behutsame Hände befreiten ihn vom schwelenden, verbrannt riechenden Stoff seines Anzugs, um die Haut darunter freizulegen.

„Bruder, hörst du mich...?“, fragte Thor mit besorgter Stimme, während er nach der Wunde auf seinem Brustkorb suchte. Doch anstatt Blut oder eine hässliche Brandwunde vorzufinden, entdeckte er etwas gänzlich anderes.

„Was zum...“, murmelte er, während seine Finger über das glatte Eis fuhren.

„Mmh“, machte Loki benommen und öffnete langsam wieder die Augen.

Seine Rippen schmerzten, als wäre er in einen fahrenden Truck gerannt. Hätte er nicht im letzten Moment einen Panzer aus Eis heraufbeschworen, dann wäre dies sein Ende gewesen... wieder mal.

„Unglaublich“, sagte Thor leise, während er mit bewunderndem Blick dabei zusah, wie sich der schützende Panzer langsam wieder von Lokis Brustkorb zurückzog. „Dein Körper ist erstaunlich, Loki.“

Die Bemerkung hätte Loki fast auflachen lassen.

Oh, wenn sein wundervoller, einfältiger Bruder doch nur wüsste, was für Geheimnisse sein Jotunkörper noch alles in sich barg...

Mühsam stemmte er sich hoch, während Thor ihn dabei stützte.

Fantastisch“, kommentierte er trocken, während er die Überreste seines Jacketts abstreifte und die Ärmel des weißen Hemdes darunter hochkrempelte. Sein Anzug hatte ihn nicht wenig Geld gekostet, jetzt musste er erst wieder den Schneider aufsuchen, der ihm das letzte Exemplar angefertigt hatte.

Eine erneute Salve, dieses Mal sehr viel näher, ließ die Brüder zusammenfahren.

„Alles okay?“, fragte Thor.

Loki kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass die eigentlich Frage dahinter „Schaffst du das?“ lautete, und er war dankbar, dass sein Bruder mittlerweile genug Respekt vor ihm hatte, um sie nicht auszusprechen.

„Mach dir um mich keine Sorgen“, entgegnete er, dann konzentrierte er sich kurz, bevor er Illusionen von sich und Thor erschuf und sie die Deckung verlassen ließ.

Sofort wurden ihre Doppelgänger von mehreren Lasersalven durchbohrt, die den schmutzigen Boden aufwirbelten.

Die Staubwolke gab den Brüdern jedoch auch den nötigen Sichtschutz, um ihr Versteck zu verlassen.

Thor wechselte einen Blick mit Loki.

„Bereit?“

Loki streckte die Hände aus, in denen sich Dolche aus Eis formten.

„Bereit.“

Und gemeinsam stürzten sie sich erneut in die Schlacht.

 

Sie trafen sich am Abend mit Jane in einer Bar in der Bucht von San Francisco. Die Kämpfe hatten eine knappe Stunde zuvor im gesamten Stadtgebiet aufgehört und Steve hatte ihnen mitgeteilt, dass die Skrull sich vorerst vom Planeten zurückgezogen hatten.

Ein langer, blutiger Kratzer zog sich über Janes linke Wange und ihre Haare waren auf einer Seite versengt, aber ansonsten schien sie wohlauf zu sein, wenn auch zu Tode erschöpft.

„Oh, hey“, sagte sie und schenkte den Brüdern ein müdes Lächeln, als sie sich zu ihr an den Tisch gesellten.

„Mal keine Ohrfeige zur Begrüßung?“, fragte Loki mit schiefem Lächeln, als er sich auf den Stuhl ihr gegenüber sinken ließ.

„Nah“, machte sie und winkte nur ab. „Kostet nur Kraft.“

Dann verzog sie den Mund zu einem Schmunzeln.

„Außerdem hast du dich heute genauso wacker geschlagen, wie der Rest von uns, würde ich sagen“, fuhr sie fort. „Ich denke, du hast dir einen Drink verdient.“

Thor stieß ein leises Lachen aus.

„Wo sie Recht hat, Bruder...“

„Ja, ja, schon gut“, seufzte Loki. Eine bleierne Müdigkeit hatte von ihm Besitz ergriffen und er hätte eher seine rechte Hand geopfert, als noch einmal aufstehen zu müssen.

Trotzdem tat er so, als würde es ihn viel Selbstüberwindung kosten, als er hinzufügte: „Na schön, für einen Drink bleibe ich noch.“

Thor schenkte ihm jedoch nur ein wissendes Lächeln, und vielleicht – nur vielleicht – war Loki ein kleines bisschen beleidigt.

Aber wirklich nur vielleicht.

 

Zur Überraschung von absolut niemandem blieb er noch für sechs weitere Drinks, und als Jane ihm anbot, die Nacht ebenfalls in ihrem Apartment zu verbringen, war Lokis Widerstand so weit gesunken, dass er zusagte, ohne lange zu zögern. Er hätte sich auch auf die Suche nach einem Hotel machen können, aber in seinem Zustand war ihm nicht danach, und wenigstens ein einziges Mal wollte er sich die Schwäche erlauben, die Sicherheit anzunehmen, die ihm angeboten wurde.

Er schlief in dieser Nacht auf der ausgezogenen Couch in Janes Wohnzimmer.

Thors leisen Protest, dass dies sein Schlafplatz wäre, ignorierte Loki dabei geflissentlich.

„Es ist genug Platz für uns beide da“, meinte er nur, während er sich ein Kissen griff und es sich auf der einen Hälfte der Couch gemütlich machte.

Thor schüttelte mit einem Lächeln den Kopf. „Wir sind keine Kinder mehr, Loki.“

„Und? Wir sind auch keine Liebhaber“, sagte Loki gähnend. „Also wo ist das Problem...?“

Er vergrub das Gesicht in seinem Kissen und gab sich endlich seiner Müdigkeit hin und war eingeschlafen, bevor er die Antwort seines Bruders hören konnte.

„Unfassbar.“

Jane schüttelte den Kopf, während sie den schlafenden Mann auf ihrem Sofa ansah. Loki schnarchte leise, das Gesicht verborgen hinter einem Vorhang rabenschwarzer Locken.

„War er schon immer so unhöflich?“

Thor seufzte. „Mein Bruder war schon immer... eigen.“

„Eure Familienfeiern müssen interessant gewesen sein“, meinte Jane.

Thor lachte auf. „Oh, du machst dir keine Vorstellung...!“

„Vielleicht nicht. Vielleicht doch.“ Jane zuckte mit den Schultern. „Familie ist überall gleich.“

Dann legte sich ein warmes Lächeln auf ihre Lippen.

„Aber es freut mich zu sehen, dass ihr euch wieder besser versteht“, sagte sie dann. „Ich glaube, du tust ihm gut. Und er dir.“

„Findest du...?“ Thor sah auf die sorglose und entspannte Gestalt seines Bruders herab. Loki vertraute ihm genug, dass er in seiner Anwesenheit schlafen konnte, und die Erkenntnis, dass sie nach Jahren der Verbitterung und des Konfliktes endlich wieder diesen Punkt erreicht hatten, erfüllte Thor mit einem Gefühl des Glücks und der Dankbarkeit.

„Oh, absolut“, erwiderte Jane leise. In ihrer Stimme war ein seltsamer Unterton, auf den Thor sich keinen Reim machen konnte.

Dann wandte sie sich mit einem Gähnen ab. „Du kannst mein Bett für die Nacht haben. Ich bin mir sicher, ich habe irgendwo noch eine Luftmatratze, die ich aufpumpen kann, die kann ich dann nehmen...“

„Auf keinen Fall.“ Thor schüttelte den Kopf. „Der Tag war lang und du brauchst deine Erholung. Ich kann mir die Couch mit Loki teilen.“

Sie zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Aber ich dachte...?“

„Es macht mir nichts aus, wirklich“, versprach Thor. „Ich war nur überrascht, dass Loki diesen Vorschlag gemacht hat. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es etwas ist, was er tolerieren würde.“

Sie nickte mit verständnisvoller Miene.

„Na gut“, entgegnete sie, und wieder war da dieser seltsame Unterton, als wüsste sie etwas, was er nicht wüsste. „Dann wünsche ich dir eine erholsame Nacht.“

„Und ich dir.“ Thor schenkte ihr ein Lächeln.

Dann zog sich Jane in ihr Schlafzimmer zurück und schloss die Tür.

Auch Thor ging kurz darauf schlafen. Frisch geduscht, bekleidet nur mit einem Paar bequemer Baumwollshorts, legte er sich neben seinem Bruder auf die ausgezogene Couch und war nur wenige Minuten später eingeschlafen.

 

Es musste schon nach Mitternacht sein, als er von einem eisigen Lufthauch geweckt wurde.

Verschlafen öffnete Thor die Augen und versuchte die Dunkelheit mit seinem Blick zu durchdringen. Doch Türen und Fenster der Wohnung waren geschlossen und alles war ruhig.

Dann hörte er ein leises Wimmern – und plötzlich war er hellwach.

„Loki!“, stieß er hervor und drehte sich zu seinem Bruder herum.

Loki schlief noch immer, aber es war offensichtlich, dass ihn ein Alptraum quälte, denn er wälzte sich unruhig auf seiner Hälfte der Couch hin und her. Dabei wechselte er immer wieder unbewusst in seine Frostriesengestalt und wieder zurück, was der Grund für die Kälte gewesen sein musste, die Thor geweckt hatte.

„Loki...!“

Die gequälten, verängstigten Laute, die sein Bruder von sich gab, brachen Thor fast das Herz. Ihm fiel außerdem auf, dass Loki die Hände an den Hals gelegt hatte, als wollte er ihn schützen, und es erforderte nicht viel Fantasie, um zu erkennen, warum. Thor rückte näher an seinen Bruder heran und legte die Hand an seinen Oberarm.

„Loki, du bist in Sicherheit“, sagte er leise, in der Hoffnung, dass Loki ihn hören konnte. „Er ist tot und kann dir nicht mehr wehtun.“

Für einen Moment lag sein Bruder still da und Thor dachte schon, dass seine Worte ihn erreicht hatten.

Doch dann überzog sich sein Körper wieder mit den verschlungenen, blauen Linien seiner Jotungestalt und Thor zog fluchend seine Hand zurück, als die eisige Kälte seine Finger taub werden ließ.

„Loki...!“, wiederholte er hilflos, doch sein Bruder war in seiner eigenen Welt gefangen und es peinigte Thor, ihn so zu sehen.

„Thor...?“, ertönte in diesem Moment Janes verschlafene Stimme von der offenen Schlafzimmertür her. „Was ist los?“

Thor setzte sich auf.

„Es ist Loki“, erwiderte er und rieb sich müde mit der Hand über die Augen. „Er hat einen Alptraum und ich schaffe es nicht, ihn zu erreichen.“

Jane trat näher und sah auf den schlafenden Mann herab, der sich mittlerweile schützend zusammengerollt hatte.

„Hat er so etwas schon öfter gehabt?“, fragte sie mit leiser, aber ernster Stimme.

„Ich...“, begann Thor und zögerte dann. „Ich weiß es nicht.“

Er musste sich zu seiner Scham eingestehen, dass er darauf tatsächlich keine Antwort hatte. Es war ewig her, dass er sich mit seinem Bruder nachts ein Zimmer geteilt hatte, und falls Loki diese Träume auch während seiner Zeit im Hauptquartier der Avengers gehabt hatte, dann hatte er es sich nicht anmerken lassen.

Doch allein die Vorstellung, dass dies etwas war, was seinem Bruder regelmäßig widerfuhr, ohne dass irgendwer in diesen Momenten bei ihm war, war fast mehr, als Thor ertragen konnte.

Erneut streckte er die Hand aus, und dieses Mal zog er sie nicht sofort wieder zurück, als er sie auf Lokis eiskalten Rücken legte, auch wenn der Frost ihm schmerzhaft in die Finger biss.

„Loki, ich bin es“, versuchte er es erneut. „Es ist alles gut, du hast nur einen Alptraum... es ist alles gut... dir kann nichts mehr passieren...“

Es dauerte eine Weile, doch schließlich schienen der Körperkontakt und die gemurmelten Worte zu seinem Bruder durchzudringen. Lokis Körper entspannte sich langsam wieder und die blauen Linien zogen sich zurück. Mit jedem ruhigen Atemzug, den er tat, wurde es wieder wärmer im Zimmer, und nach einigen Minuten war sein Bruder schließlich wieder in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen.

Obwohl seine Hand noch immer taub war und das Gefühl nur langsam wieder in sie zurückkehrte, stieß Thor ein erleichtertes Seufzen aus.

Krise erfolgreich gelöst.

„Thor“, sagte Jane auf einmal, und er hob den Blick.

Sie musterte ihn mit unergründlicher Miene.

„Ihr zwei solltet reden“, meinte sie. „Und zwar möglichst bald.“

Er sah sie verständnislos an. „Worüber?“

„Über... all das hier.“ Sie machte eine Geste, die die gesamte Couch einschloss. „Darüber, ob er wirklich weiterhin seinen Weg allein gehen will. Darüber, ob von ihm getrennt zu sein wirklich das ist, was du möchtest. Ich glaube...“

Sie verstummte für einen Moment, als schien sie gründlich über ihre nächsten Worte nachzudenken, und fuhr schließlich mit etwas sanfterer Stimme fort: „Ich glaube, er ist nicht der einzige von euch beiden, der nicht wirklich weiß, was er will – und wo er hingehört.“

Thor blinzelte, überrascht von ihren Worten.

Doch bevor er sich eine Antwort zurechtlegen konnte, hatte Jane ihm schon eine gute Nacht gewünscht und sich wieder in ihr Zimmer zurückgezogen.

Thor ließ sich zurück auf das Laken sinken und starrte im Halbdunkel an die Zimmerdecke.

Ihre Worte sollten ihn noch für eine ganze Weile beschäftigen, bevor auch er selbst schließlich wieder Schlaf fand.

 

Er hätte damit rechnen sollen, doch als Thor am nächsten Morgen erwachte und feststellte, dass Loki ihn einmal mehr zurückgelassen hatte, um seine Reise allein fortzusetzen, traf ihn die Enttäuschung tiefer, als all die anderen Mal zuvor.

Er rieb sich seufzend das Gesicht.

Vielleicht hatte Jane doch Recht gehabt mit dem, was sie gesagt hatte:

Sie sollten reden.

Denn so konnte es definitiv nicht mehr weitergehen...

„Hältst du das für eine weise Idee? Es könnte deinen Ruf zerstören.“

„Ich muss es tun. Ich bin es uns beiden schuldig, erst recht nach allem, was passiert ist.“

„Und wenn er nicht darauf reinfällt? Er ist intelligent, er wird merken, dass etwas faul ist.“

„Möglich. Aber er wird kommen, daran zweifle ich nicht. Denn er ist berechenbar; das war er schon immer...“

 
 

~*~

Loki hatte den Kopf an die Scheibe gelehnt und starrte aus dem Fenster des Reisebusses.

Am Horizont über dem Pazifik ging die Sonne unter und tauchte die raue Küstenlandschaft von Oregon in warme Rot- und Goldtöne, während sie den Ozean selbst in ein gleißendes Flammenmeer verwandelte. Selbst für jemanden, der den Prunk Asgards gewohnt war, war es ein atemberaubender Anblick, doch Loki war tief in Gedanken versunken und konnte sich nicht für das abendliche Lichtspektakel begeistern.

Als er an diesem Morgen erwacht war, Thor neben sich, der einen Arm locker um seine Körpermitte geschlungen hatte, als wäre es das Natürlichste auf der Welt... da hatte er für einen Moment gezögert.

Für einen Moment hatte er mit dem Gedanken gespielt, nicht länger wegzulaufen, sondern die Augen zu schließen und weiterzuschlafen, damit er beim nächsten Mal zusammen mit seinem Bruder erwachen konnte. Damit sie den Tag gemeinsam verbringen konnten, egal, was er auch für sie bereithielt. Damit sie wenigstens für einen Tag einfach nur Thor und Loki sein konnten, ohne Erwartungen oder Druck von außen.

Doch dann musste er wieder an die Skrull und die Kämpfe in den Straßen von San Francisco denken, und an Thors beiläufige Bemerkung, dass er den restlichen Avengers von Lokis heldenhaftem Einsatz erzählen würde, und das hatte ihm schließlich die Kraft gegeben, den Arm seines Bruders wegzuschieben und aufzustehen.

An seiner Antwort an Steve Rogers hatte sich in den letzten neun Monaten nicht viel geändert.

Loki würde niemals ein Avenger sein. Niemals.

Nicht, weil er sie hasste; ganz so stark war seine Abneigung gegen sie dann doch nicht – mit Ausnahme vielleicht von Stark. Es war vielmehr die Institution, die ihn abschreckte, die Erwartungen und die Pflichten, die damit einhergingen, sowie die Einschränkungen, denen er mit dem Status als Avenger unterworfen sein würde.

Und Loki würde sich niemals solch einengenden Strukturen unterwerfen. Er konnte nicht. Es war schlichtweg nicht in seiner Natur. Wenn er in den mehr als tausend Jahren am königlichen Hof von Asgard eines gelernt hatte, dann das.

Was jedoch bleiben würde, war die Sehnsucht nach seinem Bruder und die Freundschaft und Zuneigung, die sie miteinander verband – jetzt mehr, als je zuvor. Doch wie so vieles, was ihn peinigte, war auch dies ein Schmerz, mit dem er lernen würde zu leben.

Loki schloss die Augen und während die letzten Strahlen der untergehenden Sonne sein Gesicht wärmten, war er bald eingedöst.

 

Als er am nächsten Morgen in Seattle aus dem Bus stieg, war die Stadt in Nebel gehüllt und ein kalter Lufthauch wehte vom Meer hinüber. Für einen Moment fühlte er sich an jenen schicksalshaften Wintertag erinnert, an dem er und Thor den Zauberer aufgesucht hatten.

Doch dieses Mal war er allein, und im Gegensatz zu Strange würde Seattle ihn nicht verurteilen.

Erschöpft von der langen Fahrt suchte Loki das hiesige Four Seasons auf, um ein Zimmer zu mieten.

Doch noch während der Anmeldung bemerkte er, wie ihm einer der Hotelmitarbeiter immer wieder nervöse Blicke zuwarf. Seltsam. Blicke dieser Art war er seit der Schlacht von New York nicht mehr gewohnt. Er nahm sich jedoch vor, den Mann zu ignorieren und schloss die Buchung ab, bevor er sich erkundigte, wo er in der Stadt einen Schneider fand, der ihm seinen kaputten Anzug ersetzen konnte.

Nachdem er mehrere Adressen und seinen Zimmerschlüssel erhalten hatte, wandte er sich ab und steuerte auf den Fahrstuhl zu.

Wieder begegnete ihm der leicht panische Blick des Hotelangestellten, als er an der Rezeption vorbeiging, und Loki war kurz davor, den Mann am Kragen zu packen und über den Schalter zu ziehen, um ihn zu fragen, was sein gottverdammtes Problem war.

Dann bemerkte er die Zeitung, die aufgeschlagen neben dem PC-Bildschirm des Mannes lag.

Das Bild auf der Titelseite war leicht verschwommen, doch die beiden Gestalten, die es zeigte, waren dennoch unverkennbar.

Es handelte sich um Thor und ihn bei ihrem Kampf gegen die Skrull in San Francisco.

„Was zum...?“, murmelte Loki und blieb abrupt stehen, um nach der Zeitung zu greifen, den leisen Protest des Sterblichen ignorierend.

THOR ODINSON – IM BÜNDNIS MIT DEM FEIND?, lautete die Schlagzeile. Loki blätterte weiter.

Erneut das etwas unscharfe Bild aus San Francisco, und daneben ein älteres Foto von ihm, das während der Schlacht von New York aufgenommen worden war.

Trotz der unterschiedlichen Winkel, aus denen die Bilder geschossen worden waren, war deutlich zu sehen, dass es sich dabei um dieselbe Person handelte.

Mit zunehmender Fassungslosigkeit las er den Text darunter.

Offenbar waren er und Thor während der Kämpfe in San Francisco von genug Leuten gefilmt worden, dass man Parallelen zwischen ihm und dem Gott hatte ziehen können, der damals eine Alienarmee auf New York losgelassen hatte.

Da die Öffentlichkeit nie offiziell erfahren hatte, was nach der Schlacht mit Loki passiert war, und nur zahllose Verschwörungstheorien über sein Schicksal existierten, war es vermutlich nicht überraschend, dass sich die Menschen auf jedes noch so kleine Stückchen Information stürzten... und auf Thor, dessen Vertrauenswürdigkeit nun angezweifelt wurde. Die Tatsache, dass sowohl Thor als auch Loki alles gegeben hatten, um die Bevölkerung von San Francisco  zu beschützen, schien dabei keine große Rolle zu spielen – es war allein der Skandal, der zählte.

Und es machte Loki wütend.

Er war es gewohnt, dass man ihn hasste und auf ihn herabblickte, aber Thor? Sein Bruder hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen und ein solches Misstrauen nicht verdient.

Es kostete Loki einige Mühe, seine Magie und die Kälte im Zaum zu halten, als er in den Fahrstuhl trat, zu aufgebracht war er über diese unerwartete Entwicklung. Erst nachdem er die richtige Etage erreicht hatte und sich die Türen mit einem leisen „Pling“ wieder öffneten, widmete er sich erneut der Zeitung.

Der Pressesprecher der Avengers hat verkündet, dass das Team den Vorfall näher untersuchen und mit entsprechenden Maßnahmen reagieren wird.

Mit diesem Satz endete der Artikel schließlich.

Was für Maßnahmen würden dies sein? Das Team war mit der komplizierten Beziehung zwischen ihm und Thor vertraut, es würde sich doch sicher nicht von seinem Bruder distanzieren... oder doch? Waren sie nicht Verbündete, Freunde sogar? Und was für Konsequenzen würde diese Sache für Loki haben? Würde man ihn öffentlich zum Feind erklären, zum Gejagten...?

Lokis Hände zitterten so sehr vor Wut, dass er vier Anläufe brauchte, bis er die Schlüsselkarte durch den Schlitz an der Tür seines Zimmers gezogen hatte.

Kaum war er eingetreten, warf er die Zeitung auf sein Bett und begann ruhelos durch den Raum zu tigern. Es dauerte eine ganze Weile, bis sein Zorn halbwegs verflogen war, doch nach zwanzig Minuten hatte Loki sich wieder einigermaßen im Griff und zog sein Smartphone aus der Tasche, um die Nummer von Thor zu wählen und eine Erklärung von ihm zu verlangen.

Sein Anruf blieb jedoch unbeantwortet.

Loki starrte fassungslos auf das Display hinab. Es war das erste Mal, dass er versuchte seinen Bruder zu kontaktieren – die Möglichkeit, dass Thor schlichtweg nicht auf seinen Anruf reagieren würde, hatte er zuvor nie in Betracht gezogen.

Auch die nächsten zehn Versuche blieben erfolglos, und so gab er es schließlich frustriert auf.

Stattdessen schluckte er seinen Stolz hinunter und wählte die Nummer von Stark.

„Wo ist Thor?“, fragte er ohne jegliche Einleitung, kaum dass Stark den Anruf entgegengenommen hatte.

„Erstens: hallo Loki, wie überaus erfreulich, von dir zu hören“, erwiderte Stark gelassen. „Und zweitens: dein Bruder ist nicht im Hauptquartier.“

„Wo ist er dann?“, fragte Loki kühl.

„Er hat sich nach den jüngsten Ereignissen eine Auszeit genommen“, meinte Stark. „Du hast vielleicht schon davon gehört? Die Klatschpresse kann ja so ungnädig sein, glaub mir, ich weiß, wovon ich rede...“

Er seufzte theatralisch.

„Ich habe eben gerade erst davon erfahren“, gab Loki gereizt zurück. „Was hat es damit auf sich? Was soll dieses Schauspiel? Wo ist mein Bruder?“

„Warum fragst du ihn nicht einfach selbst?“, entgegnete Stark.

Und legte auf.

Loki starrte entgeistert das Smartphone an. Was dachte dieser Sterbliche eigentlich, wer er war, dass er es wagte, so mit ihm umzugehen...?!

Doch dann vibrierte das Telefon kurz und im nächsten Moment öffnete sich eine Textnachricht von Stark mit einer Adresse im Bundesstaat New York. Loki vermutete, dass es sich um den Ort handelte, an dem Thor sich gerade aufhielt.

Langsam ließ er sein Smartphone sinken und starrte aus dem Fenster.

Sollte er der Einladung Folge leisten? Würde ihn an jenem Ort tatsächlich Thor erwarten, um ihm Rede und Antwort zu stehen, oder steckte womöglich mehr dahinter...?

Loki schüttelte den Kopf. Seitdem er seine Magie zurückerlangt hatte, wasr er mächtiger als je zuvor – was auch immer ihm begegnete, er würde damit fertigwerden. Und vielleicht würde er dabei auch noch ein paar Antworten bekommen.

Mit neuer Entschlossenheit öffnete er die Tür zum Balkon und trat in den nebligen Morgen hinaus.

Bis zur Ostküste waren es mehrere tausend Meilen, und er war müde von der langen Reise. Doch der Drang, Antworten zu bekommen, war größer, als die Müdigkeit, und so hob er die Arme zum Himmel empor und ließ die Magie über ihn hinwegspülen, wie ein warmer Sommerregen.

Lokis Körper begann sich zu strecken und dunkle Federn sprossen aus seinen Armen und seinem Leib hervor. Sein Hals wurde länger und sein Oberkörper kompakter, während sich seine Beine krümmten und scharfe Krallen aus seinen Füßen zu wachsen begannen.

Wenig später war sein ganzer Körper von einem Federkleid bedeckt und Loki streckte probehalber seine riesigen, schwarzen Schwingen aus.

Zufrieden mit dem Resultat seiner Verwandlung schwang er sich kurz darauf in die Lüfte und begann den langen Flug nach Osten.

Tony hatte ihm ein kleines Haus auf dem Land zur Verfügung gestellt, nur wenige Dutzend Meilen vom Avengers-Hauptquartier entfernt.

Zwei Schlafzimmer, ein Bad, ein geräumiges Wohnzimmer und eine Küche verteilten sich über zwei Etagen. Der Keller war zum Bersten mit Vorräten gefüllt, und sollte es ihm dennoch an etwas mangeln, so hatte Tony es ihm versichert, dann musste er lediglich die künstliche Intelligenz des Hauses darüber in Kenntnis setzen. – Denn natürlich hatte das Haus eine eigene Intelligenz; wie hatte er bei seinem Besitzer auch jemals etwas anderes erwarten können?

Ihr Name war J.U.N.E., sie sprach mit einer tiefen, rauchigen Stimme und manchmal fing sie völlig unerwartet damit an, Rocksongs aus den 60er und 70er Jahren zu singen.

Thor mochte sie auf Anhieb.

Er mochte auch das Haus, die Schlichtheit, mit der es eingerichtet war, den Mangel an moderner Technologie – sah man von J.U.N.E. einmal ab – und die Abgeschiedenheit der umliegenden Wälder. Bis zu dem Moment, in dem er über die Schwelle getreten war, hatte er nicht gewusst, wie sehr er diese Auszeit gebraucht hatte.

„Bleib so lange hier, wie du möchtest“, hatte Steve zu ihm gesagt. „Und mach dir um uns keine Sorgen, wir werden schon klarkommen.“

„Danke“, hatte Thor erwidert und dem anderen Mann zugenickt. „Für alles, was ihr für mich tut und getan habt – für uns beide getan habt.“

„Keine Ursache.“ Tony hatte nur mit den Schultern gezuckt. „Nehmt euch alle Zeit, die ihr braucht, um eure... Angelegenheiten zu klären. Wenn du bereit bist, dich erneut der Welt zu zeigen, sag entweder J.U.N.E. Bescheid oder ruf mich einfach an, dann werden Steve und ich deinen Namen bei der Presse reinwaschen und dich wieder als Avenger etablieren.“

„Danke, meine Freunde.“ Thor war der Abschied mit einem Mal sehr schwergefallen, doch es war zu spät gewesen, um Rückzieher zu machen. „Ich denke, ihr werdet eine Weile nicht von mir hören.“

Steve hatte jedoch nur gelächelt, als hätte er nichts anderes von ihm erwartet.

Das war vor zwei Tagen gewesen.

Ohne Fernsehen oder Internetzugang im Haus hatte er keine Ahnung, was in der Welt vor sich ging, und vielleicht war das auch am besten so. Er wusste, dass Steve überzeugende Arbeit leisten würde, um ihn als möglichen Schwachpunkt im sonst so zuverlässigen Avengers-Team darzustellen, und er zweifelte nicht daran, dass sich die Medien das Maul über ihn zerreißen würden, so waren die Menschen nun mal.

Aber es ging bei der ganzen Sache auch nicht um ihn.

Als Thor am Vormittag des dritten Tages ins Haus zurückkehrte – er hatte für eine Weile in der Sonne auf der Veranda gedöst – erwartete ihn J.U.N.E. mit Neuigkeiten.

„Elf Anrufe in Abwesenheit, Sir“, teilte sie ihm mit. „Von Ihrem Bruder.“

Plötzlich war Thor wieder hellwach.

„Loki...!“, stieß er leise hervor. Und dann: „Wo ist er?“

„Der Quelle der Anrufe nach zu urteilen in Seattle“, entgegnete J.U.N.E.

„Seattle?“

„Ein Ort an der Westküste, Sir. Etwa 2800 Meilen von hier.“

Weit entfernt also. Mit Sturmbrecher jedoch nur wenige Minuten.

„Ist er noch immer dort?“, fragte Thor.

„Es ist mir leider nicht gelungen, seinen momentanen Aufenthaltsort zu lokalisieren, Sir“, erwiderte J.U.N.E. „Es ist, als wäre er nach seinem letzten Anruf urplötzlich verschwunden.“

Thors Schultern sackten herab.

Natürlich. Wie hatte er auch nur einen Moment lang glauben können, dass sein Plan funktionieren und Loki das ewige Katz-und-Maus-Spiel aufgeben würde? Sein Bruder musste sofort gewusst haben, dass etwas nicht stimmte, und hatte zweifellos beschlossen, erneut zu verschwinden, dieses Mal vielleicht sogar für immer.

Thor fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und seufzte.

„Danke“, sagte er dann.

Loki war fort. Welchen Grund hatte er nun noch, an diesem Ort zu bleiben...?

„Die Neuigkeiten scheinen Sie nicht sehr glücklich zu machen, Sir“, meinte J.U.N.E. mit überraschender Ehrlichkeit und erstaunlich viel Mitgefühl in ihrer künstlichen Stimme.

„Ich hatte auf eine andere Entwicklung gehofft, das ist alles“, gestand Thor.

Und das hatte er. Innerlich hatte er sich bereits darauf eingerichtet, für einen sehr viel längeren Zeitraum in diesem Haus zu bleiben. Doch er hatte auch nicht erwartet, dabei allein zu sein...

Nein.

Er würde trotzdem noch für eine Weile bleiben. Loki hin oder her, Thor brauchte die Pause, und außerdem war J.U.N.E. ihm in den letzten Tagen mehr ans Herz gewachsen, als er gedacht hätte.

Er ließ sich schwerfällig auf die große Couch im Wohnzimmer sinken und schloss die Augen.

„Kannst du mir etwas vorsingen?“, fragte er.

„Mit Vergnügen, Sir“, erwiderte sie enthusiastisch.

Und während das Geräusch prasselnden Regens das Haus erfüllte und J.U.N.E. wenig später die erste Strophe von Riders on the Storm zu singen begann, fragte Thor sich, ob er tatsächlich seine einzige Chance verpasst hatte, seinen Bruder jemals wiederzusehen.

 

Noch am selben Abend sollte er seine Antwort erhalten.

 

Die Sonne war bereits untergegangen und Thor war gerade dabei, sich etwas zu essen zu machen, als von der Veranda her ein dumpfes Geräusch ertönte.

Es klang fast, als wäre etwas darauf umgefallen – oder als wäre jemand über die Stufen gestolpert und gestürzt.

Sofort war das Abendessen vergessen und Thor zur Tür geeilt.

„Hallo?“, rief er in die Abenddämmerung hinaus.

„Schrei doch nicht so“, erklang eine vertraute Stimme zu seiner Rechten. „Was sollen die Nachbarn sonst denken?“

Thor starrte die schwarzgekleidete Gestalt an, die in diesem Moment aus den Schatten trat und Federn aus ihren Ärmeln schüttelte.

„... Loki?“, stieß er ungläubig hervor.

„Der einzig Wahre“, entgegnete sein Bruder spöttisch. „Oder wie viele Gestaltwandler kennst du sonst noch?“

Anstatt ihm eine Antwort zu geben stieß Thor nur ein von Herzen kommendes Lachen aus und trat auf Loki zu, um ihn in die Arme zu schließen. Für einen Moment war sein Bruder stocksteif und wie erstarrt, doch dann stieß er ein Seufzen aus und ließ sich gegen ihn sinken.

„Du Narr“, sagte er leise, aber nicht ohne Zuneigung und schlang seinerseits die Arme um Thor. „Du verdammter Narr...!“

Sie standen für lange Zeit so da und genossen die Wärme und Nähe des jeweils anderen, ohne die Stille mit überflüssigen Worten zu füllen.

Als sie sich nach einer Weile wieder voneinander lösten, sah Thor, dass er nicht der einzige war, der Schwierigkeiten hatte, seine Gefühle in Worte zu fassen.

„Oh Thor“, murmelte Loki schließlich. „Was hast du nur getan?“

Thor musste nicht erst fragen, wovon er sprach. „Du hast davon gehört.“

„Die ganze verdammte Welt hat davon gehört!“, erwiderte Loki. „Was hast du dir dabei gedacht? Wie kannst du nur zulassen, dass sie Lügen über dich erzählen?“

„Seltsam.“ Thor lachte leise. „In der Vergangenheit hattest du nie Probleme damit, Bruder...“

Doch seine Bemerkung ließ Lokis Augen nur zornig aufblitzen.

„Du hast mir damals mit sehr deutlichen Worten klar gemacht, wo deine Prioritäten liegen!“, entgegnete er wütend. „Ich dachte, die Avengers wären dein Zuhause! Wären deine... deine...“

Lokis Stimme brach an dieser Stelle für einen Moment und er musste kurz schlucken.

„... deine Familie!“, fuhr er dann fort. „Und du wirfst es alles einfach so weg? Offenbar bist du ein größerer Narr, als ich dachte!“

Thor starrte ihn an.

Jegliche Belustigung war mit einem Mal aus seinem Gesicht verschwunden, als er Lokis verletzte, enttäuschte Miene sah und die Tränen, die in seinen Augen schimmerten.

Als sein Bruder damals beschlossen hatte, die Avengers zu verlassen, und Thor zu ihm gesagt hatte, dass es bei dieser Entscheidung allein um ihn ging und um das, was er sich für sein Leben wünschte, war ihm nicht klar gewesen, wie sehr Loki sich diese Dinge zu Herzen nehmen würde. Dass er so weit gehen würde zu denken, Thor würde ihn von sich stoßen oder ihn gar aus seinem Herzen verdrängen.

Denn das war ganz sicherlich nicht der Fall.

„Du hast Recht“, sagte Thor leise und senkte den Blick. „Ich bin ein Narr gewesen.“

Er konnte spüren, wie Loki scharf die Luft einsog, doch sein Bruder schwieg und wartete darauf, dass er fortfuhr.

„Ich bin ein Narr, weil ich dachte, es würde reichen, dich zurückzuholen“, sprach Thor. „Weil ich dachte, ich könnte alle Herausforderungen ertragen, mit denen mich diese Welt konfrontiert, solange ich nur weiß, dass du darin existierst. Egal, ob wir zusammen sind oder nicht. Denn ich wollte dich nie einengen oder dir deine Freiheit nehmen, die Erfahrungen der Vergangenheit haben mir schließlich oft genug gezeigt, dass das eine schlechte Idee ist.“

Er nahm Lokis Gesicht in die Hände und sah ihn voller Wärme an.

„Aber am Ende habe ich mich nur selbst belogen“, fuhr er fort. „Ich werde bei den Avengers immer ein Zuhause haben, das mag sein... aber meine Heimat bist in erster Linie du. Du warst es schon, als Asgard vernichtet wurde und Thanos unser Volk auslöschte. Ich habe es nur nicht wahrhaben wollen und dachte, die Distanz wäre besser für uns. Doch das war sie nicht. Denn du bist alles, was mir von meinem alten Leben geblieben ist, Loki, und ich kann dich nicht auch noch verlieren. Ich kann es einfach nicht.“

Loki starrte ihn lange Zeit an, ohne etwas zu erwidern.

Doch schließlich entdeckte Thor eine Emotion in den grünen Tiefen seiner Augen, mit der er nicht gerechnet hatte.

Hoffnung.

„Meinst du das wirklich ernst?“, fragte Loki leise. „Willst du meinetwegen tatsächlich dein bisheriges Leben aufgeben...?“

„Nun“, meinte Thor und lächelte, „wenn wieder jemand versucht, die Welt zu erobern, und die Avengers mich brauchen, dann werde ich für sie da sein. Doch in der restlichen Zeit?“

Er warf demonstrativ einen Blick über die Schulter zurück zum Haus. „Ich denke, wir können dies zu einem Ort machen, an dem man zu zweit gut leben kann. Was meinst du?“

„Thor.“ Loki hob seine Hand und schloss seine Finger warm um Thors Handgelenk. „Du weißt, dass ich versuchen werde, dich zurückzulassen, sobald ich kann.“

„Dann werde ich dich festhalten“, erwiderte Thor mit rauer Stimme. „So oft und so lange, wie es nötig ist, bis du begriffen hast, dass du eine Heimat hier hast.“

Ein Lächeln wie die aufgehende Sonne breitete sich auf Lokis Gesicht auf und endlich entdeckte Thor wieder eine Spur des altbekannten Schalks in den Augen seines Bruders.

„Versprichst du es mir?“, fragte Loki.

Thor lachte und lehnte die Stirn an die des anderen.

„Ich verspreche es“, schwor er.

Und sicher, es war nicht perfekt, und ja, vielleicht würden sie sich mit der Zeit wieder verlieren.

Doch für den Moment war es genug.


Nachwort zu diesem Kapitel:
P.S.: Jane ist wundervoll, allerdings ist ihre Rolle als Love Interest eine sehr undankbare. Ich finde, sie und Thor funktionieren als Freunde wesentlich besser. :) Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (6)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  -WeiWuxian-
2022-07-25T18:04:38+00:00 25.07.2022 20:04
eine Mikrowelle die Weihnachtslieder singt wenn man sie öffnet... das wünscht sich ja jeder xD
Von:  Chai-Cherry-Tea
2021-04-24T19:21:45+00:00 24.04.2021 21:21
Süß :3 wobei ich die beiden gerne hin und wieder mit dem Hammer hauen möchte xD aber letztlich haben sie sich doch noch zusammengerafft c:
Antwort von: Morwen
25.04.2021 12:25
Nicht nur du, glaub mir. xD
Es hat eine Weile gedauert, aber irgendwann haben selbst sie es kapiert. ;D
Vielen Dank! <3
Von:  Chai-Cherry-Tea
2021-04-24T18:43:56+00:00 24.04.2021 20:43
Wie immer ist fehlende Kommunikation das größte ihrer Probleme =_= aber die Story bleibt gut ^_^b
Antwort von: Morwen
25.04.2021 12:25
Danke. :D
Oh ja, ihre Kommunikation ist GRAUENHAFT. Aber wann war sie das mal nicht. xD
Von:  Chai-Cherry-Tea
2021-04-24T10:26:21+00:00 24.04.2021 12:26
Wenn ich so darüber nachdenke, ist der Anzug für Loki totales bodyshaming D:
Antwort von: Morwen
24.04.2021 14:56
Ein bisschen schon.
Aber nachdem er viele Jahrhunderte lang dazu erzogen würde, Hass auf Frostriesen zu entwickeln, ist es nicht verwunderlich, dass er arge Probleme damit hat, dass er jetzt selbst so aussieht.
Hinzu kommt, dass Frostriesen nicht für das Wetter auf der Erde gemacht sind, ohne den Anzug würde er also irgendwann einen Hitzeschlag erleiden, wenn er sich nicht permanent mit Eis umgibt. :)
Von:  Chai-Cherry-Tea
2021-04-24T10:10:33+00:00 24.04.2021 12:10
Aber würde das Eis in der Badewanne nicht die Bewegung eines Brustkorbs verhindern? 🤔
Antwort von: Morwen
24.04.2021 14:52
Nicht, wenn er vorher tief einatmet, dann hat er Platz in beide Richtungen. xD
Von:  Chai-Cherry-Tea
2021-04-24T10:00:06+00:00 24.04.2021 12:00
Bis jetzt mag ich due Geschichte, der Humor gefällt mir xD
Antwort von: Morwen
24.04.2021 14:52
Danke. :)


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